Sozialgeschichte Heute: Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag 9783666359620, 9783647359625, 3525359624, 9783525359624


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Sozialgeschichte Heute: Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag
 9783666359620, 9783647359625, 3525359624, 9783525359624

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Sozialgeschichte Heute Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler

GÖTTINGEN · VANDENHOEC K & RUPREC HT · 1974

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Bayerische Staatsbibliothek München

Gedruckt mit Unterstützung des „Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft“

ISBN 3-525-35962-4 Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Inhalt Vorwort

9

1. HANS MEDICK und ANNETTE LEPPERT-FÖGEN

Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Miliar of Glasgow, 1735—1801

22

2. WILLIAM H. SEWELL

Etat, Corps, and Ordre: Some Notes on the Social Vocabulary of the French Old Regime

49

3. HELEN P. LIEBEL-WEC KOWIC Z

Count Karl v. Zinzendorf and the Liberal Revolt against Joseph's II. Economic Reforms, 1783—1790

69

4. GERHARD SCHULZ

Deutschland und der preußische Osten. Heterologie und Hege­ monie

86

5. PETER LUNDGREEN

Gegensatz und Verschmelzung von „alter“ und „neuer“ Büro­ kratie im Ançien Regime: Ein Vergleich von Frankreich und Preußen

104

6. WILLERD R . FANN

The Rise of the Prussian Ministry, 1806—1827

119

7. FRIEDRIC H ZUNKEL

Die Rolle der Bergbaubürokratie beim industriellen Ausbau des Ruhrgebietes, 1815—1848

130

8. DIRK BLASIUS

Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz . . .

148

9. JAMES J . SHEEHAN

Partei, Volk, and Staat: Some Reflections on the Relationship between Liberal Thought and Action in Vormärz . . . .

162

10. ROBERT M. BIGLER

The Social Status and Political Role of the Protestant C lergy in Pre-March Prussia

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

175

6

Inhalt

11. FREDERICK D. MARQUARDT

Α Working Class in Berlin in the 1840's?

191

12. JÜRGEN KOCKA

Preußischer Staat und Modernisierung im Vormärz: Marxistisch­ leninistische Interpretationen und ihre Probleme

211

13. MIC HAEL STÜRMER

1848 in der deutschen Geschichte

228

14. HERBERT MATIS

Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848—1918

243

15. GUSTAV SCHMIDT

Politischer Liberalismus, „Landed Interests“ und Organisierte Arbeiterschaft, 1850—1880. Ein deutsch-englischer Vergleich

266

16. REINHARD SPREE und JÜRGEN BERGMANN

Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840—1864

289

17. HEINRIC H AUGUST WINKLER

Zum Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution bei Marx und Engels

326

18. DIETER GROH

Revolutionsstrategie und Wirtschaftskonjunktur

354

19. STEFI JERSCH-WENZEL

Die Lage von Minderheiten als Indiz für den Stand der Eman­ zipation einer Gesellschaft

365

20. REINHARD RÜRUP

Kontinuität und Diskontinuität der „Judenfrage“ im 19. Jahr­ hundert. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus . . .

388

21. SHULAMIT ANGEL-VOLKOV

The Social and Political Function of Late 19th C entury Anti­ Semitism: The C ase of the Small Handicraft Masters . . .

416

22. HELMUT BÖHME

Bankenkonzentration und Schwerindustrie, 1873—1896. Be­ merkungen zum Problem des „Organisierten Kapitalismus“ . 432 23. ELAINE GLOVKA SPENCER

Business, Bureaucrats, and Social C ontrol in the Ruhr, 1896—1914 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

452

Inhalt

7

24. LAWRENC E SCHOFER

Modernization, Bureaucratization, and the Study of Labor History: Lessons from Upper Silesia, 1865—1914 . . . .

467

25. KLAUS SAUL

Staatsintervention und Arbeitskampf im Wilhelminischen Reich, 1904—1914

479

26. GILBERT ZIEBURA

Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus vor 1914 495 27. HARTMUT KAELBLE

Sozialer Aufstieg in USA und in Deutschland 1900—1960. Ein vergleichender Forschungsbericht

525

28. ΗANS-JÜRGEN PUHLE

Aspekte der Agrarpolitik im „Organisierten Kapitalismus“ . Fragen und Probleme vergleichender Forschung

543

29. PETER-C HRISTIAN WITT

Finanzpolitik und sozialer Wandel. Wachstum und Funktions­ wandel der Staatsausgaben in Deutschland, 1871—1933 . . 565 30. GERALD D. FELDMAN

The C ollapse of the Steel Works Association 1912—1919. Α Case Study in the Operation of G erman “ Collectivist Capitalism“

575

31. DIRK STEG MANN

Die Silverberg-Kontroverse 1926. Unternehmerpolitik zwischen Reform und Restauration

594

32. EUG ENE N. und PAULINE R. ANDERSON

Thomas Mann's “ Dr. Faustus“ and Social Biography

. . . 611

33. KLAUS HILDEBRAND

Die innenpolitischen Antriebskräfte der nationalsozialistischen Außenpolitik

635

ANHANG

1. Veröffentlichungen von Hans Rosenberg

652

2. Autorenverzeichnis mit alphabetischem Inhaltsverzeichnis . .

654

3. Abkürzungsverzeichnis

661

4. Personenregister

664

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Vorwort „Sozialgeschichte Heute“ — dieser Titel der hier vorgelegten Festschrift für Hans Rosenberg enthält einen unübersehbaren Anspruch, bedeutet aber nicht, daß sie eine theoretische Bestandsaufnahme gegenwärtiger Forschung im Sinne einer Sozialhistorik sein will. Obwohl Theorie darin nicht zu kurz kommt, ent­ hält der Band vorwiegend sozialhistorische Studien über Sachfragen der moder­ nen Geschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Das entspricht der be­ sonderen Wirkung Hans Rosenbergs, der wie wenige andere einer theoretisch klaren und differenzierten, aber zugleich streng an den Problemen der histori­ schen Wirklichkeit orientierten Sozialgeschichte die Bahn gebrochen hat. Wie vielleicht auch kaum einem anderen der vom nationalsozialistischen Regime außer Landes getriebenen deutschen Historiker ist ihm zweierlei gelungen: in den Vereinigten Staaten einen Schwerpunkt sozialgeschichtlicher Forschungs­ arbeit zur Entwicklung des „deutschsprachigen Mitteleuropa“ zu bilden und seit den 50er Jahren auch in der Bundesrepublik auf Forschungsinteressen, -methoden und -ziele einen stetig zunehmenden Einfluß auszuüben. Diese eigen­ tümliche Leistung tritt im Rückblick auf die beiden letzten Jahrzehnte ganz deutlich hervor. Von den Gründen dafür wird noch zu sprechen sein. Hier sei nur der Tatbestand festgehalten, da er sowohl die Zusammensetzung des Mit­ arbeiterkreises als auch den C harakter der Beiträge zu dieser Festschrift erklärt. Hans Rosenberg wurde am 26. Februar 1904 in Hannover geboren und wuchs seit 1910 in der freien und weltoffenen Atmosphäre des Rheinlandes in Köln auf. Dort erlebte er Weltkrieg, Revolution und Anfänge der Weimarer Republik. 1921 begann er, in Berlin zu studieren. Die Geschichte rückte bald in den Mittelpunkt, vor allem, als er in das Seminar von Friedrich Meinecke aufgenommen wurde, bei dem er 1927 auch promovierte. Von ihm wurde Ro­ senberg zunächst stark beeinflußt; auf seinen ersten Forschungsbereich, die Ideengeschichte des deutschen Liberalismus vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist er von Meinecke hingelenkt worden. In dem Buch über „Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus“ , mit dem er sich (gegen den starken Widerstand konservativer Historiker wie Martin Spahn und Gerhard Kallen) 1932 bei Johannes Ziekursch in Köln habilitierte, ist das an Problemwahl und Methode noch unschwer erkennbar1. Dennoch hatten sich 1 Rudolf Haym u. die Anfänge des klassischen Liberalismus, München 1933, Vor­ wort. Vgl. auch die beiden Editionen aus diesem Umkreis: Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, Stuttgart 1930, Neudruck 1966; Rudolf Haym, Hegel u. seine Zeit, Leipzig 19272. — Zur Studienphase bis 1933 siehe die autobiographischen Bemerkun­ gen in: H. Rosenberg, Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 3), 7—17, eine nicht nur persönlich,

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Vorwort

die Interessen und Zielvorstellungen Rosenbergs damals schon erheblich ver­ schoben, und nicht zufällig blieb die Haym-Studie ein nur bis 1850/51 führen­ der Torso. Hier werden liberale Gedanken nicht nur verständnisvoll nachge­ zeichnet, es wird auch nicht nur die Genesis des liberalen Borussismus kritisch herausgearbeitet; unübersehbar ist das Bestreben, an wichtige Ursachen für die Verschiedenheit des deutschen und des westeuropäischen Liberalismus sowie für die Entfremdung Deutschlands von der westeuropäischen Entwicklung heran­ zukommen. Eben das löste die selbstgerechte Kölner Kritik aus. Darüber hinaus hatte aber Rosenberg — und zwar sichtbar — damit begon­ nen, sich von Meineckes Gipfelwanderung in der dünnen Höhenluft sublimier­ ter Geistesgeschichte abzuwenden. Diese mühsame Emanzipation, die freund­ schaftliche Beziehungen zu Meinecke bis zu dessen Tod 1954 keineswegs aus­ schloß, wurde durch einen Berliner Freundeskreis gefördert, dem u. a. Eckart Kehr und die an preußischer Partei- und Gesellschaftsgeschichte interessierten amerikanischen Historiker Eugene N. und Pauline R. Anderson angehörten. Einmal wandte sich Rosenberg dem zu, was man heute eine Sozialgeschichte der Ideen nennen würde, zum anderen führte ihn die Beschäftigung mit der Reichsgründungszeit zu einer ersten wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchung. Was die erste Thematik, das noch tastend, aber sachkundig erforschte Feld des „vormärzlichen Vulgärliberalismus“ angeht, so schwebte Rosenberg damals als Fernziel eine „kollektive Ideengeschichte“ vor2. Diese „geistige Gruppenge­ schichte“ sollte sich den Bereichen zuwenden, in die große Leitideen — wenn schon nicht massenwirksam, so doch mit Breitenwirkung — in popularisierter Form sozusagen ,hinuntergefiltert' werden. Dabei traten „die Situations­ bedingtheit“ , „die soziale und politische Funktion der Ideen, ihre Wanderbewe­ gung, intellektuelle Verwässerung und ,Ausbeutung' auf recht verschiedenar­ tigen Bildungsebenen und sozialen Schichtungslagen, ihre Wirkungsmacht in der historischen Alltagswelt und insbesondere ihre Rolle im realen gesellschaft­ lichen und politischen Kräftefeld“ in den Vordergrund. Rosenberg verfolgte den „Strukturwandel des öffentlichen Lebens im Vormärz“ , indem er am „theo­ logischen Rationalismus“ , an den geistigen und politischen Strömungen an der Universität Halle, an Ruge und an Gervinus paradigmatisch und zugleich mit positiver Bewertung die geistige Lebenswelt der „gesellschaftlichen Träger die­ ses geistig-politischen Mobilisierungsprozesses“ analysierte. Sich von den elitär­ esoterischen Projekten der Meinecke-Schule immer weiter entfernend, strebte er „eine Verbindung von Geistesgeschichte, Sozialgeschichte und politischer Ge­ sondern auch für die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft aufschlußreiche Schilderung; ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969 (Edition Suhrkamp 340), 53—57, sowie G. A. Ritters Vorwort zu: ders. Hg., Entstehung u. Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für H. Rosenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1970, V—VII, allg. V—X. 2 So die Selbstbeschreibung im Vorwort zu: Politische Denkströmungen, 10. Zum Berliner Kreis vgl. E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik, Hg. H.-U. Wehler, Berlin 19702, 1—28; H.-U. Wehler, E. Kehr, in: ders. Hg., Deutsche Historiker, I, Göttingen 1971, 100—13. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Vorwort

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sinnungs- und Parteigeschichte“ an3. Vierzig Jahre später, als diese Aufsätze in dem Band „Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz“ erschienen, hat er selber über die Unvollkommenheiten des ersten Anlaufs recht skeptisch geurteilt. Es fehlte ihm damals an Vorbildern, an Ermutigung und Rückhalt. Einen energischen Schritt nach vorn bedeuteten diese Studien jedoch allemal. Zwei Jahrzehnte nach Gustav Mayers Pionierstudien gewann die so lange über­ sehene oder mißachtete „Spätgeschichte der deutschen Aufklärung“ , die „Er­ weckung des politischen Bewußtseins im Vormärz“ erstmals wieder ein schärfe­ res Profil4. Gleichzeitig arbeitete Rosenberg seit 1928 für die „Historische Reichskom­ mission“ an einer möglichst vielseitigen Erfassung der nationalpolitischen publi­ zistischen Auseinandersetzungen in den beiden Jahrzehnten vor der großpreußi­ schen Reichsgründung. Hierbei entwickelte er einen in Deutschland neuen Ty­ pus einer kritisch kommentierenden Bibliographie, deren Ausarbeitung ihn in zahlreiche Bibliotheken und Archive, aber auch an historische Probleme heran­ führte, die er bis dahin nicht gesehen hatte. Dazu gehörte u. a. die Entwicklung der industriellen und kommerziellen Hochkonjunktur der 1850er Jahre mit dem 1857 erfolgenden Einbruch der ersten Weltwirtschaftskrise, die diesen Na­ men wirklich verdient. Es ist ein aufschlußreiches Beispiel für die absolute in­ tellektuelle Redlichkeit und zugleich für den rigorosen Anspruch an sich selber, wie Rosenberg einmal auf diese Entdeckung einer für ihn neuen Welt reagierte und zugleich seine moralisch-intellektuelle Betroffenheit durch die Weltwirt­ schaftskrise seit 1929 in eine produktive Beschäftigung mit einer frühen Kri­ senphase des Industriekapitalismus übersetzte. Situationsbedingtheit, Relevanz­ kriterien und geistige Neugier gingen hier eine deutlich erkennbare Verbindung ein. Obwohl er seine Habiliationsschrift vorbereitete, für eine Edition Hayms Briefe auswählte, Aufsätze schrieb, kreuz und quer den Flugschriften und Zeit­ schriften der 1850er und 60er Jahre nachjagte, arbeitete er sich jetzt mit benei­ denswerter Arbeitsintensität auch in die Fragen der internationalen Konjunk­ turforschung und Wirtschaftsgeschichte ein, ehe er in knapp einem Jahr neben den anderen Studien sein Buch über „Die Weltwirtschaftskrisis von 1857 bis 1859“ niederschrieb5. Der Titel war vom Zeiterleben seit 1929 bestimmt und etwas irreführend eng. Denn tatsächlich wurde die internationale, insbesondere die europäische und nordamerikanische kapitalistische Wirtschaftsentwicklung von 1848 bis 1859 als internationaler Konjunkturablauf behandelt. Die natio­ nalsozialistische Machtergreifung verhinderte eine kritische Auseinandersetzung, erst recht eine unmittelbar anregende Wirkung in Deutschland, unstreitig aber Politische Denkströmungen, 10, 9, 11, 13. Ebd., 13. Die Kritik: 9—17. Vgl. G. Mayer, Radikalismus, Sozialismus u. bürger­ liche Demokratie, 1840—1870, Hg. H.-U. Wehler, Frankfurt 19692; ders., Arbeiter­ bewegung u. Obrigkeitsstaat, Hg. H.-U. Wehler, Bonn 1972, 17—50; H.-U. Wehler, G. Mayer, in: ders. Hg., Deutsche Historiker, II, Göttingen 1971, 120—32. 5 Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859, Stuttgart 1934; Neudruck Göttingen 1974 (Kleine Vandenhoeck Reihe, 1396). Vgl. auch den Aufsatz Nr. 11 im „Verzeichnis der Veröffentlichungen von Hans Rosenberg“ , unten Anhang 1. 3

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Vorwort

bedeutete diese Untersuchung eine bahnbrechende Leistung. Völlig auf sich ge­ stellt — denn mit Ausnahme von Werner Sombart scheuten die deutschen Wirt­ schaftstheoretiker damals durchweg vor dem 19. und 20. Jahrhundert geradezu ängstlich zurück —, allein seinem Gespür für Problemdeutung und den ihn fes­ selnden neuartigen Fragen folgend, wagte Rosenberg seinen ersten „Brücken­ schlag“ zwischen Geschichte und Ökonomie 6 . Trotz des gewaltigen internationa­ len Aufschwungs der Wirtschaftsgeschichte und Wachstumsforschung seither ist dieses Buch bis heute noch nicht durch eine moderne Untersuchung verdrängt worden 7 , sondern hat als Darstellung und Anregung seinen Platz behauptet. Das gibt einen Eindruck davon, wieviel der junge Kölner Privatdozent Rosen­ berg, der im Winter 1932/33 seine Lehrtätigkeit aufnahm, mit dem ihm eigenen Elan zur Erkenntnis dieser für die deutsche Geschichtswissenschaft neuen Pro­ bleme noch beigetragen hätte. Statt dessen: ein kurzes Abwarten, als der Abstieg ins „Tausendjährige Reich“ der Deutschen begann, dann — im Frühjahr 1933 — die ganz improvisierte Abreise nach London, wo Rosenberg mit seiner Frau das Ende des (wie nicht nur er dachte) kurzlebigen Spuks abwarten wollte. Immerhin scheute Hermann Aubin sich nicht, die „Weltwirtschaftskrisis“ 1934 als Beiheft zur „Vierteljahrs­ schrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ zu veröffentlichen, und Meinecke wagte es, das Honorar für die Arbeit an der „Nationalpolitischen Publizistik“ weiter nach London zu überweisen. Zusammen mit einem kleinen Stipendium des Londoner „Institute of Historical Research“ sicherte es für kurze Zeit den — wenn auch bescheidenen — Lebensunterhalt. 1935 konnten die beiden mäch­ tigen Bände der „Publizistik“ erscheinen, die den Zeitraum von 1858 bis 1866 vorbildlich erschlossen8. Vereinzelt wurde das Werk in Deutschland auch noch 6 Politische Denkströmungen, 12. Vgl. dazu seinen Vorbericht zum Neudruck der „Weltwirtschaftskrisis“ , sowie allg. zur Situation der damaligen Wirtschaftsgeschichte: J . Kocka, Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft 6. 1972, 1—39; z. Τ. Überarb. in: Geschichte u. Soziologie, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1972, 305—30; K. W. Hardach, Some Remarks an German Economic Historiography and Its Understanding of the Industrial Revolution in Germany, Journal of European Economic History 1. 1972, 37—99; H.-U. Wehler, Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte (1800—1945). Prolegomena zu einer kritischen Be­ standsaufnahme der Forschung u. Diskussion seit 1945, in: Ritter Hg., 88—107; z. Τ. auch in: H.-U. Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871—1918, Göttingen 1970, 291—311. Die desolate Situation der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung der Moderne in der Zwischenkriegszeit übergeht H. Kellenbenz (Die Methoden der Wirt­ schaftshistoriker, Köln 1972) in seinem harmonisierenden, alles lobenden Überblick, aber auch in: ders. u. L. Beutin, Grundlagen des Studiums der Wirtschaftsgeschichte, Köln 1973, 171—177, 192—200. 7 Erst in diesem Band packen R. Spree und J . Bergmann (Die konjunkturelle Ent­ wicklung der deutschen Wirtschaft, 1840—1864, unten Nr. 16) das Problem adäquat aufs neue an. Zur Literatur über diese internationale Krise vgl. Wehler, Theoriepro­ bleme, 423 f.; ders., Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723, 56; ders., Der Auf­ stieg des amerikanischen Imperialismus 1865—1900, Göttingen 1974, I. 6. 8 Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands vom Eintritt der Neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des deutschen Krieges, 2 Bde, München 1935, Neudruck

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Vorwort

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rezensiert, aber das „Fachorgan der deutschen Historiker“ , die „Historische Zeitschrift“ , schwieg sich aus. Meinecke mußte ihre Redaktion 1935 bekanntlich unter beschämenden Umständen abgeben, und sein Nachfolger Karl Alexander v. Müller, Musterbeispiel eines ästhetisierenden Autoritären und seit den frühen 20er Jahren ein Förderer der NSDAP, fand sich in bereitwilligem Devotionsakt gegenüber den braunen Machthabern zum Totschweigen bereit. Inzwischen war Hans Rosenberg mit seiner Frau die Unhaltbarkeit des Lon­ doner Provisoriums klargeworden. Im September 1935 begann die Auswande­ rung nach den Vereinigten Staaten; wegen der Quotengesetzgebung und müh­ samer Umwege über Kanada und Kuba dauerte sie jedoch monatelang. In einem Land, in dem die Depression noch so schmerzhaft gespürt wurde und in dem nicht Dutzende, sondern bald Hunderte von deutschen Wissenschaftlern eine Stellung suchten, schienen trotz generöser Hilfsbereitschaft amerikanischer Kollegen und trotz vorzüglicher Empfehlungen die Schwierigkeiten zunächst unüberwindbar zu sein, obwohl dank der Londoner Zeit das Sprachenproblem keine so gravierenden Probleme aufwarf, wie das jetzt in ähnlicher Lage für so viele Absolventen des Humanistischen Gymnasiums galt. Da sich in der amerikanischen „Academic C ommunity“ inzwischen die Ver­ hältnisse radikal verändert haben, mag die Erinnerung an ein heikles Thema nicht unangebracht sein. Mitte der 30er Jahre konnte man in den Departments der Geisteswissenschaftlichen Fakultäten jüdische, selbstredend auch farbige Do­ zenten angeblich an einer Hand mühelos abzählen9. Nicht nur führte die Emi­ gration deutscher bzw. bald auch europäischer Wissenschaftler auf einem sehr beschränkten Stellenmarkt zu einer Art Überschwemmung mit Experten im Besitz ganz spezifischer Qualifikationen, sondern dieses ohnehin schwierige Pro­ blem wurde noch durch traditionelle Vorurteilsmechanismen an den Universi­ täten und C olleges zusätzlich verschärft, wobei sich die bekannten Wissen­ schaftszentren der Ostküste gar nicht so sehr von den abgelegenen Kleinstädten des Mittleren Westens unterschieden. Wer glaubte, dem unseligen Kauderwelsch der Nationalsozialisten, die ihn als „Halbjuden“ rubriziert hatten, entronnen zu sein, konnte vielleicht auch in Amerika die entschuldigende Erklärung ver­ nehmen, man könne trotz einer freien Stelle der Fakultät (oder der Stadt oder dem Landtag oder dem „Board of Trustees“ ) noch keinen Wissenschaftler jüdiAalen demn. Diese Übersicht wurde erst dreißig Jahre später fortgeführt von K. G. Faber: Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands, 1866—1871, 2 Bde, Düsseldorf 1963. — Aus dem Umkreis dieser Sammelarbeit stammt auch das Material in der von Rosenberg präzise eingeleiteten Edition: Honoratiorenpolitiker u. großdeutsche Samm­ lungsbestrebungen im Reichsgründungsjahrzehnt, Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 19. 1970, 155—233. 9 Das ist mir von vielen amerikanischen Universitätslehrern und -Verwaltungsleuten, mehr oder weniger betroffen, immer wieder bestätigt worden. Eine exakte Quantifizie­ rung des Anteils, den die Angehörigen von religiösen und nationalen Minderheiten, vermutlich in starker regionaler Differenzierung, am Lehrkörper der Hochschulen im gesamten Bundesgebiet bis zum unleugbar fundamentalen Wandel seit den 1950er Jah­ ren besessen haben, ist mir noch nicht bekannt geworden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Vorwort

scher Herkunft zumuten. Diese Situation muß man sich ohne jede hämische Beckmesserei vergegenwärtigen, wenn man an das Schicksal der deutschen Emi­ granten seit 1933 denkt. Sie läßt die Leistung, wie schnell und grundlegend die amerikanischen Hochschulen sich in dieser Hinsicht seither gewandelt haben, um so heller hervortreten, und es bleibt ein Ruhmesblatt dieser Hochschulen, wie oft sich schon in den 30er Jahren die menschliche Hilfsbereitschaft gegen über­ kommene Vorurteile durchgesetzt hat. Kann man sich vorstellen, wie deutsche Universitäten, damals oder heute, auf eine vergleichbare Notsituation von so vielen Fremden reagiert hätten? Auch deshalb war es für viele vertriebene Wissenschaftler mühsam, eine Dauerstellung zu finden. 1936 konnte Rosenberg jedoch am Illinois C ollege in Jacksonville die Lehrtätigkeit wieder aufnehmen, 1938 holte ihn das Brooklyn College nach New York, wo er dann zwanzig Jahre lang geblieben ist. Die geistige Atmosphäre der Stadt und urbane Kollegen10 erleichterten die Ein­ gewöhnung, die Beanspruchung aber blieb außerordentlich hoch: alle Lehrver­ anstaltungen in einer zunächst noch recht fremden Sprache, dazu auf die ver­ gangenen fünf Jahrhunderte und nicht nur auf das vertraute 19. Jahrhundert bezogen, oft mehr als zwanzig Wochenstunden und abends noch „Night School“ , um das Gehalt aufzubessern — dazu der sich selbst gegenüber unbe­ irrt aufrechterhaltene Anspruch, trotz alledem weiterhin wissenschaftliche For­ schung zu betreiben. Rosenberg verfolgte in diesen ersten Jahren am Brooklyn C ollege seine In­ teressen vor allem auf zwei Gebieten: Einmal arbeitete er sich in die preußisch­ deutsche Sozialgeschichte seit dem ausgehenden Mittelalter ein. Im Zusammen­ hang damit11 gewannen Fragen wie der Aufstieg der Bürokratie, ihr Verhältnis zur alten Machtelite des Landadels und die von beiden geprägten autoritären Traditionen der politischen und gesellschaftlichen Verfassung zusätzliche Dring­ lichkeit. Hier spürte Rosenberg der historischen Genesis eines Entwicklungs­ strangs nach, der auf den preußisch-deutschen „Sonderweg“ in die Moderne führte. Erster Ausdruck dieser weit ausholenden Beschäftigung mit der deut­ schen politischen Sozialgeschichte war der 1943 gedruckte Aufsatz über den „Aufstieg der Junker in Brandenburg-Preußen zwischen 1410 und 1653“ ; das 10 Einige Jahre wirkte Hans Rosenberg dort auch mit Arthur Rosenberg zusammen, bis dieser 1943 früh starb. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Männern gibt es nicht. Vgl. A. Rosenberg, Demokratie u. Klassenkampf, Hg. H.-U. Wehler, Berlin 1974, 5—16. 11 Damals entwickelte sich auch allmählich das Vorhaben, die soziopolitischen Pro­ bleme von Reformationsepoche und Bauernkrieg neu darzustellen. Dieses Probjekt, vor allem eine „Klärung der Struktur und Dynamik des sozialen, wirtschaftlichen und po­ litischen Schichtungssystems im vorreformatorischen Dcutschmitteleuropa“ und des Übergangs zur spätständischen Gesellschaft (Ritter, VIII), hat Rosenberg seither weiter vorbereitet. Sein Schlußvortrag auf dem Braunschweiger Historikertag von 1974 („Herrschaftseliten und sozialer Systemwandel im deutschen Bürgerkrieg von 1525“ ) entwickelt einige Grundlinien dieser Problematik.

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große Preußenbuch und neue Aufsätze haben diese Thematik später weiter er­ hellt12. Im selben Jahr, 1943, zeigten zwei weitere Aufsätze, wo sich der andere Schwerpunkt der Forschungsarbeit Rosenbergs gebildet hatte. Gewissermaßen in der zeitlichen Verlängerung seiner ersten Konjunkturstudie von 1934 be­ schäftigte er sich mit der von Wachstumsstörungen geplagten Trendperiode von der Zweiten Weltwirtschaftskrise von 1873 bis zur Rückkehr der Hochkon­ junktur um 1895/96 — der „Großen Depression“ im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ein erster Abriß der Hauptprobleme erschien in „Economic Hi­ story Review“ , eine ungemein anregende, äußerst komprimierte Arbeit, fraglos eine — wie sich herausstellen sollte — „Seminal Study“ , um den glücklichen amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen13. Aus ihr sind dann die diesen Inter­ pretationsansatz theoretisch und empirisch differenzierenden Untersuchungen der 60er Jahre hervorgegangen. Zugleich verriet eine Problemskizze der „sozia­ len Funktion der Agrarpolitik“ im deutschen Kaiserreich von 1871 — so hat Rosenberg eine vollständig umschriebene Fassung später genannt14 —, wie er an eine wichtige Tradition der deutschen Wirtschaftsgeschichte und der Jünge­ ren Historischen Schule der Nationalökonomie anknüpfte, nämlich der auch im Jahrhundert der deutschen Industriellen Revolution fortdauernden Bedeutung der Agrarwirtschaft und Agrargesellschaft gerecht zu werden. Diese Tradition ist, sieht man von der bedeutenden Ausnahme Wilhelm Abels und seiner Mit­ arbeiter sowie von einzelnen Monographien einmal ab, im Grunde weithin ab­ gerissen, vermutlich sowohl wegen der vorherrschenden Lebenserfahrungen in einer zunehmend Industriellen Welt, als aber auch wegen des jahrzehntelang anhaltenden Rückzugs der deutschen Wirtschaftsgeschichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert; erst in jüngster Zeit haben unter Gesichtspunkten der „Moderni­ sierung“ und Entwicklungsproblematik agrargesellschaftliche Fragen neues In­ teresse auf sich gezogen. Demgegenüber hat Rosenberg seit den 30er Jahren immer wieder diese Fragen behandelt — in seinem Sammelband „Probleme der deutschen Sozialgeschichte“ sind unlängst einige von ihnen zusammengefaßt wor­ den —, und noch ehe z. Β. Barrington Moores vergleichende Studien den Blick wieder stärker auf ähnliche Zusammenhänge gelenkt haben, den prägenden Einfluß der agrarwirtschaftlichen und agrargesellschaftlichen Traditionen auch auf die industrielle Gesellschaft in Deutschland hervorgehoben15. 12 The Rise of the Junkers in Brandenburg-Prussia, 1410—1653, American Histo­ rical Review 49. 1943/44, 1—22, 228—42; selbst. Sonderdruck: Indianapolis o. J . 15 Political and Social C onsequences of the Great Depression of 1873—1896 in Central Europe, Economic History Review 13. 1943, 58—73. 14 The Economic Impact of Imperial Germany: Agricultural Policy, Journal of Economic History 3. 1943, Suppl. 101—7; die völlig überarbeitete deutsche Fassung (Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: H. Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 51—80) geht in einigen „Gesichtspunk­ ten sowie etliche(n) Formulierungen“ darauf zurück (ebd., 149). 15 Probleme der deutschen Sozialgeschichte; vgl. B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969.

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Von 1943 bis 1958 trat nach außen hin, was Veröffentlichungen angeht, eine Pause ein. Sie wurde vor allem von dem kräftezehrenden Lehrbetrieb erzwun­ gen, obwohl Rosenberg dadurch auch nicht wenige, später bekanntgewordene Historiker und Sozialwissenschaftler in ihren Studentenjahren am Brooklyn College beeinflussen konnte. Die Zeit für Forschung und Lektüre schmolz nur zu oft zusammen, und die Kriegsjahre förderten gewiß nicht die innere Ruhe. Zudem bereitete die Umstellung auf das Englische, nicht als vielleicht proviso­ rische Zwischenlösung, sondern als Sprache der zweiten Lebenshälfte beträcht­ liche Schwierigkeiten, wenn dem Anspruch, klar und flüssig zu schreiben, Ge­ nüge getan werden sollte. Wichtige Entscheidungen fielen 1947, als Rosenberg einen Ruf an die Univer­ sität Köln ablehnte16, aber auch 1949, als er seine erste Gastprofessur an der Freien Universität Berlin wahrnahm, dann 1950 noch einmal wiederkam und eine Gruppe von Studenten, von denen später die meisten Hochschullehrer der Geschichts- und Politikwissenschaft geworden sind17, nachhaltig beeinflußte. Bei der Neubelebung ihrer Wissenschaftsdisziplinen in den 50er, 60er Jahren hat diese Gruppe eine unübersehbare Rolle gespielt. Wie sich bald herausstellen sollte, gewann Rosenberg auf diese Weise einen neuen Wirkungs- und Einfluß­ bereich, dem er durch Besuche und Korrespondenzen bis heute eng verbunden geblieben ist. Mitte der 50er Jahre hatte endlich auch die Analyse der Beziehungen von „Bürokratie, Aristokratie und Autokratie“ im Preußen zwischen 1660 und 1815 einen ersten Abschluß erreicht; da sich der Druck noch jahrelang hinzog, kam das Buch jedoch erst 1958 heraus18. Hier knüpfte Rosenberg einerseits an die großen Traditionen der Verfassungsgeschichte Otto Hintzes und Gustav Schmollers an und führte sie in moderner Form fort, andererseits griff er Frage­ und Problemstellungen, Kategorien und Konzeptionen der Sozialwissenschaf­ ten auf. Indem er sie sowohl historisch konkretisierte als auch für die Synthese auf mittlere Abstraktionsebene nutzte, konnte er neue Aspekte der Entwick­ lung von Bürokratie und Adel herausarbeiten. Obwohl diese Studien ohne na­ tionalhistorische Enge dem Vergleich viel Platz ließen und in mancher Hinsich: gemeineuropäische bzw. universalgeschichtliche Probleme des Bürokratisierungs· prozesses anvisierten, stellten sie sowohl vom erkenntnisleitenden Interesse al auch von der Durchführung her einen der wichtigsten Nachkriegsbeiträge zu Diskussion der deutschen Sonderentwicklung mit ihren historischen Belastunger dar. In dem eigenartigen Dreiecksverhältnis von Bürokratie, Adel und Selbst herrschaft sah Rosenberg zählebige, auch noch die nachfolgenden Generationer 16 Wer würde, wenn man sich umgekehrt eine zwanzigjährige Lehrtätigkeit Rosen bergs in der Bundesrepublik vorstellt, seine Absage nicht jetzt noch bedauern? 17 Zu denken ist hier u. a. an Gerhard A. Ritter, Karl Dietrich Bracher, Gilber Ziebura, Gerhard Schulz, Otto Büsch, Wolfgang Sauer, Franz Ansprenger, Friedria Zunkel. — Das Marburger Forschungsjahr 1955 führte dagegen nicht zu ähnlicher Kontakten. 18 Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660—1815 Cambridge/Mass. 1958 u. ö.

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prägende Machtstrukturen entstehen, die zusammen mit einer spezifischen poli­ tischen Kultur den Aufstieg eines kraftvollen Liberalismus und selbstbewußten Bürgertums gehemmt haben. Der autoritäre Absolutismus schuf demzufolge wesentliche Dispositionen für die autoritären Regimes des 19. und 20. Jahr­ hunderts bis hin zur totalitären Herrschaft Hitlers. Rosenbergs Preußenbuch ist im Ausland, namentlich in den Vereinigten Staa­ ten, bald zu einem kleinen Klassiker der mitteleuropäischen Bürokratie-, Adels­ und Verfassungsgeschichte avanciert. Sprache und Problembewußtsein waren nicht nur Historikern, sondern auch Soziologen und Politikwissenschaftlern unmittelbar zugänglich. In der Bundesrepublik dagegen beschränkten sich Er­ örterung und Wirkung jahrelang auf engere Fachkreise19. Dazu trug bei, daß es dem rechtskonservativen Freiburger Historiker Gerhard Ritter gelang, eine frühzeitig geplante Übersetzung ins Deutsche durch ein massives Votum beim Verlag zu verhindern. Und noch 1965 hielt ein westdeutscher Historiker es in seiner Rezension nach erwägenswerten Einwänden für richtig, sein tiefes Miß­ behagen in der C harakterisierung des Verfassers als eines „Emigranten“ aus­ zudrücken20. Solange das die feine Art der akademischen Reaktion auf einen Fehdehandschuh war, konnte das Preußenproblem schwerlich angemessen, d. h. der jüngsten preußisch-deutschen Geschichte bis 1945 die historischen Tiefen­ dimensionen erschließend, diskutiert werden21. Es ist daher auch schwerlich ein Zufall, daß die westdeutsche Geschichtswissenschaft zwar im Hinblick auf das 19. und 20. Jahrhundert in Bewegung geraten ist, für die vorrevolutionäre Zeit aber Impulse wie die von Rosenberg gegebenen noch längst nicht in vergleich­ barer Form aufgenommen worden sind. Das Jahr 1958 wurde auch dadurch zu einem Einschnitt in Rosenbergs Le­ ben, daß die University of C alifornia in Berkeley ihn auf den hohes Ansehen besitzenden Shephard-Lehrstuhl berief. Diesem Ruf folgte er 1959. Wurde mit dem Preußenbuch ein wissenschaftlicher Maßstab gesetzt, so bedeutete der Wech­ sel an eine der angesehensten amerikanischen Universitäten den Beginn neuen Wirkens, da Rosenberg jetzt vor allem „Graduate Students“ auszubilden, mit­ hin Doktoranden zu betreuen hatte, die er auf seine Problemfelder hinlenken konnte. Bis zum endgültigen Ausscheiden aus dem Lehrbetrieb im Jahr 1972 19 Vgl. die z. T. sehr anregende Doppelrezension von H. Herzfeld und W. Berges, Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 11. 1962, 282—96. 20 G. Oestreich, Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 52. 1965, 278. Vgl. etwa auch das Niveau der Kritik von O. Hauser, Preußische Staatsräson u. nationaler Gedanke, Neumünster 1960, 13 f. 21 Die hervorragende, aber in ihrer Art völlig isoliert dastehende Untersuchung von Otto Büsch (Militärsystem u. Sozialleben im Alten Preußen, 1713—1807. Die Anfange der Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962), die die Mög­ lichkeiten einer kritischen Aufarbeitung der preußischen Geschichte beleuchtet, entstand vor 1952 als eine von Rosenberg betreute Berliner Dissertation. Deutlicher als viele andere Arbeiten zeigt Büschs Buch, wie die Restauration der 50er Jahre — hier reprä­ sentiert durch Gerhard Ritters Militarismus-Studien — vielversprechende Ansätze zunächst wieder verschüttet hat.

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konnte er in intensiver Seminartätigkeit und informeller Diskussion ein Dut­ zend Jahre lang seine Auffassung von Sozialgeschichte vertreten; sie hat seit dieser Zeit bei amerikanischen Historikern ein wachsendes Echo gefunden. Die Wirkung, die Rosenberg seit den 50er Jahren in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten ausübt, beruht auf jeweils unterschiedlichen Konstel­ lationen. Einige Gesichtspunkte seien wenigstens angedeutet. Seit dem Aufkom­ men der professionalisierten akademischen Geschichtswissenschaft war das Ver­ hältnis zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den USA unbefangener als in Deutschland. Dafür bestand dort umgekehrt ein Nachholbedürfnis an Ideen­ und Geistesgeschichte. Ihm wurde von emigrierten deutschen Historikern, nicht zuletzt von einigen profilierten Meinecke-Schülern, Rechnung getragen. Um 1960 wurde auf diesem Gebiet jedoch ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, die anfängliche Faszination des Neuen wich der Gewöhnung an das Selbstverständ­ liche, stärker realhistorisch orientierte Fragen rückten wieder in den Vorder­ grund. Zugleich ließ das Interesse an der politischen Geschichte Deutschlands, die als Folge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges ein, zwei Generationen amerikanischer Europahistoriker angezogen hatte, spürbar nach. Auch hier verlagerten sich die Fragen allmählich zu den langfristig folgenrei­ chen sozioökonomischen und soziopolitischen Entwicklungen. Der auf kritische Analyse von Gesellschaft und Wirtschaft gerichtete „Revisionismus“ in der amerikanischen Geschichtswissenschaft förderte indirekt auch die Neigung, in anderen nationalhistorischen Erfahrungsbereichen derartige Bestimmungsfakto­ ren zu untersuchen. Zudem verstand Rosenberg es wie kaum ein anderer, dem berechtigten Wunsch nach einer Kooperation mit den benachbarten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu entsprechen, um die auch in Amerika als frustrie­ rend empfundene Enge traditioneller Geschichtsschreibung zu überwinden. In der Bundesrepublik zeichnete sich ebenfalls seit den frühen 60er Jahren nachdrücklicher die Tendenz ab, konventionelle Schranken, die im Jahrzehnt vorher noch einmal befestigt worden waren, beiseite zu räumen. Die bis dahin als moderne Lösung angebotene sog. Strukturgeschichte hatte sich doch als recht blaß erwiesen und war eher im Programmatischen steckengeblieben, als daß sie zu überzeugenden Monographien geführt hätte. Zugleich setzte sich ein unüber­ sehbarer Trend zur konkreten sozialhistorischen Analyse oder zumindest wa­ ches Interesse an ihr durch, und das Problem, wie die Geschichtswissenschaft theoretisch und empirisch von den Sozialwissenschaften lernen und mit ihnen kooperieren könne, wurde hierzulande genauso diskutiert wie anderswo. In dieser Situation fanden Rosenbergs Arbeiten seit dem Preußenbuch namentlich unter jüngeren Historikern und Sozialwissenschaftlern wachsende Resonanz. Der bestimmte Entwicklungslinien der ostdeutschen Landadelsgeschichte durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch verfolgende Aufsatz von 1958 über „Die ,Demokratisierung' der Rittergutsbesitzerklasse“ galt z. Β. einige Jahre lang geradezu als Musterbeispiel kritischer Sozialgeschichte — freilich als eine Art Geheimtip, da er zunächst in einem dickleibigen Sammelband vergraben worden war, ehe er seit der Mitte der 60er Jahre mehrfach nachgedruckt und besser zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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gänglich wurde22. Nicht zuletzt beruht aber Rosenbergs Wirkung, hier wie in Amerika, auch auf persönlichen Eigenschaften. Seine Wärme und Aufge­ schlossenheit gegenüber jungen, auch zunächst ganz fremden Wissenschaftlern, seine Bereitschaft, die eigene Arbeit zurückzustellen und sich immer wieder Zeit für die Probleme anderer zu nehmen und ausführlich auf sie einzugehen, die völlige Unvoreingenommenheit, eigene Thesen und Ansichten selber der Kritik zu unterwerfen und den Einwänden anderer auszusetzen, vor allem die unbe­ dingte Offenheit, mit der er Kritik oder Zustimmung begründet, anstatt in be­ queme zeitsparende Verbindlichkeit auszuweichen — diese ungewöhnliche Ver­ bindung von Eigenschaften, von denen die menschliche wie die wissenschaftliche Qualität der Beziehungen mit Hans Rosenberg geprägt wird, muß hier zumin­ dest einmal angedeutet werden, wenn man seine Rolle als Mentor von Jüngeren mit sehr verschiedenen Generationserfahrungen verstehen will. Seit 1934 zeichnet es Rosenbergs Arbeiten aus, daß sie die Wirtschaftsge­ schichte nicht ausblenden, sondern mit modernen Methoden einzubeziehen ver­ suchen, daß sie stets große, wenn nicht sogar erdrückende Sachkenntnisse ver­ raten und daß sie keine Scheu vor ebenso klaren wie entschiedenen Urteilen zeigen. Eben diese Stärken besitzt auch Rosenbergs Buch „Große Depression und Bismarckzeit“ , in dem die Thematik des Aufsatzes von 1943 genauer ausgeführt wird23. Wie 1934 mit der „Weltwirtschaftskrisis“ ging Rosenberg dreißig Jahre später auch auf diesem Problemfeld wieder voran. Was diesem Buch bis heute eine außerordentliche Anziehungskraft gesichert hat, läßt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Rosenberg beschränkte sich nicht auf programmatische Forderungen, obwohl diese durchaus erhoben wurden und auf wesentliche Punkte zielten, sondern führte sie, hier dichter, dort eher Fragen aufwerfend, auch aus. Das Ergebnis konnte mithin am Anspruch gemessen werden. Endlich wurde auch der Versuch gemacht, von dem allgemeinen Reden über „die“ In­ dustrialisierung in Deutschland wegzukommen und statt dessen Begriffe und Erklärungsmodelle der internationalen Wachstums- und Wirtschaftsgeschichte anzuwenden. Dabei war nicht so wichtig, ob sich die Konzeption der „Langen Wellen“ in Verbindung mit kürzeren Konjunkturzyklen als Periodisierungs­ raster oder als Schlüssel zu neuen Problemlösungen in jeder Hinsicht bewährte. Was vor allem zählte, war das bewußt unternommene Experiment, dessen Prä22 Die „Demokratisierung“ der Rittergutsbesitzerklasse, in: Festschrift für H. Herz­ feld, Berlin 1958, 459—86; überarbeitet als: Die Pseudodemokratisierung der Ritter­ gutsbesitzerklasse, in: Moderne Deutsche Sozialgeschichte, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1966 (19734), 287—308, 519—23, und dann in: H. Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, 7—49. 23 Große Repression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. Vgl. als Vorstudie dazu auch den Aufsatz Nr. 26 im An­ hang 1. — Seither hat Rosenberg in zwei Sammelbänden seine agrargeschichtlichen Studien und frühen Arbeiten zum Vormärz zusammengefaßt (Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969; Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972). Eine deutsche überarbeitete und bis 1848 führende Neufassung des Preußenbuchs ist geplant. Die Arbeiten zum 16. Jahrhundert mit der „Sattelzeit“ von Reformation und Bauernkrieg werden weiterverfolgt. 2*

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missen vorher offen dargelegt worden waren. Ungeachtet einiger theoretischer und empirischer Schwierigkeiten, die Rosenberg übrigens als erster eingeräumt hätte, eröffnete das Buch doch so viele neue Perspektiven und Interpretations­ möglichkeiten — sei es zum industriellen Wachstum oder zur Parteien- und Verbändegeschichte, zum politisch organisierten Antisemitismus oder zur allge­ meinen „Entliberalisierung“ seit den 1870er Jahren —, daß es auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung gewann. Selbst in der knappen Skizze der außen­ politischen Probleme stecken mehr Anregungen als in langatmigen Ausführun­ gen über „originäre Machtpolitik“ im „europäischen Staatensystem“ . Und nicht zuletzt zeichnet es sich dadurch aus, daß ständig vergleichend argumentiert wird, so daß die reichsdeutsche Entwicklung entweder in generelle Zusammen­ hänge eingeordnet oder in ihrer historischen Eigenart charakterisiert werden kann. Die Überzeugungskraft, die von diesen Studien ausgeht, hat sich inzwi­ schen in einer ganzen Reihe neuerer Monographien, aber auch in diesem Band niedergeschlagen, und es dürfte keine zu gewagte Prognose sein, daß Rosen­ bergs „Große Depression“ für die Beschäftigung mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein „Essential“ bleiben wird. Das aber kann man nicht häufig von einem Buch sagen. Blickt man zurück, dann wird deutlich, wie sehr Hans Rosenberg auf seinen Interessengebieten der Geschichtswissenschaft in Deutschland und Amerika wichtige Impulse gegeben hat. Seine kritische Sozialgeschichte der Bürokratie, des Adels und anderer sozialer Gruppen, seine Verbindung von Industrie- und Agrargeschichte, Konjunktur- und Wachstumsforschung, seine Beiträge zum Li­ beralismusproblem und sein Insistieren auf theoretischer Klarheit im Sinne einer „theoretisch orientierten Geschichte in neuer Sicht“ 24 — sie haben dank der Verbindung mit entschiedenem politischem Engagement und Mut zum Wert­ urteil einen „Demonstrationseffekt“ ausgelöst, der auch in Zukunft für eine von Rosenbergs Zielvorstellungen werben wird: für eine der historischen Kom­ plexität angemessene kritische Gesellschaftsgeschichte. Als diese Festschrift geplant wurde, stand von vornherein fest, daß Beliebig­ keit der Beiträge ausgeschlossen sein sollte. Deshalb wurde darum gebeten, sich auf die drei Problemkreise zu beschränken, die Hans Rosenberg selber durch Forschung und Darstellung mit aufgehellt hat, mithin: Gesellschaft und Wirtschaft im 19, und 20. Jahrhundet, Bürokratie seit dem 17. Jahrhundert und Liberalismus im 19. Jahrhundert. Natürlich war bei keinem dieser Komplexe an eine Beschränkung auf die deutsche Geschichte gedacht. Im Gegenteil: Vergleichende Studien zur Proble­ matik der ständischen und industriellen Gesellschaft, der Bürokratie und der Sozialgeschichte liberaler Ideen, zu den wirtschaftlichen Trendperioden seit dem 19. Jahrhundert und zur historischen Theorie dieser Prozesse waren erwünscht. 24

Probleme der deutschen Sozialgeschichte, 147. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schnell stellte sich jedoch heraus, daß sich diese drei Schwerpunkte nicht gleich­ gewichtig bildeten. Die große Mehrheit der Beiträge gehört in den Bereich einer Sozialgeschichte, die die Entwicklung von Gruppen, Schichten und Klassen, Institutionen, Prozessen und Konflikten dergestalt analysiert, daß gesellschaft­ liche Fragen mit wirtschaftlichen und politischen Problemen, empirische Analy­ sen mit theoretischen Erörterungen verbunden werden. Der komparative Aspekt dominiert in einem Viertel der Beiträge. Man darf sagen, daß eine solche jede Engherzigkeit vermeidende, gegenstandsadäquate Sozialgeschichte den Inten­ tionen entspricht oder doch nahekommt, die Rosenberg selber seit langem in seinen Untersuchungen zu verwirklichen versucht. Bei 35 durchaus unterschied­ lich interessierten und ausgebildeten Mitarbeitern ist diese gemeinsame Tendenz fraglos eine Überraschung. Da andererseits der inhaltliche C harakter der Bei­ träge überhaupt nicht „geplant“ werden konnte, spiegelt der Band indirekt um so nachdrücklicher die Überzeugungskraft wider, die von Rosenbergs Studien besonders in den letzten Jahren ausgegangen ist. Denn die Mitarbeiter entstammen keineswegs einer im Hinblick auf Alter, Ausbildung und Forschungsinteresse homogenen Gruppe von „Schülern“ , zumal dieser Begriff selbst in Anführungszeichen das freie, auf den Diskurs Gleich­ berechtigter angelegte Verhältnis Rosenbergs zu denen verfehlt, die länger mit ihm gearbeitet oder in wissenschaftlichem Austausch gestanden haben. Für die Auswahl des Mitarbeiterkreises waren folgende Gesichtspunkte maßgebend: Es wurden deutsche und amerikanische Historiker zur Mitarbeit eingeladen, die bei Rosenberg studiert haben und in New York, Berlin oder Berkeley direkt von ihm beeinflußt worden sind. Ferner wurden diejenigen um einen Beitrag gebeten, die — wenn auch nicht so dauerhaft wie zum Beispiel seine Doktoran­ den — mit Rosenberg enger in Berührung gekommen sind und seinen Einfluß gespürt haben. Hinzu kamen schließlich vor allem jüngere deutsche Historiker, auf die Rosenberg zwar nicht persönlich eingewirkt hat, deren Problemwahl, Forschungsinteresse und Methodik aber von ihm mit angeregt worden sind. Von wenigen, auf berufliche Überlastung zurückgehenden Ausnahmen abge­ sehen, konnten alle Gefragten zusagen und ihren Beitrag rechtzeitig schicken. Insgesamt überwiegt jetzt die Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen; amerikanische Historiker stellen genau ein Drittel der Mitarbeiter. Die Beiträge wurden in lockerer chronologischer Reihenfolge und nach Sachgesichtspunkten geordnet, da eine thematische Gruppierung keine größeren Vorteile bot. Der außerordentlich hohen Bereitschaft zur Kooperation von drei Dutzend Histori­ kern und Sozialwissenschaftlern, die in der Bundesrepublik und Berlin, in den Vereinigten Staaten und Kanada leben, ist es zu verdanken, daß die Fest­ schrift zur richtigen Zeit erscheinen kann. Alle Mitarbeiter wollen damit nicht nur Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag eine Freude bereiten, sondern auf diese Weise auch ihren Dank ausdrücken für Anregung und Kritik, Förderung und Widerspruch, für den geistigen und persönlichen Einfluß, der von Hans Rosenberg ausgegangen ist und hoffentlich weiterhin ausgehen wird. Hans-Ulrich Wehler © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

1. Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Miliar of Glasgow, 1735-1801 Von H A N S MEDIC K und ANNETTE LEPPERT-FÖGEN

Als Übergangs- und Brückenfigur, als „bridge between Adam Smith and the nineteenth C entury social thinkers“ 1 oder auch als Marxist vor Marx 2 ist John Miliar 3 in die Sozialwissenschaften eingegangen, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu akademisch professionalisierten, arbeitsteilig spezialisierten Disziplinen erstmals ausbildeten4. Doch dem Schüler Adam Smiths, der zugleich „one of his most intimate and valued friends“ 5 war, wurden Eigenständigkeit und intellektuelle Potenz sui generis bisher kaum zu­ gebilligt. Millars Schrift „The Origin of the Distinction of Ranks: or, An Enquiry into the C ircumstances which give Rise to Influence and Authority in the Different Members of Society“ , die in der ersten Auflage 1771 erschien6, wird zwar weithin zu den ersten systematischen Hauptwerken der Soziologie ge­ zählt, doch steht sie Adam Fergusons „An Essay on the History of C ivil Society“ (1767)7 an wissenschaftlicher Popularität zweifellos nach8. Tatsäch­ lich aber ist Miliar keine bloße Randfigur geblieben; vielmehr kommt ihm Bedeutung als einem Hauptrepräsentanten früher Sozialwissenschaft zu. Originalität wurde Miliar von Zeitgenossen wie von der Nachwelt bereits als Homo Politicus attestiert. Doch auch hier erscheint er als Grenzgänger. Als politischer Professor ist Miliar nicht nur bei der englischen Geheimpolizei zur Zeit der Französischen Revolution aktenkundig geworden9. Auch die Nach­ welt war sich darin einig, daß er als der „most effective and influential apostle of liberalism in Scotland in that age“ 10 anzusehen sei. Miliar hat die prakti­ schen Konsequenzen von Sozialwissenschaft in den Sphären der bürgerlichen Öffentlichkeit bis zu der Stelle vorangetrieben, die vom widersprüchlichen Versuch der Überwindung bürgerlicher Aufklärung markiert war: Als Sozial­ anwalt u. a. für streikende Arbeiter11, als Propagator von Arbeiterbildungs­ vereinen12, als engagierter Befürworter der Sklavenbefreiung13, als politischer Pamphletist und Publizist im Untergrund14 und nicht zuletzt als Erzieher, der von besorgten Vätern politisch unter Druck gesetzt wurde15, stieß Miliar an die Grenzen nicht nur seiner praktischen Sozialwissenschaft, sondern bürger­ licher Aufklärung überhaupt.

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Insgesamt wurde die schottische Sozialwissenschaft der praktischen Lösung jener der bürgerlichen Aufklärung immanenten Widersprüche enthoben, als die „Universitätsreform“ im Gefolge der Französischen Revolution einerseits die institutionelle Basis dieser Wissenschaft administrativ beseitigte, zum ande­ ren den Zugang breiter Schichten zur Universität durch einen sozial inter­ pretierten Numerus C lausus unterband16. Hatte Miliar mit dem Gang der Wissenschaft ins Volk die Entpolitisierung der Wissenschaft aufzufangen ver­ sucht, die er mit ihrer unausweichlichen Spezialisierung eintreten sah, so war zumindest dieses Ziel fortab blockiert. Im folgenden werden wir versuchen, einen neuen Zugang zur Sozialwissen­ schaft John Millars zu gewinnen. Wir werden dabei zunächst die bisherige Forschung zu berücksichtigen haben, die neben den primär deskriptiven Pionier­ arbeiten W. C . Lehmanns17 die Interpretationsansätze J . G. A. Pococks18 und L. B. Schneiders19 umfaßt. Darüber hinaus werden wir uns auf neues Quellen­ material stützen: auf anonyme Schriften, denen gerade wegen ihrer auf die politischen Umstände zurückweisenden Diskrepanz zur „offiziellen“ Theorie Millars, der Grundlage der bisherigen Interpretationen, besondere Bedeutung zukommt. Hierbei handelt es sich um zwei bisher nicht oder nur unzureichend identifizierte politische Pamphlete Millars aus der Zeit der Französischen Revo­ lution, die „Letters of Sidney“ 20 und die „Letters of C rito“2 1 von 1796, in

denen sich die praktischen Intentionen der Millarschen Sozialwissenschaft in einer Deutlichkeit manifestieren, wie sie sich öffentlich nicht ausdrücken konn­ ten. Miliar ordnet sich mit der Titelgebung der „Letters of Sidney“ 22 ebenso bewußt in die Tradition des englischen Republikanismus ein, wie er durch die Widmung der „Letters of C rito“ an C harles James Fox23 eindeutig Partei für die zeitgenössischen Parlamentsreformer ergreift. Insbesondere die Beru­ fung auf James Harrington24, den Haupttheoretiker des klassischen Republi­ kanismus des 17. Jahrhunderts, ist in dieser Hinsicht signifikant. Ein Zitat aus Harringtons Werk „Oceana“ (1656) auf dem Titelblatt der „Letters of Sidney“ liefert sowohl das Motto für die gesamte Schrift wie auch eine erste Erklärung ihres speziellen Untertitels „On Inequality of Property“ 25: „The land through which the river Nilus wanders in one stream is barren; but, where it parts into seven, it multiplies its fertile shores, by distribuung, yet keepmg and improving such a propriety and nutrition, as is a prudent agrarian to a well ordered commonwealth.“ Miliar kritisiert hier nicht das Privateigentum als solches, sondern — und eben hierin schließt er sich Harrington an — nur die Wirkungen seiner „inequality“ . Nur diese „inequality“ verhindere die Nutzung des gesellschaft­ lichen Reichtums im Sinne größtmöglicher Produktivität und einer gerechten, „geordneten“ Struktur des politischen Systems. Wird in den „Letters of Sidney“ die parlamentarische Gesetzgebung, welche „by distributing“ eine Angleichung des Besitzes herbeiführt, als der entscheidende Hebel zur Lösung der von Miliar kritisierten Systemprobleme erkannt, so ist es in den „Letters of C rito“ die Wahlrechtsreform, welche im Verein mit einer Revitalisierung „bürgerlicher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Hans Medick und Annette Leppert-Fögen

Öffentlichkeit“ die Gefahren der Konterrevolution — allerdings in gleichem Maße auch die der Revolution — bannen soll. Beide Pamphlete Millars erschienen zunächst in gekürzter Form als anonyme Leserzuschriften an die Edinburgher radikalliberale Zeitung „Scots Chronicle“ 26, bevor sie — ebenfalls anonym — als selbständige Schriften publiziert wurden. Ein erster Hinweis auf die Autorschaft Millars für die „Letters of C rito“ findet sich bei David Murray27. Dem schloß sich Millar-Biograph W. C . Leh­ mann an28, der darüber hinaus in Miliar den Autor der „Letters of Sidney“ vermutete. Inzwischen kann der Authentizitätsnachweis auf Grund eines bisher vernachlässigten Indizes zweifelsfrei geführt werden: Entscheidende Passagen der „Letters of Sidney“ stimmen mit dem Text der „Elements of Political Science“ wörtlich überein29, dem ersten Werk im angloamerikanischen Raum, das den Anspruch der neuen Disziplin „Politische Wissenschaft“ nicht nur sach­ lich, sondern auch terminologisch anmeldete. Zwar wurden die „Elements“ 1814 von Millars Neffen, erstem Biographen und Herausgeber unter dessen eigenem Namen John C raig publiziert, doch weist sie ein Vergleich mit den zahlreichen erhaltenen Vorlesungsnachschriften der Millarschen „Lectures on the Science of Government“ 30 weithin als Plagiat aus dem Nachlaß des Onkels aus. In der Erforschung des dogmengeschichtlichen Kontexts der Millarschen Sozialwissenschaft bezeichnen die Arbeiten J . G. A. Pococks einen entscheiden­ den Einschnitt. Denn Pocock weist in seinen bisher nur fragmentarisch vorlie­ genden Ideologie- und begriffsgeschichtlichen Studien zur Tradition und Trans­ formation der klassischen politischen Philosophie im Republikanismus des 18. Jahrhunderts den schottischen Sozialwissenschaftlern und mit ihnen John Miliar die Bedeutung eines säkularen Dreh- und Angelpunktes zu31. War die Rezep­ tion des antiken Republikanismus in England seit dem Ausgang des 17. Jahr­ hunderts zunächst Ausdruck des politischen Protests der „country-gentry“ gegen die Bürokratisierungs- und Kommerzialisierungstendenzen des „court“ , so löste die schottische Sozialwissenschaft jene antiken Wertvorstellungen von ihrer Verwendung innerhalb einer antimodernen Defensivideologie. Darin und in der Übertragung dieser Normen auf eine empirische wie kritische Analyse der britischen Gesellschaft erblickt Pocock ihre zentrale Leistung: Das politische Paradigma des antiken politès oder civis sollte damit auf die Bedingungen seiner Verwirklichung in der zeitgenössischen Gesellschaft überprüft werden. Die Schotten hält Pocock gleichsam für Nachfahren der „country“ -Ideologen, für Republikaner, die allerdings mit den realistischen Prämissen des „court“ arbeiten. Dies betrifft zunächst die grundsätzliche Anerkennung der Irreversibi­ lität staatlich induzierter Modernisierungsprozesse. Dennoch ist die spezifisch „wissenschaftliche“ Leistung der Schotten nicht, wie es von Pocock nahegelegt wird, als eine einfache Synthese der empirisch haltbaren bzw. faktisch einlös­ baren Elemente der country- und court-Ideologien zu beschreiben. Die Über­ tragung des antiken Modells des politischen Bürgers auf eine freigesetzte, auf Arbeitsteilung beruhende bürgerliche Gesellschaft, von der die schottische Schule © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ausging, erforderte vielmehr eine konsequente Umformulierung des Konzepts selber: Es mußte nicht nur von seiner traditionellen, von der „landed gentry“ noch weitgehend besetzten ökonomischen Basis, der herrschaftlichen Verfügung über autarken Landbesitz, getrennt werden, sondern auch die merkantile Rentierökonomie überholen, die Grundlage einer vom „court“ beherrschten Gesellschaft. Pocock bringt sich mit seinem rein geistesgeschichtlichen Verfah­ ren, von ihm selber als „Namierism of the History of Ideas“ 32 charakterisiert, in zweierlei Hinsicht um die Früchte seiner Arbeit. Der starre Blick auf die Kontinuität des politischen Humanismus antiker Provenienz verstellt ihm die präzise Einsicht in die gewandelte gesellschaftliche Funktion des geistesge­ schichtlichen Erbguts. Denn 1. unterbleibt bei ihm der Rekurs auf die spezifi­ schen Verhältnisse der schottischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, deren „Vorzüge der Rückständigkeit“ sowohl die Entstehung der modernen Sozial­ wissenschaft in Schottland (statt im fortgeschritteneren England) wie auch ihren Inhalt überhaupt erst erklären können33: Das Zusammenspiel von court und country, auf das Pocock abhebt, sowie die Überwindung beider Ideologien durch die spezifisch „bürgerlichen“ Normen der „commercial society“ lassen sich nur aus der Situation eines Landes begreifen, das durch seine Vereinigung mit England (1707) zum Hinterland, ja insgesamt zum „country“ geworden war und sich der Effekte der ökonomischen Ausbeutung seitens der Metropole nur durch umfassende Modernisierung erwehren konnte34. Die von Pocock angenommene Synthese von court und country in der schottischen Sozialwissenschaft ergäbe sich damit keineswegs primär als Zusammenschluß zweier geistesgeschichtlicher Traditionen; sie spiegelte vielmehr in erster Linie die Notwendigkeit, vor der sich die schottische Gesellschaft selber befand, nämlich den Protest gegen die Vereinnahmung durch den englischen „Hof“ , der sich in dem von der schottischen gentry repräsentierten Republikanismus formulierte35, mit der ökonomischen Einholung der Metropole zu verbinden, für die umgekehrt die zentralistischen Maßnahmen des merkantilen Staats zumindest die Rahmenbedingungen schufen. 2. fehlt bei Pocock die wissenssoziologische Zuordnung der neuen Sozial­ wissenschaft samt ihres antiken Überbaus zu einer sozio-Ökonomisch definierten Klasse und ihrer spezifischen Interessenlage36. Es trifft zwar zu, daß Miliar im Gewand des antiken Republikaners einherschritt, doch verkleidet dieses einen durchaus kleinbürgerlichen Habitus: Die demokratisch modernisierte Polis wird nicht etwa von Bürgern konstituiert, die das unreine Geschäft der Arbeit auf Sklaven übertragen, sondern umgekehrt: auf der Basis einer Gesell­ schaft kleiner Warenproduzenten etabliert. Arbeit, die in der Antike dem Eintritt in die politische Sphäre prohibitiv entgegenstand, verwandelt sich damit geradezu in ein positives Anrecht auf politische Betätigung. Die Über­ tragung des antiken Republikanismus auf die Gesellschaft formal gleicher Warenbesitzer führt daher zunächst zur Ablösung der politischen Autonomie von der ökonomischen Autarkie. Doch lebt auf der anderen Seite die alte Synthese von politès und autarkem Oiko-Despoten in der Idealisierung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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kleinen Warenproduzenten wieder auf: Die ökonomische Selbständigkeit über­ nimmt den Platz der Autarkie. Zweifellos ist Pocock darin zuzustimmen, daß die Annahme des republikanischen Gewands es Miliar ermöglichte, einzelne Manifestationen der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung einer scharfen Kritik zu unterziehen. Doch darf dabei nicht übersehen werden, daß nicht nur seine Kritik an den feudalen und merkantilistischen Überlagerungen der Gesellschaft, sondern auch — und gerade — die an den Erscheinungsformen des modernen Kapitalismus in einen spezifisch kleinbürgerlichen Rahmen eingefangen bleibt. Die Parteinahme für die Lohnarbeiter, soweit sie sich Ökonomisch artikuliert, ist von der Absicht geleitet, sie in kleine Meister zu verwandeln. „What im­ pressed Miliar was not so much the Subordination of the labourer to the capitalist, as the capacity of the labourer to become a little capkalist him­ seif“37. Die Hilfeleistungen, die diese Theorie für das Proletariat vorsieht, sind im übrigen jedoch weniger ökonomischer als ideeller Natur: Jenseits seiner ökonomischen Reproduktionsbedingungen spricht man ihm Kulturfähig­ keit zu und gewährt Aufklärung. Die dehumanisierenden Wirkungen der modernen Arbeitsteilung sollen durch Erziehung kompensiert werden; so ver­ bildet sich reales Elend zur kulturellen Misere. Eben darin besteht die ideologische Funktion des politischen Humanismus in der frühen Sozialwissenschaft — und nicht nur in der frühen: Die Trennung der Sphären von Produktion und Kommunikation ist hier bereits vorgesehen. Ist die Gesellschaft kleiner Warenproduzenten die von der schottischen Schule postulierte Basis des politischen Humanismus, so gerinnt der politische Huma­ nismus umgekehrt zur spezifischen Ideologie dieser Gesellschaftsformation, in­ dem er ihr jenseits ihrer ökonomischen Struktur ein emanzipatorisches Potential in Form einer fingierten Autonomie von Kultursubjekten vindiziert. Die „sozia­ le Frage“ , die diese Schule präsentiert, wird nur mehr ideologisch, im Rückzug aus der Ökonomie, beantwortet, die Kritik am Kapitalismus durch Kultur­ kritik substituiert. Eine Berücksichtigung des kleinbürgerlichen Hintergrunds dieser Kritik könn­ te nicht nur Pococks These von der Kontinuität des politischen Humanismus eine größere, sozialgeschichtlich fundierte Plausibilität geben, sondern würde auch eine zulängliche Einschätzung jener Widersprüche ermöglichen, die Louis B. Schneider unlängst als das C harakteristikum des Millarschen Werks bezeich­ net hat38. Für „basic to the understanding of intellectual tension in Miliar“ hält Schneider den Gegensatz zwischen einem ,,,model' of society whereby it works well if left essentially untouched and paradoxically flourishes when men do not concern themselves about its welfare“ 39 und seinen Angriffen auf diejenigen Sektoren der zeitgenössischen Gesellschaft, in denen dieses Mo­ dell der Planlosigkeit sich in der Praxis der Warenproduzenten realisiert: in denen Konkurrenz in Rivalität umschlägt und „envy, resentment, and ,other malignant passions' emerge“ 40. Das klassische Modell des Laissez-faire, das Miliar zunächst entfaltet, „fails to fall into easy congruity with the criticism he makes of the society and eulture of his day and place“ 41. Die „unintended © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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consequences of social action“ , in deren Nachweis die Leistung der Schotten als Begründer einer modernen Sozialwissenschaft auch unter methodologischem Aspekt zu sehen ist, sind keineswegs nur positive; Millars Kritik an den Effekten der unbeschränkten Konkurrenz widerspricht der im Laissez-faire vorausgesetzten automatischen Interessenkongruenz von Besonderem und All­ gemeinem; die „private vices“ scheinen hier die „public benefits“ in Frage zu stellen, wenn nicht zu verschlingen. Nicht nur in der statischen Betrachtung der zeitgenössischen Gesellschaft, in der Gesellschaftstheorie Millars, sondern auch in seinem Evolutionsmodell, der Geschichtsphilosophie, muß diese Unstimmigkeit sich manifestieren. Der Optimismus des von Miliar behaupteten „natürlichen Fortschritts der Men­ schengattung“ , in dem diese die „endless degrees of perfection“ durchmißt, ist gebrochen. Allenfalls kann er für das Gesamtsystem angenommen werden, nicht jedoch für die darunter subsumierten Individuen: „In nations, wealth and knowledge appear to go hand in hand, but the matter is not thus as far as individuals are concerned.“ 42 Der Fortschritt dieses Gesamtsystems wird jedoch schlechterdings abstrakt, wenn es auf der einen Seite zwar Wissen akku­ muliert, auf der anderen aber die Masse seiner Individuen im Stande der Dummheit und Ignoranz festhält, ja sie darauf zurückwirft. Insofern entdeckt Schneider — in Anlehnung an Forbes43 — hinter den „intellectual tensions“ Millars wie der schottischen Schule insgesamt eine „double truth“ : „truth for Propaganda versus truth for science“ 44. In der Tat sind Millars persönliche politische Tätigkeit, seine auf den be­ ginnenden Industriekapitalismus bezogenen Reformentwürfe, wie schließlich der praktische Anspruch selber, den seine Sozialwissenschaft vertritt, weder mit der Idee eines unreglementierten, sich selbst regulierenden sozialen Systems, noch mit der eines „natürlichen“ Fortschritts in einen konsequenten Zusammen­ hang zu bringen. Diese Widersprüche, so heißt es bei Schneider, wurden „never satisfactorily resolved in a theoretical sense“ 45. Wenn er daraus jedoch den Schluß zieht, daß Miliar gut daran getan hätte, sie sich ins Bewußtsein zu rufen, so beweist gerade seine eigene Arbeit, die diese Vergegenwärtigung a posteriori vornimmt, die Unauflösbarkeit dieser Widersprüche als immanen­ ter. Nicht durch ihre Aufhellung wäre Miliar, wie Schneider annimmt, zu einer „even more significant transitional figure in the historyof social thought“ 48 geworden; vielmehr trifft auf ihn dasselbe zu, was Marx im Hinblick auf Smith konstatierte: Seine „Widersprüche . . . haben das Bedeutende, daß sie Probleme enthalten, die er zwar nicht löst, aber dadurch ausspricht, daß er sich widerspricht“ 47. Zweifellos ist das Werk Millars, ebenso wie das von Smith, von Wider­ sprüchen durchsetzt. Doch beweist gerade ihre Perpetuierung in der schotti­ schen Schule, daß sie nicht aus den mangelnden intellektuellen Fähigkeiten dieses oder jenes Autors zu erklären sind; bereits ihre C harakterisierung als „intellectual tensions“ (Schneider) greift zu kurz. Vielmehr sind jene Unstim­ migkeiten der Theorie aus der spezifischen, in sich widersprüchlichen Situation © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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einer Klasse abzuleiten, die einerseits die warenproduzierende Gesellschaft, in der „every man thus lives by exchanging, or becomes in some measure a merchant“ , von den Begrenzungen eines Subsystems befreien wollte, so daß schließlich „the society itself grows to be what is properly a commercial society“48, während sie auf der anderen Seite die kapitalistischen Konse­ quenzen des ubiquitären Tauschs scheute. Millars ausführliche Beschäftigung mit den vergangenen oder untergehenden Epochen der Sklaverei und der Leibeigenschaft sowie seine Kritik an ihrer Neuauflage in den heimischen Bergwerken und den auswärtigen Kolonien49 weist ihn als Theoretiker einer Gesellschaft aus, in der Arbeit — und nicht politisch fundierte Gewalt — die gesamtgesellschaftlich anerkannte Grundlage der Appropriation von Gü­ tern ist. Arbeit ist hier jedoch nicht nur die einzig legitime Grundlage indivi­ duellen Eigentums50, sondern zugleich die notwendige Voraussetzung politi­ scher Autonomie. Diese Norm stellte sich für Miliar keineswegs als abstrakte Forderung dar, sondern als höchst konkretes und vernünftiges Resultat der bisherigen Geschich­ te der Menschheit. Die „Pflege der gewerblichen Tätigkeiten“ 51, auf der die „commercial society“ beruht, sollte die Archaik von Raub und Gewalt ebenso wie die auf unmittelbarer Unterwerfung beruhenden Appropriationsformen der an die Agrarproduktion gebundenen Gesellschaften erübrigen und durch den Tausch ersetzen. In qualifizierter und spezialisierter Form — als hand­ werkliche, gewerbliche und kaufmännische Tätigkeit des „artificer“ , „tradesman“ , „merchant“ , aber auch des „farmer“ — erscheint Arbeit als die entscheidende Triebkraft des Übergangs von der vormodernen zur „commercial society“ . Während sie die „lower classes“ (oder „lower people“ ) allererst als „middling ranks“ etablierte, ermöglichte sie ihnen auf dem Weg über den Markt nicht nur die Ökonomische Selbständigkeit und den Erwerb von Eigentum, sondern auch politische Unabhängigkeit und Freiheit52: „An artificer, whose labour is enhanced by the general demand for it, or a tradesman who sells his goods in a common market, considers himself as his own master.“ 53 Für die adeligen Grundherren dagegen, die kraft ihrer herrschaftlichen Verfügung über Land in den vormodernen Gesellschaften nicht nur das fast ausschließliche Bodenmonopol, sondern auch ein Monopol politischer Gewalt besaßen, bedeu­ tete der Übergang zur „commercial society“ tendenziell das Ende ihrer privi­ legierten Existenz. Denn mit der gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung der Markt- und Tauschbeziehungen sieht Miliar die Besitzer großer Vermögen und Bezieher arbeitsloser Einkommen zunehmend einer historischen Dialektik un­ terworfen, die sie zu extravagantem Konsum und damit zur Verschleuderung ihres Eigentums zwingt54. Die daraus resultierende „constant rotation“ 55 oder „fluctuation of property . . . in all commercial countries“ 56 führte nach Miliar zur „continual approximation of the different ranks“ 57. Als anti-oligarchische Gesetzmäßigkeit sollte jene Fluktuation des Eigentums zwar nicht die Neu­ bildung privilegierter Minoritäten gänzlich verhindern, wohl aber ihre fort­ währende Selbstaufhebung garantieren können. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die produktive Tätigkeit des Mittelstands bewegt so geradezu als eman­ zipatorische Achse die Weltgeschichte. Denn erst in der konkreten historischen Gestalt der kleingewerblichen Produktion hatte Arbeit die Arbeitenden nach Miliar auch in dem Sinne „frei gemacht“ , daß sie den gewaltsamen und willkürlichen C harakter menschlicher Beziehungen, wie er in allen früheren Gesellschaftsformationen vorgeherrscht hatte, zugunsten einer wechselseitigen Autonomie der Warenproduzenten und -besitzer ablöste. Im Gegensatz zur bisherigen, durch politische Herrschaft und Gewalt bestimmten Geschichte der Menschen sollte sich der „emanzipierte“ 58 Zusammenhang der „commercial society“ Ökonomisch durch Arbeitsteilung und Äquivalententausch, politisch durch eine „tendency to introduce a democratical government“ konstituieren: „In that early period of agriculture when manufactures are unknown, persons who have no landed estate are usually incapable of procuring subsistence otherwise than by serving some opulent neighbour, by whom they are em­ ployed, according to their qualifkations, either in military service, or in the several branches of husbandry . . . In this situation, persons of low rank, have no opportunity of acquiring an affluent fortune, or of raising themselves to superior stations; and remaining for ages in a state of dependence, they na­ turally contract such dispositions and habits as are suited to their circum­ stances. They acquire a sacred veneration for the person of their master, and are taught to pay an unbounded Submission to his authority. . . But when the arts begin to be cultivated in a country, the labouring parts of the inhabitants are enabled to procure subsistence in a different manner. They are led to make proficiency in particular trades and professions; and, instead of becoming servants to anybody, they often find it more profitable to work at their own charges, and to vend the product of their labour. As in this Situation their gain depends upon a variety of customers, they have little to fear from the displeasure of any single person; and according to the good quality and cheapness of the commodity which they have to dispose of, they may commonly be assured of success in their business. The farther a nation advances in opulence and refinement, it has occasion to employ a greater number of merchants, of tradesmen and artificers; and as the lower people, in general become thereby more independent in their circumstances, they begin to exert those sentiments of liberty which are natural to the mind of man, and which necessity alone is able to subdue . . . It cannot be doubted that these circumstances have a tendency to introduce a democratical government. As persons of inferior rank are placed in a Situation which, in point of subsistence, renders them little dependent upon their superiors; as no one order of men continues in the exclusive possession of opulence; and as every man who is industrious may entertain the hope of gaining a fortune; it is to be expected that the prerogatives of the monarch and the ancient nobility will be gradually undermined, that the privileges of the people will be extended in the same proportion, and that power, the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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usual attendant of wealth, will be in some measure diffused over all the members of the community“ 59. widersprüchlich muß diese Theorie in dem Augenblick werden, wo die in Geschichtsphilosophie und politischer Theorie unterstellte ökonomische Auto­ nomie der Warenproduzenten dadurch ins Schwanken gerät, daß deren Arbeits­ kraft selber zur Ware wird, sie selber — und nicht mehr nur, wie es sich in der Begründung der „commercial society“ ausnimmt, die von ihr produzierten Überschüsse über den Eigenverbrauch00 — Gegenstand des Tausches ist und der Nichtbesitz geradezu die Voraussetzung dieses Tausches bildet. Die ange­ deuteten gesellschaftstheoretischen und geschichtsphilosophischen Ambivalenzen der Millarschen Theorie besitzen ihre Grundlagen daher in der ökonomischen Theorie, die gleichsam in zwei logisch unverbundene und in ihren Konsequenzen sich widersprechende Teile zerfällt: in die Kritik an den Überbleibseln des Feudalismus und besonders am zeitgenössischen Merkantilismus, kurz: am „system of imposing restrictions upon commerce“ 61 einerseits, in die Analyse der „freigesetzten“ „commercial society“ mit ihren bereits kapitalistischen Zügen andererseits. Die Grenze zwischen diesen beiden Strängen der Ökonomischen Argumenta­ tion bezeichnet zugleich die ideologische Wendung, die sich als Schwanken zwischen der Arbeitswertlehre und der „trinitarischen Formel“ (Marx), d. h. der Theorie der drei Produktionsfaktoren, äußert. Die Folge sind zwei ver­ schiedene Begriffe des „Kapitals“ : 1. Handelt es sich um die Kritik feudaler Eigentumsverhältnisse und merkantiler Praktiken, so erscheint das „capital“ im wesentlichen als eine Restgröße, die von den beiden natürlichen Quellen des Reichtums — „land and labour« — nur abgeleitet ist. Gesamtökonomisch bildet es jenen Teil des „national produce“ , der das Resultat der Spartätigkeit und Konsumrestriktion produktiv arbeitender Individuen ist: „capital is com­ posed of what is saved from the produce which (has) . . . not been consumed by individuals“ 62. Millars Verständnis des Kapitals, das sich kritisch gegen den feudalen Grundbesitz und gegen die „great capitalists“ 63 wendet, ist das des frühbürgerlichen Kleinunternehmers, dessen Kapital sich in der Tat weit­ hin in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Sparsamkeit vermehrt. Nicht ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis ist mit diesem Kapitalbegriff ange­ sprochen: „Kapital“ entsteht hier nicht aus der Ausbeutung fremder Arbeits­ kraft, sondern als Resultat individuellen Konsumverzichts auf der selbstver­ ständlichen Basis persönlicher Arbeitsamkeit. Es ist ein Kapital, das gewisser­ maßen seine Unschuld noch nicht verloren hat. 2. Bei der Analyse der „commercial society“ hingegen tritt diese Bestimmung des Kapitals als „savings“ hinter einer anderen Definition zurück: Das Kapital verwandelt sich in einen selbständigen Produktionsfaktor. Sollte ursprünglich die Arbeit Eigentum begründen, so erhält sie jetzt nur noch einen „Lohn“ , während umgekehrt das Eigentum selbst zur Quelle von Einkommen — von „Profit“ — wird. Denn den drei Produktionsfaktoren — „land“ , „labour“ und „capital“ — entsprechen drei verschiedene Formen des Einkommens: „rent“ , © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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„wages“ und „profit“ . Dieser „Profit“ ergibt sich schließlich auch noch dann, wenn die eigenen Arbeitsleistungen des Unternehmers und selbst seine „Unan­ nehmlichkeiten“ — seine Wartezeit und sein Risiko — von seinem Gesamtein­ kommen abgezogen werden64. Er resultiert also nicht aus der Arbeit des Besitzers, sondern umgekehrt: aus dem Besitz an Produktionsmitteln, die Arbeit einsparen helfen65. Insofern als der „materialistische“ Ansatz Millars die Ableitung der gesell­ schaftlichen Klassen und ihres wechselseitigen Verhältnisses aus der Ökonomie gebietet, besitzt diese Wendung zugleich gesellschaftstheoretische und politische Relevanz: Der Kritik an den dysfunktionalen Bedingungen, die durch die Reste älterer Gesellschaftsformationen (Feudalismus) und durch das zeitgenössi­ sche politisch-Ökonomische System (Merkantilismus) gesetzt wurden, entspricht 1. die Zweiklassentheorie und ein als antagonistisch begriffenes Verhältnis der „two opposite classes“ 66. Herrschende und Beherrschte, Korrumpierte und aufrechte Patrioten, Müßiggänger und Arbeitende, Reiche und Arme stehen sich hier in einem fundamentalen gesellschaftlichen Gegensatz gegenüber, der von Miliar als Resultat der Besitzverhältnisse, der ungleichen Verteilung des Eigentums begriffen wird. Als Klassenverhältnis im umfassenden Sinn erscheint dieser Gegensatz auch deshalb, weil er über den Kreis der unmittelbar Betrof­ fenen hinaus alle gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen zwischen Menschen beherrscht und ihrem Zusammenleben die entfremdete Qualität eines sachlichen Verhältnisses verleiht, in dem der „apparent wealth“ den personalen „real worth“ vernichtet67. Die ökonomische Analyse der „commercial society“ auf der Grundlage der Faktorentheorie mündet dagegen konsequent 2. in eine soziologische Drei­ klassentheorie: „The whole property of such a country, and the subsistence of all the inhabitants, may, according to the phraseology of late writers upon political economy, be derived from three different sources; from the rent of land or water; from the profits of stock or capital; and from the wages of labour: and, in conformity to this arrangement, the inhabitants may be divided into landlords, capitalists, and labourers . . . who form the lowest class“ 68. Das Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen zueinander wird hier zwar erstmals sachlich und terminologisch mit Hilfe des modernen Klassen­ begriffs erfaßt69. Gleichwohl ist der Übergang zur Dreiklassentheorie auf der Grundlage ökonomischer Bestimmungen ideologisch: Der Ansatz bei den technischen Funktionen des Kapitals, der die heute herrschende Theorie von der „Produktivität des Kapitals“ antizipiert70, läßt die Wirkung des Kapitals als gesellschaftliches Ausbeutungsverhältnis in den Hintergrund treten, ja das Kapital selber als eine nur zum Wohl der Arbeiter erfundene Einrichtung er­ scheinen. Durch den „support of labourers and mechanics“ 71 erhöhe es deren Arbeitsproduktivität, und unter dem Titel dieser „Produktivität“ , der die anti-feudale und anti-monopolistische Frontstellung der Millarschen Theorie reflektiert, sind Arbeit und Kapitalbesitz harmonisch miteinander verschwi­ stcrt72. Der Übergang von der Zweiklassentheorie zur Dreiklassentheorie läßt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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die Harmonie der gesellschaftlichen Gruppen an die Stelle ihres Antagonismus treten73. Historisch ist die kleine Warenproduktion, „which was the legacy of feudal society“ 74, zugleich als der Vermittler zwischen dieser Gesellschaft, innerhalb deren sie als Enklave entstand, und der kapitalistischen Gesellschaft zu sehen, durch deren neue technologische Grundlage sie nach und nach erdrückt wurde. Das Verhältnis zum Kapitalismus kann daher nicht ohne Ambivalenzen blei­ ben. Doch ist die Kritik an den neuen Verhältnissen stets noch mit den Merk­ malen der Opposition gegen das feudale und merkantilistische System behaftet, die sich gegen die Restriktionen, die dieses der Verallgemeinerung von Handel und Gewerbe auferlegte, ebenso wendet wie gegen die „politische Tinktur“ (Marx) seiner ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse. Bei Miliar manifestiert sich das in zweierlei Hinsicht: Die weiterhin auf­ rechterhaltene Trennung zwischen „Produzenten“ und „Müßigen“ , die aus der Kritik der älteren Produktionsweisen in Form einer Theorie zweier gegen­ sätzlicher „Klassen“ („two opposite classes“ ) gewonnen wurde, entfaltet ein letztlich harmonisches Bild der „commercial society“ , in der die durch Arbeit miteinander verbundenen Produzenten gemeinsam gegen eine Schicht von Un­ tätigen und ausschließlich konsumierenden Parasiten agieren. Wo dagegen die neuen kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse ins Blickfeld rücken, bleibt deren Kritik und die Parteinahme für die Lohnarbeit in letzter Instanz ebenso orientiert an den feudalen Relikten und den Auswirkungen des merkantilen Rentierkapitalismus: Kapitalistische Ausbeutung wird nur dort kritisiert, wo sie der Vielzahl möglicher anderer Kapitalisten im Sinne einer monopolistischen Beschränkung des Wettbewerbs hinderlich werden könnte. Die ökonomischen Wurzeln kapitalistischer Ausbeutung selbst aber bleiben in dieser Kritik aus­ gespart75, in den Blick geraten lediglich ihre Schatten: die Inhumanität der neuen Arbeitsprozesse76 wie schließlich auch die persönlichen Abhängigkeiten auf Grund bleibender Eigentumsdifferenzierungen77. Sind solche Phänomene schon nicht gänzlich abschaffbar, so sollen sie doch gemildert werden — und das Rezept ist letztlich die Rückverwandlung des Proletariats in kleine Waren­ produzenten. Gegenstand der „Letters of Sidney“ ist das Eigentum. Millars Kritik an der „inequality of property“ , die sich zugleich als Kritik der zeitgenössischen eng­ lischen Gesellschaft versteht, verfährt systematisch, wo es sich um die Analyse feudaler Relikte und merkantiler Praktiken handelt. Widersprüchlich allerdings wird sie, sobald nicht mehr der auf ererbten oder politischen Privilegien beru­ hende Besitz, sondern das kapitalistische Privateigentum in Frage steht. Begin­ nen wir mit Millars C harakterisierung der sozialen Umstände seiner Zeit: „Great inequality of property is one of the most striking features of the present state of society. In the same nation, in the same town, even in the same street, part of the inhabitants riot in an abundance, with which the most refined luxury can scarcely keep pace; while their brethren, oppressed with want, worn down by labour, diseased and wretched can scarcely procure © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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enough to satisfy the most urgent demands of nature . . . Does it require argument to convince us that this state of property, from whatever circum­ stances it may have arisen, is destruetive and unjust.“ 78 In der Eigentumsfrage sieht Miliar ein „subject of the highest national importance“ 79, das von den politisch Herrschenden als Gegenstand öffent­ licher Diskussion gleichwohl tabuisiert ist. Öffentliches Interesse muß sich an dieser Tabuisierung zunächst vor allem deshalb entzünden, weil sie den Herr­ schenden ein Mittel zur Behauptung ihrer „corrupt power“ ist80. Dement­ sprechend bietet schon die freie Diskussion der „inequality of property“ für Miliar einen Ansatz, ja den Schlüssel zur praktisch-politischen Lösung der drängendsten gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit. Sie schafft aber nicht nur ein Forum für moralische Kritik, die sich am offenkundigen Widerspruch zwischen dem Reichtum der Wenigen und der Armut der großen Masse als ungerechtem Zustand festmacht, sondern läßt die theoretische Analyse dieses Widerspruchs als eines zentralen gesellschaftlichen Verhältnisses zu. Über ihre pathologischen Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft hinaus hat die Un­ gleichheit des Eigentums gesamtgesellschaftliche Folgen, die das Verhalten von arm und reich gleichermaßen determinieren und beide in den Bann einer gemeinsamen moralischen und politischen Misere zwingen: „excessive inequali­ ty of property occasions misery both to the rich and to the poor. . . . it is subversive of morality, is the bane of patriotism, the proliflc mother of the most flagitious crimes. . . . it is extremely hurtful to agriculture, commerce and population. It seems altogether impossible for the mind of man to conceive more numerous or more destruetive evils proceeding from one source“ 81. Diese Kritik mutet radikal an. Sie verknüpft die wissenschaftliche Einsicht des Soziologen mit einer grundsätzlichen politischen Wertung: Eigentum wird als gesellschaftliches Verhältnis begriffen, das eine Vielzahl anderer, scheinbar außerökonomischer Beziehungen zwischen Menschen determiniert. An seiner ungleichen Verteilung wird die „Quelle“ dingfest gemacht, die alle Mißstände und Widersprüche erzeugt. Doch beugt Miliar einer allzu radikalen Auslegung seiner Intentionen auch vor, wenn er lediglich die „excessive inequality of property“ zum Gegenstand seiner Kritik macht, nicht aber die „inequality“ schlechthin, die nur durch eine „equalization of property“ konsequent aufzu­ heben wäre82. Im Gegenteil: Sobald Miliar auf die Nachteile und Gefahren einer solchen Gleichmacherei (des sog. „levelling“ ) zu sprechen kommt, bricht sich Furcht in sehr viel drastischeren Wendungen Bahn als im Falle der „excessive inequality“ und ihrer Folgen: „the miseries arising from inequality of property, and from the worst of tyrannies which the world has witnessed, would be happiness compared to such a condition (i. e. der ,equalization of property')“83. Als unmoralisch84, ausgesprochen bösartig, ja kriminell gilt Miliar jede der­ artige Bestrebung — gleichgültig, mit welchen Methoden sie durchgeführt werden und von wem sie ausgehen sollte, ob von Individuen, Regierungen oder gar 3 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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dem erklärten Willen der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder. Da er den Bestand der Gesamtgesellschaft in Frage stellen würde, wäre ein solcher Akt weder durch staatliche Sanktionierung noch gar durch aufklärerische Appelle — sei es in Berufung auf Naturrecht und Geschichte85, sei es durch den sozial­ arithmetischen Glückskalkül86 — zu rechtfertigen. Hält Miliar in den „Letters of Sidney“ eine Beseitigung der Nachteile der „inequality of property“ durch politisch-rechtsstaatliche Reformen für möglich und erwünscht, so scheidet er auf der anderen Seite eine „equalization of property“ auf dem Wege politischer Maßnahmen grundsätzlich aus. Zur Verhinderung einer solchen „equalization“ stehen diese allerdings zur Verfügung: Der harte Kern des Millarschen Ver­ ständnisses von „property“ zeigt sich dort, wo er zur Bekämpfung jeder so gearteten Bewegung den Gebrauch von Gewalt seitens einer gesellschaftlichen Minderheit auch gegen den Willen der Mehrheit als legitim erachtet: „an equalization differs, in no respect, from robbery, except in being the act of a greater number of criminals, in causing greater immediate misery, and in producing more destructive effects. Nor can any government, or any majority of a nation, have any right to produce such equality, to attack that property and those rights which society was instituted to defend. If such an attempt should be made, it would amount to a dissolution of the social combination; the Government would no longer possess any claim to obedience; and the Minority (g. i. O.) would be justified in defending, by force, those rights which the majority had attacked“ 87. Der Apostel gewaltfreier Aufklärung, der scharfe Kritiker des als notwen­ dige Folge einer „inequality of property“ verdammten imperialen Wirtschafts­ kriegs88 zeigt sich hier in neuem Licht. Friedfertigkeit nämlich kommt bei Gefahr einer „equalization of property“ ebenso an ein prinzipielles Ende wie die im Rechtsstaat institutionalisierten Verfahren. Gegenüber den Interessen einer besitzenden Minorität verlöre der von einer demokratischen Mehrheit auf eine solche Bahn gelenkte Staat nicht nur den Kredit, sondern gar die Existenz. Zwischen der Kritik Millars an der „inequality of property“ und seiner gleichzeitigen Verdammung der „equalization“ besteht ein Widerspruch, der intellektuell zwar nicht zu bereinigen ist, aber doch erheblichen Erklärungswert besitzt. Er läßt sich auflösen, sobald man sich die gemeinsame Basis vergegen­ wärtigt, welche Kritik und Affirmation des Eigentums in den unausgesproche­ nen Denkannahmen („unspoken assumptions“ ) 89 wie den expliziten Vorstellungen des kleinbürgerlichen Ökonomen Miliar haben. Die Verurteilung der „equaliza­ tion“ und die Kritik der „inequality“ geschehen zwar im Namen des gleichen Prinzips einer „reasonable economy“ 90 der arbeitsamen und tugendhaften Kleingewerbetreibenden, doch beziehen sich beide Argumentationen jeweils auf unterschiedliche gesellschaftliche Frontstellungen und verweisen dement­ sprechend auf verschiedene Formen des Eigentums. Millars Ablehnung der „equalization of property“ zielt auf die Erhaltung der Existenzbedingungen einer warenproduzierenden Gesellschaft. In der Affir© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mation dieser Bedingungen, konkret: des unbedingten Schutzes von Privat­ eigentum vor der Gleichmacherei, setzt Miliar zwar die Voraussetzungen, zu­ gleich jedoch die Widersprüche seiner „reasonable economy“ von Kleingewer­ betreibenden: Diese muß ihre Existenz riskieren, sofern die angstbesetzte Zu­ rückweisung jeder „equalization of property“ umgekehrt auch der kapitalisti­ schen Akkumulation und damit dem Ende des Kleingewerbes das Tor öffnet91. Unverzichtbares Erfordernis einer „reasonable economy“ ist für Miliar der Nexus von individueller Arbeitsproduktivität und der permanenten Garantie ihrer Resultate im Eigentum. Die Legitimation der Warenproduktion und die Ablehnung der „equalization“ des Eigentums stützen sich hier — wie in heutigen Verlängerungen der „liberalen“ Wirtschaftstheorie — gleichermaßen auf eine als anthropologische Konstante beanspruchte Tendenz zur Faulheit92, die bei Aufhebung individueller Besitzunterschiede unausweichlich zum Tragen käme: „who would labour, when the fruits of his labour were gathered by the indolent?“ 93 Bei einer Egalisierung des Besitzes müßte jeder Anreiz zu einer produktiven individuellen Arbeitsleistung (der heute sog. „Leistungsanreiz“ ), der über die Befriedigung der jeweils unmittelbaren Lebensbedürfnisse hinausführte, ver­ schwinden. Die Gesellschaft arbeitsamer und tugendhafter Kleinwarenprodu­ zenten verkehrte sich in ihr Gegenteil: in eine anarchische Versammlung parasi­ tärer Müßiggänger, welche die Produktion von Waren durch den räuberischen Konsum des jeweils vorhandenen Besitzstandes ersetzten. Nicht nur die „com­ plete Suspension of labour“ wäre die verhängnisvolle Folge der fortwährenden Dezimierung des Eigentums, sondern die Gesellschaft gleicher Besitzer müßte schließlich insgesamt in den Zustand der „universal poverty“ verfallen94. Die Allianz von „property“ und „productive labour“ 95, in deren Namen Miliar das „Levelling“ bekämpft, birgt allerdings eine weitere Konsequenz: Sie mündet schließlich in der Rechtfertigung jener Form von Eigentum, für die der Konnex von individueller Arbeitsleistung und persönlichem Besitz höchst eigenartig sich darstellt, die im Gegenteil weniger von der Arbeit des Besitzers lebt als von der lohnabhängrgen Arbeit der Besitzlosen. „Capital“ wird von Miliar in dieser Eigenschaft erkannt, zugleich jedoch idyllisiert. Denn die Propagierung der Allianz von „property“ und „labour“ in ein und derselben Person des arbeitsamen Warenproduzenten ist augen­ scheinlich offen für die ganz andere Allianz von „capital“ und „labour“ , die sich vor allem dadurch auszeichnet, daß ihre beiden Komponenten auf zwei Personen bzw. Klassen verteilt sind. Gegenüber allen Versuchen der „equalization“ befinden sich „capital“ und „labour“ , Miliar zufolge, an einer gemeinsamen Front: wären doch „productive labour“ oder „industry“ (der Gewerbefleiß) durch sie schließlich ebenso bedroht wie das „capital“ — denn „labourers and mechanics“ müßten bei „annihiliertem“ Kapital ihre wichtigste Stütze verlieren. Für den Fall der equalization gilt daher für Miliar (gleichsam persönlich, denn erst hier spricht „Sidney“ in der ersten Person): „We should have at once annihilated industry, and the whole of that capital, which makes 3*

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industry productive . . . the capital of the country would be annihilated; there would no longer be any funds destined for the support of labourers and mechanics.“96 Dem Problem der „inequality of property“ ist der größte Teil der „Letters of Sidney“ gewidmet. Zielt die Verdammung der „equalization of property“ auf die grundsätzliche Affirmation der Existenzbedingungen einer warenprodu­ zierenden Gesellschaft, so gilt Millars Kritik der „inequality of property“ umgekehrt den systemfremden Zwängen, denen diese Gesellschaft, als historisch noch unvollkommene, in seiner Gegenwart ausgesetzt war. Im Glauben an die Möglichkeit, ihre Existenzbedingungen in die der Gesamtgesellschaft ver­ wandeln zu können, untersucht er hier diejenigen Faktoren, die eine solche unproduktive Rückständigkeit bewirkten, um damit zugleich die Wege zu ihrer Aufhebung ausfindig zu machen. Die Hauptursache dieser Rückständig­ keit sieht Miliar nicht in den Gefahren der Konzentration von Eigentum schlechthin, sondern im Akkumulationsgrad zweier bestimmter Formen von „property“ in der zeitgenössischen Gesellschaft: der „great landed estates“ auf der einen, des Merkantil- und Finanzkapitals der „great capitalists“ auf der anderen Seite97. Seine Kritik an der „inequality of property“ ist im Kern eine Kritik an der politisch-rechtlich privilegierten Existenz, welche beide Formen des Eigentums ihren Trägern ermöglichten — die eine als Relikt feudaler Zustände98, die andere auf Grund der spezifischen Verfilzung von ökonomischer und politischer Macht in England zur Zeit der Französischen Revolution99. Dieser „inequality of property“ macht Miliar in den „Letters of Sidney“ eine Rechnung auf, die sich zunächst als Kalkül der Verluste am volkswirt­ schaftlichen Gesamtprodukt (annual produce) präsentiert100, sich zugleich je­ doch als moralische und politische Abrechnung des tugendhaften Bürgers ver­ steht101. Die verheerende Wirkung der „inequality“ liege darin, daß sie 1. das jährliche Gesamtprodukt, das aus dem Zusammenwirken von „land and labour“ entsteht, durch unproduktive Verwendung jener Ressourcen redu­ ziert, während sie 2. einen wesentlichen Teil dieses Produkts daran hindert, gespart zu werden und in das „national capital“ einzugehen102. Nicht nur die absolute Größe des „annual produce“ , sondern auch seine Wachstums­ oder Akkumulationsrate werden demnach durch die „inequality of property“ niedergehalten. Form und Inhalt der Millarschen Kritik lassen den kleinbürgerlichen Hori­ zont seiner Theorie erkennen. Seine Abrechnung mit den herrschenden Zu­ ständen, die gewissermaßen die Gestalt einer Rentabilitätsrechnung des kleinen Einzelunternehmers annimmt, ist von der Empörung über die Launen und die Verschwendungssucht der Reichen getragen. Gegen ihre „useless dogs and horses“ , ihre „pleasure grounds“ , ihren „hair powder“ , gegen ihren demonstra­ tiven Konsum wie ihre „unproduktive“ Existenzform im allgemeinen kehren sich hier die Normen und Verhaltensweisen von Fleiß, Sparsamkeit und Rentabilität, die Inkarnationen der „Vernünftigkeit“ und Mäßigung des Klein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Produzenten. Dies wird nicht nur indirekt, an den „unspoken assumptions“ deutlich — etwa wenn Miliar von der „negligence“ und dem „mismanagement, ineident to all extensive undertakings“ , spricht und hierunter „waste and bad economy“ versteht, die sich über die Sphäre der Wirtschaft hinaus auf die Bereiche der Moral und insbesondere der Politik erstrecken103. In der Gestalt des „small proprietor“ wird jenes Vorbild auch direkt zum Thema. Dieser „small proprietor“ gehört als „man of moderate fortune“ 104 den „middling ranks“ 105 an. Er geht weder der Luxusexistenz der Reichen nach, noch ist er der nackten Not der besitzlosen Armen ausgeliefert100. Vom dau­ ernden Zwang zur Arbeit ist er zumindest so weit freigestellt, daß er der Aufklärung teilhaftig werden und sie zugleich weitertreiben kann107. Gerade dadurch aber ist er zu effizienter und intelligenter Arbeitsleistung108 wie zur Empfindung von „simple, rational and heart-felt enjoyments“ 109 fähig. In seiner „reasonable economy“ 110 stellt er nicht nur die Verkörperung Ökonomi­ scher Rationalität, sondern auch die Personifizierung des fortschrittlichen, tu­ gendsamen und politisch unabhängigen Bürgers und Patrioten dar. Die Normen des politischen Humanismus und der Aufklärung bringt er unter den neuen, wenn auch noch unvollkommenen Bedingungen einer warenproduzierenden Gesellschaft gerade dadurch zum Tragen, daß er seine ökonomischen Interessen und Verhaltensweisen zu den herrschenden werden läßt. Dies zeigt sich deut­ lich an den Inhalten, die Miliar in seinen zentralen Tugendkatalog aufnimmt: Die „virtues of moderation, industry and economy in all“ 111 sind die aus­ schlaggebenden Bedingungen, unter denen Patriotismus und Aufklärung in einer Gesellschaft endlich dominieren können, die — durch die „inequality of property“ verdorben — die Mehrheit ihrer Mitglieder einstweilen noch in die Selbstentfremdung112, politische Korruption113 und Unbildung114 treibt. Das gute Gewissen des kleinbürgerlichen Moralisten gegenüber adeligem Müßiggang, merkantiler Habgier und politischer Korruption paart sich in Millars Bestimmung des tugendhaften, arbeitsamen und genügsamen Bürgers mit dem scharfen Blick des kleinbürgerlichen Ökonomen für unproduktive und rückständige Besitzverhältnisse. Diese merkwürdige Synthese reicht bis in die Begrifflichkeit und zeigt sich klar an der ökonomisch-moralischen Doppelpolig­ keit des Begriffs der „economy“ : In der „economy of individuals“ 115, die die sparsamen Hausväter und produktiv arbeitenden Besitzer praktizieren, liegt die Basis der „reasonable economy“ 116 des bürgerlichen Individuums als einer moralischen und politischen Person ebenso wie des rationellen Ablaufs gesamtwirtschaftlicher Prozesse117. Als historische Triebkraft bleibt diese „economy“ auch gegen die system­ bedrohenden Konsequenzen wirksam, welche die Kriege und Plünderungen der „great capitalists“ 118 entfalten119. Unterstützt durch die aufklärende Tätigkeit von Intellektuellen und eine weise Gesetzgebung wird die Dynamik der „reasonable economy“ schließlich jene Utopie realisieren, in der Millars Synthese von kleinbürgerlicher Ökonomie und Moral aufgeht: Es wird eine arbeitsame, besitzende, tugendhafte und aufgeklärte Gesellschaft entstehen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ein Zustand, in dem „the great body of the people, relieved from the pressure of taxes, and acquiring some little property . . . would be enabled to educate their children, and might view an independent and comfortable provision in their old age. . . easily attainable by industry and commerce, increasing and husbanding those little fortunes which they have inherited from their relations. Each man . . . would have sufficient motives to exertion; but. . . none would be worn down by incessant labour . . . wealth would no longer be the only title to respect. The accumulation of riches would proceed in quiet, but regular progression; and while the diffusion of knowledge would increase the productive powers of our workmen, the capital of the nation, divided into innumerable vivifying rills, each superintended and directed with the most anxious care, would adorn, enrich, and fertilise the country. The effects of this equalization on literature and the fine arts, also deserve our serious attention. It seems undeniable, that the more general liberal education became, there would be the greater probability of the discovery of genius; . . . the studies most immediately useful to the welfare or enjoyments of man would no doubt command the most universal attention; and it is fit they should; but many individuals, following the direction of their genius and their taste, would still cultivate the abstract sciences; and, tho' they could not make their speculations interesting or even intelligible to the people at large, they would find an ample recompense for their labours, in the improvement of their own minds, and the approbation of the learned and discerning. Others would endeavour to spread some part of their sublime discoveries among the people; all learned jargon, all opinions respectable only from their antiquity, all affected and pedantic obscurity, would soon become contemptible: we should no longer find an author profound in words and shallow in ideas; and this simplicity would greatly conduce to the interests of science. The effects of the arts, which embellish life, would not be less salutary. There might be less sumptuousness in the gardens, and palaces of individuals; but α moderate degree of riches being more generally possessed, a greater number of inhabitants would dedicate part of their time to the cultivation of a just and discerning taste. The nation, becoming more opulent, would be enabled to execute greater public works; the wonders of art, no longer shut up in private repositories, to which few can procure admittance, would exist for the Instruction and amusement of the people; discernment, feeling, and taste would be more generally diffused, and genius would find a full and noble recompense in universal, just, and merited admiration“ 150. Die Utopie von Aufklärung und Erziehung, von Wissenschaft und Kunst, die aus den Gärten und Palästen der Reichen auswandern und dem Volke öffentlich dienstbar werden, basiert auf der Prämisse, daß das Kapital in zahllosen Rinnsalen gleichsam versickert und trotzdem im „capital of the nation“ zusammenströmt. Im Gegensatz zu dieser Utopie aber gehen die kleinen Warenproduzenten in Millars klassentheoretische Analyse der modernen Gesellschaft nur höchst unvollkommen ein: Im durchaus hierarchisch konzi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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pierten Gefüge von Kapitalisten, Grundbesitzern und Lohnarbeitern, das der „commercial society“ zugrunde liegt, finden die Kleinproduzenten kaum Platz. Bindet Miliar die Wirklichkeit von Aufklärung explizit an die Existenz einer Gesellschaft kleiner Bürger, so beruht die Behauptung ihrer Wirksamkeit zumindest auf der angenommenen Harmonie der tatsächlich sich entfaltenden, kapitalistischen Klassen — einer Harmonie, die selber wiederum nicht mit der Existenz von Klassen vereinbar ist, sondern sich einzig im Konzept einer „klassenlosen“ Gesellschaft individueller, selbständiger und auf einer ungefähr gleichen Eigentumsbasis produzierender Warenbesitzer verorten läßt. Konnte Miliar diesen Bezugspunkt seiner Utopie angesichts der gesellschaft­ lichen Umstände seiner Zeit noch mit historischem Recht in Anspruch nehmen, so mußte diese Utopie selber in dem Maße abstrakt werden, wie der historische Prozeß über die Kleinproduktion hinwegrollte. Aufklärung, Kunst und Wissen­ schaft mögen zwar nicht länger in den Palästen der Reichen beisammenwohnen, und tatsächlich wurden sie den Marktgesetzen unterworfen — doch sind die Armen um sie nicht reicher geworden.

Anmerkungen 1 A. L. Macfie, J . Miliar: Α Bridge between A. Smith and the 19th Century Social Thinkers?, in: ders., The Individual in Society. Papers on A, Smith, London 1967, 141 ff. — Die hier vorliegende Arbeit entstand aus der gemeinsamen Diskussion unserer beiden Dissertationen: H. Medick, Naturzustand u. Naturgeschichte der bürger­ lichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilo­ sophie u. Sozialwissenschaft bei S. Pufendorf, J . Locke u. A. Smith, Göttingen 1973; A. Leppert-Fögen, Die deklassierte Klasse, Studien zur Geschichte u. Ideologie des Kleinbürgertums, Frankfurt 1974. In einer ersten thesenhaften Fassung lag die­ ser Aufsatz einem Vortrag zugrunde, der am 11. 5. 1973 von H. Medick vor dem „Edinburgh Seminar on the Cultural History of the Enlightenment“ an der Universität Edinburgh gehalten wurde. 2 S. W. Sombart, Die Anfänge der Soziologie, in: Erinnerungsgabe für M. Weber, München 1923, I, 11, bes. 13 f. 3 Zur Biographie: W. C . Lehmann, J . Miliar of Glasgow. His Life and Thought and His C ontribution to Sociological Analysis, C ambridge 1960; wichtigste biographi­ sche Quelle: J . C raig, An Account of the Life and Writings of the Author (J. M.), Einleitung zu J . Miliar, The Origin of the Distincuon of Ranks, Edinburgh 41806. Wichtigste Werke: The Origin of the Distincuon of Ranks: or, An Enquiry into the Circumstances which give Rise to Influence and Authority in the Different Members of Society, London 31779; 1. u. 2. Aufl. u. d. T.: Observations C onccrning the Distinction of Ranks in Society, London 11771 (zit. nach der Neuausgabc der 3. Auf­ lage, abgedr. bei Lehmann, 167 ff.); deutsche Ausgaben der „Ranks“ : Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft, Leipzig 1772; dasgl. u. d. T. Aufklärungen über den Ursprung u. Fortschritte des Unterschieds der Stände u. des Ranges, in Hinsicht auf Kultur u. Sitten bei den vorzüglichsten Na­ tionen, Leipzig 31798; Neuausgabe: Vom Ursprung des Unterschieds in den Rang­ ordnungen u. Ständen der Gesellschaft, Hrsg. W. C . Lehmann, Frankfurt 1967; ders., An Historical View of the English Government from the Settlement of the Saxons in Britain to the Revolution in 1688. To which are Subjoined Some Disserta-

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tions C onnected with the History of thc Government from the Revolution to the Present Time, Hrsg. J . Craig u. J . Mylnc, 4 Bde., London 1803 (I u. II: London 1 1787). 4 Zum Gesamtzusammenhang der Entstehung der Soziologie, Politischen Ökonomie und Politischen Wissenschaft aus der moralphilosophischen Tradition der schottischen Universitäten s. Medick, 180 ff. 5 D. Stewart, Account of the Life and Writings of A. Smith, in: ders., The Collected Works, Hrsg. Sir W. Hamilton, X, Edinburgh 1858. 6 Hier angeführt der Titel der 3. Aufl. von 1779, zum ursprüngl. Titel s. oben Anm. 4. 7 S. jetzt die vorzügliche historisch-kritische Neuausgabe durch D. Forbes (Hrsg.), A. Ferguson, An Essay on the History of C ivil Society (1767), Edinburgh 1966. 8 Dies entspricht auch dem Urteil von Marx, der zwar Millars „Observation Concerning the Distinction of Ranks in Society“ in der Ausgabe von 1783 gelesen und exzerpiert hat (vgl. M. Rubel, Fragments Sociologiques dans les Inédits de Marx, C ahiers Internationaux de Sociologie 22/1957, 132, Anm. 1), doch wird er in keiner der publizierten Schriften von Marx erwähnt, während Ferguson wieder­ holt zitiert wird (vgl. etwa: Das Kapital I, MEW 23. 1968, 375, 382 ff.). Insbe­ sondere unterstreicht Marx hier Fergusons bildungshumanistisch motivierte Kritik der „nachteiligen Folgen der Teilung der Arbeit“ (383, Anm. 70), eine Kritik, in der er eine Pionierleistung sieht. Irrtümlicherweise allerdings bezeichnet Marx Adam Smith in dieser speziellen Hinsicht wie auch generell als den „Schüler“ Fergusons. Weder was die Kritik der Arbeitsteilung und Entfremdung, noch was das tatsächliche Verhält­ nis beider betrifft, kann Smith jedoch als ein „Schüler“ Fergusons gelten, der dessen Theorie lediglich „reproduziert“ habe (383, Anm. 70). Smith beendete seine Lehrtätigkeit als Professor für Moralphilosophic an der Universität Glasgow (1751—1763), bevor Ferguson mit seiner Lehrtätigkeit in Edinburgh begann (1764—1785). In bezug auf die Kritik der Arbeitsteilung und Entfremdung gab es zwischen beiden einen ungeklär­ ten Gelehrtenstreit, wobei Smith den Prioritätsanspruch anmeldete, Ferguson dagegen lediglich auf die gemeinsame Abhängigkeit beider von Rousseau hinwies (vgl. J.Viner, Einleitung zu J . Rae, The Life of A. Smith, Hrsg. J . Viner, Ν. Y. 1965 [1895], 36). Diese „Einzelheit“ ist auch insofern bedeutsam, als sich der Marxsche Irrtum über das angebliche Schüler-Lehrer-Verhältnis Smiths zu Ferguson in der marxistischen Literatur bis in die Gegenwart erhalten hat. (S. etwa M. Vester, Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Zur Soziologie der Arbeiterbewegung, Frankfurt 1970, 180.) 9 S. die Überwachungsakten in der Scottish C orrespondence. Home Office Papers. Public Record Office London (HO, PRO), aus denen sich eine führende Rolle Millars in der radikalen Reformbewegung Schottlands z. Z. der Französischen Revolution ergibt. So stellte z.B. ein Informant aus Glasgow die aktive Beteiligung Millars bei der Gründung des Glasgower Zweigs der schottischen „Society of the Friends of the People“ heraus, die sich — im Unterschied zur gleichnamigen Londoner „Society of the Friends of the People“ am Vorbild der radikal-demokratisch jakobinischen englischen „C orresponding Societies“ ausrichtete und ihre Mitglieder vorwiegend aus Handwerkern und Gewerbetreibenden (wie die Überwachungsakten immer wieder betonen aus den „lower classes of the people“ ) rekrutierte. Am 12. 10. 1792 berichtet der Informant über die Gründung der Glasgower Sektion der „Society of the Friends of the People“ : „The success of the French Democrats has had a most mischievous effect here — did it go no farther than give occasion for the triumph to these who entertain the same sentiments here, there would be little harm, for they are very few in number — and but two or three of them possessed of any considerable influence and respectability — but it has led them to think of forming societies for reformation into which the lower class of people are incited to enter — and however insignificant these leaders may be in themselves, when backed with © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the mob they become formidable. I enclose you a copy of the resolutions and plan which they are circulating with great industry and I am assured a very great number have already subscribed to the declaration which they consider to be an oath — their secretary told a gentleman this morning they would have 50 000 subscribers.“ — „I am informed, just now that there was a meeting of the reformers last night — that there were about fifty present, all were tradesmen except Professor Miliar (Hervorh. d. Verf.) and Mr. Muir (Student Millars) who notwithstanding the moderation of the declaration made most inflammatory Speeches.“ HO, PRO, 102, Vol. V., 12. 10. 1792, 369 f. 10 Rae, 53 f. Treffend wird die politische Einstellung Millars von R. L. Meek charakterisiert: „in his political life . . . he was a rather unorthodox left-wing Whig with republican sympathies, who in every political crisis ranged himself on the side of the angels of history“ . Exonomics and Ideology and other Essays. Studies in the Development of Economic Thought, London 1967, 46 (dt: Ökonomie u. Ideologie, Frankfurt 1973). 11 S. Justiciary Records. West C ircuit Minute Books. Scottish Record Office Edinburgh, Bd. 13 (1764) ff. Als auffälligstes und durchgängiges C harakteristikum der Anwaltstätigkeit Millars erscheint seine häufige Verteidigung von Angehörigen unterprivilegierter Schichten, ob es sich um Arbeiter, Handwerker und Kleingewerbe­ treibende, besonders auch Arbeiterfrauen oder um einen des Leichendiebstahls ange­ klagten Anatomen handelt; vgl. u. a. ebd. 13 (6. 5. 1764: M. als Verteidiger von drei des Diebstahls angeklagten Schmieden und Werzeugmachern gegen ihren Arbeitgeber); 14 (11. 5. 1765: Verteidigung einer Webersfrau aus Paisley wegen Tuchdiebstahls); 15 (1. 5. 1766: Verteidigung einer des Totschlags an ihrem Mann angeklagten Frau); 16 (3. 10. 1767: Verteidigung von 5 Webern aus Glasgow und Umgegend gegen die Anklage des Lohnbündnisses, Aufruhrs und Streiks mit dem interessanten Argument, daß nicht die Weber selber, sondern ihre Arbeitgeber zunächst ein illegales Bündnis zum Zwecke der Lohnsenkung eingegangen seien); 16 (5. 10. 1767: Verteidigung einer wegen Tabakdiebstahls angeklagten Arbeiterfrau); 19 (11. 10. 1773: Verteidigung von 10 Webern aus Paisley und Umgegend gegen die Anklage einer „unlawful combina­ tion“ ) ; 20 (11. 5. 1775: Verteidigung eines wegen Getreidediebstahls angeklagten Fuhr­ manns; ebd. 11. 5. 1775: Verteidigung eines Arztes und Anatomen aus Paisley, der des Diebstahls einer Kinderleiche aus einem Grab bezichtigt wird. In diesem Fall bedient M. sich einer radikal-aufklärerischen Argumentation, indem er den Leichen­ diebstahl unter Hinweis auf die übergeordneten Interessen wissenschaftlichen und menschlichen Fortschritts verteidigt: (M.) „objected to the relevancy of the crime, for Imo the rising or dissecting a dead body is not mentioned as a crime in any of our Statutes, nor by any of our lawyers. 2ndo It is not a crime by the Law of Nature, especially in the case of a surgeon as the present, where there can be no criminal or guilty intention, the only intention of the surgeon being to improve hinself in his business for the benefit of his patients and of mankind, and 3io it is not consistent with expediency that it should be punished as criminal; for 1st, without it medical people cannot acquire sufficient knowledge of anatomy; the few felons whose bodies are given to the professors of that art being by no means sufficient for that purpose. 2nd it is by the same means that general and useful discoveries are made in anatomy and if it shall be declared criminal, an end will be put to future discoveries in that useful science.“ 12 Hierzu die mit großer Wahrscheinlichkeit Miliar zuzuschreibenden anonymen Letters des „C itizen of Glasgow“ im „Scots C hronicle“ vom 30. 12. 1796—7. 7. 1797, die sowohl ausgezeichnete Informationen über Arbeiterbildungsvereine im zeitgenössi­ schen Schottland als auch ein beredtes Plädoyer für ihre Förderung enthalten. 13 Hierzu C raig, Account, C XII. 14 S. oben, 23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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15 Vgl. hierzu besonders das anonyme, hauptsächlich gegen Miliar als politischen Professor und graue Eminenz der Glasgower „Society of the Friends of the People“ gerichtete Pamphlet „Asmodeus: or Strictures on the Glasgow Democrats“ (1793): „every man of common sense must acknowledge the force of early impressions and in this age of attempts at the establishment of detestable impracticable theories, their baneful effects should be guarded against with the utmost caution. — Beings of my order, Mr. Editor, are incapable of procreating flesh and blood; but were I a mortal and a father, I would certainly prefer finishing my son's education at a brothel, to a school where his political principles were likely to be contaminated: In the former, he would only run the risk of his nose — in the latter of his neck — These observations proceed from having observed, that in some instances, the teachers in the public seminaries of this kingdom profess themselves Republicans; though, at the same time, I must admit, that nine times in ten, their dislike of Monarchy arises, not from principle, but from interested motives only. Men of that description should either relinquish their tenets or their places; for is there not a gross inconsistency in their eating the King's bread, and at the same time vilifying his government? The mildness of the British constitution is strongly exemplified in the security in which these pests of society vomit forth their opinions. Were the like freedoms taken with the executive government in their beloved land of Liberty and Equality, the lamp-iron or the scaffold would soon terminate their career. But though the British Lion indignantly pisseth upon these snarling curs, is it fitting that they should continue their practices with impunity?“ , ebd., 2 f.; vgl. auch H. C ockburn, Life of Lord Jeffrey, Edinburgh 1852, I, 12, wo C . darauf verweist, daß der Vater des zukünftigen Gründers und Herausgebers des „Edinburgh Review“ sich Vorwürfe gemacht habe, seinen Sohn dem politisch korrum­ pierenden Einfluß Millars ausgesetzt zu haben; A. C arlyle, Autobiography, Edinburgh 1860, 492 ff.; s. auch den interessanten Brief David Humes vom 8. 12. 1775 an seinen Neffen, der als Student in Millars Haus lebte. Hume warnt den Neffen — bei Aner­ kennung von Millars großen Fähigkeiten — vor Millars Radikalismus und kontrastiert seinen eigenen theoretischen mit Millars praktischem Republikanismus, den er auf eine potentielle „revolution . . . decided by the sword“ hinauslaufen sieht. D. Hume an D. Hume the Younger, 8. 12. 1775, in: J . Y. T. Greig (Hrsg.), The Letters of D. Hume, II, 306. 16 S. hierzu G. E. Davie, The Democratic Intellect. Scotland and Her Universities in the 19th C entury, Edinburgh 21964; zur Restriktion des Zugangs seit Beginn des 19. Jahrhunderts: W. M. Mathew, The Origins and Occupations of Glasgow Students, 1740 to 1839, Past & Present 33. 1966, 74 ff. 17 Insbes. ders., Miliar (Anm. 3), aber auch ders., Some Observations on the Law Lectures of Prof. Miliar at the University of Glasgow, Juridical Review N.S. 15. 1970, 56 ff., ders., C omment on L. Schneider, „Tension in the Thought of J . Miliar“ , in: Studies in Burke and His Time, Winter 1971/72, 2099 ff. 18 S. dessen Sammelband: Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, London 1972. 19 Ders., Tension in the Thought of J . Miliar, in: Studies in Burke and His Time, Winter 1971/72, 2083 ff. 20 London 1796. 21 London 1796. 22 Algernon Sidney (1622—1683) Zentralfigur des klassischen Republikanismus des 17. Jahrhunderts, der ebenso durch seine politische Vita (Tod auf dem Schaffot nach Beteiligung am Rye-Housc-Plot 1683 und Verurteilung wegen Hochverrats) wie durch seine Hauptschrift (Discourses C oncerning Government, London 1698) zum Vorbild der C ommenwealthmen des 18. Jahrhunderts wurde. Vgl. hierzu C . Robbins, The 18th C entury C ommonwealthmen. Studies in the Transmission, Development and

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Circumstance of English Liberal Thought from the Restoration of C harles II until the War with the 13 Colonies, C ambridge/Mass. 1959, 41 ff. 23 Zu C . J . Fox s. jetzt J . W. Derry, C . J . Fox, London 1972; die dezidierte Parteinahme Millars für Fox und seine radikalwhiggistische Richtung auch nach der Spaltung des englischen Whiggismus während der Französischen Revolution ergibt sich aus dem interessanten Briefwechsel mit C . Wyvill zwischen dem 27. 7. 1800 und dem 20. 1. 1801, abgedr. in: C . Wyvill, Political Papers C hiefly Respecting Reform of Parliament, York 1770—1802, VI, 95 ff.; Lehmanns eher konservativ-harmonisie­ rende Millar-Interpretation, wie besonders sein Versuch, M. in die Nähe Burkes zu rücken, dürften sich schon auf Grund des Briefwechsels mit Wyvill als unrichtig erwei­ sen, wird aus diesem doch deutlich, daß Miliar auch angesichts der einsetzenden Konterrevolution bis zu seinem Lebensende 1801 ein radikaler Parlamentsreformer blieb, der zur Erreichung dieses Ziels auch außerparlamentarischen Druck und außer­ parlamentarische Opposition wie Assoziation für legitim hielt, s. hierzu besonders Miliar an Wyvill, 20. 2. 1801, in: Wyvill, VI, 105 ff.; vgl. aber Lehmann, C omment, 2110, Anm. 26. 24 Zu James Harrington (1611—1677) und seinem Einfluß auf den englischen Re­ publikanismus des 17. und 18. Jahrhunderts s. J . G. A. Pocock, Machiavelli, Harring­ ton and English Political Ideologies in the Eighteenth C entury, in: ders., 104 ff.; Robbins, 32 ff. 25 Vgl. auch die Berufung auf die „superior authority of Harrington“ , in: Miliar, Sidney, Letter VIII (abgek. VIII), 39; ferner die positive Stellungnahme zu Harrington in Miliar, Historical View, III, 285 ff. und Sidney XII, 60, die Berufung auf Harrington als „judicius author“ . 26 Die „Letters of C rito“ vom 27. 5. 1796—2. 9. 1796; die „Letters of Sidney“ vom 5. 8. 1796—29. 11. 1796: zur politischen Ausrichtung des Scots C hronicle, hinter dem als einer der anonymen Finanziers der Millar-Schüler und -Freund James Maitland, 8th Earl of Lauderdale stand, s. W. J . C ouper, The Edinburgh Periodical Press, Stirling 1908, II, 212 ff. 27 D. Murray, Memories of the Old C ollege of Glasgow. Some C hapters in the History of the University, Glasgow 1927, 227, Anm. 1. 28 Lehmann, Miliar, 404. 29 Vgl. J . C raig, Elements of Political Science, 3 Bde, Edinburgh 1814, II, Kap. V Sect. I, 188 ff.: Of the Distribution of Wealth among the Several Classes of Inhabitants und die bis in die Anmerkungen wörtliche Übereinstimmung mit Letters of Sidney I, II ff. 30 Zu den Millarschen „Lectures on the Science of Government“ s. Medick, 185 f., besonders Anm. 41. 31 S. hierzu insbes. Pocock, C ivic Humanism and Its Role in Anglo-American Thought, in: ders., 101 ff.; ferner ders., Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies, ebd., 104 ff., bes. 145 ff.; ferner ders., Virtue and C ommerce in the 18th Century, in: Journal of Interdisciplinary History 3. 1972, 119 ff. 32 Pocock, Machiavelli, 106 u. allg. ders., Languagcs and their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought, in: ders., 3 ff. 33 Hierzu Medick, 138 ff. u. die dort angeführte Lit. Zu den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten ausgezeichnet T. C . Smout, Α History of the Scottish People, 1560—1830, London 1969, bes. Kap. IX—XIX, 21 ff.; s. ferner den wichtigen Sammelband von Ν. Τ. Phillipson u. R. Mitchison Hrsg., Scotland in the Age of Improvement, Edinburgh 1970; zur Sozialgeschichte der schottischen Aufklärungs­ bewegung, als deren integralen Teil sich die schottische Sozialwissenschaft begriff, s. B. Bailyn u. J . C live, England's C ultural Provinces: Scotland and America, William and Mary Quarterly 3. Ser. 11. 1954, 200 ff.; J . C live, The Social Background of the Scottish Intellectual Renaissance, in: Phillipson u. Mitchison, 255 ff.; ferner die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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wichtigen Arbeiten von G. E. Davie, Hume, Reid and the Passion for Ideas, in: Edinburgh in the Age of Reason. Α Commemoration, Edinburgh 1967, 23 ff.; ders., Anglophobe and Anglophile, Scottish Journal of Political Economy 14. 1967, 291 ff.; s. auch die anregende und hypothesenreiche Studie von H. R. Trevor-Roper, The Scottish Enlightenment, in: Transactions of the Second International Congress on the Enlightenment, IV (Studies on Voltaire and the 18th Century, Bd. 58), G enf 1967, 1635 ff. 34 Vgl. T. C. Smout, The Anglo-Scottish Union of 1707, EHR 16. 1964, u. R. H. Campbell, The Anglo-Scottish Union of 1707, ebd.; vgl. auch T. C. Smout, Scottish Trade on the Eve of Union, Edinburgh 1964. 35 In Theorie und Praxis vertrat diese Einstellung Andrew Fletcher of Saltoun (1655—1716) S. ders., Political Works, London 1737; zu Fetcher s. Robins, 180 ff.; eine interessante Variante dieser Argumentation findet sich in der anonymen Flugschrift des G lasgower Moralphilosophen und Lehrers von Smith: Francis Hutcheson (1694 —1747), An Address to the G entlemen of Scotland, G lasgow 1735; zu diesem frühen „Manifesto of the Scottish Enlightenment“ s. Davie, Hume, 25 ff.; zu Hutcheson auch Robbins, 185 ff. 36 Dort, wo Pocock in Ansätzen diese Zuordnung vorzunehmen versucht, geschieht dies zu unspezifisch, durch Berufung auf eine in ihrer Struktur nicht näher analysierte „urban and commercial society“ (101) als den angeblichen Bezugspunkt der schotti­ schen Sozialwissenschaften. Auch die für die Smith-Interpretation und damit für die Geschichte der schottischen Sozialwissenschaften wichtigen Arbeiten L. C ollettis (Rous­ seau as C ritic of „C ivil Society“ , u. ders. Mandeville, Rousseau and Smith, in: ders., From Rousseau to Lenin. Studies in Ideology and Society, London 1972, 143 ff. bzw. 195 ff.) greifen in dieser Hinsicht zu kurz, wenn sie trotz eines bewußt gewählten materialistischen, ideologiekritischen Ansatzes Rousseau als den in der Tradition des klassischen Humanismus stehenden Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft allzu schnell Smith als einem affirmativen Theoretiker der kapitalistischen Gesellschaft gegenüberstellen. 37 Meek, 45. 38 Schneider, 2083 ff. 39 Ebd., 2090. 40 Ebd., 2095. 41 Ebd., 2090. 42 Ebd., 2093. 43 D. Forbes, Scientific Whiggism, A. Smith and J . Miliar, C ambridge Journal 3. 1954, 643 ff. 44 Schneider, 2091. 46 Ebd. 45 Ebd., 2097. 47 K. Marx, Theorien über den Mehrwert, I, Berlin 1956, 114. 48 A. Smith, The Wealth of Nations, Hrsg. E. C annan (11904), London 1961 (B. I, Kap. IV), I, 26. 49 S. Miliar, Origins, Kap. VI, Sect. I, 296 ff.: The condition of servants in the primitive ages of the world; bes. Sect. II, 299 ff.: The usual effects of opulence and civilized manners with regard to the treatment of servants, 299 ff. Weit entfernt von jedem eindimensionalen Fortschrittsoptimismus verweist M. hier auf das institutionelle Eigengewicht der Sklaverei im Prozeß sozioökonomischen Wandels, der politische Emanzipation keineswegs automatisch nach sie ziehe; s. ferner ebd., Sect. II, 305 ff.: Causes of the freedom acquired by the labouring people in Modern Europe; u. bes. Sec. IV, 315 ff.: Political C onsequences of Slavery. 50 M. schließt sich in den „Letters of Sidney“ explizit der Lockeschen Arbeits­ legitimation des Eigentums an; s. den Hinweis auf das klassische Kap. V des II. „Treatise of Government“ in Sidney IX, 45. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Miliar, Vom Ursprung, 222. Hierzu Miliar, Origins, 289 ff., ders., Historical View III, 101 ff.; ebd., IV, 102 ff. 53 Ebd., III, 101. 54 S. Miliar, Origins, 290 ff.; ders., Historical View III, 105 ff.; ebd., IV, 128 ff. 55 Ebd., IV, 131. 56 Miliar, Origins, 291. 57 Miliar, Historical View, 130. 58 M. verwendet den Begriff „emancipated“ in bezug auf die sich ändernde Stel­ lung der bäuerlichen Unterschicht im Wandel zur „commercial society“ . Diesen Wandel stellt er ausschließlich in der positiven Perspektive einer vermehrten ökonomi­ schen, sozialen und politischen Unabhängigkeit des bäuerlichen Pächters dar. Historical View IV, 126: „He (i.e. der Farmer) is thus totally emancipated (Hervorh. v. Verf.) from his former dependence; becomes more enterpristng in proportion to his opulence; and upon the expiration of his lease, he finds that it is no more his object to obtain a good farm than it is the interest of every landlord to obtain a good tenant“ ; vgl. die analoge Verwendung des Begriffs in Hist. View III, 105. 59 Miliar, Origins, 289 ff., vgl. die in Anm. 52 genannten Stellen. 60 Miliar, Historical View IV, 116; vgl. Smith (Β. Ι, Κ. II), I, 19: „And thus the certainty of being able to exchange all that surplus part of the produce of his own labour, which is over and above his own consumption, for such parts of the produce of other men's labour as he may have occasion for, encourages every man to apply himself to a particular occupation, and to cultivate and bring to perfection what­ ever talent or genius he may possess for that particular species of business.“ 61 Historical View IV, 107. 62 Ebd., VI, 23, vgl. auch 24, ferner das Postskriptum; „The Effects of War on Commercial Prosperity“ , ebd., 104. 63 Hierzu bes. ebd., XVI, 83. 64 „It merits attention, however, that the whole revenue drawn by a merchant or manufacturer, though in a loose way commonly called his profit, does not with propriety come under this description. Besides the value of his capital, from its effect in shortening, facilitating, and superseding labour, he draws an adequate compensation for his own efforts in putting that capital in motion, for his attention and skill in condueting the several parts of the business, and for the inconvemence he may sustain in waiting a distant, and in some degree, an uncertain return. The former is properly the rent of capital: the latter may be called the wages of mercantile exertion.“ (Historical View IV, 121 f.) 65 „The manufacturer, therefore, draws a return for his capital, inasmuch as it has been the means of shortening the labour, and consequently of diminishing the expense of his manufacture.“ (Historical View IV, 118) 66 S. Sidney IV, 12 f., ebd., 17. 67 Sidney IV, 12 f.: „The bad effects of great inequality of property are not confined to the very rich and the very poor, to those who may be considered as at the opposite terminations of the great chain of civilized society; they extend through every connecting link, contaminating the morals of the whole nation. When the two extremes of opulence and want are continually before our eyes, it is natural that we should consider the one as including every thing we desire; the other, as connected with every thing we would wish to shun. Riches become associated in our imaginations with independence, splendour, happincss, and admira­ tion; poverty, with servility, misery, and contempt. We transfer these qualities to the persons of those who compose the two opposite classes (Herv. d. Verf), and pay an involuntary respect to the opulent, while the indigent too are often treated with unmerited contempt. Α man is no longer valued aecording to his real worth, 51 52

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his intellectual und moral attainments, but aecording to his apparent wealth and splendour.“ Vgl. ebd., 17: „inequality of property has produced two classes, the opulent who purchase, and the indigent who sell, the interests of their country“ . 68 Historical View IV, 114. 69 Die Verwendung des Klassenbegriffs ist jedoch bei Miliar nicht durchgängig systematisiert. Neben dem Gebrauch i. S. des Zwei- bzw. Dreiklassenmodells findet sich in den Millarschen Schriften auch eine unspezifische Verwendung zur C harakteristik beliebiger sozialer Gruppen. So spricht Miliar im „Historical View“ (IV, 118) von den „several classes of manufacturers, tradesmen, and merchants“ ; in den „Letters of C rito“ (IV, 16) von den „various classes of executive officers“ ; in den „Letters of Sidney“ findet sich eine systematische wie eine unspezifische Verwendung des Klassenbegriffs in ein und demselben Zusammenhang: so (XVI, 83) spricht Miliar zwar von der „numerous class of capitalists employed as contractors, agents and commissaries“ , um diese „class“ im Anschluß daran aber folgendermaßen zu spezifi­ zieren: „These different classes, younger brothers and bankrupts, capitalists, stock­ jobbers, and contractors, with all their train of dependants, relations and friends, form a very large body of the people.“ 70 So heißt es etwa bei Ρ. Α. Samuelson: „Physical capital goods are important in any economy because they help to increase produetivity. This is as true of Soviet communism as it is of our system.“ (Economics. An Introductory Analysis, 7. Aufl., o. O., o. J . , 50.) Diese Verwechslung eines gesellschaftlichen Verhältnisses mit einer Sache, die Ableitung des Profits aus den technischen Qualitäten dieser Sache wie schließlich die Theorie der drei Produktionsfaktoren selber hatte Marx unter der Überschrift: „Die trinitarische Formel“ , angegriffen: „Kapital, Boden, Arbeit! Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen C harakter gibt.“ (Kapital III, MEW 25, 1968, 822.) 71 Sidney X, 50, vgl. 51. 72 Der anti-feudale Hintergrund der Millarschen Theorie drückt sich ebenso in dem weiteren Vorzug aus, den er dem Kapital zuschreibt: Seine Verbreitung löse zunehmend die personelle Bindung des Arbeiters an einen bestimmten „Herrn“ : „But, in commercial countries, the bond of union between the workmen and their employer is gradually loosened. There, the most numerous class of labourers are those employed in subserviency to trade or manufactures; and they are so indiscrimi­ nately engaged in the service of different persons, that they feel but little the loss of a particular master, with whom they have formed but a slight connexion.“ (Historical View IV, 115.) 73 Ebd., 115 ff. 74 M. Dobb, Studies in the Development of C apitalism, London 1946, 181 (dt. Entwicklung des Kapitalismus, Köln 1970). 75 Der Lohnarbeiter in einem auf kapitalistischer Basis arbeitenden Betrieb (M. hat in diesem Zusammenhang meist das mit einem hohen Anteil an „circulating stock“ arbeitende Verlagssystem, noch nicht den modernen Industriebetrieb im Auge, s. Histori­ cal View IV, 117 ff.) wird nach Miliar im Prinzip „gerecht“ entlohnt, d. h. zu den Bedingungen, die sich ergäben, arbeitete er, wie zuvor, als selbständiger Warenprodu­ zent. Zwar mögen ihm Abzüge vom Lohn durch den Unternehmer auferlegt werden, doch werden diese kompensiert durch die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Hierzu die wichtige Anmerkung, Historical View IV, 120: „A part of the profit of a manufac­ turer may also be drawn from the workman, who, however, will have a full equivalent for what he thus resigns. By working to a master he is sure of constant employment, is saved the trouble of seeking out those who may have occasion for his labour, and avoids the anxiety ansing from the danger of being thrown occasional© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ly idle. In return for these advantages, he willingly relinquishes to his master some part of what he can earn while employed. Accordingly in Scotland, where it is still very common for good housewives to manufacture linens for the use of their families, the weavers whom they employ, usually demand wages somewhat higher than the ordinary rates payed by the manufacturers.“ 76 Zur scharfen Kritik Millars an der „Entfremdung“ des Arbeiters im arbeitsteili­ gen Produktionsprozeß s. Historical View IV, 143 ff., 159 ff. 77 Ebd., 115 f. 78 Sidney I, 3. 79 Ebd., Widmung an den Earl of Lauderdale S. III. 80 Ebd., I, 2 f. 81 Ebd., VII, 27, vgl. ebd., IV, 12. 82 Sidney I, 2. 83 Ebd., X, 52. 84 Ebd., X, 47: „All schemes of levelling are evidently destructive of the right of property . . . they are in direct Opposition to those rules and principles of morality which have been confirmed by the unanimous consent of mankind.“ 85 Zur naturrechtlichen Argumentation s. ebd., IX, 42 ff.; zur historischen Argumen­ tation ebd., VII, 27 ff.; ferner VIII, 33 ff., bes. 38 ff. (Analyse der englischen Bürger­ kriegsparteien, insbes. der „Levellers“ und der Parteien der Französischen Revolution), 88 Sidney X, 49 ff., bes. 49. 87 Ebd., 47 f.; vgl. auch 49. 88 S. bes. ebd., XVI, 80 ff. und den Anhang der „Letters of Sidney“ : „The Effects of War on C ommercial Prosperity“ , ebd., 97 ff. 89 Hier verwandt i. S. von C . B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962 (dt. 19732). 90 Sidney IV, 15. 91 S. zum Folgenden bes. Sidney X, 49 ff., bes. 50 f. 92 Diese Begründung zeigt klar den kleinbürgerlichen Fundus der Millarschen Theorie: Kommunistische, „gleichmacherische“ Umtriebe werden durchgängig mit dem­ selben Argument bekämpft wie die auf der Basis von Großgrundbesitz und Groß­ kapital herrschenden Klassen; beides führe zur Trägheit und zur „unproduktiven“ Nutznießung. 93 Sidney X, 52. 94 Ebd., 49, 50. 95 Sidney X, 50. 96 Ebd., 51 u. 50. 97 S. etwa die Zusammenfassung ebd., VI, 25. 98 Vgl. hierzu vor allem Millars Auseinandersetzung mit dem Primogeniturrecht und dem zeitgenössischen Testamentsrecht, Sidney XII, 58 ff., XIII, 62 ff., XIV, 68 ff. 99 Hierzu ebd., 97 ff.: „The Effects of War on commercial Prosperity“ . 100 Bes. Sidney V, 18 ff. u. VI, 23 ff. 101 Ebd., V, 18. 102 Ebd. 103 Historical View IV, 92. 104 Sidney XV. 79. 105 Vgl. hierzu ebd., XVII, 88. 108 Ebd., XVIII, 92 ff. 107 Ebd. 108 Ebd., XVIII, 93. 109 Ebd., II, 6. 110 Ebd., IV, 15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ebd., VI, 24. Ebd., II, 4 f.; II, 8 ff., vor allem IV, 12 ff. Ebd., IV, 16 f. Ebd., III. 8 f. Sidney, Postskriptum: „The Effects of War on C ommercial Prosperity“ , 103. Sidney IV, 15. Hierzu ebd., Postskriptum, 103 f. Sidney XVI, 83. Hierzu bes. Sidney XVI, 80 ff.; Postskriptum, 97 ff., bes. 103 f. Sidney XVIII, 92 ff.

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2. Etat, Corps, and Ordre: Some Notes on the Social Vocabulary of the French Old Regime By WILLIAM H. SEWELL

When the modern historian confronts the French old regime, his first reaction is usually bafflement1. The structure of government, the patterns of social stratification, the legal system: all seem perversely complicated and confused. Some of the confusion was certainly inherent in the society. France in the Century or two before the revolution was a very complex society, and the complexity was compounded by social, economic and intellectual changes. But most of the confusion is in our own minds. The problem is that we are in­ heritors of the French Revolution and therefore tend to see the old regime through post-revolutionary eyes — as is proven, indeed, by the very use of the term “ old regime“ . The French Revolution swept away not only the old social and political system but, more importantly for our purposes, the very postulates upon which it was based. The social and political world that emerged from the revolutionary era was constructed according to different principles, principles which, with important modifkations, remain at the base of both contemporary Western political systems and contemporary Western social and historical thought. The old regime looks confused to us because we have ap­ proached it with post-revolutionary intellectual categories. To properly under­ stand the old regime we must make a systematic effort to reconstruct the postu­ lates of pre-revolutionary society. We must learn to see the old regime in its own terms. I propose to contribute to this effort by examining three key concepts of the old regime's social vocabulary: Etat, C orps and Ordre. Historians have long recognized the importance of all three terms; for this reason France before the revolution is commonly referred to as a society of estates or of orders or as a corporative society. Each of these commonplace epithets, which are more or less interchangeable in historical usage, is meant to indicate that French society of the old regime was, or at least was so viewed by contemporaries, a society com­ posed of états, of ordres or of corps, as distinct from modern industrial so­ ciety which we normally think of as composed of classes. But while historians have recognized that the old regime's system of social stratification was dif­ ferent from that of industrial or post-revolutionary society, the meanings of the terms which they use to characterize it have not been sufficiently examined. 4 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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In this essay I am proceeding on the assumption that a society's pre-supposi­ tions are embedded in its language, and that linguistic exegis can therefore teil us much about the society's principles of order. This assumption is hardly origi­ nal, and is even enjoying something of a vogue in contemporary scholarship2. In fact, during the last few years some studies in this vein have begun to ap­ pear on the French old regime. Régine Robin's “ La Société française en 1789“ and the recent work of Roland Mousnier and his students amply demon­ strate the promise of this general approach3. It goes without saying that this essay owes a debt to their pioneering efforts. However, my own approach has been influenced most strongly by certain of my colleagues in history and anthropology at the University of C hicago, whose success in describing so­ cieties as different as contemporary America and Medieval India has encour­ aged me to try my hand on the French old regime4. The pages that follow are intended as a contribution to the social history of France, but it must be clearly understood that I am not attempting to describe French society as it actually existed and functioned. Although I will occasion­ ally discuss institutions, this essay is not about an institutional structure. Nor do I claim to be describing the way people actually behaved. The structure which I am attempting to set forth is a system of meanings, not a system of behaviors; in Talcott Parsons' terms, it is a cultural system rather than a social system5. Α cultural system and a social system are intimately inter-relat­ ed, since a cultural system is a set of meanings in terms of which actors under­ stand their actions. But the system of meanings and the system of actions are not the same thing. Nor is either system reducible to the other. The social system does not emanate from the cultural system, nor is the cultural system a mere “ super-structure“ generated by the concrete actions of real persons in the social system. To describe a social system we must be able to make accurate statements about how people behaved: how they were married, gave birth and died; how they produced and consumed wealth; with whom they associated in their public and private lives; how they cooperated and conflicted with one another; and so on. The currently favored method of describing a social system relies heavily on the collection of quantitative data about behavior, which are then manipulated so as to form frequencies, series and statistical associations. The “ social structure“ which historians construct by such methods is a systematic Statistical description of a large number of actions, a description made from the Standpoint of the historian and based on “ objective“ measures of actual behav­ iors. Α cultural system, however, is a system of meanings, and to describe a cultural system we must ask a different kind of question. We want to know how the members of a society perceived their world; we are seeking not “ ob­ jective“ and exterior measures of how people actually behaved, but people's “ subjeetive“ and interior notions about how the world was structured and about how human beings operated in it. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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By saying that a cultural system is “ subjeetive“ , I do not mean to imply that it is either less struetured or less accessible to historical investigation than the “ objeetive“ behaviors that constitute the social system, but rather that its strueture can best be described in a different way. Α cultural system is a system of meanings or symbols that can be likened to a language — either an ordinary spoken language like French or Urdu, or a technkal language like mathematics or FORTRAN. Like other languages, a cultural system has a lexicon and a grammar: a set of symbols with certain meanings and a set of rules for the combination of these symbols into meaningful statements. Like other languages, its grammar and lexicon are highly stable and determinate; otherwise Speakers of the language would be unable to understand each other. If a cultural system is a kind of a language, then the historian who wishes to understand it should set about to reconstruet its lexicon and its grammar by analyzing the usage of its speakers“ . Such is the intention of this essay: to reconstruet a portion of the lexicon and grammar of the old regime, and by so doing to apprehend the system of meanings in terms of which Frenchmen of the seventeenth and eighteenth century undertook and understood their social actions. I hasten to add that I am a specialist on 19th Century France, and only a novice at the language of the old regime. The reader can therefore expect some of the novice's characteristic naiveté and clumsiness. I only hope that I have mastered the language well enough to be understood and that more experienced Speakers will help me to learn by correcting my errors. As the footnotes of this essay will clearly demonstrate, my chief guide in learning the language of the old regime has been C harles Loyseau, whose “ Traité sur les Ordres et simples Dignitez“ is an admirable manual for beginners and advanced students alike6. Those more experienced with the language than I may therefore find that I often speak with Loyseau's particular accent, but I trust that his accent will generally prove acceptable. I have, furthermore, tried to check Loyseau's account against other sources, and have occasionally found myself in dis­ agreement with his interpretations. I. Let us begin with some general observations about the words état, corps and ordre. First, all three words had a rich variety of meanings, both within and without the realm of social and political discourse. The varied definitions of each word required over two quarto pages in Antoine Furetière's Dictionnaire universel of 1690; the Académie Française, more concise, disposed of État in a little over a page, but required more than two each for C orps and Ordre7. Second, the words' meanings were closely intertwined. The three états of the realm, for example, were also called ordres and were also, though less com­ monly, referred to as corps. The French État was also a corps politique, one of whose ends was the maintenance of ordre. Indeed, it was occasionally diffi­ cult for lexicographers to define one word without using the others, as in the following entry from the dictionary of the Académie Française: “ Ordre, se dit aussi des C orps qui composent un Etat.“ Finally, each of the three terms applied to social units at least three different levels. Thus, as we shall see, 4'

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the French Etat was composed of Etats, one of which was in turn composed of Etats; likewise, it was a corps composed of corps, some of which were in turn composed of corps; and finally, it was an ordre, composed of ordres, some of which were in turn composed of ordres. These general observations demonstrate both the fundamental importance and the extreme difficulty of providing an accurate and coherent account of the three words. That états, corps and ordres were replicated at different levels of the social system implies that they were in some sense fundamental forms or paradigms of social Organization. That the words embodying these forms also had rich meanings outside the realm of strictly social and political discourse indicates the likelihood of wider intellectual ramifications. And the intertwining of the words' meanings indicates that they make up a set; that understanding any of them requires understanding the others as well. At the same time, rich, intertwined words that apply to a variety of units at different social levels are bound to be difficult to sort out into an orderly pattern. Which of the multiple meanings of one word overlap with which of the multiple meanings of the others, and at which social levels? Which of the extra-social meanings apply to what extent in a given social context? The answers to such questions are certainly far too complex to be set forth fully in a short article. But hopefully even a prelimmary effort can reduce the complexity to man­ ageabie proportions. II. Etat ist derived from the Latin status, which in turn derives from stare, to stand. Etat is a condition or state of being: “ the disposition in which a person, a thing or a matter finds itself“8 or “ the quality, the nature and the present constitution of something.“9 When applied to a person, état could refer to a number of conditions in which he found himself. One was, thus, in an état of sin, of innocence or of grace, of sickness or of health. Α person's legal condition was also called his état: he was free or servile, married or celibate, legitimate or bastard, and each of these états carried certain rights and duties. Etat also carried connotations of rank or esteem. To faire état of something or someone was to judge its quality or excellence, and a person was expected to “ sustain his état, his dignity, his rank“ 10, by his actions and his expenditures. Etat also implied stability. The three états into which the realm was divided were called états because they were “ the dignity and the quality“ that was “ the most stable and the most inseparable from a man“ 11. Thus, the three Etats of the realm were stable legal conditions of differing rank. One's état was either noble or roturier, ecclesiastic or lay, since these were legal categories; and if a person was neither noble nor ecclesiastic he was a member of the residual category, appropriately called the Tiers Etat12. The three Etats were, then, three distinet legal categories, conditions or states of being, each with its own rank or esteem, and each with its own peculiar code for conduet. The Etats were ranked in order of excellence, and their natures and codes for conduet were complementary. The ecclesiastics prayed and cared for the souls of all, and because they were concerned with the highest things © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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they were the first Etat; the nobles, who had the second rank, served the king and protected the people by defending the realm with their arms; the Tiers Etat served the King, the Church and the nobles by laboring and paying taxes, and because theirs was a less lofty contribution, theirs was the lowest rank. Taken together, the three Etats, each performing the acts enjoined by its code for conduct made up a complete, harmonious and unified whole, which in turn was called an Etat. In this sense the three Etats constituted or made up the constitution of the French Etat. Their place in the constitution was confirmed by the Institution of the Etats Généraux, assemblies of representatives of the three Etats of the realm which were to aid the King in governing the Etat. Etat was also the word for the realm that was constituted by the three Etats. The Etat was both “ the government of a people living under the domination of a prince“ and “ the country itself which is under a common domination“ 13. The Etat was therefore at once the laws or institutions of government, the of­ ficers who manned the institutions and carried out the laws, and the land and people who fell under the domination of the government. Each Etat had its own distinct constitution, its own disposition or arrangement of people and territory joined together and unified by its own laws and customs and maintained by the action of its government. Etat in this usage therefore had both an active and a passive sense: the Etat, the state of being or the constitution of the king­ dom, was maintained by the Etat, the government of the Prince. Structurally, this was parallel to the three Etats of realm; Etat referred both to the three passive categories of which the realm was constituted and to the three active representative bodies which made up the Etats Généraux. All these meanings of the word état will undoubtedly be familiar to most readers. It is less generally recognized, however, that état was also used to designate what we would call occupations: “ the different degrees or conditions of persons distinguished by their charges, offices, professions or employments.“ 14 Etat was therefore a synonym for métier or profession, although each word had a different range and nuance of meaning. Metier derives from the Latin ministerium, meaning service or office. It designated above all the particular kind of service or office which a person performed. Although it was used es­ pecially for the “ arts mécaniques“ or manual trades, it could also be used for more distinguished Services or offices, like the métier d'armes, the métier de poète or even the métier de Roi. Profession, which derives from the Latin verb profiteri, to declare, means public declaration or vow. Profession therefore places emphasis on the elements of volition and solemn dedication, on a per­ son'schoice to devote his life to a certain kind of métier or service. Profession, like métier, applied to distinguished as well as to vile employments; to the profession d'épée or the profession d'Eglise as well as to the profession de cordonnier. Finally, when a person followed his profession to serve in a par­ ticular métier, this action made him a member of a certain état, a condition or state of being which he shared with others who exercised the same métier and which made him distinct from those who exercised some other métier. Pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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fession and métier were both dynamic terms that emphasized what one did: one followed a profession and exercised a métier. Etat, by contrast, was a static term emphasizing what one was: one was simply of the état de mar­ chand or of the état de cordonnier. Metier and profession have, of course, remained in use in modern French, but état in this signification has virtually disappeared — not surprisingly, since the French no longer consider persons following different professions to have fundamentally distinct states of being. Persons of all three Etats might practice particular métiers or professions, but only within the Tiers Etat did the exercise of a métier or profession confer a particular état upon a person. No matter what métier or profession they might perform, all clerics were simply of the Etat de l'Eglise and all nobles simply of the Etat de la Noblesse15. This Variation in usage marks one signif­ icant difference between the Tiers Etat and the first two Etats, a difference that is also marked in their titles. Etat de l'Eglise and Etat de la Noblesse are both positive designations of honour, while Tiers Etat is a negative or residual designation that signified simply “ the other Estate.“ It therefore Stands to reason that being a member of the positive and honorable Etat of the C hurch or the Nobility precluded membership in any narrow occupational état. On the contrary, membership in the Tiers Etat conferred no honor in itself; a per­ son's true état, his condition and esteem, was therefore determined by his membership in an occupational category. For this reason the Tiers Etat, unlike the first two Etats, was itself composed of états. However, not all métiers or professions within the Tiers Etat were called états. Etat referred essentially to urban rather than rural occupations; one spoke of l'état de marchand or l'état de cordonnier, but rarely of l'état de paysan or l'état de cultivateur. And even within the urban population, journaliers (day laborers) or gens de bras were considered to be “ sans état“ . This distinction between occupations which were and were not états appears to correspond to a difference in Organization, a difference that is marked linguistically by the word corps. All of the urban professions and métiers that were termed états were also termed corps. Each of these corps, or corps d'état as they were commonly called, had its own specific reglement or formal code for conduct and a definite hierarchical Organization with the familiar grades of maîtres, compagnons and apprentis. Rural occupations and urban day labor, on the other hand, did not constitute corps. They lacked formal codes for conduct and they had no determined hierarchy. They therefore also lacked the distinctness and stability of condition requisite for états. As non-clerical and non-noble, cultivateurs and journaliers were members of the Tiers Etat, but beyond that they lacked any particular état. III. Our discussion of the term état has, not surprisingly, led us to the word corps. C orps meant body, a “ solid and palpable substance“ 16, which could be either inanimate, as in heavenly bodies, or animate, as in human or animal bodies. It was the human body, however, that served as a model for the social usage of corps. The bodies of animals, including the human body, were thought © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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to be purely natural or material entities. But the human body differed from the bodies of other animals in that it alone was joined by G od to a rational soul. The souls of animals “ procede absolutely a potestate materia“ 17, and were therefore inseparable from their bodies, perishing when the body died. The immortal soul of humans, which proceeded directly from G od, was utterly distinct in nature from the body: the soul is spirit and the body is flesh, or mat­ ter. And since spirit is higher than matter, the body was to be governed by or subjected to the rational soul. Thus the word corps, when applied to humans, implied not just the material body, but the soul or the rational will to which it was joined by G od. Unlike the word chair, or flesh, which implied disorder, corps implied order, and order of a hierarchical nature. The body is subject to the rational and order-giving soul, and even on a purely natural plane, the members and organs are elaborately interdependent and are all subject to the head. Corps also implied unity. All of the parts of a corps are made up of a common substance which is distinct from the substance of any other body, and each unique corps is joined for its entire life to its own unique soul. Finally, corps was an active term. Α body was guided by a will and acted to carry out the will's bidding. Corps in its social usage carned the same implications of order and unity. It applied to an extraordinary range and number of social groups and institutions: the Church; the State; the three Etats of the realm; the corps de métier or corps d'état; divisions or regiments of the army; and a large number of judicial or administrative bodies ranging from the Parlements and the other sovereign courts to the corps de ville (councils charged with the government of a city). Each of these corps was conceived of as a distinct, ordered and unified com­ munity, capable of common action and sharing a common code for conduct and a unity of will or sentiment — an esprit de corps. As each human body is subject to its rational soul, so these collective bodies were subject to their own rationally determined and administered laws and regulations. And as the head governs the members of human bodies, so each of these corps had its own head or governing authority to which the members owed obedience18. Of all these corps, one was clearly pre-eminent; the C hurch, the body of Christ, contained all of the others. Even the sovereign states of Europe were members of the body of C hrist — although obviously the Reformation put some strains on this notion. When the C hurch called itself the body of C hrist, this was no mere metaphor. In the Eucharist, consecrated wine and bread were transubstantiated into the blood and flesh of C hrist, and by ingesting the body of C hrist, the communicant was absorbed into the mysticalbody of the Church, a body no less real and far more holy and endunng than any mere material body. By participating in the mystery of the Eucharist, the communicant him­ seif was transformed. The C hristian became a brother or sister in C hrist to other C hristians and subjected himself to the authority of an entire hierarchy of spiritual fathers, from God the Father, through His vicar the Pope, on down to the curé of a local parish. The use of kinship terms indicates certain simila© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rities between the mystical body of the C hurch and the material bodies of human beings. Much as brothers in the flesh were related by sharing blood — an earthly, material, bodily substance — so Christians were related by sharing the spiritualized bodily substance of C hrist. The body of C hrist was eternal, and once an individual became a member of that body, he could no more resign from it than a finger or a leg could resign from its own material body. Only the head could cast off a member, by an express act of excommunication. The C hurch fulfilled the implications of the word corps more fully than any other collective body. It was based on a real shared substance, the body of Christ taken in Holy C ommunion. Second, the body of C hristians was gov­ erned by a detailed but universally valid code for conduct, ranging from the Sermon on the Mount and the Ten C ommandments to the C anon Law. Third, the C hurch had an elaborately constructed and Divinely inspired order, with a place for everything and everything in its place. Finally, it was a perfect hierarchy, in which commands and spiritual benefits moved downwards from the head to the members, and obedience and reverence was returned by the members to the head. The French Etat, like the C hurch, was a mystical body. “ The King is the head (chief) and the people of the three Orders are the members, and all to­ gether make up the corps politique et mystique, of which the junction and union is indivisible and inseparable, and of which no part can suffer ill without the rest feeling it and suffering pain.“ 19 The corps politique was a corps mysti­ que because it was created by God, who gave the King dominion over his people. The relationship of the King to God was demonstrated most powerfully in the rite of the sacre, or coronation, in which the King was annointed with holy oil from the phial of Saint-Rémi in the C athedral of Reims20. The King was “ the living image of God“ 21, and just as God's will animated and gave order to the material world, so the King's will animated and gave order to his entire kingdom. The King's will was absolute, for no Single body could have a multiplicity of wills. This was an especially important point for a corps which was itself composed of many smaller corps: the multiple wills of the multiple corps that composed the French state had to be brought into harmony by the King and his laws, and thereby to be subsumed within his single will. The whole of the French Etat or corps politique was thus summed up in the person of the King. It was in this sense that Louis XIV. could say, “ L'Etat, c'est moi“ . The French Etat was thus a mystical body subject to a single will. It also was based on a shared substance. The French Etat or corps politique was also a Nation, which, as the root indicates, was a community defined by birth. To become a Frenchman, one had to be the child of French parents. Membership in the corps politique was thus conferred by a natural substance: French blood. Α person who did not share in this substance could become a Frenchman only by a special act of the King, which, significantly, was known as naturalisation. In short, the unity of the French corps politique, which was made manifest in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the will and the person of the King, also had a Substantive base. The kingdom was at once a mystical and a natural body. Of the three Etats of the realm, the first was a mystical body, while the second and third were natural bodies. The corps of the clergy was composed of all who had taken religious orders, or, in other words, had received the first tonsure. The clergy, whether secular or regular, was set off from the rest of the population by the rite of Ordination, which signified that clerics had dedicated their lives entirely to G od, that they had left worldly cares behind and had taken up the care of spiritual things. The clergy formed a distinct community with a distinct code of conduct, marked by chastity and the wearing of special clerical garb. Clergy were governed by their own special laws which were en­ forced by their own ecclesiastical courts. The corps of the clergy was nothing if not hierarchical; each cleric was under the discipline of a superior, the Abbot if a monk, the Bishop if a priest, the arch-bishop if a Bishop — culminating in the Pope, G od's vicar. The mystical body of the clergy was also substantively marked: while the laity took only consecrated bread at communion, the priests took wine as well. They shared the blood as well as the flesh of Christ22. The Noblesse, at first glance, appears to be a relatively irregular corps. It had, to be sure, an esprit de corps and a distinct code for conduct, but it lacked both the hierarchical structure of authority and the complex specialization and coordination of functions which we found in the Church or in the State. Furthermore, the nobility was not a mystical body; it lacked any religious rituals of unity and was based on no supernatural substance. The Noblesse, however, was a natural body. Nobility was conferred by birth; the unity of the Noblesse was based on the common natural substance of noble blood. Because it was conferred by blood, it was very difficult to deprive a person of nobility. Α person could no more resign from his nobility than he could resign from his family. He could be deprived of nobility only for infamy, and even this affected only the person who committed the infamy, not his pos­ terity23. Dérogeance, deprivation of nobility for engaging in “ Arts méchani­ ques“ , was even more ephemeral: nobility was regained once the errant noble ceased to practice the mechanical arts24. However, once having said that the Noblesse was a natural community based on blood, one is immediately confronted with qualifications and excep­ tions. The most fundamental qualification is based in C hristian theology. Nobility, all authors agree, is a quality of the soul. But according to C hristian theology, the soul and the body are utterly distinct, and a quality of soul cannot be passed on in the blood. As Loyseau put the problem: “ The rational soul of men, coming immediately from God, who created it expressly when he sent it to the human body, has no natural participation in the qualities of the generative semen of the body to which it is joined.“25 Loyseau therefore con­ cluded that nobility was actually a product of superior education and of edifying examples given by noble fathers and ancestors. It was, nevertheless, irrefutably true that “ in all times and in all nations of the world“ , those who © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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have “ issued from good race are more esteemed than the others“ 26. Nobility could perhaps be passed on in the blood, but precisely how was somewhat doubtful. Some authors were casual about this ambiguity — “ There is in semen I know not what force and I know not what principle which transmits to children the virtue of their parents.“27 Most nobles probably never gave it a thought. But the ambiguity was nevertheless there. Α second qualification is presented by the practice of creating new nobles or annoblissement. The Prince, “ whom G od (from Whom all honor proceeds) has established as distributor in this world of this Divine gift“28, could ennoble a roturier. This could be done by two means: either by letters expressly con­ ferring nobility or by investiture with offices or seigneuries that carried nobil­ ity. In either case, “ these ennoblements purge the blood and the posterity of the ennobled of all stain of roture, and give it the same quality and dignity, as if from all time his race had been noble“29. The Prince, using the powers given him by G od, apparently transformed the new noble's blood, making it by his action essentially equal in quality to that of the noblesse de race30. This quasi­ miraculous change was permanent, and the nobility of the annobli was passed on in blood like any other. The noblesse was therefore less completely a na­ tural body than it at first appears. Nobility was transmitted by natural means, but its origins were not necessanly natural. In fact, according to Loyseau, its origins were in no case natural. In the case of annoblissements, the origins were in the Divine power of creating worldly honors, which the king was ordained by G od to dispense. And even the noblesse de race, whose “ ancient and immemorial“ nobility came not from “ the law of nature“ , but “ from the ancient law and disposition of the State“31 — which was in turn a mystical community formed by G od through the Prince. In a sense, then, even noblesse de race had its origins in divine ordinance. The Tiers Etat was also a natural body, but once again it was defined in a negative rather than a positive fashion. The corps of the Tiers Etat was com­ posed of all those persons who were born Frenchmen, but whose blood was not noble and who had not been elevated into the clergy by Ordination. The esprit de corps of the Tiers Etat was considerably weaker than that of the clergy or the noblesse; indeed, it amounted to little more than a commitment to labor for the good of the whole and a willing obedience to the King. There was far less feeling of corporate solidarity among the members of the Tiers Etat than among the clergy or the nobility. Furthermore, the Tiers Etat, like the Noblesse, had no unified structure of authority. It appears that these two natural corps not only did not require, but could not be expected to have, the kind of unified, rational, hierarchical structure that characterized corps mysriques like the Church, the State or the clergy. Blood, after all, was only matter; it is therefore logical that a community based only on blood should have been less rationally ordered than a community whose unity was Spiritual and was forged by God. If intense bonds of solidarity were lacking for the Tiers Etat as a whole, the contrary was true for the many smaller bodies which were contained within it © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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— the corps des arts et des métiers or corps d'états32. The corps d'états were mystical bodies. Each was watched over by its own patron saint, and the cele­ bration of the annual fete patronale — the Mass, usually accompanied by a procession and followed by a fraternal banquet — was the central ritual of unity of each corps d'état. All members of the corps were formally obliged to attend Mass and take communion on the saint's day. C elebration of the fete patronale defined membership in a corps d'etat and created a mystical body of frères under the protection of a common patron. Each corps d'état had its own esprit de corps: its code for conduct, its pe­ culiar personality or character type and its particular skill or art. The corps' code for conduct concerned not only the working life of its members but their general comportment and morality. Members were enjoined to care for each other in sickness and distress and required to attend the funerals of members who died — thus symbolizing the permanence of the corps' bonds of solidarity. Each corps was a well-ordered hierarchy composed of maîtres, compagnons and apprentis, and directed by a council chosen from among the maîtres, which was charged with the internal police of the corps and enforcement of the reglements. Each of the maîtres, in turn, was charged with the discipline of the compagnons and apprentis who worked for him; these were considered to be temporary members of his family and were under his paternal authority in much the same way as his wife, his children and his domestic servants. In short, like other corps mysuques, the corps d'états had hierarchical structures of authority and elaborately detailed codes for conduct. With the exception of the C hurch, all the corps we have discussed thus far were also called états. The remaimng corps, such as regiments of an army, the Parlements and sovereign courts, the trésoriers de France or the corps de villes, were not called états, for the simple reason that they did not form stable or permanent conditions or states of being for their members. Those corps that were also états were either natural bodies or mystical bodies, and once a person became a member of one of these bodies, either by birth or by a rite of Initia­ tion, he was a member for life. One cannot, after all, remake one's blood; and what God has joined, let no man cast asunder. Thus a person's membership in a natural or mystical corps conferred upon him a permanent, unchanging état. But those corps that were not called états were neither natural nor mystical bodies. They were, rather, merely legal or administrative bodies, whose mem­ bers served as officers or servants of the king. As officers, they could resign from their corps, and this element of impermanence precluded these corps from being called états. Each of the legal or administrative bodies was nevertheless expected to have its unified esprit de corps, to be regulated by its own laws, to have an internal hierarchy, and to be governed by a head. These were gen­ uine collective bodies, capable of willing and of acting as a single unit in accomplishing their assigned task. But their unity tended to be limited both in scope and in time. Their solidarity was neither as pervasive nor as enduring as that of mystical or natural bodies. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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IV. Of the three terms taken up in this article, ordre was the most frequently used and also had the widest range of social meanings. The basic meaning of ordre was a regular or harmonic disposition or arrangement: “ arrangement, disposition of things placed in their rank“ 33 or “ situation of things according to the Estate, the place and the rank which suits their nature or their func­ tion.“34 Ordre carried connotations of both harmony and hierarchical or rank­ ed arrangement. Ordre in the sense of hierarchy could be either an arbitrary hierarchy, as when things are placed in chronological, alphabetical or numerical order, or a valued hierarchy, as when celestial beings are ranked in order of excellence. Ordre signified not only the regular disposition or arrangement of things, but also the laws or regulations which described and enjoined this dis­ position and arrangement. It also meant the command of a supenor. Ordres of a superior were made in accord with ordre in the sense of laws or regulations, and their faithful execution maintained ordre in the sense of regular disposition or arrangement. The order of human communities was, of course, only one part of the overarching divinely created order of the universe. Man's place in this over­ arching order was unique. “ The inanimate creatures are all placed [in the world] according to their high or low degree of perfection: their times and seasons are certain, their properties are regular, their effects are assured. As for animate creatures, the C elestial Intelligences have their hierarchical Orders, which are immutable. And in regard to men, who are ordained by God to command over the other animate creatures of this base world, although their order may be mutable and subject to vicissitude, because of the particular freedom and liber­ ty which God has given them for good and for evil, they cannot subsist without order.“35 The order of the rest of the universe is immutable, but the order of human communities is inherently unstable, owing to man's unique freedom to choose good or evil. Under these circumstances, God in his infinite Grace has given man the Divine gift of order, to which man may attain through his own freely determined actions. Order in human communities is obtained by obe­ dience to God's laws and to the laws of his earthly executors the Pope and the King, and obedience to the laws can only be maintained by vigilant discipline. Order, then, is at one level the regular disposition of human communities in accord with the laws of God, the C hurch and the State. In this sense, both the Catholic C hurch and the French State were ordres. At a second level, however, these ordres were composed of still other ordres. Thus the state was composed of the three ordres (also corps and états) of the clergy, the nobility and the Tiers Etat, and each of these ordres is further subdivided into ordres. Indeed, one fundamental feature of the ordre which the state is to maintain by its action and its laws is the division of the state into three ordres. These ordres in the sense of strata or components of the State had as their type or paradigm the ordres of the Catholic C hurch. As we have already noted in passing, it was the right of Ordination that defined membership in the corps of the clergy. The rite of Ordination, or the conferring of orders, was perform© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ed by a bishop. It marked G od's acceptance of the aspirant into His clergy, which meant that the newly ordained cleric was given by G od the power or aptitude to perform ecclesiastical funcuons. The clergy as a whole constituted an order, but this order was itself divided into a hierarchy of eight secular orders: doorkeeper, exorcist, lector, acolyte, sub-diaconate, diaconate, priest­ hood and episcopate. Each of these orders had its particular ecclesiastical func­ tion, and to pass from one order to the next, one had to acquire the power and aptitude to perform the new and higher function by passing through yet another rite of ordination. Clencal orders were permanent. Α cleric was re­ ceived into an order by G od, and he could not resign: because “ sacred things are eternal and incorruptible by their nature“ , the cleric's order “ was engraved and imprinted on the very soul“ 36. Since any particular ecclesiastical power once acquired was never lost, an individual moving up the hierarchy of orders accumulated ecclesiastical powers. In this sense each of the higher orders con­ tained all the lower orders; a bishop was also a priest, a deacon, a subdeacon and so on down to doorkeeper. The Catholic Church also had a second type of ordre: the ordre regulier. Regular orders were communities of religious, such as brothers, monks or nuns, who lived under a special rule and discipline. Tobecome a member of a regular order, the aspirant had to pass through the stages of postulancy and the novi­ ciate, and then to profess a solemn public vow of chastity, of poverty and of obedience both to the rule and to the superior of the order in question. These vows, since they were made to G od, were permanent. Although a member could be dismissed from his religious house or institute for apostacy, unsuitabil­ ity for the religious life, elopement, etc., this did not free him from his vows and obligations: it merely protected other members of the order from his corrupting influence. Each order — the Benedictines, the Franciscans, the Jesuits, the Dominicans, the Augustinians, etc. — formed a distinct religious community sharing a common life and discipline, and these communities were marked by the wearing of a particular form or color of habit. These orders were not ranked hierarchically; they were divided vertically rather than horizontally. Ordre, as used by the Church, thus had two distinct meanings. Ordres in the first sense were cumulative horizontal grades in a hierarchy of ecclesiastical powers. In the second sense, ordres were distinct, regulated religious commu­ nities. Ordres of the second type were relatively complete units of enduring and pervasive solidarity. Each had its own superior and its own internal hier­ archy and coordination of functions, and its members called one another brothers or sisters. Taken singly, ordres of the first type were incomplete and did not constitute units of common action or of enduring or pervasive solidar­ ity. It was only the larger ordre of the clergy, the ordered combination of the eight hierarchically arranged ordres, that possessed these characteristics. The two types of ordres were independent and crosscutting. Ordres in the sense of religious communities were divided into ordres in the sense of grades of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ecclesiastical powers. Α cleric could therefore belong to two ordres at once: he could be both a priest and a Dominican, or both a Franciscan and a deacon. The ordre de la Noblesse, like the ordre de l'Eglise, was a “ dignity with ap­ titude for public power“ 37. Not all nobles exercised public power, just as not all priests had benefices or officiated regularly at mass. But a noble, simply by being a noble, was capable of exercising certain public powers prohibited to roturiers, in particular seigneuries and various judicial, administrative and military offices. The order of nobility, of course, was conferred by birth, so there was no equivalent to the rite of Ordination. But since nobility was in the blood, the order was no more resignable than clerical orders. The order of the nobility, then, like the order of the clergy, was a distinct category of persons whose ineffaceable characteristics gave them a particular dignity and made them capable of exercising certain specified public powers or functions. The ordre de la noblesse, like the ordre de l'Eglise, was further subdivided into ordres of two kinds: hierarchical grades of nobility, and ordres de Cheva­ liers. The nobility had a whole gradation of titles, ranging from simple escuyers or squires through barons, marquis, comptes, ducs and the like, up to the Princes du sang. Loyseau divided these numerous levels into three ordres — not because it was generally agreed that there were only three ordres, but “ because the most perfect division is that of three species“38. These three ordres were the simple nobility (squires and simple gentlemen), the high nobility, and the Princes of the blood. Like the secular orders of the Church, these orders were cumulative; Princes were also high nobles and gentlemen. These orders were not, however, stages through which a nobleman was expected to ascend during the course of his career. Simple nobility was conferred by noble birth and passed on in the blood, while high nobility was a non-hereditary personal honor conferred by possession of an important seigneurie or office or by membership in an order of knighthood. Α simple gentleman might therefore aspire to become a high noble. But at the top of the hierarchy, the Princes du sang, as their title indicates, were distinguished by blood; they were those nobles related closely enough to the King through the male line to be capable of inheriting Royalty. If these hierarchically arranged Ordres de noblesse were the noble equivalent of the ecclesiastical ordres seculiers, the ordres de chevaliers were the equivalent of the ecclesiastical ordres reguliers. The ordres de chevaliers, such as the ordre de Saint Michel or the ordre du Saint Esprit were companies of knights formed by the King. Each ordre had a special exterior sign — spurs, a collar, etc. — and each had its own code of honor and etiquette. Entry into one of these ordres was marked by a ceremony which, as Loyseau remarked, had parallels with ecclesiastical rites of Ordination. After praying privately in Church and making solemn public prayers, the aspirant to knighthood knelt before the King, who Struck him on the Shoulder with the flat of his sword39. Once so knighted, the nobleman remained a member of the order for life. Thus the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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nobility, like the clergy, were divided vertically into ordres which were units of enduring solidarity. The Tiers Etat presents certain problems as an ordre. “ In as much as ordre is a species of dignity, the Tiers Etat of France is not properly an ordre . . . But in as much as ordre signifies a condition or occupation, or a distinct species of persons, the Tiers Etat is one of the three Ordres . . . of France.“40 Once again, the Tiers Etat was a negatively defined residual category, and as such it carried not dignity, but vileness. Although the Tiers Etat was universally termed an ordre, it was not a “ dignity with aptitude for public power“ but the opposite: an indignity which prohibited its members from exercising certain public powers. It was an ordre only in the sense that it designated a distinct category of persons who were expected to perform a certain range of functions. The Tiers Etat formed an attenuated kind of ordre, just as it formed an attenuated kind of état and corps. Nevertheless, the Tiers Etat, like the first and second orders, was subdivided into a number of smaller orders. Loyseau attempted to arrange all the métiers or professions of the Tiers Etat into a hierarchy of ordres, with hommes de lettres at the top, followed by financiers, practiciens de robe longue (greffiers, notaires, procureurs), marchands, laboureurs, practiciens de robe courte (ser­ gents, trompettes, priseurs), artisans and gens de bras. But Loyseau was not very sure of himself, and frequently hedged his statements with qualifiers: “ à mon avis“ or “ quoi qu'il en soit . . .“ The problem is that unlike the secular orders of the clergy or the degrees of nobility, the various métiers of the Tiers Etat presented no indisputable criteria for ranking. Nor were they cumulative grades; few would deny that a Doctor of Letters was superior to a master craftsman and a master craftsman superior to a day laborer but a Doctor of Letters was not also a master craftsman and a day laborer. In short, while métiers might be ranked in a rough way by their relative opulence or by the relative proportions of esprit (mind or intelligence) and of sueur (sweat) they required, they did not constitute a strict and logically ordered hierarchy like that of the ordres seculier of the C hurch. In fact, the ordres formed by the métiers of the Tiers Etat had much more in common with ordres reguliers than with ordres seculiers. This is true, at least, of those métiers which were also known as corps and états. These ordres were entered voluntarily by a profession or vow at the commencement of adulthood, and the aspirant had to pass through the preparatory stages of apprentice and compagnon or bâchelier before acquiring the maîtrise or full membership. The maîtrise was conferred in a solemn ceremony after an examination by the body of maîtres. And as we have seen, these ordres or corps d'état were lifelong communities with their own detailed reglements and their own insti­ tutions of government. Vertically distinct, possessing an internal hierarchy, and govcrned by a particular rule, the corps d'états constituted units of enduring and pervasive solidarity that were modeled on the ordres reguliers of the Church. In a sense, however, they were ordres of a composite type. They did © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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not constitute a coherent hierarchy like the ordres seculiers, but like the ordres seculiers, they did confer the power to perform a certain function — to manu­ facture and sell a particular kind of good. In fact, in their own small way, these ordres were even a “ dignity with aptitude for public power“ , Having reached the dignity of maître, a member of the order was then capable of exercising the public power of regulating and policing the production of a particular kind of good. The occupational ordres of the Tiers Etat, in short, had characteristics patterned on both ordres reguliers and ordres seculiers. V. Hopefully, the social meanings and uses of the terms état, corps and ordre are by now reasonably clear. Owing to the requirements of orderly exposition, we have been forced to explore each of these words separately at some length, and to avoid any extensive examination of their inter-relation­ ships. This has not always been easy, since the three terms so frequently refer­ red to the same set of social units, and it has meant that the same social units have been discussed, perhaps somewhat repetitiously, in three different contexts and from three different points of view. Now, by way of conclusion, we should try to describe the precise inter-reiationship of the terms. Although each word applied to a different set of human collecnvities, the three sets intersected one another, forming a subset of human collectivities that were at once états and corps and ordres. To judge from my own far from exhaustive reading of the sources, I believe that the inter-relationship of the three words can be described by a few simple formulae. 1. All the social units called états also appear to have been called both corps and ordres. 2. Only those corps which were also ordres were called états. 3. Only those ordres which were also corps were called états. Graphically, these rules can be represented as follows:

CORPS

ETAT

ORDRE

These rules would seem to be logkally consistent with the meanings of the terms. C orps implied a unified substance and a unified spirit or will that was distinct from that of any other corps. Ordre implied a permanent, irreversible dedication to a particular rule and/or function. If and only if the unity and distinctiveness of a corps was joined to the permanence of an ordre, did one have an état, a permanent and distinct condition or state of being. VI. Assuming that this reconstruction of the old regime's social language is correct in its essentials, what does it tell us about French society? First of all, it teils us that while the society was highly differentiated and complex, it was also extremely logical and orderly, at least in conception. It was neither con© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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fused nor confusing to anyone who shared the cultural assumptions upon which it was based. Second, French society was profoundly C hristian, indeed pro­ foundly C atholic. This was true not only in the familiar behavioral sense that the vast majority of French men and women were regular communicants, con­ fessed frequently and were baptized, married and buried by the C hurch. It was also true at a much deeper level. The very principles upon which both the society and its component units were built were largely derived from the rituals and the language of the C atholic C hurch. The State itself was a corps mystique of divine origin, and the ordres into which it was divided were pat­ terned after the ordres of the C hurch. In terms of the cultural notions of the old regime, both the State itself and most of the solidary units of which it was constituted owed their very existence to rites of the C hurch. The social bonds of the old regime were also religious bonds. Of course, the social language whose structure I have attempted to describe in this essay was neither immutable nor unchallenged. Thinkers with different social perspectives or different political commitments shaped the meanings and relations of terms in such a way as to create their own variants of the com­ monly accepted social language. It is precisely for this reason that battles be­ tween factions, in this or any other society, so often seem to have been battles about the meanings of terms. But in addition to variants which accepted the basic terms and assumptions as given, there were also more fundamental chal­ lenges, such as the Protestant Reformation or the Enlightenment, which at­ tempted either to redefine or to nullify basic terms and assumptions, and thus to create a new social language. From the point of view of this essay, the French Revolution must be seen as the destruction of one social language and its replacement by a new and radically different one, a language which put nature in the place of God and contract in the place of the religious oath, and whith reduced the vast and varied collection of états, corps and ordres to a single Etat with a unified general will. From this perspective, the French Rev­ olution was a social revolution of the most profound sort, a revolution that redefined the entire social order and forged new bonds of enduring solidarity. But didn't we know all this before? Has this essay said anything that historians of the old regime were not aware of long ago? In the final analysis, it perhaps has not. The structure which we have attempted to describe is em­ bedded in the texts of the old regime, and those who know the texts presum­ ably also know the structure, at least subliminally. And since many historians know the texts far better than I, they should also know the structure far bet­ ter. Yet even the best of them make statements that display incomprehension of crucial points. Thus Michel Vovelle in his excellent synthesis on the French Revolution declares, “ Second order behind the clergy in law, the nobility was the first in fact, and perhaps the only order that had a real homogeneity. It corresponded to an economico-social definition without genuine ambiguity, ferming the core of the rentier class and being the major beneficiary of feudal appropriation“ 41. Here Vovelle displays a fundamental misconeeption of the 5 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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meaning of the term ordre; to judge an ordre by its degree of “ real homogene­ ity“ is to apply to orders criteria relevant only to classes. And to say that the First Estate was not the First Estate is not only logically dubious, but funda­ mentally incorrect. The order of the clergy was first not only “ in law“ , but in the more profound sense that it provided the modeis after which the other orders were patterned. Roland Mousnier, by contrast, clearly understands both the differences be­ tween orders and classes and the degree to which social conceptions of the old regime were derived from C athohc doctrine42. But he too is capable of in­ explicable errors of usage, like the following: “ The large strata are ordres. The ordres are subdivided into thinner strata or états.“ 43 With only minor dif­ ferences in wording, this statement is repeated over and over in his recent publications, even though it is demonstrably incorrect. As we have seen, the large strata were not only ordres but états as well, and also corps. And these large strata were subdivided into smaller units (not necessarily strata) which agaln were called ordres and/or états and/or corps. Mousnier, by fixing on an incorrect formula which states that état meant a subdivision of ordre, rather than a somewhat different way of designating the same unit or set of units, has prevented himself from discovering the true linguistic relationship between the concepts of ordre and état. If two historians of such stature as Mousnier and Vovelle are capable of such evident errors of usage, then perhaps even the sketchy and uncertain lexicon and grammar offered in this essay may have its uses. The structure of the old regime's social language may be implicit in the texts, but until it is stated expücitly we are bound to remain victims of historical misapprehensions.

Notes 1 The research on which this essay is based has been supported by National Science Foundation Grant 32200. 2 Besides the work of C . Levi-Strauss, one might cite M. Foucault, Les mots et les choses; une archéologie des sciences humaines, Paris, 1966, and J . G. A. Pocock, Pol­ itics, Language and Time: Essays on Political Thought and History, Ν. Y., 1971. 3 R. Robin, La société française en 1789: Semur-en-Auxois, Paris, 1970; R. Mous­ nier, Les concepts d'ordres, d'états, de fidelité et de monarchic absolue en France de la fin du XVe siècle à la fin du XVIIIe, RH 502. 1972, 289—312. 4 D. M. Schneider, American Kinship: Α Cultural Account, Englewood Cliffs, N. J., 1968, and What is Kinship All About? in: Kinship Studies in the Morgan Centennial Year, P. Reining, ed., Washington, D. C., 1972; R. B. Inden, Marriage and Rank in Bengali Culture: Α Social History of Brahmans and Kayasthas, Ph. D. Diss., Univ. of Chicago, 1972; and M. Marriot and R. B. Inden, Caste Systems, in: Encyclopedia Britannica, ed. of 1974. 5 T. Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs, N. J., 1966, and The System of Modern Societies, Englewood Cliffs, N. J., 1970. See also Schneider, What is Kinship All About, and C. G eertz, Religion as a Cultural

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System, in: Anthropological Approaches to the Study of Religion, Association of So­ cial Anthropologists, Monograph No. 3, London, 1966. 6 The Traité was first published in 1610, and went through several reeditions du­ ring the following C entury. I am using the edition of Loyseau's Oeuvres, published in Paris in 1666. 7 A. Furetière, Dictionnaire universel, The Hague and Rotterdam, 1690, and Aca­ démie française, Dictionnaire, edition of 1694, reprinted Lille, 1901. 8 Entry under Etat in Académie française, Dictionnaire. 9 Entry under Etat in Furetière. 10 Entry under Etat in Furetière. 11 Loyseau, 3. 12 An ecclesiastic who was born noble was a member of the first Etat. The higher rank took precedence over the lower. 13 Entry under Etat in Académie française. 14 Entry under Etat in Furetière. 15 Of course, there was little overlap in métiers or professions between the three Etats, but there was some Variation within Etats. Α noble's métier could be estate manager, courtier, soldier, magistrate or poet, but his Etat was still simply la Noblesse. 16 Entry under corps in Furetière. 17 Loyseau, 29. 18 The head was not necessarily a single person. It could be a governing council of some sort. 19 G. Coquille, Oeuvres, ed. of 1666, 323, cited in Mousnier, 305. 20 On the sacre, see G. Père, Le sacre et le couronnement des rois de France, dans leurs rapports avec les lois fundamentales, Paris, 1922. 21 Loyseau, 62. 22 From the Standpoint of C atholic theology, the layman who took communion in only one species was no less a member of the body of C hrist than the priest who took communion in both species. But it seems probable that this view was not fully accepted by the laity, that from the lay point of view the priest's taking of sacramen­ tal wine was a sign of his membership in a higher and more potent mystical body. Indeed, this would appear to be demonstrated by the history of popular heresies, nearly all of which insisted vehemently on communion in both species for the laity. Only one layman took wine at communion: the king at his coronation. This feature of the coronation ritual clearly demonstrates the quasi-priestly character of kingship. 23 Loyseau, 34. 24 Ibid., 48. 25 Ibid., 29. 26 Ibid., 29. 27 Quoted without citation in M. Vovelle, La C hute de la monarchie, 1787—1792, Vol 1: Nouvelle histoire de la France contemporaine, Paris, 1972, 24. 28 Loyseau, 34. 29 Ibid., 34. 30 Loyseau notes (35), however, that “ in the opinion of men“ , annoblis are esteemed less than nobles de race, since to them the “ abolition of servitude or roture is only an erasure, of which the mark remains“ and it “ even seems more a fiction than a verity“ . 31 Loyseau, 34. 32 On the corps d'état, see E. C oornaert, Les corporations en France avant 1789, Paris, 1941. 33 Entry under ordre in Académie française. 34 Entry under ordre in Furetière. 35 Loyseau, 1. 38 Ibid., 89. 5*

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Ibid., 3. Ibid., 53. 39 Ibid., 53. 40 Ibid., 74. 41 Vovelle, 24. 42 Mousnier, 295. See also id., Les hiérachies sociales de 1450 à nos jours, Paris, 1969, 19, and id. et al., Problèmes de stratification sociale: Deux cahiers de la noblesse pour les Etats Généraux de 1694—1651, Paris, 1965, 17. 37

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3. Count Karl v. Zinzendorf and the Liberal Revolt against Joseph's II. Economic Reforms, 1783-1790 By HELEN P. LIEBEL-WEC KOWIC Z

The development of the eighteenth C entury European state has been analyzed in terms of new norms of royal behavior which express the expectauons of Enlightenment intellectuals that sovereigns might share their concern for the humane reform of social ills. It was this ideal which gave rise to the concept of enlightened despotism. It is used to characterize the eighteenth C entury kind of monarchy, influenced by Enlightenment aspirations, and bent upon the cen­ tralization of administration. As such it tended towards achieving the modern­ ization of society by the kinds of reforms which were introduced. The understanding of Joseph's socio-economic reforms and the background arguments and critiques of them cannot be insignificant for understanding the evolution of modern C entral-European society and its attendant and enduring social upheavals. Yet one cannot overlook the more traditional interest of political historians who view enlightened despotism pnmarily in terms of the educational influence of the Enlightenment itself. It cannot be denied that the Enlightenment shaped the mentality of an entire generation of rulers and officials. Their economic outlook was significantly altered by consideration of the problems before them as well as by the constant criticism of existing mer­ cantilist theories to which the radicalism of the age had given birth. At the forefront of the new kind of political economy was the “ new economics“ of the French physiocrats. It was their analysis of the existing rigidities in trade and agricultural production which influenced tax policies in Germany, Austria, and Italy, but least of all in France. The economic inefficiencies of the day caused sufficient concern to produce a mass of new books which were read and discussed in the salons of Vienna as much as in those of Paris and London. They very much affected the way in which reforms were introduced and man­ aget!. It can even be argued that the economic discussions in Europe's salons were more influential than the natural law philosophy which is usually given prominence in the Interpretation of enlightened absolutism. How important may become more evident from the meticulous diary of C ount Karl v. Zinzen­ dorf who visited most of them and reported on all of them. Neither the diary nor Zinzendorf's own work as Joseph's C omptroller General of Finance, a ministry comparable and even more successful than Necker's in France, has

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been properly evaluated for the history of enlightened absolutism under Joseph II.1 Count Karl v. Zinzendorf during the 1780's oecupied a position in Josephs's administration comparable to that of the Swiss Huguenot financial wizard, Jacques Necker, at the court of Louis XVI. He had in a way been groomed for the position which was held earlier by his elder brother C ount Ludwig v. Zinzendorf who had served first as Maria Theresia's C omptroller General till 1773, and then as an economic adviser in the State C ouncil (Staatsrat). The family held its estates in Saxony and the two brothers had both converted to C atholicism while in Austrian service. Their uncle was the famous Herren­ hut leader, Nicholas Zinzendorf. Other brothers served at the Prussian and Swedish courts. Karl, the youngest, had also joined the Teutonic Order and later served in high positions within its hierarchy. Brought into the Austrian service by his brother Ludwig in 1764, Karl von Zinzendorf was immediately recruited to go on trade missions for the Austrian government and spent several years visiting the major ports and capitals of Europe. Both Maria Theresia and Joseph II were pleased with and influenced by his reports to them and to the Commerce C ouncil (Kommerzkollegium). It was while studying Mediterranean trade relations and the opposition to mercantilist barriers in Switzerland, Italy, and France that Zinzendorf developed his well rounded view of what the problems were and why free trade might be desirable2. Zinzendorf was cer­ tainly influenced by the free trade radicalism which influenced government policy making in Milan (the grain trade was freed in 1766), although he did not become a physiocrat as a result of his visits there in 1765 and 17663. He had however read Mirabeau's work, especially the Ami d'Homme (1756) and met Mirabeau's brother in Malta in 1765. Armed with a letter of introduction he sought to make the count's acquaintance in his native Provence in 1766, but did not meet the original founder of the physiocratic movement until he visited his salon in Paris in January 17674. Indeed Zinzendorf became a frequent visitor at Mirabeau's salon and heard read and discussed important physiocrat papers by Du Pont and the Abbe Baudeau. He also visited Necker's salon which was more popular, and met Turgot as well as the French Inspector Gen­ eral of Moneys, François Veron Forbonnais, who was his brother's favorite French economic writer and more moderate than the physioerats5. Zinzendorf did not become an outright physiocrat until 1770 when he served a year in the Belgian C hamber of Accounts and also spent his novitiate year there in preparation for his acceptance into the Teutonic Order. He was sensi­ tized by the physiocrat emphasis on friendship for mankind and disturbed by the economic crisis along the English C hannel seaboard which provoked loud demands for the abolition of monopolies and of trade restrictions among the Flemish merchants. The following year there were to be crop failures, Inflation, and famine in Bohemia as well as in many parts of Germany. In the spring of 1770 he wrote Joseph a memo to urge the removal of all restrictions on the grain trade as well as the abolition of all tariffs as they destroyed trade6. He © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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was convinced, he wrote his brother on May 13, 1770, that nothing was so essentiell as convincing government and public of the necessity of “ liberté“ in the commerce of grains7. Upon his return to Vienna in 1770, Zinzendorf was an active proponent of free trade principles in both the C ommerce C ouncil and the State Economy Deputation (Staatswirtschaftsdeputation) as he had been made a member of both. Although the free trade arguments met with the Opposition of the strong mercantilist group at court with whom Joseph ultimately sided, Zinzendorf's arguments did influence Maria Theresia's 1775 tariff reform with its attendant reduetion of duties and her policy of reopening trade with Prussia, Bavaria and Saxony, a trade prohibited since the end of the Seven Years' War8. As Gov­ ernor-General of Trieste from 1776 to 1782, Zinzendorf was to be successful in improving the port's trade and in reducing its tariff barriers9. Joseph's embroilment in the Bavarian War of 1778—79 led to a new stale­ mate in government and an impasse between Maria Theresia and her son. Once more he had to submit to his mother's wishes and accept the peace treaty negotiated by her foreign minister, Prince Kaunitz. In its last stages the co­ regency thus seemed almost bankrupt, as neither mother nor son could agree to cooperate on any reforms at all. The Grand Duke Leopold, an active adherent of physiocrat and free trade economics and a successful reformer in his own Duchy of Tuscany, had been summoned to Vienna to assist his mother in re­ pairing the war damage to state finance in 1778. Disillusioned by the impasse, he left Vienna in March, 1779, bitter and hostile to mother and brother alike. In his secret diary he damned Joseph for his carelessness as an administrator and for his “ militarism“ . The state debt had risen to 30 million gulden and he viewed the future darkly. The major obstacle to reform lay in the outmoded economic ideas of his mother's ministers. Nothing could be resolved until these were overcome. He thus advised Maria Theresia to make both Zinzendorf brothers her economic advisers and left to Visit Karl Zinzendorf in Trieste before returning to Tuscany10. The Grand Duke's visit was brief but much was discussed between the two men on March 17 and 18, 1779. They feasted on free trade ideas and seemed in complete agreement on economic theory, even if Zinzendorf thought the duke's view of affairs in Vienna too pessimistic. Leopold announced a plan to have Adam Smith's Wealth of Nations translated and wanted a copy of Turgot's Formation of Riches. Zinzendorf described his plan to introduce complete free trade in Trieste and afterward praised Leopold to his diary as a truly enlightened prince11. When Maria Theresia died in November, 1780, almost all the reform ideas which had been bandied about in the previous decade were reconsidered. Eradicating the financial mess was one of Joseph's reform priorities12. Accord­ ingly he requested his brother Leopold's opinion of Zinzendorf on March 28, 1781. Obviously he took up where Leopold had left off in 1779. The Grand Duke replied affirmatively that Zinzendorf was the most capable of all high © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Austrian officials and well versed in “ true principles“ 13. However when Necker resigned as finance minister of France shortly after, Joseph immediately sought to secure his Services for the Habsburgs. He had certainly spent far more time with Necker on his Paris visit of 1777, than with Turgot whom he had seen only once for a long conversauon. It was Necker's type of financial policy which he preferred and not the physiocrat. Necker, however, did not wish to leave France14. Joseph wished to introduce methods of budgeting as effective as those Necker had used in his last budget in France. He therefore resolved to appoint Zinzendorf his “ finance minister“ on January 13, 1782. The new Pres­ ident of the Hofrechenkammer was vested with both the powers of an auditor general and comptroller general. He took his oath of office on April 12, 178215. His initial assignment was to straighten out the government accounts as no clear record of income and expenditures had been made since 1773. Zinzendorf modernized the budgeting so that annual statements of income and expenditure became Standard. All accounting of the Habsburg domains was centralized in his agency, even that of the Netherlands, Lombardy, and Hungary. The Hof­ rechenkammer therefore enjoyed an unprecedented enlargment of its author­ ity16. In 1765 Joseph had once drawn up a plan to place the entire state adminis­ tration into the hands of a directing minister and to have for finance, one comptroller general17. Although the plan was ridiculed, he evidently returned to it when he came to power. Having made Zinzendorf his comptroller in 1782, he returned to the older administrative system of 1748 when he merged the Bohemian-Austrian C hancellery with the Hofkammer (treasury) and the Bank C ommission (Ministenal Bancodeputation). The new general directory thus created on December 24, 1782, was called the United Bohemian-Austrian Chancellery and was presided over by a hierarchy of three chancellors. Leopold v. Kollowrat became First C hancellor (Obrist Kanzler)18. He had been previ­ ously president of the treasury (Hofkammer). Almost as soon as the new directory-chancellery was created, Joseph in­ formed the new First C hancellor Kollowrat that he intended to simplify the tax system19. This followed on the heels of a plan to abolish the peasant labor Services in the interests of better farming and a greater tax yield. Zinzendorf had, namely, been made president of a special commission to abolish labor Services, Roboten, on December 6, 1782. The work of this Robot Abolitions Hofkommission was unsuccessful before 1784 when on April 26, Zinzendorf was given charge of a new robot project20. C ertainly the idea was in step with the times. Turgot had attempted to abolish the corvées in France and Joseph had collected Turgot's memo on corvées on his 1777 Paris visit21. Joseph v. Sonnenfels, the leading economist in Vienna and sometime adviser to the crown, had also argued, as did the physiocrats, in favor of abolishing all obstacles to modern agriculture, and that it was the duty of the financial administration to maintain the taxpayer's ability to pay. This involved taxing the net income and not requiring incidental obligations which would weaken © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the peasantry in their ability to pay or interfere with their acquisition of property22. The question of abolishing labor Services had also involved some reconsidera­ tion of the tax on property paid by the nobles, the Contribution per se. As the word for other direct taxes payable more generally was also often “ contribu­ tion“ the clear nature of this noble's tax has been obscured. It was apportioned by the provincial estates and was admimstered by them in the provinces, and by the Chancellery in the central administration as the Chancellery dealt with all rights, preroganves, privileges, etc., of the nobility. Under her administrator, Raab, a former colleague of Zinzendorf on the Commerce Council, Maria Theresia had arranged for the cash conversion of labor Services on crown land. The Raab reforms were so successful that Joseph was persuaded of the efficacy of this reform which he had opposed during the co-regency23. If the peasants became private property owners and converted their labor services, then the lords would no longer be responsible for the contribution on their former domain lands. Zinzendorf's private file on the tax reform of the 1780's con­ tains background Information on the problem as it arose during 1781—1782 in the case of the Tyrol. Α new tax was levied on the nobles of the Tyrol on December 25, 1782 and this raised the entire question of the Adelsteuer or “ Kontribution des Domini directe“ 21. Joseph therefore resolved to equalize taxes completely and to abolish the two-class system of payments introduced under his mother's reign. The The­ resian system established different taxation rates for the lord's land (dominikal land) and peasant-farmed land (rustikal land)25. On June 30, 1783 Joseph in­ formed the State Council of his proposed “ physiocratic“ tax equalization pro­ gram. His note was addressed to Count Hatzfeld, a strong centralist who had become directing minister of the State Council and was special counsel for fin­ ancial affairs. He was mercantilist in his attitudes and had at one time been Pres­ ident of the Hofkammer. The physiocratic ideas contained in Joseph's memo im­ mediately aroused strong Opposition in the State Council. Karl Anton v. Mar­ tini, the emperor's former tutor in natural law philosophy, foresaw a “ bad ending“ . He refused to believe that the physiocratic system which Joseph pro­ posed to adopt was fundamentally correct. It seemed to him that equality before the law was a more important goal for society. As a result he believed in taxing the wealthy, regardless of whether their income arose from agriculture or commerce. Martini maintained that the physiocratic idea of taxing the most productive farmers resulted in punishing the industrious and rewarding the slothful. He preferred to continue Maria Theresia's old policies instead. This meant the establishment of an up-to-date tax assessment roll (Kataster) in every province. Regional disparities would then become evident and some measure of equalization could be achieved26. The other members of the State Council, Hatzfeld in particular, also expressed grave doubts about the plan. Joseph however completely ignored the objections of Hatzfeld and the others and instead resolved to rule more absolutely than before27. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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The administrative side of the new reform began on November 24, 1783 when memoranda containing essentially the same ideas as in the note to Hatz­ feld of the previous June, were sent to Karl v. Zinzendorf, the C omptroller General, and to Leopold v. Kollowrat, the First C hancellor. The November 24 memo consisted of the emperor's “ principles“ or Grundsätze. Zinzendorf was enthusiastic about the reform as he was still a physiocrat in his economic thinking and found renewed consolation in their principles at this time. At least one can infer as much from his correspondence with his brother Frederick in Berlin. The latter asked him to recommend a life of Turgot in a letter dated November 28, 1783, and April 12, 1783 Frederick had criticized Adam Smith for attacking the physiocrats28. The “ principles“ of the November memo were to be regarded as an Instruc­ tion. Joseph did not allow any basic disagreement with the ideas stated. In keeping with physiocratic beliefs, land was considered the source of wealth in the state. Therefore it followed that all property taxes would have to be ra­ tionalized and a single tax levied on the net product of agriculture. C onse­ quently the distinction made between the lord's land and the peasant's land would have to vanish. In the existing scheme, the land farmed by the lord was dominikal land, and that farmed by the peasant leaseholder was called rustikal land. In the Habsburg monarchy the lords did pay taxes on their land, mostly to the provincial estates which represented their interests. The estates turned the taxes over to the crown but retained the right to collect them through their own agencies. The nobles paid a direct tax called the C ontribution or Adelssteuer on both the dominikal and rustikal land as they were the owners of both. These were taxed at different rates, however, as the lord's dominikal land was taxed according to its net, while the peasant's rustikal land was taxed according to the gross product. Technically the lords were not to deduet the tax from the peasant's rent, but evidently many of them did. During Ma­ ria Theresia's reign numerous decrees were issued to prohibit such practiecs, apparently in vain29. The innovative feature of Joseph's reform proposal was that all lands were to be taxed at an equal rate regardless of who owned them or leased them. Only the net product was to be taxed. Every property owner was to pay 40 % of his net to support the state (this figure was later reduced), he was to keep 60 %. Robots and other obligations were to be converted into cash payments. Cash values were to be established for Services in kind so that the landlord's true net income might be accurately determined30. Α uniform procedure for determining the Robots with animals and the manual ones was to be estab­ lished. There was to be free trade in all natural produets in town and country­ side, without guild Privileges. Each peasant was to receive a booklet listing the land Classification, labor Services, and in what the amount to be paid to the lord was to consist. Joseph wanted a uniform system established in every province of his realm31. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Zinzendorf immediately described the emperor's tax plan to his brother Frederick in Berlin. Although Zinzendorf's letter has been lost, the brother replied on December 27, 1783 that without doubt the “ liberation des terres en Autriche“ was only to be a local arrangement, but that he was alarmed at the announcement of a new plan of imposition aecording to which the lord's portion was to constitute 40 % of the revenue. He feared that the imposition would absorb all of the lord's profit and yet hoped that the “ liberté“ of property would succeed32. In December, 1783 the foreign diplomats in Vienna also reported the reform as physiocrat in Inspiration, like Turgot's in France. Joseph was praised for it in the foreign press during 1784 and 1785. He was viewed as a “ sage“ prince for having adopted their admirable principles33. The C hancellery was at first assigned the supervision of the tax reform. Α series of provincial commissions which supervised the circle (Kreis) land surveys were established. Surveys and measurements took place in each village or commune as well as on the lord's estates. The local judges and jurymen were to do the measuring under the control of the provincial commissioners34. The Chancellery however assured the Bohemian provincial government (G ubernia) on March 4, 1784 that the new tax was not to be a single tax and that the intention was merely to reduce the worst of the many taxes which weighed on the landowner35. The Chancellery apparently objected to Joseph's “ principles“ and he reprimanded them on July 28, 1784 with the admonition that they were to try to follow the lines of thought established in his memo and to work with them without deviation36. The Chancellery's effort to modify the reform must have motivated Joseph to transfer the administration of it to Zinzendorf. Although he had asked to be spared, he was appointed president of the extraordinary commission which was now created, on July 27, 1784. It was called the Steuerregulierungs Hof­ kommission. This Tax Commission took over the supervision of the surveying agencies already created. The emperor himself ordered them attached to the regular state agencies on the provincial and district (circle) levels. These were the G ubernia and Kreis administrations. Violent disagreements between the emperor and Zinzendorf, especially during 1785, eventually ended in his dis­ missal from the Tax Commission early in 1788. The emperor at all times insisted that his principles of equal taxation be followed “ exactly“37. Although he was relatively ignorant of the technical aspects of accounting, Joseph had himself described his preferred method for determining the net product to Zinzendorf who was expected to obey without Opposition. As Joseph wanted to hasten the procedure and introduce the new system as quickly as possible, he believed that one could estimate taxable income by surveying and cate­ gorizing all lands aecording to quality and type of cultivation. One could then multiply the average yield of lands in each class by the ten year average market price of the grain. Zinzendorf however understood the problems of price fluetuations better than Joseph. Such a method was too vague. He tried in vain to persuade the emperor that it would be better to have each owner © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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make an exact declaration of his individual income. In this way the hidden extras from the peasant labor services could also be calculated and assessed as taxable income. He also believed in deducting the peasant's cost of cultivation from his income. Joseph did not understand Zinzendorf's point and thought that such a method would be too complicated. It would slow down the reform. He intended to abolish the labor Services anyway 38 . The following year, 1785, Zinzendorf attempted to resign several times because of his dispute with the emperor about the taxability of the lord's total income (including the hidden extras in seigneurial fees). Zinzendorf believed that justice demanded that the peasant have the right to deduct the cost of cultivation. And justice also demanded that the seigneurial obligations (re­ devances) ought to be deducted from the gross product of the lord's income. Joseph opposed this because he intended to abolish all labor Services and similar dues simultaneously when the land surveys were completed. Influenced by arguments arising in France, Zinzendorf viewed this as an attack on prop­ erty rights. He pointed out that this reversed all the contracts for the con­ version of Robots which had been made earlier. Friedrich Eger, Joseph's man on the Tax Commission had argued in favor of the emperor's position and thus, feeling his position undermined, Zinzendorf tried to resign on Febru­ ary 26. The Grand Chamberlain, Count Franz Xaver Rosenberg, whom he saw daily, smoothed things over and persuaded the emperor to a more moderate view39. Nonetheless the emperor continued his tirade against the provincial govern­ ments and against the slowness with which the project was being carried out. He pressed for a patent of Instruction so that the land surveys could begin. On March 31, 1785 the Tax Commission held a three and one half hour session with Joseph. The emperor conceded nothing and insisted on his mode of measuring the land and the product instead of Zinzendorf's scheme for in­ dividual income declarations. The patent of April 20, 1785 was drawn up by Sonnenfels and the commissioners were dispatchcd to the provinces with Jo­ sephist Instructions40. Zinzendorf had been so aggravated by the adoption of Joseph's method that he again offered to resign on April 6. He was fairly cer­ tain that Joseph's method of measurement would not produce a sufficiently accurate estimate of income on which to base a just tax. Joseph however made it clear that if he did not execute the orders of his sovereign all future advance­ ment would be out of the question41. By June, 1785 Joseph resolved to use military engineers to speed up the surveys. There was not enough money to pay the local judges and jurors who were to do the work in the villages however, and who refused to work without pay. The complaints of the nobility were already a subject of conversation in Vienna's salons. Prince Starhemberg told Zinzendorf on August 30, 1785 that he would lose 18 000 gulden on his estates in Upper Austria by the new arrangements42. Α further blow was dealt Zinzendorf and the noble's party at court when Joseph appointed Eger to the State Council on October 4, 1785 to © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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replace Martini. Eger alone was deemed above self-interest and prejudice to understand Joseph's policy. As he remained on the Tax C ommission however he was criticized by Zinzendorf for having broken State C ouncil custom to act as counsel to the emperor but not to accept administrative portfolios. Joseph laughed at these objections and told Zinzendorf it would speed up the work43. On January 25, 1786 the emperor resolved to extend his tax reform to Hungary as well and first consulted with the Hungarian officials behind Zin­ zendorf's back before he assigned him that commission as well. Zinzendorf's feelings were ruffled and he twice tried to resign, on January 12 and on the 25th when he went so far as to send all his papers to Eger. On January 26 the emperor told him that when in Service it was necessary to serve with docility and work diligently44. Most of the land surveys were successful carried out during the spring and summer of 1786 and there was little further friction until fall. On Septem­ ber 14 the minutes of the Bohemian provincial commission which Zinzendorf had received, made it clear that the calculations done by the Josephist method were arbitrary and yielded an inaccurate result. The emperor himself now switched to Zinzendorf's policy of making calculations on the basis of in­ dividual declarations. His note of September 19, dispatched from field ma­ noeuvres in Bohemia, ordered each landowner to make a statement of his pro­ duction according to a new formula which he appended. Zinzendorf commented that he had already suggested this on August 18, 1784 and that the expense of the mistakes made since then could have been spared45. Most of the land reform work was completed during 1787 and by the end of that year there remained only the question of calculating the seigneurial obligations. Accordingly the provincial government councillors as well as the domains administrators were summoned to Vienna on December 15, 1787. Joseph presented them with nine points for discussion and precipitated a new crisis among his ministers. Zinzendorf had opposed the emperor's new scheine for combining the tax reform with a regulation of labor Services since the previous April. He continued to argue that the Robot was to be deducted from the peasant's gross income. Eger, however, wanted the state taxes as well as the urbarial obligations represented as a percentage of the raw product of the farm economy46. The denouement came in the winter of 1788. Zinzendorf damned Joseph to his diary on January 17, 1788 as a despot who had not really been legitimately born for his throne and who followed Louis XIV. as his model. He was, he wrote, one of the most reprehensible princes; he had a weak mind, he was despotic and superficial to a supreme degree47. Once more the emperor decided to resolve the dispute between himself and Zinzendorf by calling a plenary session of the Tax C ommission members and the provincial agents. The con­ ference met on February 1, 1788. The majority was at first loyal to Zinzendorf and cool to Joseph's proposed urbarial regulation. They seemed to favor Zin­ zendorf's scheme of collecting declarations of the current status of the seigneu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rial obligations. The commissioners continued their debates, mostly in Zinzen­ dorf's absence and under the direction of one of Eger's men: Kaschnitz. Only two favored Zinzendorf's view that the expenses of cultivation ought to be deducted. That Joseph wanted to increase the tax as much as possible seems evident from the description in Zinzendorf's diary of a soirée at the Grand Chamberlain's on February 13. The emperor argued with the royal princesses about the amount of tax Moravia would have to pay and declared that that province would have to pay more. His sisters thereupon replied that he was the most dreadful despot who had ever existed48. Joseph's expensive involvement in the Turkish War and the steep rise in prices throughout Europe at that time compelled him to find new sources of revenue quickly. He therefore changed his essential principles of taxation and ordered a tax on the gross rather than on the net product of agriculture. The percentage of total income which the state was to collect was now fixed by fiat as was the amount to be left to the lord and peasant for subsistence. Zin­ zendorf's long smouldering bitterness could no longer be restrained. In a series of memos addressed to Joseph and in his audience at court he argued vehe­ mently that the emperor had betrayed his own principles. Joseph had infringed on property rights by not calculating the true income of lord and peasant. By setting tax rates at will he had deprived the lord of the capitalized property value of such things as peasant labor Services and the other fees and obligations owed to him. Under the still semi-feudal Theresian codes these were included in the value of the property and whenever an estate was sold or inherited, these were assessed and added to the capital value of the property. Joseph however proposed to tax all gross income and to limit the payments to the lord by the peasant to a sum below the real assessed value of these seigneurial obligations. The result would have been to lower the capital value of the landlord's property. Taking his cue from events in France, Zinzendorf argued that property rights were inviolable and “ sacred“ . Joseph viewed this as lesé majesté. He was intolerant of Zinzendorf's argument that property rights were “ sacred“ , but more than a little aroused by his further argument that Joseph had been an unlawful ruler because he had violated the existing laws and compacts affecting the estates-owners49. The emperor summoned Zinzendorf and his commissioners to an extra­ ordinary session in the palace on February 18, 1788. Zinzendorf attended with fear and trepidation. Points at issue were discussed hesitatingly. The question of whether to deduct the expenses of cultivation was tabled. Instead Joseph demanded Information on the tax sums repartitioned by the local estates. He now decided that the seigneurial obligations (redevances) could be incorporated into the unified tax. When he was told two days later that the total sum imposed by the estates amounted to a mere 111 000 gulden, he refused to believe it. Zinzendorf meanwhile held a further Session with his commissioners on the 21st and still tried to persuade them against the emperor's decisions. They had little courage to resist their sovereign. The Grand C hamberlain, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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however, who represented the interests of the noble's party, tried to encourage Zinzendorf to argue more forcefully against the arbitrary changes in regard to seigneurial redevances. The war had already cost 13 million gulden, Zinzendorf replied50. On February 25 the commission met again with the emperor who presided. Joseph now decided on setting an Upper limit on the individual tax burdens. No subject was to pay more than 50 % as a total Obligation to the combined collection of lord, village, and state. The emperor further resolved to turn the administration of the reform over to the C hancellery and decided that the new repartition was to begin between May 1 and November 1, 178951. On February 28, 1788, while at the Grand C hamberlain's, Zinzendorf received a note from the emperor “ by which His Majesty dispenses me in the most gracious terms of the C adastre C ommission“ . He went at once to court and Joseph informed him that Eger would head a new commission and called him “ my dear count“ . Alone in bed that night, Zinzendorf commented, “ Quelle Horreur“ . The emperor left for Trieste, believing that he had regulated every­ thing52. The new commission was however to be subordinated to the C hancellery and the chancellor, Rudolf C hotek, was to sign the decrees which Eger drew up. Chotek belonged to Zinzendorf's party and disliked the new commission as did the State C ouncil. It was Eger's commission which drew up the controversial Tax and Urbarial Reform Patent of February 10, 1789 which Joseph signed in the face of the vigorous Opposition of his high officials. Both C hotek and the First C hancellor, Kollowrat, objected to the patent because it violated sacred property rights by seeking to impose a uniform regulation of the urbarian on all provinces. Such a procedure violated their independent traditions, customs, and constitutions. Kollowrat felt certain that the national wealth would decline if the reform went through and asked that the presidium of the Chancellery be relieved of all responsibility for the consequenecs which would follow. On January 31, 1789 Joseph had replied that these objections merely represented the selfish interests of the landowners. He then denounced Zinzendorf for faulty bookkeeping and threatened to abolish his ministry (the Hofrechen­ kammer). Zinzendorf remained undaunted and joined with the other high officials to continue the Opposition to the emperor. C hotek who had the signing authority for the commission, was so aroused that he resigned on February 5, rather than put his name to the infamous document53. The reason for the strong opposition to the February 10 patent becomes clearer when one evaluates it in terms of the real income of the taxpayers. The patent provided that the peasant could keep 70 % of his gross income. The remainder was shared by the state and the lord. This meant that 12 gulden and 13 ½ kreuzer out of every 100 gulden in income were to be paid in taxes. The remaining 17 gulden and 14 2/3 kreuzer of every 100 gulden were to be paid to the landlord. This sum was, however, to cover all of the lord's costs in labor services and other seigneurial redevances rendered by the peasantry. The remaining labor Services were to be abolished and converted into cash pay© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ments within one year after the patent was issued. The rate of commutation was to be included in the total sum paid by the peasants to the lord which could not exceed the fixed ceiling of 17 gulden and 14 2/3 kreuzer per 100 gulden income54. That this tax burden was imposed on a gross income which could not bear the imposition may be seen from Zinzendorf's Statistical collec­ tion on the average payments made by the peasants to the landlords in Bohe­ mia and Austria. C ertainly these tended to be 20 % to 30 % of the peasant's gross income. In Bohemia they were frequently 60 % and even 100 % of the gross. The 17 % which Joseph had set as the ceiling on payments to the lord was obviously far below what the lords were accustomed to receiving. The strong opposition of the nobility which arose and which in part accounts for the revolt of the provincial estates which followed, was the result of these arbitrary tax proportions. The lords believed that they could not make ends meet if the new tax were introduced. Seemingly the limits on seigneurial payments and the promised abolition of the Robot, were intended to appeal to the peasants. Yet they also rioted and their Opposition was rooted in the same arbitrary economic decision-making of the emperor. In spite of Joseph's stated good intentions, the tax left them with a real deficit in their incomes. Joseph was not Ignorant of the financial plight of either the lords or the peasants. Just prior to the publication of the February patent, the emperor had conferred with his councillors about how much of the peasant's gross income was needed for subsistence. It was estimated that the peasants needed at least 75 % of their gross to subsist. Joseph however decided for 70 %. This then deprived most of the peasantry of a subsistence Standard of living and at a time when prices were rising at the rate of 50 % a year and more. Both peasants and lords were intensely dissatisfied and therefore ob­ jected to the new tax with loud outcries, and then with violence55. Eger's Tax C ommission created a new and expensive bureaucraey of tax collectors in every province. Responsible to the central government only, they posed a threat to the old tax collecting administration of the provincial estates as they were to collect the estates' traditional taxes as well. The taxes owed the estates could not very well be added to Joseph's new land tax with its rigid limitation of a 12 % payment to the state and 17 % to the seigneurial lord. Yet the old taxes had been set aside to amortize the provincial debts and if they were to vanish, all payments on the prineipal and annual interest on these debts was threatened with default. It is because they were literally faced with bankruptey that the provincial estates were on the point of revolt when Joseph II died, unlamented, on February 20, 1790. Military force had meanwhile been used to quell the outbreak of peasant uprisings throughout the monarehy. The Robot commutations and abolitions which the peasant had anticipated, had been suspended. The tax which was levied exceeded the amount they could afford to pay. Tax collection proved well nigh impossible in many provinces and before his death, Joseph had already extended tax deadlines for Hungary and Galicia where complaints © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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were most bitter. The emperor refused to listen to most of them. Sick man that he was, he accused his officials of deliberately creating confusion among the people56. The death of the Emperor Joseph II. was a consumation much hoped for, even by his oldest and most faithful councillors. Zinzendorf noted in his diary on February 22, 1790, that he had reflected at the bier of the dead ruler on how few men had dared to tell this man the truth. Joseph II. had known no other law than his own will. He had been imbued with prejudices and had never wanted to probe them to any depth. Yet he might have been an amiable and good individual if he had always respected justice and morality, if he had shown less “ presumption“ 57. Zinzendorf's bitterness was shared by others. After the funeral on February 23, 1790, General Lacy had remarked that the new sovereign “ would have to erface all traces of Joseph's reign“ . Joseph had refused to play a moderate role. He had always been too exclusive in his exercise of power. He had monopolized the decision-making process to such an extent that with his death no one knew what to do58. The protests of the estates continued, despite Joseph's death. The officials in Vienna who expected Leopold's arrival from Tuscany were uncertain about what the new king's policies would be. Affairs of state were discussed daily and Leopold's son, the Archduke Francis acted as regent. War with Prussia seemed inevitable. It was expected that the revolutions in the Austrian Nether­ lands and Hungary would result in the loss of those territories to the crown. Leopold's election as Holy Roman Emperor was by no means assured. In the midst of such turmoil the Lower Austrian estates convened in Vienna on February 27, 1790. Zinzendorf attended in order to exert his leadership against the patent. The assembled lords were more than aware of how much the public debt had increased during the last three years of Joseph's reign. They agreed that the old C ontribution would have to be restored, but that it would have to be more equitably administered than before. Zinzendorf's idea of individual statements of income was approved in principle. It was suggested that this system be applied to the old C ontribution, although it could not be easily done59. The Upper Austrian estates also prepared an extensive protest which was received in Vienna on March 30, 1790. They objected to the tax exemptions for industry and the abolition of internal tariffs. In their lengthy petition they demanded the restoration of the old constitution, the immediate abolition of the new tax collectors and restoration of the old C ontribution and its collection by the landlords. They argued that Joseph's new land tax destroyed agriculture and taxed the peasants and cottagers more heavily than before. They demanded a new rectification with the estates' accounting office to do the calculations and the representation of the estates on such commissions60. Zinzendorf meanwhile awaited Leopold's arrival in Vienna and maintained personal contact with dignitaries throughout the monarehy. As the new ruler travelled towards Vienna, Zinzendorf received enthusiastic accounts of how © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 6 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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he was received in the provinces. Leopold appeared willing to listen to griev­ ances everywhere and did not arrive in Vienna until March 12. After a con­ ference with high officials, the Eger commission was abolished on March 21. The February 10 patent was not repealed until April 19, 1790 however and the Archduke Francis was given charge of negotiating the restoration of the old order. Chotek became Vice Chancellor, a lower rank than he held before. Eger remained in the State Council. Zinzendorf was also promoted to it in 1792 to act as the senior adviser in financial affairs61. Leopold did not restore the old regime in its entirety however although no radical reform of peasant relations took place before the 1848 revolution. In convening the Upper Austrian estates in extraordinary session that May he directed them to deliberate the ways of restoring the old provincial constitu­ tion and the former tax system. Yet the subject was to be offered every relief, especially the regulation of the Robot which was to be converted to a cash payment62. Leopold's patent of September 1, 1791 then promised a general convertibilty of the Robot in kind to a cash payment. Α gradual amelioration of relations took place beginning in the late 1790's63. It may be argued that Joseph's tax reform failed because he failed to under­ stand the technical economics required to carry it out. In the end he was more interested in raising revenue quickly than in achieving a true tax equalization. It is not true that the “ new economics“ was false, or that “ vested interests“ undermined the reform. The head of state pursued a policy which was not feasible during the existing crisis. His essential failure lay in the fact that he refused to acknowledge any other law than his own will. It is this which his brother Leopold II immediately and successfully sought to reverse.

Notes 1 H. P. Liebel, Der Aufgeklärte Absolutismus u. die Gesellschaftskrise in Deutsch­ land im 18. Jahrhundert, in: Absolutismus, ed., W. Hubatsch, Darmstadt 1973, 504 ff. — An earlier version of this paper was read to the American Historical Association's Annual Meeting. December 28, 1970. 2 Zinzendorf's diary is in: HHStA, XI/10/i III, Tagebuch 1764—1770. 3 Handbuch der Europäischen Geschichte, ed. T. Schieder, IV., Stuttgart 1968, 602—4. 4 Tagebuch, March 31, 1766. 5 Ibid., 1767 passim, and February 23, 1767. See on Forbonnais: Notice sur Forbon­ nais, in: Melanges d'Économie Politique, I, cd. E. Daire, G. de Molinari, Paris 1847, 167 ff. 6 Tagebuch, May 14, 1770. 7 Ibid., May 13, 1770. 8 Ibid., 1770—1776. A. Beer, Die Handelspolitischen Beziehungen Österreichs zu den Deutschen Staaten unter Maria Theresia, Archiv für österreichische Geschichte 79 2. 1893. 9 Tagebuch, 1776—1782. G. v. Pettenegg, Ludwig u. Karl, Graten u. Herren von Zinzendorf, Minister unter Maria Theresia, Joseph II., Leopold II., u. Franz I., Ihre

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Selbstbiographie nebst einer kurzen Geschichte des Hauses Zinzendorf, Vienna 1879, 195 ff. 10 A. Wandruszka, Leopold II. 2 vols., Vienna 1965, I, 365, 360—361 f. n. 17. 11 Ibid., I, 324 f. n. 32, 366, 367 f. n. 34, 443. Tagebuch, March 17—18, 1779. 12 See his letter to C hoiseul, in: Briefe von Joseph dem Zweyten als charakteristi­ sche Beiträge zur Lebens- u. Staatsgeschichte dieses unvergesslichen Selbstherrschers, ed. F. A. Brockhaus, Leipzig 1822, 40—41; A. Beer, Die Finanzverwaltung Österreichs, 1749—1816, MIÖG 15. 1894, 300. 13 Wandruszka, II, 89. 14 On the proposed appointment of Necker see C orrespondance Secrète du C omte de Mercy-Argenteau avec l'Empereur Joseph II et le Prince de Kaunitz, ed. A. Arneth and J . Flammeront, Paris 1888, I, 27, also 13, 25, 40—51. On Joseph's 1777 visit to Paris and his encounters with Necker and Turgot see: HHStA, X/5/ Karton 9 and 10, Hofreisen. This contains copies of Turgots memos to Louis XVI. R. Rozdolski (Die Grosse Steuer- u. Agrarreform Josefs II, Warsaw 1961, 17) believed that Turgot had given Joseph these copies personally. Mercy-Argenteau, The Austrian ambassador in Paris kept detailed notes of Joseph's visit and whom he saw. See HHStA, XV/2/1 W 979, p. 51. The most recent work on Joseph's Paris trip, H. Wagner, Die Reise Jo­ seph II. nach Frankreich 1777 u. die Reformen in Österreich, in: Österreich u. Europa, Festgabe für H. Hantsch, Vienna 1965, 221 ff., has also linked the journey to sub­ sequent reforms in Austria. 15 Tagebuch, April 12, 1782. Beer, Finanzverwaltung, 310, commented that Zinzen­ dorf's earlier activities had been “ bewunderungswürdig“ , and that he also won “ große Verdienste“ in his new post. Most pre-World War I Austrian historians are more hostile. 16 Ibid.; Pettenegg, 200—201. Joseph's major biographer, P. v. Mitrofanov, Joseph II. Seine politische u. kulturelle Tätigkeit, Vienna 1910, 409, attributed the new efficiency to Joseph and did not mention Zinzendorf whose work it mainly was. 17 Mitrofanov, 426; A. Arneth ed., Maria Theresia u. Joseph IL, Briefwechsel, 3 vols., Vienna 1867, III, 337—338. 18 There were three Bohemian-Austrian chancellors: Obrist Kanzler, Kanzler, Vize Kanzler. On the administrative reform see F. Walther, ed., Die Österreichische Zen­ tralverwaltung. II. Abt. Von der Vereinigung der Österreichischen u. Böhmischen Hof­ kanzlei bis zur Einrichtung der Ministerialverfassung (1749—1848), IV: Die Zeit Jo­ sephs II. u. Leopold II. (1780—1792), Vienna 1950, 27—28. See also the Instruction for the new chancellery in idem, Aktenstücke, Vienna 1950, 41 ff. Also F. Walther, Öster­ reichische Verfassung- u. Verwaltungsgcschichte, 1500—1955, Vienna 1972, 111. 19 Österreichische Nationalbibliothek, Wien. C od. 13,978, pp. 147 ff. See also L. Mi­ koletzky, Der Versuch einer Steuer- u. Urbarialregulierung unter Kaiser Joseph II., Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24. Vienna 1972, 312. Mikoletzky used the Hofkammer file for the reform in HKA, Hs. 275. Zinzendorf had a separate file however. 20 Pettenegg, 202—203; Tagebuch, April 26, 1784. 21 HHStA, X/5/ Karton 9 and 10, Hofreisen. 22 Joseph v. Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung- u. Finanzwissenschaft, 3 vols., 1 ed. Vienna 1765 ff.; 3 ed. Vienna 1777 ff., III, 206—208. 23 W. E. Wright, Serf, Seigneur, and Sovereign. Agrarian Reform in Eighteenth Century Bohemia, Minncapolis 1961, 55 ff. 24 Ο. Ν., Wien. Pal. Vind. cod. 14, 178, esp. pp. 86—173. 25 Equalization was also the theme of J . Necker, De l'Administration des Finances de la France, 3 vols., Lausanne 1784; 2 ed. 1785. From Zinzendorf's diary for 1785 it seems that he found the work contradictory and that it was not well received in Vienna salons. Although Joseph's reform pre-dates the appearance of the book, his 6

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conversations with Necker ort his visits to Paris might have touched on the subject of the book. 26 C . Freiherr v. Hock u. H. I. Bidermann, Der österreichische Staatsrath (1760 bis 1848), Vienna 1879, 600. 27 Ibid., 602. 28 Deutsch Orden Archiv, Wien. Hs. 378: April 12, 1783 & November 28, 1783. 29 Maria Theresia s dual system of taxation originated in the Sistemalpatent“ of September 6, 1748 which specifically allotted the C ontribution to the lords and pro­ hibited them from mixing this tax with others collected from the peasants. See Samm­ lung aller k. k. Verordnungen, 9 vols., Vienna 1786/87, I, 71—91. Also the article “ Kontribuzion“ in P. K. Jaksch, Gesetzlexikon in Geistlichen, Religions- u. Toleranz­ sachen, wie auch in Güter-Stiftungs-Studien- u. Zensursachen für das Königreich Böh­ men von 1601 bis Ende 1800, Prague 1828, III, 623 ff. 30 O. N., Wien. C od. 13,978, pp. 147 ff.; Hock u. Bidermann, 599—600. 31 Mikoletzky, 316—317. The November 24 memo to Kollowrat has the same In­ structions as the one to Zinzendorf. 32 DOZA, Hs. 378, December 27, 1783. 33 Mitrofanov, 424—425 surveys the comments of foreign diplomats and of the peri­ odical press, expecially the Leyden Gazette which Zinzendorf also read, and the Jour­ nal Historiaue et Politique. 34 Mikoletzky, 318; Pettenegg, 203. 35 Mitrofanov, 419, citing the C hancellery Instruction to Bohemia. 36 Mikoletzky, 319, citing HKA, Hs. 275, fol. 24. 37 Pettenegg, 203. See also Mikoletzky, 320 citing Joseph's note in HKA, Hs. 275, fol. 30: “ Sie können dem Staat keinen wichtigeren Dienst leisten, als zu Simplifizierung der Abgaben, und zu Einführung eines allgemeinen Steuerfusses beyzutragen“ . See also Ο. Ν., Wien. Cod. 13,929. Handbillet of July 22, 1784. Cf. Mikoletzky, 320 ff. who emphasizes Joseph's displeasure with Zinzendorf's “ slowness“ , a charge which his diary refutes. Mitrofanov, 419, incorrectly lists G ebier as president of the com­ mission. G ebier, an Eger man, was president of the reformed Robot commission. As a result of this error he completely overlooks Zinzendorf's role in the reforms of Joseph's reign. 38 O. N., Wien. Cod. 13,970; Tagebuch, December 9, 1784, also August, 1784, pas­ sim. 39 Tagebuch, February 2 & 3, 1785. On the Robot abolition see also Jaksch, V, 240 ff. Also Tagebuch, February 26 to 28, 1785. 40 Ibid., March 31, April, 8, 1785. Mikoletzky, 320—321. 41 Tagebuch, April 5 to 8, 1785. 42 Ibid., August 30, 1785; Mikoletzky, 322—327. 43 Tagebuch, October 13, October 3, 4, 8, 14, 20, 1785. See also Mikoletzky, 321. 44 Tagebuch, December 30, 1785; January 12, 25, 26 1786. The surveys began May 1, 1786. See Mikoletzky, 327—328. Joseph had told the G rand Chamberlain (January 18) that he felt that Zinzendorf was angry with him. The latter had then reproached him for making aecusations of laziness and Joseph exclaimed, “ Bewahre G ott“ , he had only accused the Styrian provincial administration of laziness and negligence, that he knew how hard and how untiringly Zinzendorf worked. 45 To the beginning of 1787 the cadastre Operation had cost 2 million gulden. See Tagebuch, September 14 & 19, 1786; December 9, 11 to 15, 17, 1786; January 10, 17, and February 27, 1787. 46 Mikoletzky, 330, 332. 47 Tagebuch, January 17, 1788. 48 Mikoletzky, 333; Tagebuch, February 2 & 4, 1788. 49 Ο. Ν. Wien. Cod. 13, 984; Tagebuch, December 9, 1784 and August, 1784. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ibid., February 18 & 20, 1788. Ibid., February 21 to 25, 1788. 52 Ibid., February 28, 1788. 53 Ibid., February 29, March 5, 1788. Hock u. Bidermann, 141, 181; Mikoletzky, 336 ff. Joseph condemned C hotek's resignation as perfidious, stubborn, and wrong. See ibid., 342. 54 The February 10, 1789 patent is in: J . Kropatschek, ed., Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph II. für die k. k. Erbländer Ergangenen Verordnun­ gen u. Gesetze in einer Sistematischen Verbindung, 18 vols., Vienna 1785/90, XVII, 153 ff. 55 Ο. Ν., Wien. Cod. 13,983, pp. 186 ff.; Rozdolski, 104. 56 Hock u. Bidermann, 142. 57 Tagebuch, February 22, 1790. H. Wagner, ed., Wien von Maria Theresia bis zur Franzosenzeit. Aus den Tagebüchern des Grafen Karl v. Zinzendorf, Vienna 1972, 42, cites this passage in German. 58 Tagebuch, February 23, 1790. 59 Ibid., March 2, 1790. The debt rose 60 million gulden from November 1, 1787 up to 1790. From November 1, 1788 to 1790 it increased by 42 million gulden. The Moravian-Silesian estates protested the same day as the Lower Austrian, viz., February 27, 1790. See Mikoletzky, 343. 60 W. Jung, Geschichte der Landstände Oberösterreichs. Die oberösterreichischen Landstände zur Zeit Josefs II. u. Leopold IL, phil. Diss. Wien 1968, MS, 226 ff. 61 Tagebuch, February to March, 1790; Mikoletzky, 343. The fierce objection to Joseph's final reform effort is also described in A. Jäger, Kaiser Joseph II. u. Leo­ pold II. Reform u. Gegenreform 1780—1792, Vienna 1867, 182—183, who also blames Joseph's lack of realism, the use of amateurs for the land surveys, and the increased burdens on the peasantry. On Hungary see B. Kiraly, Hungary in the Late Eighteenth Century. The Decline of Enlightened Despotism, New York 1969, 129 ff., 173 ff., 212 ff. See also the contemporary pamphlets: I. B. Hessl, Freimüthige Gedanken über das neue Grundsteuer-Rektifikationsgeschäft Vienna 1790, and [Anon.] Die Kontri­ buzion oder Uibersicht des Kontribuzionstandes in Beziehung auf das physiokratische Sistem, Vienna 1788. 62 Jung, 231. 63 Mikoletzky, 345; also K. Grünberg, Die Bauernbefreiung u. die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren u. Schlesien, 2 vols., Leip­ zig 1894. Recently: F. A. J . Szabo, Joseph II, Leopold II, and the Agrarian Problem: Α Study in Enlightened Despotism, Μ. Α. Thesis, University of Alberta 1970, Ms. 50

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Deutschland und der preußische Osten Heterologie und Hegemonie Von GERHARD SC HULZ

I. In der wiederholt behandelten Verschiedenartigkeit der deutschen und der westeuropäischen Entwicklung spiegelt sich eine historische Wende, deren viel­ fältige Wirkungen nun stärker in den Perspektiven einer europäischen Ge­ schichte hervortreten. Das unter dem Einfluß des romantischen Nationalismus mächtig erwachte und doch so undeutliche Empfinden für den Antagonismus zwischen der im Germanischen wurzelnden Ursprünglichkeit und eigentüm­ lichen Stärke der deutschen Volksart und dem nach den napoleonischen Kriegen mit Aufklärung und Fremdheit leichthin identifizierten Frankreich wich schon im Vormärz nach und nach kühleren und tiefer eindringenden Überlegungen, die durch neue und neuartige Berührungen mit Frankreich ausgelöst waren. Neben den unverbrüchlich den französischen Idealen der Revolutionszeit an­ hängenden Liberalen an der südwestdeutschen Peripherie warben Heine, Gans, Rochau, Grün und Lorenz Stein für neue Betrachtungen des deutschen und französischen Geistes noch Jahre vor der 48er Revolution. Später hat sich dann unter dem Eindruck der Umgestaltung Europas in der Periode von der italienischen Einigung und der Bismarckschen Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, im Zeitalter der Vollendung der Nationalstaaten in Mitteleuropa also, eine Ausweitung der in verschiedenen Versuchen ins Grundsätzliche vorstoßenden Erörterung einer in Deutschland so anders als in den großen — und einigen kleineren — Staaten Westeuropas verlaufenen Geschichte Bahn gebrochen, die schließlich auch von der Erinnerung an die romantische Be­ trachtungsweise entschlossen Abschied nahm. Von den Versuchen Thorstein Veblens und den Thesen Ernst Troeltschs bis zu der geistvollen Behandlung des deutschen Mittelalters durch Geoffrey Barraclough wurde dann in unserem Jahrhundert immer entschiedener und eindrucksvoller diese Heterologie und ihre Problematik in bohrender, nicht mehr ruhender Gedankenarbeit darge­ stellt, erörtert und in einigen ihrer Aspekte auch gründlicher erforscht. Dabei ist allerdings die zentrale Wende der europäischen Geschichte, mit der der Brennpunkt der Ereignisse und Entscheidungen sich aus der Mitte des Kontinents heraus verlagerte, der Niedergang des alten Reiches mit seinem universalen Anspruch und die Rückkehr zu einer neuen, am Ausgang der

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Geschichte des Römischen Reiches schon einmal existenten, dann für Jahr­ hunderte überlagerten Spannungsbeziehung zwischen West- und Osteuropa1 mehr am Rande des historischen Beobachtungsfeldes geblieben. Aber es war kein Zufall, daß die Anfänge des Empfindens einer deutsch-westeuropäischen Dissonanz — zunächst in ihrer nationalromantischen Version, noch ehe sich die kritisch-politische entwickelte — in etwa mit dem endgültigen Abschluß dieses Verlagerungs- und Übergangsprozesses zusammenfiel, der endgültigen Zerstörung des alten Reiches, an dessen Stelle für kurze Zeit die Doppel­ hegemonie Frankreichs unter Napoleon I. und Rußlands unter Alexander I. trat. Sie entstand 1807 mit eben den Tilsiter Verträgen, die Preußen wie das wiedererstandene Polen unter französischer Besetzung und wechselseitigem Schutz der omnipotenten Potentate, ähnlich dem Rheinbund, aus dem Kreis der souveränen Mächte ausschlossen, nachdem Napoleon Österreich vom Schau­ platz der mitteleuropäischen Ereignisse verdrängt hatte. In dieser freilich nur kurze Zeit zur idealtypischen Vollkommenheit gelang­ ten Konstellation mochte Männern der preußischen wie der deutschen Patrioten­ partei „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ erscheinen, wie eine ihres Titels freilich mehr als ihres Inhalts wegen berühmt gewordene anonyme Flugschrift hieß, die — im Jahr vor den Tilsiter Ereignissen — der Nürnberger Buchhändler Palm verlegt hatte. In dem größeren Rhythmus der europäischen Geschichte ereignete sich hier der endgültige Durchbruch des West-Ost-Dualis­ mus, mit dem die mitteleuropäische Geschichtsperiode abschloß und Mitteleuropa zum ersten Male vorübergehend auch seine politische Eigenständigkeit einbüßte. Die von der herkömmlichen deutschen nationalgeschichtlichen Historiographie herausgearbeitete, unermüdlich unterstrichene und mit liebevoll hingebender Detailzeichnung dargestellte Entstehung des neuen Deutschen Reiches unter der Führung des wiedererstandenen Preußen im 19. Jahrhundert erscheint uns nun als eine gewiß folgenreiche, in etwa bis 1933 anhaltende Zwischen­ phase, in der freilich die Ost-West-Spannung nie dauerhaft abgebaut, sondern nur abgewandelt wurde. Sie überlagerte im Grunde alle Stationen der preu­ ßisch-deutschen Geschichtsperiode. Innerhalb dieses in mehreren Abstufungen weiter gezogenen Rahmens findet nun auch die in der Dauer der historischen Statik freilich begrenzte Verlagerung des Gestaltungszentrums des neuen Deutschland nach dem ostmitteleuropäischen Preußen statt. Auch nachdem die Teilung des neuen Deutschen Reiches in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945 und die Abbindung des in der Tilsiter Note Napoleons vom 4. Juli 18072 als Zwischenzone charakterisierten Gebietes zwischen Elbe und Memel vom enger zusammenrückenden Westeuropa das Ansehen des Endgültigen erhalten hat, geht von der Entstehung der deutschen Hegemonie Preußens, nunmehr einer endgültig abgeschlossenen Vergangenheit, die für den Historiker bleibende Faszination des historisch Folgenreichen aus. Voraussetzungen und charakteristische Momente dieses geschichtlichen Prozesses erscheinen nicht weni­ ger der Betrachtung würdig als sein definitives Ende, selbst wenn man sich die Einsichtnahme in die scheinbar verwirrend unübersichtlichen, vielschichtigen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bereiche der tradierten, geistigen, ideologischen, verhaltenstypischen — und wie auch immer genannten — Nachwirkungen und Folgen versagt, was hier der Kürze halber geschehen muß. Im historischen Rückblick mag die Stetigkeit, die das am Rande des alten Reiches gelegene, dann mit dem Herzogtum Preußen im weiteren Osten ver­ bundene Kurfürstentum Brandenburg allmählich zur Mitte des Reiches hinein­ wachsen und schließlich auch in seinem Westen Fuß fassen ließ, leicht als irreversibler Vorgang erschienen, den das Pathos einer älteren Historiographie in den hohen, aber ungreifbaren Rang des Schicksalhaften erhob. Die weit sich dehnende, sowohl im Osten als auch im Westen fortgebildete Länderagglome­ ration der preußischen Monarchie entbehrte noch im Ausgang des 18. Jahr­ hunderts des einheitlichen C harakters einer modernen, auf der Höhe der Zeit stehenden Staatlichkeit. Sie lebte vom Ruhm und dem rigorosen Staatswillen ihrer bedeutenderen Herrscher, die nun dahingegangen waren, während die von ihnen geprägte Disziplin, die Heere marschieren, siegen, Niederlagen durchstehen ließ, Beamte kurz und unentwegt tätig hielt, noch lange nicht verblaßte. Mit unbeirrbarer Konsequenz nutzten die Kurfürsten und Könige die um sich greifende Auflösung anderer Territorialstaaten im Reich zur Erweiterung ihrer Herrschaft aus. Das bedeutsamste Vorspiel zu dem späteren Aufbau der Hegemonie Preußens bildete die Auflösung des alten Kurfürsten­ tums Sachsen als des alten mitteldeutschen Bindeglieds zwischen Nord und Süd wie zwischen Ost und West, des wirtschaftlich entwickeltsten und wohl­ habendsten der deutschen Territorialfürstentümer in der frühen Neuzeit. Der Bodengewinn von Osten her, der die europäische Neuzeit bestimmt, begann innerhalb des alten Deutschen Reiches in dem Eindringen Brandenburg-Preu­ ßens in die Mittelstellung und Barriere Sachsens, des bergbaulich und gewerb­ lich weit überlegenen Territoriums, von dem die deutsche Reformation ihren Ausgang genommen hatte. In drei Phasen hat sich das in mehr als drei Jahrhunderten sich formende Ergebnis vollendet. Die Leipziger Teilung Sachsens 1485, nach der die wettini­ schen Lande nie wieder zusammengekommen sind, folgte nur zwölf Jahre nach dem Hausgesetz des Kurfürsten Albrecht Achilles, das zwar nicht die Unteilbarkeit Brandenburgs3 festlegte, sie aber doch bewirkte und indirekt die erste Voraussetzung für die ständige Vergrößerung des Landes schuf. Nach dem Schmalkaldischen Krieg von 1547 und dem Übergang der Kurwürde auf die albertinische Linie, der Beschränkung und weiteren Aufsplitterung der ernestinischen Lande Sachsens, die schließlich die beschränktesten Duodez­ fürstentümer hervorbrachte, wurde für diesen Teil Sachsens der Prozeß territo­ rialer Rückentwicklung unaufhaltsam. Unter der wiederholten, aber historisch folgenlos gebliebenen Verbindung des albertinischen Kurfürstentums mit dem Königtum Polen setzte dann die napoleonische Zeit den Schlußstrich. Dennoch behielt sogar Restsachsen noch nach dem Wiener Kongreß, trotz des Verlustes von Dreivierteln des Landes, dank seiner Wirtschaftskraft und Bevölkerungs­ zahl weiterhin Bedeutung. Doch aus der führenden Gruppe der deutschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Staaten war es im Verlaufe der zweieinhalb Menschenalter vor dem Zusam­ menbruch der napoleonischen Herrschaft schon ausgeschieden. Preußens Weg von der deutschen zur europäischen Großmacht war frei, konnte von Öster­ reich mit Hilfe Bayerns und anderer süddeutscher Staaten, wie die National­ geschichte zeigt, nur gehemmt, nicht gehindert werden. II. Stärke und Grenzen des preußischen Staates innerhalb des europäischen Ost-Westgefälles lagen in der entschieden ostwärtigen Fundierung und Stabili­ sierung seiner politischen wie auch der geistigen Entwicklung. Das landesherr­ liche Kirchenregiment behauptete sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Die protestantische Orthodoxie gehörte hier wie kaum in einem anderen deutschen Staat zu den tragenden Säulen des Staatskonservativismus und hat das Ethos des preußischen Beamtentums dauernd gefestigt. Der vorwiegend agrarisch bleibende Osten Preußens vermochte sich auch in den bürokratisch­ administrativen und militärischen Traditionen des überwiegend auf Groß­ grundbesitz und Landwirtschaft beruhenden, durchrationalisierten, mäßig re­ formierten Staats- und Gesellschaftssystems das 19. Jahrhundert hindurch zu behaupten. So wandte sich schließlich als politische Machtorganisation in das neue Deutsche Reich zurück, was einstmals aus den in den Osten gerichteten Vorstößen von der Mitte des Reiches her entstanden war, geriet das neue Reich unter den Primat der Kolonialzone des alten. Denn die Geschichte des deutschen Ostens — besser des Nordostens, denn von den Marken Österreichs soll hier nicht gehandelt werden, — ist mittel­ alterliche Kolonialgeschichte in eben dem Sinne, wie die weiße Besiedlung Nordamerikas zur neuzeitlichen Kolonialgeschichte gehört. Die Ostsiedlung erfaßte das Hinterland der Ostseeküste, im Osten über die Oder hinaus, zwischen den Mündungen der Weichsel und der Memel bis dicht an die Seen­ kette Masurens heran. Seewege, Flußläufe und Handelsstraßen, die sich in den Osten hinein erstreckten und an denen Burgen, Handelsstädte, Markt­ und Stapelplätze, Bischofssitze und Klöster entstanden, legten ein weites Netz aus, das Menschen- und Warenströmen wie der Besiedlung Jahrhunderte hin­ durch Rückhalt bot. Diesseits der Oder behaupteten sich nur wenige slawische Inseln, jenseits des Stromes dichtere Zusammenhänge vor allem auf den kargen Böden hinter dem Mittellauf. Diese Kolonisation, die im späten 10. Jahrhundert über die Elbe nach Osten vorzudringen begann, gegen Ende des 12. Jahrhunderts und an der Wende zum 13. mit der Eroberung und C hristianisierung der baltischen Küste am weitesten nach Nordosten vordrang und sich in mehreren Wellen bis in die Neuzeit hinein fortsetzte, gelangte indessen — anders als die Frontier-Be­ siedlung Nordamerikas — niemals zu eindeutigem Abschluß. Doch sie wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von einer rasch an Größe und Bedeutung gewinnenden Ost-West-Bewegung der Bevölkerung abgelöst. Rückschläge, Be­ völkerungsabwanderungen, Beharren oder gar Ausbreitung und erneutes Vor­ stoßen anderer ethnischer Gruppen durchbrachen wiederholt die deutsche Be­ siedlung und gehörten auch früher schon zu dem bewegten Bild der Bevölke© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rungsveränderungen in dem deutschen und slawischen Osten Mitteleuropas. Der Aufbau politischer Herrschaft vollzog sich noch vor der Ausbreitung des nationalstaatlichen Denkens im 19. Jahrhundert oberhalb dieser Vorgänge. Im Hinblick auf seine Bevölkerung wie auf seine Wirtschaft blieb der deutsche wie der weitere Osten unabgeschlossen; er erscheint, geographisch weniger gegliedert als das anschließende südöstliche und westliche Mitteleuropa, als Teil einer größeren Einheit, die historisch mehr durch transitive als durch distinktive Merkmale charakterisiert ist und innerhalb derer politische Gren­ zen, dem Druck aus wechselnden Richtungen ausgesetzt, weniger als andere Grenzkonturen Deutschlands dauerhaft waren. Die politischen Formen Ost­ mitteleuropas wurden häufiger und anhaltender von fremden Mächten beein­ flußt als von autogenen Kräften. Als die bedeutsame Ausnahme, die schließlich die deutsche und europäische Geschichte beeinflußte, entwickelte Preußen vom 17. Jahrhundert ab seine Kräfte innerhalb dieser Zone in der Zeit und in dem Geiste des späten Abso­ lutismus, der noch keine Nationalitätenprobleme kannte und auf den festen Unterlagen einer agrarischen Wirtschaft und Gesellschaft ruhte, deren Wesens­ züge ebenso wie die Eigenarten bürokratischer Rechtsförmigkeit und die Stärke militärischer Gesinnung in den sozialen und politischen Vorgängen Ostdeutsch­ lands maßgebend blieben und dauernde Spuren in der deutschen Geschichte hinterließen. Angesichts der Geschichte Preußens konnte sich die Ansicht bil­ den, die wie eine Lehre klingt: die Agrarverfassung beruhe „ihrem Grunde nach . . . auf den frühesten Anschauungen, die im Leben des Volkes vom Wesen und der Einrichtung der Landgüter und von den Befugnissen der in denselben schaltenden Wirthe geltend gemacht wurden, denn die Gestalt, welche die ländlichen Wirthschaften bei der ersten festen Besiedlung des Landes erhalten, bleibt entscheidend für den späteren Entwicklungsvorgang des Agrarwesens und wird selbst durch sehr gewaltsame Eingriffe in ihren Spuren kaum irgend­ wo gänzlich verwischt“ 4. III. Im Unterschied zu den weitaus differenzierteren Besitzverhältnissen im westlichen Deutschland dominierte in den ostelbischen Gebieten eine starke ritterschaftliche Schicht von Grundeigentümern, die häufig über einen großen, räumlich geschlossenen Gutsbesitz verfügten, dessen teilweise von der Forschung erschlossenen, teilweise aber auch noch kontroversen Entstehungsursachen an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen sind. Auf dem Boden dieser verschieden­ artigen agrarischen Wirtschafts- und Sozialordnungen in West- und Ostdeutsch­ land, die bekanntlich — mit Hilfe idealtypischer Begriffe — in dem Über­ wiegen der „Grundherrschaft“ im westlichen und der „Gutsherrschaft“ im Östlichen Deutschland5 dargestellt wurden, entstand im Gefolge der Industria­ lisierung ein immer schärfer und folgenreicher hervortretender Gegensatz im sozialen, im wirtschaftlichen und im politischen Leben westlich und östlich der Elbe. „Je weiter nach Osten zu, desto strenger gestaltete sich das guts­ herrlich-bäuerliche Abhängigkeitsverhältnis“ , schrieb Otto Hintze6. Der Er­ kenntniswert dieses Satzes gilt auch, wenngleich in einem übertragenen Sinne, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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für die Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung. Dies drückte sich in der Richtung, den die Fortbildung der Rechts- und Verfassungsverhältnisse nahm, nur allzu deutlich aus. Der erste Versuch, die durch den König miteinander verbundenen Gebiete im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 17947 durch eine grandiose Rechtsvereinheitlichung von oben her in einen modernen, büro­ kratisch-normativen Staat einzuschmelzen, vollendete die Transformation der Stände in eine minutiös geregelte, dualistische staatlich-gesellschaftliche Gesamt­ organisation. Auch der Hochabsolutismus hatte das Ständewesen nicht überall gänzlich beseitigt, einige landschaftliche Spielarten geduldet, wenn es im ganzen auch an Bedeutung erheblich verloren hatte. Nun aber wurde der Adel zum ersten Staatsstande, der bei der Besetzung von Beamten- und Offi­ zierssteilen eindeutige Bevorzugung genoß. Die ritterlichen Gutsherren behielten eine Reihe von Privilegien und Patrimonalrechten, darunter die gutsherrliche Gerichtsbarkeit und Polizei, die nun als Staatsaufgaben auf der untersten Ebene fortgeführt wurden. Damit wurde das Staats-, Rechts- und Sozial­ system des in ständiger Erweiterung sich formierenden preußischen Staates in seinem historischen Zustand, in dem die adelige Rittergutsbesitzerschicht Träger der Verwaltung und der Militärverfassung war, kodifiziert und für längere Zeit fixiert. Die großen territorialen Erweiterungen der Monarchie während des ausge­ henden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, die weite Gebiete des Weichsel­ landes und Litauens mit fast ausschließlich nichtdeutscher Bevölkerung, kurze Zeit später im Westen einige ehemalige geistliche Fürstentümer, vorübergehend auch Hannover neu einbezogen, überschritten jedoch die Tragfähigkeit dieses Systems. Die Konsequenzen, die Patrioten und Reformer innerhalb des hohen preußischen Beamtentums hieraus zogen, als sie nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch und nach den Gebietsverlusten von 1807 Ober­ wasser bekamen, erscheinen einschneidend und gewaltig, so daß ihnen die preußisch-deutsche Historiographie gewiß nicht zu Unrecht einen hohen Rang in der nationalen Ehrenhalle zuerkannt hat. Die Wirkungsgeschichte der un­ streitig bedeutsamen Staatserneuerung ist indessen von der der psychologischen und ideologischen Veränderungen wie der weit reichenden nationalen Publizi­ stik und Rhetorik der Jahre 1808—13 kaum je ganz eindeutig geschieden, das „Zeitalter der deutschen Erhebung“ vielmehr als ein bewunderter kartharti­ scher Prozeß der Volkserneuerung von geheimnisumwitterter Urkraft, aber mit eindeutigen Ergebnissen dargestellt worden, so daß positive Beschreibung und Summierung als geeignete Voraussetzung angemessener Würdigungen er­ scheinen. Ohne Zweifel war das gedankliche Prinzip, die Einheit des preußischen Staates auf die Heranziehung aller lebensfähigen Schichten der Bevölkerung zu gründen und die politische Organisation innerhalb der sozialen Ordnung tiefer anzusetzen, als es bis dahin in dem oberflächlichen Netzwerk der Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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waltung geschehen war, von bahnbrechender Eindeutigkeit. Umstürzende Neue­ rungen erwuchsen jedoch nur in wenigen Hinsichten. Was den Städten an Selbstverwaltung gegeben wurde, kam auf dem platten Land, auf dem immer noch der größte Teil der Bevölkerung lebte, ausschließ­ lich dem Rittergutsbesitz zugute. Die grundbesitzenden Schichten wurden die ersten Nutznießer der praktischen Durchführung der Grundlastenablösung wie der Reorganisation der Kreis- und Provinzialstände. Sogar in den Regionen stärkerer gewerblicher Entwicklung erhielten sie in den ständischen Körper­ schaften das Übergewicht. In Schlesien stellten die Fürsten, Standesherren und Rittergutsbesitzer die Mehrheit, in der Provinz Sachsen fast die Hälfte, in den Ostprovinzen Brandenburg, Preußen (Ost- und Westpreußen), Pommern und Posen allein die Rittergutsbesitzer annähernd die Hälfte der Mitglieder des Provinziallandtags8. In den Kreistagen, die durch die Kreisordnungen der Jahre 1825—1830 eingeführt wurden, bildeten die Virilstimmen des abge­ stuft privilegierten Grundbesitzes (Standesherren, „alter und befestigter Grund­ besitz“ , Rittergutsbesitz, „Gutsbesitz bedingter Rittergutsqualität“ und kreis­ tagsfähige Rittergüter) eine geradezu erdrückende Mehrheit gegenüber den Landgemeinden, die jeweils drei oder auch mehr, und gar in den Städten, die nur zwei Abgeordnete entsandten und mit nirgends mehr als einem Zehntel des Kreistags politisch eine quantité négligeable blieben. Städte, die nicht aus der Kreisabhängigkeit heraustraten, standen im gesamten Osten der Mon­ archie unter dem dominierenden Einfluß des flachen Landes und das hieß unter dem des großen Grundbesitzes. Die Kleinstadt blieb Landstadt in jedem denk­ baren Sinne dieses Ausdrucks; lediglich in Westfalen und im Rheinland lagen die Verhältnisse etwas anders. „Städtebefreiung“ und „kommunale Selbstver­ waltung“ hatten keinen politischen Zusammenhang zum Kreis und zum flachen Lande hergestellt. Die neuständischen Reformen der frühen Restaurationsperiode haben den preußischen Rechtsstaat in einer für die Ostprovinzen fühlbaren und folgen­ reichen Weise umgebildet, den privilegierten Grundbesitz nun auch dem neu­ geformten Beamtenstaat gegenüber verselbständigt und ihm jene mächtige Position verschafft, in der er nicht nur wirtschaftlich gesicherter, bevorzugter Diener des Staates sein, sondern zum Interessenten und Machthaber im Staat auch ohne angenommene Verpflichtungen werden konnte. Die dauerhafte und folgenreiche Fixierung der Daseinsverhältnisse im ländlichen ostelbischen Preu­ ßen war weniger eine Hinterlassenschaft der fridericianischen Ära, sondern weit mehr der Ausfluß der letzten, pseudoromantischen Phase der Reformen, die auch echte historische Errungenschaften verdeckte oder gar in das Gegenteil verkehrte. Auf der untersten, der lokalen Ebene entstand nun eine förmliche Dreitei­ lung der Monarchie. In Westfalen und in der Rheinprovinz behaupteten sich Elemente des französischen Gemeinderechts, während innerhalb der größeren Landmasse der östlichen Provinzen in den Städten die Steinsche Städteordnung galt, auf dem flachen Lande aber die Landgemeindeordnung nach dem Allge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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meinen Landrecht von 1794 in Kraft blieb, die auch die gutsherrliche Gerichts­ barkeit und Polizei beibehielt. Dies galt allerdings nicht vom Großherzogtum Posen, wo sie bald auf staatliche Organe überging, so daß dem hier fast rein polnischen Landadel eine politisch-soziale Stellung von der Art, wie sie die Rittergutsbesitzerklasse sonst in den östlichen Provinzen besaß, versagt blieb. Der gleichen Konsequenz folgte übrigens auch die „Bauernbefreiung“ , die in Posen später begonnen, aber beschleunigt in Gang gebracht wurde und zu bauernfreundlicheren Ergebnissen führte als in den altländischen Provinzen. Die ständischen Grundlagen der Provinzialverfassung wurden in Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien und der Provinz Sachsen erst ein halbes Jahrhundert später, in den 70er Jahren, verlassen. Die liberale Ära nach der Reichsgründung beendete die Abhängigkeit der Landgemeinden von den Rittergütern und schloß den Prozeß der verwaltungsmäßigen Trennung des Ritterguts von der Bauerngemeinde ab. Aus den Bauerngemeinden wurden Kommunalverbände, aus den vielschichtigen historischen Rechtsbeziehungen der Gutsherrschaft nunmehr die „selbständigen Gutsbezirke“ . Hierin erfuhr, nach Ausscheidung einiger patrimonaler Bestandteile gutsherrlicher Rechte, das Gutsverhältnis eine erneute Umformung und stabilisierend wirkende Kodifi­ zierung. Selbst bei der Veräußerung von Teilen oder gar der völligen Zer­ stückelung des Rittergutes blieb es am Gutsherrn haften. Der Staat konnte zudem durch Verleihungsakte, durch Erhebung größeren Grundbesitzes zum Rittergut, auch neue „Gutsbezirke“ schaffen, so daß sich die Zahl der „Guts­ bezirke“ , über den Bestand an „altem befestigten Rittergutsbesitz“ hinaus, allmählich vergrößerte und der Kreis der Rittergutsbesitzer durch Neuposse­ dierte erweiterte, die meist nicht mehr dem Adel angehörten9, während sich der Großgrundbesitz auch unabhängig vom Rittergutsbesitz entwickelte10. Neben der Interessenformierung des konservativen Grundbesitzes in Ost­ deutschland, die mit dem „Junkerparlament“ v. Bülow-C ummerows 1848 in Gang gekommen war, behauptete sich weiterhin die quasiständische Privilegie­ rung der Rittergutsbesitzer, schließlich dank der private und öffentliche Funk­ tionen erneut zusammenfassenden Rechtsstellung des „selbständigen Gutsbe­ zirkes“ 11. Die übergreifende Formierung der agrarischen Interessen, die sich in der wilhelminischen Ära vollendete, und die hiermit einhergehende Inter­ essenbindung der Preußischen Konservativen Partei stellen mehrere Seiten des gleichen Vorgangs dar: der weiteren Festigung vorindustrieller Strukturen der agrarischen Ostprovinzen unter Zuhilfenahme neuer Rechtsfiguren und Organi­ sationsformen. Die jeweils zeitgemäße Rationalisierungsform veränderte nichts Wesentliches an der Konfiguration der Sozialordnung. Der letzte Versuch einer Vereinheitlichung und Vereinfachung, den die Herrfurthsche Landgemeinde­ ordnung von 1891 unternahm, blieb in seinen Auswirkungen begrenzt und verminderte die mehr als 15 000 Gutsbezirke der sieben Östlichen Provinzen innerhalb zweier Jahrzehnte nur um 1100 — meist sehr kleine. Im gleichen Zeitraum kamen noch einmal über 300 neue — meist sehr große — hinzu12. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bis 1918 waren die dem ostdeutschen Grundbesitz eng verbundenen konser­ vativen Parteien mächtig genug, um jede Änderung dieser Verhältnisse zu verhindern und die ökonomische, soziale und politische Stellung des Groß­ grundbesitzes hinter mehrfach befestigten verfassungsrechtlichen Bastionen zu behaupten. Die wichtigste lag im preußischen Abgeordnetenhaus und dem Dreiklassenwahlrecht mit seinen eklatanten Ungerechtigkeiten, grundsätzlich in Verbindung mit mehr oder minder offenener Stimmabgabe, die in einigen Gegen­ den Ostdeutschlands lediglich von 1918 bis 1932 wirklich abgeschafft war, und mit der Agitationstätigkeit, die seit den 90er Jahren der Bund der Land­ wirte auf dem flachen Lande entfaltete. In der ersten Kammer verfügte der Großgrundbesitz auf Grund der Be­ stimmungen der Verfassung ohnehin über den beherrschenden Einfluß; hier gaben die Spitzen des grundbesitzenden Adels den Ton an. Das seit 1855 so genannte „Herrenhaus“ führte seinen Namen ebenso zu Recht wie sein engli­ sches Vorbild des House of Lords13. Neben sämtlichen großjährigen Prinzen des königlichen Hauses, die der König berufen konnte, indessen nie berufen hat, dem Haupt des Hohenzollernschen Fürstenhauses und weiteren 88 erblich berechtigten Adeligen gehörten ihm 186714 225 auf Lebenszeit berufene Mit­ glieder an, die, von den Inhabern der vier großen Hofämter abgesehen, von 165 hierzu nominierten Körperschaften präsentiert wurden, einigen hoch­ adeligen Familienverbänden mit herausragendem Großgrundbesitz, Grafen­ verbänden der Provinzen und Verbänden des „alten befestigten Grundbesitzes“ ; außer den drei Vertretern der evangelischen Domstifte Brandenburg, Merse­ burg und Naumburg, den Vertretern der neun Landesuniversitäten und von 40 — seit 1905: 49 — Städten, denen ein Repräsentationsrecht „eingeräumt“ war, kamen alle Berufenen aus dem grundbesitzenden Adel und Hochadel, überwiegend aus den altländischen Ostprovinzen. Kein einziger der hochade­ ligen Familienverbände, nur 9 der insgesamt 90 repräsentierenden Landschafts­ verbände des „alten und befestigten Grundbesitzes“ — dem nur Rittergüter angehörten, die sich mindestens fünfzig Jahre in der gleichen Familie befan­ den — aber auch nur 17 (1905: 24) der repräsentierenden Städte gehörten den Provinzen Hannover, Hessen, Schleswig-Holstein, Westfalen sowie der Rheinprovinz an, die insgesamt über eine weitaus größere Volkszahl verfügten und weitaus dichter besiedelt waren als der ganze preußische Osten, jedoch kaum mehr als eine bescheidene Minderheit der ganzen Kammer stellten. Das Herrenhaus galt im zeitgenössischen Schrifttum kurzhin als „Landesver­ tretung“ 15 des bevorrechteten Grundbesitzes; es machte auch den Staat zum Herrenhaus des alteingesessenen Grundbesitzes der preußischen Ostprovinzen. Da die bis 1918 geltende preußische Verfassung, getreu den Grundsätzen des frühkonstitutionellen Staatsdenkens, die gesetzgebende Gewalt der triarchi­ schen Gemeinschaft des Königs und beider Kammern zuwies, hätte sogar eine tiefer greifende Änderung des nach der Jahrhundertwende so heftig umstritte­ nen Dreiklassenwahlrechts in Preußen im Grunde nichts Wesentliches bessern können. Letztlich wäre doch nur als Ergebnis einer Demokratisierung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Abgeordnetenhauses die Macht des Königs erhöht worden, da sein Einfluß auf die Zusammensetzung des Herrenhauses durch Ausübung — oder Ruhen­ lassen — des Ernennungsrechts die einzige Möglichkeit bot, in die Herrschaft der agrarischen Oligarchie einzubrechen. Dies mochte den Vorstellungen eines Volkskönigtums entsprechen, die etwa mit den von Friedrich Naumann propa­ gierten Ideen von „Demokratie und Kaisertum“ einhergingen. An Spannungen zwischen Wilhelm II. und den Agrariern Ostelbiens fehlte es auch nicht; sie rissen bis zum Weltkrieg nicht ab, ja verschärften sich ständig. Die Per­ sönlichkeit des Kaisers erschien indessen doch vielen zu wenig geeignet, um sie gegen die östliche Fronde zu verteidigen, so daß schließlich eine stetig an Breite gewinnende Front gegen sein Regime die Wahlrechtsfrage vor sich hertrieb und schließlich bis ans Ende der Monarchie und ihrer Verfassung ver­ schob16. Diese Verknüpfung von sozioökonomischem Übergewicht und politischer Herrschaft läßt es berechtigt erscheinen, von einer herrschenden Klasse im präzisen Sinne dieses Wortes zu sprechen. Das Rechtsinstitut der Fideikommiß begünstigte die Erhaltung großer Familienbesitzungen, die man mit guten Gründen als Latifundien bezeichnet hat. Aber auch unterhalb dieser Größen­ ordnung, in der der kaum jemals veräußerte Besitz bei weitem vorherrschte, behauptete sich ein für die ostelbischen Verhältnisse charakteristischer Groß­ grundbesitz, dessen Spitzen die altadeligen Familien — neben einigen neu­ nobilierten — darstellten, als herrschendes Element. Die Konzentration des Grundbesitzes hielt in den östlichen Provinzen jedoch über die Dauer des Bestandes von Fideikomissen an. Die landwirtschaftliche Betriebszählung im Jahre 1907 ergab, daß 41 % der agrarischen Wirtschaftsfläche der sechs Provin­ zen Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen und Schlesien auf den Großgrundbesitz mit jeweils mehr als 100 ha Wirtschaftsfläche entfie­ len, 1 7 % auf Güter von mehr als 500 ha17. 1923, nach der Abschaffung der Fideikomisse, nach dem Verlust von fast ganz Posen und des größten Teils Westpreußens, befanden sich in den verbliebenen bzw. neuen sechs preußischen Ostprovinzen Pommern, Ostpreußen, Brandenburg, Grenzmark, Niederschle­ sien und Oberschlesien über die Hälfte der gesamten land- und forstwirt­ schaftlich genutzten Fläche in den Händen des Großgrundbesitzes; wieder genau die Hälfte hiervon gehörte 1155 Grundeigentümern, von denen jeder weit mehr als 1000 ha genutzten Bodens, im Durchschnitt rund 2600 ha besaß18. Berücksichtigt man gewisse sozioökonomische homogene Züge des ostdeut­ schen Großgrundbesitzes, die auch durch das Hinzutreten bürgerlicher Eigen­ tümer im Grunde unberührt blieben, sowie Konzentration, Eigentümlichkeiten und politische Stärke des agrarischen Organisationswesens und seiner Inter­ essengruppen, so erscheint es gerechtfertigt, von einem Oligopol der Boden­ verteilung in Ostdeutschland zu sprechen, das hinter einem Organisations­ monopol agrarischer Interessen stand und auch noch nach 1918 den politischen Einfluß einer Oligarchie in den Ostprovinzen Preußens sicherte, als die alte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Verfassung, Monarchie, Herrenhaus und Dreiklassenwahlrecht schon der Ver­ gangenheit angehörten, obgleich im Zeitalter der Industrialisierung und der Demokratie — wie es Max Weber ebenso dramatisch wie präzis schon in seiner berühmten Freiburger Antrittsrede von 1895 ausgedrückt hatte — unaufhaltsam „der Schwerpunkt der politischen Intelligenz in die Städte rück­ te“ und die in den Gutshöfen des Ostens „über das Land dislozierte herrschende Klasse“ eine „sinkende“ Klasse war, die noch in ihrem Todeskampf die Macht in den Händen hielt19. Diese Worte deuten die irreversible Wende an, die über das Schicksal des agrarischen Ostens und insofern, als er die dauernd festgehaltene Grundlage des preußischen Konservativismus bildete, auch über den preußischen Staat in der deutschen Politik entschied. Während die sozialen Wandlungen die anderen Zonen Deutschlands schon voll erfaßten, beharrten die östlichen Ge­ biete in den einmal entwickelten Formen, aus denen sie sich niemals mit Energie und Konsequenz lösten. Dies mußte mit erheblichen Opfern erkauft werden. Das vom Rhythmus des ländlichen Daseins in einer unveränderten und daher stark prägenden Landschaft mit verhältnismäßig dünner Bevölkerung beherrschte, von der Moderne kaum verwandelte Leben hat seine festen Charaktere geformt. Ihnen haben die ziselierenden Menschen- und Landschafts­ schilderungen in den Romanen und Wanderungsbeschreibungen Theodor Fon­ tanes ein bleibendes Denkmal gesetzt. Doch was manchen Individualisten zugute kam, das vertrug sich doch nicht mit der politischen Ordnung der größer gewordenen Sozietät. Auch Fontane erkannte den beginnenden Kon­ flikt zwischen diesem wandlungsfernen System im preußischen Osten mitsamt den „von engsten Philisteranschauungen beherrschten kleinen Städte der Bin­ nenprovinz“ 20 und dem in rascher Entwicklung begriffenen mittleren und westlichen Deutschland. IV. Von einschneidender Bedeutung in der deutschen Sozialgeschichte nach der Reichsgründung wurde die wachsende Verschuldung des Grundbesitzes und der gewaltige Bevölkerungsabfluß nach dem Westen — die deutsche „Binnenwanderung“ oder die „Landflucht“ , wie man später sagte, an der die Ostprovinzen den weitaus größten Anteil hatten. Die Immobiliarkreditverschuldung, die die landwirtschaftliche Verschuldung in die Höhe trieb, war eine Folge der häufigen Güterverkäufe, die nach dem Oktoberedikt von 1807 noch zahlreicher wurden. Aus der Finanzierung des wiederholten Besitzwechsels erwuchsen steigende Belastungen des Bodens; denn in zunehmendem Umfang blieben Restkaufgelder stehen, die die unproduktive Schuldenlast erhöhten. Hinzu kam ein allgemeiner Anstieg der Bodenverkaufs­ werte21. Ein starker Anreiz zum Bodenkauf ging zunächst von dem Wachs­ tum der Bodenerträge dank technischer Verbesserungen aus. Der technische Fortschritt verlangte allerdings neben der Kapitalanlage im Grunderwerb auch ständige Subventionen, die der Grundbesitzer auf die Dauer keineswegs aus eigenen Mitteln bereitstellen konnte und vorwiegend durch hypothekarische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Belastungen mit Hilfe der Pfandbriefanstalten beschaffte. So entstand ein Güterhandel großen Umfangs, der im Gefolge der agrarischen Krisen des 19. Jahrhunderts zu einer tief einschneidenden Besitzverschiebung führte. Der adelige Rittergutsbesitzer verlor seine Monopolstellung; der bürgerliche Grund­ besitzer trat an seine Stelle und rückte in die gleichen Rechte ein. Bereits 1856 befanden sich von den mehr als 12 000 Rittergütern und kreistagsfähigen Gütern im gesamten preußischen Staat noch etwa 57 % in den Händen adeliger Besitzer; der Anteil der alten Eigentümer lag weit darunter 22 . Die Binnen­ verhältnisse der herrschenden Schicht des Ostens unterlagen fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch einer allmählich voranschreitenden Veränderung. Doch die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der gesamten Zone blieben weitgehend unberührt, nachdem der Prozeß der Grundlastenablösung und der Aufhebung der bäuerlichen Abhängigkeit abgeschlossen war. Auch der adelige Latifundienbesitz blieb und vergrößerte sich. Solange die Landwirtschaft große Reinerträge erzielte und solange, bei wachsender Vermögensbildung, das Verlangen nach Landerwerb für eine stän­ dige Nachfrage nach Grundbesitz auch bei steigenden Bodenpreisen sorgte, erregte der wachsende Anteil des unproduktiven Besitzwechselkredits an den Immobiliarkrediten kaum Bedenken 23 . Die „führende und zensierende Rolle der Staatsverwaltung“ 24 sorgte lange Zeit für die Beibehaltung der Organisa­ tion des Agrarkredits in den Ostprovinzen und für die Eindämmung der Tätigkeit privater Banken auf Aktienbasis. Aber bei sinkenden Erträgen und zurückgehenden Bodenverkaufswerten trat unweigerlich eine Überbelastung ein, die schließlich auch die Verzinsung der kreditierten Kapitalien gefährdete. Der Antagonismus der Verhältnisse trat gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zutage, als jeder neue Einbruch in die Agrarpreisgestaltung die Schere fühlbarer werden ließ, die zwischen fallenden Bodenerträgen und unaufhaltsam wachsenden Bodenbelastungen bestand. Die Krisenzeichen im Osten kontra­ stierten immer stärker mit der industriellen Entwicklung Westdeutschlands, dessen rascher Aufstieg kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Aber auch die industrielle Entwicklung wurde durch einen historischen Tribut an Menschenströmen erkauft, die der Osten abgab. Zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts wohnten noch neun Zehntel der deutschen Bevölkerung auf dem Lande oder in kleinen Orten mit weniger als 5000 Einwohnern und von dem letzten Zehntel fast der dritte Teil in Städten, deren Einwohnerzahl zwischen 5000 und 10 000 lag 25 . Dieses Verhältnis verschob sich fast zwei Jahrzehnte hindurch noch geringfügig zugunsten der Landbevölkerung. Der Bevölkerungs­ überschuß des flachen Landes kam nach der Bauernbefreiung zuerst der Aus­ wanderung zugute, ehe ihn die Industrialisierung im eigenen Lande auffing. Doch das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab Ostdeutschland Menschen ab, entließ es sie in andere Sozialordnungen und nahm es dafür nur wenige, die wie schon gesagt, die sich selbst allmählich verändernde Herrenschicht, indem aus dem weiten Osten kamen, auf. Im einstigen Kolonialland behauptete sich, 7 Sozialgeschichte Heute

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sie, wie andere Staaten ihren Bevölkerungszuwachs in koloniale Zonen ent­ sandten, ihn nach Übersee und später in Städte und Industriereviere Mittelund Westdeutschlands entließ. Die Urbanisierung folgte der Entwicklung der Industrie, dem Ausbau und der technischen Entwicklung des Verkehrs und der Ausdehnung der Kapazi­ täten des Handels, die etwa von der Jahrhundertmitte an ein rascheres Tempo annahmen. Schon 1871 entfielen auf die Städte mehr als 36 %, auf das platte Land immer noch annähernd 64 % der Bevölkerung Deutschlands, nur 4,8 % auf die acht Großstädte, die es damals gab. 1895 war ein Gleichstand, sogar ein geringeres Übergewicht der städtischen Bevölkerung erreicht. 1910 wohnten dann bereits 21,8 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands in den Großstädten. In Ostdeutschland aber bewegte sich das Wachstum der Städte in immer großer werdendem Abstand zur Urbanisierung im Westen. Noch 1871 lagen zwei Großstädte östlich, vier westlich der Linie Dresden-Berlin, aber 1910 nur fünf im Osten, doch 41 im Westen26. In den Groß- und Mittelstädten Deutschlands verfügten insgesamt die mittleren Altersklassen über einen unverhältnismäßig großen Anteil an der Wohnbevölkerung, was als ein deutliches Zeichen für die permanente Anziehungskraft gelten darf, die die größeren Kommunen auf Menschen im arbeitsfähigen Alter ausübten. Sie sogen große Teile des Bevölkerungszuwachses der Kleinstädte und des flachen Landes auf. Sie nah­ men und das Land gab Jahr für Jahr Hunderttausende von Menschen, die aus der angestammten Heimat abwanderten27. V. Die Sozialstruktur der preußischen Ostprovinzen behielt im Verfassungs­ system des Bismarckreiches gravierenden Einfluß. Die Verbindung Altpreußens und seiner agrarischen Herrenschicht mit der preußischen Verwaltung, der weitaus stärksten im Reich und dem bevorzugten Reservoir der erst nach und nach sich erweiternden Reichsverwaltung, gedieh auf der wichtigen untersten Stufe der allgemeinen Staatsverwaltung, im Landratsamt, bis zur innigen Ver­ schmelzung. Das änderte sich bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein nur langsam28. Nicht weniger eng blieb die Verknüpfung der Familien des adeligen Grundbesitzes mit den Spitzen des Beamtentums und des aktiven Offizierskorps des preußischen Heeres, das nach 1848 nur zögernd Nachwuchs aus dem Bürgertum heranzog. Blickt man auf die in der Präsidialstellung Preußens im Bundesrat wie in den Personalunionen zwischen den Ämtern des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten, von Staatssekre­ tären der Reichsämter und preußischen Staatsministern verankerte und durch Preußens Stimmenanteil im Bundesrat gesicherte Beziehung zwischen Preußen und Reich, die „hegemoniale großpreußische Struktur des Reiches“ , die noch am Vorabend des Zusammenbruchs niemand prägnanter als Max Weber kon­ statierte29, so wird die ganze Tragweite der agrarischen Wirtschaftsstruktur des Ostens, des ökonomischen Übergewichts seines Großgrundbesitzes wie des politischen Vorrangs des Adels in der Entwicklungsgeschichte des Bismarckrei­ ches sichtbar. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Das Regiment des starken Reichskanzlers, ja des Kaisertums überhaupt, das sich auf die preußische Hegemonie stützte, wußte das gleiche Wahlrecht innerhalb des Reiches zunächst kräftig zu nutzen; doch dies führte keineswegs zur Fortbildung des parlamentarischen Systems, das sich in seiner rudimentären Gestalt einzig durch Wahlrecht und Mandatsverteilung von frühkonstitutionel­ len Verfassungstypen der vorindustriellen Periode unterschied. Die verhängnis­ volle Aufspaltung demokratischer Elemente in quasiplebiszitäre Akte einerseits und eine fragmentarische parlamentarische Praxis, die im Stadium des Anfangs stagnierte und wiederholt zurückgebildet wurde, blieb Wesenszug des Bismarck­ schen Reichsaufbaus. Die Reichsverfassung von 1871 konnte wohl in mancher Hinsicht als Kunst­ werk erscheinen, wenn man nur an den erfolgreichen Pragmatismus denkt, mit dem Bismarck den ominösen Zustand der vielen Fürstenstaaten mit dem kleindeutschen Nationalismus aussöhnte, den demokratischen Gedanken frisier­ te und zugleich die preußische Hegemonie sicherte. So gesehen, war die Reichs­ verfassung, in engster Anlehnung an die des Norddeutschen Bundes geschaffen, ein erfolgreicher Wurf. Doch danach gab es keine staatsrechtliche Fortentwick­ lung mehr, obgleich in politischer wie in sozioökonomischer Hinsicht sich im westlichen und mittleren Deutschland verhältnismäßig rasch sehr viel verän­ derte. Die großen Konflikte, die an einer unverrückbaren Front ausgetragen werden mußten, sind bekannt. Die Einführung des modernen Systems der leicht progressiven Einkommen­ steuer durch den einstmals dem Bund der Kommunisten, dann den National­ liberalen angehörenden, später den Konservativen zuneigenden Finanzminister Johannes Miquel wurde erst durch den Verzicht auf die Einziehung der Grundsteuer in den Gutsbezirken ermöglicht, was im Ergebnis die Steuerlast des Rittergutsbesitzes auf Kosten des beweglichen Vermögens erheblich ver­ minderte. Das noch zu Bismarcks Zeiten entwickelte Projekt eines West- und Ostdeutschland verbindenden Mittellandkanals wurde trotz entschiedener Stüt­ zung durch Wilhelm II. von den Agrariern mehrmals zu Fall gebracht, ehe es 1904 gegen erhebliche Zugeständnisse der Regierung bei der Neugestaltung der Zolltarife zu einem Teil durchgesetzt werden konnte. Den vollen Ausbau des vorgesehenen Kanals hat das Kaiserreich weder erlebt noch erreicht. Wenn der agrarische Osten keinen dauernden Sieg mehr zu erringen vermochte, so läßt dies weniger auf eine unzulänglich behauptete Position schließen als vielmehr auf die Rücksichtslosigkeit, mit der die verfolgten handfesten Ziele in die Höhe geschraubt wurden. Eine folgenreiche Transformation im Lager der mächtig sich entwickelnden Interessengruppen wurde mit der von Industriellen und Agrariern gemein­ schaftlich betriebenen Gründung des schutzzöllnerischen C entralverbandes deut­ scher Industrieller 1876 eingeleitet und mit der Gründung des Bundes der Landwirte 1893 vollendet. Die Pläne des Anregers des C entralverbandes, des schlesischen Rittergutsbesitzers, freikonservativen preußischen Abgeordneten und reichsparteilichen Reichstagsabgeordneten Wilhelm v. Kardorff, reichten 7*

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noch viel weiter, als jemals verwirklicht werden konnte. Kardorff widersprach jedem Handelsvertragsabschluß und bestand auf Einführung einer Doppel­ währung, welcher er eine spezifisch agrarische Interessenmotivation zugrunde­ legte. Er ging von der Annahme aus, daß durch Stützung des Silber- wie des Goldwertes sowohl die Konkurrenz des überseeischen Getreides als auch der Druck der Hypothekenbelastung des Bodens zurückgedrängt werden könnte30. Die Rührigkeit Kardorffs und einiger mit ihm verbundener Industrieller be­ wirkte die Bildung einer konservativ-katholisch-nationalliberalen Mehrheit im Reichstag, die sich quer zu den bestehenden Parteilinien formierte, schließlich die Wende der deutschen Zollpolitik 1878 herbeiführte und damit der großen Zeit der Nationalliberalen Partei, aber auch der Bismarckschen Erfolge ein Ende setzte. Mehr und mehr ging die Kontrolle der Wirtschafts- wie der Sozialpolitik an die großen interfraktionellen Interessengemeinschaften über, die das Bündnis von Großagrariern mit Großindustriellen verkörperten, so daß man nicht zu Unrecht das Bismarckreich das klassische Land der „Spitzen­ verbände“ genannt hat, deren Wiege das Organisationswesen der ostelbischen Agrarier bildete31. Neben dem isolierten plebiszitären demokratischen Element bei stagnieren­ dem, unentwickeltem Parlamentssystem bildete sich in dem der Öffentlichkeit entzogenen, die größeren Parteien in Querverbindungen durchziehenden, auf Regierung und Verwaltung unmittelbar einwirkenden Spitzenverbandswesen ein weiteres Strukturmerkmal des Deutschen Reiches aus. Dieser Prozeß ver­ lief unabhängig von der parlamentarischen Repräsentation und kam einer Fortentwicklung des Regierungssystems keineswegs zugute. Doch von allen anderen Folgen abgesehen, unterstützte er die „Assimilationskraft der herr­ schenden gutsherrschaftlichen Grundbesitzer“ 32 auch in der Ära nach der Reichsgründung, unter den veränderten Bedingungen einer rasch vorankommen­ den Industrialisierung. Der offene „Konflikt zwischen Kapitalismus und Tra­ dition“ wurde verzögert und kam erst mit den Wirkungen des erneuten handelspolitischen Umschwungs in der Ära C aprivi gegen Ende des Jahrhun­ derts und im Übergang zum Imperialismus allmählich zum politischen Austrag. Nach dem kurzen, etwa ein Jahrzehnt währenden und dann unglücklich enden­ den Höhenflug liberaler Reformen der deutschen Wirtschafts- und Gesell­ schaftsverfassung führte er in eine Politik der Sicherung starker Gruppen­ interessen durch den Staat mit bürokratischen Mitteln, die schließlich so etwas wie Gewohnheit und Tradition wurde und die die bald ebenso Tradition werdende westeuropäisch-amerikanische Systemkritik an der Wirtschaftsver­ fassung des Deutschen Reiches von Veblen bis Parsons und darüber hinaus pro­ voziert hat. Aufs Ganze betrachtet, war die preußisch-deutsche Periode der deutschen Geschichte doch nur der Anfang eines langwierigen und von starken Verteidi­ gungspositionen geführten zähen Rückzugskampfes gegen eine auf die Dauer schwerlich noch aufzuhaltende moderne wirtschaftliche Entwicklung, vor der die Verfassung die politisch führende Schicht Ostelbiens abzuschirmen ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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suchte. Mit der Verfassung des Kaiserreiches zerbrach der letzte wirkungsvolle Damm gegen diese Entwicklung, löste sich auch die Konstruktion auf, die durch das Medium des fortgesetzt erweiterten preußischen Staates die Hegemo­ nie der Ostprovinzen in einem sich allmählich demokratisierenden Reichsganzen gewährleistete. So wie der Westen nicht mehr vom Osten her, konnte aber freilich auch der Osten nicht mehr vom Westen her beherrscht werden; er vermochte nur, die Zone des verkehrsmäßigen und wirtschaftlichen Anschlusses an die Industriereviere zwischen Elbe, Havel und Oder weiter nach Osten auszudehnen. In dieser Szenerie nimmt sich die Persönlichkeit und politische Kraft Bismarcks während seiner späteren Jahre keineswegs gigantisch aus.

Anmerkungen 1 Hier sei auf die ersten Kapitel in dem Werk des polnischen Historikers O. Halecki verwiesen, Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas, Salzburg (1957). 2 F. G. v. Martens, Recueil des traités et conventions conclus par la Russie avec les puissances étrangères, Bd. XIII, St. Petersburg 1902, 301. 3 Zur Beurteilung der Dispositio Achillea: O. Hintze, Die Hohenzollern u. ihr Werk, Berlin 1915, 101 ff.; unverändert J . Schultze, Die Mark Brandenburg, III: Die Mark unter der Herrschaft der Hohenzollern (1415—1535), Berlin 1963, 112 f. 4 A. Meitzen, Der Boden u. die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preussischen Staates nach dem Gebietsumfange vor 1866, I, Berlin 1868, 343. s Aus der jüngeren deutschen Literatur, die ihre Fortschritte überwiegend der landeskundlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsforschung dankt, seien hier genannt: H. zur Mühlen, Kolonisation u. Gutsherrschaft in Ostdeutschland, in: Fs. H. Aubin (Hamburg 1950), 83—95; W. Abel, Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters, Stuttgart 21955; H. u. G. Mortenscn, Über die Entstehung des ostdeutschen Grund­ besitzes, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philol.-hist. Klasse, Jhg. 1955, Nr. 2; W. Kuhn, Die Entstehung der Gutsherrschaft, in: Die Ostgebiete des Deutschen Reidies, Hrsg. G. Rhode, Würzburg 1955, 19—49; ders., Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit, 2 Bde, Köln 1955; F. Lütge, Die deutsche Grundherrschaft, Zeitschrift für Agrargeschichte 3. 1955, 129—197; ders. zuletzt: Grundherrschaft und Gutsherrschaft, in: Handwörterbuch d, Sozialwissen­ schaften, IV, Stuttgart 1965, 682—88. 6 Hintze, 110. Eine wichtige und differenzierende Illustration zu dieser Feststellung liefert die Forschungsarbeit von L. Révesz, Die persönliche Abhängigkeit der Bauern in Osteuropa. Eine Untersuchung über die soziale Lage des osteuropäischen Bauerntums im 17. u. 18. Jahrhundert, Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 17. 1959, 67—152. 7 Hierzu die neueren Forschungen von H. C onrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, Köln 1958; vor allem R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution. Allgemeines Landrecht, Ver­ waltung u. soziale Bewegung 1791—1848, Stuttgart 1967. 8 Meitzen, I, 534 ff. 9 Zu dieser Erscheinung grundlegend H. Rosenberg, Die Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, zuerst in: Fs. H. Herzfeld, Berlin 1958, ergänzt u. wieder abgedruckt in: Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 7—49; dort unter dem Begriff „Pseudodemokratisierung“ , in dem sich nebenher auch der Begriffswandel und die entschiedenere Positionsbindung ausdrückt, der das Wort

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„Demokratisierung“ im Deutschland der sechziger Jahre unterlegen hat und noch unterliegt. 10 Zu den Größenverhältnissen die wichtigen Arbeiten von J . C onrad, Agrarstati­ stische Untersuchungen, V: Die Latifundien im preußischen Osten, Jahrbücher f. Nationalökonomie u. Statistik N.F. 16. 1888; sowie die statistischen Regional­ untersuchungen dess., Der Großgrundbesitz in Ostpreußen, ebd., III. F. 2. 1891; . . . in Westpreußen, ebd., 3. 1892; . . . in der Provinz Posen, ebd., 6. 1893; . . . in Pommern, ebd., 10. 1895; . . . in Schlesien, ebd., 15. 1898. 11 Hierzu St. Genzmer, Die Entstehung u. Rechtsverhältnisse der Gutsbezirke in den 7 östlichen Provinzen des Preußischen Staates, Berlin 1891; C . Bornhak, Preußi­ sches Staatsrecht, Breslau 2 1911, II, 226 ff.; F. W. Schmidt, Gutsbezirke, Wörterbuch des Deutschen Staats- u. Verwaltungsrechts, Tübingen 21913, II, 299—304. 12 K. Kitzel, Die Herrfurthsche Landgemeindeordnung, Stuttgart 1957, 233 ff. 13 Über die Geschichte der Abänderungen des einschlägigen Art. 63 der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 wie dann der Art. 65 u. 66 der revidierten Ver­ fassung vom 31. Januar 1851 und die Entstehung des Herrenhauses vor allem E. Jor­ dan, Friedrich Wilhelm IV. und der preußische Adel bei Umwandlung der Ersten Kammer in das Herrenhaus, 1850—1854, phil. Diss. Berlin 1909; auch Bornhak, I, 391 ff.; H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, 334 ff. 14 Übersicht bei Meitzen, I, 541 ff. Der Stand der rechtlichen Regelungen über die Zusammensetzung des Herrenhauses eingehend bei Bornhak, I, 398 ff. 15 Meitzen, wo bezeichnenderweise das Herrenhaus innerhalb des Kapitels „Das Grundeigenthum nach Umfang, Besitzstand und politischen Rechten“ — in dem Abschnitt „Verschiedenheit des Grundeigenthums nach seinen politischen Rechten“ — behandelt wird. 16 Diesem Zusammenhang müssen auch die Ergebnisse des Aufsatzes von W. Frau­ endienst, mit leicht mißverständlichen Begriffen, untergeordnet werden: Demokratisie­ rung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 113. 1957, 721—46. Wegen vieler Beobachtungen immer noch wichtig: W. Koch, Volk u. Staatsführung vor dem Weltkriege, Stuttgart 1935. 17 W. Rothkegel, Die Kaufpreise für ländliche Besitzungen im Königreich Preußen, 1895—1906, Leipzig 1910, 15 ff., 74 f. Zum Vergleich: Auf Güter mit mehr als 100 ha Wirtschaftsfläche entfielen in der Provinz Sachsen ohne den Regierungsbezirk Erfurt 2 9 % , in allen übrigen preußischen Provinzen nur 6,3% der Gesamtwirt­ schaftsfläche. 18 Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 337: Die deutsche Vermögensbesteuerung vor u. nach dem Kriege, Berlin 1927. Vollkommen kommensurabel sind freilich die hier genannten Zahlen für 1907 u. 1923 nicht. In die erstgenannten sind — im Unterschied zu 1923 — zwar die forstwirtschaftlich genutzten Teile von Gutsbetrieben, jedoch nicht die reinen Forstgüter einbezogen, auf die in den sechs Östlichen Provinzen etwa 7,5 % der landwirtschaftlich genutzten Flächen entfielen. 19 M. Weber, Ges. politische Schriften, Tübingen 21958, 20. 20 Diese Erscheinung hat Fontane wiederholt beschäftigt. Das Zitat findet sich in seinen 1892 niedergeschriebenen und im folgenden Jahr veröffentlichten Kind­ heitserinnerungen. Jetzt T. Fontane, Meine Kinderjahre, München 1961, 56 f. 21 Für die Jahrhundertwende Rothkegel, 85 ff. 22 Rosenberg, Probleme, 17. 23 Eine bis ins 18. Jahrhundert zurückgehende Untersuchung liegt in der Arbeit von M. Weyermann vor: Zur Geschichte des Immobiliarkreditwesens in Preußen mit besonderer Nutzanwendung auf die Theorie der Bodenverschuldung, Karlsruhe 1910. 24 H. Böhme, Preußische Bankenpolitik, 1848—1853, in: Probleme der Rcichsgrün­ dungszeit 1848—1879, Hrsg. H. Böhme, Köln 21973, 121. Eine systematische Unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Deutschland und der preußische Osten

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suchung der ostelbischen Kreditorganisation im sozialgeschichtlichen und politischen Zusammenhang während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts steht noch aus. 25 L. Elster, Bevölkerungswesen: Der Bevölkerungsstand u. die Bevölkerungsbewe­ gung der neuesten Zeit bis zum Ausbruch des Weltkriegs, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 41924, II, 695. 26 Die Angaben von K. Olbricht (Die Bevölkerungsentwicklung der Groß- u. Mittelstädte der Ostmark, Berlin 1936, bes. 52 ff.), die nicht in jedem Betracht kritischer Überprüfung standhalten, nach anderen statistischen Quellen korrigiert; vgl. auch W. Morgenroth, Binnenwanderung, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, II, 41924, 918 f. 27 Hinsichtlich der Abwanderungs- und Neubesiedelungsbewegung, die hier nicht weiter verfolgt wird, verweise ich auf meinen Aufsatz, Staatliche Stützungsmaßnah­ men in den deutschen Ostgebieten, in: Fs. für H. Brüning, Berlin 1967; wieder abgedruckt: G. Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft, München 1969, 252—98. 28 H.-K. Behrend, Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919—1923, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- u. Ostdeutschlands 6. 1957 29 M. Weber, Parlament u. Regierung im neugeordneten Deutschland (Sommer 1917), in: ders., Ges. polit. Schriften, 248; ders., Deutschlands künftige Staatsform (November 1918), ebd., 349. Auch H. v. Treitschke, Bund u. Reich, in: Preuß. Jhbb 2. 1876, 399: „Unser Reich ist in Wahrheit der die Mehrheit der Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Einheitsstaat mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen untergeordnet sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit bündischen Institutionen.“ 30 W. v. Kardorff, Gegen den Strom, Berlin 1875; ders., Die Goldwährung, Berlin 1890; vgl. auch S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, Berlin 1936. 31 Hierzu mein Aufsatz über die Entstehung der Interessengruppen in Deutschland: Zeitalter der Gesellschaft, 222—51. 32 M. Weber, Kapitalismus u. Agrarverfassung, Vortrag 1904 auf dem C ongress of Arts and Sciences während der Weltausstellung in St. Louis, deutsche Rücküber­ setzung in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 108. 1952, 431—52; engl. Fassung in: H. H. Gerth/C . W. Mills (Hrsg.), M. Weber. Essays in Sociology, London XX, 363—85.

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5. Gegensatz und Verschmelzung von „alter“ und „neuer“ Bürokratie im Ançien Régime: Ein Vergleich von Frankreich und Preußen Von PETER LUNDGREEN

In einer oft zitierten Passage formulierte Gustav Schmoller 1894, mit Blickrichtung auf den brandenburgisch-preußischen Staat nach 1640 und die „Mittel, dem Staat zur Macht und zum Ansehen zu verhelfen“ , daß „das wichtigste Mittel, das Mittel aller Mittel, die Fortbildung der Behördenorgani­ sation“ sei1. In seinen grundsätzlichen Überlegungen folgte er dabei einem beachtenswert modernen, soziologischen Ansatz: Die Geschichte der Behörden­ organisation stelle materiell einen „Teil der fortschreitenden Arbeitsteilung und Gesellschaftsverfassung“ dar, und man solle daher „von der Idee der Arbeitsteilung und von der ganzen Art, wie die Inhaber der Ämter in den Zusammenhang der Gesellschaft und der Volkswirtschaft eingegliedert waren und sind, ausgehen“ 2. Welthistorisch hatten sich dabei drei Prinzipien der Amtsverfassung verwirklicht: 1. das erbliche Amt in den kriegerischen Agrar­ staaten und speziell im mittelalterlichen Feudalstaat; 2. das Wahlamt in den munizipalen Verfassungen von Stadtstaaten; 3. der lebenslängliche und besol­ dete Berufsbeamte. Es ist dieses dritte Prinzip, das nach Schmoller zur Ausbil­ dung des römischen Prinzipats einerseits, der mitteleuropäischen Staaten an­ dererseits führte. Das „französische Berufsbeamtentum“ stellte infolgedessen für Schmoller den Prototyp einer Institution dar, mit deren Hilfe europäische Könige und Fürsten „nach einander den ähnlichen Versuch gemacht (haben), aus dem Lehens- und Feudalstaat . . . den modernen Rechts- und Kulturstaat zu schaffen“ 3. Der Anlage dieser Argumentation gemäß legte Schmoller das Schwergewicht der Geschichte der Behördenorganisation als „Teil der fortschreitenden Arbeits­ teilung und Gesellschaftsverfassung“ für den historischen Fall der mitteleuro­ päischen Staatenbildung auf die Dichotomie von feudalen und Berufsbeamten, von Großwürdenträgern, Lehnsleuten, später Ständen einerseits, von königli­ chen bzw. fürstlichen Beamten (Legisten, Räten, Sekretären, Richtern, Steuer­ beamten) andererseits. Die „absolute Monarchie“ wurde dabei zur „Amts­ aristokratie des Berufsbeamtentums“ 4, aber Schmoller blieb genug Historiker, um sofort einzuräumen, daß die Formen der Durchsetzung des Berufsbeamten­ tums lange „an die hergebrachten Institutionen des Lehnswesens“ anknüpften.

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Gegensatz und Verschmelzung

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Er betonte jedoch mehr die generellen und damit gemeinsamen Schwierigkeiten, ein modernes Beamtentum auf der Grundlage fester und ausreichender Besol­ dung, formalisierter Rekrutierung und eigenen Amtsrechts zu schaffen. Damit fand etwa die französische Ämterkäuflichkeit analoge, wenn auch an Umfang geringere Mißbräuche im Preußen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, denen gegenüber ein Gegensatz innerhalb der Beamtenschaft zurücktritt5. Hier ging nun Otto Hintze einen vielbeachteten Schritt weiter. In seiner berühmten vergleichenden Studie zum C ommissarius stellte er einleitend für Brandenburg­ Preußen fest: „Man kann im 17. und noch im 18. Jahrhundert eine ältere und eine jüngere Schicht in dem preußischen Beamtentum unterscheiden: Die ältere Schicht, wie sie am klarsten in den Provinzialregierungen sich darstellt, gehört noch der territorialen, ständischen Epoche des Staatslebens an; die jüngere Schicht dient den Bestrebungen des neuen militärisch-absolutistischen Groß­ staats, und ihre maßgebenden Vertreter sind die Kommissariatsbehörden.“ 6 Diese zwei Schichten innerhalb des Beamtentums fand Hintze gerade in Frank­ reich besonders deutlich ausgeprägt, und er charakterisierte das französische Berufsbeamtentum, in Abweichung von Schmoller und im Rückgriff auf Bodins theoretische Behandlung dieses Problems, mit der Dichotomie von officiers und commissaires7. Diese Unterscheidung zwischen „ordentlichen“ Beamten mit einem privat­ rechtlichen Verhältnis zu ihrem Amt und „außerordentlichen“ Beamten als Funktionären des Fürsten zur Wahrnehmung neuer Aufgaben oder Verstär­ kung bzw. Wiederherstellung der zentralen Autorität ist weitgehend akzep­ tiert worden und beherrscht die neuere Historiographie zur europäischen Staa­ tenbildung und Bürokratie. Je nachdem, ob man dabei den Akzent stärker auf die Verwaltungsgeschichte als Institutionengeschichte oder als Sozialgeschichte legt, wird man den Gegensatz von officiers und commissaires entweder stärker betonen oder auf die Verschmelzung dieser beiden Beamtengruppen hinweisen, von der schon Hintze, den Gegensatz mildernd, gesprochen hatte8. Die Ver­ schmelzung selber läßt, auf einer sehr allgemeinen Ebene, wieder an die Posi­ tion Schmollers anknüpfen: Herausbildung des Berufsbeamtentums über viele unvollkommene Mischformen zweier Prinzipien, des feudalen und des profes­ sionellen. Die historisch-konkreten Formen der Verschmelzung können dabei jedoch sehr verschieden sein und den nationalgeschichtlichen Gang der Staats­ bildung unterschiedlich beeinflussen. In Anknüpfung an die Thesen von Hans Rosenberg zur sozialen Angleichung von officiers und commissaires in Preußen sowie zur Emanzipation dieser Bürokratie von der autokratischen Monarchie9 erscheint es daher als sinnvoll, gerade im Vergleich von Frankreich und Preußen die Tragweite der Dichotomie von officiers und commissaires für die Analyse der Bürokratie am Ancien Régime abzuschätzen. Die institutionengeschichtliche Betrachtung der Bürokratie ist geeignet, Beam­ te als funktionale Gruppe in Erscheinung treten zu lassen, wobei die Hierarchie der Institutionen und Funktionsträger durchaus an Klarheit gewinnt, wenn man sich des Begriffspaars officiers versus commissaires bedient10. Frankreich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mit seiner längeren und kontinuierlichen Geschichte der Staatsbildung kennt schon seit dem 13. Jahrhundert jene Prozedur: Einsatz von Kommissarien zur Beaufsichtigung „feudalisierter“ Beamter; Wandel der Kommissarien zu perma­ nenten Beamten; schließlich Einsatz neuer Kommissarien11. Der berühmteste, und für die Bewertung der absoluten Monarchie entscheidende Fall ist der französische Intendant, den schon Hintze zu der preußischen Kriegs- und Domänenkammer in Parallele gesetzt hat12. Auf welche Hierarchie von „alter“ Bürokratie, von officiers, stieß — so ist zunächst zu fragen — der Kommissa­ rius in Frankreich und Preußen im späten 16. und besonders im 17. Jahrhun­ dert? Die wichtigsten Ämter der inneren Verwaltung lassen sich für viele Jahr­ hunderte europäischer Geschichte zwei großen Gebieten zuordnen: dem Gerichtssowie dem Finanzwesen (siehe Tabelle), ohne daß damit die moderne Tren­ nung von Justiz und Verwaltung vollzogen gewesen wäre. Die alten preußi­ schen Regierungen wurden schon erwähnt als Beispiel „alter“ Bürokratie. Funktional im wesentlichen Justizbehörden (Oberlandesgerichte) hielten sie freilich lange ihren Anspruch auf allgemeine Superiorität, nämlich als „Landes­ regierung“ , gegenüber den Kammern und Kommissariaten aufrecht; das äußer­ te sich besonders in den sog. Hoheitssachen, wie sie in der Publikation könig­ licher Edikte und anläßlich der Erbhuldigung zum Ausdruck kamen13. Das institutionelle Äquivalent in Frankreich bildeten die Parlamente, jene souverä­ nen Gerichtshöfe, die mit ihrem Personal eines juristischen Erbadels die „alte“ Bürokratie paradigmatisch verkörperten und ebenfalls gewisse politische Rechte jenseits des justiziellen Bereichs geltend machten. Überdies standen sie an der Spitze einer viel weiter ausgebildeten Gerichtsverfassung, die über présidiaux und bailliages zu den prévôtées und den grundherrlichen Patriomonial­ gerichten reichte. Diese ganze Ämterhierarchie war, einschließlich des ursprüng­ lich als königliches Gegengewicht gedachten grand conseil, fest im Besitz von officiers, der Korporationen von Justizbeamten unterschiedlichen sozialen Ran­ ges. Ein paralleles Gebäude von Ämtern und Beamtenkorporationen findet sich in Frankreich für das Finanzwesen. An der Spitze wieder die souveränen (Gerichts-)Höfe: neben dem spezialisierten und erst spät eingerichteten cour des monnaies die beiden wichtigen Gruppen der chambres des comptes und der cours des aides. Diese Scheidung spiegelte die ganz alte Trennung zwischen den „ordentlichen“ Einnahmen des Königs, hervorgehend aus der Domäne und den Regalien oder grundherrlichen Rechten, und den „außerordentlichen“ Einnahmen, den Erträgnissen einer Steuerumlage. Die Herrschaft der officiers, der Korporationen von Steuer- und Finanzbeamten, erstreckte sich nun nicht nur auf die cours souveraines, sondern auf das ganze Netz provinzialer und lokaler Ämter in den généralités und élections: trésoriers, reçeveurs, payeurs, élus usw. gehörten in diesen Kreis. Das ist um so bemerkenswerter, als gerade aus der Domänenverwaltung die frühesten professionellen Beamten hervorgegangen sind14. Der französische König sah hier also, auf der Argu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mentationslinie officiers versus commissaires, die Verfügungsgewalt selbst über seine „ordentlichen“ Einnahmen eingeschränkt, und die Durchsetzung des In­ tendanten als eines Kommissarius spielte sich denn auch vor allem auf dem Gebiet der Finanzverwaltung ab. Bevor dieses Thema aufgegriffen wird, bedarf es noch eines Blicks auf Preußen. Hier scheint sich nun ein erster, und vielleicht entscheidender, Unter­ schied zu Frankreich zu zeigen. Während im 16. Jahrhundert noch von einer ständischen Steuer- und Finanzverwaltung in Brandenburg und Preußen ge­ sprochen werden kann, einmal auf Grund der Verpfändung und Verpachtung von Domänen und Regalien, zum anderen auf Grund der Verwaltung der fürstlichen Schulden durch das Ständische Kreditwerk15, so gelingt es den Kurfürsten im 17. Jahrhundert, nicht nur die „ordentlichen“ Einnahmen durch den Aufbau der Kammerverwaltung neu zu ordnen, sondern mit der Kom­ missariatsverwaltung die „außerordentlichen“ Einnahmen, d. h. die Steuern, fest in die Hand zu bekommen: und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Erhebung und Verwaltung als auch ihrer Festsetzung. Die Brechung der Steuerhoheit der Stände ist schon immer als ein Hauptkennzeichen der absoluten Mon­ archie in Preußen bewertet worden. Hier gilt es den speziellen Aspekt fest­ zuhalten, daß die Hierarchie der Ämter und Funktionsträger im Finanzwesen Preußens seit etwa 1660/80 und besonders im 18. Jahrhundert von der „neuen“ Bürokratie beherrscht wurde: Minister und Geheime Finanzräte in der Zen­ trale, dem 1723 gebildeten Generaldirektorium; Präsidenten, Direktoren und Kriegs- und Domänenräte auf der Provinzebene, in den Kriegs- und Domänen­ kammern; Steuerräte und Landräte auf der Kreisebene, mit ihren diversen Untergebenen, insbesondere der Magistrate in den Städten, die ihre Autonomie inzwischen verloren hatten. Lediglich der Landrat stellte bekanntlich ein Bindeglied zwischen „alter“ und „neuer“ Bürokratie dar, insofern er die königliche Autorität im Landkreis repräsentierte, formell zur Kamnierverwaltung gehörte und gleichzeitig Ver­ treter der Kreisstände blieb, was in der weitgehenden Beachtung des Indigenats­ rechts bei seiner Bestallung zum Ausdruck kam. Der Gegensatz von officiers und commissaires fiel also in Preußen weitgehend zusammen, institutionenge­ schichtlich gesehen, mit dem Dualismus zwischen Gerichts- und Finanzbehörden, zwischen Rechts- und Polizeistaat. Diese labile Balance mit zunehmendem Übergewicht des aggressiven, positiv Verwaltungsrecht setzenden Polizeistaats zeigte sich auch in der Organisation der Zentralregierung und -Verwaltung. Das alte Instrument des Staatsrats, in dem das ständische Element nach 1640 eher wieder zunahm, verkümmerte durch Ausgliederung der Kammerverwal­ tung und des Kabinettsministeriums (zuständig für auswärtige Angelegenhei­ ten); de facto sah sich der Staatsrat eingeschränkt auf die Verwaltung der Justiz, die ohnehin, wie gezeigt, am längsten ein Reservat der „alten“ Büro­ kratie blieb. Bezeichnend auch, daß der C hef des Justizrats den Titel Kanzler führte, der an die alten feudalen Großwürdenträger gemahnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die Organisation der Zentralregierung und -verwaltung in Frankreich wies nun wiederum erhebliche Parallelen zu Preußen auf, ließ aber gleichzeitig einen etwas älteren Typus erkennen, insofern als die Regierung im Rat noch langer erhalten blieb und infolgedessen in einen Gegensatz zu den entstehen­ den Ministerien geriet. Auch hier läßt sich jedoch die Institutionengeschichte mit der Dichotomie von officiers versus commissaires durchleuchten. Der fran­ zösische Staatsrat hatte im Laufe des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen Prozeß der funktionalen Differenzierung mit Ausgliederung von spe­ ziellen Räten durchlaufen. Dazu gehörte der conseil privé der dem preußi­ schen Justizstaatsrat entsprach, gleichfalls mit dem Kanzler an der Spitze und mit Kompetenzen in der Justizverwaltung. Als Pendant zum preußischen Kabinettsministerium kann man den conseil d'en haut betrachten, den Kern des alten Staatsrats, in dem auswärtige Politik sowie Fragen von Krieg und Frieden entschieden wurden. Ihm gehörten neben dem König die Minister an, d. h. die Staatssekretäre und der Generalkontrolleur der Finanzen. Eine fran­ zösische Eigenheit war es nun, daß im Unterschied zu Preußen die innere Verwaltung nicht eine Domäne der Fachministerien und ihrer nachgeordneten Behörden wurde. Der conseil des dépêches und der conseil des

finances

befaßten sich mit inneren Angelegenheiten, der zweite besonders mit dem Finanzwesen. An seiner Spitze stand zwar der Generalkontrolleur, aber be­ herrscht wurde der Rat, wie die anderen, von den Staatsräten, den conseillers d'état, und den maîtres des requêtes. Die altfranzösischen Minister nah­ men also eine Doppelstellung ein: Sie waren Mitglieder des Staatsrats, ver­ traten dort die Interessen ihres Departements; sie standen gleichzeitig an der Spitze ihres Departements, d. h. einer eigenen Bürokratie. So gliederte sich das bedeutendste Ministerium, die dem preußischen Generaldirektorium ver­ gleichbare contrôle générale des finances, im späteren 18. Jahrhundert in

den Generalkontrolleur, seine Finanzintendanten als Abteilungsdirektoren, des­ gleichen seine Handelsintendanten sowie in dreißig und mehr bureaux mit ihren premiers commis, chefs, und den etwa 200 commis 16 .

Der Gegensatz zwischen „alter“ und „neuer“ Bürokratie läßt sich erneut festhalten, denn die conseillers d'état und

maîtres

des requêtes sind als

Spitzenpositionen von officiers anzusehen17. Mochte nun die Kommissariats­ verwaltung der contrôole générale auf der zentralen Ebene de facto das Übergewicht gewinnen gegenüber der schwerfälligeren Regierung im Rat18, ohne de iure den Rat auszuschalten, so gestalteten sich die Verhältnisse auf der Provinz- und lokalen Ebene anders. Denn hier bestand jenes dichte Netz­ werk von officiers comptables, von „alter“ Finanzbürokratie, in Beamten­ korporationen gegliedert und in die Spitze der souveränen Finanzgerichtshöfe auslaufend. Der entscheidende Einbruch des absolutistischen Königtums in diese Welt weithin unabhängiger Finanzverwaltung sollte über das Institut der Provinzialintendanten erfolgen, und seine Figur ist es, deren Bewertung das Urteil über die Ausbildung des Absolutismus in Frankreich bestimmt. Daß seine Einführung den erbitterten Widerstand der „alten“ Bürokratie, der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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trésoriers und der Parlamente, hervorrief, versteht sich von selber19. Es gelang schließlich, den Intendanten zu einer Dauereinrichtung an der Spitze der Generalitäten, der Finanzverwaltungsbezirke, zu machen. Über seine tat­ sächlichen Erfolge im Sinne stärkerer Zentralisierung und direkterem Zugriff nach den Finanzen gehen die Meinungen jedoch auseinander20. Auffallend, und damit die skeptische Beurteilung stützend, ist die Tatsache, daß die In­ tendanten sich eine kleine private Bürokratie aufbauten, die neben die „alte“ , provinziell verwurzelte und korporierte Beamtenschaft trat21. Damit wieder­ holte sich, aber mit tiefergehenden Konsequenzen, was für die zentrale Ebene beobachtet werden konnte. So ist es nur konsequent, daß Bosher die französi­ sche Finanzverwaltung des späten Ançien Régime beschreibt als das Verhältnis des Staates als des Klienten zu den officiers comptables als Finanzagenten: Die Hauptaufgabe der bureaux in der contrôle générale war es, Geschäfts­ aufträge zu erteilen und ihre Erfüllung zu kontrollieren22. Eine aktive Rolle konnten Finanzministerium und Provinzialintendanten lediglich auf Gebieten spielen, die der Initiative keine oder weniger überkommene Regelungen ent­ gegenstellten: Öffentliche Bauten, Handel und Gewerbe, Gesundheitswesen, Technologie und Wissenschaft23. Geht man von der Verwaltungsgeschichte als Institutionengeschichte aus und arbeitet man mit der Dichotomie von officiers und commissaires, dann lassen sich zusammenfassend doch erhebliche Unterschiede zwischen Frankreich und Preußen festhalten. In Preußen fällt der Gegensatz von „alter“ und „neuer“ Bürokratie mit dem Dualismus von Regierungen und Kammern/Kommissaria­ ten zusammen; hier kommt es nicht nur zur Dominanz der Kammerverwaltung, sondern es gelingt schließlich auch, nach den Justizreformen C occejis, die länger ständischen Regierungen mit „preußischem Geiste“ zu erfüllen24. In Frankreich ist der Dualismus von Justiz- und Finanzbehörden weniger bedeutsam oder wird zumindest überlagert von dem Parallelismus der Hierarchien von officiers und commissaires innerhalb der Finanz- und Justizverwaltung, ein Zustand, der Konflikte erzeugte, die bekanntlich bis 1789 reichen25. Wenn die institutionengeschichtliche Betrachtung darauf hinweist, daß der Gegensatz von „alter“ und „neuer“ Bürokratie in Frankreich und Preußen eine unterschiedliche historische Gestalt gefunden hat, dann kann die sozial­ geschichtliche Frage nach der Verschmelzung von „alter“ und „neuer“ Bürokra­ tie mit einer Hypothese beginnen: In Frankreich führte der Parallelismus der Hierarchien von officiers und commissaires zu einer zyklischen Absorption der „neuen“ in die „alte“ Bürokratie26. In Preußen vermochte die „neue“ Bürokratie, den Dualismus zur „alten“ noch vor dem Ende des ancien régime aufzuheben. Dieser Hypothese kann man auf verschiedenen Wegen nachgehen, um zu sehen, wie weit sie trägt. Eng an die bisherigen Betrachtungen knüpft die Frage an, wie es um das numerische Gewicht der commissaires im Ver­ hältnis zu den officiers bestellt war. Eine Entwicklungsgeschichte dieser Zahlen kann hier nicht gegeben werden, wohl aber ein Querschnittsvergleich für Frankreich um 1780 und Preußen um 1805 (siehe Tabelle). Danach finden sich, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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wenn man nur das leitende Personal oder den sog. höheren Dienst (Rate und aufwärts) veranschlagt, in Preußen etwa je 500 Beamte in den Kriegs- und Domänenkammern einerseits, den Regierungen andererseits. Einerlei, ob man die Regierungen zu diesem Zeitpunkt nicht bereits schon als reformierte Teile der „neuen“ , vereinigten Bürokratie betrachtet; das Übergewicht der Kommis­ sariatsverwaltung wird durch die 300 Land- und Steuerräte deutlich. Dazu kommen etwa 300 höhere Beamte in einer Zentralregierung, die sich weitge­ hend vom Staatsrat emanzipiert hat. Ganz anders in Frankreich. Hier stehen den 30 Provinzialintendanten (vgl. die 23 preußischen Kammerpräsidenten) zwar ihre privaten Unterdelegierten zur Verfügung, aber sie sehen sich mit etwa 5000—6000 leitenden officiers der verschiedenen Beamtenkorporationen und Gerichtshöfe konfrontiert, ohne über ein Analogon zu den preußischen Steuerräten und Landräten zu verfügen. Gleichzeitig reicht die „alte“ Büro­ kratie mit den maîtres des requêtes und den conseillers d'état in die Orga­

nsiation der Regierung im Rat hinein, von der sich die Fachministerien nur unvollkommen distanzieren können. Die zentrale Verwaltungselite selbst, jene etwa 200 (oder vielleicht auch mehr) führenden Mitglieder des Staatsrats und der Ministerien, läßt sich nicht leicht den officiers oder den commissaires zuordnen. Das läßt wieder an die Verschmelzung denken, und wenn die numerischen Verhältnisse schon andeuten, in welche Richtung dieser Integrationsprozeß jeweils verlief, so bedarf dieser Vorgang doch einer genaueren Analyse. Neben dem numerischen mußte das soziale Gewicht entscheiden, ob die „alte“ oder „neue“ Bürokratie der dominierende Faktor der Verschmelzung sein würde27. Einen geeigneten Zugang zu der damit aufgeworfenen sozialgeschichtlichen Betrachtung der Beamten bieten Fragen ihrer Rekrutierung und Ausbildung. Der schon mehrfach betonte scharfe Gegensatz zwischen Regierungen und Kammern in Preußen läßt sich dabei erneut und weiter substantiieren, wobei es unseren Erwartungen entspricht, „modernere“ Rekrutierungs- und Ausbil­ dungspraktiken in der Kommissariatsverwaltung zu finden28. Hier zeigt sich die früheste und energischste Zurückdrängung des Adels, hier bot sich dem gemeinen Mann ein sozialgeschichtlich nahezu singuläres Goldenes Zeitalter sozialer Mobilität, besonders vor 1740. Dabei ist weniger an den gelehrten Juristen bürgerlicher Herkunft zu denken als an Bürokraten, die aus der Militärverwaltung kamen, wie Regimentsquartiermeister und Auditeure. Diese fachliche Vorbereitung konnte durch langjährige praktische Tätigkeit in der Kammer- und Kommissariatsverwaltung vertieft werden und bot dem tüchti­ gen einzelnen den Aufstieg in der Ämterhierarchie, wenn er sich bewährte. Natürlich gab es auch den Einstieg von oben, aber die Schule etwa des preußi­ schen Steuerrats galt als die geeignete Brutstätte für Preußens höhere Finanz­ beamte. Der praktische Zug der fachlichen Qualifikation gewann eine spezi­ fisch preußische Variante durch die Einführung des kameralwissenschaftlichen Studiums seit 1727, das seit 1770 obligatorisch für den höheren Dienst wurde. Es verdient festgehalten zu werden, daß diese Formalisierung des Leistungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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prinzips gleichzeitig die Aufstiegschancen limitierte zwischen dem mittleren und dem höheren Dienst. Der mittlere Dienst blieb bekanntlich lange und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Versorgungsinstitut für Unteroffiziere und Invalide. Gleichgültig jedoch, wieviel Lücken man im vielgerühmten preußischen Re­ krutierungssystem nach dem Leistungsprinzip (mit zunehmend schulgebundener Ausbildung) entdecken mag, der Unterschied zu den Regierungen, den Ver­ tretern der Territorien und obersten Gerichtshöfen, ist zunächst unverkennbar. Hier finden wir viele Züge, die in ähnlicher Form das altfranzösische Beamten­ tum charakterisieren29. Juristisches Studium ist eine formale Voraussetzung, die adlige Mitglieder lange gar nicht erfüllen, bürgerliche durch „die Abstat­ tung einer leidlichen Proberelation“ 30 vorweisen. Wichtiger ist die Patronage einflußreicher Gönner, die Beachtung des Indigenatsrechts seitens der Gerichts­ höfe, der de facto Ämterkauf durch einen Beitrag an die Rekrutenkasse. Das letzte Moment ebenso wie die „richterliche Privatpraxis“ in den Gerichts­ ferien mit Hilfe der sog. C ommissionen31 zeigen, daß die „alte“ Bürokratie von officiers durchaus in Preußen Fuß gefaßt hatte. Es gelang jedoch der absoluten Monarchie, diese Bürokratie in einem zwei Phasen umfassenden Entwicklungsprozeß umzuwandeln. Zunächst sank ihre Bedeutung immer mehr wegen der zunehmenden Kompetenz der Kammerjustiz, ihre Leistung dank einer Besoldungspolitik des Aushungerns32. Dann reformierte C occeji die Justiz durch feste und bessere Besoldung sowie durch die Neuordnung und obligatorische Beobachtung der Ausbildung, d. h. des Studiums und besonders des Vorbereitungsdienstes. Die damit erfolgende Durchsetzung des Leistungs­ prinzips ließ sich erträglich machen, indem man dem Adel einen bevorzugten Zugang freihielt und dem Regierungsrat ganz allgemein ein höheres Sozial­ prestige einräumte gegenüber dem Kammerrat33. Damit stand der Konsti­ tuierung einer einheitlichen bürokratischen Elite nichts mehr im Wege. Der preußische Fall ist vergleichsweise einfach und klar im Gegensatz zu dem kontroversen französischen. Hier haben wir, um noch einmal an die numerischen Verhältnisse anzuknüpfen, nicht nur jene 5000—6000 officiers der sog. hohen Magistratur, sondern zehntausende, ja gegen Ende des ancien régime 2—300 000 officiers der mittleren und unteren Magistratur34. Das wichtigste Mittel zur Rekrutierung dieser „alten“ Bürokratie wurde seit dem frühen 17. Jahrhundert die berühmt-berüchtigte Ämterkäuflichkeit, die nicht nur der „Feudalisierung“ oder „privatrechtlichen Entartung“ 35 des Ämter­ wesens Vorschub leistete, die relative Unabhängigkeit der Beamten von der Krone förderte, sondern gleichzeitig für die Krone eine überaus wichtige Ein­ nahmequelle darstellte. Die Ämterkäuflichkeit wirft mehrere schwierige Pro­ bleme auf. Dazu gehört zunächst einmal die Frage der Loyalität. Sie erscheint notwendig gespalten zwischen Loyalität zum König als dem großen Patronats­ herrn, der Ämter zu verkaufen hatte, und Loyalität zu der eigenen Beamten­ korporation, deren Kontinuität und Unabschaffbarkeit gestärkt wurde und die ständig dahin tendierte, sich mit partikularistischen Interessen zu verbinden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Justiz

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Regierungen Präsidenten: Vizepräsidenten, Direktoren: Regierungsräte: Assessoren:

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Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für das Jahr 1805.

Quelle:

présidiaux:

Quellen: Almanach royal; Dahamel, Etat de la magistrature en France, Paris 1789; Bosher, French Finances, Cambridge 1970.

1675

30

Provinzebene Kriegs- und Domänenkammern 23 Präsidenten: Vizepräsidenten, 65 Direktoren: Kriegs- und Domänenräte: 400 Assessoren: 80 Kreise Landräte: 210 Steuerräte: 90

Preußen, 1805

Minister: 12 Präsidenten, Direktoren: 15 Räte: 180 110 1200 Sekretäre:

830 280

Zentrale

Bevölkerung: 9 000 000

80

10 40

intendants des généralités: subdélégués

trésoriers, reçeveurs, payeurs etc.:

chambres des comptes: cours des aides:

Provinzebene

Bevölkerung: 25 000 000

parlements: grand conseil:

intendants des finances etc.: premiers commis: chefs, commis

conseils secrétaires d'état: 6 conseillers d'état: 40 maîtres des requêtes: 80 départements

cour des monnaies: 70

Zentrale

Frankreich, 1780

Leitendes Verwaltungspersonal in Frankreich und Preußen

112 Peter Lundgreen

Gegensatz und Verschmelzung

113

Ein anderes Problem ist das der Effizienz. Nun ist es keineswegs so, daß Ämterkäuflichkeit per se hoffnungslos niedriges Leistungsniveau der Beamten zur Folge hat. Im französischen Fall kann man vielleicht sogar davon sprechen, daß das große Sozialprestige, das mit Ämtern der gehobenen Ebenen verbunden war, es nicht zuließ, daß der Käufer eines Amtes zu sehr von dem selbstge­ setzten Standard abwich. Juristisches Studium war dabei ohnehin die reguläre Vorbildung, aber die eigentliche Karriere innerhalb der hier besonders inter­ essierenden hohen Magistratur war begleitet von einer jahrelangen Aus- und Weiterbildung im Amt, an den großen Gerichtshöfen. Vergegenwärtigt man sich die Zahlen und die Rekrutierungsmechanismen, dann ist die soziale Gruppe der Beamten zu Recht mit den vielzitierten Schlagworten bourgeoisie robine und noblesse de robe umschrieben. Die jün­ gere französische Forschung hat gerade diesem sozialgeschichtlichen Aspekt des ancien régime ihre Aufmerksamkeit gewidmet36. Dabei ist nicht nur die Welt von la robe als eine nahezu perfekte Subkultur deutlich geworden, sondern auch die Fixierung der französischen Bourgeoisie auf diese Welt. Der geradezu idealtypische Gegensatz zwischen bourgeoisie robine und bour­ geoisie négoçiante, zwischen den roturiers und den Handelskapitalisten, schmilzt in der sozialen Wirklichkeit zusammen. Söhne und Enkel der reich gewordenen Handelsbourgeoisie begründen die Dynastie einer Beamtenfamilie durch Ämterkauf, und officiers können in der Finanzverwaltung getrost bür­ gerlichen Tugenden der Gewinnmaximierung folgen37. Gemeinsames Ziel bei­ der Gruppen der grande bourgeoisie bleibt die Nobilitierung, der Aufstieg in die noblesse de robe.

Dieser Amtsadel stellt zweifellos die wichtigste Mobilitätsschleuse in der stän­ dischen Gesellschaft des alten Frankreich dar. Die bürgerliche Herkunft seiner Mitglieder hinderte sie nicht, juridisch zum zweiten Stand zu gehören und, besonders nach zwei bis drei Generationen Zugehörigkeit, auch sozial voll­ kommen in diesen Stand integriert zu sein. Insofern ist der ursprüngliche Gegensatz von noblesse d'épée und noblesse de robe sozialgeschichtlich höch­ stens noch von untergeordnetem Gewicht, zumal da der alte Schwertadel in der französischen Beamtengeschichte nicht annähernd jene Bedeutung gewonnen hat wie die Junker in der preußischen Beamtenschaft. Die unterstellte „feudale Reaktion“ des späten 18. Jahrhunderts zielt denn auch mehr auf die zuneh­ mende Abschließung der noblesse de robe gegenüber Neuankömmlingen, eine Behauptung, die Widerspruch gefunden hat38. Für unseren Zusammenhang wichtiger als die Klärung dieser Frage ist jedoch die Tatsache, daß der fran­ zösische Kommissarius, daß die französischen Intendanten und königlichen Spitzenbeamten aus der noblesse de robe hervorgingen und ihr angehörten. Wenn die hohe Magistratur mehrere Tausend officiers umfaßte, dann mußte die Zahl der Spitzenpositionen innerhalb der Beamtenkorporationen (Präsidenten u. ä.) für viele ehrgeizige Persönlichkeiten eine Einschränkung ihrer Aufstiegsmöglichkeiten bedeuten. Das Sozialprestige der cours souveraines, also der obersten Institutionen der Magistratur, bemaß sich nun gerade auch 8 Sozialgeschichte Heute© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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nach der Qualität der Karrieremöglichkeiten außerhalb ihrer selbst39. Und keine einzelne Institution konnte sich rühmen, so viele Magistrate aus ihren Reihen in höchste Stellungen abgegeben zu haben, wie der vornehmste aller souveränen Gerichtshöfe, das Pariser Parlament. Vivian Gruder hat den typi­ schen cursus bonorum der französischen Intendanten beschrieben: Er lief vom juristischen Studium über den Advokaten zum Rat und schließlich Magistrat an einem souveränen Gerichtshof. Der entscheidende Sprung war die Erlan­ gung der Stellung eines maître des requêtes im französischen Staatsrat. Dazu bedurfte es sowohl des Amtskaufs wie der königlichen Zustimmung. Aus der kleinen Gruppe von etwa 80 maîtres des requêtes, deren Dienst die eigentliche hohe Schule der Verwaltungsausbildung war, rekrutierten sich nahezu alle leitenden Zentralbeamten sowie die Provinzialintendanten40. Diese selber waren unumschränkt absetzbar, eben Kommissarien, und ihre durch­ schnittliche Dauer im Amt war relativ kurz. Daß sie und die ganze administra­ tive Elite sozial zur noblesse de robe gehörten, kann indessen nicht bestritten werden. Die entscheidende Frage bleibt dennoch, wie diese sozialgeschichtliche Tatsache zu bewerten ist. Gruder sieht die Trennung von Magistratur und königlichen Beamten bereits an der Eingangsstufe, bei dem maître des requêtes, gegeben: „Seine neuen Tätigkeiten würden ihn von seinen früheren Kollegen der rohe wegführen, und seine Aufgaben als königlicher Beamter würden die Sympathien, die er für die Macht der Magistratur hatte, verringern.“ 41 Die politische Funktion trug hier also den Sieg davon über die soziale Verbundenheit mit der noblesse de robe42. Ganz ähnlich argumentiert Mousnier, wenn er von einer einzigen sozialen Gruppe spricht, die in zwei entgegengesetzte politische Gruppen ge­ trennt war: die Magistratur und la robe du conseil43. Diese Verhältnisse würden in das Bild passen, das Rosenberg für die Machtelite der Kommissarien benutzt: „Transmissionsriemen“ zwischen dem königlichen Willen und den Korporationen der officiers44. Und vielleicht ist unsere Skepsis hinsichtlich des Resultats zu sehr von der Denkfigur geprägt, daß gemeinsamer sozialer Ursprung nur gemeinsame politische Interessen zuläßt. Aber die Fortsetzung des Rosenberg-Zitats nährt dann doch wieder unsere Zweifel. Denn um ihre Funktion als Transmissionsriemen erfüllen zu können, mußten die commis­ saires zu einem modus videndi mit den officiers kommen, und das hieß kon­ kret, sie mußten sich einen Platz in der etablierten Hierarchie sichern. Aus dieser Überlegung entwickelt und exemplifiziert Rosenberg seine beider zen­ tralen Thesen von der Verschmelzung „alter“ und „neuer“ Bürokratie sowie deren schließlicher Emanzipation von der autokratischen Monarchie. Die Richtung dieser Verschmelzung scheint jedoch recht verschieden gewesen zu sein. In Preußen erfolgte die Emanzipation der Bürokratie untypisch spät, weil starke autokratische Herrscher sie lange verhinderten. Eine Folge war, daß die Kommissarien genügend „soziales Gewicht“ ansammeln konnten, um den Verschmelzungsprozeß der Bürokratie zu dominieren. In Frankreich sehen wir jenen zyklischen Prozeß der Absorption „neuer“ Bürokratie in die ,alte“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bürokratie. Diese Bürokratie hatte schon frühzeitig ihre relative Emanzipa­ tion von der monarchischen Autokratie durchgesetzt. Sie war so stark, daß, wie Mandrou formuliert, die Intendanten weder die Zeit noch das hinreichende numerische und soziale Gewicht hatten, um den Sieg der Monarchie über das alte Personal sicherzustellen45. Das alte Auskunftsmittel der französischen Verwaltungsgeschichte, ein „feudalisiertes“ Beamtentum durch „neue Männer“ wieder in die Pflicht zu nehmen, errang nur Pyrrhussiege. Bosher hat gezeigt, daß erst die französische Revolution jene moderne, von privatwirtschaftlichen Praktiken freie Bürokratisierung der Finanzverwaltung erreichte, die der auf­ geklärte Absolutismus andernorts zuwege brachte46. Und es ist schon immer gesehen worden, daß die letzten Jahrzehnte des Ançien Régime, die einen schwankenden Kurs im Kampf gegen die Bastionen der officiers zeigen, schließ­ lich in die aristokratische Phase der Revolution, in die Revolte der Privile­ gierten mündeten. Die zeitweise Auflösung der Parlamente durch den Kanzler Maupeou gehört ebenso hierher wie die Versuche der Finanzminister Necker und Loménie de Brienne, die Macht der hohen Finanzmagistratur zu bre­ chen. In einer Fußnote macht Bosher, der moderne Historiker dieser bürokrati­ schen Revolution, eine interessante Bemerkung zur vergleichenden Geschichte: „Höchstwahrscheinlich waren die englischen und preußischen Methoden der Mobilisierung des Reichtums der Nation für die Zwecke der Regierung den französischen Methoden weit überlegen, außer während der Revolution.“ 47 England und Preußen stellen zweifellos in vielerlei Hinsicht Antipoden dar. Englands Entwicklung wird dabei von manchen Autoren als so einzigartig herausgestellt, daß es für Vergleiche aus methodologischen Gründen eigentlich überhaupt ausscheiden müßte. So folgert Strayer aus der Einzigartigkeit Eng­ lands dessen Eigenschaft als „schlechtes Modell für die Staatsbildung“ . Dem­ gegenüber sieht er das „französische Modell vorherrschend in Europa“ 48. Barrington Moore konzediert, daß sein Paradebeispiel für den demokratischen Weg zur modernen Gesellschaft, England, einer Konfiguration entsprang, „die es wohl nur ein einziges Mal in der Geschichte der Menschheit geben kann“ 49. Umgekehrt stellt Preußen einen klassischen Fall der Revolution von oben oder der „konservativen Modernisierung“ dar, wie sie von dem bürokratischen Absolutismus nach 1807 vollzogen wurde50. Frankreich stand, in der Argumentationslinie von Moore, strukturell vor der gleichen Möglichkeit einer „konservativen Modernisierung von oben“ wie Preußen51. Wäre es dazu gekommen, dann hätte Strayers französisches Modell der Staatsbildung längere und größere Gültigkeit behalten; dann hätte die auf der Dichotomie von officiers und commissaires aufgebaute Sozialgeschichte der Bürokratie zu parallelen Ergebnissen geführt. Daß es nicht dazu kam, daß die Revolution schließlich eine historische Alternative zum englischen Weg demokratischer Modernisierung eröffnete52, droht der Revolution fast einen nur ereignisgeschichtlichen Rang zuzusprechen, läßt sie unterdeterminiert erscheinen. Moore weiß natürlich weitere Variablen einzuführen, die den fran8*

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zösischen Weg vom preußischen unterscheiden, vor allem die relative Starke der Städte, das Agrarsystem, die Formen kommerzialisierter Landwirtschaft, die Stellung von Grundherren und Bauern. Immerhin verdient festgehalten zu werden, daß nicht alle strukturgeschichtlichen Trends auf die Revolution hinliefen. Die Herrschaft von Bürokraten und Notabein repräsentierte auf einer abstrakten Ebene eine Fusion von Adel und Bürgertum, die der konser­ vativen Modernisierung in Preußen wie in Frankreich grundsätzlich offen­ stand. Konkret erwies sich dieser Weg in Frankreich schwerer gangbar, weil die Bürokratie zu mächtig blieb, um wirklich ein Herrschaftsinstrument der Krone werden zu können, und gleichzeitig nicht stark genug wurde, um den andauernden Antagonismus zur Krone zu beenden. Die Revolution verschlang schließlich Krone und Magistratur; diese konnte sich freilich individuell, mit den Familiendynastien des Staatsdienstes, in der nachrevolutionären Büro­ kratie ihren Platz sichern 53 . In Preußen bedurfte es allerdings auch der Katastrophe, bevor sich eine Bürokratie, die funktional viel stärker Herr­ schaftsinstrument der Krone gewesen war und sozial die Fusion von Adel und Bürgertum in einer anderen, mehr dem kommissarischen Geist verpflichte­ ten Form durchgeführt hatte, dem bürokratischen Reformabsolutismus öffnen konnte.

Anmerkungen 1 G. Schmoller, Über Behördenorganisation, Amtswesen u. Beamtentum im Allge­ meinen u. speziell in Deutschland u. Preußen bis zum Jahre 1713, Acta Borussica, Behördenorganisation, I, Berlin 1894, (81). — Im folgenden handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags am 14. 2. 1973 vor dem Fachbereich für Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. 2 Ebd., (18). 3 Ebd., (32 f.). 4 Ebd., (41). 5 Ebd., (117 ff.). 6 Ο. Hintze, Der Commissarius u. seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungs­ geschichte (1910), in: ders., Staat u. Verfassung. G es. Abh. I, Hrsg. G . Oestreich, Göttingen 31970, 245. 7 Ebd., 250, 254 ff. 8 Ebd., 273. 9 H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660—1815, C ambridge/Mass. 1958 u. ö. 10 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Studien, mit denen ich an einem Band zur westeuropäischen Staatsbildung mitgearbeitet habe. Vgl. W. Fischer u. P. Lundgreen, Recruitment and Training of Administrative and Technical Personnel, in: C . Tilly (Hrsg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1974. 11 Hintze, 266 f.; vgl. R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des 9. Jahrhunderts bis zur Revolution, München 1910; H. v. Borch, Obrigkeit u. Widerstand. Zur politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1954, 104 ff., bes. 112 ff. 12 Hintze, 248.

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13 O. Hintze, Einleitende Darstellung der Behördenorganisation u. allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs IL, Acta Borussica, Behör­ denorganisation, VI/1, Berlin 1901, 205. 14 J . R. Strayer, On the Medieval Origins of the Modern State, Princeton 1970, 28. 13 Schmoller, (73), (93 f.); S. Isaacsohn, Geschichte des Preußischen Beamtentums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, II, Berlin 1874, 176 ff.; F. L. C arsten, Die Entstehung Preußens, Köln 1968, 136; H. C onrad, Deutsche Rechtsgeschichte, II: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, 308; E. Wyluda, Lehnrecht u. Beamtentum. Studien zur Entstehung des preußischen Beamtentums, Berlin 1969, 44 ff. 16 J . F. Bosher, French Finances 1770—1795. From Business to Bureaucracy, Cambridge 1970, 47 ff. 17 Hintze, C ommissarius, 250; V. R. Gruder, The Royal Provincial Intendants. Α G overning Elite in Eighteenth-Century France, Ithaca 1968, 52 ff. 18 J . F. Bosher, French Administration and Public Finance in their European Setting, in: The New Cambridge Modern History, VIII. 1965, 565 f. 19 R. Mousnier, Etat et Commissaire. Recherches sur la C réation des Intendants des Provinces (1634—1648), in: Fs. F. Hartung, Berlin 1958, 325 ff. 20 Skeptisch in der Beurteilung der effektiven Macht der Intendanten sind A. Cobban, The Decline of Divine-Right Monarchy in France, in: The New C ambridge Modern History, VII. 1957, 216 f.; R. Mandrou, La France aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris 21970, 217 ff. Günstiger wird die Stellung der Intendanten beurteilt bei H. Méthivier, L'Ancien régime, Paris 31966, 88, 114 f.; oder, für eine einzelne Provinz, bei H. Fréville, L'intendance de Bretagne (1689—1790). Essai sur l'histoire d'une intendance en Pays d'états au XVIIIe siècle, 3 Bde, Rennes 1953. Aber auch Fréville räumt ein (3, 337), daß die Intendanten vornehmlich auf Gebieten aktiv wurden, wo die Initiative nicht durch konkurrierende Gewalten eingeschränkt war. —· Gruders Buch über die Provinzialintendanten des 18. Jahrhunderts konzen­ triert sich auf die Rekrutierung und Ausbildung dieser Verwaltungselite, ohne deren eigentliche Tätigkeit zu untersuchen. 21 Mandrou, 217 f.; J . E. King, Science and Rationalism in the Government of Louis XIV, 1661—1883, Baltimore 1949, 214. 22 Bosher, Finances, 49. 23 Ebd., 51 ff.; Mandrou, 218 f.; Η. Τ. Parker, French Administrators and French Scientists during the Old Regime and the Early Years of the Revolution, in: Fs. L. Gottschalk, Durham 1965, 85 ff. 24 Hintze, Behördcnorganisation, 207; vgl. ebd., 46 ff. 25 Die parallelen Hierarchien arbeitet deutlich heraus: G. Durand, Etats et Insti­ tutions, XVIe—XVIIIe siècles, Paris 1969, 108 ff., 139. 26 Diese Formulierung bei J . H. Shennan, Government and Society in France 1461—1661, Ν. Y. 1969, 57 f. 27 Mandrou, 220. 28 Hintze, Behördenorganisation; Rosenberg; C . J . Friedrich, The C ontinental Tradition of Training Administrators in Law and Jurisprudence, Journal of Modern History, 11. 1939, 129 ff. 29 Hintze, Bchördenorganisation, 202 ff. 30 Ebd., 208. 31 Ebd., 213. 32 Ebd., 48. 33 Rosenberg, 119 ff. 34 M. Göhring, Die Ämterkäuflichkeit im Ancien régime, Berlin 1938, 33 f., 258; H. Finer, The Theory and Practice of Modern Government, II, Ν. Y. 1932,

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1242; ν. Borch, 108; R. Mousnier u.a., Le Conseil du roi de Louis XII à la révolution, Paris 1970, 17 ff. 35 Hintze, C ommissarius, 272. 36 Vgl. die Arbeiten von Jean Egret, François Bluche, Pierre Goubert, Jean Meyer sowie von Roland Mousnier und seinen Mitarbeitern. 37 Bosher, Finances, 3 ff., 67 ff., 92 ff. 38 F. L. Ford, Robe and Sword. The Regrouping of the French Aristocracy after Louis XIV, C ambridge/Mass. 1953; Gruder, 189. 39 F. Bluche, Les Magistrats de la C our des Monnaies de Paris au XVIIIe Siècle 1715—1780, Paris 1966, 22, 24. 40 Gruder, 52 ff. 41 Ebd., 71. 42 Ebd., 94. 43 Mousnier u. a., 331; vgl. ebd., 43 ff. 44 Rosenberg, 17. 45 Mandrou, 220. 46 Bosher, Administration; ders., Finances. 47 Bosher, Finances, 313, Anm. 1. 48 Strayer, 48 f. 49 B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer u. Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt 1969, 487. 50 Ebd., 499 ff.: vgl. Rosenberg, 202 ff. 51 Moore, 87, 138 f. 52 Ebd., 490. 53 Vgl. N. Richardson, The French Prefectoral C orps 1814—1830, C ambridge 1966.

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6. The Rise of the Prussian Ministry, 1806-1827 By WILLERD R. FANN

During the Reform Period following 1806, the bureaucracy emerged as the most important political force in Prussia. The bureaucracy successfully carried out a limited “ revolution from above“ , as a result of which the personal absolutism of the monarch was restricted and replaced by a modernized “ bureaucratic absolutism“ 1. Although bureaucratic absolutism involved a subtle balance of power among various social and political forces, it was especially the ministry that came to constitute the political center of gravity in the post­ reform Prussian system. The ministry was for all practical purposes a creation of the Stein-Harden­ berg reforms. Although a “ ministry“ had existed during the 18th C entury, it had been merely a nominal group, lacking both collegial solidarity and deci­ sion-making authority. 18th C entury Prussian administration had been char­ acterized by a chaotic mixture of provincial and functional departments de­ liberately designed to insure that only the king had a purview of the adminis­ tration. In addition, by employing a group of personal secretaries, the royal “ cabinet“ , the Prussian kings had attempted to retain the separate threads of the administration in their own hands and to keep the regular ministers at a distance, as mere tools who had no say in decision-making2. This system had operated effectively under Frederick IL, but under his feeble successors, espe­ cially Frederick William III. after 1797, the irresponsible cabinet councillors had risen in importance and had come to interfere in decision-making and the functioning of the regular executive departments. Such practices contributed to a further Splintering of the administration and the disaster of 18063. The intrusion of the cabinet into the sphere of ministerial competence was bound to cause friction at a time when the bureaucracy as a social and pro­ fessional elite was gaining in corporate solidarity and self-esteem. It is, then, not surprising that the abolition of the royal cabinet and the creation of really responsible, rationallyorganized ministries were primary objectives of Stein and the other reforming bureaucrats who reconstructed the Prussian state after 1806. Stein swept away the cabinet and replaced the old provincial depart­ ments with functional departments headed by responsible ministers. The end of the cabinet meant in substance, if not in theory, the end of personal absolut­ ism in Prussia. It did not, however, necessarily mean a mere transfer of tra­ ditional autocratic power to the ministers. Stein, at least, was not disposed to

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place unlimited power in the hands of the ministers. As outlined in his “ organi­ zation coincided with his fall from power. At the insistence of the ministers, Prussia was to be a collegial council of state which would include not only the ministers, but also various other high officials, the royal princes, elder states­ men, and other suitable appointees. Decision-making was to be the function of the council of state, not of the ministry. The ministers were to serve as executants of the will of the council of state4. Stein s plans were never carried out, since this administrative reorgani­ zational edict“ of November 24, 1808, the supreme administrative organ in the crucial part of the organizational edict, the creation of the council of state, was eliminated in the published form of the edict (December 16, 1808)5. This omission, as well as the indefinite postponement of Stein's constitutional plans, was to have momentous consequences for the future. The immediate consequence was to leave the ministry as scarcely more than a nominal group, without organic unity. In the so-called Dohna-Altenstein ministry, which followed Stein's departure, the departments functioned in­ dependently of one another, although the ministers soon came to constitute an informal council. There was, however, no prime minister; the ministers dealt with one another on a basis of equality. From the Standpoint of the individual ministers this was, in some respects, an ideal Situation; but it quickly became obvious that such a loosely organized body was not fitted to cope with the desperate problems faced by Prussia in 1809 and 1810. The failures of the Dohna-Altenstein ministry led to the creation of the chancellorship and Har­ denberg's appointment as chancellor in 1810. Hardenberg put an end to the administrative independence of the ministers. He possessed far-reaching author­ ity which he utilized to keep the ministers subservient to his will. Ironically, however, by imparting an organic unity to the ministry, it was Hardenberg who was to be chiefly responsible for converting that body into a formidable ministerial council which eventually made the chancellorship unnecessary6. Α tentative step in the direction of a more unified ministry was made in 1814 by an order requiring the ministers to hold regular meetings7. The great milestone in the Organization of the ministry, however, was paragraph VIII of the cabinet order of November 3, 1817. By this order, each minister was obligated to report periodically to the ministerial council on the general con­ dition of his department. In addition, certain speeified matters were required to be discussed in plenum. The ministry was to meet at least once a weck, or more often if necessary8. Until 1918, the order of November 3, 1817, remained the basis of the ministry's constitution. The significance of this act lies in its establishment of a formal structure and a well-defined mode of procedure for a unified ministry. As long as Hardenberg was alive the practical center of gravity in Prussian government lay in the chancellor's office, not in the weekly conferences of the ministers; but the tightening of collegial solidarity in the ministry meant that its potential power was enormously expanded. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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The reform of the ministry was a response to criticism that the ministry lacked unity and was too inefficient. The order of November 3, 1817, did not silence all such criticism, but after 1817 criticism increasingly came to be directed against the chancellor as the source of the ministry's ills. By 1819 Hardenberg had, to some extent, alienated most of the ministers9. After Wil­ helm v. Humboldt joined the ministry in that year, the chancellor found him­ self confronted by a formidable Opposition. The increased solidarity of the ministry since 1817 made Opposition from that quarter potentially dangerous. From the Standpoint of Prussian administrative history, the so-called “ con­ stitutional conflict“ of 1819 can be regarded as an intra-bureaucratic conflict over the role of the chancellor. The chief issues were the chancellor's relation­ ship to the ministry and, particularly, the question of Immediatrecht (the right of private access to the king)10. As chancellor, Hardenberg controlled both written and oral communication between the ministers and the king. Through his personal ascendency over the slow-witted Frederick William III., Hardenberg could almost always secure royal approval for his policies, even though they might conflict with the wishes of the ministers. Technically the chancellor was the presiding officer of the ministry; in practice, he stood between the ministry and the monarch11. In 1819 Humboldt led the ministers in an assault on Hardenberg's position as a mediate level between the ministry and the king. The ministers asserted that the chancellor should be, at most, no more than primus inter pares. In some of Humboldt's statements, which unquestionably reflect the views of his colleagues, one can recognize the further implication that there was no real necessity for a chancellor12. In 1819 Hardenberg was still strong enough to crush the opposition. Humboldt and his closest supporters, Beyme and Boyen, were dismissed from the ministry. This proved to be a Pyrrhic victory, how­ ever, since the discharged ministers had stood closest to Hardenberg on the constitutional question. Henceforth his reform program faced stiftening re­ sistance both in the court and the ministry. The king was tired of his eternai innovations; the ministers became bold enough to disobey his orders. When Hardenberg died in 1822, the chancellorship, in effect, died with him. Efforts to continue the chancellorship were abortive; even the title was abol­ ished. The chancellorship had been a widely recognized necessity during the critical years following 1810. By 1822, however, after the restoration of peace­ ful times and the reconstruction of the administration, the chancellorship seemed unnecessary, especially in the eyes of the newly emancipatcd ministers. Thus strict hierarchical unity at the top level of the administration was sacri­ ficed for the maximum independence of the individual ministers within the framework of a unified ministerial council. This Situation favored the ministers in their dealings with the king. After Hardenberg died, Frederick William III. was at the mercy of his bureaucratic experts. As put by one of the ministers: “ We know the king's opinions thoroughly, and we can always compose our reports so that we are certam of their approval.“ 13 Technically, of course, the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ministers remained merely royal servants, subject at all times to the king's will and liable to dismissal at his whim. In reality, however, given the king's per­ sonality and talents, there was little danger that he would undertake sustained meddling in public affairs or that he would arbitrarily dismiss a minister. In the eyes of critics, it seemed at times as if the king had been reduced by his ministers to no more than a “ symbol of sovereignty“ 14. It was only during the 1820's that the ministry assumed its final shape. It constituted a supreme governing council within the framework of a theoretical royal absolutism. There were occasional jurisdictional disputes among the ministers, but they did not disrupt the basic stability of the ministry. More significant than jurisdictional disputes, was the absence of efforts on the part of one minister to dominate the others. The ministry never became a truly collegial body. The individual ministers always retained sole responsibility for their departments. They stood on a plane of equality with one another, and the ministry as a unit exercised no disciplinary power over its members. Although the order of November 3, 1817, required many matters to be dis­ cussed in plenum, only in certain cases was the majority opinion of the ministry binding on its individual members. This semi-collegial nature of the ministry was fully to the taste of the ministerial bureaucrats. It provided sufficient solidarity to enable them to present a united front to external threats; but internally, it left the ministers as virtually untrammeled dictators of their respective departments. Most departments were divided into two or more sections, each headed by a so-called Direktor (section chief). In the early days of the reforms, Stein had envisioned the departments as semi-collegial bodies in which the section chiefs would occupy a relatively independent position vis-à-vis their ministers. Stein had also intended to grant the section chiefs automatic membership in the council of state, where they would, in a sense, have acted as superiors to the ministers. The suppression of the proposed council of state in 1808 had been partly motivated by the ministers' fear that such an arrangement would under­ mine Subordination in their departments. The validity of this fear had been later demonstrated during the Dohna-Altenstein ministry. The young, energetic section chiefs had formed a bloc which agitated for the fulfillment of Stein's plans, especially the creation of a council of state. It was partly as a result of this so-called “ revolt of the section chiefs“ that Hardenberg had come to power in 181015. By the 1820's, however, the same process of development in the ministry which had led to the elimination of the chancellorship in favor of a powerful ministerial council, also led to more effective Subordination of the section chiefs. During the 1820's there were no instances of open resistance to the ministers on the part of the section chiefs. The exclusive responsibility of the ministers for the conduct of their offices was clearly recognized16. In general, the 1820's displayed a gradual intensification of ministerial control over the rank and file of the bureaucracy and over other administrative organs. The © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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only serious challenges to the supremacy of the ministry came from the provincial administration and from the council of state, which had been finally created by Hardenberg in 1817. Within the provincial administration it was especially the provincial pres­ idents (Ober-Präsidenten) who constituted a threat to ministerial power. The provincial presidencies, like the ministry itself, were creations of the reforms17. The provincial presidents were designated as “ permanent commissars“ of the ministry in the provinces. Their sphere of competence was vaguely defined. They were intended primarily to supervise and coordinate the activities of the several Regierungen (provincial administrative colleges) within each province. They were not intended, however, to serve as a “ mediate level“ between the ministry and the Regierungen, which in most matters remained directly sub­ ordinate to the ministry18. Despite this unclear sphere of activity (or perhaps because of it), an energetic and capable provincial president, such as Schön in Prussia (province), Vincke in Westphalia, or Merckel in Silesia, could develop considerable power and influence in his province. Furthermore, the provincial presidents displayed a tendency to regard themselves as defenders of provincial peculiarities, or even as “ representatives“ of their provinces vis-à-vis the minis­ try19. At the time when Hardenberg's controversy with the ministers was coming to a head in 1817—1819, an agitation began among the provincial organs for greater independence from the ministry. Suggestions came from the provinces that the ministers confine themselves to the formulation of administrative norms and the exercise of general supervision over the provinces. After 1820, however, these moderate claims were transformed into a widespread demand for the establishment of provincial ministnes, with presumably at least some of the provincial presidencies being elevated to the Status of ministries, and with a corresponding reduction in the number of functional ministries20. There was not much chance in the 1820's for the creation of provincial minis­ tries or for greater independence for the provincial administration. The obvi­ ous objection to such proposals was that they would disrupt administrative unity and would represent a partial return to the pre-1806 Situation. More important, this was the time when the ministry was winning its final triumph over the chancellorship. Even while the provincial presidents were demanding greater freedom, a counter-movcment in the ministry aimed at greater control over the provincial administration. Suggestions were made either to reduce the number of the provincial presidents or to eliminate them altogether. The latter course seemed especially attractive to some of the ministers after 1823 when the possibility loomed of an alliance between the provincial presidents and the newly formed provincial estates21. The result of these contradictory pressures was a reform of the provincial administration embodied in the two cabinet orders of December 31, 1825, which regulated the provincial presidencies and the Regierungen22. Superficially a slight concession was made to the provincial presidents in that they were given somewhat greater authority over the Regie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rungen in their provinces; but they still did not function as monocratic heads of the provinces. Whatever gams were made by the provincial presidents were counterbalanced by the reorganization of the Regierungen. In this case the previously collegial Organization of the Regierungen was drastically altered in a monocratic direction. The presidents of the Regierungen were assigned primary responsibility for decision-making in these bodies. Before this time it had often been argued that the collegial nature of the Regierungen provided “ guarantees“ of objectivity and a cushion against arbitrary interference from Berlin23. After 1825 that was hardly to be considered; the president of a Re­ gierung who evaded or disobeyed orders from the ministry could no longer hide behind the excuse that he had been “ overruled“ by his subordinates. In general, one can say that the cabinet orders of 1825, by tightening up the hierarchy and making it easier to fix accountability, had the effect of con­ verting the provincial administrative organs into more pliable tools of the ministry. As Schön admitted, the Regierungen after 1825 were solidly under ministerial control24. During the 1820's a second and ultimately more successful challenge to the supremacy of the ministry came from the council of state. As established in 1817, the council of state was a pale reflection of the council of state that Stein had planned in 1808. It was not superordinate to the ministry, and it was given only an advisory voice in law-making. As finally constituted, the council of state was not even the body that Hardenberg had originally envisioned. He had intended the council of state as the “ capstone“ of the administration; it was to have some supervisory authority over the ministry. Presumably, with Hardenberg himself as president, the council of state would have served as a device to reinforce the chancellor's control over the ministry. In practice, the council of state came into being only after bitter resistance from the ministry. It was a sign of the growing solidarity of the ministry in 1817 that the chancellor was forced to make extensive concessions to the minis­ ters on this issue. The Instruction which established the council of state, with one exception, embodied all the changes demanded by the ministers and elim­ inated any appearance that the council of state was a supra-ministerial orean25. Even with its limited functions, the council of state aroused hostility and suspicion among the ministers. The first meeting of the council of state seemed to confirm their suspicions, since the provincial presidents (who were members) turned the council of state into a forum for criticism of the ministry. Hardenberg, too, quickly became disillusioned with the council of state when it showed signs of becoming a center of opposition to his policies. Instead of expanding his power, Hardenberg found that he had created another querulous body to be dealt with alongside the ministry. In his last years, Hardenberg and the ministers shared at least one common interest: they both aimed to limit the influence of the council of state. Although the chancellor was the president of the council of state, he soon installed Alten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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stein (chief of the Kultusministerium), a known foe of the council of state, as his permanent Substitute. Altenstein continued to preside over the council of state after Hardenberg died and the chancellorship disappeared. Thus the council of state was left as an unwanted stepchild of the ministry. It was pointedly ignored by the ministers and apparently doomed to death by atrophy. Not until 1825, and the appointment of Duke C arl of Mecklenburg as Pres­ ident, did the council of state again show signs of life. Duke C arl was ener­ getic and ambitious. He attempted not only to implement the advisory func­ tions of the council of state, but even to extend its influence to internal affairs of the ministry. For two years he waged a stubborn battle with the ministry in an effort to expand the role of the council of state. The outcome of this struggle was the compromise of 1827. Duke C arl's efforts to extend his influence into the ministry were repelled, but the right of the council of state to be consulted in law-making was conceded by the ministers. After 1827 the council of state emerged as an essential adjunct to the ministry within the administration. Its participation in law-making steadily expanded, and in no case was a law adopted over its objections26. In some respects, of course, this was a setback for the ministry; but in the long run the nexus forgcd between the ministry and the council of state served to strengthen the ministry. The role of the council of state was essentially passive, but the existence of this “ parliament of bureaucrats“ reinforced the conviction among Prussian bureaucrats that Prussia needed no real parliament or constitution27. In the absence of a parliament (or a strong ruler), the minis­ try served not only as the supreme executive, but also as the supreme legislative body in Prussia. Most important law-making was embodied in formal laws which originated in the ministry. After the drafts had been discussed in the ministry and considered by the council of state, they were submitted to the king for his approval and returned to the ministry for countersignature. The practice of countersignature symbolized the altered relationship between the king and his ministers. Although there was no formal provision for counter­ signature, it was generally accepted that countersignature of “ royal“ acts by the appropriate minister or ministers was a prerequisite of ministerial responsi­ bility28. “ Responsibility“ , of course, is used above in the narrow bureaucratic sense. To the end, the Prussian ministry remained a collection of royal appointees, usually professional bureaucrats. Even after the introduction of a constitution in 1848, the ministry continued to be responsible solely to the monarch. The sharp Separation of administrative and parliamentary responsibility in con­ stitutional Prussia was a legacy of the period of bureaucratic absolutism29. The 1820's, 1830's, and 1840's were the great days of the Prussian bureau­ cracy, and especially of the Prussian ministry. As the effective leaders of a well-disciplined sitting army of bureaucrats, the ministers' power was limited only by their personal standing with the king or influential courtiers, and by © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the necessity of conciliating such groups as the landed aristocracy and the officers' corps. Once having attained practical political dormnance, the bureau­ crats of the Prussian ministry saw little reason to alter the existing system. “ Reform“ , after Hardenberg's final failures, tended to become synonymous with perfection of the administrative machinery. In the early days of the reforms the reformers had looked on the recon­ struction of the administrative machinery as a means to prepare the w a y for the creation of a constitutional system. By the 1820's, however, the adminis­ trative machinery had become an end in itself, and the “ primitive constitution­ alism“ 50 established by the compromise of 1827 between the ministry and the council of state seemed to obviate the need for further Implementation of the royal “ constitutional promise“ of 1815. During the “ Pre-March“ era of the 1840's, when a renewed controversy arose over Implementation of the “ con­ stitutional promise“ , both conservative and liberal advocates of constitutional reform looked on the bureaucratic hierarchy, not the monarch, as the principal obstacle to real constitutional government. As summed up by the renegade bureaucrat, Karl Heinzen: “ This is no quarrel with the sovereign; this battle is with the ministers.“31 Notes 1 For the period of bureaucratic absolutism: W. R. Fann, The C onsolidauon of Bureaucratic Absolutism in Prussia, 1817—1827, Diss., University of C alifornia, Berke­ ley, 1965; R. Koselleck, Preussen zwischen Reform u. Revolution (Stuttgart, 1967); F. Hartung, Studien zur Geschichte der preussischen Verwaltung, in: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit (Berlin, 1961), 223—75. 2 On the Prussian bureaucracy in the 18th C entury: H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy, and Autocracy. The Prussian Experience, 1660—1815 (C ambridge Mass., 1958); W. Dorn, The Prussian Bureaucracy in the Eighteenth C entury, Political Sci­ ence Quarterly, XLVI. 1931, 403—23; XLVII. 1932, 75—94, 259—73; Hartung, 178—223. 3 On the problems of the bureaucracy between 1786 and 1806: O. Hintze, Preussi­ sche Reformbestrebungen vor 1806, in: id., Regierung u. Verwaltung, Ges. Abhand­ lungen III, (Göttingen, 1967), 504—29; H. Hüffer, Die Kabinettsregierung in Preussen u. Johann W. Lombard (Leipzig, 1891); id., Die Beamten des älteren preussischen Ka­ binetts von 1713—1808, Forschungen zur Brandenburgischen u. Preussischen Geschichte V. 1892, 157—90; M. Lehmann, Freiherr vom Stein (Leipzig, 1902/05), I; M. Philippson, Geschichte des preussischen Staatswesens vom Tode Friedrich d. Gr. bis zu den Freiheitskriegen (Leipzig, 1880—82); G. Ritter, Stein, (Stuttgart, 19582), 121—62; see the remarks of M. Weber on the significance of the cabinet in From Max Weber, Essays in Sociology, H. Gerth and C . Wright Mills cds., (Ν. Y., 1946), 236—37. 4 On Stein's reorganization of the administrauon: C. Bornhak, Die Entstehung der preußischen Ministerien, Forschungen zur Brandenburgischen u. Preussischen Geschich­ te LII. 1940, 52—65; W. Hubatsch, ed., Freiherr vom Stein, Briefe u. amtlichen Schrif­ ten (Stuttgart, 1957), II; Lehmann, II, 369—446; Ritter, 238—50; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Stuttgart, 1957), I, 95—161. 5 Edict of December 16, 1808. W. Altmann, ed., Ausgewählte Urkunden zur bran­ denburgisch-preussischen Verfassungs- u. Verwaltungsgeschichte (2nd ed, Berlin, 1915), II:1, 65—75.

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6 On Hardenberg and the chancellorship: P. Haake, König Friedrich Wilhelm III., Hardenberg u. die preussische Verfassungsfrage, Forschungen zur Brandenburgischen u. Preussischen Geschichte XXVI. 1913, 523—73; XXVIII. 1915, 175—220; XXIX. 1916, 305—69; XXX. 1917, 317—65; XXXII. 1919, 109—80; H. Hausherr, Die Stunde Hardenbergs (Hamburg, 1943); L. v. Ranke, ed., Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten v. Hardenberg, (Leipzig, 1877). 7 Order of June 3, 1814. Altmann, II:1, 147—50. 8 Order of November 3, 1817. Wegen der Geschäftsführung bei der Oberbehörde in Berlin, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preussischen Staaten (Berlin, 1817), 289—92. On the ministry in general: W. Frauendienst, Das preussische Staatsministe­ rium in vorkonstitutioneller Zeit. Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft CXVI. 1960, 104—77; O. Hintze, Das preussische Staatsministerium im 19. Jahrhun­ dert, in: Regierung, 530—619; E. Klein, Funktion u. Bedeutung des preussischen Staats­ ministeriums, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- u. Ostdeutschlands, IX/X. 1961, 195—261. 9 Schuckmann (interior) and Bülow (trade), formerly Hardenberg's most reliable creatures, had been punished by demotion in 1817 for showing too much indepen­ dence and had turned against him. Wittgenstein (police) and Lottum (Schatzamt) were like-minded in opposing further reform. Beyme (Gesetzgebung) and Boyen (war) gra­ vitated toward Hardenberg's principal enemy, Humboldt. Only Klewitz (finance) and Bernstorff (foreign affairs) were at all reliable. 10 On the conflict of 1817—1819: B. Gebhardt, W. v. Humboldt als Staatsmann (Stuttgart, 1896—99), II; id. W. v. Humboldts Politische Denkschriften (Berlin, 1903); Haake; S. Kaehler, W. v. Humboldt u. der Staat (Göttingen, 19632), 280—432; W. Richter, ed., W. v. Humboldts Politische Briefe (Berlin, 1935—36), II; W. Simon, The Failure of the Prussian Reform Movement, 1807—1819 (Ithaca, 1955, Ν. Y., 19712); A. Sydow, ed., W. u. C. v. Humboldt in ihren Briefen (Berlin, 1906—16), VI. 11 Humboldt, even before he joined the ministry, was well aware of the significance of Immediatrecht: “ I cannot become a minister if I do not have the right to report privately and directly to the king on all matters which concern me. This means, how­ ever, that the power of the chancellor would not merely be undermined, but rather destroyed.“ Humboldt to Caroline, December 21, 1818, in: Sydow, VI, 413. 12 Eg, Humboldt to Nicolovius, June 18, 1816: “ A chancellor can be only a tran­ sitory thing with us. . . . We must have a [real] ministry, a well-organized ministry, a united [ministry], and one in which each member stands as close to the king as the others.“ Richter, II, 135. 13 Α remark of Finance Minister v. Alvensleben. H. v. Trckschke, Deutsche G e­ schichte im 19. Jahrhundert (5th ed., Leipzig, 1894/95), V, 14. 11 E. v. Bülow-C ummerow, Preussen, seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Ver­ hältnis zu Deutschland (3rd ed., Berlin, 1842) 187—88. 15 On the section chiefs: Kaehler, 211—49; H. Schneider, Der Preussische Staatsrat (München, 1952), 15—22; Hintze, Staatsministerium, 577—81; Fann, 179—82. 19 As early as 1817 the terminology of the Rank Regulation reflected the altered circumstances of the section chiefs. Hitherto they had been uniformly entitled Ge­ heime Staatsräte, but now they were differentiated as Geheime Regierungsräte (minis­ try of interior), Geheime Finanzräte (ministry of finance), Geheime Kriegsräte (war ministry), etc. In name and theory, if not always in reality, the section chiefs had been reduced to obedient specialists, strictly subordinate to their superiors. See: Ver­ ordnung wegen der C ivilbeamten Beizulegenden Amtstitel und der Rang-Ordnung der verschiedenen Klassen derselben, February 7, 1817, Gesetz-Sammlung 1817, 61—67; cf. Hintze, Staatsministerium, 580—81. 17 The office of provincial president dated back to 1808, but it was not definitively established until 1815. Order of April 30, 1815, Altmann, II:1, 154.

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On the Oberpräsidenten: Hartung, 275—308; Koselleck, 219—37. C f. C . Dieterici, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preussen von 1810 bis 1820 (Berlin, 1875), 241; W. Dorow, Erlebtes aus den Jahren 1790—1827 (Leipzig, 1843—45), IV, 293; T. v. Schon, Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg (Halle, 1875—83), VI, 363; F. Rühl, ed., Briefe u. Aktenstücke zur Ge­ schichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III. (Leipzig, 1899—1902), I, 398. 20 C f. Vincke's proposals, “ Über Sach- u. Provinzialminister u. Ober-Präsidenten“ , November 13, 1821, in: Dorow, IV, 285—293. Vincke suggested the creation of four provincial (really regional) ministries. The remaining portfolios, finance, justice, war, and foreign affairs, would remain in the hands of functional ministers. Schön pro­ posed as many as eignt provincial ministries and six functional ministries. See Geb­ hardt, Denkschriften, III, 492—514. 21 C onservative aristocratic proponents of a return to some sort of ständische con­ stitution, such as v. d. Marwitz, could see in provincial ministries a chance to transfer the loci of power from Berlin to the provinces and to weaken “ the purely demagogic“ central administration. In his contribution to the controversy, v. d. Marwitz proposed to locate the provincial ministries physically in the provinces and to staff them with established local residents in place of the “ rootless eggheads“ who manned the bureau­ cratic apparatus. See v. d. Marwitz, Über eine Neu-Organisation der Verwaltung, 1823, in: F. Meusel, ed., F. A. L. v. d. Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeit­ alter der Befreiungskriege (Berlin, 1908/13), II:2, 286—92. Although the ministry of the 1820's is often described as “ conservative“ , in reality the unitary, centralized state that was symbolized by the ministry was more in accordance with nineteenth C en­ tury liberal principles than was the localism espoused by such “ liberals“ as Schön in this case. It is no coincidence that the principal liberal in the ministry during the 1820's, Finance Minister v. Motz, was also the principal defender of monocratic ministerial control of the provincial organs. Cf. Koselleck, 250, 259—60. 22 Altmann, II:1, 277—81: Gesetz-Sammlung 1826, 5—12. 23 For instance in 1810 the historian K. Woltmann detected a “ republican constitu­ tion“ in the newly formed Regierungen: Geist der neuen Preussischen Staatsorganisa­ tion (Leipzig, 1810), 93. 24 Schön, III, 80. 25 Order of March 20, 1817. Altmann, II:1, 176—81. The exception was the rejec­ tion of the demand that members of the council of state, which included the ministers, have immediate access to the king. This was, of course, an effort to circumvent Har­ denberg's exclusive Immediatrecht. C f. P. Haake, Die Errichtung des preussischen Staatsrats im März, 1817, Forschungen zur Brandenburgischen u. Preussischen Ge­ schichte, XXVIII. 1914, 250. One might raise the question here of why Hardenberg, who was unable to enforce his will in 1817, could break an apparently more formi­ dable Opposition two years later. The answer lies in the different circumstances of 1817 and 1819. In 1817 the issue was one of institutional loyalty, and the ministers stood together to defend the existing administrative pattern against degrading inno­ vations. In 1819, although the ministers were still united in opposition to the chancel­ lor's domination of the ministry, they were ideologically divided over the question of whether or not to adopt the Karlsbad Decrees. This was a case where the reces­ sive power of the royal office came into play. The majority of the ministers, what­ ever their personal feelings, realized that adoption of the Karlsbad Decrees was not Hardenberg'spolicy, but the king's policy, and could not be altered. Thus Humboldt, Beyme, and Boyen found themselves isolated on this issue and vulnerable to the chancellor's counterattack. In this case, too, Hardenberg was willing to invoke sanc­ tions, namely the dismissal of the offending ministers, that he had been unwilling to employ in 1817. 18

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26 On the council of state: Haake, Errichtung 247—65; and the definitive work of Schneider. 27 On the Prussian bureaucracy and constitutionalism: H. O. Meisner, Die monar­ chische Regierungsform in Brandenburg-Preussen, in: Fs. für F. Harting (Berlin 1958), 219—45; Schneider, esp. 84, 117—18, 122—23; and the writings of contemporary bureaucrats, for instance [M. C unow], Preussen den constitutionellen Staaten Deutsch­ lands gegenüber oder: Bedarf Preussen einer C onstitution? (Breslau, 1835); E. Gans, ed., Beiträge zur Revision der preussischen Gesetzgebung (Berlin, 1830—32); [K. Streck­ fuss], Über die Garantien der preussischen Zustände, Allgemeine Zeitung (Augsburg, 1838), 2717—18, 2727—29, 2736—38, 2743—44, 2751—52, 2759—60, 2768—69; G. Wehnert, Die Politik des C ivil-Staatsdienstes (Potsdam, 1836); id., Über den Geist der preussischen Staatsorganisation u. Staatsdienerschaft (Potsdam, 1833). 28 See K. v. Malchus, Politik der inneren Staatsverwaltung, oder Darstellung des Organismus der Behörden für dieselbe )Heidelberg, 1823), I, 47—48. 29 On this point see especially Hintze, Staatsmmisterium, 596—97; O. v. Manteuffel, Unter Friedrich Wilhelm IV., H. v. Poschinger ed. (Berlin, 1901), III, 104. 30 Meisner, 238. 31 K. Heinzen, Die preußische Bureaukratie (Darmstadt, 1845), 53.

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7. Die Rolle der Bergbaubürokratie beim industriellen Ausbau des Ruhrgebiets 1815-1848 Von FRIEDRIC H ZUNKEL

Es ist längst zu einem Allgemeinplatz geworden, daß die Industrialisierung in Deutschland, verstanden nicht nur als eine technisch-Ökonomische Verände­ rung des Produktionsprozesses mit der Konsequenz eines gesteigerten wirt­ schaftlichen Wachstums, sondern als ein umfassender Wandlungsprozeß der technisch-ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem in ihrer Frühphase durch den modernen Staat wesentlich beeinflußt und bestimmt worden ist. Seine Einwirkungen auf Pro­ duktionsprozeß und Sozialordnung, sei es als Gesetzgeber, Administrator, Un­ ternehmer oder Konsument, haben bisher eine Vielzahl von Darstellungen gefunden1. In der Forschung umstritten ist allerdings die Frage geblieben, wie seine Einflußnahme auf den Industrialisierungsprozeß zu bewerten ist. Be­ sonders im Hinblick auf Preußen und seine vorwiegend wirtschaftsliberale Beamtenschaft ist sie zumeist positiv beantwortet worden2. Doch fehlt es auch nicht an kritischen Stimmen, die vor allem einzelnen Bereichen wirtschaftlicher Staatstätigkeit gelten3. Jede Bewertung der Rolle des Staates während der Industrialisierung bedarf daher der umfassenden und differenzierenden Analy­ se, die alle Bereiche des Wirtschaftslebens und der auf sie bezogenen Staats­ tätigkeit einbezieht und ebenso wie die den Industrialisierungsprozeß fördern­ den auch die ihn hemmenden Momente berücksichtigt4. Als ein begrenzter Beitrag dazu versteht sich die folgende Untersuchung, die sich mit der in ihrer Bewertung ebenfalls umstrittenen staatlichen Bergbaupolitik im Ruhr­ gebiet befaßt5. Unter dem Aspekt staatlicher Industrieförderung stehen Ideo­ logie und Verwaltungspraxis der Bergbaubürokratie im Mittelpunkt der Frage­ stellung, deren Ergebnisse ein Überwiegen der retardierenden Momente erkennen lassen. Für den Zeitraum von 1815 bis 1848 — so scheint mir — sind die quantitativen wie die qualitativen Antriebe industrieller Entwicklung6 in dieser wichtigen Grundstoffindustrie weit eher anderen Faktoren als dem Staat zu­ zuschreiben. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Ruhrbergbaus in der Phase der Frühindustrialisierung stellte seine eigentümliche Rechtsordnung dar, die auf die sächsischen Bergordnungen des 16. Jahrhunderts zurückging7. Nach ihrem Vorbild kam es an der Ruhr zur Ausbildung einer Bergbauverfas-

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sung, die zwischen den üblicheren Rechtsformen des nach Besitz und Führung reinen Staatsbergbaus und der Beschränkung der staatlichen Hoheitsrechte auf das Steuer- und Aufsichtsrecht eine Mittelstellung innehatte. Durch das sog. Direktionsprinzip nahm der das Bergregal besitzende Staat die technische und ökonomische Leitung des den Untertanen verliehenen Bergeigentums in eigene Regie8. Den Bergwerkseigentümern blieb nur die Funktion, „Geld zu geben oder zu nehmen“ 9. Diese eigentümliche Bergbauverfassung war wegen Mißwirtschaft und Raubbau im privaten Bergbau und unter dem Einfluß der merkantilistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik des absolutistischen Staa­ tes mit der Revidierten C leve-Märkischen Bergordnung von 176610 und einer Reihe weiterer staatlicher Rechtsakte, deren letzte der Freiherr vom Stein als Leiter der westfälischen Bergämter veranlaßte11, eingeführt worden. Dane­ ben hatte sie auch im Bergrecht des Allgemeinen Landrechts Aufnahme gefun­ den, das auf Anregung des C hefs des Bergwerks-Departements, Minister v. Heinitz, vom März 1788 als allgemeines preußisches Bergrecht vorgesehen war, im Publikationspatent vom 5. 2. 1794 jedoch gegenüber den Provinzial­ Bergordnungen nur subsidiäre Bedeutung erhielt12. Entsprach dieses die Eigentümer reglementierende und bevormundende Sy­ stem staatlicher Bergbauverwaltung den wirtschafts- und finanzpolitischen Zwecken des absolutistischen Staates, so trug es andererseits doch auch Elemente der Spannung in sich, die nach dem Zusammenbruch des friderizianischen Staates immer stärker hervortraten. Je weiter der Prozeß der Aufklärung und Liberalisierung voranschritt, je stärker die Gruppe selbstbewußter Berg­ werksbesitzer wurde, die die Selbstbestimmung über ihr Eigentum beanspruch­ te, umso umstrittener mußte eine Bergbauverwaltung werden, die über die Wahrung des Allgemeinwohls und des staatlichen Steuerrechts hinaus in die privaten Eigentumsrechte eingriff. Das wurde auch in der preußischen Verwaltung erkannt13. So stieß schon die Aufnahme des Direktionsprinzips der Revidierten C leve-Märkischen Berg­ ordnung in das Allgemeine Landrecht auf den Widerspruch des Geheimen Justiz- und Kammergerichtsrats und späteren Präsidenten des Geheimen Ober­ tribunals v. Grolmann. Aufsicht sei gut, Direktion aber tauge nichts, weil sie jeden „geschickten Entrepreneur“ abschrecke, zu „ewigen Plackereien und C hi­ canen der Bedienten“ Anlaß gebe und nicht den geringsten Nutzen bringe14. Noch einen Schritt weiter ging das Reformbeamtentum der preußischen Re­ formzeit, für das sich die Wirtschaftsfragen mit den Reformen zur Schaffung einer neuen Staatsbürgergeseilschaft verbanden. Diese politische und soziale Zielsetzung bedingte für den Bereich der Wirtschaft — negativ formuliert — die Aufhebung der rechtlich fixierten ökonomischen und sozialen Schranken des alten Ständestaates — positiv gewendet —, die Schaffung eines selbständi­ gen, selbstbewußten und verantwortungsfähigen Wirtschaftsbürgertums als tra­ gender Schicht für den geplanten Neubau von Staat und Gesellschaft15. Beidem sollten die wirtschaftlichen und sozialen Reformmaßnahmen der Jahre 1807 bis 1821 dienen, die sich ebenso in einzelnen Gesetzen wie in der admini9*

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strativen Tätigkeit der Behörden niederschlugen. Wesentlichste Bedeutung für die industrielle Entwicklung gewann einmal die Einführung der Gewerbe­ freiheit 1810/11, die sich als notwendiges Korrelat zur Erhebung einer aus der finanziellen Notlage Preußens erwachsenen „Patentsteuer“ von den Ge­ werben erwies18. Zum andern gingen wesentliche Antriebe von den vielgestalti­ gen Maßnahmen behördlicher Gewerbeförderung wie etwa dem Ausbau des technischen Erziehungswesens, der Unterstützung des technischen Fortschritts, den Hilfen zur Kapitalbildung und den Maßnahmen zur Ausweitung des Binnenmarktes aus17. Eine entsprechende Liberalisierung strebte zumindest ein Teil der Re­ former auch für den Bereich des Bergbaus an. In den Rigaer Denkschrif­ ten vertraten Altenstein und der von ihm beeinflußte Hardenberg auch für ihn den Grundsatz der „freien Benutzung des Eigentums und der Gewerbe“ . Ihm sollte der bisher die Bergbauverwaltung beherrschende fiskali­ sche Aspekt nachgeordnet werden. Die Revenüen, so hieß es bei Altenstein, „würden auch bei mehrerer Industrie als Folge größerer Freiheit, gewinnen“ . Als Korrelat zur gewährten Freiheit fielen nach seiner Überzeugung dem königlichen Bergbau die Funktionen des Beratens und Beispielgebens bei der Verwaltung der staatlichen Gruben zu18. Neben diesen programmatischen Äußerungen liegt aus der Reformzeit auch eine Willensbekundung des Königs vor, die angesichts der Gebietsverluste im Westen zunächst auf den Bergbau der preußischen Kernlande zugeschnitten war. In einer Kabinettsordre vom 15. April 1809 betonte er, daß er „die Privatindustrie in Absicht des Betriebes eigentümlicher Gruben nicht ferner wie bisher beschränkt wissen“ wolle, ebenso wie auch staatliche Anlagen nur noch unter ganz besonderen Umständen, „so der Vorteil des Ganzen ihre einzige Bedeutung ist“ , unternommen werden sollten. Staatswerke, „welche ebenso gut oder besser von Privatunternehmen betrieben werden können oder welche mit vorzüglichem Risiko und Detail­ arbeit verknüpft sind“ , empfahl er bei „annehmlicher Gelegenheit“ zu veräu­ ßern19. Daß diese liberalen Überzeugungen von reformerischen Kräften in der Staatsverwaltung auch weiterhin vertreten wurden, zeigen neuerdings die Forschungen von Konrad Fuchs für Oberschlesien, der aufgrund einer Eingabe des Grafen Lazarus von 1822 zu der Überzeugung kommt, daß damals im Innenministerium erwogen wurde, die staatlichen Unternehmungen in Ober­ schlesien, besonders die Zinkhütten, zu veräußern. Aus demselben Jahr zitiert er dazu einen Brief Hardenbergs an Schuckmann, der bei dem Staatskanzler die gleiche Haltung erkennen läßt20. Zu einer Verwirklichung dieser Programme kam es während der Reformzeit allerdings nicht. Nicht einmal eine Revision oder Angleichung der Bergrechte wurde versucht, obwohl im Ruhrkohlenbezirk nach 1815 allein drei Provin­ zialbergrechte und zwei subsidiär geltende allgemeine Bergrechte Gültigkeit hatten, so daß auch der Einfluß des Staates auf den Bergbau unterschiedlich bemessen war21. Am geringsten war er linksrheinisch aufgrund des dort gel­ tenden französischen Bergrechts und eines Gesetzes vom 21. April 1810, durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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das der Bergbau nur der staatlichen Polizeiaufsicht und bedeutend geringeren Abgaben als im Ruhrgebiet unterworfen wurde22. Wie aus einem Reskript der Oberberghauptmannschaft an das Oberbergamt Dortmund von 1821 her­ vorgeht, blieb der Bergbau der westlichen Provinzen Preußens bewußt von der Reformgesetzgebung ausgeschlossen23. Die Gründe wurden nicht genannt, doch scheinen es mehrere gewesen zu sein. Die großen Schwierigkeiten einer Bergrechtsreform, die zunächst notwendige Rücksichtnahme auf die überkom­ menen rechtlichen Verhältnisse in den neu angegliederten Landesteilen, der fiskalische Gesichtspunkt, dem verarmten Lande eine Schwächung der Steuer­ einnahmen zu ersparen, und nicht zuletzt die Gegenwirkung der konservativen Elemente in der Verwaltung sind wohl vor allem zu nennen24. Ebenso wie es zu keiner Reformgesetzgebung im Bergbau kam, läßt sich bei den preußischen Bergbehörden auch kein Übergang zu einer administra­ tiven Reformpolitik feststellen, die ohne grundsätzliche Aufgabe staatlicher Aufsicht und Führung durch behördliche Anleitung und Förderung die Er­ ziehung der Gewerken zu selbständigem, verantwortungsbewußtem Denken und Handeln angestrebt hätte. Einen derartigen „liberalisierenden Merkantilis­ mus“ vertrat der Freiherr vom Stein während seiner Tätigkeit als C hef des Fabrikendepartements und als Reformminister25. Von einem entsprechenden Versuch, der Bergbeamtenschaft die allmähliche Erziehung der Gewerken zu eigenverantwortlicher Leitung des Bergbaus zur Aufgabe zu machen, fehlt während der Reformzeit aber jedes Beispiel. Vielmehr wurde auch weiterhin an dem System staatlich-bürokratischer Direktion festgehalten, durch das Stein selbst als Leiter des westfälischen Bergbaus die genossenschaftliche Selbstver­ waltung der Gewerken auf ein Mindestmaß reduziert hatte26. Die Dienst­ anweisungen für Revierbeamte und Obersteiger von 181327 wie die vorläufige Instruktion für das Märkische Bergamt von 182028 hielten sich im Rahmen der schon vor den Reformjahren geltenden Verwaltungspraxis. Sie erlegten den Beamten nur uneigennützige Pflichterfüllung zum Besten eines geordneten, der Allgemeinheit und den Besitzern Nutzen bringenden Bergbaus auf. Ähn­ liches galt für das Westfälische Oberbergamt, das nicht einmal mit neuen Instruktionen versehen wurde29. Seine Einstellung machten Berghauptmann Bölling und Oberbergrat Brassert 1826 deutlich. In Gutachten zum Berg­ recht, zu denen sie von der Oberberghauptmannschaft aufgefordert worden waren, stellten sie sich nicht nur auf den Boden der bestehenden Rechtsordnung, sondern empfahlen darüber hinaus noch die Einführung von in dieser bisher nicht verankerten dirigistischen Grundsätzen wie die Bestrafung von „Unge­ horsam“ der Gewerken, die Beschränkung der Betriebsaufnahme, besonders von Tiefbauzechen, und eine Vermehrung der bergbehördlichen Aufsicht über Betrieb, Haushalt und Personalpolitik der Hüttenwerke30. Nicht zu Unrecht stellten daher die Befürworter eines liberalen Bergrechts 1839 gegenüber dem von den Bergbeamten immer wieder erhobenen Vorwurf, daß „die meisten Gewerken nicht in der Lage seien, den Bergbau selbst in die Hand zu neh­ men“ 31, fest, daß dies „eine Folge der Gesetzgebung selbst“ sei32. „Hätte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Staat“ , so führte der Geheime Oberbergrat Karsten in der Kommission zur Beratung des fünften Berggesetzentwurfes 1846 aus, „mit einer gleichen ängstlichen Sorgfalt alle die anderen Gewerbe überwacht, so würde das rasche Aufblühen und Erstarken derselben unmöglich gewesen sein.“ 33 Wenn in den ersten Jahrzehnten nach der Wieder- und Neuerwerbung der westlichen Provinzen eine kleine, zur Übernahme der Zechen geeignete Gruppe von Bergbauunternehmern heranwuchs, so lag dies mehr an deren selbständigen Bemühungen um den Bergbau und seine Probleme als an einer bewußten An­ leitung und Erziehung durch die Bergbehörden34. Die sich in dieser merkantilistisch-autoritären Verwaltungspraxis ausdrücken­ de Haltung fand ihre wesentliche Ursache in den realen Verhältnissen des Ruhrbergbaus am Anfang des 19. Jahrhunderts wie in den wirtschaftlichen und sozialen Anschauungen der Bergbaubürokratie selber. Die Mehrheit der Bergbeamten glaubte, vom traditionellen System staatlicher Bevormundung nicht abgehen zu können, weil die Nutzung des Bergeigentums — vom Staat nur bedingt verliehen — ihnen mit den sonstigen Gewerben nicht vergleichbar erschien und der Staat nicht nur wegen der vom Ertrage zu entrichtenden Abgaben, sondern vor allem wegen des hohen, nicht wieder ersetzbaren Wertes der Mineralien im öffentlichen Interesse auf einen sachgemäßen Abbau hin­ wirken mußte. Dieser schien ihnen durch die Bergwerkseigentümer aber nicht gesichert, weil, wie es der Berghauptmann Bölling 1827 formulierte, „nur sehr wenige von den bergbautreibenden Gewerken Kenntnis von einem ordentlichen Grubenbetrieb haben und selten einer unter ihnen zu finden sein wird, der solchen kunstmäßig zu leiten versteht“ 35. Aufgrund ihrer praktischen Erfah­ rungen war ihnen bewußt, wie sehr es den meisten Gewerken und den gewerk­ schaftlichen Beamten an Bildung, Kenntnis und Erfahrung für eine wirtschaft­ liche Mit- oder Selbstbestimmung fehlte36. Bestätigt wurden sie in dieser Auffassung durch die Bergbautreibenden sel­ ber, die — abgesehen von den Broicher Gewerken, die sich 1813 gegen die Einführung der preußischen Bergwerksverfassung durch die Behörden des Groß­ herzogtums Berg wehrten37 — die Wiederinbesitznahme der Gruben durch Preußen begrüßten und keine Forderungen auf Befreiung von staatlicher Be­ vormundung erhoben. Mag es immerhin sehr zweifelhaft sein, daß — wie Berghauptmann Bölling meinte — die Unterschrift der Gewerken unter den Generalbefahrungsprotokollen ihre Zufriedenheit mit der Bergbauführung im Ruhrgebiet ausdrückte38, so zeigen doch viele Äußerungen, daß eine große Zahl der Gewerken sich mit dem bestehenden System als ganzem oder doch teilweise befreundet hatte. 1831 verteidigte der Fabrikant und Gewerke Karl Berger aus Witten — im Gegensatz zu seiner späteren Auffassung — im „Hermann“ das bestehende System gegen Friedrich Harkorts scharfe Kritik39, und noch 1841 wurde im Majoritätsgutachten des Westfälischen Provinzial­ landtags zum vierten Berggesetzentwurf vermutet, daß von der geforderten selbständigen Ausführung der Betriebspläne durch die Gewerkschaften vorläu­ fig nur sehr wenige Gebrauch machen würden40. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Doch war es zu dieser Zeit nur noch die Vielzahl der kleinere Berganteile besitzenden, kapitalschwachen, zum Teil auch unmündigen Gewerken, die diese Auffassung rechtfertigte41. Anfang der 40er Jahre befanden sich unter den 300 Gewerken von 13 Gruben des Essen-Werdenschen Bergamtsbezirks 53 Kaufleute und Fabrikanten, 22 Staats-, Kommunal- und Privatbeamte, 30 Gutsbesitzer und Landwirte, 21 Handwerker, Wirte und Bergleute und infolge der vielen Erbteilungen 108, d. h. mehr als ein Drittel, verheiratete und allein­ stehende Frauen sowie unmündige Kinder42. Die meisten Gewerken waren daher nur als Kapitalbesitzer anzusehen, die nicht nur unfähig waren, sich an der Verwaltung ihrer Zeche verantwortlich zu beteiligen, sondern sich auch sehr zufrieden damit zeigten, daß der Staat ihnen diese Aufgabe ab­ nahm43. In ihm fanden sie auch einen Schutz ihrer Interessen gegenüber den finanzstarken Gewerken, die häufig nur zu geneigt waren, die kapitalschwä­ chere Minderheit zu übervorteilen oder durch starke Anspannung der Zubuße­ pflicht zum Verkauf ihrer Anteile zu zwingen. Unternehmerische Qualitäten zeigte dagegen eine kleine Gruppe von vor allem Kohlenkaufleuten, die bemüht war, die technische Entwicklung ihrer Gruben voranzutreiben sowie Förderung und Absatz zu steigern. „Die dortigen Gewerken“ , berichtete z.B. der Essener Bergmeister Kloz 1825 über die Seller­ becker Gewerken, „sind meistenteils unternehmende Kaufleute, welche wohl berechnet haben, welche großen Vorteile aus der mehreren Nähe des Rheins, der fortwährenden Ruhrfahrt, bei dem regelmäßigen Vorkommen der Flöze, bei einer wohlfeileren Gewinnung der Kohlen, bei geringeren Abgaben und bei einem gesicherten Betrieb zu erzielen sind.“ 44 Diese Männer, allen voran Franz Haniel45 und Matthias Stinnes46, suchten auf Betrieb, Haushalt und Absatz ihrer Zechen einen größeren Einfluß zu gewinnen und dem Kohlen­ bergbau neue Gewinnungsstätten und Absatzwege zu erschließen. Von ihnen gingen vorzüglich die Antriebe zu einer Reform des Bergrechts aus; in ihnen fanden die Bergbeamten ihre schärfsten Kritiker. Mit der Unterbewertung der Fähigkeiten der Bergwerksbesitzer, die im Laufe der Jahre immer mehr zu einem Argument gegen deren Emanzipations­ bestrebungen wurde, korrespondierte bei der Mehrheit der Bergbeamten eine Haltung der Überlegenheit und des Besserwissens, die zweifellos in der sozia­ len Stellung, guten Ausbildung und langjährigen Berufserfahrung eine gewisse Begründung fand. Sie waren überzeugt, aufgrund ihrer theoretischen wissen­ schaftlichen Kenntnisse wie ihrer praktischen Erfahrungen die tiefere Einsicht zu besitzen und den ihnen anvertrauten Privatbergbau zum Wohl des Ganzen am besten leiten zu können. Von einer Veränderung der Verfassung des Berg­ baus konnte daher nach ihrer Meinung nichts Besseres erwartet werden47. Die nach ihrer Überzeugung durch Wissenschaft und Erfahrung fundierte Bergbauleitung war durch das Festhalten an den Prinzipien einer patriarcha­ lisch-dirigistischen Wirtschaftspolitik bestimmt, die ebenso den fiskalischen Nut­ zen wie den ökonomischen und sozialen Ausgleich anstrebte. Die Bergbehörden waren einmal die Sachwalter des staatlich-fiskalischen Interesses an einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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produktiven, die vorhandenen Bodenschätze vollständig und rationell nutzen­ den Abbau wie an der Sicherung möglichst hoher Erträge für die Staatskasse48; zum anderen suchten sie allen Gewerken fördernder Zechen einen Nutzen zu sichern, indem sie den Konkurrenzkampf zwischen den Bergwerken einschränk­ ten und auch den schwächsten Gruben einen kostendeckenden Absatz ver­ schafften49. Wichtigstes Mittel dazu war die künstliche Beschränkung der Zahl der produzierenden Zechen aufgrund der Instruktion vom 24. Mai 1783, die dem Bergamt Wetter vorschrieb, „daß keine neuen Steinkohlenwerke in Betrieb gesetzt werden (sollen), bis daran sich ein Kohlenmangel ereignet“ 50, und damit die Erlaubnis zur Betriebsaufnahme von der Verleihung des Bergeigen­ tums trennte. Da weit mehr Zechen beliehen waren, bildete das Fristen die Regel, der Betrieb die Ausnahme51. Vor allem die Anträge auf Anlage mo­ derner Tiefbauten, die eine besonders hohe Produktion erreichten, verfielen zumeist der Ablehnung. Aber nicht nur die Gewerken, sondern auch die Gru­ benbeamten und Bergleute sollten durch die bergbehördlich geregelte An- und Ablegung, Gehalt- und Lohnfestsetzung sowie Knappschaftskasse wirtschaft­ lich gesichert werden. Ja, selbst die Konsumenten suchte die staatliche Verwal­ tung mit Hilfe der Preistaxen und Qualitätskontrollen vor jeder Übervortei­ lung zu schützen. Diese alle sozio-ökonomischen Verhältnisse und Beziehungen des Bergbaus autoritär regelnde staatliche Verwaltung kennzeichnete der Bo­ chumer Bergamtsdirektor v. Derschau in einem Gutachten von 1837. „Die heutige Verfassung legt nun der Administration die Pflicht auf, den Vorteil Aller ohne Benachteiligung des öffentlichen Interesses im Auge zu haben, und durch unmittelbare Betriebsleitung, Regulierung der Belegschaften, Kohlen­ preisregulierung, Lohnregulierung und zwar im Einverständnis mit den Ge­ werken — so wie durch öffentliche Rechnungslegung jene Ordnung und jenen Billigkeitsverband zu erhalten, in welchem die betriebenen Werke jetzt zueinander stehen.“52 Wo die derart Verwalteten sich aber nicht in dieses merkantilistisch-dirigi­ stische System einfügten, eigene Vorstellungen entwickelten und durchzusetzen suchten, da führten sie dieses Verhalten weniger auf wohlfundierte Erkennt­ nisse als auf Unreife und fehlende Einsicht oder gar auf moralische Mängel zurück. Hier verband sich das Mißtrauen der autoritär Regierenden mit zwei­ fellos durch vielfache Erfahrungen begründeten, mehr oder weniger in berufs­ und schichtengebundenen Denkschemata verfestigten Überzeugungen und be­ wirkte eine häufig falsche und ungerechte Beurteilung der Bergwerkseigentümer. Immer wieder stellten sie fest, daß die Gewerken eigennützige Ziele verfolgten, leicht unvernünftig und verantwortungslos handelten und nicht das Allge­ meinwohl beachteten. Selber dem Erwerbskampf nicht in gleichem Maße aus­ gesetzt und ohne Verständnis für den wirtschaftlichen Unternehmungsgeist, vermochten sie den wagenden Unternehmer vielfach nur als unvernünftigen Spekulanten zu sehen. Die staatliche Betriebsleitung habe, so führte das Ober­ bergamt Dortmund aus, „für den einsichtigen und redlichen Gewerken nichts Drückendes“ , gegen sie wendeten sich „nur solche Gewerken, welche von fremd© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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artigen Interessen geleitet oder von der Idee einer unbegrenzten Gewerbefrei­ heit eingenommen sind“ , die sich durch Mißgriffe einzelner Revierbeamter beengt fühlten, „vorzüglich aber solche, welche den Gewinn des Bergbaus, der sich jetzt unter eine größere Zahl von Gruben verteilt, allein an sich zu ziehen wünschen“ 53. Ähnlich den mißtrauischen bürokratischen Gesetzgebern des 18. Jahrhunderts, die dem mangelhaften gewerkschaftlichen Bergbau durch die gesetzliche Festsetzung staatlicher Bevormundung beizukommen suchten, hielten sie gegenüber diesen, sich ihrer Leitung nicht widerspruchslos fügenden Männern, gerade die behördliche Direktion für notwendig, um die drohende „Willkür“ der Gewerken, sei es z. Β. beim technischen Betrieb durch Raubbau, sei es bei Anstellung, Entlassung oder Besoldung der G rubenbeamten und Arbeiter oder auch bei der Festlegung der Kohlenpreise verhindern zu kön­ nen54. Es entsprach diesem Geist, wenn die Bergbehörde die Gewerken selber bei der Bestimmung der Rechte und Pflichten der von ihnen gewählten Depu­ tierten durch eine Instruktion festzulegen suchte. Dieses Bemühen scheiterte allerdings am Widerstand der Grubenvertreter, die auf das zu erwartende neue Berggesetz verwiesen55. Hinzu kam schließlich die mit den Jahren wachsende Sorge vor den sozialen und politischen Konsequenzen, die sich für das Beamtentum mit der Bildung einer selbstbewußten Schicht von Bergbauunternehmern verband. Sie wurde vor allem seit dem Beginn der Verhandlungen um eine Revision des bestehen­ den Bergrechts deutlich, etwa wenn v. Derschau von den „Hauptbeteiligten“ am Bergbau sprach, die sich „das Recht anmaßen, für eine große Mehrheit der schweigenden Interessenten das Wort zu führen“ 56, oder das Oberbergamt die Besorgnis äußerte, daß bei der Verwirklichung des Berggesetzentwurfs von 1835 die Bergbehörde einen Verlust an Ansehen erleiden würde. Dann müsse sie es sich gefallen lassen, daß ihr Betriebsplan womöglich der Kritik des gewerkschaftlichen Steigers unterworfen werde57. Hier wurde die Emanzipa­ tion des Privatbergbaus zur Gefahr, die nicht nur Ansehen und soziale Posi­ tion, sondern auch politischen Einfluß und Machtstellung der Bergbaubürokra­ tie bedrohte. Zu einem Wandel der bergbaulichen Verwaltungspraxis, der in den vorange­ gangenen Ausführungen schon angedeutet wurde, kam es erst seit 182658. Bewogen durch den hartnäckigen zehnjährigen Kampf der Zeche Schölerpad um die Betriebserlaubnis, sah sich König Friedrich-Wilhelm III. im April 1826 veranlaßt, eine Änderung der Verwaltungspraxis des westfälischen Oberberg­ amts zu verfügen59. Daneben führte das Bemühen der Staatsregierung, das Recht im ganzen neuen Staatsgebiet zu vereinheitlichen, im Juli 1826 dazu, daß Justiz- und Innenministerium beauftragt wurden, eine Neufassung des berg­ rechtlichen Teils des Allgemeinen Landrechts auszuarbeiten60. Aus diesem Auftrag erwuchs angesichts der Notwendigkeit, auch die provinziellen Berg­ rechte in die Revision mit einzubeziehen und den Forderungen von Gewerk­ schaften und beiden westlichen Provinziallandtagen nach einer Reform der bestehenden Bergbauverfassung entgegenzukommen61, eine eigenständige Berg© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rechtsrevision, deren Bearbeitung einer besonderen Kommission übertragen wurde. Ihre langjährigen Verhandlungen blieben bis zur Märzrevolution 1848 ohne Ergebnis. Doch machten sie die Fronten in der Auseinandersetzung um das Direktionsprinzip deutlich. Viele Gewerken und Gewerkschaften, seit 1834 auch ganze Gewerkengruppen sowie die Provinziallandtage, Teile der Ministe­ rialbürokratie wie z.B. des Finanzministeriums und eine kleine Gruppe von Berg­ beamten unter Führung des Geheimen Oberbergrats Karsten erstrebten eine An­ gleichung des Bergrechts an das Gewerberecht. Dagegen hielt die große Mehr­ heit der Bergbeamten mit Erfolg am Prinzip der staatlichen Bergbauleitung fest. Die Gutachten der vier Oberbergämter Brieg, Halle, Dortmund und Bonn, die sich 1838 aus verschiedenen Gründen für das Fortbestehen der Direktion aussprachen62, und vor allem ein Votum des Oberberghauptmanns Graf Beust, der sich zum Fürsprecher der für die Gewerken „wohltätigen Vormundschaft“ im deutschen Bergbau machte63, trugen wesentlich zu seiner Aufrechterhaltung im vierten Berggesetzentwurf von 1841 bei. Wurde im zweiten und dritten Entwurf von 1833 und 1835 der Grundsatz der staatlichen „Leitung“ des Bergbaus nicht mehr erwähnt und den Gewerken das Recht der eigenen Haus­ haltsführung gewährt, so fand nun die Direktion im Gesetzestext wieder prin­ zipielle Berücksichtigung, auch wenn den Bergwerksbesitzern — entsprechend der inzwischen erreichten Verwaltungspraxis — einige weitere Konzessionen wie vor allem die Festlegung der Betriebspläne gemeinsam mit der Bergbehörde gemacht wurden64. Zweifellos war damit die Grenze der Zugeständnisse an die Bergbautreibenden erreicht, bis zu der die Bergbauverwaltung und der größere Teil der Ministerialbürokratie zu gehen bereit waren. Die weiterfüh­ renden Anträge der Provinzialstände, denen der Bergrechtsentwurf vorgelegt wurde, blieben fast völlig unberücksichtigt. Abgesehen von der Wiederaufhe­ bung des im vierten Entwurf den Alleinbesitzern von Bergwerken gewährten Rechts der selbständigen Betriebsführung, blieb auch in den folgenden Ent­ würfen und Beratungen der Stand von 1841 weitgehend erhalten65. Erst durch die Märzrevolution wurde das Prinzip staatlicher Direktion im Bergbau end­ gültig erschüttert. In wechselseitiger Beziehung zu den Verhandlungen über die Bergrechts­ reform stand die Verwaltungspraxis der Bergbehörden, die allmählich libera­ lisiert wurde. Erst jetzt läßt sich daher bei der Bergbaubürokratie von einer Industrieförderung sprechen, die durch Anleitung und Belehrung der Gewerken diese zur Selbstbestimmung zu erziehen suchte. Den Wechsel machen zwei Instruktionsentwürfe für den Geschäftskreis der Oberbergämter deutlich, die nur wenige Monate nach Erstellung der konservativen Gutachtenentwürfe durch Berghauptmann Bölling und Oberbergrat Brassen 66 in Dortmund an­ gefertigt wurden. Danach sollten die Oberbergämter u. a. auch die Ansprüche des einzelnen „nach Recht und Billigkeit“ beachten. Es müsse daher bei allen ihren Ansichten, Vorschlägen und Maßregeln der Grundsatz leitend sein, „nie­ manden im Genuß seines Eigentums, seiner bürgerlichen Gerechtsame und Freiheit, so lange er in den gesetzlichen Grenzen bleibt, weiter einzuschränken, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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als es zur Beförderung des allgemeinen Wohl nötig ist; einem Jeden innerhalb der gesetzlichen Schranken, die möglichst freie Entwicklung und Anwendung seiner Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte zu gestatten, und alle dagegen noch obwaltenden Hindernisse baldmöglichst auf eine legale Weise hinwegzuräu­ men“ 67. Praktische Bedeutung gewannen diese liberalen Tendenzen mit den Instruktionen für Berggeschworene und Obersteiger von 1832, die diese ver­ pflichteten, bei der Planung aller Angelegenheiten, welche das Interesse der Grube betreffen, den Gewerkschaftsdeputierten hinzuzuziehen, ihn zu belehren und soweit als möglich seine Vorschläge zu berücksichtigen68. Wieweit der Wandel in der Haltung der Bergbehörde gegenüber den Ge­ werken reichte, ebenso aber auch wo seine Grenzen lagen, zeigt sich am deut­ lichsten in einigen Bereichen, die für die Entfaltung unternehmerischer Initia­ tive wie für die Behauptung staatlicher Bevormundung wichtig waren: Betriebs­ eröffnung, Betriebsplanung und -führung sowie Verkauf und Absatz69. Wie wir schon sahen, entsprach es der Wirtschaftspolitik einer wohlwollenden merkantilistischen Bevormundung, daß die Bergbehörde für eine künstliche Beschränkung der in Betrieb stehenden Zechen sorgte. Dieser Grundsatz wurde von der Bergbehörde zwar nicht aufgegeben70, doch zeigte sie sich seit der königlichen Entscheidung vom April 1826 nachgiebiger und kam den unter­ nehmerischen Initiativen der Gewerken eher nach. Durch Erschwerungen, Auf­ lagen und Gegenvorstellungen aller Art waren die Bergbeamten aber auch weiterhin bemüht, sie von ihren Absichten abzubringen. Die Gewerkschaft Timmerbeil durfte 1828 die Förderung nur unter der Bedingung aufnehmen, daß die gewonnene Kohle allein den Wittener Eisenwerken verkauft wurde71. 1835 suchten die Bergbehörden Franz Haniel von seinem Plan abzubringen, die beiden ihm verliehenen Mergclgruben Kronprinz und Franz wegen der hohen Kohlcnpreise und unzureichenden Brennstoffversorgung als Hüttenze­ chen für die Gutehoffnungshütte in Betrieb zu setzen. Erst nachdem er nach­ gewiesen hatte, daß die Zeche Vereinigte Sälzer und Neuack — entgegen der Behauptung des Oberbergamts — die Hütte seit mehreren Jahren nicht immer nach Qualität und Quantität ausreichend mit Kohlen versorgt hatte, erhielt er die Genehmigung72. Angesichts der in der zweiten Hälfte der 30er Jahre immer mehr anwach­ senden Gesuche um Betriebserlaubnis resignierten die Bergbehörden schließlich und duldeten diese Entwicklung, obwohl sie dem risikofreudigen Optimismus der Gewerken durchaus skeptisch und kritisch gegenüberstanden. „Bei den in neuerer Zeit beobachteten Staatsgrundsätzen, deren Wohlfahrt sich das Publi­ kum schon vielfältig zu erfreuen gehabt hat“ , werde man dem Willen der Gewerkschaft „doch nichts entgegensetzen können“ , berichtete am 6. Januar 1838 das Bergamt Essen zum Ersuchen der Zeche Wolfsbank auf Betriebser­ öffnung73. Oberbergamt und Bergämter schätzten auch weiterhin — zweifellos zu Unrecht74 — die Absatzchancen für die bedeutend zunehmende Produktion sehr skeptisch ein. Doch standen sie gegenüber hartnäckig auf ihr Recht beste­ henden Gewerkschaften in einer letztlich aussichtslosen Defensivstellung. Die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Erklärung des Oberbergamts vom 22. August 1841 gegenüber Matthias Stinnes, daß die Bergbehörde die Verantwortung für die Betriebseröffnung auf der Zeche Graf Beust nicht übernehmen könne, zeigt, wie wenig das traditionelle System bürokratischer Lenkung noch den Anforderungen gewachsen war, die die moderne Industrie stellte75. Entsprechend der Entwicklung des Genehmigungsverfahrens für die Betriebs­ aufnahme machte sich auch bei Betriebsplanung und Betriebsführung, die nach dem Berggesetz allein den Bergbehörden zustanden, seit den 30er Jahren eine Liberalisierung bemerkbar. Es war nur natürlich, daß die Gewerken, die die Kosten der amtlich erstellten Betriebspläne tragen mußten, den Wunsch hatten, darauf Einfluß zu nehmen, um die Ausgaben möglichst niedrig, die Gewinne möglichst hoch zu stellen. Es kam daher immer wieder zu Anträgen der Ge­ werken auf Änderung der Pläne, die von den Behörden jetzt auch möglichst berücksichtigt wurden. Entsprechend der Instruktion von 1832 waren die Revierbeamten und Bergämter bemüht, bei allen wichtigen Vorrichtungen und Arbeiten nicht von sich aus anzuordnen, sondern den Gewerken die für den weiteren Abbau vorzunehmenden Maßnahmen darzulegen und ihre Zustim­ mung dafür zu gewinnen76. Auch eigene Betriebspläne und Anregungen der Bergwerksbesitzer wurden von den Behörden akzeptiert, selbst wenn sie weni­ ger vorteilhaft erschienen als die von ihnen ausgearbeiteten. So duldeten sie, daß die Gewerkschaft Langenbrahm durch ihren Steiger einen eigenen Tief­ bauplan anfertigen ließ und sich hinsichtlich des Schachtortes für diesen ent­ schied77. 1845 vertrat das Finanzministerium die Auffassung, daß die Gruben­ gewerkschaften nicht gegen ihren Willen auf administrativem Wege durch die Bergbehörde gezwungen werden könnten, „die Kosten zur Ausführung eines den betreffenden Gruben nützlichen, doch zum Betrieb nicht unbedingt notwendigen, von der Behörde angeordneten Grubenbaus zu tragen“ 78. Ebenso kamen die Behörden auch den Wünschen der Gewerkschaften bei der laufenden Betriebsführung entgegen. „Der durchlaufende Einfluß der Ge­ werksdiaften auf Betriebsführung und Haushalt“ , so erklärte 1830 das Berg­ amt Bochum, „die Notwendigkeit, in allen Fällen Gehör zu geben und in manchen sich nach den Anträgen zu richten, ist eine Maßregel, welche die Zeitumstände und die Billigkeit gebieten.“ 79 Fast fünf Jahre später beschrieb der Bergamtsdirektor Heintzmann die bergamtliche Praxis in einem Gutachten zum Berggesetzentwurf von 1835: „In dem hiesigen Bergamtsbezirke erschei­ nen die technischen Anordnungen seit meiner Funktion als Bergamtsdirektor mehr als Vorschläge der Behörden und Beamten, als unbedingt befehlende Anweisungen und ist mir noch kein Fall vorgekommen, daß gegen den Willen der Mehrheit der Gewerken eine wesentliche Vorrichtung hätte angeordnet werden müssen. Wie ich nicht anders weiß, wird es im Märkischen Bergamts­ bezirk in gleicher Weise wenigstens der Regel nach gehalten.“ 80 Den weitestgehenden Einfluß erlangten die Gewerken auf dem Gebiete der Preistaxen für den Kohlenverkauf. Seit den 1820er Jahren erreichten sie, daß die Bergbehörden vor der Festsetzung der Taxen die Bergbautreibenden heran© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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zogen und sich von ihnen Vorschläge und Wünsche vortragen ließen. Dieses Verfahren fand auch in der Revierbeamten-Instruktion von 1832 Aufnahme, in der diesen aufgetragen wurde, die Grubenbeamten und Gewerkschafts­ deputierten zu hören, bevor sie dem Bergamt ihre Vorschläge unterbreiteten81. Doch blieb es nicht nur bei diesem Verfahren. Angesichts der für die Revier­ beamten immer größer werdenden Schwierigkeiten, bei der ständig wachsenden Zahl der Förderstellen, Absatzwege und Absatzpunkte die Marktverhältnisse jeder einzelnen Zeche in gleichem Maße wie die Grubenbeamten und die Koh­ lenhändler unter den Gewerken zu überschauen, wurde es mehr und mehr üblich, daß die Gewerkschaften unter Leitung des Bergamts über die Höhe der Preise verhandelten und das Votum der Mehrheit der Gewerkschaftsver­ treter schließlich den Ausschlag gab82. Das Ergebnis waren zumeist keine marktkonformen Preise, denn die Bergwerksbesitzer nutzten ihren Einfluß, um die Taxe wegen des nach ihr erhobenen Zehnts möglichst niedrig festzu­ setzen. Beim Verkauf hielten sie sich dann vielfach nicht an die vereinbarten Preise und schlossen mit dieser Absicht sogar untereinander Preiskonventionen ab83. Ihres eigentlichen Sinnes entkleidet, wurde die Preistaxierung auch durch die Naturalteilung im Essen-Werdenschen Bergamtsbezirk, die den Kohlenhändlern unter den Gewerken erlaubte, ihren Ausbeuteanteil selbständig zu verkaufen. Als die Naturalteilung verboten wurde84, gingen sie dazu über, durch Kuxen­ käufe die Stimmenmehrheit in der Gewerkschaft zu erwerben und den Be­ schluß durchzusetzen, daß die Gewerken die Förderung zu den amtlich fest­ gelegten Preisen zu übernehmen hatten. Den Weiterverkauf zum höheren Marktpreis besorgten sie dann auf eigene Rechnung, wobei ihnen ihre ausge­ bauten Absatzverbindungen und Marktkenntnisse zugute kamen, während die übrigen zum Kohlenhandel gezwungenen Gewerken benachteiligt blieben85. Erst 1840 wurde den Gewerkschaften vom Oberbergamt auferlegt, den Ver­ kauf durch einen Bevollmächtigten, der kein Kohlenhändler sein durfte, durch­ führen zu lassen86. Doch blieb es auch diesem weiterhin unbenommen, an einen Mitgewerken zu verkaufen. Der Kohlenhandel durch zweite Hand nahm daher einen derartigen Umfang an, daß, wie Bergamtsdirektor Heintzmann im Verwaltungsbericht für 1840 feststellte, sich der tatsächliche Stand der Kohlenpreise nicht mehr sicher beurteilen ließ87. Heintzmann schien es schon 1837 an der Zeit zu sein, „einen Grundsatz ganz und auch gesetzliche Bestimmung zu verlassen, der von der Verwaltung nicht aufrecht erhalten werden kann oder soll“ 88. Diese Auffassung teilten auch Beamte der Ministerialverwaltung in Berlin. Finanzminister v. Bodel­ schwingh war sogar ein entschiedener Gegner der Kohlentaxen89. Ihrer gänz­ lichen Abschaffung, die im Berggesetzentwurf von 1835 vorgesehen war, wi­ dersprachen aber der größere Teil der Bergbeamten und vorzüglich auch das Oberbergamt Dortmund, dem die doch längst untergrabene Kohlenpreisbe­ stimmung zur Vermeidung von Handelsmonopolen der größeren Gruben noch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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notwendiger erschien als die Beschränkung der Inbetriebsetzung neuer Ze­ chen90. Zeigen diese Beispiele einerseits, wie die Kontrolle über den expandierenden Bergbau der auf den Prinzipien merkantilistischer Bevormundung beruhenden Bergbauverwaltung immer mehr entglitt, so deuten sie andererseits auch die Grenzen an, die trotz aller Liberalisierung dem unternehmerischen Wirkungs­ spielraum weiterhin gesetzt wurden. Sie waren ebenso durch die grundsätzlich bestehenden Rechtsprinzipien wie durch die bürokratisch-autoritäre Macht­ stellung der Bergbaubehörden bestimmt, zu deren Wahrung diese auch vor schroffen Maßnahmen nicht zurückschreckten. Das galt etwa bei jedem vom Bergamt nicht genehmigten Eingriff der Gewerken in Vorrichtungsarbeiten und Betriebsablauf, der von diesem bis zur gerichtlichen Anzeige verfolgt wurde91. Fand diese Strenge und Unnachgiebigkeit auch im Wesen des gefahr­ vollen und schwierigen Bergbaus ihre Begründung, so gab es doch häufig keinen Zweifel, daß die Entscheidungen dem willkürlichen Ermessen der Provinzial­ und Bezirksbergbehörden entsprangen und die Gewerken durch zu harte und allzusehr auf die Erhaltung der behördlichen Autorität bedachte Entscheidun­ gen vor den Kopf gestoßen wurden. Das streng bürokratische Verhalten des Bergamts Essen gegenüber dem als „Spekulanten“ angesehenen Matthias Stin­ nes und seinem Beauftragten, dem ehemaligen Berggeschworenen Honigmann, denen 1842 im Zusammenhang mit der Aufstellung einer Wasserhaltungsma­ schine auf der Zeche Graf Beust die peinlichste Erfüllung aller gesetzlichen Bestimmungen auferlegt und selbst mit der Einstellung der Arbeiten gedroht wurde, macht diesen Tatbestand deutlich92. Die allmählich anwachsende Gruppe von Bergbauunternehmern aber war immer weniger bereit, sich mit der ihr eingeräumten Rolle einer begrenzten Mitbestimmung über ihr Eigentum zufrieden zu geben. Für diese Männer, die an Sachkenntnis den Bergbeamten immer weniger nachstanden, in Teil­ bereichen sie sogar überflügelten93, blieben die seit 1826 eingetretenen Erleich­ terungen in der bergbaulichen Direktion sehr bald unzureichend. Das zeigen ebenso die vielfältigen Versuche, die ihrer Emanzipation noch immer gesetzten Grenzen in der Praxis zu überschreiten, wie die zunehmende Agitation für eine grundsätzliche Lockerung bzw. Aufhebung der staatlichen Bevormundung und für eine Reduzierung der hohen Bergbauabgaben, die bereits am Anfang der 30er Jahre einsetzten. Nachdem sich schon 1834 mehrere Gewerkengruppen gebildet hatten94, schlossen sich zwei Jahre später 43 der führenden Berg­ werksbesitzer des Ruhrgebiets — an ihrer Spitze Oberpräsident Freiherr v. Vincke — zusammen, begründeten Gewerkenvereine für die beiden Berg­ amtsbezirke Bochum und Essen und wählten Bevollmächtigte95, die bei den Behörden vorstellig wurden96. Ebenso suchten die „Hauptgewerken“ in den folgenden Jahren immer wieder auf die Staatsregierung, die Bergbehörden und die Provinziallandtage einzuwirken. In den 40er Jahren trat das Bemühen der Gewerken des Märkischen Bergamtsbezirks um die Bildung von Gewerken­ kammern hinzu, die den Handelskammern, in denen die Bergbautreibenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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keine offizielle Vertretung fanden, nachgebildet werden sollten. Mit ihnen verband sich bei den Gewerken die Absicht, die noch z. Τ. zersplitterten Bergbauinteressen zusammenzufassen und auf die Verwaltungspraxis der Berg­ behörden und die beschleunigte Durchführung der Bergrechtsreform Einfluß zu nehmen97. Dagegen war der Dortmunder Berghauptmann v. Mielecki bemüht, die geplanten Gewerkenkammern durch „Bezeichnung bestimmter Grenzen ihres Wirkens“ unter behördlicher Kontrolle zu halten, die gegenüber dem „jetzigen Treiben der sog. Haupt-Bevollmächtigten“ bereits verlorengegangen war98. Ihnen gegenüber geriet die Bergbauverwaltung seit Ende der 30er Jahre immer mehr in eine Defensivstellung, die nur durch Mittel bürokratischer Behinderung verteidigt werden konnte99. Doch erst mit der Märzrevolution fand die durch die staatliche Direktion bestimmte Epoche im Ruhrbergbau ihr Ende und wurden die industriellen Kräfte freigesetzt, die unter der langjährigen staat­ lichen Bevormundung nicht oder nur sehr begrenzt zur Geltung kamen. Anmerkungen 1 Vgl. dazu W. Fischer, Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, Kyklos XIV. 1961, 346 ff.; jetzt auch in: ders., Wirt­ schaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, 65 ff. 2 Als wichtigste seien genannt W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia 1740—1870, Liverpool 1958; U. P. Ritter, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1961; I. Mieck, Preußische Gcwerbe­ politik in Berlin 1806—1844. Staatshilfe u. Privatinitiative zwischen Merkantilismus u. Liberalismus, Berlin 1965; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung u. soziale Bewegung 1791 — 1848, Stuttgart 1967; W. Fischer, Der Staat u. die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800—1850, I, Berlin 1962. 3 So besonders R. Tilly, Finanzielle Aspekte der preußischen Industrialisierung 1815—1870, in: Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industriali­ sierung, Hrsg. W. Fischer, Berlin 1968, 477 ff. Vgl. auch K. Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- u. Hütten­ revier, Wiesbaden 1970, 105 ff., bezüglich der Politik der Oberberghauptmannschaft gegenüber der oberschlesischen Zinkindustrie. 4 Ein besonders zu beachtender Faktor hierzu scheint mir die Quellenlage zu sein. Es überwiegt zumeist das Aktenmaterial der staatlichen Behörden. Die Einseitigkeit behördlicher Berichterstattung in Grundsatzfragen der Verwaltungspraxis und damit bürokratischer Interessen wird z. Β. in den Akten der preußischen Bergbehörden immer wieder deutlich. 5 Sie findet eine positive Bewertung bei Koselleck, 609 f., der das Berg- und Hüttenwesen in das im Ganzen harmonische Bild eingliedert, das er von der preußi­ schen Wirtschaftspolitik gibt. Ebenso ist H. E. Krampe in seiner grundlegenden Arbeit über den „Staatseinfluß auf den Ruhrkohlenbergbau in der Zeit von 1800 bis 1865“ (Köln 1961) der Gefahr einer Verharmlosung des Verhältnisses zwischen Bergverwaltung und Gewerken nicht entgangen. Kritischer beurteilen dagegen Hender­ son, 56 f., und vor allem Fischer, (Arm. 7, 167 f.) die staatliche Bergbaupolitik der hier behandelten Epoche.

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6 Zur Scheidung zwischen quantitativen und qualitativen Wirkungen staatlicher Industrieförderung vgl. S. Landes, Die Industrialisierung in Japan u. Europa, in: Fischer (Hrsg.), 36, 38 ff. 7 W. Fischer, Die Bedeutung der preußischen Bergwerksreform für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets, Dortmund 1961, 9,auch in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft, 164. 8 Zum ganzen Komplex der staatlichen Leitung des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr vgl. Krampe, 17 ff. 9 Zit. bei Fischer, Bedeutung, 164. 10 Vgl, C . Kersten, Die revidierte Bergordnung für das Herzogtum C leve, Fürsten­ tum Moers u. für die Grafschaft Mark. Dortmund 1856. 11 Kramoe. 18 ff. 12 Mylius, Novum C orpus C onstitionum, Bd. 9, Sp. 1873; ALR, Teil II, Tit. XVI, §§69—480. Vgl. R. Klostermann, Lehrbuch des Preußischen Bergrechts, Berlin 1871, 33 f.; E. Skalley, Aphorismen über das Bergwerks-Regal in den Königlich-preußischen Staaten, Berlin 1845, 16 f. 13 Fischer (Bedeutung, 166) führt Zitate von Friedrich d. Gr. und Heinitz an, aus denen die Einsicht deutlich wird, daß der Staat nicht mehr als nötig als Wirt­ schaftender auftreten solle. Praktisch aber wurde diese Einsicht nicht verwirklicht. 14 H. Brassert, Das Bergrecht des Allgemeinen Preußischen Landrechts in seinen Materialien nach amtlichen Quellen, Bonn 1861, 92. 15 Vgl. Koselleck, 154 ff. 16 Dazu E. Klein, Von der Reform zur Restauration, Berlin 1965, 100 ff. 17 Vgl. dazu die Arbeiten von Mieck u. Ritter. 18 G. Winter, Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein u. Harden­ berg, 1. Teil, I, Leipzig 1931, 335, 453. 19 Zit. bei M. Schulz-Briesen, Der deutsche Staatsbergbau im Wandel der Zeiten, I, Berlin 1933, 39 f. 20 Fuchs, 101 ff., bes. 105 ff. 21 In der Grafschaft Mark sowie in Essen und Werden hatte mit der revidierten Clevc-Märkischcn Bergordnung das Direktionsprinzip Geltung; ebenso aufgrund des im Allgemeinen Landrecht fixierten Bergrechts und des Gemeinen Bergrechts in der vormaligen Grafschaft Dortmund. Im Vest Recklinghausen blieben die Kurkölnische Bergordnung von 1669 und das Bergregal des Herzogs von Arenberg erhalten; in der Herrschaft Broich und den Unterherrschaften Hardenberg und Oefte galt die Jülich­ Bergische Bergordnung von 1719. In diesen Regionen stand dem Staat nur Aufsicht und Kontrolle des Bergwerksbetriebes zu. 22 Vgl. dazu Skalley, 73 ff.; R. v. C arnall, Die Bergwerke in Preußen u. deren Besteuerung, Berlin 1850, 47 ff., 67. Der Unterschied in den Bergbauabgaben beruhte darauf, daß im deutschen Bergrecht aufgrund der Regalität des Bergbaus dem Regal­ herrn gewisse Nutzungsanteile, wie z. Β. der Zehnt, vorbehalten blieben, während in Frankreich die Revolution alle Feudalrechte, auch den Zehnt, beseitigt hatte. Nach Berechnungen C arnalls, 29, betrugen in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die Abgaben vom Werte der Bruttoproduktion im Märkischen Bergamtsbezirk 13,5 %, im Essen-Werdenschen 14,3 %, im Dürener dagegen nur 2,3 %, vom Reinertrag 58,6 %, 65,3 % und 10,8 %. 23 Vom 29. 9. 1821. StAM, OBa Β 68/3. 24 So Klostermann, 35 f.; vgl. auch v. Carnall, 29; Fuchs (111) spricht von einer konservativen G ruppe in der Ministerialbürokratie, die befürchtete, daß die Privat­ industrie ein zu starker Machtfaktor im Staate werden könne. 25 Mieck, 11 f. 26 Vgl. zur Reformtätigkeit Steins: Briefe u. amtliche Schriften, Hrsg. W. Hubatsch, I, Stuttgart 1957, 175 ff.; G. Ritter, Stein, Stuttgart 31958, 39 f. 27 Vom 22. 6. 1813, StAM, OBa Β 24/5.

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Vom 23. 12. 1820, ebd. In der Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden vom 30. 4. 1815 wie in der Instruktion vom 23. 10. 1817 werden die Bergbehörden zwar erwähnt, ihre Aufgabenbereiche bleiben aber unklar. Gesetzsammlung 1815, 85 ff.; 1817, 248 ff. 30 Gutachtenentwurf des Oberbergrats Brassert von 1826 und Gutachten des Berg­ hauptmanns Bölling vom 12. 1. 1827, StAM, OBa Β 2/36. 31 So Berghauptmann Bölling, 12. 1. 1827, ebd.; Gutachten OBa Dortmund, 28. 2. 1838, ebd., OBa Β 2/50. 32 G StA, Rep. 84 a (Akten des Preußischen Justizministeriums), 11078. 33 Ebd., 11080. 34 Es handelt sich dabei — abgesehen von einigen Bergwerke besitzenden adligen Grundherren — zumeist um Kohlenhändler vorzüglich des Essen-Werdenschen Bezirks, die durch den Kohlenhandel veranlaßt wurden, im Bergbau unternehmerisch aktiv zu werden. 35 Im Gutachten vom 12. 1. 1827, StAM, OBa Β 2/36; ebenso Bölling, Den Stein­ kohlenbergbau in der Grafschaft Mark u. in den Fürstentümern Essen und Werden betreffend, Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 1832, 193 ff., bes. 196 f.; Gutachten des OBa, 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50. 36 Die gewerkschaftlichen G rubenbeamten leiteten unter Aufsicht der Staatsbeamten den laufenden technischen Betrieb und das Rechnungswesen der einzelnen G ruben. Sie wurden von den G ewerkschaften besoldet, von der Bergbauverwaltung aber aus­ gewählt und eingestellt bzw. entlassen. Ihre Tätigkeit verfolgten die Bergämter zu­ meist mit Mißtrauen und Sorge. Zur Finanzierung ihrer Ausbildung wurde 1816 der „Westfälische Elevenfonds“ gebildet. 37 Krampe, 57. 38 Gutachten vom 12. 1. 1827, StAM, OBa Β 2/36. 39 Hermann, 1831, Nr. 65, 72 ff. 40 G utachten der Majorität des Westfälischen Provinziallandtages vom 29. 4. 1841, StAM, OBa Β 2/50. 41 G utachten des Bergamtsdirektors Heintzmann, 10. 1. 1837, ebd., OBa Β 2/50 a. 42 Hinzu kamen noch 3 Ärzte und 2 Rentner sowie 61 Gewerken, deren Beruf nicht ermittelt werden konnte, die aber wahrscheinlich meist Landwirtschaft und Handwerk zuzurechnen waren. Zusammengestellt aus den in StAD, Ba Essen, 20/III u. 21/III, angeführten Gewerkenverzeichnissen. Die gewerkschaftlichen Akten im OBa Dortmund sind im letztenK r i e gleider verlorengegangen. 43 Gutachten des Obereinfahrers Jacob, 15. 6. 1837, StAM, OBa Β 2/50 a. 44 Bericht vom 30. 9. 1825, StAD, Ba Essen, 97/III. 45 Vgl. H. Spethmann, F. Haniel, Duisburg-Ruhrort 1956. 46 Vgl. P. Neubaur, M. Stinnes u. sein Haus, Mülheim/Ruhr 1908. 47 Bölling, Rheinisch-Westfälischer Anzeiger, 202. 48 Gutachten des OBa, 28.2.1838, StAM, OBa Β 2/50; ebenso G utachten des Bergmeisters Kloz, 24. 1. 1837, ebd., OBa Β 2/50 a; v. Carnall, 50; Klostermann, 35 f.; Krampe, 86 f. 40 G utachten des Obereinfahrers Jacob vom 15.6.1837, StAM, OBa Β 2/50 a; Schulz-Briesen, 45; Krampe, 43. 50 Zit. bei Reuß, Mitteilungen aus der Geschichte des Kgl. Oberbergamtes zu Dortmund u. des Niederrheinisch-Westfälischen Bergbaus, ZfBHS 40. 1892, 386; Krampe, 43 f. Vgl. zur entsprechenden Politik der Bergbaubehörde gegenüber der oberschlesischen Zinkindustrie Fuchs, 105 ff. 51 Gutachten OBa vom 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50. 52 G utachten von Derschau vom 21. 6. 1837, ebd., Β 2/50 a. Angesichts eines solchen noch weitgehend vorindustriellen Denkens erweisen sich These und Begriffswahl Kosel28

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lecks (Preußen, 609 ff.), daß der Staat in der Reformzeit u. a. auf dem Sektor der „Energiequellen“ oder der „Energiewirtschaft“ die Führung bewußt in der Hand behalten und die Grundlagen der Industrialisierung gelegt habe, als verfrüht. 53 OBa im Gutachten vom 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50; ähnlich Derschau in seinem Gutachten vom 21. 6. 1837, ebd. 54 Gutachten des OBa vom 28. 2. 1838 u. des Obereinfahrers Jacob vom 15. 6. 1837, ebd., OBa Β 2/50 u. 2/50 a. 55 OBa am 9. 3. 1835 an Bergämter, der vom Ba Bochum ausgearbeitete Entwurf einer Instruktion für Gewerkschaftsdeputierte u. das Gutachten des Bergamtsdirektors Heintzmann dazu sowie Protokoll der Konferenz beider Bergämter mit führenden Gewerken beider Bezirke am 10. 7. 1835, StAD, Ba Essen 21/I.; ebenso Gutachten des Obereinfahrers Jacob vom 15. 6. 1837, StAM, OBa Β 2/50 a. 59 G utachten vom 21. 6. 1837, ebd. 57 G utachten vom 28. 2. 1838, ebd., OBa Β 2/50. 58 Dagegen scheint Fischer den Übergang zur Reformpolitik im Bergbau zu früh anzusetzen. Er datiert ihn auf die Zeit der Gewährung der Gewerbefreiheit: Bedeutung, 167. 59 Kabinettsordre vom 14. 4. 1826 an das Staatsministerium; H. Spethmann, Der Kampf der Zeche Schölerpad um einen Tiefbau unter dem Direktionsprinzip, BzGSSE, 70. 1955, 39 f. 60 Kabinettsordre vom 24. 7. 1826, Sie wird angeführt im Schreiben des Grafen Dankelmann an Innenminister von Schuckmann vom 21. 10. 1826, StAM, OBa Β 2/30. Vgl. auch H. Brassert, Die Bergrechtsreform in Preußen, ZfB, 3. 1862, 236; W. Fischer, Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform von 1851—1865 in der Wirtschafts- u. Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, ZfGS 117. 1961, 525 f.; auch in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft, 151. 61 Zum Kampf einzelner Gewerkschaften um die Gewerbefreiheit vgl. Krampe, 44 f. Zu den Anträgen der beiden Landtage und den darauf ergangenen Landtags­ abschieden vgl. J . D. F. Rumpf, Die Landtags-Verhandlungen der Provinzialstände in der Preußischen Monarchie, 3. Folge, Berlin 1827, 82, 117, 217 f. u. 250. e2Protokoll der Bergrechtskommission vom 8. 4. 1839, GStA, Rep. 84 a, 11078. 68 Gutachten vom 11. 12. 1840; Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums vom 26. 1. 1841, ebd., 11080. 64 Promemoria des Oberbergrats v. Ellerts zu den §§ 67, 70 des Bergrechtsentwurfs von 1841 vom 16. 1. 1846, ebd. 85 Promemoria des Oberbergrats v. Ellerts; Bericht Justizminister v. Savignys und Innenminister Düesbergs vom 10. 2. 1847, ebd. 66 Vgl. 43. 67 Die Entwürfe sind nicht datiert, dürften aber in der Zeit von März bis Mai 1827 entstanden sein, StAM, OBa Β 24/6. 68 Instruktionen für die Königlichen Reviergeschworenen u. Obersteiger vom 13. 2. 1832, StAM, OBa Β 24/4. 69 Umstritten waren auch Anstellung und Entlassung von G rubenbeamten und Bergleuten, doch kann dieses Problem im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes keine Berücksichtigung finden. 70 Gutachten des OBa vom 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50. 71 Η. Spethmann, Die geschichtliche Entwicklung des Ruhrbergbaus von Witten u. Langendreer, G elsenkirchen 1937, 55. 72 Spethmann, Die ersten Mergelzechen im Ruhrgebiet, Essen 1947, 25 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung, 55. Weitere Beispiele bei Krampe, 44 f., Anm. 210 u. 213; Zeche Langenbrahm in ihrer Entstehung u. Entwicklung 1772—1922, Essen 1922, 34. 73 Spethmann, Mergelzechen, 56. 74 Die Produktion der Ruhrzechen stieg von 1830 bis 1850 von 549 000 auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1 961 000 t, d. h. um mehr als das Dreieinhalbfache, ohne daß es — von kurzfristigen Stockungen abgesehen — zu wesentlichen Absatzschwierigkeiten gekommen wäre. 75 Spethmann, Mergelzechen, 67. 76 Vgl. F. A. v. Waldthausen, Geschichte des Steinkohlenbergwerks Vereinigte Sälzer u. Neuack, Essen 1902, 201 f. 77 Zeche Langenbrahm, 33 f. Mehrere Beispiele bei Krampe, 51, Anm. 256. 78 Ebd., 52. 79 Ba Bochum am 29. 6. 1830 an OBa, StAM, OBa Β 24/4. 80 G utachten vom 10. 1. 1837, ebd., OBa Β 2/50 a. 81 Instruktion für die Kgl. Reviergeschworenen vom 13. 2. 1832, § 35, StAD, Ba Essen 21/I. 82 Krampe, 89 f. 83 L. Müller, Über die gesetzliche Notwendigkeit u. die Vorteile des gemeinsamen Kohlenverkaufs, Bonn 1838, 25, u. Nachtrag: 18; Beispiele bei Krampe, 90. 84 Regulativ des OBa vom 20. 2. 1827, Neubaur, 239 f.; ebenso Ministerial-Reskript vom 26. 7. 1836 u. Gutachten des OBa vom 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50. 85 Müller, 4. 86 Ebd., 58; Krampe, 104 f. 87 Vom 7. 2. 1841, StAD, Ba Essen 6/VII. 88 Gutachten vom 10. 1. 1837, StAM, OBa Β 2/50 a. 89 Krampe, 88. 90 G utachten des OBa vom 28. 2. 1838, StAM, OBa Β 2/50. 91 Bei der Zeche „Kronprinz“ mußte 1836 die Aufstellung einer Wasserhaltungs­ maschine eingestellt werden, weil die Genehmigung des Ba nicht rechtzeitig eingeholt worden war. Der Schacht soff darauf ab. Krampe, 56. 92 Vgl. Spethmann, Mergelzechen, 73 f.; W. Fischer, Herz des Reviers, Essen 1963, 27 f. 93 F. Haniel erwarb sich z. Β. so gute Kenntnisse in lokalen Bergrechtsfragen, daß selbst Bergbeamte ihn um Rat angingen. Spethmann, Haniel, 122 u. 167. 94 StAM, OBa Β 2/51; Spethmann, Haniel, 199 f. 95 Am 17. 5. 1836, Waldthausen, 89 f.; StAM, OBa Β 2/51. 96 Dies geschah am 20. 10. 1836, ebd., OBa Β 2/51. Vgl. auch Ρ. Η. Mertes, 100 Jahre Industrie- u. Handelskammer zu Dortmund, Dortmund 1963, 12 ff. 97 Zuerst angeregt wurden sie im Separatvotum vom 29. 4. 1841 des Westfälischen Provinziallandtages zum Berggesetzentwurf von 1841 als eine rein berufsständische Institution. Erst seit 1843 wurden sie als ein bergbauliches Selbstverwaltungsorgan im Sinne der Handelskammern konzipiert. StAM, OBa Β 2/50; Oberpräs. Münster Β 2817; Ρ. Η. Mertes, Das Werden der Dortmunder Wirtschaft, Dortmund 1940, 59 ff. 98 Randbemerkungen Mieleckis zum G utachten des Oberpräsidenten von Vincke zum Berggesetzentwurf von 1841, StAM, OBa Β 2/50. 99 So z. Β. durch die Verweigerung der von den „Hauptgewerken“ beantragten Einsichtnahme in die Unterlagen der allgemeinen Ergebnisse der staatlichen Betriebs­ leitung, ebd., OBa Β 2/51.

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8. Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz Von DIRK BLASIUS

Die Ausbildung des modernen Rechtsstaats ist ein Vorgang, der der Geschichte des 19. Jahrhunderts angehört. Er ist für die Beurteilung der liberalen Bewe­ gung nicht ohne Bedeutung. So scharf auch die Kritik an ihr vorgetragen wird, hier scheinen ihre Leistungen unbestritten. Zwar begriff das liberale Staatsden­ ken den Rechtsstaat nicht als „politisches Formprinzip“ und verstand der Liberalismus insgesamt Demokratie nicht als „Komponente des Rechtsstaats“ , doch mit der Durchsetzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelang ihm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einlösung einer seiner Hauptforderun­ gen: die Gesetzesbindung der Verwaltung1. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es das weite Gebiet der Strafrechtspflege, auf dem das libera­ le Bürgertum in seinem Emanzipationsstreben die größten Erfolge verbuchen konnte. Besonders das heutige Strafprozeßrecht wird als „eine bedeutsame Frucht der zum Rechtsstaat strebenden großen politischen Bewegung des Libe­ ralismus“ gewertet2. Hier vollzogen sich in der Tat die einschneidendsten Än­ derungen. Das gemeinrechtliche Verfahren basierte auf dem sog. Inquisitions­ prozeß. Er hatte sich auf der Grundlage der C onstitutio C riminalis C arolina (1532) entwickelt und im 17. und 18. Jahrhundert eine spezifisch polizeistaat­ liche Ausgestaltung erfahren. Das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren war ein schriftliches und geheimes gewesen. Die Öffentlichkeit konnte an ihm keinen Anteil nehmen, ebenso wie es keine mündliche Verhandlung gab. Für die Urteilsfindung waren allein die Akten mit ihren Protokollen maßgebend. Hauptcharakteristikum des Inquisitionsprozesses war die „amtliche Tätigkeit eines Inquirenten“ . Er hatte „verübte Verbrechen im Interesse des verletzten Staats zu verfolgen“ . Diese waren also, wie es die Preußische Kriminalordnung von 1805 festlegte, „von Amtswegen zu untersuchen, ohne den Antrag einer Partei oder eines Beschädigten abzuwarten“ . Dabei mußte „mit gleicher Sorg­ falt sowohl denjenigen Umständen, welche dem Angeschuldigten nachtheilig sind, als auch denjenigen, welche zu seiner Vertheidigung gereichen, nachge­ forscht werden“ 3. Verfolgungs- und Beurteilungstätigkeit lagen somit in der Hand eines staatlichen Organs. Dieses Verfahren schloß von vornherein eine Beteiligung von Laienrichtern aus. Es war, wie man gesagt hat, „die dem absolutistisch-patriarchalischen Staate kongeniale Prozeßform“ 4. Gegenüber dem Inquisitionsprozeß formulierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liberale Reformjuristen Prinzipien, auf deren Verwirklichung

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Kampf um die Geschworenengerichte

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der politische Liberalismus drang: Urteilsgewinnung auf Grund öffentlicher und mündlicher Verhandlung; Einführung der Staatsanwaltschaft; Einführung der Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege in Gestalt der Geschworenen­ gerichte; Durchführung scharfer Trennung von Justiz und Verwaltung; Unab­ hängigkeit der Richter und Beseitigung aller Kabinettsjustiz5. Man war auf seiten der liberalen Bewegung der Überzeugung, daß es, wie Welcker sich ausdrückte, „im ganzen Rechtsgebiete, vielleicht im ganzen politischen Gebiete, . . . nichts Wichtigeres (gebe) als den Strafprozeß“ 8. Diese Einschätzung hing mit dem Selbstverständnis der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zusam­ men und mit ihrem Versuch, die staatlich-gesellschaftliche Ordnung in einer neuen Qualität zu definieren. Die „Anordnung des Strafprozesses“ wurde als Verfassungsproblem diskutiert — und damit auf einer Ebene, auf der sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft stellte. Es war nicht mehr der Staat, der durch das Verbrechen „beleidigt“ wurde, sondern die „bürgerliche Gesell­ schaft“ , die nach Mittermaier „gleichsam als Anklägerin auftritt, ihre Rechte gegen den Übertreter der Gesetze (verfolgend)“ 7. Die liberale Strafprozeß­ lehre substituierte den Staat als Subjekt „gesetzmäßiger Untersuchung und Erkenntnis“ und setzte an seine Stelle die „bürgerliche Gesellschaft“ ; sie müsse „mit Waffen ausgerüstet (werden), welche die Hindernisse zu entfernen geeig­ net sind, die der schlaue Verbrecher der Entdeckung der Wahrheit entgegen­ setzt“ 8. Die „bürgerliche Gesellschaft“ wurde zum ,Auftraggeber der Ver­ brechen verfolgenden Beamten'; ihre Legitimation gewann sie aus dem „all­ gemeinen Vertrauen der Bürger“ , daß unter ihrer Ägide „nur gerechte Straf­ urtheile gefällt werden“ . Dieses Vertrauen aber setzte ein im Sinne der libera­ len Theorie reformiertes Strafverfahren voraus. Nicht nur Mittermaier, dessen Argumentation die Substanz liberaler Vor­ stellungen, aber auch liberaler Ansprüche am besten spiegelt, sondern auch die meisten anderen Juristen im frühen 19. Jahrhundert sahen im Geschworenen­ gericht das Kernstück liberalen Strafprozeßrechts9. Für Welcker gewährleistete die Mitwirkung der Geschworenen an Urteilssprüchen eine „Beurtheilung vom Standpunkte des freien Bürgerthums aus, von einem Standpunkte, welcher nähere Berührung mit den Lebensverhältnissen sowohl des Angeklagten wie der durch die Verbrechen verletzten und bedrohten übrigen Mitbürger dar­ bietet“ 10. In der Perspektive der sich häufenden politischen Prozesse wurden die Geschworenen nicht nur als „Repräsentanten von Bürgermacht“ angesehen, sondern auch eines der Freiheit verpflichteten „Bürgersinnes“ 11. Das Geschwo­ renengericht sollte den Bürger vor dem Zugriff „einer mächtigen Parthei“ schützen, es sollte „der durch C riminalanklagen leicht bedrohten bürgerlichen Freiheit als eine Schutzwehr“ dienen12. Daß der „politische C harakter“ des Geschworenengerichts im Vordergrund der liberalen Publizistik und wissenschaftlichen Literatur stand, hängt mit den Zeitumständen zusammen. Die zahlreichen politischen Untersuchungen in den 20er und 30er Jahren schärften den Blick für Richterwillkür und Kabinetts­ justiz und damit für die „Gebrechen“ des alten Inquisitionsprozesses über© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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haupt13. Wie sehr das Geschworenengericht auch von seinen Gegnern mit der Urteilsfindung in politischen Strafsachen identifiziert wurde, zeigt eine Rede Bismarcks aus dem Jahre 1851, in der er die Einführung der Geschworenen­ gerichte in Preußen als den Sieg derjenigen wertet, „welche darin eine Garantie gegen die Bestrafung politischer Verbrecher suchten“ 14. Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz barg aber noch einen anderen Aspekt in sich, der hier verfolgt werden soll. Er kann als ein Prozeß der Identitäts­ findung der bürgerlichen Gesellschaft beschrieben werden, als ein geschicht­ licher Vorgang, der das Selbstverständnis dieser Gesellschaft in seiner sozial­ geschichtlichen Komponente transparent werden läßt. Das Geschworenengericht wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Neuschöpfung der Französischen Revolution verstanden. Erst nach der Bismarckschen Reichseinigung, als sich die Frage der historischen Genesis des deutschen Nationalstaats stellte, versicherte man sich seiner älteren, in der germanischen Rechtstradition liegenden Wurzeln15. Die Rückbindung des Geschworenengerichts an die Prinzipien der Französischen Revolution erklärt seine Wertung als „Palladium der bürgerlichen Freiheit“ 16. Dabei geriet frei­ lich die Rolle aus dem Blick, die die Jury in der ,Schreckenszeit' der Revolution gespielt hatte. Napoleon, in vielem Erbe der Französischen Revolution, über­ nahm das Institut des Geschworenengerichts, wenn er es auch auf die Form einer Urteilsjury reduzierte und dadurch sein früheres Gewicht als Anklage­ und Urteilsinstanz minderte. Der C ode d'instruction criminelle von 1808 wies den Geschworenengerichten die Aburteilung von Verbrechen zu17. Die Geschworenen sollten über die „Tatfrage“ entscheiden, während die „Rechts­ frage“ dem den Prozeß leitenden Kollegium der Berufsrichter überlassen blieb. Als bedeutsam für die Reform des deutschen Strafprozeßrechts erwies sich die Tatsache, daß auch nach Beseitigung der Napoleonischen Herrschaft das in den linksrheinischen Gebieten einmal eingeführte französische Recht erhalten blieb18. So besaß der C ode d'instruction criminelle Geltung in den preußischen Rheinlanden, in Rheinbayern und in Rheinhessen. Auf deutschem Boden gab es also das Geschworenengericht als eine bestehende Institution. Von der libe­ ralen Bewegung immer wieder zitiert, war diese Stätte französischer Rechtsgel­ tung Ferment in dem Bemühen um eine Reform des gemeinrechtlichen Ver­ fahrens19. Die Realität des Geschworenengerichts, zu der auch seine Spruch­ praxis gehört, gestattet es, jenes Maß an liberaler Ideologie auszuloten, das sich in seiner theoretischen Begründung findet. Für die neuere deutsche Rechtsgeschichte ist vor allem die rechtliche Ent­ wicklung Preußens wichtig geworden. Von den Rheinlanden, dem Geltungs­ bereich des französischen Rechts, nahm nicht nur die Auszehrung des Allge­ meinen Landrechts ihren Ausgang, in den hier bestehenden Kodifikationen waren die Grundlinien der späteren Reichsgesetzgebung schon vorgezeichnet20. Der preußische Staat war nach 1815 durchaus nicht bereit, seine Rechtseinheit partikularrechtlichen Ansprüchen einer seiner Provinzen zu opfern. Nur zö­ gernd entschloß er sich, die Frage der Einführung des Allgemeinen Landrechts © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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in der Rheinprovinz zu sistieren. Eine Kabinettsorder vom 19. November 1817 garantierte die „Beibehaltung“ des rheinischen Rechts und insbesondere der rheinischen Gerichtsverfassung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die eingeleitete Revision des Allgemeinen Landrechts „vollendet“ sein würde21. Dies war für die Rheinprovinz eine sehr günstige Kompromißformel, da sich schon damals absehen ließ, daß der gesamte Revisionsprozeß sich über Jahrzehnte hinziehen würde. Wesentlichen Anteil an diesem Erfolg hatte die Arbeit der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission, ein Gremium führender rheinischer Juristen, dem 1816 die Leitung des Justizwesens der Rheinprovinz übertragen worden war22. Diese Kommission erstellte eine Reihe von Gutachten zur Verteidigung des rheinischen Rechts. Einstimmig sprach sie sich in ihrem Gutachten über das Geschworenengericht vom 19. Mai 1818 für dessen Beibehaltung in den Rhein­ landen aus23. Sie verteidigte das „Institut der Jury“ als das „edelste und vorzüglichste Kleinod der hiesigen Gerichtsverfassung“ 24. In diesem Gutachten tauchen schon sämtliche Argumentationsmuster auf, mit denen dann später die liberale Publizistik oder auch die Vertreter des politischen Liberalismus in den süddeutschen Kammern operierten. Die Jury wurde als „die sicherste Garantie für die bürgerliche Freiheit“ und als „das kräftigste Schutzmittel gegen alle Willkühr“ ausgegeben25. Die­ sem „politischen C harakter“ des Geschworenengerichts stellte man einen an­ deren „Vorzug“ an die Seite. In der Jury würden „die Bürger diejenigen Urtheiler (erblicken), welche aus ihrer Mitte, Namens des Gemeinswesens, richten; sie erblicken sich selbst, und hören ihre eigene Stimme“ 26. So sei das Vertrauen in dieses Gericht ungleich größer als in ein mit „ständigen Richtern“ besetztes. Die These, daß den Urteilssprüchen der Geschworenengerichte eine höhere Qualität dadurch zukomme, daß sie „von Gleichen“ gefällt würden, wurde von den Gegnern der Jury im Vormärz kritisch aufgegriffen. Zu ihnen gehörte insbesondere ein großer Teil der auf das alte Inquisitionsverfahren eingeschworenen preußischen Verwaltungsbeamten. Sie mißtrauten — so der Regierungsvizepräsident von Koblenz — dem „allgemeinen Grundsatz“ , der mit der Einführung der Geschworenengerichte verwirklicht sein sollte: „daß Jeder von seines Gleichen gerichtet werden solle“ und daß „der Beschuldigte diesem eine vollständigere Kenntniß seiner eigenthümlichen Verhältnisse, mit­ hin eine richtigere Beurtheilung aller Umstände, und einen tieferen Blick in die Qualität der Handlung, wie jedem anderen“ , zutraue27. Schon der preußi­ sche Justizminister v. Kircheisen hatte in seiner Entgegnung auf das Gutachten der Immediat-Justiz-Kommission die Jury mit dem Argument abgelehnt, daß gerade das nicht gewährleistet sei, was ihre Verfechter ins Feld führten: eine „Standesgleichheit“ zwischen Geschworenem und Beschuldigtem28, Kircheisen verwies in diesem Zusammenhang auf die gesetzlich geregelte Bildung der Geschworenenbank. Nach den Bestimmungen des „Rheinischen Gesetzbuches über das gerichtliche Verfahren in Strafsachen“ , einer „deutschen Übersetzung“ des C ode d'instruction criminelle, konnten Geschworene nur aus bestimmten „Klassen“ gewählt werden: aus den Mitgliedern der Wahlkollegien (colléges © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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électoraux); aus denjenigen dreihundert Einwohnern des Departements, wel­ che die meisten Steuern bezahlten; aus den Doktoren und Lizentiaten einer der vier Fakultäten des Rechts, der Medizin, der Mathematik und der Litera­ tur; aus den Notaren; aus den Bankiers, Wechsel-Agenten, Großhändlern und denjenigen Kaufleuten, die in den beiden ersten Klassen der Patent-Steuer­ rollen eingetragen waren; aus denjenigen bei den Verwaltungen angestellten Personen, die ein jährliches Gehalt von 4000 Franken bezogen. Die höheren Verwaltungsbeamten sollten ebenso wie die Geistlichen vom Geschworenen­ amt ausgeschlossen sein. Eine Zusatzbestimmung ließ die Möglichkeit offen, Geschworene „von Amtswegen“ zu ernennen, auch wenn sie die aufgeführten Kriterien nicht erfüllten29. In der Rheinprovinz fanden die französischen Verfahrensregelungen insofern Anwendung, als für die Bildung der Assisenhöfe die Prinzipien von Besitz und Bildung ausschlaggebend waren. Hiermit hängt — worauf noch einzu­ gehen sein wird — das Engagement zusammen, mit dem das rheinische Bürger­ tum das Geschworenengericht in seiner französischen Gestalt verteidigte. Kirch­ eisen bezweifelte, daß so ausgewählte Geschworene imstande seien, sich ihrem geleisteten Eid gemäß zu verhalten: „weder das Interesse des Angeklagten, noch das der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihn anklagt, zu verrathen“ 30. Es könne nicht nur der Fall eintreten, „daß unter den gewählten Geschworenen sich nicht ein einziger befindet, der Gelegenheit gehabt hätte, diejenige Men­ schenklasse, zu der der Angeklagte gehört, und den gewöhnlichen Verkehr kennen zu lernen, aus welchem das zur Untersuchung gekommene Verbrechen entstanden ist“ ; auch sei es dem Geschworenen kaum möglich, sich „von dem Interesse seines Standes“ freizumachen, wie die Urteile der Geschworenen­ gerichte besonders in Diebstahlsfällen bewiesen. Hier hätten die Geschworenen oft kein Bedenken getragen, das ,Schuldig' da auszusprechen, „wo die aus den Informationsverhandlungen hervorgehenden Indizien für unsere Richter kaum hinreichend gewesen sein würden, eine absolutio ab instantia zu begründen“ 31. Kircheisen konnte sich bei seinem Versuch, Anspruch und Wirklichkeit des Geschworenengerichts zu konfrontieren, auf einen prominenten Gegner dieses Instituts stützen. Anselm v. Feuerbach war der schärfste Kritiker der von Frankreich übernommenen Form der Jury. Nicht nur Verfassungsargumente führte er gegen sie ins Feld, er griff auch das Prinzip der „Standesgleichheit“ an. Konsequent durchgeführt, würde es die Konstituierung einer Adels-, Bür­ ger- und Bauernjury bedeuten32. Durch rationalistische Überspitzung suchte Feuerbach die These ad absurdum zu führen, daß das Geschworenengericht dem „freien Bürger“ eine Aburteilung „von seines Gleichen“ garantiere. Nicht zuletzt durch Feuerbachs Argumente sahen sich die Verteidiger der Jury genö­ tigt, den Begriff der Standesgleichheit auf den der Standesähnlichkeit zurück­ zunehmen und ihn durch die „politische Gleichheit von Angeklagtem und Ge­ schworenem“ zu definieren; als Staatsbürger seien beide — im Unterschied zum beamteten Richter — gleich unabhängig vom Staat33. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die Erstellung der Geschworenenlisten in der Rheinprovinz war für den preußischen Staat die Einbruchstelle, das hier praktizierte gerichtliche Verfah­ ren insgesamt in Frage zu stellen. Auf der Ebene der Strafrechtspflege spielte sich eine Auseinandersetzung ab, in der die bürgerliche Gesellschaft' auf sie zugeschnittene Privilegien zu wahren suchte. Der zeitgenössische Begriff der bürgerlichen Gesellschaft gewinnt dabei soziale Konturen: Es waren nur be­ stimmte gesellschaftliche Gruppen, denen das Recht attestiert wurde, ein Laienrichteramt bekleiden zu können. In der Rheinprovinz wurden Schwurgerichts­ verhandlungen vierteljährlich am Sitz des jeweiligen Landgerichts abgehalten. Die Schwurgerichtshöfe setzten sich aus fünf Richtern und zwölf Geschworenen zusammen. Letztere entstammten einer Liste von 60 Personen, die vom Re­ gierungspräsidenten angefertigt wurde34. Diese Liste war der Grund sich häufender Anfragen des preußischen Justizministeriums. Die Bestimmungen der rheinischen Strafprozeßordnung waren auf die französische Verwaltungs­ organisation zugeschnitten, also in einzelnen Punkten hinfällig geworden. Das galt z. Β. für die Wahlkollegien, die nicht mehr bestanden. Die Regierungs­ präsidenten hatten bei der Zusammenstellung der Geschworenenlisten im Grun­ de genommen freie Hand, da auch das preußische Steuersystem sich von dem französischen unterschied. Dieser gesetzlich nicht geregelte Freiraum gab dem preußischen Justizminister Kamptz, einem entschiedenen Gegner der Jury, Gelegenheit, die Zusammensetzung der Schwurgerichtshöfe zu kritisieren. Er bemängelte, daß die „Persönlichkeit der Geschworenen“ nicht die Gewähr für gerechte Urteile biete und zeigte sich besorgt über ein „Ausarten dieses Instituts, solange es gesetzlich noch besteht“ 35. Die indirekt vorgetragenen Angriffe von Kamptz zwangen die rheinischen Gerichts- und Verwaltungs­ behörden, ihren Auswahlmodus zu präzisieren. So machte der Rheinische Appellationsgerichtshof zu Köln, die höchste Gerichtsinstanz der Rheinprovinz, „Vorschläge zur Verbesserung des rheinischen Gerichtsverfahrens“ . Sie liefen im wesentlichen auf eine Verteidigung der in der Rheinprovinz bestehenden Verfahrensordnung hinaus. Die rheinischen Juristen waren in der Frage des Geschworenengerichts Partei; ihre Argumente waren die Argumente jenes Bürgertums, das mit der Jury einen Emanzipationsfortschritt errungen zu ha­ ben glaubte. Man setzte sich dafür ein, nur jene „Männer“ zu Geschworenen zu machen, „welche die Fähigkeit und den Willen haben, zur Handhabung der Ruhe und Ordnung kräftigst mitzuwirken und die durch ihr persönliches Interesse sich aufgefordert fühlen, als würdige Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft jenen Anforderungen zu entsprechen, welche der Staat an das Geschworenengericht zu machen berechtigt ist“ . Mit dem Geiste und dem Zwecke dieses Instituts lasse es sich unmöglich vereinbaren, „wenn auf das Graathewohl in die untere Volksklasse tiefer eingegriffen wird, um nur die Zahl der zu Geschworenen berufenen Staatsbürger zu vermehren, ohne sich darum zu bekümmern, welche Resultate für die bürgerliche Gesellschaft hieraus hervorgehen mögen“ 36. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Im Sinne dieser Grundsätze schlugen die Juristen des Rheinischen Appella­ tionshofes eine Neufassung des Art. 382 der rheinischen Strafprozeßordnung vor. Geschworene sollten auch weiterhin aus den dreihundert Höchstbesteuerten eines Regierungsbezirks genommen werden; zu ihnen konnten stoßen Notare, Advokaten, Doktoren des Rechts, der Medizin und der Philosophie sowie jene bei Ministerien und Provinzialbehörden angestellten Verwaltungsbeamte, deren jährliche Besoldung mindestens 1000 Taler betrug. Kaufleute sollten nur dann zum Geschworenenamt herangezogen werden, wenn sie „in größerem Umfange Handel mit kaufmännischen Rechten betrieben“ , d. h. einen hohen Gewerbesteuersatz entrichteten (18 bis 30 Taler). Nur dann lasse sich anneh­ men, daß diese Gruppe neben Bildung und Fähigkeit für den Beruf des Ge­ schworenen „auch das persönliche Interesse für die Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung“ mitbringe. Ein weiterer Vorschlag betraf die Ersetzung der Wahlkollegien durch jene Wähler des dritten und vierten Standes, die das Recht hatten, die Landtagsabgeordneten zu wählen. Auch dieses Recht war von der Steuerleistung abhängig. Zur Qualifikation eines Wählers im dritten Stande (der Städte) gehörte die Entrichtung eines Grund- und Gewerbesteuer­ betrages von zehn Talern, im vierten Stande (der Landgemeinden) waren es zehn Taler nur an Grundsteuer. Die Landtagsabgeordneten selbst zählten ohnehin zu den Höchstbesteuerten; zu ihrer Wahlfähigkeit gehörte in den zu Virilstimmen berechtigten Städten die Entrichtung einer Grund- und Gewerbe­ steuer von dreißig Talern — davon wenigstens achtzehn Taler Gewerbesteuer; in den Städten mit Kollektivstimme fünfzehn Taler Grund- und Gewerbe­ steuer; in den zum vierten Stand zählenden Landgemeinden wenigstens zwan­ zig Taler Grundsteuer37. Berichte der Regierungspräsidenten bestätigen, daß das Gutachten des Appellationshofes die in der Rheinprovinz bestehende Pra­ xis der Geschworenenberufung genau wiedergab38. Sie wollte man gegenüber den Anfechtungen des Justizministeriums verteidigen. Wie schmal die Schicht der zum Geschworenenamt Berechtigten war, zeigen die nach dem Steuer­ aufkommen vorgenommenen Zusammenstellungen der zum dritten und vierten Stande gehörenden Urwähler und Wähler in zwei rheinischen Regierungs­ bezirken39. Diese Zahlen müssen im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl gesehen wer­ den. Zwei Kreise seien herausgegriffen. 1832 waren in Düsseldorf auf Grund ihres Steueraufkommens insgesamt 723 Personen zum Geschworenenamt be­ rechtigt, in Kreuznach waren es 914. Im Vergleich dazu die Einwohnerzahl beider Kreise im Jahr 1840: Düsseldorf 72 774; Kreuznach 52 50840. Obwohl das Geschworenengericht in der Rheinprovinz fest verankert schien, drohte nach der Kabinettsorder vom November 1818 seine Beseitigung, sobald die Revision des Allgemeinen Landrechts abgeschlossen war. In den „Motiven“ zum Entwurf einer neuen preußischen Strafprozeßordnung war schon 1828 eindeutig gegen die Jury votiert worden41. Im Jahre 1843 waren die Revi­ sionsarbeiten am materiellen Strafrecht, dem Titel 20 des zweiten Teils des Allgemeinen Landrechts, so weit gediehen, daß sich der preußische Staat ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Tabelle 1 Regierungsbezirke Düsseldorf Koblenz 1. Einwohner in Städten, welche vier Taler und mehr an Grund- und Gewerbesteuer bezahlen 2. Einwohner in Landgemeinden, drei Taler und mehr Grundsteuer 3. Einwohner in Städten, zehn Taler und mehr Grund- und Gewerbesteuer 4. Einwohner in Landgemeinden, zehn Taler und mehr Grundsteuer 5. Einwohner in Städten mit Virilstimme, dreißig Taler inkl. achtzehn Taler Gewerbesteuer 6. Einwohner in Städten mit Kollektivstimme, fünfzehn Taler inkl. acht Taler Gewerbesteuer 7. Einwohner in Landgemeinden, zwanzig Taler Grundsteuer

3 748

1 777

15 165

18 107

2 868

1 161

5 535

3 303

409

57

1 616 2 916

551 542

schloß, den Entwurf eines neuen Strafrechts zu publizieren und ihn den Land­ ständen zur Beratung vorzulegen42. Für die Rheinprovinz bedeutete dieser Entwurf einschneidende Abänderungen des hier gültigen Strafrechts. Nicht nur tauchte im Strafsystem wieder die körperliche Züchtigung auf, auch die Gleichheit vor dem Gesetz war durch die Möglichkeit nicht mehr gewährleistet, ausgesprochene Strafen nach dem „Stand“ des Verurteilten umzuwandeln. Obwohl der Entwurf gegenüber dem Allgemeinen Landrecht die Diebstahl­ strafen heraufgesetzt hatte, lagen diese noch weit unter dem Strafmaß des Rheinischen Strafgesetzbuchs43. Besonders war die Rheinprovinz durch das mit dem neuen Entwurf gekoppelte „Kompetenzgesetz“ betroffen, das die Funktionen der rheinischen Gerichte abänderte44. Bisher waren sie nach der Art der Strafübertretung klar gegliedert. Kontraventionen wurden von den Friedens- oder Polizeigerichten, Vergehen von den Zuchtpolizeigerichten und Verbrechen von den Geschworenengerichten geahndet. Die höchste Strafe, die Zuchtpolizeigerichte verhängen konnten, war eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren. Nach dem ,Kompetenzgesetz' sollten sie nun auf „alle Arten von Strafen“ , also auch auf Zwangsarbeit und Zuchthaus, erkennen können, sofern diese fünf Jahre nicht überstiegen. Die Zuchtpolizeigerichte rückten damit zur entscheidenden Instanz der Rechtsprechung auf. Mit der Erweiterung ihrer Befugnisse war notwendig eine Relativierung der Geschworenengerichte ver­ bunden. In ihre Kompetenz fielen nur noch jene Verbrechen, die mit Zucht­ haus über fünf Jahre bestraft wurden. Der rheinische Provinziallandtag lehnte den Entwurf eines neuen Strafrechts vor allem auch deshalb ab, weil er die rheinische Gerichtsverfassung mit ihrem Kern, dem Geschworenengericht, tangierte. Er konnte sich dabei auf eine breite Unterstützung aus allen Teilen der Provinz berufen. Über ihre Landtagsabge­ ordneten protestierten mehr als zwanzig rheinische Städte und Gemeinden gegen das neue Strafrecht45. Sie formulierten Petitionen, denen lange Unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schriftslisten beigegeben wurden. Die meisten wiesen mehrere hundert Unter­ zeichner auf. Der Entwurf eines neuen Strafrechts hatte das rheinische Bürger­ tum mobilisiert. Welches waren seine Sorgen und warum kam es zu dieser Solidaritätsbekundung? Zwei Punkte waren es, die in allen Petitionen immer wieder angesprochen wurden: die Frage der Gleichheit vor dem Gesetz und die Beibehaltung des Geschworenengerichts in seiner bisherigen Gestalt. Man verteidigte den Geschworenen als den „unbestechlichsten, allein vom Inter­ esse des Rechts geleiteten Richter“ und wertete den Entwurf daher als einen „kunstgerechten Mauerbrecher“ , „bestimmt durch seine zermalmenden Schläge eine gewaltige Bresche in unser prächtiges Rechtsgebäude zu schlagen“ 46. In der Frage des Geschworenengerichts hatte die ,rheinische Rechtsbewegung' ihren gemeinsamen Nenner. Es wäre eine unzureichende Erklärung, sie auf eine „Anhänglichkeit an das rheinisch-französische Recht“ reduzieren zu wollen, „welche von sachlichen Gründen vielfach ganz absah“ 47. Das Geschworenen­ gericht war in der Rheinprovinz eine Institution, die im Zusammenhang mit spezifischen Interessen des rheinischen Bürgertums zu sehen ist. Um diese These zu belegen, gilt es einen Blick auf jene ,Sachen' zu werfen, die vor dem Ge­ Tabelle 2 Neueingeleitete Untersuchungen bei sämtlichen Gerichten der Rheinprovinz nach Gattung der Verbrechen Gattung der Verbrechen

1844

1834

1835

1836

3

3

1



771

971

859

48

23

54 8 16 69 002

1. Hochverrat 2. Widersetz­ lichkeit u. Beleidigungen gegen Beamte 3. Münzver­ brechen 4. Amtsver­ gehen 5. Mord 6. Kindermord 7. Fleischliche Verbrechen 2 8. Diebstahl 9. Holz­ diebstahl 26 10. Betrug u. Verfälschg. 11. Vorsätzl. Brand­ stiftung

1846

1847

1848

1849







2

3

731

870

757

675

803

1125

18

13

21

28

53

29

48

70 6 27

90 15 14

74 5 14

82 14 15

64 23 22

74 10 14

41 16 20

37 12 12

84 2 109

72 2 396

80 3 295

76 3 336

73 4 024

65 5 267

47 2 736

73 2 686

1845

749 28 494 36 541 54 981 63 935 59 645 72 918 50 510 63 613 252

251

206

250

203

233

331

199

234

66

41

29

26

23

46

36

34

42

Zahl der Gerichtseingesessenen ohne Militärs 1844: 2 345 413, 1845: ebenso, 1846: ebenso, 1847: 2 429 938, 1848: 2 431785 und 1849: 2 443 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schworenengericht verhandelt wurden. Ein Überblick über die Entwicklung der Kriminalität in dem Zeitraum von 1834 bis 1849 zeigt, wo ihre Schwer­ punkte lagen48. Bei der Prüfung der Frage, für welche Verbrechen und Vergehen das Ge­ schworenengericht zuständig war, muß auf die Kabinettsorder vom 6. März 1821 verwiesen werden, die alle politischen Sachen und Dienstvergehen der Verwaltungsbeamten den rheinischen Gerichten entzog49. Neben den Verbre­ chen gegen die Person, zu denen noch die hier nicht aufgeführte Körperverlet­ zung kam, wurden Betrug und Brandstiftung nur bei erschwerenden Umstän­ den mit Zuchthaus bestraft. Das am häufigsten vorkommende Delikt, der Holzdiebstahl, wurde nach dem Holzdiebstahlgesetz vom 7. Juni 1821 abge­ urteilt. Da nach dem Rheinischen Strafgesetzbuch die Verbrechen gegen das Eigentum besonders streng geahndet wurden, lag hier der Schwerpunkt der Spruchpraxis der Geschworenengerichte50. Zwei aufeinander zu beziehende Statistiken mögen dies verdeutlichen51. Von der Gesamtzahl der Diebstähle, die von 1844 bis 1849 als „neueingeleitete“ untersucht wurden, waren folgende „kriminell strafbar“ , fielen also in den Kompetenzbereich der Geschworenen­ gerichte: Tabelle 3 Jahr

Diebstähle insgesamt

davon „kriminell strafbar“

1844 1845 1846 1847 1848 1849

3 295 3 336 4 024 5 267 2 736 2 686

245 359 417 652 409 418

Der Vergleich mit den in demselben Zeitraum im Laufe eines Jahres „been­ digten“ Untersuchungen ergibt, daß die Eigentumsdelikte mit über 50 % an den Sachen beteiligt waren, die vor den Geschworenengerichten verhandelt wurden. Es wurden von 1844 bis 1849 folgende Untersuchungen gegen Be­ schuldigte in Kriminalsachen (Verbrechen), Zuchtpolizeisachen (Vergehen) und Polizeisachen (Kontraventionen) „beendigt“ 52: Tabelle 4: Beendigte Untersuchungen in Jahr

Kriminalsachen

Zuchtpolizeisachen

Polizeisachen

Gesamt

1844 1845 1846 1847 1848 1849

431 611 673 868 682 777

14 689 14 380 15 966 20 898 18 198 17 458

127 778 141 461 152 002 175 762 107 372 126 961

142 898 156 452 168 641 197 528 126 252 145 196

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Die Verschiebung der Zuständigkeit von Zuchtpolizei- und Geschworenen­ gerichten erhielt erst durch die gleichzeitige Neufassung der Strafbestimmun­ gen für den schweren Diebstahl ihre Brisanz. Nach dem Entwurf von 1843 sollten schwere Diebstähle mit „Zuchthaus von zwei bis zehn Jahren“ geahndet werden53. Dies bedeutete nicht nur eine Milderung des Strafmaßes gegenüber dem Rheinischen Strafgesetzbuch; ein Großteil der schweren Diebstähle wäre dadurch den Geschworenengerichten entzogen worden. In einer an den preu­ ßischen Justizminister gerichteten Denkschrift sprach einer der führenden rhei­ nischen Juristen, Ruppenthal, diesen Sachverhalt offen aus. Nach seiner Be­ rechnung waren von 1819 bis 1845 von den rheinischen Geschworenengerichten 10 354 Verbrechen abgeurteilt worden. Nach dem Entwurf von 1843 wären, bedingt durch die Abänderung des materiellen und formellen Strafrechts, von diesen Verbrechen 6770 der Kompetenz der Geschworenen entzogen ge­ wesen, darunter 3560 Eigentumsdelikte54. Für den Fall, daß das neue Straf­ gesetzbuch in der Rheinprovinz eingeführt werden sollte, machte Ruppenthal die „Besorgnis“ geltend, daß dann das Eigentum des Rheinpreußen gänzlich schutzlos werden müsse. In der Perspektive der Realität des Geschworenen­ gerichts erscheint der Kampf um es in einem neuen Licht. Nicht von den poli­ tischen Prozessen, die es in der Rheinprovinz überhaupt nicht gab, erhielt er seine Schärfe; das Geschworenengericht scheint weniger ,Palladium der bürgerlichen Freiheit' (Feuerbach) als Palladium der bürgerlichen Eigentums­ ordnung gewesen zu sein. Der Kampf um die Geschworenengerichte hatte in der Rheinprovinz den Charakter einer gesellschaftlichen Bewegung, Das rheinische Bürgertum fühlte sich an einem seiner Hauptnerven getroffen. Sein Widerstand brachte den Entwurf des Jahres 1843 letztlich zu Fall. Durch die Revolution von 1848 wurden die Geschworenengerichte nicht nur Bestandteil der preußischen Ver­ fassung. Auch die anderen deutschen Staaten führten sie ein55. Gesetzlich ver­ ankert wurden sie in Preußen durch die Verordnung vom 3. Januar 1849 „Über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Ge­ schworenen in Untersuchungssachen“ . Diese Verordnung wurde nur unwesent­ lich abgeändert durch ein Gesetz vom 3. Mai 1852, „betreffend die Zusätze zu der Verordnung vom 3. Januar 1849“ 56. Inhaltlich stellen diese beiden Gesetzestexte einen vollen Erfolg der rheini­ schen Rechtsbewegung dar. Die Geschworenengerichte sollten für alle Verbre­ chen zuständig sein, die mit einer härteren als dreijährigen Freiheitsstrafe be­ droht waren (§ 60). Auch bei der „Bildung der Geschworenenlisten“ gab es nur Modifizierungen der Rheinischen Strafprozeßordnung. Neben Rechtsan­ wälten, Ärzten, Notaren, Professoren und Beamten mit einem Jahresgehalt von wenigstens fünfhundert Talern sollten nur diejenigen zu Geschworenen berufen werden können, welche jährlich achtzehn — nach dem Gesetz von 1852 dann sechzehn — Taler an Klassensteuer oder zwanzig Taler an Grund­ steuer oder vierundzwanzig Taler an Gewerbesteuer entrichteten (§§ 62 und 63). Auch das Preußische Strafrecht vom 14. April 1851 orientierte sich in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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seiner Bestrafung des Diebstahls am materiellen Rheinischen Strafrecht. Bei schweren Diebstählen sollte auf Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren erkannt werden können 57 . Die Abschaffung des gemeinrechtlichen Verfahrens mit seinem Kern, dem Inquisitionsprozeß, herbeigeführt zu haben, war ein Verdienst der bürgerlichen Bewegung. Ihr Eintreten für rechtsstaatliche Prinzipien hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts freilich eine Seite, die nicht unterschlagen werden darf und die Karl Marx im Auge hatte, wenn er auch im Rechtsstaat das Fortleben des Rechts des Stärkeren unter anderer Form konstatierte 58 .

Anmerkungen 1 U, Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: 100 Jahre deutsches Rechtsleben, II, Karlsruhe 1960, 232; F. Schneider, Die politische Kompo­ nente der Rechtsstaatidee in Deutschland, PVS 9. 1968, 350; G. Dietze, Staatsrecht u. Rechtsstaat, in: Theory and Politics (Fs. C . J . Friedrich), Hrsg. K. v. Beyme, Den Haag 1971, 526—54. 2 E. Schmidt, Deutsches Strafprozeßrecht, Göttingen 1967, 21. 3 Schmidt, Strafprozeßrecht, 22 f.; ders., Einführung in die Geschichte der deut­ schen Strafrechtspflege, Göttingen 31965, §§ 185 ff. u. 252 ff.; C . J . A. Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, 1. Abt., Heidelberg 21832, 136 f.; C riminal-Ordnung für die Preußischen Staaten nebst . . . ergänzenden Gesetzen, Berlin 31860, 73 (§§ 2 u. 5). 4 Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts. Hrsg. Fr. v. Holtzendorff, I, Berlin 1879, 15; R. v. Hippel, Der deutsche Strafprozess, Marburg 1941, 34—45. 5 Schmidt, Einführung, 327; G. Plathner, Der Kampf um die richterliche Unab­ hängigkeit bis zum Jahre 1848, Breslau 1935; C . Th. Welcker, C abinets-Justiz, in: Rotteck-Welcker Hrsg., Staats-Lexikon, II, 21846, 791 f. 6 C . Th. Welcker, Strafverfahren — C riminalprozeß, in: Staats-Lexikon, XII, 21848, 503. 7 Mittermaier, Strafverfahren, 110 u. 143. 8 C . J . A. Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit u. das Geschworenengericht in ihrer Durchführung in den verschiedenen Gesetzgebun­ gen, Stuttgart 1845, 222 f. β Schmidt, Einführung, 332 ff.; E. Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, Breslau 1926, 50—53; M. Oehler, Schwur­ gerichte u. Schöffengerichte. Beitrag zur historischen Entwicklung und gegenwärtigen Bedeutung, Berlin 1896, 58. 10 C . Th. Welcker, Jury, Schwur- oder Geschworenengericht als Rechtsanstalt u. als politisches Institut, in: Staats-Lexikon, VII, 21847, 748. 11 Ebd., 783. 12 Mittermaier, Strafverfahren, 2. Abt., Heidelberg 21833, 219. 13 Schwinge, 45—50. 14 O. v. Bismarck, Die politischen Reden, Hrsg. H. Kohl, I, Stuttgart 1892, 396. 15 H. Brunner, Die Entstehung der Schwurgerichte, Berlin 1871; E. Mayer, Ge­ schworenengericht u. Inquisitionsprozeß, München 1916.

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Schmidt, Einführung, 326. C ode d'instruction criminelle. Aus dem Französischen nach dem officiellen Texte, Köln 21812, 2. Buch, Titel II: Von den Sachen, welche vor die Geschworenen gehören (Des affaires qui doivent être soumises au jury). 18 E. Landsberg, Das rheinische Recht u. die rheinische Gerichtsverfassung, in: Die Rheinprovinz 1815—1915, I, Bonn 1917, 149—95; H. C onrad, Preußen u. das französische Recht in den Rheinlanden, in: J . Wolffram/A. Klein, Hrsg., Recht u. Rechtspflege in den Rheinlanden, Köln 1969, 78—113; A. Klein, Die rheinische Justiz u. der rechtsstaatliche Gedanke in Deutschland — Zur Geschichte des Oberlandes­ gerichts Köln u. der Gerichtsbarkeit in seinem Bezirk, ebd., 114—265; K.-G. Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration u. Revolution. Probleme der rheinischen Ge­ schichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, 118—86. E. Fehrenbach, Die Einführung des C ode Napoleon in den Rheinbund­ staaten, phil. Habil.-Schrift Gießen 1973, gedr. Göttingen 1974. 19 J . Venedey, Das Geschworenengericht in den preußischen Rheinprovinzen, Köln 1830; H. Th. Schletter, Die rheinische Gerichtsverfassung u. das rheinische Strafver­ fahren, Altenburg 1847. 20 Das gilt besonders für das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1871), die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz (beide 1877). Vgl. Die fünf rheinischen Gesetzbücher, in einem Bd., Krefeld 1835/38 (Bürgerliches Gesetzbuch, Bürgerliche Prozeß-Ordnung, Handels-Gesetzbuch, Straf-Gesetzbuch, C riminal-Prozeß­ Ordnung). 21 E. Landsberg, Die Gutachten der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission u. der Kampf um die rheinische Rechts- und Gerichtsverfassung 1814—1819, Bonn 1914, 367—73. 22 Ebd., Einleitung I—C XXX. 23 Ebd., 119—204. 24 Ebd., 203. 25 Ebd., 172. 26 Ebd., 177. 27 Schreiben vom 5. 9. 1832, StA Koblenz, Abt. 403, Nr. 12161. 28 Votum des Justizministers v. Kircheisen betr. die Organisation der Justiz in den Rheinprovinzen, vom Juli 1818, in: Landsberg, Gutachten, 330 f.; zum Problem der Standesgleichheit, Venedey, 277 ff. 29 Rheinisches Gesetzbuch über das gerichtliche Verfahren in Strafsachen; nach der von dem französischen Gouvernement angeordneten officiellen deutschen Über­ setzung, Krefeld 1838, Art. 381—392. 30 Ebd., Art. 312. 31 Landsberg, Gutachten, 318—322. 32 A. v. Feuerbach, Betrachtungen über das Geschworenengericht, Landshut 1813, 81 ff.; Schwinge, 6—18; Schmidt, Einführung, 333 ff. 33 Landsberg, Gutachten, 330 f.; Venedey, 284 f. 34 M. Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815, Bonn 1919, 408; Die Rheinprovinz unter Preußen, Elberfeld 1841, 72 f. 35 Schreiben von Kamptz an den preußischen Innen- u. Polizeiminister vom 7. Juni 1833, StA Koblenz, Abt. 403, Nr. 12 165; vgl. Schreiben von Kamptz an das Rheini­ sche Oberpräsidium vom 12. 5. 1833, ebd., Nr. 12 161. 30 Vorschläge des Rheinischen Appellationsgerichtshofes vom 17. 4. 1833, StA Ko­ blenz, Abt. 403, Nr. 12 165. 37 Ebd; vgl. Gesetz wegen Anordnung der Provinzial-Stände für die Rheinprovin­ zen vom 27. 3. 1824, Preußische Gesetzsammlung 1824, 101—8. 38 Schreiben der Regierung Koblenz vom 5. 9. 1832 u. der Regierung Düsseldorf vom 31. 5. 1833, StA Koblenz, Abt. 403, Nr. 12 161. 16

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39 Ebd; Zusammenstellungen aus dem Jahre 1832. Zum Regierungsbezirk Düssel­ dorf gehörten die Kreise Düsseldorf, Elberfeld, Lennep, Solingen, Neuss, Greven­ broich, Gladbach, Krefeld, Kempen, Geldern, Kleve, Rees, Duisburg; zum Regierungs­ bezirk Koblenz die Kreise Koblenz, St. Goar, Kreuznach, Simmern, Zell, Kochem, Mayen, Adenau, Ahrweiler, Neuwied, Altenkirchen, Wetzlar. 40 Übersicht der Bevölkerung des Preußischen Staats . . . am Ende des Jahres 1840, in bezug auf die Justizverwaltung in demselben, GStA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a, Nr. 4478. 41 Motive zu dem von dem Revisor vorgelegten Ersten Entwurfe der Straf-Prozeß­ ­rdnung für die Preußischen Staaten, Berlin 1828, 18. 42 Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, nach den Beschlüssen des Königlichen Staatsraths, Berlin 1843; Denkschrift über die zur ständischen Bera­ thung gestellten Fragen über den Entwurf des Strafgesetzbuchs, GStA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 247 m; dazu meine Habil.-Schrift „Strafrechtspflege und bürgerliche Gesellschaft in Preußen bis 1850“ , Düsseldorf 1973, MS. 43 Rheinisches Straf-Gesetzbuch, Krefeld 1836, Art. 379—401 (Vom Diebstahl). 44 Gesetz über die Kompetenz der Gerichte zur Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen und Vergehen im Bezirke des Appellationshofes zu Köln; dazu die „Denkschrift“ zu diesem Gesetzentwurf, GStA, Rep. 80, Drucksachen, Nr. 247 m. 45 Diese Petitionen in: Archivberatungsstelle des Landschaftsverbandes Rheinland (Köln), Archiv der Provinzial-Stände der Rheinprovinz, Nr. 631. 46 Petition der Stadt Düsseldorf vom 11. 5. 1843; Petition der Gemeinde Mayen vom 28. 5. 1843, ebd. 47 Landsberg, Recht, 159. 48 Für die Jahre 1834—1836, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep. 11, Nr. 13 11; für die Jahre 1844—1849: GStA, Rep. 84 a, Nr. 10 122. Vgl. zur Interpretation dieser Kriminalstatistiken meine Habil.-Schrift. 49 Preußische Gesetzsammlung 1821, 30—31. 50 Fast alle qualifizierten Diebstähle wurden nach rheinischem Recht mit Zuchthaus oder Zwangsarbeit bestraft, Rheinisches Straf-Gesetzbuch, Art. 381—400. 51 Zusammenstellung aus: Rep. 84 a, Nr. 10 122. 52 Ebd. 53 Strafgesetzbuchentwurf von 1843, § 407. 54 Denkschrift Ruppenthals vom 1. 3. 1847 zum Entwurf eines neuen Strafgesetz­ buchs, in: Gesetz-Revision, Berlin 1827—1848 (35 Bände), Pensum I: Strafgesetzbuch. Bibliothek des Bundesverwaltungsgerichts, Berlin. 55 Schwinge, 153—155; Schmidt, Einführung, 336 f.; J . A. Mackert, Von der peinlichen Prozedur zum Anklageprozeß. Ein Beitrag zur Geschichte der Gerichts­ organisation u. des Strafprozesses im Großherzogtum Baden 1803—1879, in: Baden im 19. u. 20. Jahrhundert, II. 1950, 90—211. 56 Preußische Gesetzsammlung, 1849, 14—47; Criminal-Ordnung, 1—68. 57 Preußische Gesetzsammlung 1851, § 218. 58 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857 bis 1858, Frankfurt o. J . , 10. Das später mit der Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich zusammen publizierte Gerichtsverfassungsgesetz (1877) hob die Steuerleistung als Kriterium für das Geschworenenamt auf. Die Entstehungsgeschichte beider Gesetze könnte die sozialgeschichtlichen Implikationen dieser Entscheidung deutlich machen.

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9. Partei, Volk, and Staat Some Reflections on the Relationship between Liberal Thought and Action in Vormärz By JAMES J . SHEEHAN

. . . . words strain, Crack and sometimes break, under the burden, Under the tension, slip, slide, perish, Decay with imprecision, will not stay in place, Will not stay still T. S. Eliot, Burnt Norton “ Wir leben in einer Zeit der Gärung“ , wrote one observer in 1846, “ in der Altes sich zersetzen, Neues sich gestalten will; und dieses nicht etwa nur in jener stillen, unmerkbaren Weise . . . sondern viel­ mehr in einer jener stärkeren Krisen, die — freilich nur in Folg einer meist unbemerkten, allmählichen Ansammlung von Gärungs­ stoffen — in rascheren, gewaltigeren Wirkungen Altes zu zerstören und neue Gestaltungen zu Tage zu fördern pflegen.“ 1 During the first half of the nineteenth C entury, this perception was shared by many Germans who watched life's familiar patterns crumble and searched the debris for the future's shape. Attendant upon these perceptions of rapid his­ torical change was what W. H. Riehl called a Begriffsverwirrung, radical alterations in the vocabulary of social and politicai life produced as men groped to understand the new world around them2. During this period, men acknowledged innovations in politicai life with words like Partei and Be­ wegung which referred to new forms of ideological cohesion and collective action. At the same time, the meanings of words like Volk and Mittelstand were stretched and altered to include new social groups and relationships. With these new kinds of social and politicai alignments came changes in the issues and goals of politicai life, changes which were signalled by the use of coneepts like Staatsbürger, Repräsentativverfassung, and Ministerverantwortlichkeit. To quote Riehl once again: “ In dieser erweckten Zeit entstehen täglich neue Dinge und mit denselben neue Wörter, und wo man nicht flugs das neue Wort findet, da prägt man ein altes zu neuem Werte um.“ 3 The purpose of this essay is to suggest some connections between the “ er­ weckte Zeit“ of Vormärz and the politicai and social language of the emerging

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liberal movement. I am not interested in the study of words as an end in itself, indeed I am concerned that such a study might become an updated form of that Ideengeschichte which for so long distracted German historians from the realities of life. The analysis of words and coneepts should lead us toward, not away from the interests, ambitions, hopes, fears, enthusiasms and hatreds that provide the wellsprings of human action and the stuff of history. I will, there­ fore, attempt to keep my attention focused on the relationship between con­ eepts and experience, language and life, in order to see how the meaning of words is shaped by men's historical setting, and how men's perception of reality is conditioned by the words they use to think and speak about it. In the past, as in the present, there is an “ interdependence of words and the world“ , since “ with respect to human, social, cultural, and political things . . . what we see and what is there for us to see will depend on the coneepts we bring to experience. For actions and relationships and feelings and practices and institutions do not walk up to us like elephants and stand there, gently flapping their ears, clearly distinct from their surroundings, waiting to be inspected and named“ 4. I. Traditionally, liberal referred to certain personal qualities (“ freigebig, mild, gütig“ ), but in the 1820's it increasingly came to be used as a political term. In this usage, liberal acquired a bewildering variety of meanings: to someone like the young Bismarck, it signified distaste for the bureaucraey; to reactionaries it was usually a catchword for all opponents of the established order; but to most of those who thought of themselves as liberals, the term stood for a set of views held by progressive and moderate men throughout Europe. These men seemed to share a family of beliefs and values: progress, constitutional government, freedom of expression, an end to unearned privilege and unproductive social restrictions. Moreover, they felt themselves to be part of a movement, members of the liberal party, participants in what they some­ times called “ the party of movement“ 5. They knew, of course, that there were disagreements within their ranks, but they were convinced that these disagree­ ments could easily be subordinated to their common goals and ideals. As Fer­ dinand Falkson, a liberal from Königsberg, put it, there were certainly “ ver­ schiedene Meinungsnuancen“ among liberals, but not “ verschiedene Parteien“ 6. What did liberals have in mind when they thought of themselves as a party? For most of them, party membership meant ideological or spiritual commit­ ment, not organizational identification or a set of institutional relationships. “ Ich leugne nicht, Parteimann zu sein“ , Heinrich von Gagern wrote, “ was heisst das anders als eine Meinung haben, für diese werben und sie geltend zu machen suchen.“ And Falkson teils us that among liberals in Königsberg, “ Das Gemeinsame war also, wie man damals ausdrückte, die Gesinnung . . .“ In this usage, party is not an institutional or even an entirely political category; it describes a shared inner, moral condition and a way of viewing the world7. But the liberal “ party“ was not simply one particular viewpoint, it was the only truly legitimate one. Liberalism, wrote Paul Pfizer, directed the state 11*

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toward what “ die Gesamtheit in ihren vernünftigen Interessen will oder wol­ len muss“ . Liberais represented the common good, freedom, enlightenment, and progress; their opponents represented the opposites of these values and were condemned to oblivion by the same historical logic which promised liberals eventual triumph. Johann Jacoby expressed the liberals' characteristically du­ alistic view of political life in these words: “ Überall erblicken wir zwei sich feindlich gegenüberstehende Parteien: Auf der einen Seite die Herrscher und Aristokraten mit ihrer Neigung zur Willkür und dem starren Festhalten an alten vernunftwidrigen Formen; auf der anderen die Völker mit ihrem neu­ erwachten Kraftgefühl und der lebendigen Sehnsucht nach freierem Auf­ schwung.“ 8 The liberals' notion of politics as the struggle between good and evil, pro­ gress and regress limited their willingness to engage in the kind of bargaining and compromise that is so much a part of modern parliamentary life. They had trouble formulating a pluralistic view of the political process, which could have recognized the legitimacy and potential creativity of party conflict and seen politics as a means of managing the inevitable differences which exist in society9. Moreover, their concept of a party as a Gesinnungs-Gemeinschaft encouraged them to view political action as spiritual in content and educational in form. Reading societies, Bildungsvereine, and other opinion-making bodies were the most characteristic liberal orgamzations in Vormärz. Their objective was the spread of enlightenment, not agitation or Organization for action10. To understand this image of politics, we must recall the institutional setting in which it took shape. The nature of the communications network and re­ actionary government policies inhibited the growth of institutions which would have linked the overarching ideological community of the Partei and small, local, quasi-political Vereine. Restrictions on political activity both within and outside of representative assemblies limited the evolution of cohesive political groups, as well as of a pluralistic pattern of political conflict. C ensorship and other repressive measures discouraged clear political alignments, not only by interfering with sustained political interaction, but also by providing a com­ mon focus against which a heterogeneous Opposition could rally11. There is no doubt, therefore, that the liberals' image of party reflected the narrowness of Vormärz politics, and that their inclinanon to see political action in spiritual terms was what Hans Rosenberg once called “ ein Ersatz“ for genuine represent­ ative institutions12. But the longterm significance of this vision came from the liberals' inclination to make a virtue of necessity and to adopt the image of politics forged within the limitations of Vormärz as the only fitting and proper response to the demands of public life. One clue to why this should be so can be found in the negative connotation many liberals gave to the word party when they used it to mean something other than a Gesinnungsgemeinschaft. As the Brockhaus encyclopedia put in in 1846: “ Es lässt sich Nichts gegen das natürliche Entstehen und Zusammenhalten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der durch Gleichheit der Ansichten und Strebungen Verbundenen, aber sehr viel gegen organisierte, mit bewusster Berechnung verfahrende Parteien sagen.“ 13 There were several reasons why liberals were uneasy about the possible im­ plications of organized parties. First, some of them were afraid that such or­ ganizations would interfere with their freedom of decision by promoting con­ formity and imposing external discipline. Second, some seemed to think that organized parties would encourage selfishness and material ambition. This is what was on Friedrich Murhard's mind when he rejected a proposal for closer cooperation in the Baden Landtag because he feared that “ statt einer edlen Bestrebung nach Sachen, nach der Realisierung von Ideen . . . ein schnödes Rennen nach Minister- und Staatsratsstellen“ , and that “ das Interesse des Vol­ kes [werde] unterdrückt durch jenes von Partheyen oder von einzelnen Ehr­ geizigen.“ 14 Finally and perhaps most important, some liberals had doubts about party Organization and political agitation because they were reluctant to move outside the distant community of Spiritual agreement or the familiar world of the local Verein. And this reluctance brings us to the next facet of the liberals' vision to be considered, their view of the Volk and its role in political life. II. Frolinde Baiser has ennumerated six meanings assigned to the term Volk during the first two-thirds of the nineteenth C entury: a particular linguistic or ethnic group; the romantics' Volkstum, with its poetic and mystical overtones; the common people; the lower classes, as opposed to the propertied and educated strata; the nation as a whole, as opposed to the government; and the politically-active sectors of the nation15. Within this multiplicity of meanings one ambiguity emerges as of particular significance for the liberals: the tension between the Volk, defined as those whose well-being legitimized the liberals' Opposition and whose support provided their strength, and the Volk as “ eine unbestimmte Menge“ , the Volk of the masses, the Pöbel. Liberals used the same word to refer to both of these groups because they liked to think that their interests coincided; thus they sought to speak, as we have seen, for the good of the nation as a whole. But most liberals knew that distinctions had to be made between the active political Volk and the passive, physical one. They had trouble making these distinctions, however, both in the language of social analysis and in the practice of political life16. Frequently when liberals spoke of the active, political nation they called it “ das eigentliche Volk“ , which they identified with the Mittelstand or Mittel­ klasse. This, they felt, was the true location of the liberal movement, the Stand on which the “ Macht und Ansehen des Staates“ rested17. But what did they mean by Mittelstand? The first answer is, a great many different things. Most would have said that to belong to the Mittelstand and “ das eigentliche Volk“ one had to be “ independent“ ; and most would have agreed to exclude women, children, servants, apprentices, and usually, day laborers. But as the list of exclusions grows, the range of agreement among liberals narrows. Perhaps it is safest to conclude that there was an elitist and a democratic minority at the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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two extremes of the movement, with most liberals acknowledging the need for some property restrictions, but disagreeing about how much one had to have to qualify for membership, either in the Mittelstand or in the politically-active Volk. In addition to disagreeing about the economic prerequisites of member­ ship, liberals also had different ideas about which social groups were most re­ presentative of the Mittelstand: a Rhenish entrepreneur like David Hansemann regarded dynamic financiers and industrialists as the “ eigentliche Kräfte“ der Nation; but to a great many liberals, and especially those living in more economically backward parts of Germany, the most characteristic and cherished members of the Mittelstand were small manufacturers, shopowners, master craftsmen, and farmers18. This terminological variety suggests why we cannot translate Mittelstand as “ middle class“ , if by class we mean a group with a common market position or similar relationships to the means of production. It is misleading to consider the social basis of liberalism as some kind of embryonic “ bourgeoisie“ that dimly reflects analogous groups in England, France, or Belgium. Instead we must see them as vividly reflecting the diverse and fluid realities of the German Vormärz19. Throughout the first half of the nineteenth C entury the German social structure was characterized by the combination of rather advanced and quite traditional elements, a combination that can be suggested by the regional differences between the Rhineland and the south or southwest, but which also existed within various regions and industnes, indeed within particular enter­ prises and individual careers20. The middle strata of society, on which liberalism depended for support, included entrepreneurs and financiers, officials and other Gebildete, as well as small manufacturers and merchants who still operated within a local and protected economic environment21. The lack of clear social and economic parameters for the term Mittelstand reflected this diversity, which Friedrich Engels called the chief “ misery“ of the German Status quo: “ dass keine einzige Klasse bisher stark genug gewesen ist, ihren Produktions­ zweig zum nationalen Produktionszweig par excellence und damit sich selbst zur Vertreterin der Interessen der ganzen Nation aufzuwerfen. Alle Stände und Klassen, die seit dem zehnten Jahrhundert in der Geschichte aufgetaucht sind . . . existieren nebeneinander“ 22. Α great many liberals, however, did not see the diversity within their movement with this degree of clarity. Just as they tended to obscure their political divisions by speaking of a synthesizing G esinnung, so they blurred their social and economic dissensus by using Mittelstand as both a social and a moral category. Thus they sometimes spoke of it not as a particular social group, but rather as the true locus of society's ultimate wellbeing. In this usage, Mittelstand was not the Stratum “ between“ the upper and lower orders in terms of wealth and Status, it was “ der Kern der Nation“ , which combined the virtues of other groups into a progressive and vital center23. Along the same lines, “ independence“ could be regarded not as a material condition but © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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as a Spiritual one, the ability to form independent, rational, and therefore, liberal judgments about public affairs. Despite these assertions of Spiritual unity, liberals held very different views on both the details and the basic nature of social and economic development. We can find among them freetraders and protectiomsts, defenders of indus­ trialism and of the primacy of agriculture, men who applauded and men who feared the growth of large cities. It is true that most liberals approved of some kinds of material progress — railroads, for example — but a great many of them had doubts about unrestrained industrialization and urbamzation. For every liberal like John Prince Smith, who welcomed a free market economy, there were several others who tempered their advocacy of economic freedom with concern for the potential destrucuon of small enterprises and anxiety about the concentration of wealth and the expansion of cities. And a great many of the liberals who were willing to accept economic freedom in theory demanded that it be qualified in practice to avoid freedom's disruptive and dangerous implications24. Liberal fears about the disruptive effects of economic growth were sharpened during the 1840's by a spreading sense of social crisis, which intensified diffe­ rences within the Mittelstand and made the relationship between “ das eigent­ liche Volk“ and the masses increasingly problematical. During the turbulent years preceding the revolution of 1848 the threatening overtones long associated with the masses of the Volk became ever more insistent, a development which Werner C onze has traced in the terminological shift from Pöbel to Proleta­ riat25. Although, like so many of the new words that came into use during Vormärz, Proletariat carried a variety of meanings, it was most often used to refer to those most different from, and most dangerous to, the Mittelstand. Like Mittelstand, Proletariat was at once a social and a moral category. Pro­ letarians were not only materially dispossessed, they were aware of their con­ dition and saw themselves as detached from the social order. It was this self­ conscious discontent and Spiritual homelessness which made their material pri­ vation so threatening. Liberals' response to these threats more or less conformed to their judgments on social and economic developments as a whole: a man like Prince Smith viewed the Proletariat as an unfortunate but inevitable byproduct of economic growth and believed that only more economic growth could help them; other liberals took the turbulence of the forties as evidence for their conviction that economic and social developments had to be channeled in ways that would expand and protect the Mittelstand26. Liberals proposed a number of measures designed to guard and enlarge the ranks of the Mittelstand. Some of them emphasized self-help organizations and cooperatives, others concentrated on education and educational associa­ tions. Together with these proposals frequently went the realization, shared by a great many liberals in Vormärz, that only the state would be strong enough to protect “ das eigentliche Volk“ and preserve the social order. Karl Bieder­ mann, for example, regarded the state as the “ natürliche Vormund der Arbei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ter and called upon it to play an important role in social reform. Gustav Mevissen hoped that the state would encourage the decentralization of industry and thus avoid an excessive concentration of the population. Robert v. Mohl feared that the state might have to relieve population pressures by forcing emigration and prohibiting marriages27. Although these calls for state action were evoked by the social crises of the forties, they had deep roots within liberal thought and action. We will explore these roots now as we turn to the liberals' concept of the proper relationship between the Staat and the Volk. III. In the liberals' discussion of this relationship there is ample evidence for Theodor v. Schön's remark that “ Besonders ist in den Begriffen, welche man mit den Worten Souveränität und Konstitution verbindet, große Verwir­ rung“28. On these issues, as in every other aspect of the liberal program, there was great diversity. Some liberals gave the Volk an explicitly ancillary role, with representative institutions as subordinate advisers to the administrative centers of political life. Α minority on the far left of the movement thought in terms of popular sovereignty. But the most characteristic position was occupied by those who tried to combine the state's authority with parliamentary insti­ tutions. And here we find, together with a frequently-proclaimed faith in the importance of popular opinion, a reluctance to embrace the full practical and theoretical implications of the demand for representative government and popular participation in decision-making. Karl v. Rotteck, for example, re­ garded the Gesamtwille as a central fact of political life and accepted electoral politics as the best way to define this popular will. But when faced with the question of how the G esamtwille and the government relate to one another, he took refuge in the hope that no government could long resist the enlightened views of its Citizens. Moreover, Rotteck emphasized that the government had to have independence; to be totally dependent on the parliament, he main­ tained, would render political life dangerous and uncontrollable. Theodor Welcker, Rotteck's co-editor of the influential Staatslexikon, provided a concise summary of this position when he defined the state as “ der souveräne, mora­ lische, persönliche, lebendige freie Gesellschaftsverein eines Volkes“ united in a freely-constituted parliament, “ unter der Leitung einer verfassungsmässigen und constitutionellen selbständigen Regierung“ 29. An instructive symptom of the persistent obscurity about the ultimate locus of power which informs so much of liberal political thought was their inability to grasp the essential character of English institutions. An anglophil like Fried­ rich Dahlmann, for example, did not fully comprehend the parliament's role in English political life and consequently overestimated the importance of the monarch. Similarly, most German observers misread the significance of minis­ terial responsibility by seeing it as an essentially legal device which made a minister subject to impeachment for unconstitutional behavior, rather than as his political responsibility to a parliamentary majority30. These misconceptions were partly the result of the unsettled character of British constitutional devel­ opments during the first half of the nineteenth C entury31. But they are also © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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another facet of that process to which this entire essay has been devoted since the way in which Germans misunderstood the nature of English concepts and institutions shows how meanings and perceptions change as they are refracted through men's experience. In this way, German liberals' misconceptions about England, both before and after midcentury, are part of the wider and more complex set of problems German liberals encountered when they tried to understand and apply western European concepts in a very different historical setting32. The uncertainty that hangs over liberal views of the distribution of power between Volk and Staat was generated by the deep ambivalence many of them felt about the role of the state in German life. Throughout Vormärz, no state­ ment of liberal goals was complete without criticisms of the Beamtenstaat: all liberals condemned censorship; most of them complained about bureaucratic pedantry and arrogance; progressive theologians attacked governmental Sup­ port for orthodoxy; and entrepreneurs proclaimed their frustrations with officials' harmful interference in economic affairs33. But with this ubiquitous discontent about the misue of state power went the equally widespread recognition that the state was an important ally in the creation of a liberal political and social order; almost all liberals wanted a state-run educational system; most of them saw the state as a necessary weapon against the power of local authorities, the church and the aristocracy; liberals who wanted acceler­ ated economic growth turned to the state for aid, while those who had doubts about this growth demanded bureaucratic regulation; and finally, the same liberals who railed against officials' Kastengeist, accepted progressive members of the bureaucracy as leaders of their own movement34. Liberal ambivalence toward the state mirrored the dual role officials had played in German life. As an Instrument of the autocracy and the means of enforcing the prince's control over his territories, the bureaucracy was a threat to individual freedom. After 1815, officials enforced the repressive policies of the restoration. However, the bureaucracy also played an emancipatory role. Officials codified the laws which formed the foundation for the Rechtsstaat; they restricted the Privileges of the aristocracy, the guilds, and other traditio­ nal power structures; during the era of reforms, it had been officials who acted as the principal agents of social and economic modermzation. Indeed, the representative institutions in which liberalism first found a legal public forum had been established by administrative decree35. This role of the state as the creator of the bases of public life was acknowledged in the term Staats­ bürger, which Germans frequently used to translate “ citizen“ . As the word suggests, the evolution from Untertan to Bürger, from subject to citizen, was achieved through the state36. The individual's liberation from the limits and restraints of traditional society and his role as an active political agent were not the fruits of a struggle against authority, but came as gifts from above. Liberals' views of the state were not simply a recognition of the bureaucracy's historical role; their ambivalence toward the state and their ambivalence © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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toward the Volk fit together like two pieces of the same puzzle. While liberals proclaimed the importance of popular participation, they also spoke of the disruptive and unreliable character of the Volk, of that threat of mob domination which Theodor Welcker called “ ein ärgerer Feind als alle andern vor ihm“ to the Gemeinwesen37. Liberals would not cede decisive power to the nation and its representatives because of a lingering fear that the Volk might be too fluctuating and irrational. Paul Pfizer, who sometimes spoke of the need for popular government, acknowledged that the monarch must be powerful, “ um jedesmal die Zügel zu ergreifen oder straffer anzuziehen, sobald das Volk kei­ nen entscheidenden Willen hat und durch Parteiung oder Schlaffheit den Ge­ fahren der Auflösung entgegengeht“38. The notion that the state was a neces­ sary bulwark against society's latent impulse to chaos was given its richest philosophical expression in Hegel's Rechtsphilosophie; it appears again and again in liberal thought, where the state is presented as representing unity over conflict, the universal over the individual, the common good over selfinterest39. Consider, for example, how an advocate of parliamentary power like Karl Zachariä formulated the distinction between monarch and parliament: “ Die erbliche Einherrschaft verhält sich zur Volksvertretung, wie das Bleibende zum Wechselnden, wie die Ruhe zur Bewegung, wie die Natur zur Kunst, wie die Einheit zur Vielheit, wie die Öffentliche Macht zur öffentlichen Freiheit.“40 We can now see how the liberals' concepts of Partei, Volk, and Staat com­ bine to form a unified image of political life. Doubts about political action, the unresolved tension between “ das eigentliche Volk“ and the nation as a whole, and uncertainty about the location of ultimate authority are inter­ related and mutually reinforcing elements in the political vision which many liberals adopted during the first half of the nineteenth C entury. This vision was conditioned by the historical setting of Vormärz, but it continued to structure liberal thought and action during the movement's long struggle against the forces of reaction, from the revolution of 1848 until the Reichs­ gründung. The fear of the Volk and the latent deference toward authority which reside at the heart ofthis vision help to explain why liberals were unable to fight free of the coils of the state and realize the promise of a participant nation, willing and able to define and achieve its own political destiny.

Notes Anon., Der Staatsdienst u. die Staatsdiener in Deutschland, DV 9. 1846, 129. This was a European-wide phenomenon: see, for example, R. Williams, C ulture and Society, N. Y. 1958, xi—xviii, and the recent study by G. Watson, The English Ideology. Studies in the Language of Victorian Politics, London 1973. 3 Die Arbeiter. Eine Volksrede aus dem Jahre 1848, in: C . Jantke and D. Hilger, eds. Die Eigentumslosen, München 1965, 394. For some examples of the changes tak­ ing place in the vocabulary of political and social life during the late eighteenth and early nineteenth centuries, see: W. C onze, Nation u. Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe 1 2

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der revolutionären Epoche, HZ 198. 1964, 1—43; W. Damkowski, Die Entstehung des Verwaltungsbegriffes, Köln 1969; F. Eulen, Vom Gewerbefleiß zur Industrie, Berlin 1967; W. Fischer, Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göt­ tingen 1972, esp. 358 ff.; and P. L. Weinacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfangen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1968. I have not yet had a chance to examine the first volume of the “ Geschichtliche Grundbegriffe“ , ed. R. Koselleck, et al. (I, Stuttgart 1972, 5 vols planned). 4 H. Pitkin, Wittgenstein and Justice: On the Significance of L. Wittgenstein for Social and Political Thought, Berkeley 1972, 115. Prof. Pitkin's book is an extremely stimulating account of the relevance of linguistic analysis for the study of history. The essays by J . G. A. Pocock collected in his Politics, Language and Time, Ν. Y. 1971, are also of interest along these lines. 5 For an example of a contemporary definition that shows the transitional meaning of liberal, see Neuestes Conversationslexikon für alle Stände, Leipzig 1834, vol. 4, 420. Bismarck's famous remark about his own youthful “ liberalism“ came in a letter of 1838, Bismarck-Briefe, ed. by H. Rothfels, Göttingen 19702, 36. Hans Rosenberg has an excellent brief discussion of the problems of defining liberal in his essay, Theolo­ gischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, HZ 141. 1930, 508—14 now reprinted in his Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972. Also of use are the remarks in J . Droz, Le Libéralisme Rhénan 1815—1848, Paris 1940, 439 ff., and G. de Bertier de Sauvigny, Liberalism, Nationalism, Socialism: The Birth of Three Words, RoP 32, 1970, 147—66. 6 F. Falkson, Die liberale Bewegung in Königsberg 1840—1848, Breslau 1888, 111. 7 Deutscher Liberalismus im Vormärz: Heinrich v. Gagern, Briefe u. Reden, Berlin 1959, 133; Falkson, 71 f. There are a number of valuable analyses of the liberals' concept of party: T. Schieder, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalis­ mus, in: id., Staat u. Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 19702, 110—32; T. Nipperdey, Über einige Grundzüge der deutschen Parteigeschichte, in: Fs. für H. C . Nipperdey, München 1956, II, 815—41; L. Gall, Das Problem der parlamentarischen Opposition im deutschen Frühliberalismus, in: Fs. für Th. Schieder, München 1968, 153—70; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1960, II, 320 ff. For some interesting comparisons with England and the United States, see: C . Robbins, “ Discordant Parties“ : Α Study of the Acceptance of Party by Englishmen, PSQ 73. 1958, 505—29, and R. Hofstadter, The Idea of a Party System. The Rise of Legitimate Opposition in the United States, 1780—1840, Berkeley 1970. 8 Pfizer, Liberalismus, SL, 1st edition, IX, 714. Jacoby quote from 1832 in R. Adam, Johann Jacobys politischer Werdegang 1805—1840, HZ 143. 1930, 70. 9 This point is emphasized in Schieder, 114 f. For an analysis of the problem of conflict in G erman political and social thought, see R. Dahrendorf, G esellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1963. 10 T. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. u. frühen 19. Jahrhundert, in: H. Boockmann, et al., eds., Geschichtswissenschaft u. Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972, 1—44; F. Baiser, Die Anfänge der Erwach­ senenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1959. Hans Rosenberg stressed the liberals' tendency to “ spiritualize“ politics in his early works on Vormärz: R. Haym u. die Anfänge des klassischen Liberalismus, München 1933, and his essays now conveniently reprinted in: Politische Denkströmungen. 11 Two useful monographs which analyze the limitations of Vormärz institutions are H. Kramer, Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819—1849, Berlin 1968, and F. Schneider, Pressefreiheit u. politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848, Neuwied 1966. 12 Geistige u. politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, DVLG 7. 1929, 562 f. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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13 W. C onze, Das Spannungsfeld von Staat u. Gesellschaft im Vormärz, in: id., ed. Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815—1848, Stuttgart 19702, 233. 14 Quoted in Gall, 162 f. 15 Baiser, 100 ff. Wilhelm Mommsen has some illuminating remarks on the mean­ ing of Volk in: Stein—Ranke—Bismarck, München 1954, 282 ff. For an analysis of some related problems in the development of social terminology, see: H. Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860—1914, I, Wiesbaden 1972, 5 ff., and R. Stadelmann and W. Fischer, Die Bildungswelt des deut­ schen Handwerks um 1800, Berlin 1955, 38 ff. 16 There are some examples of this problem in Baiser, see esp. 104. Α particularly vivid Illustration of the liberals' difficulty in defining who should be in the politically­ active “ Volk“ was the suffrage debate in 1848. This has most recently been analyzed by C. Rose, The Issue of Parliamentary Suffrage at the Frankfurt National Assembly, CEH 5. 1972, 127—49. 17 For some examples, see: F. Harkort, Schriften u. Reden zu Volksschule u. Volks­ bildung, Paderborn 1969, 5; E. Marcks, Biographische Einleitung, in: H. Baumgarten, Historische u. politische Aufsätze, Straßburg 1894, lxxxiii; W. Weidemann, F. Mur­ hard (1778—1853) u. der Altliberalismus, ZVHG 55. 1926, 238. 19 Some sense of the diversity of liberal views can be gained from the following: David Hansemann, in: J . Hansen, ed., Rheinische Briefe u. Akten, Osnabrück 19672, I, 17, 48, and 53; S. Schmidt, R. Blum, Weimar 1971, 27; and the many references in M. Schumacher, Gesellschafts- u. Ständebegriff um 1846. Ein Beitrag zum sozialen Bild des süddeutschen Liberalismus nach dem Rotteck-Welckerschen Staatslexikon, phil. Diss. Göttingen, 1956, MS. Liberal discussions about suffrage limitations give the clearest statements of their views on who should and should not belong to “ die eigentliche Nation“ . For analyses of these issues, see: G. Schilfert, Sieg u. Niederlage des demokratischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1952, and H. Boberach, Wahlrechtsfrage im Vormärz. Die Wahlrechtsanschauung im Rhein­ land 1815—1849 u. die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts, Düsseldorf 1959. 10 Mack Walker has made this same point in a somewhat different context, see his important study, German Home towns, Ithaca 1971, 4. Two essays by Asa Briggs give some interesting points of comparison with English developments: Middle-C lass C on­ sciousness in English Politics, 1780—1846, PaP 9. 1956, 65—74, and The Language of “ Class“ in Early Nineteenth C entury England, in: id. and J . Saville, eds., Essays in Labour History, London 1960, 43—73. For a defense of the usefulness of the term “ middle class“ , see L. O'Boyle, The Middle C lass in Western Europe, AHR 71. 1966, 826—45. 20 This is not the place to review the scattered and complex literature on Vormärz economics and social strueturc. Material relevant to the argument I am trying to make can be found in Fischer; Walker, esp. pp. 283 rL; and R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution, Stuttgart 1967. 21 The best brief account of Liberalism's social composition is in L. Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957, 291 ff. I have analyzed the diversity of liber­ alism's social basis in: Liberalism and Society in Germany, 1815—1848, JMH 45. 1973, 583—604. 22 Der Status Quo in Deutschland (1847), MEW IV, Berlin 1964, 50. Α basic incon­ sistency runs through this fascinating essay: at times Engels seemed to argue that the bourgeoisie had become G ermany's “ leading class“ , but elsewhere he decried the fact that the Kleinbürgertum remained the norm. This inconsistency strikes me as further evidence for the peculiarly transitional and mixed character of the social structure in Vormärz. 23 For some examples of this view, see: F. Dahlmann, Die Politik, Berlin 1924 (re­ print of second edition of 1847), 200; J . Hansen, G, Mevissen, Berlin 1906, II, 86 f.

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(quoting Mevissen in 1840); and the excellent discussion of the SL in Schumacher, 211 ff. 24 On these issues, see Sheehan, Liberalisrp and Society. For some particularly inter­ esting examples of how liberal economics was transmuted as it was applied to Ger­ man situations, see M. Vopelius, Die Altliberalen Ökonomen u. die Reformzeit, Stutt­ gart 1968. 25 C onze, Vom “ Pöbel“ zum “ Proletariat“ . Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: H.-U. Wehler, ed., Moderne deutsche Sozial­ geschichtc, Köln 19734, 111—36. For some further examples of the impact of social crisis on language see: E. C zobel, Zur Verbreitung der Worte Sozialist u. Sozialismus in Deutschland u. Ungarn, AGS 3. 1913, 481—85, and L. H. Geck, Über das Eindrin­ gen des Wortes sozial in die deutsche Sprache, Göttingen 1963. C omparisons to wes­ tern Europe can be found in A. Bestor, The Evolution of the Socialist Vocabulary, JHI 9. 1948, 259—302. 26 The best introduction to the literature on the “ social question“ of the 1840's is Jantke/Hilger. Additional material is cited in F. Marquardt, Pauperismus in Germany during the Vormärz, C EH 2. 1969, 77—88. Also of great interest is E. Pankoke, “ Sociale Bewegung“ , “ Sociale Frage“ , “ Sociale Politik“ . Grundfragen der deutschen “ Socialwis­ senschaft“ im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970. 27 W. Schulze, Sozialistische Bestrebungen in Deutschland. Bemerkungen zu einer Aufsatzfolge Karl Biedermanns (1846), VSWG 57. 1970, 101; Hansen, Mevissen, I, 177; E. Angermann, R. v. Mohl, 1799—1875, Neuwied 1962, 200 f. 28 Quoted by R. Koser, Zur C harakteristik des Vereinigten Landtags von 1847, Fs. für G. Schmoller, Leipzig 1908, 309. 29 K. v. Rotteck, Ein Wort über Landstände (1818), in: id., Gesammelte u. nachge­ lassene Schriften, Pforzheim 1841—43, II, 405 ff.; Karl Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik K. v. Rottecks, Mulhouse 1927, 59—62; Welcker, SL, 1st edi­ tion, XV, 66—7. Krieger has one of the best analyses of these issues; also of value are the following: P. Goessler, Der Dualismus zwischen Volk u. Regierung im Denken der vormärzlichen Liberalen in Baden u. Württemberg, Schramberg 1932; H. Brandt, Land­ ständische Repräsentation im deutschen Vormärz, Neuwied 1968; and L. Gall, Benja­ min C onstant. Seine politische Ideenwelt u. der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963. 30 T. Wilhelm, Die englische Verfassung u. der vormärzliche deutsche Liberalismus, Stuttgart 1928; C . McC lelland, The German Historians and England, C ambridge 1971 and O. Pflanze, Judicial and Political Responsibility in 19th C entury Germany, in: Γ. Stern and L. Krieger, eds., The Responsibility of Power (Fs. for Η. Holborn), Ν. Y. 1967, 162—82. 31 A concise, but very informative summary of British politics in this era can be found in Chapters One and Two of S. H. Beer, British Politics in the Collectivist Age, Ν. Y. 1966. 32 For the G erman view of English politics after Vormärz, see R. Lamer, Der eng­ lische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857—1890), Lübeck 1963, and G. Schmidt, Deutscher Historismus u. der Übergang zur parlamentarischen Demokratie, Lübeck 1964. For the social and economic aspects of this problem, see the monograph by Vopelius and J . Sheehan, The C areer of Lujo Brentano, C hicago 1966, esp. 22 ff. 33 Here are a few of the numerous examples of liberal attacks on the bureaucracy: D. Hansemann, in: Hansen, ed., Briefe, I, 716 f.; J . Jacoby, Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen, Mannheim 1841; Gagern, 71 ff.; H. Oncken, R. v. Bennigsen, Stuttgart 1910, I, 126 ff. A rather more ambiguous and complex analysis is given in R. v. Mohl, Über Bureaukratie (1846), reprinted in: K. v. Beyme, ed., R. v. Mohl. Politische Schriften, Opladen 1966, 277 ff. 34 For the role of bureaucrats in the liberal movement, see T. Wilhelm, Die Idee © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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des Berufsbeamtentums. Ein Beitrag zur Staatslehre des deutschen Frühkonsntutiona­ lismus, Tübingen 1933, and J . Gillis, The Prussian Bureaucracy in C risis, 1840—1860, Stanford 1971, For some examples of liberal recognition of the importance of the state's role in reform, see T. Nipperdey, Volksschule u. Revolution im Vormärz, in: Fs. Schieder, 117—42, and R. Rürup, Judenemanzipation u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: E. Schulin, ed., Fs. M. Göhring, Wiesbaden 1968, 174—99. I think A. Gerschenkron's remarks about the role of the state in the modernization of a “ back­ ward“ economy have relevance to non-economic development as well: see the title essay in his collection, Economic Backwardness in Historical Perspective, Ν. Y. 19652, 5—30. 35 On the dual role of the state in G erman life, see Koselleck. 36 P.-L. Weinacht, Staatsbürger. Zur Geschichte u. Kritik eines politischen Begriffs, Der Staat 8. 1969, 41—63. 37 Quoted in Gall, C onstant, 90. 38 Quoted in Goessler, Dualismus, 49 f. 39 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: id., Werke, VII, Frankfurt 1970, 339 ff. (“ Die bürgerliche Gesellschaft“ ) and 398 ff. (“ Der Staat“ ). For one among many examples of this tendency in liberal thought, see Hansen, Mevis­ sen, II, 90 (statement from 1840). 40 Quoted in Brandt, 236.

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10. The Social Status and Political Role of the Protestant Clergy in Pre-March Prussia By ROBERT M. BIGLER

The Protestant clergy in Prussia in 1815—1848 was a complex but numerically stable group numbering about 6000. C ollectively, the clergymen formed a special segment of the bureaucratized wing of the umversity-trained profes­ sional classes. As officially appointed and permanently employed members of the “ ecclesiastical officers' corps“ of the state church, they shared certain pro­ fessional tasks, training prerequisites, and legal Status characterisncs. At the same time, they differed among themselves in significant respects: in occupa­ tional function, position, and amount and sources of income; in personal ability, achievements, skills, and education; in career patterns, class origin, family tradition, and social ties; and, consequently, in their modes of living, tastes, attitudes, loyalties, beliefs, ideas, and interests. Their relations with other social, political, and economic groups and with formal governmental institutions vitally affected their views, leanings, activities, and influence. These complex differences contributed to the development of political factions with conflicting ideologies and interests within the ranks of the clergy. Having completed at least three years of their studies in theology, candidates for clerical offices had to pass the prescribed examinations before they could be appointed by the government. The ecclesiastical hierarchy that was estab­ lished during the Prussian Reform Era consisted of court and cathedral preach­ ers, theology professors, general superintendents, bishops, chief consistory coun­ cilors, consistory councilors, district superintendents, military, university, and embassy chaplains, and of ordinary pastors in urban and rural areas — the last category constituting the vast majority of the group1. Under the special conditions of bureaucratic absoluusm (that by 1815 had replaced the absolute Hohenzollern rulers as the actual directors of the adminis­ trative state apparatus by the most highly placed members of the bureaucracy)2 the Protestant clergy, formerly poliucally submissive and socially docile and conformist3, was transformed into a dynamic, self-willed, and highly influential prestigious professional group constituting a new political and social elite. Together with the army, the bureaucracy, and the royal House of the Hohenzollerns, the established Protestant C hurch in Prussia was one of the cornerstones of traditional Prussian-German society. Matters of Institution-

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alized religion were among the basic concerns of the bureaucratic rulers of the Prussian state. The reorganization and eventual merging of the Lutheran and Reformed denominations in an administratively and confessionally united Protestant state church, called the Evangelical C hurch of Prussia (Preussische Landeskirche)4 marked the beginning of a new stage in the development of the Protestant clergy in Prussia. The government official Ludwig Nicolovius, a close friend and associate of Stein, Schön, Dohna, and other Reformers, directed the administrative and personnel policies of the state church in the new Kultusministerium under Altewstein5. The pious bureaucrat Nicolovius played an important role in the politically significant ascendancy of a neo-Pietist clerical faction which allied itself with a group of religiously “ awakened“ Old Prussian noblemen in Opposi­ tion to the ideas of 17896. Clergymen of the state church were considered professional members of the ecclesiastical branch of the civil service (geistliche Beamte). Members of the new “ ecclesiastical officers' corps“ were hence required to wear uniform cloth­ ing (Amtskleidung). C entralized control and the tightening up of the organizational structure of the Protestant church as a hierarchical branch of the central administration caused serious tensions, but it also provided some new possi­ büities for a number of clergymen. Although the income of clergymen in the cities and country varied greatly, depending on the composition of their congregations and on local conditions, the fact that all clerical offices provided some degree of economic security was attractive not only to sons of clergymen but also to some young men who came from families of struggling handicraftsmen and even from the upper classes. Professorships in particular provided important C hannels for social advancement. Moreover, theology was the cheapest academic field of study, and theology training could be completed in three years. Thus many students without means now sought professional careers as clergymen7. August Tholuck, who became a prominent conservative theology professor at the University of Halle, was the son of an impoverished goldsmith in Breslau who strove des­ perately to provide for his large family of eleven. The bitter memories of his childhood made the young student Tholuck appreciate the secure position and social advantages inherent in public employment in an age of depressions and recessions8. Otto v. Gerlach, the youngest of the Gerlach brothers who played such a Strategic role in the history of Prussian conservatism9, became honorary professor of theology at the University of Berlin and in 1847 reached the top of the ecclesiastical hierarchy as cathedral and court preacher10. The chief court and cathedral preachers in Berlin and other large cities, general superintendents, bishops, and prominent theology professors were the highest-paid ecclesiastical officials. Next to them were the chief C onsistory councilors, district superintendents, C onsistory councilors, embassy and military chaplains, and clergymen employed in the churches of some of the wealthier urban congregations. Some clergymen held several positions, such as chief © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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cathedral preacher, bishop, C onsistory councilor, and in some cases even university professorships, and their combined salaries compared favorably with those paid in the top levels of the administrative service. F. S. G. Sack, for instance, in 1816 received 1000 thalers as bishop, 300 thalers as chief C on­ sistory councilor, and 1600 thalers from his position as chief court preacher. In addition to their cash income, men like Sack and quite a few other members of the clergy usually also received payments in kind, such as free housing and a certain amount of grain and firewood, along with other benefits. G. F. A. Strauss had a total sah salary of 3000 thalers annually (1500 as professor of theology at the University of Berlin after 1822 and 1500 as chief court preacher). Because of his wife's wealthy family, Strauss had considerable additional income from private sources11. As a group, however, professors of theology did not receive salaries com­ mensurate with their official Status as high-ranking civil servants and the prestige they enjoyed in society. Although it had been the policy of the govern­ ment since the Reform Era to provide adequate incomes for university profes­ sors, not many of them after 1815 received the sash salary of 1500 thalers annually which Humboldt had considered necessary for professors to maintain a proper (standesgemäss) Standard of living. On the other hand, the prominent theology professors Schleiermacher, Strauss, Tholuck, Hengstenberg, Otto v. Gerlach, Richard Rothe, and C . I. Nitzsch, and a few other university profes­ sors, such as the philosopher Hegel and the jurist Savigny received salaries of 2000 thalers or more12. Of these, Strauss, Tholuck, and Hengstenberg had additional sources of income through marriage into the wealthy upper classes, and Gerlach came from a well-to-do noble family. Α few particularly prom­ inent theology professors were also employed as preachers and religious instruetors by church congregations or in universities and could thus add to their income. Contemporaries were aware that the salary scale of professors and other civil servants in the 19th Century represented a considerable improve­ ment, even though among the Protestant theologians making their living as university teachers and scholars only the full professors could be considered an economically well-rewarded and fairly satisfied group. Associate or extra­ ordinary professors, and especially the unsalaried lecturers called Privatdozen­ ten (who aspired to appointments as professors), were insecure financially un­ less they had private incomes. On the whole, however, most clergymen, even the village pastors, seemed to benefit from the increasing concern of the administrative bureaucracy with raising the economic and social Status of the state church and its “ officers“ 13. It would be absurd to suggest that all theology students who were preparing for clerical careers were motivated only by material considerations. The post­ revolutionary religious revival created a great deal of religious fervor in many individuals. There were probably quite a few men who were attracted to the clergy because of their sincere dedication to the spiritual and idealistic nature of the profession. But it cannot be denied that economic security, in an age 12 Sozialgeschichtr Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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characterized by chronic economic instability for the vast majority of the population (including many noble landowners), and respectable Status — perhaps even prominence, fame, and significant public influence by attaining a high position in the church — were powerful incentives for young men from all social levels. No less than the sons of clergymen and handicraftsmen, those new elements who came from upper-class families of high officials and aristo­ cratic army officers and landowners were attracted by the opportunities for advancement which the church could offer to its officials. Although there is a lack of comprehensive Statistical evidence on the social backgrounds of theology students of the period, the records of the postgraduate Wittenberg Seminary show a remarkable range. The seminary was admittedly an elite school, and the composition of its membership, although the candidates were drawn from all social classes and from all provinces, reflected the wish of the government after 1815 to attract also the aristocratic elements of Prussian society to the clergy of the state church. In sharp contrast to the previous pattern of recruitment, where sons of clergymen predominated, a summary of the Statistical evidence for the Wittenberg Seminary shows significant changes in the social background of the future leaders of the clergy14. Only about a third of the candidates had clerical backgrounds, and about 15 percent came from families of teachers. Sons of handicraftsmen constituted about 20 percent, and roughly the same percentage came from aristocratic families — these were the sons of upper-echelon civil servants, army officers, and land­ owners. Although it would be difficult to make a real comparison with the old Hohenzollern strategy of enticing young aristocrats into the army as officers, one can hardly escape the conclusion that the government after 1815 tended to favor the inclinadon of some noblemen to become clergymen. Most clergymen with noble backgrounds did not rise high in the ecclesiastical hierarchy, but in many cases their careers were eased, and quite a few clergymen with a “ von“ ended up in such administrative positions as district or county superintendents15. Within the “ bureaucratized“ framework of the church after 1815 most of the special pecuniary benefits, honors, and distinctions which the government bestowed upon officials tended to serve as rewards and incentives for “ desir­ able“ clergymen. Only those men whose creed, political views, leanings, asso­ ciations, and activities seemed to support the men in power could expect higher appointments, special distinctions, and favors from the government. There can be little doubt that the government's efforts to select and train “ right-thinking clergymen“ proved very successful in the decades after 1815. The stand of the government in the furious theological struggles that developed between the conservative Pietist-orthodox clerical leaders and the liberal Friends of Light in the 1840's was expressed very bluntly by the minister of ecclesiastical affairs and education A. F. Eichhorn: “ The government is by no means impartial, but is biased, totally biased.“ 16 In fact, Eichhorn assured the conservatives that the government definitely favored those clergymen who identified themselves with its struggle against the political Opposition17. It must be emphasized, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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however, that without talent on the part of the candidates the efforts would have miscarried. The high level of ability of some of the conservative and orthodox theologians demonstrated that in order to rise in the ecclesiastical hierarchy much more than piety was needed. There were many talented young men in Prussia and the other G erman states who competed eagerly for those positions which seemed to combine opportunities for service, dedication, and religious and ideological satisfaction with economic security and prestige and the possibility of recognition and even fame. The years from 1815 to 1848 were full of ideological, religious, political, social, and economic tensions. Α dramatic population explosion and a spectacular increase in the number of university-trained men of talent seeking careers strained the structure of tradi­ tional society to the extreme18. Apparently, many of those who more and more were trying to realize their aspirations and hopes were aware that their ambi­ tions might be realized in the Protestant clergy. Court preachers (Hofprediger), owing to their personal contacts with mem­ bers of the royal family, court and government circles, and other segments of the Upper classes, their high incomes and access to Information, and the almost hereditary nature of their positions, traditionally constituted the Upper crust of the clergy. After its conversion to the Reformed faith in the seventeenth Cen­ tury, the royal family had particularly favored Reformed court preachers, who had been considered among the most reliable supporters of the Crown (Stützen des Throns). The functions of Reformed court preachers generally consisted of caring for the spiritual and educational needs of the royal family, the Reformed members of the court aristocracy, and the usually prosperous Reformed congregations in the predominantly Lutheran Prussian monarehy. Consequently, these men enjoyed high respect in government circles. After the final reorganization and confessional union of the Lutheran and Reformed churches, court preachers continued to be among the most important high­ ranking officials of the state church. C losely tied to the C rown by tradition and interest, court preachers in pre-March Prussia continued to be (along with the military chaplains) among the staunchest supporters of the established political and social order. Both in theory and in active politics, court preachers were committed to the defense of the privileges which they traditionally shared with the governing classes. In defending these privileges they continued to be the ecclesiastical “ shields of the C rown“ 19. In the new age of increased and more active political Opposition to the Status quo under bureaucratic absolutism, the court preachers were rapidly surpassed in prestige and influence by the upcoming and politically more sophisticated and alert group of theology professors, who were dealing with representatives of a much larger public. Several professors — among them, G. F. A. Strauss and Otto v. Gerlach — were appointed court preachers as well as chief C on­ sistory councilors, with a consequent further increase in their salaries, prestige, and political influence. In view of their high official status, strategie position, and close connections with the high government circles in the capital, the court 12*

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preachers might have still exerted the primary influence over the church in public affairs. But because most of them could not compete with the political skills, sensitivity, trained minds, and public appeal of the academicians, the actual leadership for the various conservative and liberal factions within the clergy was provided by theology professors (joined by some exceptionally gifted clergymen from the ranks). In contrast, however, to the court preachers, who were an ideologically and politically united and cohesive group, the theology professors held diversified political beliefs. Theology professors constituted a special clerical group whose distinguished position as scholars had been recognized since the time of Luther and Mel­ anchthon. Their functions of interpreting the doctrinal teachings of the Luther­ an church, settling theological controversies, and training and examining pro­ spective clergymen gave them a certain degree of prestige and also considerable power to influence the recruitment of church personnel. Although the absolutist rulers of Prussia in the 18th Century had little respect for university professors generally, and often treated them with contempt20, theology professors bene­ fited from the traditional Lutheran belief that the inculcation upon the laity of Christian obedience to wordly authorities was a highly important function. Under monarchical absolutism, however, neither theology professors nor other members of the clergy were able to exert political influence in their own right as clergymen. Α few exceptional individuals — such as J . C. Wöllner, who became minister of ecclesiastical affairs and education under Frederick Wil­ liam II. in 1788 — managed to influence public policy directly, but they did so not as clergymen but usually as self-made bureaucrats who were ennobled by the king for their services. Wöllner's career seems to confirm the findings of Hans Rosenberg that only by finding their way “ into the elite of wealth within the landed aristocracy“ could men of non-noble background exert significant political influence in eighteenth-century Prussia21. Professors in other fields than theology were similarly held to be primarily useful for the achieving of obedience and efficiency22. Most clergymen accepted their assigned role as loyal and diligent subjects. In accordance with the prevailing currents of opinion, they abstained from expressing views in conflict with the official norms23. In short, the Protestant clergy of the 18th C entury remained a thoroughly conservative group. The great stress which the Prussian rulers put on the utilitarian tasks of clergymen was reinforced in the latter half of the Century by the growing influence of the teachings of theological rationalism, which emphasized moral and pedagogical responsibilities in the pursuit of “ practical“ and “ progressive“ tasks and maintained that man's rational faculty could establish and secure a simple, true, and salvation-guaranteeing religion24. Accepting or passively following the teachings of theological rationalism, the clergy as a class upheld the conservative political outlook traditionally associ­ ated with Lutheranism. The combined effect of the French Revolution, the Prussian Reforms, and the supreme efforts put forth in the War of Liberation from French rule had a © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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powerful impact on many clergymen. Some seemed to be strengthened in their belief that throne and altar must oppose the revolutionary ideas of the time. In an entirely different response, Friedrich Schleiermacher and some lesser­ known clergymen from the ranks seemed to develop and take pride in a feeling of responsibility as representatives and leaders of the public generally and of liberal forces aiming at political and social change in particular25. While the clergymen who openly expressed this new kind of political consciousness were a minority, they were not isolated individuals, but men whose attitudes were indicative of the ways of thinking and acting of scattered groups of persons from all walks of life. In the course of the brief Prussian Reform Era, the suspicions and fears of some Prussian government officials regarding the consequences of theological rationalism seemed to be confirmed by the fact that a number of Protestant clergymen in the Rhineland and Westphalia had joined some of the population in welcoming the French as liberators and were continuing to support their rule there26. Nicolovius and his Pietist friends in particular came to the conclusion that enlightened rationalism was the root of all evil, including the French Revolution and its subversive influence on the traditional political and social order. They considered it their “ mission“ to replace rationalist theology profes­ sors with suitably pious men and enlisted the support of the Neo-Pietist circle of Baron v. Kottwitz. To these men it was deeply disturbing that the great majority of clergymen professed a creed which, in the words of Stein, “ assured the poor, deceived, passion-scourged human race that it is free from original sin“ 27. These words were characteristic of a way of thinking which held that “ enlightened“ think­ ing, by denying the basically sinful nature of man and the innate superiority of certain individuals and classes, had prepared the way for the French Revolu­ tion and the ensuing political, social, and economic changes. And, indeed, the teachings of the rationalists did have room for the idea that man could improve his status and develop a more just society, based on achievement and merk, by abolishing privileges based solely on the accident of birth and on tradition. In contrast, Pietism and orthodox Lutheranism tended to emphasize that the fallen and sinful nature of man was responsible for the injustice and suffering in the world, and thus, in the view of some historians, to divert man's concern from worldly to heavenly justice and make him more likely to accept the Status quo as ordained by God28. So pervasive was the influence of Lutheran theology in German Protestantism that it tended to “ absorb the C alvinist spirit in the isolated Reformed communities“ in the Rhineland and West­ phalia29. This theological-philosophical disagreement between rationahstic and Lutheran-Pietistic thinking, and the consequently different approaches to reli­ gious and secular problems, became the basis for some of the developing con­ scrvative and liberal factionalism in the decades to come. From about 1815 up to 1848 the theology faculties of the universities of Halle, Berlin, Breslau, Bonn, and Königsberg, taken all together, had between © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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thirty and thirty-two full professors, and between ten and fifteen associate Professors. The number of unpaid lectures — the Privatdozenten — in the various faculties of theology ranged from one or two to five30. This small group of men, representing the intellectually and politically most alert and conscious element of the Protestant clergy, played a crucial role in the struggle between the conservative and liberal forces in Prussia. In their theological and political ideas, their activities and personal influence, these university teachers also accentuated the political plurality of the clergy. In this period German university professors in general shared an increasing social prominence and were accorded marked respect by the government and by the people of all classes. Theologians enjoyed a special intellectual prestige as teacher-scholars studying and interpreting the Scriptures, and as ministers of religion administering the sacraments and preaching in churches. Moreover, they were top-ranking ecclesiastical officials, responsible for the training of the clergy. Those among them who assumed an active political role in the War of Liberation had become strengthened in their belief that participation in public life on their own initiative was not only permissible but was a duty which they owed to their position as spokesmen for the aspirations of those groups of society that looked to them for guidance and leadership31. No longer were theological professors “ living consciences of the C hurch“32, they were also “ living consciences of society“ . Since the latter half of the eighteenth C entury, Bildung — meaning the broad formation of mind and character acquired by education — had become an increasingly important criterion for social repute in Prussian society, including even some segments of the aristocracy33. C er­ tainly the educated middle classes, who now insisted on personal accomplish­ ment as a criterion for judging the value of men, tended to look upon profes­ sors — who presumably achieved their Status through superior personal achieve­ ments, not through the accident of birth — as their heroes and as living symbols of a coming liberal era34. The prestige of professors and also that of writers and artists was greatly enhanced by this development, and men of those vocations grew more and more articulate in matters of public concern35. Among the theology professors there were considerable numbers of liberals, not just isolated individuals, who came to consider it not only their “ natural right“ , but also their duty to express their opinions and speak out on such vital matters as freedom of conscience, of the press, speech, and assembly, and for the right to self-government in church and state and the abolition of hereditary Privileges. Since professors associated with a broad public and had contact with men from various walks of life, they were usually well aware of the existence and the particular nature of political and social issues36. Despite the repressive measures of the government against all manifestations of political Opposition after 1815, universities in Pre-March Prussia became centers of agitation. In the absence of political parties and a national assembly where major issues could be debated in public by the contending forces, uni­ versities became ideological battle-grounds where competing views and interests © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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clashed with increasing bitterness37. Theology professors found it difficult to isolate themselves in the bitter struggle that agkated the government and the politically conscious public. Their positions as appointed, salaried officials of state institutions as well as respected men of learning who prided themselves on their intellectual freedom made them subject to pressures by the government and by various political interests. On the one hand, these men were members of a bureaucratic state apparatus and thus were expected by the government to be loyal to the ruling authorities — now being challenged by political forces that sought to transform autocratic Prussia into a constitutionally limited monarchy with parliamentary institutions. On the other hand, members of the rising political opposition looked to them as men of learning and sound judg­ ment whose trained minds and sense of responsibility should enable them to take an independent stand not only on theological matters but also on issues concerning the public welfare in general. In other words, the government and the traditionally privileged classes expected political support and moral, even religious, sanetion for the Status quo from the theology professors. But the Opposition, too, sought to strengthen its position by seeking to enlist for its causes one of the most influential and highly respected professional groups. Consequently, by virtue of their positions, functions, and prestige, theology professors came to play a significant role in public life, directly or indirectly, and regardless of whether they were personally anxious to participate in polit­ ical activity or were indifferent, or even hostile, toward it. Owing, however, to their disparate interests, backgrounds, personalities, attitudes, and connec­ tions, they constituted a highly diverse group which exerted politically signif­ icant influence in a number of different directions. Much of the effective political influence of the professors was due to the fact that in training students of theology they also helped shape, consciously or unconsciously, many of the political ideas and attitudes of future clergymen, of students in other disciplines, and of other persons who, through whatever Channels, happened to become acquainted with their views. Generations of clergymen and of persons in different walks of life were influenced in their ways of thinking and of approaching problems by the teaching, writings, and behavior of such famous theology professors as Schleiermacher, De Wette, Wegscheider, Gesenius, Richard Rothe, Karl Hase, Tholuck, Hengstenberg, Hahn, Olshausen, Guericke, and Marheineke38. In 1815—1848 — as during the Reformation — political ideas and attitudes became associated with theo­ logical creeds. The government thus no longer looked upon controversies be­ tween theology professors as mere “ parsons' quarreis“ (Pfaffengezänk) as it had done under monarchical absolutism in the 17th and 18th centuries. Since in the midst of changing political conditions after 1815 the theology professors continued to play a crucial role in clerical personnel recruitment — by training, examining, and recommending candidates for church positions — there resulted an increased attention by the government to the creed and political leanings © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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of prospective appointees to the universities, and its policy favored men who could be expected to support the ruling authorities. Coming into notice in the late 1820's, Ernst Wilhelm Hengstenberg in a few years became the grand Organizer and Strategist of the conservative political forces within the state church39. In contrast to most of his colleagues in the faculties of theology, Hengstenberg was never a parish pastor or a preacher. But as a professor of theology at the University of Berlin after 1826 and as editor, after 1827, of the Evangelische Kirchen-Zeitung (EKZ) and as such a staunch advocate of the “ new orthodoxy“ , he became the political leader of the clerical faction which had close personal connections with those Old Prussian noblemen who were seeking to cement an alliance between Pietist clergymen and aristocrats. C losely cooperating with the Gerlach brothers, Thadden, General L. G. v. Thile, Ernst v. Senfft-Pilsach, and other prominent and politically active Prussian Junker conservatives, Hengstenberg was an influential figure in what came to be known as the “ general staff of Prussian reaction“40. His connections were not only with court and government circles and with theology professors of similar views, but also with Pietist squires in East Elbia, C alvinist businessmen and clergymen in his native Rhineland­ Westaphalia and in the free cities of Hamburg and Bremen, and all over the country, increasing numbers of pastors, theology students, and candidates for clerical appointments. Among the leading conservative clergymen, Hengsten­ berg saw most clearly the political implications of theological rationalism41. Throughout his career he consistently sought to eliminate rationalism — both as a religious belief and as a politically subversive ideology. Much of Hengstenberg's influence in the following decades was due to the fact that as editor he had authority to accept or to reject articles42. Moreover, the letters and reports which he received from every corner of Prussia and from practically every country in Europe (and even from North America) made him one of the best-informed men in Prussia43. Many articles published in the EKZ after 1827 became part of a conservative effort against the “ liberal manifestations of the spirit of the times“44. Hengstenberg's initial “ Vorwort“ editorial in the January 1828 issue became the predecessor of regular annual summaries of the previous year's developments in German society and outlines of the strategy, plans, and slogans of the Pietist conservatives for the coming year. Because of their political significance the “ Vorwort“ editorials were even­ tually referred to as “ throne Speeches“ 45. In these, “ rationalist“ became a label which was applied alike to theological “ rationalists, deists, pantheists, and neologists“ , and to all political and social tendencies that were critical of the established order46. Pastor Keetmann in Elberfeld, an old friend, wrote to Hengstenberg that the EKZ was a “ very courageous enterprise“ , adding: “ I often pray for you and your work . . . especially because I know that you are inclined to further the cause of God by worldly means (Bei deiner Neigung dem Reiche Gottes auch durch weltlichen Arm Bahn zu machen).“47 To charges that his faction was supporting the political interests of the aristocracy, Heng© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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stenberg stated unequivocally: “ Our politics consist of unconditional obedience . . . to the God-given order.“ 48 Hengstenberg's marriage to Therese v. Quast in 1829 was symbolic of the growing intimacy of relarionships between high-ranking ecclesiastic officials and the Neo-Pietist and orthodox aristocratic families of East Elbia. The obviously arranged marriage gave Hengstenberg entrée not only to a large group of Prussian Junkers but also to some court circles49. Just as the ruling dynasties sought to strengthen their alliances by intermarriage, so too the group of pious Old Prussian aristocrats and the upper echelons of the Pietistic­ orthodox Protestant clergy were now anxious to sanction theirs by matrimonial ties. Heubner, Hahn, Olshausen, Kahnis, and Tholuck had married young noble­ women, and Hengstenberg's marriage was a further indication of the intimate and personal and social connections that were developing between “ awakened“ aristocrats and their clergymen protégés. Before the Neo-Pietist “ Awakening“ in the first two decades of the C entury, marriages of noblewomen to clergymen had been extremely rare and were considered mésalliances50. The abolition of the estates as legal classes in 1807 would hardly have changed the traditional attitude of the aristocracy toward clergymen had not social distance been reduced by virtue of the combined effects of the reorganization of the Protes­ tant church and of the “ Awakening“ , which brought together a number of Pietist clergymen, theology students, and “ awakened“ aristocrats. Moreover, the new positions, titles, distinctions, and honors which were bestowed upon favored clergymen of the state church tended to raise the status of the clergy as a group and the status of its upper levels in particular. Marriages of theology professors and noblewomen were now considered acceptable — and were even welcomed — by some aristocratic families and in court circles51. To praying together, eating together, and other forms of social intercourse which led to lifelong friendships between some theology professors and aristocrats52, mar­ riage was now added and was naturally the most important development in the direction of social equality between the two groups. Beyond a doubt, Heng­ stenberg and his fellow Pietist theology professors had “ arrived“ in Prussian society. Their marriages, which provided them with sizable incomes, added a new dimension to their prestige, hitherto based on membership in the intellec­ tual elite and on their high status in the ecclesiastical hierarehy. At the same time, their intimate relationships with aristocratic families made them more receptive to the ideas, attitudes, tastes, aspirations, prejudices, and interests of the traditionally privileged classes. By the 1840's the militant group of clerical and aristocratic conservatives led by Hengstenberg had developed into the vanguard of a highly significant political faction intensely opposed to the liberals. Α new generation of pious and obedient “ ecclesiastical officers“ , trained by Hengstenberg, Tholuck, Hahn, and other professors of orthodox and Pietist beliefs, was in the process of filling in the ranks of the clergy. When the leaders of the so-called Friends of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Light and German C atholic movements in the 1840's voiced demands for abolishing the autocratic structure of church and state and organized popular mass support for the purpose of establishing a people's church (Volkskirche), the Hengstenberg faction was infuriated. The EK2 charged that the liberal clerical leaders were “ exciting the masses to overthrow the Protestant C hurch“ , “ challenging every divine and wordly authority“ , and “ trying to intimidate the government agencies with masses of people“ 53. On the eve of the Revolu­ tion of 1848, the “ Partei Hengstenberg“ represented one of the most deter­ irrined, ideologically and politically united factions in Prussia defending the traditional political and social order against the attacks of the political opposi­ tion. The liberal theology professors held greatly varied notions, opinions, and approaches. At the same time, they tended to favor one or another particular theological school of thought54. Schleiermacher's theology, for instance, inspired Carl Immanuel Nitzsch (1787—1868), Richard Rothe (1799—1867), Friedrich Lücke (1791—1855), Karl Heinrich Sack (1789—1875), and a number of other moderately liberal theology professors and ministers in the decades before 1848. Unlike Hengstenberg in his leadership of the conservatives, however, Schleiermacher never organized a clerical faction dedicated to the principles of theological liberalism. Nor did the rationalist professors of theology in the various universities develop a group consciousness and esprit de corps matching the unity of purpose, cooperation, and effective drive of the Pietist faction. Consequently the liberals could not impose their theological and political views on the Protestant clergy. The phenomenal success of the Friends of Light (Lichtfreunde), a group of rationalist clergymen organized by Pastor L. Uhlich in 1841, alarmed not only the conservatives, but also the moderate liberals, who were equally shocked to see some rank-and-file clerics emerging as popular leaders and using open mass pressure in their struggle to assure complete intellectual freedom for clergymen and to transform the state church into a “ peoples' church“ (Volkskirche). The moderate liberals shared the horror of the conservatives when theological rationalism was transformed from an outmoded academic creed into a weapon for political mass action55. Mobilization of mass support by a group of ration­ alist pastors for the purpose of compelling the government to grant clergymen of the state church complete freedom in theological matters, and demands for and actual attempts at the organizing of the Protestant church as a democratic Institution — these developments in the 1840's were repugnant to liberals and conservatives alike. Through ceaseless agitauon and appeals, clerical leaders like Uhlich con­ tributed greatly to the development of an atmosphere of political unrest and of Opposition to the governments of the autocratic German states and to the privileged elements of society on the eve of the Revolution of 1848. The leaders of the Friends of Light performed the historical function of transmitting the liberal movement of intellectuals to the “ anonymous masses of the German © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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people“ , thereby preparing the ground for the organization of a liberal party in Germany. The democratic socialism of such leaders of “ free congregations“ as G. A. Wislicenus did not attract large masses of followers. These radicals felt that they were fighting for Spiritual independence, rational justice, and political liberty. In their eyes, these causes were one. They by no means shared common political and social creeds; but the free congregations played a “ forceful and directive part in the democratic movement“ of the 1840's and the revolutionary actions of the year 184856. Whatever the difference in their concepts, these free congregations were one of the few links between the middle class and the working class, which the free congregations desired to gain for their cause, and in this way contributed to the union of the revolutionary forces, brief and temporary as that union was. During the Revolution of 1848, the Protestant state church was a fighting Instrument of the conservative reaction against the political Opposition. Having purged the clergy of its openly dissident leaders and having neutralized their followers and sympathizers by threats of dismissal, the Hengstenberg faction was successful in mobilizing the militantly conservative elements of the church for the counterrevolution. In contrast to the “ united front“ of the conserva­ tives, the disunity of the liberals and radicals was demonstrated by the great diversity of their political ideas, doctrines, and slogans during the revolution. Basically the disunity of the radical and liberal leaders seemed to conform to the nature of their theological and philosophical differences, and to their backgrounds and personalities. In the course of a few decades of severe factional struggles within the ranks of its clergy, the Protestant state church in Prussia had emerged as a powerful and highly conservative Institution, able to influence crucially the outcome of the Revolution of 1848. Its clergymen, most of whom identified themselves with the Hohenzollern regime before, were even more firm in their support after the revolution failed, and continued to uphold the monarchy's claim to rule by the “ grace of God“ until the collapse of the Second Reich in 1918.

Notes 1 Evangelischer Ober-Kirchenrat, Generalia, Abt. XV, no. 3, Archiv des Evangeli­ schen Konsistoriums Berlin-Brandenburg, Berlin. The official collective terms Geist­ liche, Prediger, Geistlichkeit, and Geistliche Beamte were used to refer to the clergy, together with the more conventional designations Pastor and Pfarrer. 2 H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, The Prussian Experience, 1600—1815, C ambridge/Mass., 1958, 175—201; E. v. Bülow-Cummerow, Preussen, Seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Verhältnis zu Deutschland, 3d ed., Berlin, 1842, 187 f. 3 K. Epstein, The Genesis of German C onservatism., Princeton, 1966, 142 ff. 4 E. Foerster, Die Entstehung der Preussischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, 2 vols., Tübingen, 1905—1907.

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5 Because the confessional union was achieved by executive order and not by mu­ tual agreement, theological controversies continued for several decades and a number of so-called Old Lutheran congregations even separated themselves from the state church in the 1830's. J . B. Kissling, Der deutsche Protestantismus, 1817—1917, Mün­ ster, 1917—1918, I, 14—20. 6 R. M. Bigler, The Politics of German Protestantism, The Rise of the Protestant Church Elite in Prussia, 1815—1848, Berkeley, 1972, 53—75, 125—55. 7 In the 1820's, the professor of law Savigny commented to a friend that in com­ parison with his law students most theology students were “ poor wretches“ (arme Schlucker). M. Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin, 5 vols., Halle, 1910—1918, I, pt. I, 404. 8 L. Witte, Das Leben D. F. a. G. Tholucks, Bielefeld, 1884, 1886, I, 132. 9 Bigler, 125 ff. 10 Lenz, II, pt. I, 350—362. 11 Depending on the size and wealth of congregations, nonmonetary benefits varied grcatly, but in many cases constituted a major form of income. L. Lehmann, Kirchen­ geschichte der Mark Brandenburg von 1818 bis 1932, Berlin 1936, 239; II, pt. I, 317, 410; W. Wendland, 700 Jahre Kirch engeschichte Berlins, Berlin, 1930, 231 ff. 12 Lenz, II. pt. I, 409 f. 13 Bishop Eylert and other high-ranking nonacademic members of the ecclesiastical hierarchy were particularly impressed with the fact that while Semmler, Noesselt, Knapp, Eberhard, and other outstanding professors of the 1790's had annual salaries of some 400 to 500 thalers, Schleiermacher, Strauss, Hegel, and Savigny now received more than 2.000 thalers. R. F. Eylert, C harakter-Züge u. historische Fragmente aus dem Leben des Königs von Preussen, Friedrich Wilhelm III., 3 vols., Magdeburg, 1843—1846, III, pt. I, 510. 14 I owe much of the following Information to the help and cooperation of the late bishop of Berlin, Otto Dibelius, who was kind enough to let me use his records re­ lating to the Wittenberg Seminary. Some Statistical data relating to the social back­ ground of candidates can also be found in Lebenslauf der sämtlichen Mitglieder des Königlichen Prediger-Seminars zu Wittenberg vom 1. Juli 1817 bis Ende Dezember 1866, hergestellt von den Mitgliedern des Prediger-Seminars, Stuttgart, 1868, and O. Dibelius, Das Königliche Predigerseminar zu Wittenberg, 1817—1917, Berlin, 1917. 15 C . A. König, Die neueste Zeit in der Evangelischen Kirche, Braunschweig, 1842, 39; Tagebuch des Kandidaten Hermann Kohler, Leipzig, 1838, 14—17; Η. Ε. Schmie­ der, Erinnerungen aus meinem Leben, Wittenberg, 1892, 169. There was a similar “ aris­ tocratie urge toward the church“ in France after 1815. Within limits, this can be said to have been a general European trend. 16 Blätter zur Erinnerung an das Stiftungsfest des Prediger-Seminars zu Wittenberg, gefeiert am 29. u. 30. September 1842, Manuskript für Brüder und Freunde, n. p., n. d., 72. 17 For the effect of Eichhorn's speech on clergymen and other civil servants see the anonymous Zur Beurtheilung des Ministeriums Eichhorn von einem Mitgliede desselben, Berlin, 1849, 10—29. The pamphlet probably was written by privy councillor Gerd Eilers. 18 See the excellent studies of these problems in W. C onze, ed., Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz, 1815—1848, Stuttgart, 2nd. ed., 1970, and R. Koselleck, Preus­ sen zwischen Reform u. Revolution, Allgemeines Landrecht, Verwaltung u. soziale Be­ wegung von 1791 bis 1848, Stuttgart, 1967. 19 R. v. Thadden, Die Brandenburg-Preussischen Hofprediger im 17. u. 18. Jahrhun­ dert, Berlin, 1959, 3 ff. 20 The contentious attitude of Frederick II. toward theology professors and other clergymen was shown, for instance, in his note on some suggestions of the C onsistory:

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The Protestant Clergy in Prussia

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“ Members of the C onsistory are asses.“ L. Lehmann, Bilder aus der Kirchengeschichte der Mark Brandenburg, Berlin, 1924, 147. 21 Rosenberg, Bureaucracy, 123 f., 160 f. See also R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution, Princeton, 1959/64, I, 405 ff. For Wöllner's actions see Ep­ stein, 142 ff., 356—68, 390 f. 22 A. v. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaf­ ten zu Berlin, Berlin, 1900, I, 8—36; F. Lilge, The Abuse of Learning, The Failure of the German University, Ν. Y., 1948, 2—3. 23 There were some conspicuous exceptions, such as the theologian Karl Friedrich Bahrdt (1741—1792) at the University of Halle, who in the course of the radicaliza­ tion of the Aufklärung in the last decades of the eighteenth C entury dared to criticize aspects of the political and social system; he was jailed. Epstein, 118—120; F. Valja­ vec, Die Entstehung der Politischen Strömungen in Deutschland, 1770—1815, Munich, 1951, 25, 133, 135, 137, 144 ff. For an explanation of the Aufklärung, as contrasted with the Anglo-French type of Enlightenment, see Epstein, 32—35. 24 H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus u. vormärzlicher Vulgärliberalismus, HZ 141, 1930, 497 ff.; now reprinted in his: Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen, 1972. 25 Bigler, 25 ff. 26 See the chapter “ Volks- u. Zeitgeist am Rhein von 1789 bis 1813“ , in: J . A. Boost, Was waren die Rheinländer als Menschen u. Bürger, u. was ist aus ihnen geworden, Mainz, 1819, 54—78; Eylert, III, 69 f.; J . Hansen, ed., Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der französischen Revolution, Bonn, 1931—1938, II, 378, and IV, 793. 27 Letter to H. v. Gagern, March 3, 1831, in: G. Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, Berlin, 1855, VI, pt. 2, 137. For Gagern's comments see H. C . E., Freiherr v. Gagern, Mein Anteil an der Politik, Stuttgart, 1833, IV, 304 f. 28 F. Fischer, Der deutsche Protestantismus u. die Politik im 19. Jahrhundert, HZ 171, 1951, 474 f.; L. Krieger, The German Idea of Freedom, Boston, 1959, 5 f. 29 W. Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen, 1960, 198 f. 30 W. Schrader, Geschichte der Friedrichs Universität zu Halle, 2 vols., Berlin, 1894, II, 555; Lenz, III, 490; G. Kaufmann, Geschichte der Universität Breslau, 1811—1911, Breslau, 1911, 59 f.; F. v. Bezold, Geschichte der rheinischen Friedrich-Wilhelm Uni­ versität von der Gründung bis zum Jahr 1870, Bonn, 1920, 180 ff. Also: G. v. Seile, Geschichte der Albertus Universität zu Königsberg in Preussen, Würzburg, 1956, 311 ff. 31 F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4th ed., 4 vols., Freiburg, 1948—1955, I, 445—57; E. K. Bramstedt, Aristocracy and the Middle C lasses in Germany, Social Types in German Literature, 1830—1900, rev. ed., C hicago, 1964, 42, 128 f. 32 H. Holborn, The Social Basis of the German Reformation, C hurch History, 5. 1936, 337. 33 Rosenberg, Bureaucracy, 182; Schnabel, I, 204—234, 455 ff. 34 Krieger, 305 ff.; Bramstedt, 128 ff. For the political role of German professors in the last third of the eighteenth C entury see Epstein, 52 f. 35 See the very typical letter of the nobleman and chief councilor Ritter v. Hillmer addressing Professor Hengstenberg as “ Hochwürdiger Herr, Hochverehrter Herr Dok­ tor!“ November 27, 1827, Hengstenberg papers, Box II. 36 Schnabel, IV, 359—61. 37 Rosenberg, Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte, 7, 1929, 560—86, usw. also in: Politische Denkströmungen, Göttingen, 1972. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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38 L. Uhlich, Aus einem Briefe an D. Bretschneider, AKZ, 1842, 879. W. Nigg, Die Geschichte des religiösen Liberalismus, Entstehung, Blütezeit, Ausklang, Leipzig, 1937. 132 ff.; Schnabel, IV, 501 ff. 39 See RGG, 1957, III, 219 f. For a summary of Hengstenberg's thought see E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den all­ gemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh, 1954, V, 118—130. See also O. v. Ranke, Hengstenberg, Allgemeine Deutsche Biographie, XI, 737—747; Lenz, II, pt. I, 327 ff., and pt. II, 117 ff. See, further, A. Kriege, Geschichte der Evangeli­ schen Kirchenzeitung unter der Redaktion E. W. Hengstenbergs, phil. Diss. University of Bonn, 1958. 40 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 4 vols., Stuttgart, 1957 bis 1969, II, 338 ff.; E. Jordan, Die Entstehung der konservativen Partei u. die preussi­ schen Agrarverhältnisse von 1848, Munich, 1914, 185 ff.; W. O. Shanahan, German Protestants Face the Social Question, The C onservative Phase, 1815—1871, Notrc Dame, 1954, 101 f., 201 f. 41 On theological rationalism and its political influence see Rosenberg, Theologischer Rationalismus, 497—541. 42 C haracteristic of the influence of the Gerlachs is the letter of L. v. Gerlach to Hengstenberg on February 16, 1845, advising that the EKZ not publish articles by the “ renegade“ Pietist R. Rothe. Hengstenberg papers, Box IV. 43 Hengstenberg received mail even from such far-away places as Waukesha, Wiscon­ sin. Peter Wilmsen, a Lutheran minister there, called the editor of the EKZ a “ great leader“ ; letter August 2, 1852, ibid., Box V. Encas M. Rate, foreign secretary of the Continental C ommittee of the Free C hurch of Scotland, also corresponded with Heng­ stenberg, whom he praised as an “ honored Instrument for doing great service to the cause of Evangelical C hristianity in Germany“ . Letter, November 20, 1845, ibid. 44 L. v. Gerlach wrote scores of letters to Hengstenberg, commenting on significant articles, and at times ordered 50, 100, 200, or 500 reprints to be sent (at his expense) to Thadden, Lancizolle, and other influential persons for distribution. 45 H. Leo to Hengstenberg, January 14, 1847, ibid., Box V. 46 E. e., EKZ, 1828, 353. 47 August 9, 1828, G. N. Bonwetsch, Aus 40 Jahren deutscher Kirchengeschichte, Briefe an E. W. Hengstenberg, 2 vols., Gütersloh, 1917—1919, 154. 48 EKZ, 1830, 5. 49 L. v. Gerlach to Hengstenberg, May 17, 1833, Hengstenberg papers, Box II; Hengstenberg to his father, August 4, 1826, J . Bachmann and T. Schmalenbach, E. W. Hengstenberg, 3 vols., Gütersloh, 1876—1892, I, 291; Kriege, 29—32. 50 H. Werdermann, Der evangelische Pfarrer in Geschichte u. Gegenwart, Im Rück­ blick auf 400 Jahre evangelisches Pfarrhaus, Leipzig, 1925, 44—46; idem, Die deutsche evangelische Pfarrfrau, Ihre Geschichte in 4 Jahrhunderten, Wittenberg, 1935, 67—68, 114—17. 51 Hengstenberg to Tholuck, July 24, 1826, Bonwetsch, ed., Aus Tholucks Anfängen, Briefe an u. von Tholuck, Gütersloh, 1922, 117; Kriege, 29—32. 52 L. v. Gerlach to Hengstenberg, May 17, 1833, Hengstenberg papers, Box II, and Kottwitz to Tholuck (n. d.), Bonwetsch, Tholuck Briefe, 28. 53 Über die Versammlung der soi-disant protestantischen Freunde zu Koethen den 15 Mai 1845, EKZ, 1845, 550, and 1846, 28. 54 Nigg, 132 ff. 55 Rosenberg, Theologischer Rationalismus, 538 ff. 56 J . Droz, “ Religious Aspects of the Revolutions of 1848 in Europe“ , in Ε. Μ. Acomb and M. L. Brown, eds., French Society and Culture Since the Old Regime, Ν. Y., 1966, 139.

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11. Α Working Class in Berlin in the 1840's? By FREDERICK D. MARQUARDT

One of the major focuses of Hans Rosenberg's work has been the historical investigation of social groups and classes in relation to social stratification. His studies of the Prussian bureaucracy and landed Upper class are major con­ tributions not only to the revision of Prussian-G erman historiography but also to social history as a discipline. This essay is wntten in the methodological tradition furthered by Hans Rosenberg. It focuses on the manual workers in the city of Berlin in the 1840's. The question it asks, put broadly and simply, is: How did the workers fit into Berlin's social class structure1? There is good reason to take an empirical, localized look at this problem. The evidence from Berlin contradicts two major assumptions that — until recent writings by the group of scholars associated with Werner Conze — have been widespread in the general literature about the origins of the G erman labor movement and the revolutions of 1848/49. The first is the belief that men who worked in large mechanized factories or non-mechanized manufac­ tories were economically and socially distinct from the journeymen who worked in small handicraft Workshops. The sccond is the notion that, within the handicrafts, journeymen and masters were not separated from each other by a class division; they worked together in small, often paternalistic shops, and they shared corporatist, anti-capitalist values. The basis of these views seems to be the assumption that only industrialization can create a working class. Some of the most extreme conclusions to be developed within this frame of reference have come from Western historians in the era since World War II2. Rudolf Stadelmann and, to a lesser extent, Jacques Droz stress G ermany's low level of industrialization in the 1840'5 and deny the existence of a sharply defined working class at that time. In fact, they classify most masters and journeymen together in a traditionalistic, cohesive “ artisanate“ (das Hand­ werk), which constituted the bulk of a large urban Kleinbürgertum. They argue that journeymen as well as masters despised machines and disdained factory workers; in the face of pressures produced largely by non-industrial developments, the most desperate journeymen engaged in violence or organized to seek a corporatist restoration precisely because they feared a loss of their Status in the traditional artisanate. The Americans Theodore Hamerow and P. H. Noyes have adopted the same groupings but have changed their charac-

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ter. They claim that the factory workers earned superior wages and looked down upon the artisans, not vice versa. They bracket the bulk of the masters and journeymen within a single category, but, whereas Stadelmann considers most of them members of a sprawling Kleinbürgertum, Hamerow treats them as an enormous handicraft “ proletariat“ , and Noyes makes them the core of the “ working class“ . Α much larger group of scholars, many of them Marxists, has focused less on the fate of the old artisanate and more on the dynamics of “ capitalistic development“ . Correspondingly, while men of this orientation have honored the differentiation between industrial workers and a corporate artisanate, they have tended to subordinate it to the emergence of a broader split between wage-earning producers and capital-owning employers. The older works by Mehring, Bernstein, and Friedensburg and the newer writings by East G erman historians (e. g., Karl Obermann and Walter Schmidt) concede that industri­ alization was modest and the industrial proletariat small before 1848. But they assert that the rapid advance of pre-industrial capitalism (the domestic system and non-mechanized manufactories) created a massive “ semi-prole­ tariat“ (Halbproletariat) of wage-earning artisan-outworkers, ruined masters, journeymen, and laborers. The industrial and handicraft proletarians together formed the emerging “ working class“ , which faced a small capitalistic bour­ geoisie and a large, hard-pressed, pre-capitalistic petty bourgeoisie of independ­ ent masters and tradesmen. Thus, in this view, differences between industrial workers and the journeymen, who dominated the urban working class, were matters of degree and consciousness. The journeymen were driven by exploita­ tion and poverty to organize, strike, and engage in violence against masters, but their dispersion in handicraft Workshops hindered the development of a strong class consciousness and entrapped them in either a traditional corporatist mentality or a pursuit of narrow material gains. Consequently, although the journeymen did feel antagonism towards their masters, they were prone to follow the masters' ideological and political lead; when journeymen established workers' organizations in 1848, they advocated either a neo-corporatism or a pragmatic “ economism“ . Wilhelm Biermann, Max Quarck, and Veit Valentin have presented a wa­ tered-down version of this analysis. Concentrating more narrowly on G er­ many's weak industrialization before 1848, they place greater stress on the continuing, if weakening, ties between masters and journeymen and on the division between the latter and factory workers. They conclude that, despite spreading poverty and growing differences between workers and their superiors, class antagonism was not yet sharp. The recent works on the early G erman labor movement by Werner Conze, Frolinde Baiser, and Wolfgang Schieder mark a major departure from the assumptions that have, in one form or another, pervaded most of the literature on this problem. These three West G erman scholars discern in the 1830's and 1840's a sharp urban social dichotomy separating journeymen and unskilled © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Α Working Class in Berlin

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workers from the middle and upper classes. The primary causes were much broader than industrialization or capitalism. They included: economic distress produced largely by overpopulation, the decline of corporatist institutions and values, social and legal discrimination against workers, and the workers' eval­ uation of these realities according to new Standards of individual dignity and social fraternity. Baiser, in particular, goes on to assert that the dichotomy sharply split masters from journeymen; there was no cohesive “ artisanate“ . She also insists that there was no division between journeymen in manufactories or factories and those in small Workshops. However, she emphasizes the im­ portance of the distinction between journeymen and unskilled workers, and she, like Conze, refrains from including both groups in a “ working class“ that was anything more than a vague ideological category and slogan. On the basis of this scheme, the Conze group contends that the goals of the workers' organizations of 1848 were neither those of a backward-looking artisanate nor those of a partly corporatist, partly materialist semi-proletariat. Instead, they conformed to the mentality of journeymen who judged their mamfold social inferiority according to the values of the Enlightenment. They sought to restore workers to a respected place in society through a social-democratic reform program, whose main tenets were political democracy on the basis of universal male suffrage, co-determination of labor questions by employers and employees, free popular education, and social welfare measures by the state to insure workers against unemployment and poverty. Ultimately, the validity of these assessments will have to be tested against in-depth studies of individual localities. In the 1840's, no G erman city was more important than Berlin, although probably none was more atypical ekher. What does the evidence from the Prussian capital suggest? The following analysis should make clear that it bears out the general line of argument developed by the Conze school, but requires that the Interpretation be recast to take into account the reality — already recognized, in one form, in East German works — of a comprehensive, objectively demarcated, and deeply hostile working class. At the most basic level, whatever the distinctions between different groups of workers in Berlin, by 1848, the concept “ worker“ , as a general functional Classification, was widely used. The criteria of the category were three-fold: manual labor of a non-artistic and non-scientific kind, status as a wage­ employee of others, and propertylessness or poverty3. By this definition, the category included unskilled casual laborers, unskilled and semi-skilled laborers who held regular jobs in manufactories and Workshops; journeymen and ap­ prentices; and poor, solitary (i. e., employing no or, at most, one other worker), wage-earning masters. The crucial question with regard to the position of the workers in the social structure is: How strong were the divisions between groups of men within the functional class of “ workers“ and how strong, comparatively, were the divisions between workingmen and other groups in the society? 13 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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In Berlin, there was no significant antipathy between handicraft workers in small Workshops and those in manufactories or factories. First, there was no conflict between artisans and mechanized industry. Before mid-century, power­ driven machines had a very minor influence on production in the Prussian capital. In 1846, the total civilian population was about 380 000. The number of male workers was a least 55 000 and probably closer to 65—70 000. Yet, Berlin's industry employed only 75 steam engines with a total of 883 horse­ power. In 1849, 114 engines yielded 1256 horsepower. The largest Single con­ centrctions of steam engines were in the metal-working, machine-tool, and textile industries. But their impact on these branches was slight. Only in cotton­ prinung and nail-making did mechanization pose a serious challenge to manual skills4 Nor only was the significance of machines small, but hostility to them was rare. The Prussian government archives house volumes of petitions from Ber­ lin's masters and journeymen; newspapers from 1848 bulge with their com­ plaints. Yet, these sources provide virtually no evidence that a significant number of men in the textile, machine-tool, and textile industries opposed machines or discriminated against journeymen who operated them5. In only three of Berlin's crafts did mechanization arouse spirits: cotton-printing, nail­ making, and book-printing. In these cases, the demands of the workers usually were directed towards limiting rather than abolishing machines and towards assuring that journeymen rather than laborers would operate them6. Signifi­ cantly, there were no acts of machine-breaking. The sole such incident in Berlin in this period occurred in the fall of 1848, when laborers employed on a public construction project destroyed a mechanical water pump7. The second type of modern enterprise, the centralized, predominantly non­ mechanized manufactory, also failed to create a visible split in Berlin's labor force. Men inside and outside of manufactories differentiated sharply between journeymen and unskilled workers, but they did not draw a significant distinc­ tion between journeymen who worked in manufactories and those who worked in masters' shops. Most manufactories were broken down into individual Workshops, which often were staffed according to trades and headed by masters and which often retained some practices of subcontract in their Operations; the functions of journeymen in most manufactory Workshops did not differ radically from those of journeymen in the small shops of independent masters8. Therefore, it is not surprising that journeymen did not consider craftsmen's jobs in manufactories degrading in any way. In fact, in the 1840's, the journey­ men in Berlin's larger machine-tool plants began to openly identify with their individual enterprises and with the machine industry as a branch of production: they associated together socially; in 1848, they paraded in groups organized by enterprise; and, in the same year, they organized a separate Machine-Tool­ Workers' Association, which also included the unskilled workers in the manu­ factories9. In 1850/51, there were several cases in which journeymen voluntarily sought to join manufactory benevolent funds and to cease payments to the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Α Working Class in Berlin

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funds of their craft brotherhoods10. Not only did journeymen in manufactories not consider their employment demeaning, but they and other journeymen continued to consider them members of their original crafts. When, in 1843, the journeymen in one machine-tool manufactory asked permission to set up a social insurance fund in the enterprise, they indicated that they would also remain members of the funds of their respective brotherhoods11. In 1848, members of the Machine-Tool-Workers' Association consistently identified themselves as journeymen in particular crafts as well as “ machine-builders“ . Simultaneously, the brotherhood of locksmiths and fitters included in its labor demands stipulations that were explicitly for the benefit of those fitter journey­ men who worked in manufactories12. These are convincing indications of equality and harmony between journeymen inside and outside of manufac­ tories. Beside them Stands a total absence of any signs of segregauon or hostility between the two categories. While modern forms of enterprise did not create strong new lines of distinc­ tion among journeymen in the 1840's, the most prominent older divisions were losing their importance. The journeymen's brotherhoods had lost much of their economic and social power. In most of the larger trades, the government removed the journeymen from administration of their benevolent funds and sought to end the regular meetings of fund members. The journeymen's hosteis lost importance as centers of social life and as clearinghouses for employment. Brotherhood members dropped traditional ceremonies of social solidarity13. Consequently, journeymen ceased to attach significance to the distinetion between corporate and non-corporate artisans. Already in the 1830's, members of most of the larger brotherhoods worked beside non-members in the shops of both guild masters and free proprietors14. Journeymen's brotherhoods even sought to admit non-members into their social insurance funds15. In addition, the journeymen's commitment to their individual trades was weakening. To be sure, because of the functional distinctions between crafts, journeymen con­ tinued to identify themselves by trade. In 1848, they met, organized, and carried out labor negotiations and strikes by trade. Moreover, because they worked together, journeymen within crafts tended to socialize with each other16. But the brotherhoods lacked the narrowness and the monopolistic, exclusivist, and even hostile spirit of the old journeymen's corporations. Men from different trades frequently associated with each other socially. Often, two or more crafts shared the same hostel17. In the Artisans' Association (Hand­ werkerverein), which was established in 1844 and attamed a membership of 3000 by 1847, journeymen from different trades mixed freely, both in the central headquarters of the Organization and in meetings at specific trade hosteis18. Thus, the differences associated with old crafts and those created by new forms of enterprise produced only very weak distinctions among Berlin's work­ ers in the 1840's. Much stronger were the lines that stratified workers into a hierarchy of economic and social-status groups. The basic criteria for placement 13*

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in this labor hierarchy were economic: on the basis of skill, function, and scarcity in the labor market, workers were treated differently by employers with regard to wages, steadiness of employment, working conditions, and personal respect. However, in terms of social Status — i. e., prestige, life style, and deferential behavior — the pattern of economic stratification was modified by social values. Especially in the border areas between groups, pride and prejudice — often based on old legal, social, and cultural distinctions — led workers as well as non-workers to accentuate some lines of economic differen­ tiation while muting or blurring others19. Viewed from this perspective, Berlin's working class was composed of five broad substrata. At the top stood the elite journeymen. They comprised the bulk of the men in the skilled or artistic crafts and industries; in the more common trades, they included only the men in those Workshops that produced fine goods. Thus, for example, elite journeymen constituted a large proportion of the typographers, goldsmiths, and machine-builders; a modest proportion of the cabinetmakers, leather-workers, and metal-workers; and a very small pro­ portion of the tailors, shoemakers, and weavers. Stephan Born once referred to some of them — the typographers and machine-builders — as the “ ansto­ cratic elements“ of the labor force. They were set apart by their superior wages, steady employment, and particular style of life. Wage statistics show that Berlin's best-paid journeymen usually earned two to three times the wages of the most poorly paid men in their crafts. In comparisons cutting across trade lines, the differentials could be even greater20. Members of this labor aristocracy also enjoyed greater job security. During seasonal and cyclical slumps, entrepreneurs and masters retained only the most skilled and indus­ trious workers, sometimes sacrificing capital to do so, while they released the rest of their labor forces21. As a result of their high wages and steady employ­ ment, the elite journeymen formed a superior income class among workers. They ranked near the middle class and above numerous small masters22. More­ over, employers were concerned about the “ loyalty“ of trained and scarce workers. Men like Siemens sought to cultivate it through personal contact, friendliness, and small personal considerations23. On the basis of their economic position and the traditional professional prestige that was accorded to fine craftsmen, elite journeymen developed an exalted view of their social worth and became “ accustomed to the better life“ 24. They dressed better than other journeymen25. They remained away from the brotherhoods' hosteis except when business took them there26. Below the labor aristocracy stood a much larger Stratum of moderately and poorly skilled journeymen, a group that may conveniently be called the com­ mon journeymen. Their wages were noticeably lower than those of more skilled craftsmen, and journeymen who earned the “ low“ rates often received only one-third to one-half as much as members of the elite in their crafts. In addition, they were frequently unemployed. In slumps, entrepreneurs and masters regularly released those journeymen who did not rank among the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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“ best“ , “ skilled“ , or “ most industrious“ . For many journeymen in the 1840's, annual unemployment periods of one to five months — the stille Zeit or schlechte Zeit — were normal27. Economically, then, common journeymen belonged to “ that large portion of the so-called working classes which, although close to the threshhold of indigence, manages to barely subsist from its own efforts as long as family members remain free from severe illness and mis­ fortune“ 28. The functional and economic inferiority of the common journeymen affected their style of life. They wore threadbare or tattered leisure clothing. They regularly crowded into the pubs, partly because the only other places they had to go were their own overcrowded sleeping rooms29. Elite journeymen, on the other hand, tended to withdraw to their families or seek activities with an educational or cultural flavor. It was they, for example, who dominated at the activities of the Artisans' Association30. Some common journeymen harbored a strong dislike of the more prosperous and socially distant elite. They ex­ pressed it on those occasions when a group of them would lure a naive elite journeyman to the hostel, forcibly sponge off his funds, and then beat him up31. The lowest echelons of common journeymen formed part of a third sub­ stratum of workers. It consisted of the poorest journeymen and chamber mas­ ters. The journeymen in this group were frequently married and sometimes so poor that they could not afford to pay dues to the social insurance funds of the brotherhoods32. While many continued to work in masters' shops or sank into the ranks of the unskilled, a large number of them, in acts of desperation, began to produce directly for putters-out or the public. They worked alone at home, often with the help of their families, as either illegal journeymenbotchers (Pfuscher) or legally registered proprietors. It was these poor, desperate journeymen who helped account for the increased number of “ independents“ after the establishment of industrial freedom. They combined with downward­ mobile, indigent masters to constitute a large group of nominal independents who were, in fact, poorer and more insecure than most journeymen employed by masters. They crowded into Berlin's first tenements, the infamous “ Family Houses“ , and into cellars, attics, and sleeping rooms throughout the city. There, with almost no furniture or household goods, they sought to eke out a bare subsistence and extract a few alms from the Poor Commission. Their social standing was correspondingly low. In 1852, Berlin's Police President went so far as to label the poor outworking weavers “ the pariahs of contemporary society“33. The elite journeymen, the common journeymen, and the category of poor journeymen and chamber masters formed three relatively distinct substrata in the labor hierarchy. But even sharper than the differences between these three groups was the gulf that separated all of them, as artisans, from the unkilled laborers. The unskilled in Berlin were generally labelled Arbeitsleute, Hand­ arbeiter, or simply Arbeiter. Thus, the term Arbeiter had two different mean­ ings. In a broad sense, it referred to the whole class of dependent, wage© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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earning, manual workers. But, at the same time, in a narrower sense, it applied only to unskilled workers34. In general discussions, contemporaries from all social levels drew a sharp line between handicraft workers, who had formal training and, presumably, a learned skill, and laborers, who had no formal training or skill35. The unskilled workers themselves were divided into two separate strata. The first consisted of the men who performed permanent auxiliary tasks in large and small manufactories36. Some of them had to develop modest skills to fulfill the functions assigned to them; they approximated what we would call semi-skilled workers. In the machine-tool industry, the semi-skilled hands evolved into an exceptional group, acquiring a value and commanding wages that far exceeded those that were normal for Arbeitsleute in most industries37. These unskilled and semi-skilled workers were guaranteed employment for fixed periods of time, usually one week (although they might be continuously employed for months or years), and were paid at weekly rates. Generally, they entered into written contracts, formally placed themselves under the posted plant regulations, and joined the manufactories' health and death insurance funds38. These formally untrained workers were inferior to the journeymen in the same establishments. They were easily replaced and, hence, more frequently released during slack periods. Their weekly wage rates, which, in 1852, ranged from 2½ to 3½ Talers, usually were one-half to one Taler lower than those for journeymen in the same enterprises. Significant exceptions occurred in the machine-tool, railroad-car, and ribbon manufactories, where some semi-skilled workers earned as much as journeymen. However, only a handful reached such parity. Specific examples from the machine-tool industry, for example, make clear that, normally, the wages of journeymen were distinctly higher than those of their semi-skilled colleagues39. Even the Statute of the social insurance fund in Borsig's machine-tool and locomotive manufactory discriminated: it stipu­ lated that the survivors of deceased journeymen were to receive thirty Talers but that the survivors of deceased apprentices and Arbeitsleute were to receive only fifteen Talers40. The second Stratum of unskilled workers was made up of casual laborers (Tagelöhner) inside and outside of the Workshops and manufactories. They were in a more depressed and precarious economic position than the unskilled laborers who worked at regular jobs. Even in the manufactories, they were not hired for more than a day at a time; they did not enter into a written contract and were not placed under the plant regulations41. The casual laborers received the lowest wage rates; in most branches, the wage differential between them and the regularly employed laborers was one-half to one Taler per week42. Their employment was by definition haphazard. The major sources of employment for casual labor existed outside of the manufactories, in the con­ struction of buildings, roads, canals, and railroads and in the Performance of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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a wide variety of menial odd jobs. Here, wages were about the same as in the manufactories43. As a rule, members of both categories of unkilled workers, because of their low wages and frequent unemployment, probably earned lower annual incomes than most journeymen. But there were many exceptions. Clearly, some unskilled manufactory workers and even casual laborers had greater incomes than some of the poorest journeymen and chamber masters. Consequently, under the severe economic pressures of the Vormärz, numerous desperate artisans took unskilled jobs44. But they did so with a deep aversion. For this was one of those border areas where economic position and social Status were inconsistent. Despite the fact that some unskilled workers brought home earnings that were equal or superior to those of the poorest journeymen, the social Status of both categories of unskilled workers was distinctly inferior to that of journeymen. The casual laborers in construction, in particular, were openly classified by others and by themselves as “ the lowest class of workers“ and “ the rabble of the rabble“45. Many journeymen exhibited snobbish attitudes and behavior towards semi­ skilled and unskilled workers. In the machine-tool plants, journeymen main­ tained their pretensions to being the “ first class“ , despite claims to equality by the semi-skilled workers who constituted the “ second class“ . Stephan Born, the typographer who headed Berlin's Workers' C lub in 1848, harbored a clear distrust and dislike of the construetion laborers. In 1850, C ity C ouncillor for Artisan Affairs Hedemann charged flatly that journeymen considered them­ selves “ too good“ for the “ rabble“ below them. For their part, even desperate journeymen made it crystal clear that they considered it a degradation to take jobs as either regularly-employed or casual laborers46. The division between Berlin's unskilled workers and journeymen took on organizational form in the catalytic spring of 1848. In April, the unskilled workers in the dyeing, cotton-printing, and sugar-refining industries, respec­ tively, organized themselves independently of the journeymen and forced con­ cessions from employers. Even construetion laborers established their own association, which attained a membership of 3000 by October. In the course of some of these activities, there were clear signs of antagonism between journey­ men and the unskilled47. Simultaneously, journeymen in the dyeing, cottonprinting, and machine-tool manufactories attempted to bar or expel unskilled workers from jobs to which the journeymen believed only they were entitled48. The laborers displayed an inverted exclusiveness: on several occasions, they formally resolved or informally threatened to prevent desperate journeymen from taking unskilled jobs49. The five substrata described here did not comprise all members of Berlin's labor force. There were significant marginal groups, such as the female and child laborers and those struggling masters who were neither workers nor middle-class proprietors. They fit only obliquely or not at all into these cate­ gories. But most workers spoke and behaved as if they placed themselves and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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other workers within the five-tiered hierarehy. C learly, these economic and social substrata — not distinctions between trades or between industrial and handicraft workers — were the most important divisions among workingmen. But, in a broader social perspective, even they paled in companson to the antagonisms between workers, as a class, and the thousands of masters and entrepreneurs who employed them and in comparison to the barriers that cut off workers, as a group, from the social and civic world of the middle and Upper classes. The dichotomy between laboring men and “ respectable“ society provoked workers to resentments and acts of violence against their social superiors that dramatically overshadowed the strains and conflicts among workers themselves. At the root of this was a manifold process of increasingly stark economic, social-status, and civic discrimination by Berlin's middle and upper classes against the workers and against the entire “ lower class“ , of which the workers were the major component50. The pattern of deprivation and denigration did not apply uniformly to the different substrata of workers, but, in varying forms and degrees, it touched them all. For example, the elite journeymen were not subject to the same poverty and arbitrary employment practices as were the common journeymen and laborers. But they were subject to social-status and civic discrimination, and their relative economic strength seems to have made them resent their non-economic degradation all the more51. Moreover, the differences between workers and their social superiors were much sharper than distinctions between different groups of workers. Elite journeymen com­ manded good wages and terms of employment, but, basically, like other workers, they were employees who were dependent on their employers. They worked side by side with inferior workers, stood under the authority of the same bosses, often belonged to the same benevolent funds, and, in larger establishments, were subject to the same “ house rules“52. Similarly, although elite journeymen dressed better than their inferiors and were socially aloof, nevertheless, when business required it, they did visit the hosteis with common journeymen; masters, by contrast, refused to even enter the hosteis for fear of physical abuse53. Journeymen in general considered themselves superior to unskilled workers; nevertheless, while masters and entrepreneurs isolated them­ selves in their own social circles, common journeymen and laborers drank in the same pubs, attended the same puppet shows, and, as respectable Berliners watched from a distance, indulged themselves together in the city's one annual popular festival, the Stralauer Fischzug54. Finally, the workers as a group were subject to glaring civic discrimination. The prosperous Berliners who paid the fee for municipal citizenship controlled the organs of municipal government, thereby maintaining, in effect, a political cleavage between the disfranchised lower class and “ the burghers and masters who sit at the top“55. The state and municipal bureaucracies and the police treated poorer workers as latent criminals and all workers, especially including elite journeymen, as potential revolutionaries56. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Thus, however important the internal divisions among laboring men, they did not entail discriminations that were as sharp or estrangements that were as complete as those between workers and respectable society. The preeminence of these dichotomic distinctions was given added emphasis by the belief of many workers that they were unjust when judged according to older corporatist Standards, which endowed inferiors with at least minimal rights and respec­ tability, and according to newer, “ enlightened“ Standards of individual dignity57. Consequently, on the basis of their individual experience, all types of workers independently tended to define their social position in terms of the same set of antagonists — the employers, the propertied, the social snobs of respectable society, the municipal and state governments, the police — and to perceive the social class structure in terms of an overriding, hostile dichotomy between employers and employees, rich and poor, rulers and ruled, respectable society and pariahs, burghers and workers. Beyond that, on the basis of their shared experience of deprivation and denigration, on the one hand, and their tenuous chain of associations with each other, on the other hand, workers of all types tended to develop a vague sense of common identity as members of an outcast “ working class“ . These trends were evident in spontaneous words and deeds. As early as September 1830, crowds of journeymen and laborers were provoked by the arrest of eight unemployed tailor journeymen to engage in the vandalistic riots known as the “ Tailors' Revolution“58. Three weeks later, the cotton­ printers, in a letter to the Minister of the Interior, uttered a thinly veiled threat when they noted that they were petitioning the king while the whole “ working class“ was storming thrones59. In the summer of 1831, the owner of the Family Houses referred to the “ strongly pronounced esprit de corps“ among the poor chamber masters, journeymen, and laborers who inhabited those tenements. Α large crowd of them intimidated him into halting evictions for arrears in rent. They denounced Berlin's exploitative employers, said that no law should be respected, and spoke of arousing the journeymen's brother­ hoods to stage a “ general rebellion“ 60. The archives of Berlin's Police Presi­ dium record a number of other disturbances and riots in the 1830's and 1840'5, the most famous of which were the “ Fireworks Revolution“ of 1835 and the “ Potato Revolution“ of 1847. Police and trial reports show that the crowds in these outbursts consisted primarily of common journeymen, apprentices, and laborers. Α small number of participants were poor chamber masters; few were elite journeymen. The disturbances were mainly random and vindictive attacks against the police and the property of prosperous residents — in effect, against the agents and symbols of respectable society61. Although the elite journeymen remained aloof from these activities, they shared the outeast feeling of their inferiors in the labor hierarchy. In 1847, journeymen in the Artisans' Association complained about the “ plight of the workers“ , despair­ ingly referred to themselves as “ proletarians“ , and bitterly denounced their isolation from the “ healthy Mittelstand“ . The politicized labor aristocrats © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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insisted that the cure for these evils lay in what amounted to social democracy, i. e., political democracy, education of the workers, redistribution of wealth, and provision of employment to all men who needed it62. Throughout this period, a variety of chroniclers, government officials, and private C itizens took note of the workers' sense of exclusion and of the hostile polarization between the workers — or the broader lower class, which they dominated — and the middle and upper classes63. The revolution of March 1848 catalyzed the rancor and vague group awareness of the workers into a more sharply defined and more openly articulated class consciousness. The haughty, inconsistent, and brutal behavior of the troops in Berlin between March 13 and March 18 brought workers and middle-class burghers together on the barricades during the night of March 18 to 19 in a common battle against the army. When the king removed the troops and put the capital in the hands of the Berliners, workers, led by elite journey­ men, began to express their collective social resentments openly. On March 26, at an outdoor assembly of thousands of workers, Bisky, the goldsmith journey­ man who was to become the most popular working-class leader that summer, put it succinctly: “ Until now we were the big zero in the state. Finally we have a chance to speak up.“ 64 Amidst a multitude of Speeches forwarding specific material demands, the typographer Brill received “ long stormy ap­ plause“ for a speech in which he assailed a kaleidoscopic variety of economic, social, and civic personifications of the existing order: “ The existing society has done a great injustice to the workers. It has driven them back with police when they demanded bread. And why did it do this? Because the workers have no education. I demand popular education at the state's expense. . . . The rich must sacrifice part of their wealth. Who has had control in their hands until now? The aristoerats, the distinguished, the rich. They knew how to live, alright. But for the worker they did nothing — nothing for the worker, who produced everything they used, from their necessities to their luxuries.“ Others, like the machine-fitter Krause, played on similar images65. Declarations like these reflect not only a perception of society in terms of a hostile dichotomy between respectable society and workingmen but also a strong identification with “ the workers“ as a distinetive class. This was most obvious in the use of words. While journeymen in specific crafts, unskilled manufactory workers, and casual laborers still referred to themselves by those specific labeis, they simultaneously called themselves simply “ workers“66. Moreover, workers and others commonly used the terminology of class. In assemblies, placards, and pamphlets, they spoke of the Arbeiterstand, Arbeiter­ klasse, and arbeitende Klassen67. Probably the most telling signs of common identity were the fledgling efforts of workers in different subgroups to cooperate with each other in defense of their common interests. In April and May, there were many negotiations, demonstrations, and strikes by workers in order to wrest better wages and terms of employment from their employers68. Within individual crafts, elite © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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and common journeymen ignored their differences and spontaneously co­ operated to cajole or force concessions from masters and manufacturers. Usu­ ally, individual journeymen's brotherhoods and groups of unskilled workers acted separately, even within enterprises where they worked beside each other, but there were cases in the machine-tool and cotton-printing industries in which journeymen in one craft struck in support of men in another craft and in which unskilled workers and journeymen cooperated in seeking concessions from employers. Later, there were unconfirmed reports of coalitions between the cotton-printers and construction laborers and between the latter and the mason and carpenter journeymen69. On a broader scale, men from different crafts and substrata formally affil­ iated with each other in a single, loose, workers' organization, the C entral Workers' C lub70. Formed on March 29, the C lub consisted of the elected re­ presentatives of twenty-eight workers' associations. The latter included the larger journeymen's brotherhoods, a new association of machine-tool workers that comprehended both journeymen and unskilled workers, and a new organi­ zation of the city's construction laborers. This was a pure and conscious working-class organization. On April 11, the C lub voted overwhelmingly to exclude employers of all types, including small-scale masters. Significantly, both inside and outside of the Workers' C lub, workingmen from different substrata acknowledged and supported a small group of elite journeymen as their leaders. The workers' representatives in the C lub elected mainly politicized elite journeymen to their C entral C ommittee — men like Born, Bisky, Brill, Krause, the tailors Michaelis and Lüchow, and the shoemaker Hätzel. In two public assemblies in early April, workers enthusiastically — and, in one case, spontaneously — replaced middle-class spokesmen with labor aristocrats. In one instance it was Bisky; in the other, the smith Krause from Borsig71. Later in the summer, when Lüchow was harassed by the police, the tailor journeymen went on strike and the C entral Workers' C lub applied public pressure to successfully halt the police measures72. But the working-class consciousness that was evident in these acts was lim­ ited. Before 1848, no traditions, institutions, or ideologies had bound workers of different subgroups together. Thus, although the workers possessed a strong sense of identity as an outcast class, and although they were able, at least at times, to subordinate intra-class differences in order to organize and act, they lacked a strong sense of community and a positive commitment to common values and goals. As a result, most of the actions of workers against their common enemies were fragmented. The C entral Workers' C lub carried weight as a political lobby and propaganda machine, and it sometimes was able to mold opinion among workers73. But it did not end friction between substrata. Above all, it did not mobilize the constituency and resources of the C lub to common action in order to realize its social-democratic reform program. The combination of heightened working-class identity and hostility, on the one hand, and independent subgroup modes of expressing it, on the other hand, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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was crucial in determining relations between workers and their social superiors in the summer and fall of 1848. The politicized elite journeymen, such as those who headed the Workers' C lub, tended to work to organize the workers. develop a program, and influence public opinion and the government. They avoided violence, as they had in the 1830,s and 1840's, and tried to restrain the common journeymen and unskilled workers. But the less politicized, poorer workers itched to take revenge against the middle and upper classes. On March 19, there were several acts of vandalistic “ popular justice“ against well-to-do burghers who had helped the troops during the preceding night. The strike wave of early April was accompanied by numerous acts of intimida­ tion — but rarely violence — against shopkeepers, masters, and entrepre­ neurs74. Meanwhile, despite the peaceful orientation of the labor aristocracy, the rhetoric of men like Brill and Bisky could only have intensified the ele­ mental class resentment felt by the mass of poorer workers. The behavior of Berlin's burghers had a similar effect. The middle and upper classes recognized the mood of the workers. In the days after March 18, they reacted by seeking to erect defenses against the kind of violence that workers had perpetrated in 1830, 1835, and 184775. On March 19, they formed a C ivil Guard, from which workers were excluded; the only exceptions were two corps of elite journeymen, one consisting of members of the Artisans' Association, the other formed by machine-tool workers. In a matter of days, the number of C ivil Guardsmen reached 10 000, and by mid-summer it topped 26 000; membership in the two corps of journeymen remained well below 2000. Ominously, when workers held their first large assembly, on March 26, Civil Guard detachments were deployed in the area, and the meeting was watched for signs of danger76. Throughout March and April, in the face of acts of intimidation by workers, the respectable burghers were openly afraid of an uprising by the outcasts77. Thus, on both sides, feelings of class hostility and mistrust grew after the March Days. By late April, the mass of common journeymen and laborers were beyond the restraint of the labor aristocrats. From May through October, the lower echelons of the working class engaged in a kind of hit-and-run warfare with the Civil Guard and representatives of the new government. The running conflict erupted into major clashes on May 30, June 14, and August 24. On October 16, a bloody battle between laborers and the C ivil Guard cost the lives of ten workers and one Guardsman78. As these confrontations occurred, the elite journeymen in the C ivil Guard steered a zig-zag course, siding now with the burghers in the name of preserving the revolution, now with the workers in the name of social justice. By November, all sides were wearied and demoralized. The burghers were openly relieved when General Wrangel marched his troops into the city and inaugurated the counter-revolution. The mass of poor workers, having come to view the liberal revolution with scorn and cynicism, accepted the new turn of events with apathy. The elite journey© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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men, isolated and discouraged by their attempts to play a mediating role, quietly surrendered their weapons and curbed their activity. It is a commonplace that the antagonism and violence of the summer and fall played a major role in aborting the promise of the March Days and opening the way for counter-revolution. In Berlin, the strains and clashes of the summer had the character of a class war between the bulk of the working class and the middle-class C ivil Guard. Events and utterances in the Prussian capital in the 1840's do not support those interpretations that propound a split between industrial workers and the “ artisanate“ , a battle of corporate­ minded masters and journeymen against a bourgeoisie committed to free enter­ prise, or a clash between proletarianized handicraftsmen and the partisans of mechanized industry. They are also at variance with two aspects of the inter­ pretation developed by the C onze school. In Berlin, the elite journeymen, com­ mon journeymen, and unskilled workers displayed a stronger, more concrete sense of common class identity than that alluded to by C onze and Baiser. Moreover, in contrast to the peaceful and conciliatory orientation of the journeymen described by those authors, men in all substrata of Berlin's working class harbored a deep class hostility, and many common journeymen joined unskilled workers in exhibiting a strong propensity to destructiveness. The evidence from Berlin also bursts the narrow framework frequently employed by East German scholars. They tend to view the class dichotomy as the product almost solely of “ capitalistic development“ , to interpret the motives of work­ ers almost entirely in terms of the types of exploitation and poverty that accompanied different stages of capitalism, and to reduce the working class of this period to the status of a misguided forerunner of a later proletarian movement. The motives and historical significance of Berlin's workers in the 1840's are more impressive if we view those men in their own terms. The discriminations that estranged workingmen from respectable society and pushed them towards each other went far beyond capitalism. They were economic, social, and civic; and they were executed by men who, according to most definitions, came from both the small capitalistic segment and the large non­ capitalistic segment of the middle and upper classes. Most workers experienced and perceived them as a manifold, comprehensive, and unjust pattern of social deprivation and denigration. It was their reaction to social degradation in this broad sense that, in conjunction with the contacts and associations they had with each other, gave a sense of common class identity to workers from different types of enterprises, different branches of production, and different substrata. Of course, the acts by which workers responded to their situation varied. But those variations did not correspond to differences between indus­ trial and handicraft workers or between workers in more or less capitalistic branches of production. Instead, they corresponded loosely to the more com­ plicated, economic and social substrata in the labor hierarchy: the politicized elite journeymen espoused a sweeping program of political, social, and econom­ ic reintegration — not simply neo-corporatism or “ economism“ ; on the other © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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hand, many non-politicized common journeymen and unskilled workers, who cheered the slogans of the labor aristocrats, were prone to seek direct revenge against the middle and upper classes by means of vandalism and physical intimidation. But the most basic and historically significant characteristic of these acts was not their divergence. It was their common inspiration by a sense of working-class identity and by a profound hostility towards the men and the system that, in multifarious ways, cast the workers out of respectable society. Notes 1 The research on which this essay is based was made possible by financial support from the University of C alifornia, Berkeley. For access to materials, I am indebted to the Archivverwaltung of the German Democratic Republic, the staffs of the archives cited below, and the staff of the library of the Free University of Berlin. 2 For specific works by the authors mentioned in the following paragraphs, see the bibliography in P. H. Noyes, Organization and Revolution: Working-Class Associations in the German Revolutions of 1848—1849, Princeton 1966. Works not listed there are: Institut für Marxismus-Leninismus, ed., Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, I, Berlin 1966; W. Schmidt, Zu einigen Fragen der sozialen Struktur u. der politischen Ideologie in der Zeit des Vormärz u. der Revolution von 1848/49, Beiträge zur Ge­ schichte der deutschen Arbeiterbewegung 7. 1965, 645—60; W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1963; W. C onze, Der Beginn der deutschen Arbeiterbewegung, in: W. Besson/F. H. v. Gaertringen, eds., Fs. für H. Roth­ fels, Göttingen 1963, 323—38. 3 See, for example, G. Schilfert, Sieg u. Niederlage des demokratischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1952, 391; Jahrbuch für die amtliche Statistik des preussischen Staats 2. 1867, 231. Such criteria were implicit in some of the statements by workers in 1848; see, for example, A. Wolff, Berliner Revolutions­ Chronik, 3 vols., Berlin 1851—54, I, 435—41. 4 R. Boeckh, Die Bevölkerungs-, Gewerbe- u. Wohnungs-Aufnahme vom 1. Dezem­ ber 1875 in der Stadt Berlin, Heft IV, Berlin 1881, 65; Tabellen u. amtliche Nach­ richten über den preussischen Staat für das Jahr 1849, Vol. IV, Abt. B, Berlin 1S55, 1004—1529; L. Baar, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution, Berlin 1966. 5 Most petitions are collected in: DZA II, Merseburg, Rep. 120D. On 1848, see Wolff, I, 435—41; II, 66—68, 134—43, 148—51, 153—57; Deutsche Arbeiter-Zeitung, 12 Apr. 1848, 15—16; Die Volks-Stimme, 6 Apr. 1848, 5. Apparently, East German historians also have found few such complaints: see Baar; E. Todt/H. Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1800 bis 1849, Berlin 1950. 6 On the cotton-printers, see DZA II, Rep. 89C , XXXV, Kurmark, No. 27, fol. 100—101, 107—109, 122—202; Rep. 89H, XIII, Berlin, No. 1, fol. 30—37, 47—59; Rep. 120B, I, 1, No. 60, Vol. I, fol. 32—33; Rep. 120D, VIII, 2, No. 21; Der Publicist, 12 Apr. 1848, 222, 232—33; Volks-Stimmc, 6 Apr. 1848, 5; Wolff, II, 113 — 14. On the nail-makers, DZA II, Rep. 120B, I, 1, No. 60, Vol II, fol. 282—88; Volks-Stimme, 8 & 13 Apr. 1848, 11, 19. On the typographers, Deutsche Arbeiter-Zeitung, 12 Apr. 1848, 16. 7 DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vol. III, fol. 185—90. 8 On the complex and varied organization of manufactories in Berlin, see H. Weber, Der Vaterländische Gewerbsfreund, 2 vols., Berlin 1819—20; Mitteilungen des C entral­ vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, No. 2, 15 Feb. 1849, 156; Η. G othsche,

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Die Königlichen Gewehrfabriken, Berlin 1904, 33—34; J . Kocka, Unternehmensverwal­ tung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969, 162—76; D2A II, Rep. 120B, V, 33, No. 4, Vol. I, fol. 159—60; Staatsarchiv Potsdam (here­ after: StAP), Rep. 30C , No. 14376, fol. 21—24; Rep. 2A, I, HG, No. 3767, Berlin Magistracy to Commerce Ministry, 11 Jan. 1853. 9 StAP, Rep. 30C , No. 10425, fol. 131—35; No. 13726, fol. 111; Wolff, I, 322—23; Volks-Stimme, 6 Apr. 1848, 4—5; Todt & Radandt, 136—37, 160. 10 DZA II, Rep. 120B, V, 33, No. 3, Vols. III—IV, passim; StAP, Rep. 30C , No. 2747, fol. 204, 347—48. 11 D2A II, Rep. 109A, XXIV f., No. 6, Vol. I, fol. 6—7. 12 Volks-Stimme, 6 April 1848, 4—6. 13 On these points, see W. Ritscher, Koalitionen u. Koalitionsrecht in Deutschland bis zur Reichsgewerbeordnung, Stuttgart 1917, 142—43, 303; F. Paeplow, Zur Geschichte der deutschen Bauarbeiterbewegung, Berlin 1932, 167, 662—63; A. Knoll, Geschichte der deutschen Steinsetzerbewegung, Vol. II, Berlin 1913, 90, 92, 94, 143, 302; DZA II, Rep. 90a, J , I, 1, Adh. Α., No. 6, passim; Rep. 120B, V, 33, No. 3, Vol. I, fol. 180; StAP, Rep. 30C, No. 2672, fol. 49—53, 55—56, 65—66, 146—79; No. 7357, fol. 127; No. 10418, fol. 42. In general, see J . Bergmann, Stabilität u. Wandel des Berliner Handwerks im Zeitalter der Frühindustrialisierung, phil. Diss. FU Berlin, Bamberg 1969, 78—92. 14 DZA II, Rep. 90a, J , I, 1, Adh. A, No. 6, passim; StAP, Rep. 30C , No. 2672, fol. 21—22, 73—74, 77—78; No. 7357, fol. 131—33; Knoll, 91. 15 DZA II, Rep. 120B, V, 1, No. 10. 16 Wolff, II, 153—57 & passim. For good evidence on social life, see StAP, Rep. 30C, No. 482, fol. 5; No. 10418, fol. 62—63; Tit. 166, No. 13, Report by Klein, 13 Aug. 1824; DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vol. I, fol. 92—95; Der Publicist, 19 Apr. 1848, 252—55. 17 J . G. A. L. Helling, Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Ber­ lin u. seinen Umgebungen, Berlin 1830, 170—71. 18 StAP, Rep. 30C , No. 10425, esp. fol. 11—15, 23—24, 31; DZA II, Rep. 77, No. 3, Vol. I, fol. 285. 19 For a general exploration of this problem, see W. Fischer, Innerbetrieblicher u. sozialer Status der frühen Fabrikarbeiterschaft, in: F. Lütge, ed., Die wirtschaftliche Situation in Deutschland u. Österreich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1964, 192—222; now reprinted in: Fischer, Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeit­ alter der Industrialisierung. Gottingen 1972, 258—84. 20 The best source for wage comparisons is the table presented in Jahresbericht des statistischen Amtes im k. Polizei-Präsidio zu Berlin für das Jahr 1S53, Berlin 1854, 73 ff. For the machine-tool manufactories, see also Deutsche Arbeiter-Zeitung, 12 Apr. 1848, 10—11; A. Schröter/W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie in der in­ dustriellen Revolution, Berlin 1962, 80 ff., 225 ff. 21 See, for example, E. Dronke, Polizei-Geschichten, Rpt. Berlin 1968, 1, 6—8; Ber­ linische Nachrichten von Staats- u. gelehrten Sachen, 25 Jan. 1845, Beilage; I. Mieck, Das Berliner Fabriken-Gericht (1815—1875), Jahrbuch für die Geschichte Mittel- u. Ostdeutschlands 7. 1958, 263; DZA II, Rep. 109 A, XXIV f., No. 5, Vol. II, fol. 154; No. 6, fol. 71; Rep. 77, 1542, No. 2, fol. 19—20; Rep. 120D, XIV, 1, No. 2, Vol. IV, fol 1—1a, 137. 22 Note J . G. Hoffmann, Die Befugnis zum Gewerbebetriebe, Berlin 1841, 141—43. 23 On Siemens, see Kocka, 78 ff. On others, DZA II, Rep. 120A, VIII, 1, No. 3, Vol. I, fol 204; Rep. 120D, XIV, 1, No. 2, Vol. IV, fol. 1—1a. 24 C omment on fine haberdashers in ibid., Rep. 120A, VIII, 1, No. 3, Vol. II, fol. 90—91. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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25 See the examples in StAP, Rep. 30 C , No. 10425, fol. 11—12, 15—16, 104; DZA II, Rep. 77, 343A, No. 79, fol. 10—11; Rep. 77, 499, No. 25, fol. 57. 26 StAP, Rep. 30C , No. 10418, fol. 40—42, 81—82; Der Publicist, 17 Nov. 1847, 424—25; Hoffmann, 143. 27 See the pessimistic compilations in E. Dronke, Berlin, 2 vols., Frankfurt/M. 1S46, II, 35—37; and F. Sass, Berlin in seiner neuesten Zeit u. Entwicklung, Leipzig 1846, 273—78; and the more optimistic picture presented in F. W. v. Reden, Erwerbs- u. Verkehrs-Statistik des Königstaats Preussen, Vol. I, Darmstadt 1853, 467—89. 28 Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1851 bis incl. 1860, Berlin 1863, 45. 20 Sass, 14—15; StAP, Rep. 30C , No. 10418, fol. 81—82. 30 This orientation is evident in S. Born, Erinnerungen eines Achtundvierzigers, Leip­ zig 18983. On the Artisans' Association, see the material in StAP, Rep. 30C , Nos. 10424 & 10425; DZA II, Rep. 77, 1072, No. 3. 3! Der Publicist, 25 Aug. & 17 Nov. 1847, 302, 424—25. 32 For direct and indirect indications of these two characteristics in this group, see Deutsche Arbeiter-Zeitung, 23 June 1848, 171; Volks-Stimme, 6 April 1848, 6; DZA II, Rep. 120B, V, 1, No. 10, Werner to Interior Ministry, 5 Jan. 1836; Der Publicist, Oct. 1846, 327—31; Wolff, I, 440. 33 O. T. Risch, Die Allgemeine Gewerbe-Ordnung vom 17. Januar 1845 u. deren praktische Ausführung, Berlin 1846, 43—44, 59, 198; Sass, 7, 277; B. v. Arnim, Werke u. Briefe, Vol. III, ed. G. Konrad, Frechen 1963, 229 ff.; Dronke, II, 39—55; G. S. Liedke, Hebung der Noth der arbeitenden Klassen durch Selbsthilfe, Berlin 1845, 66 to 67, 69—70; DZA II, Rep. 77, 1542, No. 2, fol. 20—21. On classifying the poorest masters in the “ working class“ , note Mitteilungen des Statistischen Bureaus in Berlin 2. 1850, 22—23. 34 There is a neat juxtaposition of the two uses of the term in a manufactory statute in DZA II, Rep. 109A, XIV f., No. 6, Vol. I, fol. 14. 35 Zeitblatt für Gewerbetreibende u. Freunde der Gewerbe 5. 1832, 211, 246; StAP, Rep. 30C , No. 10065, fol. 127; M. Quarck, Die erste deutsche Arbeiterbewegung, Leip­ zig 1924, 217. 38 On the following, see “ Entwurf zu einer Fabrikordnung für Berlin“ , 1822, in: DZA II, Rep. 120B, V, 33, No. 4, Vol. I, fol. 159—60; and a letter written in 1847 by the one-time Berlin machine-fitter Di Dio, quoted in Fischer, 199—200. 37 See the wage figures in Jahresbericht 1853, 73 ff.; and the description in Fischer, 199—200. 38 See the plant statutes in Schröter & Becker, 112—16, and DZA II, Rep. 109A, XXIV f., No. 6, Vol. I, fol. 14—16. 39 General figures are in Jahresbericht 1853, 73 ff. (The use of the terms Fabrik­ arbeiter, Arbeitsleute, and Tagelöhner in this table does not always seem to be con­ sistent.) Specific examples and statements are in DZA II, Rep. 109A, XXIV f., No. 6, Vol. I; Deutsche Arbeiter-Zeitung, 12 Apr. 1848, 10—11; Volks-Stimme, 6 Apr. 1848, 4—5. 40 DZA II, Rep. 109A, XXIV f., No. 6, Vol. I, fol. 52. 41 Note esp. ibid., Rep. 120B, V, 33, No. 4, Vol. I, fol. 160. 42 Jahresbericht 1853, 73 ff.; Fischer, 200. 43 See, for example, Jahresbericht 1853, 69, 73; Wolff, II, 150. 44 See the fine example in Der Publicist, 12 & 19 May 1845, 161—63, 168; cp. the rates in Jahresbericht 1853, 73 ff. For some other examples from the 1840's, see Arnim, 240, 244—45; L, Buhl, Andeutungen über die Noth der arbeitenden Klassen u. über die Aufgabe der Vereine zum Wohl derselben, Berlin 1845, 18—19; Wolff, I, 437; Deut­ sche Arbeiter-Zeitung, 15 Apr. & 13 May 1848, 25, 85. 45 StAP, Rep. 30C , No. 14366, fol. 99—103; Wolff, II, 141—42, 148—51.

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46 Fischer, 199—200; Born, 134—35; W. Friedensburg, S. Born u. die Organisations­ bestrebungen der Berliner Arbeiterschaft bis zum Berliner Arbeiterkongress, Leipzig 1923, 78—79, 90; StAP, Rep. 30C , No. 10424, fol. 44; No. 10425, fol. 39—41; Deut­ sche Arbeiter-Zeitung, 15 Apr. 1848, 24; DZA II, Rep. 89H, XIII, No. 1, fol. 34. 47 Todt/Radandt, 142; Deutsche Arbeiter-Zeitung, 13 May, 1848, 84—85; Wolff, II, 113—14, 150, 462—63; DZA II, Rep. 120D, VIII, 2, No. 21, Anlage C to Protocoll of 26 Oct. & Anlage I to Protocoll of 4 Nov. 1848. 48 Deutsche Arbeiter-Zeitung, 8. Apr., 15 Apr., & 13 May 1848, 8, 23—25, 84—85; Volks-Stimme, 6 Apr. 1848, 4; DZA II, Rep. 89H, XIII, Berlin, No. 1, fol. 51. 49 See Wolff, I, 437; II, 161; Der Publicist, 12 Apr. 1848, 232—33. 50 I cannot develop and document this argument here. I hope to publish a larger study on the subject soon. 51 Discriminatory attitudes by masters and entrepreneurs towards elite journeymen were evident, for example, in the cases of the typographers and the men who belonged to the Artisans' Association: StAP, Rep. 30C , Nos. 10424 & 10425; DZA II, Rep. 77, 1072, No. 3; F. W. Gubitz, Erlebnisse, Vol. III, Berlin 1869, 256; Born, 126—27. 52 Note the general statements about the roots of solidarity among workers by municipal aldermen and police officials in: DZA II, Rep. 120BB, I, 1, No. 4, Vol. II, “ Wünsche der Stadtverordneten zu Berlin in Bezug auf eine zeitgemässe Gewerbeord­ nung“ , 1840, p. 14; StAP, Rep. 30C , No. 10425. fol. 133—35. 53 See above, n. 26. On the masters' behavior, StAP, Rep. 30C , No. 2672, fol. 49—51. 54 On the pubs and places of public entertainment, see Berlin wie es ist, Berlin 1831, 316—19, 322—23; the corroborating example in Der Publicist, 11. Mar. 1848, 159; and B. Hesslein/C . Rogan, Berlin's berühmte u. berüchtigte Häuser. Vol. I, Berlin 1849, 258. On the puppet shows, L. Eichler, Berlin u. die Berliner, N. F., Heft V, Ber­ lin 1842. 25—48. On the festivals, Helling, 391—92, 427; Berlin wie es ist, 309—13. 55 Volks-Stimme, 18 Apr. 1848, 27. 56 On the latter attitude, sec esp. K. Obermann, Die Volksbewegung in Berlin in den Jahren 1830—1832, Berliner Heimat, 1956, 15—18; StAP, Rep. 30C , Nos. 487, 10418, 10424; DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vol. II, fol. 1—2, 54—99, 133—34. For practical and statutory activity reflecting both attitudes, see Arnim, 232—33, 241, 247, 254; cases scattered in Der Publicist, 1845—1848; and Berliner Gewerbe-, Industrie- und Handelsblatt, 8 Dec. 1841, 338. 57 A combination of such standards was evident in some statements by members of the Artisan's Association: StAP, Rep. 30C , No. 10425, fol. 36. 58 See ibid., Nos. 482—484 (esp. No. 483, fol. 2—4), 486, 13910/1; DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vol. I. 59 C orporation der Kattundrucker to Minister of the Interior, 6 Oct. 1830, in: DZA II, Rep. 120D, VIII, 2, No. 21. 00 Ibid., Rep. 77, 227a, No. 53, Vol. II, fol. 16—21, 24—25. 6t Material on these events is in DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vols. I & II; StAP, Rep. 30C , No. 10070, fol. 241—42; No. 10418, fol. 62—64; No. 14366, fol. 99—103; Der Publizist, Apr. 1845, 122—23, & 21 Apr. 1847 through 7 July 1847. 62 See StAP, Rep. 30C , No. 10425, fol. 4—5, 34—36, 50—51, & passim. 63 For good examples, see Helling, 392, 427; H. Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung, Berlin 1972, 129; StAP, Rep. 30C , No. 10424, fol. 43—44; DZA II, Rep. 77, 1072, No. 3, fol. 91 — 104; Der Publicist, 18 Mar.—12 Apr. 1848, 175—77, 210—11, 227—28, 234—35. 64 Wolff, I, 43S. Estimates of the size of the crowd ranged from 6 000 to 20 000: ibid., 435. 65 Ibid., 436—37, 439—40. On Brill's fine clothing, manner, and past “ studies“ , see A. Ruge, Briefwechsel u. Tafebuchblätter, ed. P. Nerrlich, II, Berlin 1886, 37—39. 66 This commonly occurred in the lists of demands that journeymen presented to

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masters and entrepreneurs. Many were printed in the Deutsche Arbeiter-Zeitung and Volks-Stimme during April and May 1848. 87 For examples, see Wolff and the collection of materials in Plakate und Flug­ schriften zur Revolution 1848/49, 12 vols., in the Ratsbibliothek, East Berlin. 88 For a summary description, see Wolff, II, 113—15, 153—57, 230—31, 323—24, 455. 60 See Volks-Stimme, 6 Apr. 1848, 4; Todt & Radandt, 136—37, 160; Wolff, II, 113—14; StAP, Rep. 30C , No. 13726, fol. 318; DZA II, Rep. 120B, V, 33, No. 4, Vol. II, fol. 182; Rep. 120D, VIII, 2, No. 21, Anlagen C & I. 70 On the following, see Wolff, I, 486; II, 134—37, 145—48, 230, 310—11, 351, 461—62; III, 35—37. Also Friedensburg, passim. 71 Wolff, II, 90, 140—41. 72 Deutsche Arbeiter-Zeitung, 6 May 1848, 67—69. 73 On the former, see the letter of 12 May 1848 from Born to Marx, reprinted in: Die Neue Zeit 20. 1901—1902, 739—40. On the latter, see the accounts of the squelch­ ing of an attempted workers' demonstration in: Wolff, II, 213—36; Born, Erinnerun­ gen, 144; Schilfert, 78—82. 74 Wolff, I, 253 ff.; II, 113—15; Der Publicist, 8 Apr., 19 Apr., & 4 May 1848, 222, 252—55, 273—74; DZA II, Rep. 120B, V, 33, No. 4, Vol. III, fol. 152—53. 75 Note the charges by Julius and Virchow, quoted in K. Obermann, Die deutschen Arbeiter in der Revolution von 1848, Berlin 19532, 143—45. 76 On the C ivil Guard, see C . Nobiling, Die Berliner Bürgerwehr in den Tagen vom 19ten März bis 7ten April 1848, Berlin 1852; O. Rimpler, Die Berliner Bürgerwehr im Jahre 1848, Brandenburg 1883. On the workers' anger about their exclusion, note H. E. Kochhann, Tagebücher, IV, [Berlin] 1907, 6, 9. On the measures of March 26, Nobiling, 55—57. 77 See the observations and nervous appeals in Nobiling, passim; Wolff, I, 102—103, 110—24; R. Springer, Berlin's Strassen, Kneipen u. C lubs im Jahre 1848, Berlin 1850, 54—63; Plakate und Flugschriften, passim. 78 Detailed material on these major events and numerous minor ones can be found in Wolff, II & III; A. Streckfuss, 50 Jahre Berliner Geschichte, Berlin 18864, II, 1078—79, 1094—1102, 1120, 1138—39, 1144—45; Der Publicist, June-Oct. 1848; DZA II, Rep. 77, 501, No. 3, Vol. III; StAP, Rep. 30C , Nos. 13726, 13726/1, 13912.

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12. Preußischer Staat und Modernisierung im Vormärz: Marxistisch-leninistische Interpretationen und ihre Probleme Von JÜRGEN KOC KA

Reinhart Koselleck hat in seiner 1966 erschienenen Schrift über „Preußen zwischen Reform und Revolution“ das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Weise bestimmt, die den folgenden Überlegungen als Ausgangspunkt dienen kann*. Unter ausführlichem Verweis auf die preußischen Agrar-, Zoll- und Gewerbereformen, auf Verwal­ tungsausbau und Städteordnung, auf die Rechts-, Industrialisierungs- und Bildungspolitik identifiziert er den preußischen Verwaltungsstaat als die wich­ tigste vorwärtstreibende Kraft beim Übergang von der alten primär ständi­ schen, wenn auch schon absolutistisch ausgehöhlten Gesellschaft des „Ancien Régime“ hin zur — allerdings noch ständisch durchsetzten — bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Bürokratie, die der absoluten Herrschaft des Monarchen spätestens in der Reformzeit ein Ende bereitet hatte, um ihre eigene, von gesellschaftlichen Gruppenintercssen weitgehend abgelöste Herr­ schaft an dessen Stelle zu setzen, gilt ihm als Auslöser und Motor eines funda­ mentalen ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozesses. Zu dessen Er­ gebnissen zählten die Kapitalisierung der Landwirtschaft und die damit ver­ bundene Umwandlung des bis dahin weitgehend geburtsständisch definierten Rittergutsbesitzerstandes in eine gutsherrschaftlich abgesicherte, ökonomisch gestärkte, landwirtschaftliche Unternehmerklasse ebenso wie die Industriali­ sierung, das mit ihr wachsende, ökonomisch kraftvoller und ideologisch selbst­ bewußter werdende Bürgertum und die schnelle Expansion wie auch die wach­ sende Not ständisch nicht mehr eingebundener ländlicher und städtischer Unter­ schichten. Eben diese Produkte der erfolgreichen beamteninitiierten Reform von oben waren jedoch nach Koselleck geeignet, die Handlungsfreiheit der Bürokratie allmählich zu beschneiden, sich aus ihrer Kontrolle verselbständi­ gend zu befreien und sich in Kritik und Protest gegen sie zu wenden. Angesichts des wachsenden Einflusses des gestärkten Junkertums, angesichts der immer vehementeren bürgerlichen, liberalen und demokratischen Opposition und ange­ sichts der obrigkeitsstaatlich nicht mehr lösbaren, in den 40er Jahren intensiv diskutierten „sozialen Frage“ büßte die Bürokratie ihre Dynamik, Fortschritt­ lichkeit und Legitimität ein, woraus die Revolution eine unvollkommene Kon­ sequenz zog. „Der Verwaltungsstaat erlag gleichsam seiner eigenen Schöpfung.“ 1 14*

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Weniger mit seinem deutlichen Hinweis auf die einerseits vorgegebenen, andererseits selbst-induzierten, seit 1820 immer deutlicher zum Vorschein kom­ menden Grenzen dieses bürokratischen Modernisierungsprozesses, wohl aber mit seiner Interpretation des preußischen Beamtenstaates als einer wirkungs­ vollen, vorwärtstreibenden, fortschrittlichen Kraft, zumindest bis in die 1830er Jahre, dürfte Koselleck grundsätzlich mit den Haupttraditionen der deutschen Geschichtsschreibung und der Mehrzahl westdeutscher Historiker übereinstim­ men. Viele Autoren wie H. v. Treitschke, F. Schnabel, W. C onze, F. Lütge, W. Treue und W. Fischer haben — im übrigen auf sehr verschiedene Weise — versucht, die preußische Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte in dem Span­ nungsverhältnis von Staat und Gesellschaft zu begreifen; sie haben in ver­ schiedener Weise und in verschiedenem Ausmaße dazu tendiert, bei aller Aner­ kennung der vielfältigen historischen Interdependenzen und Wechselwirkun­ gen, die entscheidenden Triebkräfte, die dominante Motorik dieses vielschich­ tigen, gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses im staatlichen Bereich zu verorten oder doch wenigstens die Rolle des Staates für die anlaufende Indu­ strialisierung und sozialökonomische Modernisierung als eine primär förderliche zu beschreiben2. Es mag hinzugefügt werden, daß eine solche Interpretations­ richtung wenigstens in groben Zügen dem Selbstverständnis der damals han­ delnden Beamten und der Sichtweise der meistbenutzten, aus Verwaltungs­ vorgängen und Rechtsgeschäften stammenden Quellen entspricht. In diametralem Gegensatz zu dieser vorherrschenden Interpretationsrichtung stehen jedoch jene Untersuchungen, die von ostdeutschen, marxistisch-leninisti­ schen Historikern auf der Grundlage des Historischen Materialismus vorgelegt werden. Für diese konstituiert sich Geschichte in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, in bewußter und gesellschaftlicher Arbeit. Grundlage des geschichtlichen Prozesses ist damit die sich historisch verändernde „materiel­ le Produktion“ , die durch ein wechselndes Spannungsverhältnis von Produktiv­ kräften und Produktionsverhältnissen gekennzeichnet ist. Diese prägt die histo­ risch wechselnde Form der gesellschaftlichen, durch ihre Stellung in der Produk­ tionssphäre definierten Klassen, deren in Revolutionen gipfelnde Auseinander­ setzungen eine wichtige Triebkraft und den Hauptinhalt des historischen Pro­ zesses darstellen. Massenbewegungen, die antifeudalen, später antibourgeoisen „Volksmassen“ , werden von daher in immer wieder betonter Unterscheidung von der „bürgerlichen“ Geschichtsschreibung als Haupttriebkräfte von Ver­ änderung und Fortschritt begriffen3. Der Staat — ein eher abhängiges als bestimmendes Überbauphänomen — ist für dieses Denken häufig nicht mehr als das „politische Machtinstrument der ökonomisch herrschenden Klasse“ 4 bzw. „der konzentrierte Ausdruck der Ökonomie, ihre Verallgemeinerung und Vollendung“ 5. Zwar wird gerade in den letzten Jahren in ostdeutschen Veröf­ fentlichungen die „relative Selbständigkeit“ der staatlichen Sphäre häufig be­ tont, die durchaus in historisch variierender, nur durch konkrete Einzelfor­ schung erkennbarer Weise auf ihre sozialökonomische Basis gestaltend zurück­ wirke8. Doch trotz dieser Flexibilität in der Interpretation des Basis-Überbau© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schemas mit Hilfe des Grundbegriffs der „sozialökonomischen Gesellschaftsfor­ mation“ wird dennoch, soweit ich sehe, durchweg an einer letztinstanzlichen Dominanz und Maßgeblichkeit der sozialökonomischen Faktoren im gesamt­ geschichtlichen Entwicklungsprozeß festgehalten. Wie stellt sich für Historiker, die von einem solchen theoretischen Vorver­ ständnis in ziemlich verbindlicher und homogener Weise ausgehen, die Rolle des Staates, der Bürokratie, in der preußischen Geschichte von 1815 bis Anfang 1848 dar? Verhilft ihnen ihr theoretischer Ausgangspunkt zu Einsichten, die die anfangs gekennzeichnete Interpretationsrichtung ergänzen oder korrigieren kön­ Vormärzgeschichte? Oder führt die Konfrontation mit diesem historischen Ma­ nen? Versperrt ihnen ihre Theorie den Zugang zu wichtigen Aspekten der terial zu einer Modifikation des skizzierten theoretischen Ausgangspunktes? Der Vormärz gilt in der DDR-Geschichtsschreibung als ein Abschnitt im Übergang von der feudalistischen zur kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschafts­ formation, als Teil eines Übergangs also, der in Deutschland mit seiner nationa­ len Zersplitterung und seinem schwachen Bürgertum im Unterschied zu West­ europa nur äußerst langsam vonstatten gegangen sei und dessen „volle Durch­ setzung“ in der Epoche von 1789 bis 1871 stattgefunden habe7. Als „Haupt­ inhalte“ der Periode 1789 bis 1848 gelten damit: die Ersetzung der primär agrarischen, vor-marktwirtschaftlichen, durch außerökonomische Abhängigkei­ ten und durch nur langsam voranschreitende Technik gekennzeichneten Pro­ duktionsformen durch zunehmend marktwirtschaftliche, auf Tausch und formal freier Arbeit beruhende, zunehmend industrialisierte Produktionsverhältnisse auf der Basis sich schnell entwickelnder Produktionsmittel; die Verdrängung des bis dahin Ökonomisch tonangebenden, sozial und politisch herrschenden grundbesitzenden Adels durch die ökonomisch kraftvoller werdende, schließlich auch zur politischen Herrschaft strebende Bourgeoisie; die Umwandlung feudal­ absolutistischer Herrschaftsformen in bürgerlich-konstitutionelle. Mit Hilfe dieser Konzeption, die systematisch ein Teil der historisch-materialistischen Geschichtsteleologie, historisch aber ein Produkt des vorrevolutionären Jahr­ zehnts der 1840er Jahre ist, wird einigermaßen klar umschrieben, was „Fort­ schritt“ , was „Modernisierung“ in jenen Jahrzehnten bedeutete, und in dieser Bedeutung wird der Begriff „Modernisierung“ auch im folgenden Beitrag be­ nutzt. Als „Hauptaufgabe“ des Bürgertums wird die Förderung dieses letztlich nur revolutionär zu bewerkstelligenden Modernisierungsprozesses verstanden8. Die Rolle des politischen Herrschaftssystems, des Staates, in dieser Transfor­ mation wird, dem historisch-materialistischen Grundansatz gemäß, grundsätz­ lich als fortschrittshindernd bestimmt. Marxistisch-leninistische Historiker pfle­ gen vom „feudal-absolutistischen Staat“ zu sprechen und geben schon dadurch zu erkennen, daß sie keinen qualitativen Unterschied zwischen dem mon­ archischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts und dem bürokratischen Absolu­ tismus des Vormärz sehen. Abgesehen von einigen Modifikationen, auf die ich zu sprechen kommen werde, begreifen sie den Staat des Vormärz als Herr­ schaftsinstrument der zum Junkertum verwandelten Feudalklasse in ihrem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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reaktionären Abwehrkampf gegen das aufstrebende und von der politischen Macht ausgeschlossene Bürgertum9. In dieser, der anfangs skizzierten Position von Koselleck und anderen scharf widersprechenden Sichtweise geschah die ökonomische und soziale Modernisierung Preußens, insbesondere die Industriel­ le Revolution, bis 1848 nicht mit Hilfe sondern trotz des fortschrittsfeindlichen staatlichen Überbaus. Zur Stützung und Konkretisierung dieser zunächst aus ihrem theoretischen Vorverständnis gewonnenen Staatsinterpretation verweisen marxistisch-lenini­ stische Historiker in einer für sie typischen funktionalen Interpretationsweise auf die anti-bürgerlichen und adelsfreundlichen Wirkungen politischer Struk­ turen, Prozesse und Ereignisse, so auf die ganz unbestreitbare Stagnation der Verfassungsentwicklung nach 1820, auf die bekannte preußische Unter­ drückungspolitik gegenüber Vertretern liberaler und demokratischer Strömun­ gen und auf die nationale Zersplitterung Deutschlands, die sie ebenfalls primär von ihren innenpolitischen, sozialen Wirkungen her begreifen. Sie verweisen auf die auch von vielen Nicht-Marxisten beschriebenen großgrundbesitzfreund­ lichen Veränderungen und Auswirkungen der Agrarreformen nach 1820. Zu­ sätzlich erkennen sie ökonomisch hemmende Konsequenzen preußischer Agrar­ politik in der — allerdings bisher nur für einige vor allem südwestdeutsche Territorien durch westdeutsche Untersuchungen belegten — Tendenz der Groß­ grundbesitzer, die ihnen zufallenden Ablösegelder weder primär zur Moderni­ sierung der landwirtschaftlichen Produktion noch zur Investition im industriel­ len Bereich zu benutzen10. Darüber hinaus lenkte die These vom antibürger­ lichen, feudalen C harakter des preußischen Staates die Aufmerksamkeit der ostdeutschen Historiker auf gewisse von der „bürgerlichen“ Geschichtswissen­ schaft bis dahin — und teilweise bis heute — unterbewertete industrialisierungshemmende Folgen staatlicher Politik. Insbesondere begannen sie die preu­ ßische Geld- und Kreditpolitik zu erforschen, die z. Β. mit der Börsenverord­ nung vom Mai 1844, mit dem Verbot privater Zettelbanken auf Aktienbasis und mit der Begrenzung der Kredite der Königlichen Bank, vor allem bis 1846, die industrielle Kapitalbildung erschwerte und in den 40er Jahren Pro­ teste rheinischer Industrieller und Kaufleute hervorrief, zumal gleichzeitig die landwirtschaftliche Kreditaufnahme erleichtert wurde11. Zu Recht betonten Historiker aus der DDR die staatliche Erschwerung von Aktiengesellschafts­ gründungen überhaupt12 und die relativ zu den Erwartungen der Unternehmer — und man könnte ergänzen: relativ zur Praxis anderer deutschen Staaten — geringe staatliche Unterstützung des Eisenbahnbaus13. In diesen Hinsichten finden sie Bestätigung durch neuere Forschungen besonders amerikanischer Autoren, die, wahrscheinlich beeinflußt durch angelsächsische Modernisierungs­ modelle, das zu revidieren versuchen, was sie als „preußische Legende“ von der Industrialisierungsfreundlichkeit des preußischen Staates bezeichnen und, wie Richard Tilly, zu dem Schluß kommen, daß die preußische Industrialisie­ rung das Resultat tausender profitorientierter Unternehmerentscheidungen an­ gesichts einer letztlich industrialisierungsfeindlichen, von feudalen Interessen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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beeinflußten Bürokratie war14. Die von Historikern aus der DDR ebenfalls vorgebrachte These, daß die preußische Steuerpolitik letztlich industrialisie­ rungsfeindlich und junkerfreundlich gewesen sei, bedarf noch der bestätigenden oder entkräftenden Untersuchung15. In den genannten Fällen führt die Orientierung am Historischen Materialis­ mus zu Fragen und Ergebnissen, die geeignet sind, das Bild vom klassenunab­ hängigen, das Allgemeinwohl zukunftsgerichtet verwirklichenden Beamtenstaat, wie es einem in der traditionellen Gewerbeförderungsliteratur häufig entgegen­ tritt, in der richtigen Richtung zu korrigieren; neue Einzelerkenntnisse werden im Rahmen dieses Ansatzes aus den Quellen erarbeitet; schon bekannte Phäno­ mene erscheinen in neuem Licht und mit stärkerem Akzent. So wird z. Β. die aus der Staatsschuldenverordnung von 1820 stammende Verpflichtung des preußischen Staates, weitere Kredite nur „mit Zustimmung und unter Mit­ garantie der künftigen reichsständischen Versammlung“ aufzunehmen und die daraus folgende restriktive Haltung der vor der Berufung der Stände auf Staatsebene zurückschreckenden Regierung in Fragen der Geld-, Kredit- und Eisenbahnpolitik von marxistischen Forschern nicht nur wie etwa von Hender­ son einfach genannt, sondern überzeugend als Ausdruck der vorbürgerlichen, Adel und Großgrundbesitz bevorzugenden, insofern feudalen Machtstruktur des preußischen Staates interpretiert16. Andererseits verführt dieser theoretische Bezugsrahmen dazu, hemmende Wirkungen staatlicher Politik — die zudem noch gern überbetont werden — ausschließlich als Ausfluß der feudalen Klassenabhängigkeit des vormärzlichen Staates zu deuten. So wichtig und bisher unterbelichtet dieser Faktor sein mag, so unerläßlich bleibt die Frage, ob — an einem Beispiel — die staatliche Gän­ gelung von Aktiengesellschafts-Gründungen nicht mindestens ebenso stark einem Kontrollinteresse der herrschafrgewohnten Bürokratie als solcher, also nicht ausschließlich, oder nicht einmal pirmär, einer adelsfreundlichen Interessen­ gebundenheit der Beamten, entsprang17. Eine solche, m. E. zu bejahende Frage läßt sich aber überhaupt nur stellen, wenn man von der Möglichkeit eines spezifisch bürokratischen Standes-, Klassen- oder Gruppeninteresses der Büro­ kratie ausgeht, welches nicht völlig in einem adligen oder bürgerlichen Klassen­ interesse aufgeht18. Gerade diese Fragestellung ist aber in einem theoretischen System sehr schwer möglich, welches auch einen bürokratischen Staatsapparat lediglich — oder doch ganz überwiegend — als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse begreift, also die Eigenständigkeit von Bürokratie a priori verneint. Schließlich ist ja auch denkbar und wahrscheinlich, daß mangelnder Überblick und falsche Einschätzung von neuen Situationen manche Entschei­ dungen der Beamten beeinflußten. Konservative Politik gegenüber den ersten Eisenbahnen folgte sicher z. T. aus gegengerichteten Interessenlagen, z. Τ. aber auch aus der schieren Fehlbeurteilung einer neuartigen, unsicheren Situation und ihrer Möglichkeiten10. Wie solche und auch andere Begründungsfaktoren zusammenspielten, um der Wirkung nach modernisierungsfeindliche Entschei­ dungen zustande zu bringen, das könnte nur durch konkrete Willensbildungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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prozeß- und Motivationsanalysen erforscht werden, und gerade daran fehlt es leider häufig in den marxistisch-leninistisch orientierten Untersuchungen20. Gerade marxistische Autoren begnügen sich allzuhäufig mit der Feststellung von Wirkungen und von Funktionen sowie mit deren Erklärung aus einer wahr­ scheinlich gemachten, strukturell bedingten Interessenlage, sie verzichten aber zu oft auf die Erforschung jener Haltungen, Motive und Kompromisse, die ja Interessenstrukturen einerseits und Handlungsergebnisse andererseits immer vermitteln, und zwar in einer generell nicht deduzierbaren Weise21. Soweit die Behandlung einiger jener Aspekte preußischer Politik im Vor­ märz, die den Erwartungen des marxistisch-leninistischen Ansatzes entsprechen. Doch wie läßt sich die These vom modernisierungsfeindlichen absolutistischen Feudalstaat mit jenen Akten staatlicher Wirtschaft- und Sozialpolitik verein­ baren, die unbestreitbar als Förderung der industriellen Entwicklung gemeint waren und, soweit man dies bisher beurteilen kann, sich auch zugunsten von Industrialisierung und sozialer Modernisierung ausgewirkt haben? Zu denken ist an die nur gegen adligen Widerstand durchgesetzten Agrarreformen seit 1807, die auch im Verständnis der DDR-Historiker als Teile der vorwärts­ treibenden „Revolution von oben“ verstanden werden und deren fortschrittliche Funktion für die Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft nicht geleugnet wird; zu denken ist weiter an die liberale Gewerbereform, die gegen vorwiegenden zünftigen Protest der Stadtbürger und sicherlich nicht auf Betreiben der Junker dekretiert wurde und auch nach Auffassung von Marxi­ sten-Leninisten in der Beseitigung feudaler Schranken einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der Industrialisierung unter privatwirtschaftlichem Vorzei­ chen leistete; zu denken ist auch an die liberale Städteordnung von 1808, an den Abbau der inneren Zölle 1818 und an den Zollverein von 1834, an die vielfältige Gewerbeförderungspolitik C hristian Peter Wilhelm Beuths, an den staatlichen Ausbau eines allgemeinen und gewerblich-technischen Bildungswe­ sens, an die staatlichen Leistungen beim Aufbau des Straßennetzes wie schließ­ lich an die ja keinesfalls selbstverständlichen, bis hin zu Zinsgarantien reichen­ den staatlichen Hilfestellungen beim Bau der Eisenbahnen22. Die marxistisch­ leninistischen Historiker bedienen sich mehrerer höchst interessanter Techniken und Argumentationen, um ihre theoretische Ausgangsthese, nach der der Staat eigentlich solche Funktionen gar nicht wahrnehmen kann, mit der genannten Evidenz zu versöhnen. Manchmal werden schwer vereinbare Daten, so der staatlich initiierte Aus­ bau des preußischen technischen Fachschulwesens, einfach ausgelassen oder nur beiläufig erwähnt23. Häufig werden entsprechende Informationen zwar genau und detailliert erarbeitet und dargestellt, doch nicht mit dem theoretischen Bezugsrahmen vermittelt24. Ab und zu weicht man auf Verlegenheitsformu­ lierungen aus, wie: „Für die Junker stellte die Aufhebung der Leibeigenschaft einen Kompromiß mit den historischen Notwendigkeiten dar“ 25, oder aber (zum selben Thema) „die herrschenden Klassen erkannten, daß das Rad der Geschichte — in Ökonomischer Hinsicht jedenfalls — nicht zurückzudrehen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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war“ 26. Das sind nichtssagende, natürlich nicht nur bei Marxisten-Leninisten vorkommende Formulierungen, die — entgegen den marxistischen Grundprin­ zipien — einen historischen Automatismus zu unterstellen und eine konkrete Interessenanalyse überflüssig machen zu wollen scheinen. Häufig werden modernisierungsfreundliche, nicht als Interessen des groß­ grundbesitzenden Adels ausgebbare staatliche Entscheidungen als unvereinbare „Zugeständnisse“ oder als „Konzessionen“ der Herrschenden an die von der politischen Herrschaft ausgeschlossenen, aber nachdrängenden Klassen gewertet, so etwa die preußische Zollpolitik als Zugeständnis an die Bourgeoisie27 und die Bauernbefreiung als antizipierendes Zugeständnis an die andernfalls ihren Widerstand verstärkenden, unruhigen Bauern28. Diese Erklärung mit Hilfe des Begriffs „Konzession“ , die übrigens im Einzelfall, insbesondere etwa bei der Gewährung von Verfassungsversprechen oder auch bei der Umgründung der Königlich-Preußischen Bank 1846 durchaus zutreffen dürfte, glauben marxi­ stisch-leninistische Darstellungen umso eher anbieten zu können, als sie dahin tendieren, bürgerliche und unterbürgerliche Protestbewegungen, antifeudale Unruhen und Unzufriedenheit in Stadt und Land besonders ausführlich zu behandeln und dabei tatsächlich oft neue Materialien und Erkenntnisse vor­ legen29. Doch läßt sich nicht übersehen, daß jene sozialökonomischen Verände­ rungen, Gruppen und Klassen, die der Theorie nach die weitertreibenden Kräfte bei der Durchsetzung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsforma­ tion sein müßten, nicht nur überproportionale Aufmerksamkeit sondern teil­ weise übertreibende, unzureichend belegte, unkritische Einschätzungen erhal­ ten30. Wenn westdeutschen Darstellungen häufig vorzuwerfen ist, daß sie z. B. die Gewährung frühkonstitutioneller Verfassungen als Leistungen der Staatsregierungen aus integrationspolitischen Gründen darstellen, ohne genü­ gend zu fragen, wie weit sie Reaktionen auf Forderungen von gesellschaftlichen Gruppen waren31, daß sie also insofern unkritisch den bürokratisch-typischen Blickwinkel „von oben“ zum methodischen Gesichtspunkt ihrer Sichtweise er­ heben, so ist ostdeutschen Darstellungen anzukreiden, daß sie Ergebnisse staat­ lich-bürokratischer Politik leichthin als „Konzessionen“ an Druck ausübende gesellschaftliche Gruppen ausgeben, ohne in vielen Fällen den konkreten Zu­ sammenhang zwischen diesem gesellschaftlichen Druck und der staatlichen Willensbildung erweisen zu können. Die leider meist weggelassene Analyse des Willensbildungsprozesses würde gerade bei den Stein-Hardenbergschen Reformen oder bei der Zollvereinsvorbereitung trotz Bauernunruhen und trotz Friedrich List zeigen, wie sehr Reforminitiativen „von oben“ , aus der Büro­ kratie, kamen. Vor allem aber würde ein genaueres Eingehen auf die konkreten Meinungsströmungen in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch die mar­ xistisch-leninistischen Historiker zur stärkeren Auseinandersetzung mit dem Phänomen führen, daß sich gerade in klein- und mittelbürgerlichen Gruppen des Vormärz fortschrittliche politische Forderungen häufig mit rückwärts ge­ wandten wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen verknüpften, daß der Ruf nach Freiheit und Demokratie sich bei den kleinen Gewerbetreibenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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gern mit dem Ruf nach Sicherung oder Wiederherstellung vorkapitalistischer, zünftig-ständischer Wirtschafts- und Gesellschaftsprinzipien verband, daß also Traditionen in den „Volksmassen“ stark und lebendig waren, die auch im Kategoriensystem einer historisch-materialistischen Vormärz-Interpretation als rückschrittlich gelten müssen32. Dieser theoretisch im Historischen Materialis­ mus erst noch zu verarbeitende Zusammenhang, so scheint es, wird in ost­ deutschen Darstellungen verdrängt oder vernachlässigt33. Weiter als dieses „Zugeständnis“ -Argument reichen drei andere Erklärungs­ strategien, von denen mindestens die dritte wenigstens implizit das orthodoxe Basis-Überbau-Schema zu sprengen geeignet ist. Verschiedene Autoren versu­ chen die These vom Staat als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse bei gleichzeitiger Anerkennung des pro-bürgerlichen, zukunftsgerichteten C ha­ rakters einiger staatlicher Entscheidungen dadurch aufrechtzuerhalten, daß sie auf die allmähliche Verschmelzung eines Teiles des Großbürgertums mit dem adligen Großgrundbesitz im Typ des Junkers, d. h. auf die allmähliche und vor allem für die vorwiegend gutsherrschaftlichen Gebiete Preußens gar nicht zu bestreitende Umwandlung des großgrundbesitzenden Geburtsadels in eine staatlich privilegierte, kapitalistisch wirtschaftende Landunternehmerklasse mit insofern kapitalistisch-bürgerlichen Interessen verweisen. Die den Staat tra­ gende, durch großbourgeoise Elemente angereicherte Junkerklasse wird somit als „halbfeudale“ Klasse interpretiert, woraus sich erklären soll, daß der staat­ liche Apparat auch einige probürgerliche Entscheidungen — etwa die Herstel­ lung eines großen Binnenmarktes — treffen konnte, ohne mit seiner Basis in Widerspruch zu geraten34. Diese Autoren berufen sich dabei auf Lenins These vom sog. „preußischen Weg“ der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, die, anders als Marx und Engels in den 40er Jahren mit ihrer verbreiteten Revolutionserwartung, die Möglichkeit des unrevolutionären, un­ ter Leitung der sich anpassenden alten Gewalten schrittweise sich vollziehenden Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus im Agrarbereich behauptete35. Diese These hatte für Lenin u. a. die Funktion, die Existenz potentiell revolu­ tionärer Landproletarier in Rußland zu begründen, ohne daß dort eine bürger­ liche Revolution stattgefunden hatte. Sie verweist zumindest in ihrer heute durch ostdeutsche Historiker vertretenen Form auf wirkliche Veränderungen in Lage und Status preußischer Rittergutsbesitzer seit dem späten 18. Jahrhun­ dert, die — allerdings in sehr viel differenzierterer Weise — auch in den Untersuchungen von Hans Rosenberg aufgedeckt worden sind36. Auf den gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Bereich ausgedehnt, dient diese Formulierung zur Umschreibung des schrittweisen Übergangs zur kapitalistisch­ bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschafstordnung unter prinzipieller Beibe­ haltung der adligen bzw. junkerlichen Kontrolle im politischen, z. Τ. auch im sozialen Bereich, wie sie die G eschichte Preußens im Vormärz im Unterschied etwa zum nachrevolutionären Frankreich kennzeichnete37. Hier geht es nicht um eine generelle Beurteilung dieser These, die sicherlich etwas von dem spezifisch deutschen, unrevolutionären, feudal, ständisch und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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bürokratisch geprägten und gerade deshalb zu besonderen Härten und Ver­ werfungen führenden Modernisierungsmuster auf den Begriff bringt. Im hier diskutierten Zusammenhang stellt sich lediglich dieses Problem: Kann der Hinweis auf die partielle Kapitalisierung des Großgrundbesitzes und die halbe Transformation der Großgrundbesitzer in ländliche kapitalistische Unterneh­ mer tatsächlich begründen, daß ein von dieser symbiotischen, „unreinen“ Klasse beherrschter Staat eine Gewerbeförderungspolitik betreibt? Welches Interesse sollten die Junker, wenn man von marxistischen Voraussetzungen ausgeht, an der Industrialisierung Preußens gehabt haben? Kann man die viel­ fältigen, wenn auch abnehmenden, auf Modernisierung drängenden Strömun­ gen innerhalb der preußischen Bürokratie wirklich mit dem Hinweis erklä­ ren, diese Bürokratie sei eben das Herrschaftsinstrument einer nur noch halb­ feudalen, halb schon kapitalistischen Klasse im Übergang38? Eine zweite Grundstrategie, die (begrenzte) Reform- und Industrialisierungs­ förderungspolitik des preußischen Staates mit seinem behaupteten C harakter als adlig-junkerlich bestimmtem Überbaufaktor zu vereinbaren, bedient sich einiger vor allem bei Friedrich Engels zu findender Bemerkungen über die Klassenstruk­ tur der absoluten Monarchie, in der, diesen Andeutungen zufolge, die beiden Klassen Adel und Bürgertum kurzfristig ungefähr gleich stark waren und damit die Zentralgewalt, d. h. Monarchie und Bürokratie, dieses Gleichgewicht benut­ zend und stabilisierend, vorübergehend eine gewisse Eigenständigkeit erlangten. „Die Selbständigkeit dieser (Offiziers- und Beamten-)Kaste, die außerhalb und sozusagen über der Gesellschaft zu stehen scheint, gibt dem Staat den Schein der Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft.“ 39 Diese Denkfigur findet sich nun bei marxistisch-leninistischen Historikern sowohl in der Analyse des Absolutis­ mus im 18. Jahrhundert wie auch bei der Kennzeichnung des vormärzlichen Staates40. Dies bleibt schillernd, ohne methodische Konsequenzen und wird meist im nächstfolgenden Satz durch eine der vorher angedeuteten Erklärungs­ varianten zur Hälfte wieder zurückgenommen41. Selbst wenn diese Argumen­ tation eindeutiger vertreten würde und wenn sie zugleich Kriterien anbieten könnte, nach denen zu entscheiden wäre, wann zwei Klassen im Gleichgewicht waren oder sind — und erst dann würde sie zu einer überprüfbaren Hypo­ these —, selbst dann muß es als fraglich erscheinen, ob sie ausreichen würde, die Bürokratie als das zu erfassen, was sie, wenn auch nach 1820 in abnehmen­ dem Maße, war: eine trotz aller Rückbindung an bestimmte Interessengruppen und Klassen der sie umgebenden Gesellschaft, in diesen nicht aufgehende Herrschaftsgruppe, aus der wichtige Anstöße und Initiativen hervorgingen, also eine Gruppe mit spezifischen Eigentümlichkeiten, Interessen, Kohäsion und Macht, ein gewichtiger Faktor im sozialen und politischen Kräfteverhält­ nis, dessen relative Eigenständigkeit wenigstens in Deutschland weniger eine vorübergehende Ausnahmeerscheinung war, als es die Engelssche Gleichgewichts­ these zu behaupten scheint. Schließlich bleibt auf einige heterogene Bemerkungen ostdeutscher Autoren hinzuweisen, die bürokratische Initiativen in einer Weise erklären, die wohl © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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über das marxistisch-leninistische Grundschema hinausweist. Mehrfach wird auf die internationale Konfliktsituation angespielt, aus der heraus die Staats­ führung besonders 1807—1813, aber auch noch in den 40er Jahren, Anstöße zur Reformpolitik oder zum Eisenbahnbau aus militärischen Erwägungen emp­ fangen habe42. An anderen Stellen wird das Fortwirken merkantilistischer Gewerbeförderungspolitik „im Interesse der Stärkung der finanziellen und militärischen Macht“ des Staates konzediert43. Schließlich gibt Dietrich Eich­ holtz sogar die Existenz einer „vom Überbau“ ausgehenden, den Eisenbahnbau fördernden „Tendenz“ zu, die „auf den politischen Interessen eines bestimmten Verwaltungsbereichs (Regierungsbezirke, Provinz) oder insgesamt des absolu­ tistischen preußischen Staates“ zurückgeht44. In solchen vereinzelten, zutref­ fenden, aber unsicheren Bemerkungen scheint die intensive Beschäftigung mit dem Quellenmaterial einzelne Historiker zur impliziten Anerkennung eines nicht in Klasseninteressen hundertprozentig aufgehenden staatlich-bürokrati­ schen Willenszentrums zu führen, das zu gewissen Anstößen und Initiativen fähig war — aus Gründen der Selbsterhaltung, der äußeren Machtentfaltung und der inneren Integration, vielleicht sogar aus Gründen bürokratischer Herr­ schaftssicherung45. Dies explizit und systematisch in Kategorien des Historischen Materialismus auszuführen, scheint trotz einiger dabei aufgreifbarer Bemer­ kungen von Marx und Engels46 schwierig, wenn nicht unmöglich. Hier liegt eine der prinzipiellen Schwächen des historisch-materialistischen Ansatzes, nicht nur bei der Analyse des Vormärz, sondern auch bei der Unter­ suchung des Absolutismus vor 1800 und des Staates im Organisierten Kapita­ lismus des 20. Jahrhunderts47. Von dieser sozialökonomischen Staatsauffassung her gelingt es zwar, den klassisch von Hegel formulierten Anspruch der Bürokratie, als „allgemeiner Stand“ unabhängig von partikularen Gruppen­ und Klasseninteressen das allgemeine Wohl zu verwirklichen, kritisch zu hin­ terfragen und als ideologisch zu enthüllen. Hier liegt die große Bedeutung dieses Ansatzes für die nicht-marxistische Vormärzgeschichtsschreibung, die häufig dazu tendiert, diese bürokratische Ideologie durch Blickwinkel, Methode und Ergebnisse unkritisch zu reproduzieren48. Andererseits scheint es inner­ halb des gegenwärtigen marxistisch-leninistischen Geschichtsbegriffs kaum mög­ lich, den entgegengesetzten Fehler zu vermeiden und unter Bürokratie viel mehr als den Ausschuß der herrschenden Klasse bzw. eines ihrer Teile zu verstehen. Daraus folgen nicht nur die geschilderten Ausweichversuche, sondern auch empfindliche Schwächen der praktischen Vormärz-Forschung in der DDR. Hielt sie es bisher doch nicht für nötig oder möglich, die Bürokratie als solche zu thematisieren, sie auf soziale Struktur, Organisation, Leistungen, konkrete Abhängigkeiten, Haltungen, Kohäsion, innere Konflikte und vor allem Ver­ änderungen zu untersuchen49. Auch fehlen weitgehend Studien auf dem Gebiet der vormärzlichen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die marxistisch-leninistische Geschichts­ schreibung erweist sich als sehr hellsichtig gegenüber jenen fortschrittshemmen­ den Momenten bürokratischer Entscheidungen, die auf die wachsende feudale © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bindung des Beamtentums zurückzuführen waren. Sie tut sich schwer, die fortschrittlichen Leistungen der Bürokratie einzuordnen, ja überhaupt auch nur anzuerkennen. Weil sie die Bürokratie als relativ eigenständigen Macht­ faktor, als Institution und soziale Gruppe per se, negiert oder ignoriert, erweist sie sich zudem als blind, jene Grenzen bürokratischer Modernisierungs­ politik auch nur auszumachen, die nicht aus feudalen Bindungen, sondern aus dem Herrschafts- und Selbsterhaltungsinteresse der Bürokratie selbst resul­ tierten. Hier zeigt sich dieser gesamthistorische Theorienansatz, der zudem noch in der DDR politisch-institutionell abgesichert ist und insofern nur sehr schwer kritisiert und nur sehr schwerfällig modifiziert werden kann, als Pro­ krustesbett, so gute Dienste er in anderen Hinsichten leistet. Was erst durch konkrete historische Forschungen erhellt werden müßte, gilt als längst theore­ tisch entschieden und ausgemacht, wird so nicht mehr fragwürdig und nicht thematisiert. Notwendig wäre demgegenüber ein Forschung und Lehre flexibel leitendes und durch neue Quellen wie durch Diskussion modifizierbares histo­ risch-theoretisches Modell, das die relative Selbständigkeit der Bürokratie eben­ so in den Blick rückt wie die vielfältigen, sich wandelnden, restriktiven und determinierenden Bedingungen, unter denen jene relative Selbständigkeit sich immer nur verwirklichen konnte. Es ginge darum, marxistische Fragestellungen stärker mit jenen zu verbinden, die man u. a. aus der Lektüre von Max Weber und Otto Hintze gewinnen kann. Einem solchen Bemühen kann Hans Rosen­ bergs große Untersuchung der preußischen Bürokratie unter dem „Ancien Régime“ 50 als Vorarbeit, Anregung und Vorbild dienen.

Anmerkungen * Die folgenden Überlegungen habe ich im Juli 1972 im Fachbereich Geschichte der Universität Münster innerhalb meines Habilitationskolloquiums vorgetragen. Für diese Veröffentlichung wurden die Anmerkungen ergänzt. 1 Vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution. Allgemeines Land­ recht, Verwaltung u. soziale Bewegung von 1791—1948, Stuttgart 1967 (Zit. 587). Vorläufige Kurzfassung der Hauptargumente, in: ders., Staat u. Gesellschaft in Preußen 1815—1848, in: W. C onze Hrsg., Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815 bis 1848, Stuttgart 1962 (21970), 96—112; zur Beurteilung der Ergebnisse Kosellecks vgl. meine Rez., in: VSWG 57. 1970, 121—125. 2 Vgl. H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1882/94, bes. T. 1; T. 2, 453 ff.; T. 4, 350 ff., 541 ff.; T. 5, 433 ff.; F. Schnabel, Deutsdie Ge­ schichte im 19. Jahrhundert, I, Freiburg 51959, 283—478; III. 31954, 239—453; W. C onze, Das Spannungsfeld von Staat u. Gesellschaft im Vormärz, in: ders. Hrsg., 207—69; F. Lütge, Deutsche Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Berlin 31966, 404 ff.; W. Treue, in: B. Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, 3, Stuttgart 91970, §§ 69, 70 f., 74, 76; W. Fischer, Government Activity and Industrialization in Ger­ many (1815—70), in: W. W. Rostow Hrsg., The Economics of Take-off into Sustained Growth, N. Y. 1965, 83—94; ders., Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung (1961), in: ders., Wirtschaft u. Gesell­ schaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, 60—74. — Vgl. auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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U. Ρ. Ritter, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1961; I. Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806—1844, Berlin 1965; und schon C. Matschoß, Preußens Gewerbeförderungspolitik und ihre großen Männer, Berlin 1921; H.-J. Straube, C . P. W. Beuth, Berlin 1930; W. Treue, Wirtschaftszustände u. Wirtschaftspolitik in Preußen 1815—1825, Stuttgart 1937; zuletzt bestätigt dies für Oberschlesien: K. Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus, Wiesbaden 1970; eine sehr positive Beurteilung der Rolle des Staats in der Industrialisierung auch bei W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia 1740—1870, Liverpool 1958. — Zu gegenteiligen Beurteilungen durch nicht-marxistische Literatur vgl. u. Anm. 14; eine abwägende Zwischenpolitik skizziert zuletzt K. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1972, 44—51. 3 Vgl. J . Kocka, Zur jüngeren marxistischen Sozialgeschichte, in: P. C . Ludz Hrsg., Soziologie u. Sozialgeschichte, Opladen 1973, 491—94, mit Belegen und Literatur­ hinweisen; 510, Anm. 39, zur Rolle der Volksmassen. 4 Schwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, II, Berlin 1970, 595. 5 W. Eckermann u. H. Mohr, Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin 21969, 34; E. Engelberg, Zu methodologischen Problemen der Periodisierung, ZfG 19. 1971, 1121 f. 6 Vgl. W. Küttler u. G. Lozek, Die historische Gesetzmäßigkeit der Gesellschafts­ formation, ZfG 18. 1970, 1117—45, bes. 1123—27; dies., Marxistisch-leninistischer Historismus u. Gesellschaftsanalyse, in: E. Engelberg Hrsg., Probleme der marxisti­ schen Geschichtswissenschaft, Köln 1972, 66 f. 7 Diese Datierung bereits bei H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, 2, Berlin 1964, 17; zuletzt bei W. Schmidt, Sieg u. Festigung des Kapitalismus im Weltmaßstab, ZfG 20. 1972, 1245—63. Die „Epoche“ von 1789 bis 1871 vollendet den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, der nach Ansicht führender marxistisch-leninistischer Historiker mit der Reformation, der „frühbürgerlichen Revo­ lution“ im 16. Jahrhundert, begann. Vgl. Engelberg, Zu methodologischen Problemen, 1238 ff.; zur Diskussion um Einzelheiten dieser Periodisierung die Beiträge von G. Vogler und E. Engelberg in ZfG 20. 1972, 444 ff. u. 1285 ff.; weiter: G. Schilfert, Die Revolutionen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, ebd., 18. 1969, 171—93; ders., Die Stellung der bürgerlichen Revolutionen des 16.—18. Jahrhunderts im welthistorischen Prozeß, ebd., 20. 1972, 1241 ff.; vgl. auch R. Wohlfeil Hrsg., Reformation oder frühbürgerliche Revolution?, München 1972. 8 Als Überblick vgl. K. Obermann, Deutschland von 1815—1849 (= Lehrbuch der deutschen Geschichte 6), Berlin 31967. 9 So J . Kuczynski, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis 1849, Berlin 1961, 90 ff., 106; H. Bleiber, Zwischen Reform u. Revolution. Lage u. Kämpfe der schlesischen Bauern u. Landarbeiter im Vormärz 1840—1847, Berlin 1966, 207, 213; D. Eichholtz, Junker u. Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin 1962, 39, 69; Institut für Marxismus-Leninisums beim ZK der SED, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, I, Berlin 1966, 18 f.; mit einigen Qualifikationen auch H. Mottek, Zum Verlauf u. zu einigen Hauptpro­ blemen der industriellen Revolution in Deutschland, in: ders. u.a., Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960, 34 f. Diese These erlaubt gleichwohl anzuerkennen, daß „zwischen dem Staat als Verkörperung der Gesamtinteressen des Junkertums und [einzelnen] Gruppierungen von Junkern“ Wi­ dersprüche entstehen können (so H. Kubitschek, JbW 1963/III, 279). 10 Bleiber, 209. — Vgl. E. Schremmer, Agrareinkommen u. Kapitalbildung im 19. Jahrhundert in Süd-West-Deutschland, Jahrbücher für Nationalökonomie u. Stati­ stik 176. 1964, 196—240; H, Winkel, Die Ablösungskapitalien aus der Bauernbefrei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ung in West- u. Süddeutschland. Höhe u. Verwendung bei Standes- u. Grundherren, Stuttgart 1968; ders., Höhe u. Verwendung der im Rahmen der Grundlastenablösung bei Standes- u. Grundherren angefallenen Ablösungsmaterialien, in: W. Fischer Hrsg., Beiträge zu Wirtschaftswachstum u. Wirtschaftsstruktur im 16. u. 19. Jahrhundert, Berlin 1971, 83—99; vgl. auch: F.-W. Henning, Kapitalbildungsmöglichkeiten der bäuerlichen Bevölkerung in Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts, ebd., 57—81. 11 Vgl. H. Kubitschek, Die Börsenverordnung vom 24. Mai 1844 u. die Situation im Finanz- u. Kreditwesen Preußens in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts (1840—1847), JbW 1962/IV, 57—78; Eichholtz, 114 ff. 12 Z.B. Mottek, Verlauf, 31 f., 34 f. — Als detaillierte Untersuchung des Problems vgl. aber: P. C . Martin, Die Entstehung des Preußischen Aktiengesetzes von 1843, VSWG 56. 1969, 499—542. 13 Besonders Eichholtz. Von den gut 150 Millionen Talern, die bis 1850 aus staatlichen Geldern in den deutschen Eisenbahnbau flossen — das war fast die Hälfte der bis dahin überhaupt in den Eisenbahnbau investierten Summe — entfielen auf Preußen nur knapp 15 Millionen. Vgl. K. Borchard, Staatsverbrauch u. öffentliche Investitionen in Deutschland 1780—1850, Diss. Göttingen 1968, 296 ff. 14 Vgl. R. Tilly, Financial Institutions and Industrialization in the Rhincland 1815—1870, Madison 1966, bes. 15, 138, pass.; ders., The Political Economy of Public Finance and the Industrialization of Prussia, 1815—1866, JEH 26. 1966, 484—97; auch 27. 1967, 391; ders., Germany, in: R. C ameron Hrsg., Banking in the Early Stages of Industrialization, N. Y. 1967, 151—182; ähnlich im Grundansatz: Τ. S. Hamerow, Restoration, Revolution, Reaction. Economics and Politics in Germany 1815—1871, Princeton 1958 (1966), 3 ff.; und für das ausgehende 18. Jahrhundert: Η. Kisch, Prussian Mercantilism and the Rise of the Krefeld Silk Industry, Philadelphia 1968. — Bei aller berechtigten Kritik an einer Übertreibung der staatlichen Initiativ­ rolle unterschätzen diese Autoren m. E. nun umgekehrt die Rolle, die der preußische Beamtenstaat im Prozeß der Modernisierung spielte, indem sie bestimmte Teilgebiete (Finanzpolitik z. B.), bestimmte Regionen (das unternehmerisch fortgeschrittene Rhein­ land) und bestimmte Jahre (die 1840er) allzu einseitig in den Vordergrund rücken. Vgl. auch P. C . Martin, Monetäre Probleme der Frühindustrialisierung am Beispiel der Rheinprovinz (1816—1848), Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik 181. 1967, 117—50; vor allem M. Barkhausen, Staatliche Wirtschaftslenkung u. freies Unternehmertum im westdeutschen u. im nord- u. südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, VSWG 4.5 1958, 168—241: B. zeigt, wie wenig die Industrialisierung von Rheinland-Westfalen ein Produkt merkantilistischer Wirtschaftsförderung, wie sehr sie ein Produkt bürgerlicher unter­ nehmerischer Initiativen war, doch betont er zugleich die grundlegend andere Situa­ tion in den preußischen Mittel- und Ostprovinzen (203 ff., 227 ff.). 15 Vgl. Bleiber, 206 f.; dagegen Koselleck, 533, 539; Borchardt, 51. 16 So Eichholtz, 94, 105 f., 109; dann auch Tilly, Political Economy, 488; dagegen Henderson, 163, und schon Treitschke, V, 494 f. 17 Vgl. R. v. Delbrück, Lebenserinnerungen, 1, Leipzig 1905, 184; F. Zunkel, Beamtenschaft u. Unternehmertum beim Aufbau der Ruhrindustrie 1849—1880, Tra­ dition 9. 1964, 266; H. Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industria­ lisierung, Berlin 1972, 236 ff. 18 Vgl. zu diesem Weberschen Denkansatz z. Β. Α. Diamant, The Bureaucratic Model, in: F. Heady u. S. L. Stokes Hrsg., Papers in Comparative Public Admini­ stration, Ann Anbor 1962, 59—96, bes. 79 ff., 87. 19 Zur weit verbreiteten Fehleinschätzung der Eisenbahnen und ihrer Möglichkeiten in den 1830er Jahren vgl. G. Reitböck, Der Eisenbahnkönig Strousberg, Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie 14. 1924, 66 f.; Zur Zurückhaltung einzelner © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Behörden und Beamter (z. B. Rother) gegenüber dem Eisenbahnbau aufgrund von bestehenden Interessen an seit langem geförderten anderen Verkehrswegen vgl. H. Rachel u. P. Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, 3, Berlin 21967, 231 f. 20 Daß eben dieser Aspekt auch in der Untersuchung von Koselleck zu kurz kommt, hat H. Obenaus in einer Rez. herausgearbeitet: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222. 1970, 155—67; dazu jetzt weiterführend ders., Die Immediatkommission für die ständischen Angelegenheiten als Instrument der preußischen Reaktion im Vormärz, Fs. H. Heimpel, I, Göttingen 1971, 410—46. 21 Vgl. Kuczynski, 73, über die letztlich konservative Funktion der Reformgesetz­ gebung; 90 ff., 106 zur hemmenden Rolle des Staates nach 1815; Eichholtz, 84 ff.; zur restriktiven Wirkung der preußischen Kredit- und Finanzpolitik: Kubitschek. 22 Hier wird nicht etwa behauptet, daß diese staatlichen Entscheidungen und Ak­ tionen die Hauptanstöße oder gar Hauptursachen für den preußischen Industrialisie­ rungsprozeß darstellten. Vielmehr wird man ihre relative Gewichtigkeit — relativ zu anderen, nicht staatlichen Industrialisierungsanstößen und -triebkräften eher gerin­ ger beurteilen müssen als dies üblich war. Doch soll diese Einschätzung des Ausmaßes der Wirkung dahingestellt bleiben. Hier geht es nur um die Richtung der Wirkung, und in dieser Hinsicht dürfte unbezweifelbar sein, daß die genannten Ergebnisse des staatlich-politischen EntScheidungsprozesses eher industrialisierungsförderlich als -hin­ derlich waren. Die Frage ist, wie dies innerhalb des skizzierten marxistisch-leninisti­ schen Gedankenansatzes erklärt werden kann, ohne diesen zu sprengen. 23 Vgl. etwa Obermann, 50 ff., der die Berliner technischen Bildungseinrichtungen ebenso ausläßt wie die vielfältige Gewerbeförderungspolitik Beuths. 24 Dies erscheint mir für große Teile des Handbuchs von Mottek zuzutreffen, das zuverlässig darstellt, doch das Dargestellte häufig nicht daraufhin befragt, inwie­ weit es mit grundsätzlichen Positionen der historisch-materialistischen Interpretation vereinbar ist, bzw. was es für diese bedeutet (so etwa Mottek, Wirtschaftsgeschichte, 43 ff., zur preußischen Gewerbepolitik ohne Diskussion von deren Konsequenz für die Einschätzung der Rolle des Staats); vgl. ähnlich über staatliche Hilfestellungen in der Entwicklung der Wollindustrie: H. Blumberg, Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution, Berlin 1965, 142—44. 20 Mottek, Wirtschaftsgeschichte, 10. 25 Kuczynski, 55 f. 27 So bei Obermann, 26 f. zu 1818; und schon Engels 1847 in Marx/Engels/Lenin/ Stalin, Zur deutschen Geschichte, II, 1, Berlin 1954, 128 f. 28 So bei Mottek, Wirtschaftsgeschichte, 6, 8. 29 Dies gilt einmal für die Erforschung früher radikaler Strömungen im Bürgertum. Vgl. z. Β. Η. Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe u. republikanische Be­ strebungen im deutschen Süden des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962; ders. Hrsg., Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1965; vgl. auch G. Steiger, Aufbruch. Urburschenschaft u. Wartburgfest, Leip­ zig 1967. Zum anderen gilt dies für die Erforschung der frühen Arbeiterbewegung. Vgl. z. B. D. Eichholtz, Bewegung unter den preußischen Eisenbahnbauarbeitern im Vormärz, in: Beiträge zur deutschen Wirtschafts- u. Sozialgeschichte des 18. u. 19. Jahrhunderts, Berlin 1962, 251—87; E. Wolfgramm u. a., Die sozialökonomischen Kämpfe der Eisenbahnbauarbeiter in Sachsen 1844—1848, in: Aus der Frühgeschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 1964, 65—101; K. Obermann, Zur Rolle der Eisenbahn­ arbeiter im Prozeß der Formierung der Arbeiterklasse in Deutschland, JbW, 1970/II, 129—40. — Zur Problematik der Interpretation der frühen Arbeiterbewegung durch DDR-Historiker: Kocka, Zur jüngeren marxistischen Sozialgeschichte, 500 f. Neu und weiterführend: H. Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse, in: H. Bar­ tel u. E. Engelberg Hg., Die Großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871, 1, Berlin 1971, 501—51. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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30 Dies ist ganz deutlich bei der Einschätzung der „Volksmassen“ als der treibenden Kraft hinter den preußischen Reform- und Befreiungsbewegungen 1807—1815. Vgl. J . Streisand, Η. Heitzer u. P. Schuppau in: Historische Forschungen in der DDR (= ZfG 8 [1960], Sonderh.), 179, 184 f., 188 f., 201 ff.; ebd., 204 f. zur entsprechenden Aufwertung der Burschenschaften als einer progressiven Kraft des Bürgertums gegen­ über früheren vorsichtigeren Einschätzungen Griewanks. — Vgl. auch H. Heitzer, Insurrectionen zwischen Weser u. Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806—1813), Berlin 1959. — Die Über­ schätzung des „Drucks“ der bürgerlichen Oppositionsbewegung wird deutlich bei der Erklärung der preußischen Zollvereinspolitik 1833/34 als angebliche „Konzession“ des widerstrebenden Feudalstaats an das Bürgertum. So schon Engels 1847, in Marx u.a., Zur deutschen Geschichte II, 1, 128 f. und u.a. in: Institut für Marxismus­ Leninismus, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1, 19; Obermann, 99 f.; Kuczynski, 13. 31 Vgl. z. Β. Τ. Schieder, in: G ebhardt, 3, Stuttgart 91970, 101. 32 Vgl. dazu z. B. Hamerow, 26 ff., 141 ff. Die Berichterstattung über sozial­ ökonomisch reaktionäre und restaurative Strömungen in der Handwerkerschaft findet sich auch in ostdeutschen Studien: vgl. z. B. L. Baar, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution, Berlin 1966, 70, 75; Blumberg, 90 ff. — Doch bleiben diese Einsichten für die grundsätzliche Vormärz-Interpretation folgenlos. 33 So z. Β. in der repräsentativen Gesamtdarstellung von Obermann, 58—105, über die Forderungen der Liberalen der 30er Jahre; oder in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1, 19: „Die kapitalistische Entwicklung wurde durch einen Auf­ schwung der revolutionären Volksbewegung von 1830—1834 wesentlich gefördert.“ Die Tatsache, daß gerade in den Teilen Deutschlands (Preußen und Sachsen) mit fortgeschrittenster Wirtschaftsentwicklung sehr viel weniger demokratisch-bürgerliche Strömungen hervortraten als im wirtschaftlich eher rückständigen Südwesten, bleibt unerwähnt. — Wenn die Einsicht in die sozialökonomische Rückwärtsgewandtheit der kleinbürgerlichen Schichten nicht so sehr verdrängt würde, dann würde daraus allerdings wahrscheinlich eine Modifikation der üblichen marxistischen Kritik an der Rolle der deutschen Bourgeoisie im Vormärz folgen müssen. Wirft doch die gängige marxistische Kritik der Borgeoisie jener Zeit vor, sie habe die „antifeudale, revolutio­ näre Einheitsfront“ mit „dem Volk“ , den demokratischen Kleinbürgern und den Arbeitern, entgegen ihrem Interesse und entgegen ihrer historischen „Aufgabe“ „ver­ raten“ , zu der es auch nach Meinung der marxistischen Historiker gehört, die kapitali­ stische Wirtschaftsordnung voll durchzusetzen. Vgl. zuletzt W. Schmidt, Sieg u. Fe­ stigung des Kapitalismus, 1255, 1260; ders., Zur Rolle der Bourgeoisie in den bürger­ lichen Revolutionen von 1789 und 1848, ZfG 21. 1973, 301 ff. Diese These schein; aber zu übersehen, daß eine konsequente Demokratisierung des politischen Entschei­ dungsprozesses unter damaligen Bedingungen die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform sehr erschweren hätte können, da sie den antikapitalistischen, retrospek­ tiv gefärbten Forderungen der „kleinbürgerlichen Massen“ größeren Einfluß gewährt hätte! Dazu auch A. Dorpalen, Die Revolution von 1848 in der Geschichtsschreibung der DDR, HZ 210. 1970, 330 f. 34 Vgl. Kuczynski, 116 ff.; Eichholtz 38 f., 42, 83 f., 200 f.; Mottek, Wirtschafts­ geschichte, 2; Bleiber, 214. 35 W. I. Lenin, Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution (1907), u.: Die Agrarfrage in Rußland am Ende des 19. Jahrhunderts (1908), zit. nach Marx u.a., II, 1, 879—81; vgl. auch Kuczynski, 45 ff., 67 ff., 68 f.; H. Bleiber, Zur Problematik des preußischen Weges des Kapitalismus in der Land­ wirtschaft, ZfG 13. 1965, 57—73; G. Heitz, Varianten des preußischen Weges, JbW 1969/III, 99—109; B. Berthold u. a., Der Preußische Weg der Landwirtschaft . . ., ebd., 1970/IV, 259—89; Bleiber, in: ZfG 18. 1970, 1634 ff. Es kann hier nur darauf

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verwiesen werden, daß im Rahmen dieses Ansatzes wertvolle und weiterführende empirische Untersuchungen zur Landwirtschaftsgeschichte im 18. und frühen 19. Jahr­ hundert geleistet worden sind, so von J . Šolta, H.-H. Müller, G. Moli u. H. Harnisch. se Vgl. H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbcsitzerklasse (1958), in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 7—50. 37 Auf den gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Bereich erweitert findet sich diese These vom „preußischen Weg“ u. a. bei Kuczynski, 45 ff. und zuletzt bei W. Schmidt, Sieg u. Festigung des Kapitalismus, 1250, 1253. 38 Eine grundsätzlichere Frage an die These vom „preußischen Weg“ sei hier nur angedeutet: Wenn ein so weit gehender unrevolutionärer Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus möglich war, ist dann nicht die historisch-materialistische Grund­ these vom notwendig revolutionären Übergang von einer Gesellschaftsformation zur anderen stark in Frage gestellt? Wieso war eine unrevolutionäre Vollendung des Prozesses so völlig unmöglich, nachdem er so weit ohne Revolution fortgeschritten war? Es ist zunächst bloße Affirmation und wird zudem durch die weitere Entwick­ lung nach der ja größtenteils erfolglosen Revolution von 1848/49 auch nicht bestätigt, wenn W. Schmidt behauptet: die vor 1848 weit fortgeschrittene Herausbildung der kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung auf dem „preußischen Wege“ „setzte keineswegs — wie bourgeois Historiker andeuten — die geschichtliche Gesetzmäßigkeit einer bürgerlichen Revolution außer Kraft, sondern machte die radikale Vernichtung des bestehenden halbfeudal-absolutistischen Herrschaftssystems im Gegenteil doppelt not­ wendig. Eine freie ungehinderte kapitalistische Entwicklung verlangte den Sturz der Adelsmacht und eine Lösung der Machtfrage im Interesse der Bourgeoisie“ (ZfG 20. 1972, 1253). Ähnlich: Bleiber, 215. 39 F. Engels über Absolutismus und Bonapartismus (1872), in: Marx u. a., II, 2, 926, 941.; ders., Der Status quo in Deutschland (1847), ebd., II, 1, 127 f., 133 ff.; ders., Die preußische Verfassung (1847), ebd., II, 1, 141 f. 40 Vgl. G. Schilfert, Deutschland 1648 bis 1789, Berlin 21962, 156 ff.; I. Mittenzwei, Über das Problem des aufgeklärten Absolutismus, ZfG 18. 1970, 1162—72. — Zum Vormärz: Eichholtz, 70; Mottek, Wirtschaftsgeschichte, 49 ff.; H. Scheel, Vor­ wort, in: ders. Hrsg., Das Reformministerium Stein. Akten, I, Berlin 1966, XV; siehe auch ZfG 17. 1969, 235: Klassengleichgewicht zwischen Adel und Bürgertum als Voraussetzung der preußischen Reformen. 41 Vgl. etwa Eichholtz, 69: Die Bürokratie sei der „regierende Ausschuß des Junker­ tums“ ; jedoch waren „herrschende Klasse und monarchisch-bürokratisches Regime nicht schematisch kongruent“ ; 70: in dem „System des staatlichen Überbaus“ würden Adel und Bürgertum gegeneinander „ausbalanciert“ ; die bürokratisch-absolutistische Staats­ macht fungiere als „scheinbare Vermittlerin“ ; doch geschah dies in Deutschland nicht in „klassischer Form“ , sondern nur mit einer „ausgesprochen junkerfreundlichen Ten­ denz“ , so daß man (71) doch wieder von einer „adligen Bürokratie“ und dem Adel als der „herrschenden Klasse“ sprechen kann. Solche schwebenden Formulierungen erleichtern nicht gerade die sachliche Kritik; ähnlich schillernd und widersprüchlich: Kuczynski, 116 ff. 42 Vgl. ebd., 45 ff. zur „Revolution von außen und oben“ ; J . Streisand, Deutsch­ land von 1789 bis 1815, Berlin 21961, 143; Mottek, Zum Verlauf, 35; ders., Wirt­ schaftsgeschichte, 3; Scheel, Vorwort, IX, X; Eichholtz, 10 f., 87, 88, 100, 101, 104 f. 43 Mottek, Zum Verlauf, 35; vgl. auch H. Kubitscheks Rez. von Eichholtz, in: JbW 1963/III, 279 f., wo der Hinweis auf den sich wandelnden C harakter der staatstragenden Junkerklasse innerhalb des „preußischen Weges“ mit dem Hinweis auf den „typisch preußischen Bürokratismus“ und die „überkommene absolutistische Poli­ tik“ wie auch mit dem Rekurs auf die „harten Tatsachen der kapitalistischen Entwick© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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lung“ verbunden wird, um auftretende Gegensätze zwischen Junkern und Staat zu erklären. 44 Allerdings wird das im nächsten Satz wieder abgeschwächt. Vgl. Eichholtz, 84, auch 85. 45 Vgl. auch die zutreffende und ausführliche Schilderung der staatlichen Förde­ rungsmaßnahmen gegenüber der entstehenden Maschinenbauindustrie durch A. Schröter, in: A. Schröter u. W. Becker, Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution, Berlin 1962, 56—63; 62 f. die Erklärung mit dem Hinweis auf die Beamten, die diese Maßnahmen ergriffen, um „dem Staate, der Erhaltung und Festi­ gung der bestehenden Ordnung, zu nützen“ , das Steueraufkommen zu erhöhen und die Kraft des Staates zu stärken. 46 Engels schrieb 1846 im „Northern Star“ von der Bürokratie als einer „besonde­ rein) Klasse von administrativen Regierungsbeamten, in deren Händen die Haupt­ macht konzentriert ist und die gegen alle anderen Klassen in Opposition steht. Es ist die barbarische Form der Herrschaft des Bürgertums“ . Nach Marx u. a., II, 1, 52. — Vgl. zu einschlägigen Bemerkungen von Marx im „18. Brumaire“ , „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ u. in anderen Schriften: S. Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, C ambridge 1968, 48—51. 47 Vgl. R. Vierhaus, „Absolutismus“ , in: Sowjetsystem u. Demokratische Gesell­ schaft, I, Freiburg 1966, 18 ff.; J . Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staats­ monopolistischer Kapitalismus?, in: Η. Α. Winkler Hrsg., Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1973, 24—29. 18 Eben diesem Vorwurf entgeht auch die Arbeit Kosellecks nicht ganz; vgl. Anm. 1. Die diese Schwäche erkennende Kritik H. Bleibers in ZfG 19. 1971, 112—15 schießt jedoch übers Ziel hinaus. 49 Dazu wichtige Ergebnisse bei Koselleck und bei J . R. Gillis, The Prussian Bureaucracy in C risis 1840—1860, Stanford 1971. 50 Η. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660—1815, Cambridge/Mass. 1958 u. ö.

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13. 1848 in der deutschen Geschichte Von MI C HAEL STÜRMER

Die europäischen Revolutionen von 1848/49 haben in der deutschen Staa­ tenwelt viel verändert, noch mehr aber unverändert gelassen. Für Deutschland im Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Form von Wirtschaft und Gesellschaft bedeutete, was 1848 geschah, eine unvollendete bürgerliche Revolution, die doch in allem, was fehlschlug, nicht minder folgenreich war als in dem, was gelang. Daß deutsche Einheit und europäisches Gleichgewicht nicht zusammenstimmten, so wenig wie bürgerliche Freiheit und demokratische Gleichheit — 1848 wurde aus theoretischer Einsicht praktische Erfahrung. Aus Träumern der Revolution wurden gescheiterte Aufständische, aus Fackelträgern des Bürgerkriegs Emigranten und Enttäuschte; Weltverbesserer verwandelten sich in Zyniker der Realpolitik, militante Liberale wurden willfährige Opfer der Machträson; aus altpreußischen Konservativen wurden Techniker des poli­ tischen Massenmarkts. „Das Gift einer unausgetragenen, verschleppten Krise kreist von 1850 an im Körper des deutschen Volkes.“ Rudolf Stadelmann nannte den neuen Zustand die typische Krankheit des „Landes ohne Revolu­ tion“ 1. Zu den Folgen zählte der Umstand, daß keine der wesentlichen Sozial­ gruppen zum historisch-politischen Problem der 48er Revolution ein ungebro­ chenes Verhältnis behielt. „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse wer­ den die großen Fragen der Zeit entschieden — das ist der große Fehler von 1848/49 gewesen — sondern durch Eisen und Blut.“ Darin faßte Bismarck 1862 zusammen, was es auf dem Weg zum nationalen Machtstaat über das „tolle Jahr“ noch zu sagen gab2. Es mußten aber erst noch die Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich gewonnen werden, ehe 1848 vollends hinter dem historischen Horizont verschwand: den Liberalen eine Jugendsünde, den Konservativen die Erinnerung an den Weltuntergang. Und es bedurfte des Zusammenbruchs der Hohenzollernmonarchie, um in der Zeit der Weimarer Republik eine vertiefende wissenschaftliche Beschäftigung und Besinnung auf die bürgerlichen Werte der Paulskirche in Gang zu setzen3. Im NS-Geschichts­ bild fiel 1848 stärker als je zuvor ideologischer Verdammnis anheim. Erst das Ende des deutschen Nationalstaates in der Form von 1871 und die Suche nach Brücken in die deutsche Vergangenheit haben nach 1945 — die 100. Wiederkehr der Revolutionstage gab damals Anlaß zu nachdenklichem Rück-

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blick — die Ereignisse von 1848/49 zu einem großen Thema der Geschichts­ schreibung werden lassen. Jedoch geschah das nicht ohne Ambivalenz. Grundrechte und bürgerlicher Verfassungsstaat, anfangs auch die noch in fast ungetrübter Unschuld herüber­ glänzende Nationalidee machten 1848 zum historischen Traumland der Deut­ schen. Mit wachsender Distanz von den nationalstaatlichen Voraussetzungen politischen Denkens ist auch das in Frage gestellt. Denn hatte nicht der Deut­ sche Bund von 1815 zum letztenmal eine Organisation Mitteleuropas verwirk­ licht, die Rest-Europa nicht um den Schlaf brachte? In der Form des Föderativ­ reiches das Kondominium Österreichs und Preußens, unfähig zum Angriff, aber unentbehrlich im System des europäischen Gleichgewichts? Mit dem Nationalstaat ist zuletzt auch das Einheitswollen der Paulskirche in seiner absoluten Geltung relativiert worden. Heute drängt sich die Frage auf, ob nicht der Ordnung, die der Wiener Kongreß Alteuropa gegeben hatte, mehr Staatsklugheit und, alles in allem, mehr Zukunftschancen innewohnten, als man seit der 48er Zeit zu denken gewohnt war. Damit bleiben vom Erbe der unvollendeten Revolution Grundrechte, Ver­ fassungsstaat, ein allgemeiner Staatsbürgerbegriff — mit einem Wort eine zugleich liberale und zur Demokratie offene Ordnung des Politischen. Indessen, so wurde damals von Marx und Engels in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ eingeworfen, das alles sei nur Phrase, und erst die soziale Revolution würde zur Sache kommen: die eigentliche, die zweite Revolution, die sie halb prophe­ tisch, halb agitatorisch vom Weiterfressen des Arbeiteraufstands in Frankreich oder vom Kreuzzug gegen das Zarentum erwarteten und erhofften4. Die DDR-Historie hat hier angeknüpft: Ihr gilt 1848 als eine Erhebung der Volksmassen, die mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung zusammentraf. Das Klassenbündnis von Monarchie und Bourgeoisie, das am Tag nach dem 18. März begann, habe der Gegenrevolution den Weg bereitet. Was immer seit den Märztagen geschah, es habe den Gegnern der Revolution gedient5. Die These vom „Verrat der Bourgeoisie“ indessen reduziert sich bei näherem Zusehen auf den Vorwurf an die Liberalen, Kompromisse geschlossen und nicht, indem sie allein auf die radikale Demokratie setzten, sich beizeiten selbst aus der Welt geschafft zu haben. Wahrhaftig, so möchte man den amerikani­ schen Historiker Theodore Hamerow zitieren, die Revolution von 1848 ist eines der Rätsel der deutschen Geschichte geblieben6. I. Drei Grundfragen des 19. Jahrhunderts. Ursachen, Verlauf und Auswir­ kungen der Erhebungen, die seit dem Januar 1848 wie ein Flächenbrand über Kontinentaleuropa hinweggingen und erst an den Grenzen des russischen Imperiums erstickt wurden, sind nicht zu trennen von den drei Grundfragen, die sich im Verlauf des 19. Jhs. den europäischen Entwicklungsgesellschaften stellten: der nationalen Frage, der konstitutionellen Frage und der sozialen Frage7. Doch ist daran zu erinnern, daß die sozialen Voraussetzungen und Begleitumstände der europäischen Revolutionen so unterschiedlich waren wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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die historischen Verspätungen und wirtschaftlich-politischen Ungleichzeitigkei­ ten, die damals den europäischen Kontinent beherrschten. Jeder Blick auf die ökonomische Landkarte Europas um die Mitte des 19. Jahrhunderts lehrt, daß, was für Frankreich als Ursache ins Auge fällt, schon für Deutschland eine geringere Rolle spielt und in Italien, Ungarn und östlich der Elbe kaum noch gilt. Und doch, so bedeutsam die Unterschiede sind, es bleibt der europäische Wirkungszusammenhang. Die nationale Frage, in Frankreich längst gelöst, bedeutete für Deutschland den Versuch, von der Kulturnation zur Staatsnation weiterzugehen. Das aber setzte voraus, daß zuvor die Ordnung des Wiener Kongresses zerstört wurde, der dem Zeitalter der Restauration Gleichgewicht und Stabilität verordnet hatte. Das Gleichgewicht in Europa besorgten nach 1815 das System der Kon­ ferenzen und die „Heilige Allianz“ der drei Ostmächte, in Mitteleuropa der Deutsche Bund, über den die Donaumonarchie, staatliche Verkörperung der Gegenrevolution schlechthin, das Sagen hatte. Die ersten Störungen des Wiener Systems geschahen indessen schon 1830 mit der Julirevolution von Paris, der Errichtung des belgischen Königreichs und dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft. In der deutschen Staatenwelt hat damals der Konstitu­ tionalismus Fortschritte gemacht, begleitet von nächtlichen Katzenmusiken und Zusammenstößen zwischen Bürgern und Soldaten. Die verfassungsrechtlichen Folgen waren begrenzt, die psychologischen unabsehbar. Das Jahr 1830 erwies die Scheinbarkeit der Restauration. So unterschiedlichen Geschichtsdenkern wie Ranke und Tocqueville erschien sie nurmehr als Zwischenakt im geschichtlichen Ablauf der „révolution toujours la même“8. Bald folgten andere Störungen, weniger sichtbar, aber mit der Zeit von einschneidender Wirkung. Die Gründung des Deutschen Zollvereins vor allem, mit dem die preußische Staatspolitik ihren wirtschaftlichen Führungsanspruch quer über die Landkarte Mitteleuropas schrieb und zugleich der Tatsache Rech­ nung trug, daß neben den kornexportierenden Landadel eine frühindustrielle, auf Schutz ihrer Interessen drängende Unternehmerschicht trat. Es war die Zeit, da unternehmerische Köpfe das große Geld in der Schleppschiffahrt und im Eisenbahnbau suchten und fanden. Die ersten Telegraphenlinien wurden installiert. Mehr und mehr wurde die Diskrepanz zwischen dem technisch Machbaren und dem politisch Denkbaren zum Ärgernis. Was bisher nur lästig und ein wenig skurril gewesen war — mangelnde Einheit des Maß-, Münz­ und Gewichtsystems, des bürgerlichen Rechts und der Statistik —, wurde im Gefolge moderner Transport- und Nachrichtensysteme unerträglich. Es lock­ ten der nationale Markt und die starke Stellung im Export, die darauf aufzu­ bauen war. Die deutsche Einheit, bisher Idee politischer Visionäre und patrioti­ scher Schwärmer, wurde Hoffnungsposten in der kaufmännischen Gewinn- und Verlustrechnung. Sie blieb auch während der Revolutionszeit die stärkste An­ triebskraft auf der Suche nach der deutschen Identität. Wer zwischen den Zeilen zu lesen verstand, der konnte schon im Vormärz und vollends 1848 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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bemerken, daß, wenn es einmal um Einheit oder Freiheit ginge, die Freiheit das Nachsehen haben würde. Bei alledem war die konstitutionelle Frage nicht ohne Gewicht. Der Ruf nach verfassungsmäßig korrigierbaren Machtverhältnissen kam seit 1830 nicht mehr zur Ruhe. Von Anfang an war die liberale Verfassungsforderung un­ trennbar verbunden mit dem Staatskredit bei den Anleihe zeichnenden Schich­ ten. Längst hatten die in der Napoleonzeit künstlich zusammengebrachten deutschen Mittelstaaten Verfassungen eingeführt, um aus heterogenen Länder­ fetzen einen geschlossenen Territorialstaat zu machen, und waren gut dabei gefahren9. Wo sie aber existierten, gaben landständische Verfassungen den Rahmen ab für den zähen Kampf, den im Vormärz Bürokraten und Liberale gegeneinander führten. Das westdeutsche Industriebürgertum, die Modernität des französischen Rechts gewohnt und, was Technik und politische Philosophie anlangte, voll Bewunderung für Englands fortgeschrittene Zivilisation, emp­ fand den Rückhang der Verfassungsentwicklung Preußens zunehmend als Skandal und politische Bedrohung. Denn in Preußen wirkten Agrarkonserva­ tive und staatliche Wirtschaftsplaner zusammen, um das frühindustrielle Wachs­ tum zu zähmen und politisch folgenlos zu machen. Zugleich aber mußte Preu­ ßen, um Machtstaat zu bleiben, Industriestaat werden10. Dieses Dilemma hat 1848 überdauert und noch den Bismarckstaat geprägt11. Die Entwicklung eines modernen industriellen Wirtschaftssystems im politischen Gehäuse des Militär- und Beamtenstaats aber wurde zur Geschäftsgrundlage, auf der nach dem Scheitern der liberalen Bewegung die Widersprüche der Reaktionsära aufbauten. Seit 1830 waren die Verfassungsdenkschriften rheinischer Unternehmer voll von Warnungen, der alte Staat könne aufgrund seiner bürokratischen Starre die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Die „geringere Volksklasse“ probe den Aufstand12. Längst habe die Krone in ihrem wohlverstandenen eigenen Inter­ esse keine andere Wahl mehr, als sich mit der opinion und den Schichten von Bildung und Besitz zu verbünden. Das verweist in der Tat auf das wohl entscheidende Versäumnis der preußischen Staatsbürokratie des Vormärz. We­ der führte sie die Tradition der „Revolution von oben“ fort, noch wagte sie das Bündnis mit der aufsteigenden Führungsschicht des Industriezeitalters. 1847 führte bekanntlich Geldmangel die Regierung zu Entgegenkommen und Einberufung des „Vereinigten Landtags“ . Mit dem Eisenbahnbau war der alte Staat an eine technologische Schwelle geraten, die nur durch Veränderung der Verfassungsgrundlagen zu überwinden war. Das Wenige an Reformen aber kam bereits zu spät. Dahinter stand unterdessen drohend die soziale Frage, noch nicht als An­ spruch eines machtvoll organisierten Industrieproletariats auf Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft, sondern vornehmlich in Gestalt des vorindustriellen Pauperismusproblems13. Der Pauperismus, wie damals gebildete Leute die Massenarmut nannten, war das Trauma der vormärzlichen Gesellschaft. Es gab Landschaften in Deutschland, wo von 100 Menschen vierzig am Rande © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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des Existenzminimums im wörtlichen, den Kindern der Wohlstandsgesellschaft nicht mehr vorstellbaren Sinne hausten, bedroht von Hunger und Mangel­ krankheiten. Das Heer dieser Landlosen, Brotlosen und Hoffnungslosen war ein Erbteil des großen vorindustriellen Modernisierungsprozesses, der seit zwei Generationen in Gang war und im Bereich des städtischen Zunftwesens und der ländlichen Eigentums- und Herrschaftsordnung das Ende des Mittelalters heraufführte. Verschärft durch die schnelle Zunahme der Unterschichten, herrschte der Kampf ums Dasein. In den Armenvierteln der Städte, auf Aus­ wandererschiffen und in abgelegenen ländlichen Gegenden konnte, wer das Fürchten lernen wollte, apokalyptische Bilder sehen. Die „halkyonische Epoche“ (Ranke), die das Zeitalter zwischen Reform und Revolution den Gebildeten bedeutete, war erfüllt vom Kampf der unterbäuerlichen und unterbürgerlichen Schichten auf Leben und Tod. II. Antriebskräfte der Revolution. Was aber hatte das alles mit den Ereig­ nissen von 1848 zu tun? Sehr viel, und sehr wenig zugleich. Zwar kann es keinen Zweifel geben, daß sich insgesamt die Lebensverhältnisse seit den napoleonischen Kriegen im Ganzen wie im einzelnen gebessert hatten. Rudolf Stadelmann in seiner Analyse der sozialen Ursachen der Revolution hat dafür eindrucksvolle Zeugnisse angeführt. Aber ebensowenig ist zu übersehen, daß der Lebensstandard der städtischen und ländlichen Unterschichten, die den Hauptteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgaben, 1846 und noch einmal 1847 beträchtlich sank. Die Ernte von 1846 fiel schlecht aus. Der Boden­ ertrag bei Weizen, Gerste und Hafer erreichte nur drei Viertel, bei Roggen kaum mehr als die Hälfte dessen, was in dem vergleichsweise normalen Ernte­ jahr 1848 eingebracht wurde. Am schlimmsten stand es um die Kartoffelernte und damit um das hauptsächliche Nahrungsmittel des armen Mannes: 1847 brachte der Hektar im Durchschnitt nur 47 Doppelzentner gegenüber rund 80 Doppelzentnern im Jahr 184814. Dementsprechend düster war das Bild der landwirtschaftlichen Bruttopro­ duktion, über die recht zuverlässige Angaben der Behörden vorliegen. Geht man wiederum von den Erträgen von 1848 aus, so erbrachte das Jahr 1846 nur zwischen 54 % bei Roggen, 56 % bei Kartoffeln und 82 % bei Spelz. Importe konnten den Mangel nicht beheben. Zwar stieg die Einfuhr, doch blieben die eingeführten Mengen der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Der Einfluß auf die Preise kann nur gering gewesen sein und sich auch nur in Küstennähe ausgewirkt haben. Die volle Auswirkung der Mißernte von 1846 wurde erst im darauffolgen­ den Winter und Frühjahr spürbar. Die schlechte Ernte desselben Jahres schlug erst Anfang 1848 voll auf die Preise durch. Doch hatten schon 1846 die Erzeugerpreise weit über dem Gewohnten gelegen. 1847 kletterten sie noch einmal. Weizen stieg von 1846 auf 1847 um 30 %, Roggen um 22 %, Kartoffeln um 45 %. Dabei handelt es sich um Durchschnittszahlen, Einzeldaten zeigen, daß für den Käufer sich die Sache mitunter noch übler anließ. Im Herzogtum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Anhalt beispielsweise stieg der Scheffel Kartoffeln von dem Normalpreis, der bei acht Silbergroschen lag, 1847 auf einen Taler 16 Silbergroschen, mithin um das Vierfache. Seit dem Sommer 1848 gingen die Preise zurück. Im Gefolge einer ausrei­ chenden Ernte fielen die Preise weit unter den Stand der beiden Vorjahre. Die Tonne Weizen, die 1847 dem Bauern noch umgerechnet 240 Mark gebracht hatte, fiel auf 174 und bis 1850 auf 148 Mark. Noch stärker war die Preisbe­ wegung bei Kartoffeln. Hatte die Tonne am Gipfelpunkt 47 Mark gebracht, so stand sie 1848 nur noch bei 31 und fiel bis 1850 auf 20 Mark. Bei Hafer und Gerste lagen die Verhältnisse ähnlich15. In den Preisreihen dieser letzten Vormärz-Jahre sahen die Zeitgenossen die Schrift an der Wand. Stadelmann hat vor Jahren bereits auf die Bedeutung der brieflichen Aufzeichnungen Wilhelm v. Kügelgens hingewiesen, der Maler an einem mitteldeutschen Duodezhof war. Wie eine Fieberkurve verzeichnen sie die Stimmungslage der Führungsschichten vor der Revolution: „Wir leben in einer bösen Zeit. Ich trage mit mir das Gefühl eines Propheten herum, der in eine schwarze Zukunft blickt. Jetzt haben wir Hungersnot — tun wir noch eine Mißernte, so handelt es sich nicht mehr darum, sondern um eine gewaltsame Umgestaltung aller Verhältnisse. Ich fürchte sehr, daß Deutschland am Vorabend seiner Revolution steht“ (21. 4. 1847). Es unterliegt keinem Zweifel, daß die schlechten Ernten der letzten Jahre die politische Gärung vorantrieben, wie umgekehrt wohl auch die gute Ernte von 1848 und die gleichzeitig sich verbessernde Geschäftslage zu erhaltender Gesinnung beitrugen. Wie tief die Angst vor dem Hunger und die Ahnung des gesellschaftlichen Zerfalls das Sozialgefüge im Vormärz erschüttert hatten, erweist die Bevölkerungsbewegung. Am Vorabend der Industriellen Revolution wurde darin die alte vorindustrielle Beziehung von Getreidepreis und Bevölke­ rungswachstum noch einmal wirksam. Die jährliche Wachstumsrate seit den napoleonischen Kriegen spricht eine klare Sprache: Von 1,44 % 1818 fällt die Wachstumsrate fortlaufend bis 1830 auf 0,85 %. Danach steigt sie langsam wieder an und schwankt in den 1840er Jahren um 1 %. Das Jahr 1847 ver­ zeichnet ein ruckartiges Abfallen auf 0,5 %, 1848 wird mit 0,16 % der Tiefpunkt registriert. In den Jahren der wirtschaftlichen Erholung nach 1848 wird sehr rasch das Niveau der frühen 40er Jahre wieder erreicht, nur 1855 geht die Wadistumsrate noch einmal gegen Null. Wieder fällt der Tiefpunkt mit schlechten Ernteerträgen zusammen, der Weizenpreis steigt auf einen bis 1914 nicht mehr erreichten Pegelstand. Insgesamt aber steigen die Preise bei weitem nicht so, wie acht Jahre zuvor. Eine Revolution war damals nicht zu verzeich­ nen, nicht einmal größere soziale Unruhe. Das bedeutet, Entstehung und Verlauf der 48er Revolution in Deutschland sind zwar auf dem Hintergrund drückender wirtschaftlicher Verhältnisse zu sehen, werden dadurch aber nicht erklärt. Nach allem, was wir wissen, hat Stadelmann mit seiner Deutung der sozialpsychischen Wesenszüge des Vormärz den eigentlichen Tiefenbereich der Ursachen des „tollen Jahres“ bloßgelegt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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In der seelischen Unsicherheit und Gewissensqual, im Frösteln der Menschen, wenn sie an das Morgen dachten, sah er die Wurzel der Märzereignisse. Denn längst war die Legitimität der Gleichgewichts- und Friedensordnung von 1815 der nachfolgenden Generation fragwürdig geworden. Eine Ordnung aber, schrieb Stadelmann, die nicht mehr guten Gewissens gelebt wird, ist keine Ordnung mehr. Eine Welt, hinter der der Riesenschatten des Umsturzes auf­ taucht, ist keine normale Welt mehr16. Identitätsverlust und Entfremdung waren nur ein anderer Ausdruck dieses Zeitbewußtseins. Es gibt Altersbriefe Goethes, die ganz unter dem Zwiespalt einer stets sich überholenden Modernität stehen: „Alles, mein Theuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhalt­ sam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbei­ tet . . . Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und im Zeitstrudel fortge­ rissen. Reichthum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle Facilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu über­ bieten . . . Laß uns so viel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“ 17 Die 1840er Jahre waren reich an Vorzeichen, daß es so, wie es war, nicht weitergehen werde. Technik und Eisenbahn, Maschinenwebstuhl und Dampf­ maschine, Pauperelend, Anzweifelung der Religion und Angriffe auf das Eigen­ tum weckten die Ahnung des „sozialen Jüngsten Tages“ 18. Als Fatum stellten sensible Geister sich die kommende Katastrophe vor: „Ganz närrisch kommen mir diejenigen vor, welche verhoffen, durch ihre Philosopheme die Bewegung leiten und im rechten Gleise erhalten zu können. Sie sind die feuillants der bevorstehenden Bewegung. Letztere aber wird sich so gut wie die französische Revolution in Gestalt eines Naturereignisses entwickeln und alles an sich ziehen, was die menschliche Natur Höllisches an sich hat.“ 19 So liest man es in den jüngst veröffentlichten Briefen des jungen Jacob Burckhardt, 1846, als er sich, „ehe die bösen Tage kommen“ , von den Revolu­ tionsträumen seiner deutschen Freunde lossagte20. Als Menetekel der alten Ordnung, geradezu als Signal des Zerfalls, sind in diesen „Hungry Forties“ der Weberaufstand in Schlesien21 und die infolge der Kartoffelpest auftretende Hungerepidemie empfunden worden. Man lese bei Bettine v. Arnim nach, was das gebildete Deutschland noch von den be­ stehenden Verhältnissen hielt: „Den Armen helfen wollen, heißt jetzt, Aufruhr predigen.“ 22 Der alte Staat, war er noch mehr als eine sterile Bürokraten­ diktatur? Die Paupermassen, obwohl sie 1848/49 als drängende und stoßende Masse im Hintergrund verharrten, wirkten doch als Ferment des Zerfalls. Sie waren die elementare Gewalt, die zugleich den alten und den neuen Oberschichten ihr Dilemma offenbarte: daß der alte Staat diskreditiert war und doch die einzige Zuflucht bot, stand erst der rote Hahn auf dem Dach. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Dieses Dilemma hat die deutsche Revolution von Anfang bis Ende begleitet: Wie es ihre Entstehung erklärt, so hat es auch zu ihrem Scheitern beigetragen. III. Das Dilemma des Bürgertums. Die Revolution indessen kam nicht des­ halb, weil jeder auf sie wartete. Sie war mehr als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie war, unter anderem, die Bestätigung, daß in elementarer Weise die staatlichen Verhältnisse zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen in Widerspruch getreten waren. Daß dies zuerst und nicht ohne Überzeugungs­ kraft von Literaten und Männern der Theorie ausgesprochen wurde, hat den Märzereignissen den Ruf einer „Revolution der Intellektuellen“ (Namier) ein­ getragen. Daran ist soviel richtig, daß es vor allem die Anhänger der radikalen Demokratie — in zeitgenössischer Diktion: der roten Republik — waren, die der Massenbewegung die Stichworte zuwarfen, überwache, im vormärz­ lichen Sozialsystem unbehauste Geister. Aber so wenig die Revolution unmittel­ bar und unabweisbar aus dem Pauperelend erwuchs, so wenig wurde sie erdacht oder im platten Sinne gemacht. Aktionszentrum der Revolution in ihrer ersten Phase war die seltsame und tief widersprüchliche Koalition derer, die das industrielle System ausweiten und entwickeln wollten, mit denen, die von der Industrie nur Bedrohung ihrer Existenz erwarten konnten. Der die Zeit be­ herrschende Zwiespalt, „Untergang und Fortschritt“ (Gurland) war auch der Widerspruch der 48er Revolution. Wenn man auch heute den Bauernaufständen des März und April 1848 mehr Gewicht beimessen wird, als es die ältere Forschung tat23, so waren es doch vor allem drei Hauptgruppen, die sich als Akteure der Revolution identifi­ zieren lassen: in ihrem Sozialstatus bedrohte Handwerker, die die Vergangen­ heit, und die im alten Militär- und Beamtenstaat nicht mehr beheimateten Männer von Verdienst und Vermögen, die die Zukunft des Bürgertums reprä­ sentierten. Als dritte Gruppe endlich die Gesellen, die Gewerbefreiheit wollten, Mindestlöhne und den Maximalarbeitstag. In der Vergangenheit hatten sie in allem das schlechte Los gezogen. Ausgesetzt den Risiken des industriellen Wandels, hatten sie den Solidarschutz der Zunft, seit der Zerschlagung der Gesellenverbindungen durch Bundesbeschluß (1840) auch den der Gesellen­ Verbindungen verloren. Arbeit zu finden, wurde in den letzten Vormärzjahren immer schwerer. Was einer aber verdiente, zerrann ihm unter der Hand. Daß damals gleichwohl allein die bürgerliche Revolution denkbar und er­ reichbar war, findet vielfach Bestätigung. Nicht zuletzt durch die Analyse, die ein rheinischer Unternehmersohn dem „Status quo in Deutschland“ wid­ mete, in demselben Jahr 1847, da der Vereinigte Landtag in Berlin daran ging, den spätabsolutistischen Beamtenstaat zum bürgerlichen Verfassungsstaat zu machen und dafür zu sorgen, daß die staatliche Finanz- und Wirtschafts­ politik auf Förderung industrieller Interessen einschwenkte. Es hieß in dieser Schrift, das Großbürgertum sei der gefährlichste Feind der bestehenden Regie­ rungen und die einzige Klasse, die Deutschland gegenwärtig regieren könne. Faktisch sei die Bourgeoisie bereits die leitende Klasse. Ihre ganze Existenz © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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hänge davon ab, daß sie es auch rechtlich werde. Die „besitzlosen, vulgo arbeitenden Klassen“ ? Zersplittert in Ackerknechte, Tagelöhner, Handwerks­ gesellen, Fabrikarbeiter und Lumpenproletariat, zerstreut über eine dünn be­ völkerte Landfläche mit wenigen und schwachen Zentralpunkten, sei die Masse der Arbeiter in Deutschland unvorbereitet, die Leitung der öffentlichen Angele­ genheiten zu übernehmen und anstelle bürokratischer Herrschaft ihre eigene zu setzen. Der Autor der Schrift erfreute sich als sozialpolitischer Experte bereits einer gewissen Bekanntheit. Es war Friedrich Engels, der in dieser Weise aus dem politischen Rückhang der deutschen Verhältnisse den Schluß auf die Notwendigkeit der bürgerlichen Revolution zog24. Denn war erst die Bourgeoisie in den Endkampf gegen die alten Mächte verstrickt, so würde sich das Übrige finden. Indessen, zur revolutionären Schubkraft sind die Großkaufleute, Fabrikan­ ten, Bankiers, die Advokaten und Professoren weder 1847 noch danach ge­ worden. Zu tief waren längst die wirtschaftlichen Verflechtungen geworden zwischen Adel und Bürgertum, namentlich in Gutswirtschaft und Eisenbahnbau; zu tief verankert auch das historisch legitimierte Ideal der „Revolution von oben“ 25. Als die Bürger in den Märztagen handelten, taten sie es fast wider Willen und um Schlimmeres zu verhüten. Da nach den Barrikadenkämpfen die Macht buchstäblich auf der Straße lag, hoben sie sie auf und verwalteten sie halben Herzens in den kurzlebigen Märzministerien, die unschlüssig blieben, ob sie die Fortsetzung der Revolution oder den Beginn der Restauration ein­ läuten sollten. Noch in der Paulskirche betraten die Vertreter der Schichten von Besitz und Bildung — und sie waren dort praktisch unter sich — ganz überwiegend den Rechtsboden der Revolution nur notgedrungen26. Ein anderer stand nicht mehr zur Verfügung. Und doch gehört es zum Dilemma der Frankfurter Honoratiorenversamm­ lung, daß das Bündnis vom März schon im Mai 1848 unwiderruflich zerfallen war. Der illusive Bürgerkrieg der Republikaner im Seekreis, der rasche Aktio­ nismus der Demokratie hatten den Graben zwischen der in den Begriffen der Kontinuität und des bürgerlichen Verfassungsstaats denkenden Frankfurter Mehrheit und der deutschen Linken, ob sie nun in Frankfurt im Frack oder im zerschlissenen Rock der Freischaren daherkam, unendlich vertieft. Die Wucht der revolutionären Welle war gebrochen. Mit diesem Zwiespalt aber vollendete sich die Peripetie von der „schönen“ zur „häßlichen“ Revolution, wie Marx damals als Leitartikler der „Neuen Rheinischen Zeitung“ das Auf­ brechen des Klassengegensatzes von Bürgertum und Proletariat benannte27. Die Junischlacht von Paris hat die realpolitisch-konservativen Neigungen der Liberalen bestärkt. Aus der sozialen Frage erwuchs ein politisches Trauma. Im September 1848, als in Frankfurt die radikale Demokratie gegen den Waffenstillstand von Malmö rebellierte, erlebte das deutsche Bürgertum seine Junischlacht. Zu den Folgen gehörte die Leichtigkeit, mit der im Spätherbst 1848 die Gegenrevolution in Preußen in den Sattel stieg. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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IV. Gründe des Scheiterns. 1848 bezeichnet in der deutschen Geschichte den Zeitpunkt, da die soziale Frage unübersehbar aufstieg zur Verfassungs­ frage. Und doch kamen die Frankfurter Fraktionsprogramme, namentlich auch die der Linken, in diesem Punkt über Gemeinplätze kaum hinaus. Der erzieherische Appell behielt den Vorrang vor Abhilfe mit praktischen Mitteln wirtschaftlicher Art. Einen rudimentären Sozialplan entwickelte allein das der Rechten zuzuzählende „C asino“ , nicht ohne die Hoffnung auszudrücken, dagegen sei „der C ommunismus ausgeschlossen“ 28. Was sozialpolitisch in der Paulskirche dennoch geleistet wurde, geschah hauptsächlich durch Annahme der Grundrechte, die eine unverständige Kritik ganz links und ganz rechts von Anfang an zum Symbol parlamentarischer Klopffechterei zu erheben für gut fand. Historisch konnte sich die Paulskirchenversammlung auf das Vorbild der französischen Nationalversammlung von 1789 berufen. Politisch aber zogen die Grundrechte des deutschen Volkes einen Schlußstrich unter den kleinstaat­ lichen Landesabsolutismus der Vergangenheit. In der ländlichen Sozialverfas­ sung liquidierten sie die rechtlichen Überreste von Leib-, Grund- und Gerichts­ herrschaft. Selbst wenn ihnen nach dem Kehraus der Paulskirche unmittelbare Rechtswirkung versagt blieb, bestimmten sie doch den Maßstab, an dem in Zukunft die deutschen Landesverfassungen sich messen lassen mußten. Gescheitert aber ist die Paulskirche und mit ihr die bürgerliche Version der Einheit nicht an der in ihrer gesellschaftsformenden und staatsverändernden Wirkung damals noch kaum erfaßten sozialen Frage. Gescheitert ist sie nicht einmal an sich selbst, an dem Hang zur Vielrednerei, zum Schattenkampf um Geschäftsordnung und Formelkram, zu Prinzipienreiterei und theoretischer Weltbeglückung. Gescheitert ist die Paulskirche vielmehr an der zäh-historischen Tatsache, daß — wie die Dinge seit dem Bürgerkriegssommer 1848 lagen — die nationale Verfassung nicht zugleich eine freiheitliche sein konnte; daß, alles auf Vereinbarung der Verfassung mit den Regierungen setzen, hieß, auf die Drohung mit Fortsetzung der Revolution und, nebenbei bemerkt, eine eigene schlagkräftige Exekutive verzichten. Die Paulskirchenmehrheit war in diesem Punkt ein Opfer ihrer eigenen Interessenlage, aber sie handelte auch in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der Nation. Gescheitert ist die Paulskirche, mit anderen Worten, an dem Umstand, daß zu wenig Revolution gewesen war, um die historischen Staaten und namentlich Österreich und Preu­ ßen in ihrem Gefüge zu erschüttern und die große Flurbereinigung ins Werk zu setzen; daß aber zu viel Revolution gewesen war, um die naive Einheit von Liberalismus und Demokratie wieder herzustellen; zu viel Revolution auch, um die europäischen Großmächte an den Verschiebungen zu desinteressieren, die machtpolitisch in Deutschland auf der Tagesordnung standen. Denn seitdem zu Beginn der Neuzeit ein europäisches Mächtesystem entstan­ den war, bildete ein zerteiltes Deutschland die Voraussetzung des europäischen Gleichgewichts. Ganz Europa mußte in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn in seiner Mitte ein neues Kraftzentrum entstand. Im Frühjahr 1848 gab es indessen Anzeichen, daß der Zarenstaat eine konservative Berliner Lö© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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sung, das britische Kabinett eine liberale Frankfurter Lösung der deutschen Frage hätten annehmbar finden können. Beide Seiten erwarteten in dem neuen Deutschland den weltpolitischen Alliierten und ein Gegengewicht zur französi­ schen Republik. Die in den offenen Nationalitätenfragen zum Ausbruch kom­ mende Leidenschaft und die Kompromisse der Krone mit der Märzbewegung aber machten Rußland, die Prestigepolitik der Paulskirchenmehrheit in der Schleswig-Holstein-Frage England aus einem abwartenden Beobachter zu einem — nach Palmerston — „anxious observer“ der deutschen Angelegenheiten. Daß die Habsburger Monarchie überlebte, zählte die Regierung in St. Peters­ burg zu den Voraussetzungen ihrer eigenen Machtstellung in Europa. Die britische Politik aber gewann nach dem Waffenstillstand von Malmö eine platonische Sympathie für ein von Preußen geführtes Deutschland: „Es ist gegen die Idee des Deutschen Reiches nichts einzuwenden, als daß niemand es scheint zustandebringen zu können“ , äußerte Palmerston29. Im Spätsommer 1848 bereits stand die Paulskirchenmehrheit vor der Alter­ native, durch eine militante Politik in der Schleswig-Holstein-Frage alles auf die Karte der Revolution und, möglicherweise, des großen Krieges zu setzen, dabei aber auch eventuell, wenn Preußen sich verweigerte, ihre Impotenz zu erweisen, oder aber preußische Staatsräson als Maßstab ihres Handelns anzuerkennen. Sie tat, nach einigem Zögern, das letztere, und nach Lage der Dinge blieb ihr keine Wahl. Denn alles in allem standen die europäischen Mächte, das interventionsdrohende Rußland voran, nicht im Bunde mit der deutschen Revolution. Ein nationaler Machtstaat in der Mitte Europas, so hat Disraeli es 1871 ausgesprochen, war der Umsturz des Gleichgewichts30. Wer, außer den Deutschen, konnte bereit sein, diesen Preis zu zahlen? Im Blick auf die Reichsgründung „von oben“ aber bleibt daran zu erinnern, daß sie erst in dem „Wellental“ der Großmachtpolitik zwischen Krimkrieg und imperialistischer Epoche Gestalt gewann31. Daß die Einheit in Freiheit 1848/49 scheiterte, war nicht unabwendbar, aber es entbehrte nicht historischer Logik. Außenseite dieses Scheiterns war der Widerstand der Großmächte, subtil im Falle Englands, brutal im Falle Rußlands. Zur Innenseite des Scheiterns gehörte die Hypothese der Pauls­ kirche, daß Deutschland bereits ein Nationalstaat sei. Sic traf nicht zu, und sie stimmte im Frühling 1849, als man die Verfassung beschloß, noch weniger als ein Jahr zuvor. Die einfache Option für „Freiheit“ oder „Einheit“ hat sich 1848/49 nicht gestellt. Denn das eine war nicht zu bewerkstelligen ohne das andere, der liberale Verfassungsstaat erschien nicht denkbar ohne den National­ staat. Indem aber die Paulskirchenmehrheit diese Prämisse übernahm, band sie ihr Schicksal an die preußische Staatspolitik. Sie trat damit nicht nur in unlösbaren Widerspruch zum Interesse Österreichs und — mit Abstufungen — des „Dritten Deutschland“ 32. Sie hat damit auch der großpreußischen Lösung von 1866/71 vorgearbeitet. Für die preußische Option sprachen gute Gründe, wirtschaftliche nicht weniger als politische. Auch hat der damals beschrittene Weg für mehr als ein Jahrhundert fast normative Geltung behalten, obwohl © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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doch sein Ende nicht ohne Beziehung stand zu seinen Anfängen. Franz Schnabel hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage nach den Besiegten im Prozeß der Reichsgründung aufgeworfen, die zugleich den verschütteten Alternativen und dem Verlauf des deutschen Sonderwegs im 19. Jahrhundert galt33. Die neuere Debatte um den Bismarckstaat hat manche Teilantwort erbracht. Es spricht aber manches dafür, daß heute, da die Suche nach einer friedenstiftenden Organisation zur Lebensfrage Europas geworden ist, Antworten geboten sind, die dem politischen Selbstverständnis einen freieren und weiteren historischen Horizont öffnen. Zu den Wegmarken dieses deutschen Sonderwegs im 19. Jahrhundert gehörte es, daß, beginnend mit der nach-revolutionären Malaise des Liberalismus, die nationale Frage sich durch die konstitutionelle „fraß“ . Beides zusammen aber, Bildung und Festigung der industriellen Klassenfronten im Innern und die Gewalt der europäischen Mächtekonstellation, fügen die Ereignisse von 1848/49 in die Kontinuität der „abgeschnittenen sozialen Krise“ , die seit dem aufgeklär­ ten Absolutismus Signatur der neueren deutschen Geschichte wurde34. Die Gründung des Bismarckstaats hat in ihrer Weise die Fragen beantwortet, die 1848 gestellt worden waren. Sie war Höhepunkt und Abschluß der großen konservativen Gegenströmung zur liberal-nationalen Bewegung von 1848. Der unvollendete Nationalstaat aber beruhte auf einer gefährlichen, über sich selbst hinaustreibenden Dynamik. In einer großen Denkschrift warnte 1849 ein bayerischer Staatsmann europäischer Statur, der Freiherr Ludwig von der Pfordten, vor jenem kleindeutsch-preußischen Reich, das die Pauls­ kirche erstrebt hatte und das Preußen vor die Versuchung mitteleuropäischer Hegemonie stellte: „Sind Österreich und Deutschland einmal förmlich geschie­ den, so werden sie sich schwer, wohl niemals wieder vereinigen. Dann wird im österreichischen Staat das deutsche Element sehr in den Hintergrund ge­ drängt werden, wo nicht ganz unterliegen. In Deutschland aber wird die Zentralisierung unaufhaltsam vorwärtsgehen, und es ist dann, vielleicht in nicht sehr ferner Zeit, wahrscheinlich, daß dieser große rein deutsche Staat eine mächtige Attraktion auf die in Österreich unterliegenden deutschen Ele­ mente übt.“ Der Zerfall der habsburgischen Monarchie würde aber die aus ihr entlassenen Nationalitäten früher oder später zur Beute Rußlands machen und das Deutschtum zwischen Slawen und Romanen in eine auf die Dauer unhaltbare Stellung drängen. Es blieb das ceterum censeo des bayerischen Ministerpräsidenten, die beiden deutschen Großmächte müßten sich einigen. Gelinge die Einigung, so werde das Reich der deutschen Nation Europa beherr­ schen. Gelinge sie aber nicht, so werde es sich auflösen. Und Deutschland nichts mehr sein als „ein nur geographischer Begriff“ 35. Das ist klug und weit gesehen. Aber zwischen 1849 und 1945 ist noch viel geschehen, und manches anders gekommen ist. Der Ruf der Kassandra aber erweist, wie tief die Stoßwellen der Revolution das Staatensystem erschüttert hatten, welchen Gefährdungen die „verspätete Nation“ entgegenging, und wie trügerisch die Ruhe der auf 1848 folgenden Reaktionsperiode war. Von der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Pfordtens eigenes Ziel, Wiederherstellung eines deutschen Gleichgewichts als Vorbedingung der europäischen Friedensordnung, erschien von der Zeit bereits überholt. Aber 1848 machte nicht nur die Risse im alteuropäischen System des Gleich­ gewichts sichtbar. Die sozialen Kämpfe der Revolution waren auch untrennbar verbunden mit dem europäischen Problem des deutschen Nationalstaats. Denn allein indem es, widerwillig genug, die Rolle der deutschen Führungsmacht an sich zog und sich damit auf unabsehbare Risiken einließ, konnte das Preußen des Ancien Régime vitale Interessen des industriellen Bürgertums aufnehmen, ohne sich selbst preiszugeben. Dieser Widerspruch aber, der schon der Wider­ spruch der bestimmenden Kräfte der 48er Revolution war, hat die Geschichte des deutschen Nationalstaats von Anfang bis Ende überschattet. Denn auch das gehört zur Wirkungsgeschichte des „tollen Jahres“ , daß der Überdruck sich verschränkender und verstärkender Verspätungen anstieg. Der für Mitteleuropa typische Prozeß partieller Modernisierung wurde über die Reichsgründung hinaus weitergeschoben. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzei­ tigen, Industrielle Revolution im Gehäuse des Militär- und Beamtenstaats, prägte das Bismarckreich. Dahinter aber standen die Paradoxien und unerfüll­ ten Möglichkeiten des deutschen Bürgertums: der Rückhang der industriewirt­ schaftlichen Entwicklung, der Mangel eines nationalen Aktionszentrums, wie Paris es durch alle Revolutionen Frankreichs gewesen war; die unübersehbare Dominanz des Staates als gesellschaftliche Ordnungsmacht. Und doch kam 1848 vieles in Gang, wurden in Mitteleuropa seit Jahrzehnten aufgestaute wirtschaftliche und politische Energien frei. Aber komplementär zum wirtschaft­ lichen Aufstieg des Bürgertums, wie er damals mit Macht einsetzte, verlief die militärische Phase der „Revolution von oben“ , gipfelnd in der Reichsgrün­ dung. Und was immer an freiheitlichen Zielsetzungen geblieben war, wurde überschattet durch die Angst vor drohender sozialer Umwälzung. Denn es gehörte zu den Paradoxien der Revolutionszeit, daß die lohnabhängigen Schichten, die Niederlage auf Niederlage einsteckten, zum Bewußtsein ihrer Klasseninteressen gelangten, während das Großbürgertum nach Erreichung seiner wichtigsten finanz- und wirtschaftspolitischen Zwecke im Politischen die Identität mit sich selbst verlor und aus den Ereignissen von 1848/49 den Schluß zog, daß man, alles in allem, mit dem allgemeinen Wahlrecht gefähr­ licher lebe als in der Obhut des — mit Thomas Mann zu sprechen — „General Dr. von Staat“ 36. 1848/49 hatte die deutsche Geschichte einen Wendepunkt erreicht, aber, wie A. J . P. Taylor bemerkte, sie unterließ die Wendung. Und doch blieb, was vom März 1848 bis in den Frühsommer 1849 geschah, nicht folgenlos. Denn das Erbe der bürgerlichen Epoche an die deutsche Geschichte reicht so weit, wie Selbstbestimmung der Nation, liberaler Verfassungsstaat und die Würde des Menschen Ziel und Maßstab einer freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens bleiben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Anmerkungen 1 R. Stadelmann, Deutschland u. die westeuropäischen Revolutionen, in: ders., Deutschland u. Westeuropa, Laupheim 1948, 11—33. — Geringfügig erweiterte und mit Nachweisen versehene Fassung einer am 12. XII. 1973 an der Friedrich-Alexander­ Universität zu Erlangen gehaltenen Akademischen Antrittsvorlesung. Der Vortrag führt Überlegungen fort, die zum 125. Jahrestag der Eröffnung der Nationalver­ sammlung in der Frankfurter Paulskirche in der Wochenzeitung „Das Parlament“ am 19. Mai 1973 veröffentlicht wurden. 2 O. v. Bismarck, Die Gesammelten Werke, X, Berlin 31928, 140 (29. 9. 1862). 3 Hier ist vor allem das in vielem noch heute gültige große Werk Veit Valentins zu nennen: Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, 2 Bde., Berlin 1930, Köln 21970. 4 Neue Rheinische Zeitung 29. 6. 1848. 5 Zum Bild der Revolution von 1848 in spätmarxistischer Sicht: A. Dorpalen, Die Revolution von 1848 in der Geschichtsschreibung der DDR, HZ 210. 1970, 324—68; zuletzt noch einmal mit programmatischem Anspruch W. Schmidt, Zur histo­ rischen Stellung der 48er Revolution, in: Bartel/Engelberg Hrsg., Die großpreußisch­ militaristische Reichsgründung, I, Berlin 1971, 1—23. 6 T. S. Hamerow, 1848, in: The Responsibility of Power, Fs. H. Holborn, Hrsg. L. Krieger u. F. Stern, London 1968, 145. 7 Zu den drei „zentralen Verfassungsproblemen des 19. Jahrhunderts“ : E. W. Böckenförde, Verfassungsproblem u. Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: ders. u. R. Wahl Hrsg., Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972, 15—21. 8 Zur geistigen Wirkung der Julirevolution: T. Schieder, Die Revolution im 19. Jahrhundert, in: ders., Staat u. Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 21970, 14. 9 Über die integrierende Wirkung der landständischen Verfassungen auf die neuen Mittelstaaten des deutschen Südens F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun­ dert, II, Freiburg 21949, 78—86. 10 Über das Dilemma der preußischen Führungsschichten nach den napoleonischen Kriegen vor allem R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung u. soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967. 11 Zu dem deutschen Grundwiderspruch der sich entwickelnden industriellen Gesell­ schaft zur vorindustriellen Staatlichkeit zuletzt M. R. Lepsius, Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, Fs. für F. Lütge, Stuttgart 1966, 371 bis 393. 12 Aus der Denkschrift D. Hansemanns für den preußischen König, 31. 12. 1830, in: J . Hansen Hrsg., Rheinische Briefe u. Akten zur Geschichte der politischen Bewe­ gung, 1830—1850, I (1830—1845), Leipzig 1919, 9—81. 13 Zusammenfassend: W. Abel, Massenarmut u. Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972. 14 Die Angaben über Ernteergebnisse und Bevölkerungsbewegung nach W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahr­ hunderts, Berlin 1965, 278 f., 285 f., 540 f., 552 f., 172 f. 15 Die Preisangaben über Kartoffeln nach W. v. Kügelgen, Lebenserinnerungen des Alten Mannes, 1840—1867, Leipzig 1923, 109; Brief Kügelgens vom 21. 4. 1847, 108. 16 R. Stadelmann, Soziale u. politische Geschichte der Revolution von 1848, Mün­ chen 1948 (41973), 5, 17. 17 Goethe an Zelter, 6. 6. 1825, in: Goethes Werke, IV, Abt., 39 Bd., Weimar 1907, 214—16.

16 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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18 J . Burckhardt an H. Schauenburg, 5. 3. 1846, in: J . Burckhardt, Briefe, IT, Basel 1952, 210. 19 Ebd. 20 Burckhardt an G. Kinkel, 9. 12. 1846, ebd., III, Basel 1955, 46. 21 Valentin, I, 51—55. 22 Zit. ebd., 51. 23 Neuere Arbeiten über die Bauernaufstände des Frühjahrs 1848 bei Dorpalen, 340 f. 24 F. Engels, Die Status quo in Deutschland, MEW IV, 40—56. Die These von der Schlüsselrolle des Großbürgertums in der wissenschaftlichen Literatur vor allem bei J . Droz, Les Révolutions Allemandes de 1848, Paris 1957, 189. 25 Über wirtschaftliche Verflechtungen von Adel und Bürgertum im Vormärz: H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Pro­ bleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 7—49: D. Eichholtz, Junker u. Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin 1962. Zur Kontinuitätslinie der „Revolution von oben“ W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler Hrsg., Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 41973, 415—36. Das klassische Programm des aufgeklärten Absolutismus angesichts der französischen Revolution in der Formulierung des neu-adligen Ministers v. Struen­ see gegenüber dem französischen C hargé d'affaires, nach dem Bericht Ottos an den „citoyen ministre“ Talleyrand, Berlin 26 thermidor an VII: „Sie haben allein die Aristokratie gegen sich; der König und das Volk sind entschieden für Frankreich. Die sehr nützliche Revolution, die Sie von unten nach oben durchgeführt haben, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten machen. Der König ist in seiner Art ein Demokrat; er arbeitet unermüdlich daran, die Privilegien des Adels zu beseitigen, und er folgt dabei dem Plan Josephs II., aber mit langsameren Methoden. In wenigen Jahren wird es keine privilegierte Klasse mehr in Preußen geben . . .“ P. Bailleu, Preu­ ßen und Frankreich von 1795—1807, I, Berlin 1881, 505. 26 Zur Zusammensetzung des Paulskirchenparlaments F. Eyck, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848—49, München 1973. 27 Neue Rhein. Zeitung 29. 6. 1848. 28 Das Programm der Fraktion „C asino“ bei W. Boldt, Die Anfänge des deutschen Parteiwesens, Paderborn 1971, 166 f. 29 Über die Wandlungen im Verhältnis der Großmächte zur Revolution in Deutsch­ land: W. E. Mosse, The European Powers and the German Question 1848—71, Cambridge 1971, 13—48; die Zitate Palmerstons ebd., 29, 31. 30 Zur Veränderung des europäischen Mächtesystems durch die Reichsgründung und Disraelis Beurteilung A. Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, Freibure 1972. 126 f. 31 L. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948, 188—95. 32 Zum Problem des „Dritten Deutschland“ in der Revolution die weiterführende Studie von H. Rumpier, Die deutsche Politik des Freiherrn v. Beust, 1848 — 1850, Köln 1972. 33 F. Schnabel, Das Problem Bismarck (1949), in: ders., Abhandlungen u. Vorträge, Freiburg 1970, 196—216. 34 Vgl. J . Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (Zusätze über Ursprung u. Beschaffenheit der heutigen Krisis), Darmstadt 1962 (Werke V), 140—150. 35 V. d. Pfordtens Denkschrift vom 5. Mai 1849 vollständig veröffentlicht bei: M. Doebcrl, Bayern und das preußische Unionsprojekt, München 1926, 90—99; ergänzend Schnabel, O. v. Bismarck (1965), in: ders., Abhandlungen, 359. Deutschland als „nur geographischer Begriff“ , aus dem Zirkularerlaß v. d. Pfordtens vom 8. Mai 1852, zit. bei Doeberl, 85 f. 38 „General Dr. von Staat“ , aus den Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt 1918.

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14. Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848-1918 Von HERBERT M A T I S

In seiner Studie „Große Depression und Bismarckzeit“ hat Hans Rosenberg 1967 auf die Rolle der „langfristigen Fluktuationen des wirtschaftlichen Ab­ laufes“ und deren Bedeutung für das historische Verständnis allgemein ge­ schichtlicher Erscheinungen hingewiesen1. Dieser Denkansatz erscheint als heuri­ stisches Prinzip auch generell zur Interpretation geistesgeschichtlicher Phäno­ mene und Zusammenhänge äußerst fruchtbar, wenngleich er auch seither nur selten aufgegriffen worden ist. Dies gilt in besonderem Maße für die Geschichte des Liberalismus in Österreich, obwohl auch hier die kausale Verknüpfung von Wirtschaftskonjunktur und politisch-gesellschaftlichem Strukturwandel ge­ rade etwa im Hinblick auf den langen Konjunkturabschwung 1873—1896 evident erscheint. Die Vertiefung des methodischen Ansatzes durch eine stärkere Einbeziehung und Beachtung sozioökonomischer Faktoren, insbesondere der „langen Wechsellagen“ entspricht nicht nur der Interdependenz der einzelnen Lebensbereiche menschlichen Seins, sondern würde zweifellos auch den Blick auf eine universalere Betrachtung verschiedener Erscheinungsformen eröffnen, die bisher eine Reduzierung auf ihre geistesgeschichtlich-politischen und ver­ fassungsrechtlichen Komponenten erfahren haben2. Für die Geschichte des Liberalimus in Österreich erscheint zunächst ein Auseinandertreten von ökonomischem und politischem Liberalismus auffällig, was einerseits eng mit der spezifischen Eigenart der heterogenen sozioökenomi­ schen und ethnisch-nationalen Struktur des Vielvölkerreiches zusammenhängen dürfte, andererseits durch die konjunkturelle Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung der Donaumonarchie entscheidend mitgeformt wurde3. Dem Feh­ len eines Synchronismus von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus kam aber auch die ,paläoliberale' Anschauung, wonach jeder Lebensbereich, darunter auch Gesellschaft, Staat, Religion und Wirtschaft, autonom nach eige­ nen Gesetzen funktioniere, entgegen. Auch in Österreich herrschte die An­ schauung vor, daß „der Zweck des Staates sich auf den Schutz der natürlichen Rechte, auf Ausübung der Rechtspflege und der Staatsgewalt beschränke, während er die Wirtschaft sich selbst überlassen und lediglich alle die wirt­ schaftliche Tätigkeit hemmenden Hindernisse wegräumen“ sollte“4. Der Wirtschaftsliberalismus fand seine ersten Anhänger in Österreich unter der hohen Ministerialbürokratie des Vormärz5, er wurde zur dominierenden 16

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wirtschaftspolitischen Anschauung und zum Instrument der herrschenden Schicht während des Neoabsolutismus; diese beiden ungleichen Partner gingen eine Symbiose zum beiderseitigen Vorteil ein. Demgegenüber brachte der Sieg des Konstitutionalismus wohl die Erfüllung der politischen Forderungen der Bourgeoisie, die allmähliche Ausweitung des Parlamentarismus ließ jedoch die verschiedenen politischen und nationalen Interessengruppen größeren Ein­ fluß gewinnen, die zur Durchsetzung ihrer spezifischen Anliegen das freie Spiel der ökonomischen Kräfte einzuengen wußten. Während der bei den Liberalen so verhaßte Neoabsolutismus in der Wirtschaft für den Gedanken des ,Laissez­ faire' eintrat und dem politischen Machtanspruch des Bürgertums mit der bewährten ,Enrichissez-vous'-Formel begegnete, sich sonst aber jede Einmi­ schung in die Politik verbat, leistete das 1861 zum Durchbruch gelangende parlamentarische Prinzip indirekt einem staatlichen Interventionismus und partei- und nationalitätenpolitischen Proporzsystem Vorschub6. Dieses Auseinandertreten von politischem und ökonomischem Liberalismus ist ein charakteristisches Spezifikum der österreichischen Entwicklung; so be­ tonte etwa einmal der bekannte liberale Politiker Eduard Sueß, „es sei eine auf bloßer Wortähnlichkeit beruhende Verwechslung ganz verschiedener Din­ ge, wenn man politische und wirtschaftliche Freiheit in einen Topf würfe“ 7. Die Anschauung, daß „das größtmöglichste Wohl der Menschheit nur auf Grundlage möglichst großer Freiheit des Einzelnen, sowie möglichst tiefer Ver­ standes- und Herzensbildung desselben“ zu erblicken sei, wurde wohl allgemein akzeptiert, wobei sich jedoch bereits bei der Interpretation dessen, welche Mittel zur Erreichung dieser Ziele einzusetzen seien, bemerkenswerte Diskrepanzen ergeben konnten8. Auf diese Weise war es möglich, daß sich in Österreich jene an sich groteske Situation ergab, daß liberale Politiker und Unternehmer die Front der Schutzzöllner anführten und interventionistische Eingriffe des Staates begehrten, sobald dies ihren wirtschaftlichen Interessen entsprach, daß andererseits der Liberalismus bei der Ministerialbürokratie des Neoabsolutismus zur „Waffe der Josephinisten des Industriezeitalters“ werden konnte und „bei der Unterhöhlung der überkommenen Ordnungen zentrale Pionierfunktionen erfüllte“ 9. In dem Maße, da sich die in der Aufklärungsphilosophie und dem modernen Individualismus wurzelnde, ehedem rein geistig-weltanschauliche Strömung zum Parteiprogramm einer bourgeoisen Führungsschicht verdichtete, und sich der einst als „Religion der Freiheit“ begrüßte Liberalismus, der „ein neues Menschheitsbewußtsein, eine erweiterte, erhellte Ansicht des Lebens“ erweckt hatte, zum Instrument einer dem ursprünglichen Gleichheitsprinzip widerspre­ chenden Eliteideologie entfremdete, zerfiel die ursprünglich einheitliche Bewe­ gung in liberale Politik, liberale Geisteshaltung und ökonomischen Liberalis­ mus10. Umspannte der Liberalismus anfangs aufgrund der gemeinsamen natur­ rechtlichen Ideologie noch die gesamte gegen Feudalismus und Absolutismus gerichtete Oppositionsbewegung von der äußersten Linken bis zu den auf­ steigenden Schichten des Bürgertums auf der Rechten, so zeigte es sich später, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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daß die einzelnen Richtungen unter den Schlagworten Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität, die eine gemeinsame Basis und kurzfristig eine Interessen­ gleichheit vorgetäuscht hatten, etwas Verschiedenes und Abgestuftes verstan­ den11. Für den Liberalismus in Österreich wurde es schicksalhaft, daß er in das Spannungsfeld zweier sich antagonistisch gegenüberstehender staatspolitischer Kräfte geriet, zweier säkularer Strömungen, die einen bestimmenden Einfluß auf die politisch-staatliche Entwicklung des Habsburgerreiches ausübten: des zentralistischen Prinzips josephinisch-bürokratischer Prägung und des konserva­ tiv-nationalen Föderalismus12. Obwohl das Bündnis zwischen Liberalismus und Staatsmacht bereits auch in den Ansätzen der frühliberalen politischen Doktrin enthalten war, so in der Primärsetzung staatlicher Autorität, der Lösung der ,sozialen Frage' im Sinne bürgerlich-individualistischer Prioritäten und der Entscheidung des Kon­ flikts zwischen ,Freiheit und Einheit' zugunsten des Einheitsstaates, ist diese Diskrepanz, die im Bündnis zwischen autoritärem Absolutismus und wirtschaft­ lichem Liberalismus im alten Österreich zum Ausdruck kommt, vor allem durch das Fortleben des Josephinismus zu erklären, der mit dem Liberalismus eine gemeinsame Wurzel im naturrechtlichen Denken der Aufklärung hatte13. Entscheidend war dabei, daß sich der Staat als zentraler Ordnungsbereich und gestaltbildendes Prinzip in Form des josephinischen ,Wohlfahrtsstaates' gegenüber der ,westlichen' Idee des ,Rechtsstaates' durchsetzen konnte. Dieses Ideal war für mehrere Generationen der bürgerlichen Intelligenz die einigende ,Staatsidee' in einem der inneren Desintegration zutreibenden Vielvölkerreich. Charakteristisches Moment dieser Geisteshaltung war nicht nur die positive Einstellung zum Staat, sondern auch die Bereitschaft zur ,Revolution von oben'. Auf diese Weise konnte die Bürokratie zugleich die „wichtigste Stütze der autoritären Ordnung in Mitteleuropa“ , aber auch der „mächtigste Hebel der Revolutionierung der Gesellschaftsordnung“ werden14. Hinter dem bedeu­ tenden Einfluß der Beamtenschaft mit ihrer josephinischen Standesideologie mußten die beiden anderen Wurzeln des vormärzlichen Liberalismus, die frei­ sinnige Aristokratie und die demokratische Richtung, zurücktreten. Des Ein­ verständnisses der Wirtschaft war man umso mehr gewiß, als das Streben nach dem Einheitsstaat derem Interesse entgegenkam, „sich ein erweitertes Absatz­ gebiet durch Neuordnung des Rechtes und des Staates bis zum letzten Vorteil zu erschließen“ 15. Wohl hatten im Jahre 1848 die Stände selber den auslösenden Schritt voll­ zogen, der der Reformbewegung den Ausdruck einer Revolution verlieh; die Geschehnisse selbst entglitten jedoch ihrer Kontrolle, so daß sie bald unter dem Druck der Straße handelten, gegen den sie vergebens anzukämpfen suchten. Die ,Altliberalen' sahen sich daher seitens der demokratischen Richtung bald dem Vorwurf ausgesetzt, in der Theorie wohl sehr weit zu gehen, „sobald es sich aber um die Anwendung in der Praxis handelte, dann war ihnen das Metternichsche System immer noch ein kleineres Übel als das allgemeine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Stimmrecht“ 16. Der das Erbe der Revolution antretende Neoabsolutismus bekannte sich als „Garant für Ruhe und Ordnung“ und entsprach damit weit­ gehend dem Schutzbedürfnis nach Frieden und Sicherheit, das die ursprüngli­ chen Initiatoren der Bewegung, die bestürzt eine zunehmende Radikalisierung der Revolutionsziele festgestellt hatten, entwickelten17. Dennoch war auch dem neuen Regime klar, daß eine bedingungslose Rückkehr zu den Maximen des Vormärz nicht mehr möglich war, denn der Einbruch der neuen Zeit war zu tief gewesen, und wie Kübeck, einer der maßgeblichsten Vertreter dieses Kurses bereits 1832 erkannte, „die politischen Umwälzungen sind nur die Symptome einer größeren, tieferen Revolution in der Gesellschaft selbst“ 18. Man trachtete vielmehr, gewisse Errungenschaften der Revolution, wie etwa die Grundentlastung und die Institution der Handels- und Gewerbekammern in die franzisko-josephinische Ära hinüberzuretten und die Liberalen von 1848 als staatserhaltende Kräfte zu integrieren, wobei man sich auf die josephinische und die ständisch-konservative Komponente im Österreichischen Liberalismus beziehen konnte19. Obwohl sich damit der Neoabsolutismus, ein „durch einen bürokratisch­ zentralistischen Ministerialbürokratismus gelenktes System der staatlichen Ver­ waltung“ , auf der einen Seite als institutionelle Verkörperung des ,Obrigkeits­ staates' präsentierte, suchte er auf der anderen Seite die Einbußen an politischer Freiheit durch „Beförderung der äußeren Wohlfahrt“ auf dem Erlaßwege zu kompensieren. Je mehr sich die Regierung vom Boden der Verfassung ent­ fernte, je weniger sie sich mit dem Reichstag in der Verantwortung teilte, desto mehr mußte sie aus eigener Initiative um eine Modernisierung des Staatsapparates und die Durchführung zeitgemäßer Reformen zum wirtschaft­ lichen, gesellschaftlichen und politischen Neubau der Monarchie besorgt sein20. Das Jahrzehnt von 1848 bis 1859 wurde auf diese Weise zu einem der bedeutungsreichsten in der Geschichte Österreichs, denn in Verwaltung, Justiz, Finanz- und Bildungswesen und in weiten Bereichen der Wirtschaft sind damals gleichsam in Form einer ,Revolution von oben' die Grundlagen ent­ standen, auf die aufbauend sich die weitere Entwicklung der Donaumonarchie bis zu ihrem Ende vollzog. Der Neoabsolutismus, der den revolutionären Schwung von 1848 auffing und diesen in friedlichere evolutionäre Bahnen leiten wollte, ließ sich dabei nach einem Ausspruch des Freiherrn v. Hock, einer der führenden Mitarbeiter Brucks und Exponent der liberalen Bürokratie, von dem Motto „alles für das Volk, nichts durch das Volk“ leiten21. Der Staat sicherte als oberste Ord­ nungsmacht die Voraussetzung für die Entfaltung unternehmerisch-innovatori­ scher Initiativen und schuf den rechtlich-administrativen Rahmen für einen auf privatwirtschaftlicher Basis sich vollziehenden Aufschwung, der in einer ersten ,Gründerzeit' kumulierte. Er begünstigte sowohl die private Unterneh­ mertätigkeit als auch die volkswirtschaftlich bedeutsame Zusammenfassung des zersplitterten Sparkapitals durch neue Kreditinstitute, die zu einem die wirtschaftliche Dynamik stark beeinflussenden Instrument ausgebaut wurden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Als man seit 1854 das Staatsbahnsystem aufzulösen begann und privaten Interessen überantwortete, wurde auch das volkswirtschaftlich und strategisch wichtige Verkehrswesen weithin der Privatinitiative überlassen, wobei sich die Institution der Aktiengesellschaft als geeignetste Form zur Aufbringung großer Kapitalsummen erwies und fortab zur dominierenden Finanzierungs­ form der kapitalistischen Industriewirtschaft wurde. Das neue Regime saß fest genug im Sattel, um sämtliche innenpolitischen Obstruktionen und die separatistischen Neigungen der Magyaren beiseite zu schieben, auf zentralisti­ scher Grundlage ein einheitliches Zoll- und Wirtschaftsgebiet mit Ungarn zu erreichen, und darüber hinaus den politischen Machtanspruch im Deutschen Bunde mit wirtschaftlichen Hegemonieplänen im Deutschen Zollverein zu ver­ binden22. Die schon länger anhängigen Probleme der Agrarreform, der Gewerbe­ ordnung und der Zoll- und Tarifpolitik, in denen ein Ausgleich für die verschiedensten divergierenden wirtschaftlichen und nationalen Interessen ge­ funden werden mußte, und von denen langfristig die wohl bedeutsamsten Folgen ausgingen, wurden gleichfalls im liberalen Sinne entschieden. Vor allem die Aufhebung der feudalen Agrarverfassung und Patrimonialgewalt und die Gewerbefreiheit, die eine Absage an das fürstliche Privilegienwesen und die alte Tradition der Zunftorganisation bedeutete, waren wichtige Vor­ aussetzungen für die Industrielle Revolution, weil sie anstelle einer den mo­ dernen rationellen Produktionsmethoden entgegenstehenden Sonderverfassung das Prinzip der freien Konkurrenz setzten, sie damit dem Markt und seinen spezifischen Gesetzen unterwarfen und in die liberale, auf freien Eigentums­ rechten basierende Ordnung der Wirtschaft einbezogen. Als 1851 der Prohibi­ tionismus überwunden und zusammen mit Ungarn ein einheitliches Zollgebiet erreicht worden war, bedeutete diese Wiederaufnahme und Realisierung des alten josephimschen Planes einer Zollunion und die begleitende gemäßigt schutzzöllnerische Tarifgesetzgebung die Voraussetzung des gemeinsamen öster­ reichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes, das bis 1918 Bestand hatte23. Die staatliche Bürokratie war auf diese Weise Schrittmacher auf dem Wege wirtschaftlichen Fortschritts und half, die alte Ordnung zu beseitigen, „nicht zuletzt, um nun an die Stelle der je länger je mehr uneffizienten Konstruktion des partikularistischen Ständestaates die rationale Konstruktion bürokratischer Verwaltung zu setzen“ 24. Von außerordentlicher Bedeutung war die staatliche Aktivität bei der Herstellung des rechtlichen Rahmens privatwirtschaftlicher Tätigkeit (Wechselordnung von 1850, Marken- und Musterschutzgesetz von 1858, Vorverhandlungen zum Allgemeinen Handelsgesetzbuch). Der Staat schuf einerseits die administrativen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für das weitere Wachstum, andererseits begünstigte er die Mitwirkung der Privat­ wirtschaft bei der Formulierung der Ziele und der Auswahl der Mittel der Wirtschaftspolitik. Dies fand in der Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmerschaft einen Ausdruck, als die Korporationen der Kaufmannschaft und der Gewerbetreibenden nach französischem Vorbild amtlichen C harakter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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erhielten; die Handels- und Gewerbekammern bildeten fortab ein wichtiges Führungsinstrument der Wirtschaft25. Der Bourgeoisie sollte hier auf wirt­ schaftlichem Gebiet eine Kompensation für die Ablehnung ihrer politisch­ konstitutionellen Forderungen gegeben werden, ganz im Sinne Grillparzers, der bereits 1842 schrieb: „Sie wollen Freiheit, nun wohlan! Gebt ihnen eine Eisenbahn, da mögen sie dann frei verkehren, der Schacher wird sie dienen lehren.“ 26 Die liberale Wirtschaftspolitik der Regierung, vor allem seit der Lockerung des Schutzzollsystems im Handelsvertrag mit dem Zollverein, fand allerdings keineswegs den ungeteilten Beifall der Unternehmerschaft, deren Widerstand seit der Krise von 1857 auch organisiertere Formen annahm. Die Depression der späten 50er Jahre rief in Österreich neuerlich die Schutzzollbewegung auf den Plan und die Handelskrise war für zahlreiche Industrielle, die im Abgehen vom Prinzip des Hochschutzzolls die Ursache der wirtschaftlichen Stockung erblickten, ein Anlaß, gegen den Februarvertrag von 1853 zu oppo­ nieren27. Besonders ,liberale' Politiker wie Giskra und Herbst plädierten für die Rückkehr zum Hochschutzzoll, aber auch die Textil- und Eisenindustriellen traten mit zahlreichen Petitionen hervor und argumentierten, „Österreich wür­ de von der Höhe seiner aufgeklärten volkswirtschaftlichen Ansichten herab­ steigen, wenn es die Prinzipien und die Sorgfalt des Schutzes seiner Industrie verleugnete“ 28. Infolge der Gegenzüge der Bürokratie kam es jedoch zu keiner Aufhebung des Februarvertrages, und Finanzminister Bruk rückte von seinem Projekt einer Zollunion mit Deutschland aufgrund niederer Differentialzölle nicht ab. Obwohl sich rein formell die staatliche Wirtschaftslenkung auf Probleme der Währung, der Steuern und des Außenhandels beschränkte, legte die Staats­ verwaltung in der Praxis jedoch die grundsätzlichen Wachstumsmuster und -srategien für die Wirtschaft des Vielvökerreiches fest. Die niederösterreichi­ sche Handelskammer durfte daher 1860 in ihrem Bericht an das Handelsmini­ sterium nicht zu Unrecht konstatieren: „Es ist in den letzten Jahren, abgesehen von den eigenen rühmenswerten Bestrebungen der Produzenten, vieles gesche­ hen, um diese Erfolge zu ermöglichen und Handel, Industrie und Ackerbau zu fördern.“ 29 Wenn hier die liberale Grundhaltung verschiedener Exponenten des Systems betont wurde, so darf dabei nicht übersehen werden, daß die liberalen Wirtschaftsauffassungen der Ministerialbürokratie noch sehr stark in der Tradition des Josephinismus wurzelten, in erster Linie auf die Ab­ schaffung und Eindämmung überkommener und antiquierter ständischer Relikte und Institutionen abzielten. Ganz im Sinne des Regimes ging jedoch aus der Konzentration aller bürgerlichen Kräfte auf den industriellen Fortschritt, auf Naturwissenschaft und Technik noch keine wirklich liberale Politik hervor. Nach wie vor fühlte man sich der Ideologie der Einheit von Staat und Gesell­ schaft verpflichtet, und der soziale Bereich entsprach mehr einer Status- als einer Leistungsgesellschaft30. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die außenpolitischen Fehlschläge, die in der Niederlage bei Magenta und Solferino und dem Verlust der Lombardei gipfelten, sowie — damit verbun­ den — die katastrophale finanzielle Situation bedeuteten nicht nur einen enormen Verlust an politischem Ansehen, sondern zugleich auch das Scheitern der dynastischen Prestigepolitik des Neoabsolutismus. Die lange niedergehal­ tenen Nationalitätenfragen und die verfassungspolitischen Reformbestrebungen sollten daraus neue Nahrung erhalten. Der erwartete Schritt zu einer Demokra­ tisierung an Stelle des bisherigen ,Scheinkonstitutionalismus' blieb vorderhand jedoch aus, vielmehr schritt der Kaiser zunächst zu einem persönlichen Revire­ ment31. In der Entlassung der Minister Buol, Bach, Grünne und Kempen und der Einberufung des verstärkten Reichsrates sowie in der Wiederherstellung der Einheit Ungarns und der alten Komitatsverfassung aus der Zeit vor 1848 dokumentierte sich die Abkehr vom Absolutismus, wobei allerdings zunächst die auf eine größere Länderautonomie abzielende föderalistische Richtung den Sieg über die deutschliberal-zentralistische Partei davontrug. In seinem in Laxenburg am 15. Juli 1859 erlassenen Manifest kündigte Kaiser Franz Joseph „zeitgemäße Reformen in Verwaltung und Gesetzgebung“ an32. Das Oktober­ diplom von 1860 wollte jedoch beiden Seiten gerecht werden und sowohl die Länderautonomie wie die Einheit des Reiches sichern. Der Kompromiß zwischen dem bisher verfolgten autoritären Kurs und neuen liberal-demokrati­ schen Tendenzen scheiterte aber am Widerstand der Ungarn und der Deut­ schen. Unter Berufung auf die pragmatische Sanktion suchte das Oktober­ diplom das alte Recht der historischen Individualitäten der Königreiche und Länder durch das Aufgreifen ncoständischer Ideen erneut zur Geltung zu bringen. Es zielte gegen die Bürokratie des Schwarzenbergisch-Bachschen Zen­ tralismus ab, dem „das deutsche Bürgertum mit seiner liberalen Staatsidee die Herrschaft über die ständisch gegliederte Welt der patriarchalischen Ordnung verdankte“ 33. Und dieser „Staatsstreich der Aristokratie gegen die Bürokratie“ suchte die kapitalistische Bourgeoisie unter die Patronanz der ,präindustriellen' adelig-bäuerlichen Interessen zu stellen34. Der politische Liberalismus, der sich entschieden gegen die Vorherrschaft von Adel und Geistlichkeit in den Land­ tagen wandte, vor allem jedoch das liberale Großbürgertum und als ihr mächtigster Exponent die Finanzwelt trugen mit dazu bei, daß die Intentionen des Oktoberdiploms nicht realisiert werden konnten35. Das Schicksal des Oktoberdiploms und mit ihm der Regierung Goluchowski war besiegelt, als zu den politischen Schwierigkeiten noch eine finanzielle Krise hinzutrat. Diese wurde ausgelöst durch die kostspieligen administrativen Ände­ rungen und die Verminderung der Staatseinnahmen infolge der ungarischen Steuerrenitenz. Mit dem Februarpatent von 1861, einer vorwiegend zentrali­ stischen Verfassung für den Gesamtstaat mit Landesordnungen für die einzel­ nen Kronländer (mit Ausnahme Ungarns und Venetiens), und mit der Ein­ führung des Zweikammersystems erfolgte schließlich die Wendung zum Kon­ stitutionalismus. Der neue Reichsrat war als Zentralparlament für den ganzen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Kaiserstaat gedacht, während die Landtage aufgrund des Kurienwahlrechtes durch den Großgrundbesitz, die Handels- und Gewerbekammern, die Städte und Märkte sowie die Landgemeinden beschickt wurden. Mit der Berufung des Liberalen und Großdeutschen Anton v. Schmerling an die Regierung hatte sich der deutsch-liberale Zentralismus entscheidend durchgesetzt. Bereits die Eröffnung des Reichsrates am 1. Mai 1861 offenbarte jedoch die Widerstände gegen die neue Verfassung, denn das Abgeordnetenhaus blieb aufgrund der Obstruktion einzelner Landtage ein ,engerer Reichsrat', und dieses Rumpf­ parlament sah sich mit der oppositionellen Haltung der Tschechen, Slowenen und Polen konfrontiert, die gemeinsam mit den überwiegend klerikalen födera­ listischen Deutsch-Konservativen die ,Rechte' bildeten, während in der deut­ schen ,Linken' oder ,Verfassungspartei' verschiedene Gruppen wirkten, von den gemäßigt Liberalen bis zu den deutsch-nationalen ,Autonomisten'36. Nun war aber auf wirtschaftlichem Gebiet das erste liberale Kabinett Österreichs nicht gerade vom Erfolg begleitet; der damals sehr bekannte Fi­ nanzexperte Alexander v. Peez stellte vielmehr fest, daß „die Jahre von 1860 bis 1866 in wirtschaftlicher Beziehung zu den ungünstigsten gehören, die Oesterreich je erlebt hatte“ 37. Die enormen Rückschläge als Folgeerschei­ nung des oberitalienischen Krieges und der vorhergegangenen Weltwirtschafts­ krise wirkten lange nach, das finanzielle Desaster und die handelspolitische Niederlage in den Verhandlungen mit dem Deutschen Zollverein schwächten im Verein mit der konjunkturpolitisch verfehlten Deflationspolitik Finanz­ minister Ignaz v. Pleners alle Auftriebstendenzen und wurden überdies seit 1863 durch eine nachhaltige Depression abgelöst, so daß sich die Verfassungs­ partei zunächst auf wirtschaftlichem Gebiete nicht gerade Lorbeeren erwerben konnte. Die Staatsverwaltung beschränkte sich dabei auf eine Laissez-faire Haltung und verschärfte damit noch indirekt die in den meisten Produktions­ zweigen andauernde Krisensituation. Vor allem die passive Haltung in der Eisenbahnfrage hatte entscheidenden Anteil an der rückläufigen Entwicklung dieses Leitsektors. Die letzten Ursachen der Stagnation waren jedoch nicht so sehr in der Budgetpolitik als vielmehr in der wirtschaftspolitischen Desorien­ tierung des neuen konstitutionellen Regimes zu erblicken38. Dies galt besonders auch für die Außenhandelspolitik. Albert Schäffle wies darauf hin, daß „namentlich die mit der Verfassung vom 26. Februar 1861 mächtig gewordenen Industrieschutzzöllner durch ihren parlamentarischen Handelsminister Plener die Regierung in ihrem Sinne zu beeinflussen such­ ten“ 39. So forderte im Jahr 1862 der Abgeordnete Giskra im Namen von 112 schutzzöllnerischen Gesinnungsgenossen die Regierung auf, den Abschluß des liberalen französisch-preußischen Handelsvertrages mit allen Mitteln zu sabotieren, weil die Österreichische Exportindustrie sich durch die in diesem enthaltene Meistbegünstigungsklausel in ihrer unmittelbarsten Interessensphäre bedroht sah40: „Man täuschte sich nirgends, daß die Bedürfnisse der öster­ reichischen Industrie es verboten, Preußen in den Freihandel der Westmächte nachzufolgen, daß dem geschwächten habsburgischen Staat nur noch die Aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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kunft blieb, den Zollverein durch die Lockerung vom schutzzöllnerischen Süd­ und Mitteldeutschland zu zerreissen.“ 41 Dies mußte Illusion bleiben, erkannte doch bereits ein Freund Österreichs wie Emil Kerstorf, daß „die Erhaltung des Zollvereins eine Notwendigkeit“ sei „und eine Gewißheit, denn die Dinge sind immer stärker als die Menschen und der Zollverein hat einen solchen Wert, daß er nicht zerrissen werden kann“ 42. Damit war auch die handelspolitische Vorentscheidung im Kampf um die Hegemonie in Deutschland gefallen und der Weg vorgezeichnet, der direkt nach Königgrätz führte. Die Liberalen scheiterten zunächst jedoch an einer innen­ politischen Frage. Der Kaiser ließ Schmerling, dessen Person als Haupthindernis für eine Aussöhnung mit Ungarn galt, umso lieber fallen, als er sich mit der antiklerikalen Tendenz der Verfassungspartei nicht identifizieren wollte; er versuchte, unter Verzicht auf die zentralistischen Grundsätze des Februar­ patents, eine Aussöhnung mit den Magyaren herbeizuführen. Die Bildung des sogenannten ,Dreigrafen-Ministeriums' vom Juli 1865 und die Sistierung der Verfassung bedeuteten die Rückkehr zum Absolutismus und die vorläufige Absage an die liberalen Zentralisten, zugleich aber auch den Versuch, das Nationalitätenproblem auf pluralistisch-föderalistischer Grundlage zu lösen43. Das föderalistisch-konservative Ministerium Belcredi, das bis zum Februar 1867 im Amt bleiben sollte, schlug dabei in der Außenhandelspolitik im Unter­ schied zum konstitutionellen Liberalismus einen freihändlerischen Kurs ein44. Der Staat sah sich nämlich auf der Suche nach neuen Verbündeten in seinem Kampf um die Hegemonie in Deutschland zu einer Abkehr von der bisherigen Zoll- und Handelspolitik veranlaßt. Nicht zuletzt beeinflußten auch die zur Sanierung der Staatsfinanzen notwendig gewordenen Anleihepläne die Außen­ handelspolitik der Regierung, denn man hoffte, durch ein größeres Entgegen­ kommen Österreichs in zollpolitischer Hinsicht vor allem England und Frank­ reich den österreichischen Wünschen geneigter zu machen. Am 1. Dezember 1865 wurde ein Freihandelsvertrag mit Frankreich und am 16. Dezember mit England unterzeichnet, der den heftigen Widerstand der liberalen Abgeordne­ ten Herbst, Giskra und Skene herausforderte, zugleich aber eindeutig die Wendung zum Freihandelssystem dokumentierte45. Der Handelsvertrag mit dem aus dem Krieg von 1866 hervorgegangenen neuen italienischen Königreich war „das letzte handelspolitische Werk des Kaisertums Österreich, denn bevor er noch zu praktischer Geltung gelangte, trat an die Stelle des österreichischen Kaiserstaates die Österreichisch-ungarische Monarchie“ 46. Der verlorene Krieg von 1866 und der Ausgleich von 1867 übten auf die inneren Verhältnisse der Donaumonarchie eine nachhaltige Wirkung aus. Das Februarpatent hatte sich wenigstens in seinen Grundprinzipien auf die Gesamt­ monarchie bezogen, der Ausgleich von 1867 legte aber als pragmatisch gemein­ same Angelegenheiten neben der Person des Monarchen lediglich die Außenpoli­ tik, das Heeres- und Kriegswesen sowie den Finanzsektor in bezug auf die Dek­ kung der gemeinsamen Ausgaben fest. Dieses Gesetzwerk besiegelte wohl auf der einen Seite die ,Monarchie auf Kündigung', auf der anderen Seite war es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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nicht zuletzt auch ein Ausgleich zwischen den Interessen der ungarischen Groß­ und Mittelgrundbesitzer und der österreichischen Bourgeoisie, somit der trei­ benden politischen und führenden ökonomischen Kräfte in beiden Lagern47. Der Dualismus ergab die Notwendigkeit, Verfassungsgesetze zu schaffen, deren Geltungsbereich lediglich auf die westliche Reichshälfte der Monarchie beschränkt blieb. Dabei mußte naturgemäß den deutsch-liberalen Abgeordneten der verfassungstreuen ,Linken' nach Zahl und persönlichem Einfluß eine große Bedeutung zukommen. Deren Forderungen entsprachen durchaus der politischen Tradition des Liberalismus in Österreich: Es ging der Verfassungspartei vor­ nehmlich um eine Einschränkung der Konkordatsbestimmungen, die Begrenzung des Notverordnungsrechtes der Regierung und die Sicherung der staatsbürger­ lichen Rechte des einzelnen, wie Rechtsgleichheit, Glaubens- und Gewissens­ freiheit und Unverletzlichkeit der Eigentumsrechte48. Mit der Einführung der dualistischen Staatsform war die Rückkehr zu dem im Herbst 1865 sistier­ ten parlamentarischen Regierungssystem verbunden. Damit trat auch die ,Schmerlingsche Wahlgeometrie' wieder in Kraft, und das durch das Kurien­ wahlrecht ermöglichte Übergewicht der Deutschen im Reichsrat favorisierte die soziale Schicht des Großbürgertums; es dokumentierte nach Ansicht Schaff­ les „den Sieg der Großbürger und damit des Deutschtums und des Zentralismus, . . . die Macht einer national aufgeputzten, kapitalistisch-bürokratischen Mino­ rität“ 49. Das Februarpatent brachte die verfassungsmäßige Verankerung des wirtschaftlichen Interessenvertretungsprinzips, da die Zusammensetzung der Landtage dem auf ökonomischen Richtlinien basierenden Kurienwahlrecht un­ terlag. Damit gewann das Großbürgertum an politischem Einfluß, „Spekulation und Börse in Wien und in Pest (wurden) die erste Großmacht des Staates“ , während den minder begüterten Bevölkerungsschichten die „Segnungen des Liberalismus“ verschlossen blieben50. Dem ,Bürgerministerium' Auersperg gehörten so prominente Liberale wie Plener, Herbst, Giskra, Hasner und Berger an, so daß die Geschäftswelt und Finanzoligarchie sich von diesem Kabinett die nötige Unterstützung erhoffte und ihm Vertrauen und Sympathie entgegenbrachte. Der optimistischen Grund­ stimmung, die bald weite Kreise der Bevölkerung erfaßte und als ungeheures Stimulans auf die Wirtschaft wirken sollte, gab Peez Ausdruck, als er fest­ stellte, daß „nur ein Jahr nach dem Prager Frieden in Oesterreich Handel, Verkehr und Produktion in größerer Blüthe als in den vorhergegangenen sieben Friedensjahren standen“ 51. Die 1867 in Österreich einsetzende „Gründerzeit“ ist mit dem endgültigen Durchbruch des politischen und ökonomischen Liberalismus identisch und um­ spannt etwa die Zeit von der Liberalisierung des Handels Mitte der 60er Jahre bis zum großen Börsenkrach des Jahres 1873. Der Höhepunkt des Wirtschaftsliberalismus beginnt mit den im freihändlerischen Sinne abgeschlos­ senen Handelsverträgen mit den Westmächten und endigt mit der Rückkehr zum Schutzzoll, der die „Privatisierung der Gewinne mit der Sozialisierung der Verluste“ verbinden sollte, mit dem Vordringen des Protektionismus, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Wiederverstaatlichung der Eisenbahnen und dem Abgehen von der Ge­ werbefreiheit. In der politischen Geschichte ist dies die Zeit der Vorherrschaft der Nationalliberalen, des ,Bürgerministenums' und der Honoratiorenpartei der Verfassungstreuen, die im Reichsrat die stärkste Fraktion stellten und erst 1878 von den Feudalkonservativen und Föderalisten unter Taaffe abgelöst wurden. Das um die Mitte der 60er Jahre inaugurierte Freihandelssystem sollte die Entfaltung der volkswirtschaftlichen Kräfte und den friedlichen Austausch von Rohstoffen und Industriegütern garantieren. Es sollte dies durch die Angleichung der Maß- und Gewichtssysteme, durch währungspolitische Abkom­ men, die Abstimmung des Handels- und Wechselrechtes und den Ausbau des internationalen Verkehrs- und Nachrichtensystems erleichtert werden. Dahinter stand halb klar, halb verschwommen das Ideal des Friedens52. Bereits 1866 hatte sich der damalige Handels- und spätere Finanzminister de Pretis in einer Denkschrift über die Richtlinien der neuen Zollpolitik geäußert. Der dem liberalen Manchestertum zugeneigte Minister wandte sich dabei scharf gegen die Schutzzöllner in den Reihen des Reichsrates und verwies darauf, daß „der wirtschaftliche Fortschritt in Deutschland, wo mehr Freiheit herrscht, ein weit rascherer war als in Österreich, und daß auch in Österreich selbst der größte Aufschwung in den nordböhmischen Industriegegenden eintrat, dort wo neben den geringeren Sätzen der Zwischenzölle die Konkurrenz des Zollvereins ihre belebende Wirkung hauptsächlich äußert“ 33. Österreich trat nach den bereits unter dem ,Dreigrafen-Ministerium' abge­ schlossenen Verträgen mit Frankreich und England auch mit einer Reihe wei­ terer Staaten in vertragliche Beziehungen, die dem Prinzip des Freihandels folgten: 1867 mit Belgien und den Niederlanden, 1868 mit Deutschland und der Schweiz, 1869 mit Japan, C hina und Siam, 1870 mit Spanien und ver­ schiedenen südamerikanischen Ländern, 1872 mit Portugal und 1873 mit Nor­ wegen und Schweden. Bis zur erneuten Rückkehr zum Schutzzollsystem im Jahre 1878/79 hatte sich damit die freihändlerische Richtung endgültig durch­ gesetzt, so daß schließlich die noch bestehenden Tarife lediglich die Funktion von Finanzzöllen ausübten54. Bereits die vorhergegangene Ära hatte mit der Freizügigkeit der Bauern, der Gewerbefreiheit, der Zollfreiheit im Inneren, dem einheitlichen Handels­ recht und der Reprivatisierung der Eisenbahnen im Sinne liberaler Normen gehandelt. Die liberale Wirtschaftstheorie hatte bereits im Vormärz unter der hohen Ministerialbürokratie ihre Anhänger gefunden. Nunmehr wurden jedoch die Lehren der manchesterlichen Epigonen der „Klassiker“ zum Allge­ meingut breiter Kreise des Bürgertums. In Österreich-Ungarn hatten der Frei­ handel und die freizügig gehandhabte Konzessionierung neuer Aktiengesell­ schaften vor dem Hintergrund einer innen- und außenpolitischen Konsolidie­ rung des Reiches einen bis dahin unbekannten ,Gründerboom( eingeleitet. Die Vorherrschaft des Industrie- und Finanzkapitals, die gesellschaftliche Emanzipation dieser ,Kapitalisten' und das ungehemmte individualistische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Erwerbsstreben gehören mit zur Signatur dieser in großen Maßstäben denken­ den Epoche, in der die Wirtschaft zu einem das öffentliche Leben weitgehend bestimmenden Faktor wurde. Der Staat suchte diesem Drang durch größt­ mögliche Freizügigkeit zu entsprechen55. Die in der Folge einsetzende massenhafte Konzessionierung von Kapital­ assoziationen, namentlich von Banken, Eisenbahnen und Baugesellschaften, die Überspannung von Kredit und Spekulation mit der ihr eigenen Abgleitfläche zu unseriösen, schwindelhaften und betrügerischen Gründungen diskreditierten jedoch den Liberalismus in den Augen der breiten Masse56. Während der wirtschaftlichen Aufstiegspenode war das bürgerliche individualistisch-liberale Erwerbsstreben eines der treibenden Zeitmomente und ein gewaltiges Ferment. Im Verlauf des Konjunkturanstieges gewannen naturgemäß der ökonomische Liberalismus und die ihn tragende und durch ihn aufsteigende Klasse ebenso wie das Prinzip der Marktfreiheit und die soziale Mobilität an realer Bedeu­ tung und populärer Durchschlagskraft. Aber auch der politische Liberalismus partizipierte daran und vermochte in dieser „schöpferischen ökonomischen, sozialen und politischen Gründerperiode den unmittelbaren und mittelbaren Einfluß, den er qualitativ und quantitativ auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und die Modernisierung der politischen Ordnungen ausübte, sehr erheb­ lich zu verstärken“ 57. Das deutsche Bürgertum operierte an und für sich als industriell-kapitalisti­ sche Mittelklasse politisch wie gesellschaftlich von einer schmalen Ausgangs­ basis aus. Nach dem Scheitern der bürokratischen Führungsschicht der Brück­ sehen Ära offerierte sich die bürgerliche Intelligenz, fast ausschließlich advoka­ tisch-professoraler Prägung, für die Führcrrolie im Staat und löste das Beam­ tentum auch in der Leitung der Verfassungspartei ab58, konnte allerdings darauf hinweisen, daß der liberale Verfassungsstaat in dieser Weise „die geschichtslogische Fortsetzung des Josephinismus“ sei59. Ganz erfüllt vom Wert der persönlichen Freiheit vernachlässigte man jedoch die Ausbildung einer Parteiorganisation; zur Rechtfertigung der eigenen Position trat man vielmehr dafür ein, daß der Liberalismus „daran festhalten müsse, daß immer nur eine kleine Minderheit zur Leitung des Staates . . . geeignet sei“ 60. Die Verfassungspartei war einerseits die Erbin der Revolution von 1848 und der damals von allen Völkern des Reiches erhobenen freiheitlichen Forde­ rungen; als solche mußte sie neben der persönlichen Freiheit und Rechtsgleich­ heit aller Staatsbürger auch die Gleichberechtigung der Nationalitäten und ihrer Sprachen verlangen, und diese letzte Forderung hat auch im Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte des Staatsbürgers ihren getreuen Ausdruck gefunden. Andererseits war jene Partei die Repräsentantin der josephinischen Tradition in der konstitutionellen Ära, war „als Staatspartei, als die sie sich eine Zeitlang betrachten durfte, mit dem Entwurf und der Durchführung einer die einheitlichen Interessen und den einheitlichen Verband zuerst des Gesamtstaates sodann der westlichen Reichshälfte wahrenden öffent­ lich-rechtlichen Ordnung betraut“ 61. Als solche konnte sie sich für keine andere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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als für die zentralistische Verfassung entscheiden, die zugleich dem Interesse des deutschen Bürgertums, in dem die Partei selber wurzelte, entsprach. Eine zentralistische Verfassung aber war weder zu geben noch aufrecht zu halten, wenn es nicht gelang, der Vertretung des die Bevölkerungsminderheit bildenden deutschen Volksstammes die parlamentarische Mehrheit zu sichern, ein Pro­ gramm, das die Repräsentanz der nichtdeutschen Völker teils zur Obstruktion trieb, teils zur Opposition verurteilte und mit der im Staatsgrundgesetz ge­ währleisteten Gleichberechtigung aller Völker und Sprachen des Reiches auf die Dauer nicht zu vereinbaren war. Ein deutsch-zentralistisches Regime konnte daher niemals ernstlich daran denken, der Grundforderung jedes liberalen Programms nach Demokratisierung des Wahlrechts näherzutreten. Zunächst diente die Einrichtung der Interessenvertretungen und die sog. privilegierte Kurie, deren Stimmen der Vertretung des deutschen Bürgertums zur parlamen­ tarischen Mehrheit verhelfen sollten, zum Ausgleich dieses inneren Wider­ spruchs. Später, so etwa im Wahlkampf des Jahres 1873, griff man selbst zum bedenklichen Mittel des Wahlschwindels und Stimmkaufs62. Der Zukunft konnte man aber trotzdem nicht sicher sein, sofern es nicht gelang, die einander widerstrebenden nationalen Interessen durch gemeinsame politische, ökonomi­ sche und kulturelle Bestrebungen auszugleichen und „das Auskunftsmittel der Interessenvertretung durch die Macht der tatsächlichen Entwicklung im nach­ hinein zu sanktionieren“ 63. Die Tragik der Verfassungspartei lag darin, daß ihre stolzesten Schöpfungen, die freiheitliche Gemeindeverfassung und die freie Schule, nach Eduard Sueß „das Beste, was wir bisher der leidenden Klasse bieten konnten“ 64, in erster Linie ihren nationalen Gegnern zugute kommen mußten, bis schließlich die liberalen Konzessionen erschöpft waren, ohne daß jener, dem deutsch-liberal zentralistischen Programm innewohnende Wider­ spruch gelöst und die nichtdeutschen Völker mit der ihnen durch die deutsch­ zentralistische Verfassung zugedachten Stellung irgendwie versöhnt worden wären. Die Verfassung mußte sich daher, obwohl ursprünglich zum Schutz des Übergewichtes der Deutschen gedacht, schließlich zu einem Instrument der Bekämpfung desselben verwandeln85. Wegen des augenscheinlichen wirtschaftlichen Erfolges, der ihre ersten poli­ tischen Schritte begleitete, wurde den Liberalen auch von ihren politischen Gegnern zunächst die Vorherrschaft im ökonomischen Bereich zugestanden. Im Konjunkturanstieg schienen die klassischen Wirtschaftsdoktrinen eine glän­ zende Rechtfertigung zu finden und sich die Vorteile einer individualistischen Verkehrswirtschaft zu bestätigen. Durch den im 19. Jahrhundert noch unge­ brochenen Fortschrittsglauben, das Vertrauen in den ununterbrochenen Auf­ stieg des Menschengeschlechts, der das Individuum wie die Gesellschaft selber auf eine höhere Stufe menschlichen Seins heben werde, empfing der Liberalimus eine Art höherer Weihe. Ungehemmt konnten sich so die stimulierend wirken­ den „gelderwerbenden und geldliebenden Instinkte der Individuen als die Haupttriebfeder der Wirtschaftsmaschine“ entwickeln66. Neben und über Poli­ tik und Verfassungspartei hinaus wirkten sich diese Grundanschauungen des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Liberalismus auf beinahe allen Lebensgebieten aus. Sie beeinflußten die Ge­ dankengänge der Führungsschicht ebenso sehr wie deren Einrichtungen und bewirkten durch die in ihrem Gefolge auftretenden wirtschaftlichen Umwäl­ zungen einen gesellschaftlichen Strukturwandel mit heftigen Reaktionen im Sozialgefüge. Der Stil des Liberalismus mit seinem Lebens- und Wirtschaftsoptimismus, dem zur Schau getragenen Erfolg des Finanzkapitals, war zugleich Ausdruck der inneren Zerrissenheit des durch kein einheitliches Lebensregulativ mehr gebundenen Zeitalters, in dem höchstens der Fortschrittsglaube, das Lebens­ ideal eines Individuums, das sich unbegrenzt entfalten zu können glaubte, und ein vulgarisierter Sozialdarwinismus die Funktion einer Ersatzreligion in einem säkularisierten Jahrhundert erfüllten und im übrigen die optimistische Vorstellung einer Harmonie von Macht und Moral vorherrschte67. Die hohen Prachtpalais der Wiener Ringstraße versinnbildlichen die geistige Dimension jenes arrivierten Finanzbürgertums der Gründerzeit, das nach außen hin so selbstsicher und pathetisch zu agieren wußte, so überlegen seinen Wohlstand praktizierte, und doch sehr oft innerlich hohl und richtungslos dem Zerfall zutrieb. Der Rückschlag, der zugleich zur Existenzkrise des Liberalismus in Öster­ reich werden sollte, erfolgte mit dem ,Schwarzen Freitag' an der Wiener Börse, dem dramatischen Auftakt zur „Großen Depression“ , die eine radikale Abkehr von den Wertvorstellungen der vorhergegangenen Epoche brachte68. Einer Zeit zukunftsfrohen fortschrittsgläubigen Optimismus folgte eine Ära tief pessimistischer Selbsteinschätzung; „wenn man die zeitgenössischen Berichte liest, dann waren die Jahre von 1874 bis 1878 eine Zeit fast ununterbrochenen Dunkels“ 69. Und dieser deprimierte Geisteszustand dauerte noch dazu wesent­ lich länger an als der konjunkturelle Niedergang, der zwischen 1876 bis 1883 seine tiefsten Werte erreichte. So sehr im Konjunkturanstieg das Prinzip des individuellen Wettbewerbs geherrscht hatte, so sehr suchte die folgende Epoche der „Großen Depression“ diesen durch Zusammenschluß mit einem System kollektiver Sicherheit auszuschalten: „Ging die liberale Wirtschafts­ gesetzgebung von dem Grundsatz aus, daß das freie Spiel der individuellen Interessen auch die allgemeine Wohlfahrt am besten verbürge, so erachtet die konservative Sozialreform die letztere abhängig von neuen Bindungen des Wirtschaftslebens, die am besten durch den obligatorischen Zusammenschluß der engeren Berufsgenossen zu bewerkstelligen sei.“ 70 Als Gegenbewegung suchte nun der einzelne, auch das wirtschaftliche Subjekt, nach Zusammen­ schluß und gemeinsamem Auftreten. Die mit der „Großen Depression“ ein­ setzende Abkehr vom Liberalismus, die an Umfang gewinnende Unzufrieden­ heit mit der herrschenden ,klassischen' Wirtschaftsdoktrin, war mehr als ein bloßer Gegenschlag gegen das bisherige ,Laissez-faire, Laissez-passer', es war der Anfang vom Ende des liberalen Zeitalters und der Vorherrschaft der individualistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ohne den wirtschaftlichen Ursachen eine monokausale oder gar deterministi­ sche Wirkung einräumen zu wollen, kann doch die Rolle der Wirtschaftskon­ junktur als auslösendes Moment nicht übersehen werden. Denn wie schon ein Zeitgenosse es treffend ausdrückte, „am unverhülltesten liegen die Ursachen für den Niedergang des Liberalismus auf wirtschaftlichem Gebiete zutag“ 71. Die lange Depression gab Anlaß zu einem als historische Zäsur wirkenden psychischen und ideologischen Klimaumschwung im öffentlichen Leben, zu einer Gesinnungs-, Glaubens- und Ideenverlagerung, die die Zurückdrängung und dauerhafte Abwertung des manchesterlichen Sozial- und Wirtschaftsdenkens, aber auch eine Bedrohung der politischen Wertwelt des liberalen Bürgertums, vielfach auch einen Richtungswechsel in den vorherrschenden Zeittendenzen und Sozialnormen im Gefolge hatte72. Die „Große Depression“ erschütterte den Glauben an eine natürliche Harmonie, und zwar umso mehr, als die Anhänger einer Laissez-faire-Doktrin keine befriedigende Lösung dieser an die kapitalistische Wirtschaft gestellten Herausforderung fanden. Die konse­ quenten liberalen Ökonomen hatten angesichts der Krise, von der man sich eine selbstreinigende Wirkung erhoffte, nicht viel mehr anzubieten als die Einsetzung von „C onsultativkommissionen“ und auch die Handelskammern stellten sich auf den prinzipiellen Standpunkt, „gegenüber großen Handels­ krisen liegt es außer der Macht des Staates, radikale Abhilfe zu gewähren“ 73. In den Wirtschaftswissenschaften sehen wir die Abkehr von der liberalen Doktrin und das Aufkommen der Historischen Schule und der Grenznutzen­ lehre. Die von C arl Menger, Friedrich v. Wieser und Eugen v. Böhm-Bawerk weiterentwickelte Grenznutzenlehre setzte als die spezifisch ,österreichische Schule der Nationalökonomie' wieder den Menschen als Ausgangspunkt der Volkswirtschaft ein. Die psychologischen Schulen rückten die „Wertlehre“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und gingen dabei von der Schätzung der Güter durch den Menschen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse aus. Dieser neue Denkansatz in der Nationalökonomie war subjektiv, relativ und psycho­ logisch, weil er vom Menschen und nicht von abstrakten Begriffen ausging, er bedeutete daher insofern eine Abkehr vom klassischen Liberalismus. Die in Deutschland dominierende Historische Schule, die in Österreich am ehesten noch die dem Staatssozialismus zugeneigten Gelehrten Lorenz v. Stein, Albert Schäffle und Adolph Wagner sowie eine Reihe jüngerer Statistiker um Inama­ Sternegg, Juraschek und Pribram beeinflußte, betonte unter dem Einfluß der neuen kollektivistischen Ideen stärker das ethische Moment in den Wirtschafts­ und Sozialwissenschaften und war bestrebt, ihre Forschungen wieder in den Dienst staatlicher Politik zu stellen74. Als sich nach dem Börsenkrach die Verfassungspartei „in der großen Frage, die alle Welt beschäftigte, wie der wirthschaftlichen Noth abzuhelfen sei“ , für inkompetent erklärte, war sie sich über die letzten Konsequenzen ihrer reservierten Haltung wohl noch nicht klar75. Es kam zuerst im wirtschaftlichen Bereich zu einer Vertrauenskrise des Liberalismus, die dann jedoch auf den politischen Sektor übergriff. Zudem waren die Repräsentanten der herrschen17 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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den Verfassungspartei, die vielfach nur mehr als ,Verwaltungsratpartei' apo­ strophiert worden war, durch ihre Aufsichtsratstätigkeit bei verschiedenen Kapitalgesellschaften und das unglückliche Auftreten mehrerer ihrer Exponen­ ten in den Prozessen nach 1873 aufs schwerste belastet und diskriminiert. Das Abgeordnetenhaus hatte schließlich nur noch aus Verwaltungsräten ver­ schiedener Banken und Eisenbahngesellschaften bestanden76. Es genügte daher nur ein geringer Anstoß, nach der Diskreditierung des ökonomischen auch den politischen Liberalismus in Frage zu stellen. Die Wahlrechtsreform und die Neuwahlen von 1873 hatten die Vormacht­ stellung der Liberalen auch politisch erstmals erschüttert. Die Erkenntnis dieser Tatsache aber führte dazu, daß „die Liberalen von nun an das geltende Wahl­ recht und die bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Macht­ verhältnisse leidenschaftlich verteidigten und so ihre Partei aus einer Partei des Fortschritts und der hoffnungsvollen Zukunftserwartung zu einer Partei des ängstlichen Bewahrens des derzeitigen Besitzstandes machten“ 77. Nur solange die Zusammensetzung der Landtage dem auf ökonomischen Richtlinien basierenden Kurienwahlrecht unterlag, und dieses auf einem entsprechend ho­ hen Zensus beruhte, nur solange das Großbürgertum wahltaktisch und wahi­ geometrisch privilegiert auftreten konnte, blieb die Herrschaft der sich im Lager der verfassungstreuen Zentralisten formierenden Liberalen aufrecht­ erhalten. Erst mit der Änderung des Kurienwahlrechtes mußte in Verbindung mit der sozialen Umschichtung in der Bevölkerungsstruktur die Grundlage des Systems, das von 1861 bis 1878, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, den österreichischen Reichsrat beherrschte, weichen. Hinzu trat als weiteres Faktum, worauf bereits Friedrich Naumann generell hingewiesen hat, daß „kein politischer Gedanke ohne Organisation den Sieg gewinnen kann, und von allen politischen Richtungen der Liberalismus am schwersten organisierbar erscheint“ 78. Die separatistischen Kräfte bezogen aus der traumatischen Erfahrung der „Großen Depression“ , die den Glauben an den unaufhörlichen wirtschaftlichen Fortschritt erschütterte, neues geistiges Rüstzeug. Die wirtschaftlich Schwäche­ ren suchten nach einer Macht, die sie vor Untergang und Ausbeutung schützen sollte und wandten sich Hilfe heischend an den Staat oder in der Folge auch kollektivistischen Lösungen, sozialen Massenbewegungen und Massenparteien zu — ein Ausdruck der inneren Abkehr von einer individualistischen Sicht des menschlichen Lebens. Zusammen mit dem Stimmungsumschwung, der danach trachtete, das bürgerliche Gesellschaftssystem mit seiner liberal-individualisti­ schen Philosophie durch neue Formen politischer und sozialer Organisation zu ersetzen, trat eine Verschiebung der innenpolitischen Machtverhältnisse ein und eine parteimäßige Umgruppierung, die sich im ,Eisernen Ring' Taaffes ausdrückt79. Es kam zu einem Mentalitätswandel, der vielfach an präindu­ strielle Gesellschaftstraditionen anknüpfte, zu einer Hinwendung zu zünftle­ risch-kleingewerblichem Denken, wie es in den Gewerbeordnungen von 1882 und 1885 und der aktienfeindlichen Steuergesetzgebung seinen Niederschlag © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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fand80. Gleichzeitig drängten die sozialkonservativen und klerikalen Vertreter der österreichischen Hocharistokratie ihre freisinnigen proliberalen Standes­ genossen politisch völlig in den Hintergrund, während zugleich in der Büro­ kratie das deutschliberale Element an Boden, und auch das Besitzbürgertum an Einfluß verlor. Die Fassade einer deutschen Einheitsfront in der Politik zerbrach, und die anderen Nationalitäten des Reiches meldeten ihre Forderung auf politische Einflußnahme an, zeigten gesteigerte politische Energie und stiegen in ihrer politischen Bedeutung81. Alte und neue, anti- und nichtliberale Konkurrenten formierten sich zur geschlossenen Abwehrfront, es kam zu gesellschaftlichen und politischen Um­ schichtungsprozessen, zu einer Verschiebung des politischen Stärkeverhältnisses und der ideologischen Ausrichtung, die insgesamt gegen den Liberalismus gerichtet waren. Es galt gegen den „falschen Liberalismus“ — so eine Formu­ lierung der Zeitgenossen — und jene, die mit diesem identifiziert wurden, Geschäftsleute und plutokratisches Großbürgertum, Juden und Besitzende, libe­ rale Politiker und Zeitungsleute, Intellektuelle und höhere Beamte aufzutreten. Von den Unterschichten ausgehend, erfaßte die Stimmung gegen das verhaßte mobile Kapital bald auch die Notablenkreise. Altkonservative, Ultramontane, Sozialisten und C hristdemokraten waren in der Folge nur allzu bereit, die liberal-individualistische Weltanschauung als gestaltgebendes Prinzip der Wirt­ schafts- und Gesellschaftsordnung abzulehnen. Aber auch der rechte Flügel des Liberalismus war seit den 80er Jahren bereits „innerlich konservativ, nach außen kartellreif“ geworden82. Die Konsequenzen dieser neuen antiliberalen, aber auch antisemitischen und antikapitalistischen Wendung waren auf materiellem, politischem wie ideellem Gebiete gleich tiefgreifend und umstürzlerisch. Die Kassandrarufe der Schutz­ zöllner verhallten nicht länger ungehört, sondern fanden aufnahmebereite Ohren, die Idee der Handelsfreiheit büßte ihre Faszination ein und verhalf damit den latent vorhandenen Schutzzolltendenzen der österreichischen Indu­ striellen zum Durchbruch83. Selbst in der liberalen Verfassungspartei vermochte das Gemeinsame die Diskrepanzen gerade im Hinblick auf den internationalen Freihandel nicht zu überbrücken. Dies kommt etwa in jenem geradezu absurd anmutenden Ausspruch eines Abgeordneten zum Ausdruck: „Im Prinzip werde er dem Freihandel niemals untreu werden, dies Prinzip sei das einzig wahre und das seine; in der Praxis aber füge er sich den schutzzöllnerischen Anträgen der Gewerbevereine.“ 84 Es war dies nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zum Prinzip der Handelsfreiheit, während Karteilbewegung und der Zusammen­ schluß zu neuen Interessenverbänden bereits den kollektivistischen Zug der neuen Zeit, den Drang zur „Gruppensolidarität des Massenzeitalters“ ausdrück­ ten. In die gleiche Richtung zielt auch die Haltung der Liberalen in der Eisenbahnfrage, als Eduard Herbst an der Spitze der Verfassungspartei für die Verstaatlichung des Verkehrswesens eintrat. Die 1873er Krise und ihre Folgeerscheinungen gaben auf diese Weise dem Staat die Möglichkeit, in bisher dem Liberalismus sakrosankte Regionen vor17*

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zustoßen, nachdem sich selbst im liberalen Lager Vertreter einer interventioni­ stischen Politik fanden. Die antiliberale Bewegung in Österreich, die extrem im Denken und radikal in ihren Parolen und Zielsetzungen war, wandte sich nicht etwa nur gegen konjunkturbedingte Auswüchse und Fehler, sondern gegen den inzwischen erfolgten sozialökonomischen Strukturwandel überhaupt und hoffte, im Staat einen Rückhalt für ihre grundsätzliche Ablehnung des Kapitalismus zu finden85. Die Formel „Der Staat soll nicht der Hüter der Geldsäcke sein“ , fand nur zu willig Aufnahme in der breiten Öffentlichkeit86. Die Kritik am industriekapitalistischen System weckte das Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit und sozialer Kontrolle anstelle des liberal-individualisti­ schen Wettbewerbsprinzips und leitete damit der Hinwendung zum modernen Interventionsstaat Vorschub, der mit seiner Ausgaben- und Steuerpolitik den Industrialisierungsprozeß nachhaltig zu steuern und zu beeinflussen wußte und ein „qualitativ neues Element in der Geschichte des Industriekapitalismus“ darstellte (Schumpeter). Der Organisierte Kapitalismus ist seither wichtigster Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geworden. Dem antiliberalen Interventionismus kam überdies der während der „Großen Depression“ sinkende Zinsfuß gelegen, da dies für den Fiskus eine „Ära billiger und leicht plazier­ barer Anleihen bedeutete, günstige Bedingungen für die Konversion von Staatspapieren bot und die Durchführung staatlicher Eisenbahnprojekte und staatlicher Sozialpolitik sehr erleichterte“ 87. Aber auch in der Wirtschaft selber läßt sich als charakteristischer Entwick­ lungstrend eine neue Phase konstatieren, eine Wendung vom individualistisch­ liberalen Wettbewerbsstreben zu assoziativen Lösungen mit kollektiver Sicher­ heit. Die ,Tendenz zur kollektiven Ordnung des Wettbewerbes' gehört mit zur Signatur der Depression und kennzeichnet den Umschlag zum Organisier­ ten Kapitalismus. Wenngleich dabei zunächst das Sicherheitsstreben und die größtmögliche Risikominderung der Unternehmer im Vordergrund standen und die Kartelle als „Kinder der Not“ galten, so wies die besonders von den Großbanken angestrebte kollektivistische Verbandsbildung bald ausgesprochen hegemoniale und monopolistische Züge auf. Industrielle Konzentrationen, de­ nen auf überbetrieblicher Ebene die Kartellbildung und sonstige Syndizierungs­ maßnahmen sowie das Verlangen nach Schutzzöllen zur Sicherung der einheimi­ schen Produktion entsprachen, war auch die Konsequenz aus dem Verlangen nach einer maximalen Ausnutzung der Produktionskapazität und der Errei­ chung des optimalen Grenznutzenwertes88. Auch politisch formierten sich Massenparteien, die das Ende einer individua­ listischen Sozialphilosophie anzeigten und eine Überprüfung der politischen und sozialen Wertskala forderten. Die ideelle Abkehr vom Liberalismus mani­ festierte sich in den Kollektivbewegungen des Nationalismus, Sozialismus und Konservatismus und ganz allgemein in Vermassungstendenzen und korporati­ ven Denkkategorien, die sich in ihrer ideologisch einseitigen Ausrichtung in oft extrem radikalen Formulierungen entschieden gegen das neue Wirtschafts­ system des Industriekapitalismus überhaupt wandten89. Eines der schlagkräf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tigsten Mittel zur Durchsetzung dieser Absichten glaubte man in der staatlichen Sozialpolitik zu finden. Sozial richteten sich die Ressentiments gegen das mit dem industriellen Fortschritt und der modernen Kreditschöpfung aufgestiegene plutokratische Großbürgertum, und die antiliberale Bewegung erhielt mit der Herabsetzung des Wahlzensus durch die Wahlrechtsreform vom Jahre 1882, mit der Integration wahlberechtigter kleinbürgerlicher und bäuerlicher Inter­ essenten- und Gesinnungsgruppen, eine breitere soziale Basis90. Der Liberalismus produzierte seinerseits neue politische Ideen und Parteien, die sich — obwohl teilweise Kinder des Liberalismus — nun gegen ihren Erzeuger wandten. Überdies legte die ökonomische Spielart des Liberalismus mit der ihr immanenten sozialdarwinistischen Neigung zum scharfen Wettbe­ werb und zur Ausbeutung der wirtschaftlich Schwächeren unfreiwillig die Grundlagen für das Umsichgreifen sozialistischer Ideen91. Es ist kennzeichnend für die innenpolitische Entwicklung des alten Österreichs, daß der Begründer der deutsch-nationalen Bewegung Georg v. Schoenerer genauso aus dem libera­ len Lager kam, wie etwa die Führer der Sozialdemokratie Viktor Adler und Pernerstorfer, und auch Dr. Karl Lueger, der bekannte Führer der C hristlich­ sozialen, war ursprünglich vom liberalen Bürgerklub in Wien-Landstraße in den Wiener Gemeinderat entsandt worden. Die Honoratiorenpartei der Libe­ ralen sah sich nun als politische Formation zunächst aus den eigenen Reihen bedrängt, als sich eine anfangs noch kleine Splittergruppe vom Liberalismus abkehrte und auf einen neuen national-sozialen Kurs festlegte. Im sogenannten Linzer Programm von 1882, das einer Zusammenarbeit Viktor Adlers, Schoene­ rers, Pernerstorfers, Langgaßners und Pattais entsprach und sich auf einen Entwurf stützte, den der Historiker Friedjung vergeblich innerhalb der Ver­ fassungspartei durchzusetzen versucht hatte, vollzog sich eine klare Abkehr vom Liberalismus. Es sollte jedoch für die weitere politische Entwicklung Österreichs bedeutsam werden, daß es nicht gelang, auf dem Gemeinsamen dieses Programms aufbauend, eine neue sozialreformatorische Partei zu bilden. Die verbindenen Elemente erwiesen sich langfristig als zu schwach, um der partikularistischen Kraft unterschiedlicher Ideologien gewachsen zu sein. Bereits damals formierten sich zumindest im politischen Untergrund jene großen Massenparteien, die auf lange Sicht das politische Bild Österreichs bestimmen sollten. Obwohl die neuen Massenbewegungen der C hristlich-Sozialen, der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen im Verlaufe der „Großen Depres­ sion“ noch keinen bedeutenden Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschafts­ und Sozialpolitik geltend machen konnten, wirkten sie indirekt doch als be­ stimmende Kraft, da sich die 1879 an die Macht gelangten Feudalkonservativen ihrer im Kampf gegen den Liberalismus bedienten92. Damit leitete die im Mai des Jahres 1873 einsetzende ,Gründerkrise' nicht nur eine Abkehr vom Prinzip des freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte ein, sondern markierte auch einen Wendepunkt in der politischen Geschichte der Habsburgermonarchie, der schließlich zum Zerfall des liberalen Lagers in der österreichischen Innen­ politik führte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Herbert Matis Anmerkungen

1 Η. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967. Vgl. dazu auch die frühere Studie zu diesem Thema: Political and Social C onsequences of the Great Depression of 1873—96 in C entral Europe, EHR 13. 1943, 58—73. In meiner Arbeit (Österreichs Wirtschaft 1848—1913. Konjunkturelle Dynamik u. gesellschaftlicher Wan­ del im Zeitalter Franz Josephs I., Berlin 1972) habe ich versucht, analog dem Rosen­ bergschen Ansatz, das Prinzip der konjunkturellen Wechsellagen als Periodisierungs­ muster auch für die österreichische Wirtschaftsgeschichte nutzbar zu machen und dies als Interpretationsaspekt für verschiedene sozioökonomische Wandlungsprozesse anzu­ wenden. Die folgenden Ausführungen schließen z. Τ. daran an. 2 Die für die Geschichte des Liberalismus in Österreich relevanten Werke (wie G. Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Mon­ archie, München 1955; E. Winter, Revolution, Neoabsolutismus u. Liberalismus in der Donaumonarchie, Wien 1972; K. Eder, Der Liberalismus in Altösterreich, Geistes­ haltung, Politik u. Kultur, Wien 1955) gehen auf die wirtschaftlichen Aspekte kaum ein, sondern stellen politische, nationale und kirchliche Fragen in den Mittelpunkt. 3 Vgl. K. Rothschild, Wurzeln u. Triebkräfte der Österreichischen Wirtschaftsstruk­ tur, in: W. Weber Hrsg., Österreichs Wirtschaftsstruktur, Berlin 1961, I, 32 ff. 4 J . Zehnter, Das Staatslexikon von Rotteck u. Welcker, Jena 1929, 65 u. 83. Bezeichnenderweise hatte sich auch der ,liberale' Reichsverweser Erzherzog Johann auf das Staatslexikon in der Frankfurter Paulskirche berufen. Vgl. K. Wild, K. Th. Welcker, ein Vorkämpfer des älteren Liberalismus, Heidelberg 1913, 160. 5 A. Brusatti (Die Staatsgüterveräußerungen in der Zeit von 1780—1848, MÖSTA 11. 1958, 264) weist darauf hin, daß die Spitzen der staatlichen Verwaltung die Ideen der klassischen Nationalökonomen sich zu eigen gemacht hatten. Vgl. auch A. v. Kraus-Elislago, Autobiographie, Wien 1949, 32. 6 Matis, 342 f. 7 Zit. bei W. Rogge, Oesterreich seit der Katastrophe Hohenwart-Beust, Leipzig 1879, II, 83. Zu Sueß vgl. A. Etz, E. S. als liberaler Wissenschaftler u. Parlamenta­ rier, Diss. Wien 1939. Vgl. auch F. v. Oppenheimer, Die Wiener Gemeindeverwaltung u. der Fall des liberalen Regimes, Wien 1905, 59: „Die Zeit, in der die Grundsätze der wirtschaftlichen Freiheit in Kraft standen, (fällt) mit der liberalen Ära in der konstitutionellen Epoche nicht zusammen.“ 8 D. Rauter. Liberalismus, in: Oesterreichisches Staatslexikon. Wien 1885, 173 f. 9 Rosenberg, Große Depression, 243: Oppenheimer, 59 f. 10 B. Croce, Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, Wien 1947, 10 f. 11 Zehnter, 95. 12 Vgl. auch I. A. Röhreke, A. Schäffles Wandlungsprozeß vom liberalen Zentra­ listen zum freiheitlichen Konservativen in Österreich, Wien 1971, 12. 13 J . Dvorak u. a., Der deutsche Frühliberalismus im Spiegel des „Staatslexikons“ von Rotteck-Welcker, Beiträge zur historischen Sozialkunde 3. 1972, 4. 14 Franz, 15. 15 L. Maenner, Deutschlands Wirtschaft u. der Liberalismus in der Krise von 1879, Berlin 1928, 8; H. Friedjung, Österreich 1848—1860, II, 19. Zum Josephinismus vgl. den Artikel von H. Hantsch im Staatslexikon, Freiburg 1959, IV, 656, u. F. Maass, Der Josefinismus, Wien 1951. Zur Haltung der Ministerialbürokratie vgl. J . C h. Allmayer-Beck, Die Träger der staatlichen Macht, in: Spectrum Austriae, Wien 1957, 252 f. 16 Franz, 42 f. Vgl. auch H. v. Srbik, Die Wiener Revolution des Jahres 1848 in sozialgeschichtlicher Bedeutung, Sch. Jb. 43, 19 ff. 17 P. Müller, Österreich seit 1848, in: H. Mayer Hrsg., 100 Jahre österreichische Wirtschaftsentwicklung, 1848—1948, Wien 1949, 2 f.

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F. v. Kübeck, Tagebücher, Wien 1909, I, 550. Müller, 3 ff. 20 E. Zöllner, Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 31966, 399 f.; C . v. Hock, Oesterreich u. seine Bestimmung, Deutsche Vierteljahrs­ schrift 1860, 106—241; J . Redlich, Das österreichische Staats- u. Reichsproblem, I, Wien 1920, 405 ff. 21 Hock, 185. 22 Vgl. H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881, Köln 1966 (21972), 19—29. 23 Matis, 30 ff.; K. Grünberg, Die Grundentlastung, in: Geschichte der österrei­ chischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848—1898, Wien 1899, I, 60 ff.; E. Garhofer, Hundert Jahre österreichischer Gewerbepolitik, in: Mayer Hrsg., 480 ff. 24 K. Borchardt, Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, I, Göttingen 31972, 367. 25 F. Geissler, Die Entstehung u. der Entwicklungsgang der Handelskammern in Österreich, in: Mayer Hrsg., 47 ff.; M. v. Tayenthal, Die österr. Handels- u. Ge­ werbekammern u. ihre Tätigkeit im Interesse des Handels, in: Beiträge zur Wirt­ schaftskunde Österreichs, Wien 1911; H. Gerhardinger, Aus der Vorgeschichte der österr. Handels- u. Gewerbekammern, in: Schiernschriften 78. 1951, II, 7—129. 26 Zit. bei Franz, 10. Vgl. auch einen Ausspruch des klerikal-konservativen Blattes Weckstimmen für das katholische Volk VI/4, Wien 1875, 25: „So blieb doch auch von der Freiheit, wie sie die Revolutionsmänner von 1848 geträumt hatten, nur ein Theil übrig, und zwar die Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiete.“ 27 Dazu immer noch die beste Darstellung H. Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859, Stuttgart 1934; Neudr. Göttingen 1974. 28 Denkschrift der am 6. Dezember 1858 in Wien versammelten Eisenindustriellen, Wien 1859; Amtlicher Bericht über die a. h. anbefohlene Specialenquête in Wien bezüglich der einheimischen Webe- u. Eisenwarenfabrication, Wien 1859. 29 Bericht der Handels- u. Gewerbekammer für das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns an das k. k. Ministerium für Handel u. Volkswirthschaft, Wien 1860, III. 30 Vgl. H. Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte Deutsch­ lands im 19. u. 20. Jahrhundert. Frankfurt 1968. 51 f. 31 H. Hantsch, Die Geschichte Österreichs 1848—1918, Wien 31962, 362. 32 A. Sdiäffle, Die politischen Bestrebungen der Gegenwart u. Deutschlands wahres Bedürfnis, Deutsche Vierteljahrsschrift 4. 1859, 172. 33 Röhreke, 14 f. Vgl. auch J . Tzöbb, Das Oktoberdiplom u. das Februarpatent, in: Die Entwicklung der Verfassung Österreichs vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1963, 87 ff. 34 Redlich, II, 685 ff. 15 R. Wieger, Der Föderalismus im Donauraum, Köln 1960, 68. 30 Zöllner, 406. 37 A. v. Peez, Rückblick auf die Geschäftsperiode 1867/68, Compaß 2. 1869, 5. 38 E. März, Österreichische Industrie- u. Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I. am Beispiel der k. k. priv, C redit-Anstalt für Handel u. Gewerbe, Wien 1968, 95 ff. Zur Währungspolitik vgl. R. Kamitz, Die österreichische Geld- u. Währungspolitik von 1848 bis 1948, in: Mayer Hrsg., 138 ff. 39 Schäffle, Aus meinem Leben, Berlin 1905, I, 97. 40 L. Láng, Hundert Jahre Zollpolitik, Wien 1906, 194 f.; Böhme, Deutschlands Weg, 117 f. 41 Maenner, 12. 18

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Herbere Maus

42 Der deutsche Handelstag. Zusammenstellung der Gutachten deutscher Handels­ kammern, Korporationen u. Vereine über die Erneuerung der Handelsverträge, Berlin 1876, II, 361. 43 Zöllner, 406 f. 44 Vgl. Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848—1867, Abt. VI, Ministerium Belcredi, Wien 1971, 184 ff. 45 Láng, 200 f.; F. Brachelli/H. Migerka, Oesterreichs commercielle u. industrielle Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, Wien 1873, 56 ff.; K. F. Helleiner, Free Trade and Frustration. Anglo-Austrian Negotiations 1860—70, Toronto 1973, 3 f. 46 A. Beer, Die österreichische Handelspolitik im 19. Jahrhundert, Wien 1891, 371 f. 47 Zur Ausgleichsproblematik vgl. K. M, Fink, Die österreichisch-ungarische Mon­ archie als Wirtschaftsgemeinschaft, München 1968, 30 ff.; L. Eisenmann, Le compromis austrohongrois de 1867, Paris 1904; F. Tremel, Wirtschaftliche Probleme des Aus­ gleichs mit Ungarn 1867, in: Bericht über den 10. österr. Historikertag, Graz 1967. 48 Zöllner, 413. 49 Schäffle, Leben, I, 186. Vgl. auch Eder, 158, u. R. C harmatz, Österreichs innere Geschichte 1848—1907, Wien 1908, I, 82. 50 A. Schäffle, Ges. Aufsätze, Tübingen 1884, II, 124. Zu Schmerling vgl. P. Molisch, A. v. Schmerling u. der Liberalismus in Österreich, Brünn 1944. 51 Peez, 5 f. 62 Maenner, 6 u. 11. 53 Láng, 211. 54 Matis, 151. 55 Oppenheimer, 49. 58 Vgl. dazu die Darstellung bei J . Neuwirth, Die Speculationskrisis von 1873, Leipzig 1874/75. 57 Franz, 437; R. C harmatz, Deutsch-österreichische Politik, Leipzig 1907, 94. 58 H. Hartmayer, Die führenden Abgeordneten des Liberalismus in Österreich 1861—1879, Diss. Wien 1949; Müller, 8. 59 C h. Thienen-Adlerflycht, Graf v. Thun im Vormärz, Köln 1967, 25. 60 Η. G oldschmidt-Faber, Sterben u. Werden des liberalen Bürgertums, Berlin 1919, 118. 61 Oppenheimer, 31—34. 62 Schäffle, Leben I, 90; W. Angerstein, Die volkswirthschaftlichen Zustände in Oesterreich, Leipzig 1871, 57. 63 Oppenheimer, 32. 64 G. Freund, Der Liberalismus, Wien 1896, 9. 65 Oppenheimer, 43 ff. 66 J . M. Keynes, Das Ende des Laissez-faire, München 1926, 38. 67 Zum Problem des Sozialdarwinismus vgl. H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Fs. für F. Fischer, Düsseldorf 1973, 133—42. 68 Dazu immer noch die beste Darstellung M. Wirth, Geschichte der Handelskrisen, Frankfurt 31883, 461—66. 69 J . A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, Göttingen 1961, I, 348. 70 Oppenheimer, 66. 71 Ders., 49. 72 Rosenberg, Große Depression, 66. 73 Bericht der Handelskammer 1872—74, 11. 74 W. Weber, Wirtschaftswissenschaften u. Wirtschaftspolitik in Österreich 1848 bis 1948, in: Mayer Hrsg., 636 ff. 75 G. Kolmer, Parlament u. Verfassung in Österreich, Wien 1902, II, 270; Rogge, I, 130.

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Rogge, I, 178 ff.; Wirth, 491. A. Wandruszka, Österreich-Ungarn vom ungarischen Ausgleich bis zum Ende der Monarchie, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Stuttgart 1968, VI, 346. 78 Th. Barth/F, Naumann, Die Erneuerung des Liberalismus, Berlin 1906, 29. 79 Rosenberg, Große Depression, 66 f. Siehe auch Stenographische Protokolle der Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates, VIII. Session, 1875, I, 937 ff. 80 Statistische Materialien über die Besteuerung u. Entwicklung der Industrie­ Aktiengesellschaften in Österreich, zusammengestellt vom Bureau des Industrierates im k. k. Handelsministerium, Wien 1904. 81 Rosenberg, Große Depression, 240 f.; C harmatz, Geschichte, I, 121. 82 Goldschmidt-Faber, 13. 83 Maenner, 39. 84 Zit. bei Rogge, I, 215. 85 Vgl. Maenner, 42: „Nur der Staat stand unzermürbt, als die Betriebe der liberalen Wirtschaftsordnung . . . erbebten.“ 88 D. A. Frantz, Die liberale Doctrin u. die Societät, Berlin 1885, 13. 87 Rosenberg, Große Depression, 241 ff. 88 Matis, 367 ff. 89 Rosenberg, Große Depression, 79. 90 Vgl. A. Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien u. politischen Verbände, in: H. Benedikt Hrsg., Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, 306 ff. 91 Vgl. J. Wolf, Socialismus u. Liberalismus in ihren geschichtlichen Beziehungen, Wien 1887, 5. 92 A. Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867—1918, Wien 1949, 179 ff.; K. Stolz, Die Männer um das Linzer Programm mit besonderer Berücksichtigung des Historikers H. Friedjung, Diss. Wien 1941; R. Knoll, Zur Tradition der C hristlichso­ zialen Partei, Wien 1973. 76

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15. Politischer Liberalismus, „Landed Interests“ und Organisierte Arbeiterschaft, 1850-1880 Ein deutsch-englischer Vergleich Von GUSTAV SC HMIDT

Für die Besdireibung der Rolle des Bürgertums und der Nationalliberalen in der Gründungsphase des deutschen Nationalstaates hat sich ein bestimmtes Vokabular eingebürgert1. Im Mittelpunkt steht der Vorwurf, die National­ liberalen hatten aus einer durchsichtigen Interessenlage heraus die Weiterent­ wicklung (Demokratisierung) der Reichsverfassung unterlassen oder verhindert und dadurch die Sozialdemokratie mehr und mehr in eine Ghettostellung gedrängt2. Die weitgehend übereinstimmenden und definitiv klingenden Urtei­ le, die auf dem Schluß von sozialökonomischen Zusammenhängen und psycho­ logischen Beobachtungen auf politische Konstellationen und Motivationen be­ ruhen, erwecken den Anschein, daß das letzte Wort über die „Reichsgründungs­ partei“ gesprochen sei. Für eine Wiederaufnahme des Falles sprechen jedoch eine Reihe von Gründen: Einmal gibt es die Herausforderung der DDR-Histo­ riographie, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft (Böhme, Gall, Stürmer, Wehler) der Auseinandersetzung mit dem ,bürgerlichen Zeitalter' ausweiche3. Zum anderen kann gezeigt werden, wie lückenhaft die Kenntnisse über Struk­ tur und Politik des deutschen Bürgertums4 bzw. der Nationalliberalen Partei immer noch sind und auf welchen z. Τ. fragwürdigen Grundlagen die vorherr­ schende Auffassung beruht. Ein Vergleich mit der Geschichtswissenschaft an­ derer Länder, der im folgenden auf England beschränkt wird, verdeutlicht nicht nur, was auf dem Gebiet der deutschen Sozial- und Parteigeschichte noch zu tun bleibt5, sondern gibt auch Kriterien an die Hand, die es erlauben, die Maßstäbe der deutschen Geschichtsschreibung über Bürgertum und Libera­ lismus im 19. Jahrhundert zu korrigieren. Hans Rosenberg, der entsprechend seinen Urheberrechten von der jüngeren Forschung dankbar als geistiger Ziehvater zitiert wird, hat einige der wichtig­ sten Urteilskategorien über Rolle und Bedeutung des Bürgertums in der Reichs­ gründungszeit beigesteuert: daß Unternehmer und Bildungsbürgertum aus Angst vor der Volksdemokratie „unter den breiten Fittichen der sich moderni­ sierenden alten Konservativen Schutz suchten“ ; daß das Bürgertum seine Wertehierarchie dem vorindustriell-agrarisch-konservativen Verhaltenskodex

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angepaßt und — in der Aufschwungepoche der 1850/70er Jahre — eine robuste, die Ellbogen benutzende wirtschaftliche Haltung an den Tag gelegt habe, im politischen Bereich aber eher kurzgetreten sei6. Deutlicher als seine „Schüler“ (besonders Zunkel, Stürmer, Böhme) arbeitet Rosenberg die ökonomischen und sozialpsychologischen Faktoren heraus, die wie eine Verschwörung der Umstände gegen den Liberalismus wirkten, so daß der politische Liberalismus eher als „Hauptleidtragender“ denn als Urheber oder Schrittmacher der kon­ servativen Wendung in der zweiten Phase der inneren Reichsgründung er­ scheint7. Für ihn ist der Verlauf der deutschen Geschichte mit der sog. groß­ preußisch-militaristischen Reichsgründung von oben noch nicht entschieden; erst der Börsenkrach von 1873 habe das Signal gegeben für den „Verfall der liberalen Bewegung . . ., für das Erlahmen ihrer ökonomischen, politischen und ideologischen Anziehungs- und Stoßkraft, für die Verengung ihrer gesell­ schaftlichen Basis und für die ebenso unerwartete wie tiefgehende Verschärfung des Klassenkampfes“ 8. Rosenbergs zu vergleichender Betrachtung herausfordernder methodischer Ansatz, jene Einwirkungen der Wirtschaft auf Gesellschaft und Politik zu untersuchen, die zur Umonennerung des Wollens, Denkens und Handelns der sozialen und politischen Kräfte und „damit zur Prägung des geistigen Habitus und des Gesamtcharakters der Epoche wesentlich beigetragen haben“9, ist hingegen bislang ohne Resonanz geblieben. Das mag daran liegen, daß seine gelegentlichen Anspielungen auf England das Kontrastbild einer demokra­ tisierten und damit vergleichsweise krisenfesten Industriegesellschaft entwer­ fen10 — eine allgemein in der deutschen Forschung vertretene Tendenz, die jedoch eher vorgefaßten Meinungen und weniger dem Forschungsstand der neueren englischen Sozial- und Parteigeschichte entspricht. Die These, daß die für die Trendperiode der „Großen Depression“ kennzeichnende „Beschleuni­ gung und Akzentuierung des Durchbruchs kollektivistischer Entwicklungsten­ denzen (in England) . . . von einer Demokratisierung des politischen Liberalismus wie des Konservatismus . . . (begleitet worden) und die Masse des englischen Volkes einschließlich der Industriearbeiter . . . zur Schiedsrichterrolle zwischen den Herrschenden“ aufgestiegen sei, läßt sich aus einer Bilanz der Tätigkeit der Parteiregierungen zwischen 1867 und 1906 nicht ablesen — im Unterschied zur Legendenbildung um „Tory Democracy“ und „Liberal Socialism“ 11. Dieses Urteil versperrt den Zugang zu der vom methodischen Ansatz her naheliegen­ den Frage12, ob etwa die Pendelausschläge des Konjunkturverlaufs in England geringer gewesen sein könnten als in Deutschland, ob die Preis- und Profit­ depression in England durch andere wirtschaftliche Faktoren kompensiert wor­ den sei, oder ob der Umstand, daß in Deutschland die in verschiedenen Berei­ chen anzutreffenden Krisensymptome einander überlagerten, während sie in England aufeinander folgten und insofern isoliert behandelt werden konnten13, den Erklärungsgrund dafür liefern könnte, daß der Rechts- und Linksradika­ lismus in England keine nennenswerte Ausprägung erfuhr. Die Nationalliberale Partei wurde von der Krisenanhäufung besonders getroffen, da zu dem Zeit© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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punkt, an dem sie „den Kampf um die konstitutionellen Rechte in den Vorder­ grund stellte und in Verhandlungen mit Bismarck das parlamentarische Regie­ rungssystem anstrebte“ 14, die in ihrer territorialen und sozialen Zusammen­ setzung angelegten wirtschaftlichen Interessengegensätze zwischen Freihandel und Schutzzoll ausbrachen. Bismarck nutzte die durch die wirtschaftliche Entwicklung verschärfte soziale Differenzierung des Bürgertums zwischen Großbürgertum und Mittelschichten dazu, den Nationalliberalen Minen ins politische Feld zu legen, d. h. über die Kopfe der Parteiführung hinweg an die antisozialistischen Emotionen der Unternehmer, des Bildungsbürgertums, der Handwerker und Kleingewerbetreibenden sowie der bäuerlichen Grund­ besitzer — als dem Wählerpotential der Partei — zu appellieren. Demgegen­ über kam dem Zusammenhalt der englischen Regierungsparteien zugute, daß sie die Möglichkeit hatten, Meinungs- und Interessengegensätze zu Einzel­ fragen zu isolieren, weil die Krisenfälle einander nicht überlagerten; dies erlaubte den englischen Führungsschichten jene vielgerühmte Flexibilität und Strategie der Konfliktvertagung, die den Entscheidungsprozeß gegen die Ge­ fahr abschirmte, daß Parteiflügel ihre Unentbehrlichkeit dazu ausnutzten, wirt­ schaftliche Abschlagszahlungen an bestimmte Wählerschichten zu erzwingen. Ein Vergleich zwischen den sozialen und politischen Interessenformationen in Deutschland und in England während der Hochschwungepoche 1850/1873 mit ihrem revolutionierenden Doppelerfolg im agrarischen und industriellen Sektor, — der Epoche also, in der die liberalen Parteien entstanden (1859) — und während der „Großen Depression“ , die den Anfang vom Ende des Libera­ lismus in Deutschland15, aber auch den Niedergang der englischen Liberalen Partei erlebte, dürfte Aufschluß über die strukturellen Bedingungen des Libera­ lismus und über den Bewußtseinswandel des „Bürgertums“ bringen. Den Be­ zugsrahmen hat Rosenberg mit der These abgesteckt16, daß Bismarcks Revolu­ tion von oben (1878/80) erst möglich geworden sei durch den Umschlag von der Epoche der hochbefriedigenden Konjunkturspanne von 1850/1873, in der die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eliten in wirtschaftspolitischen Fragen an einem Strang gezogen, gleichzeitig aber in national- und verfas­ sungspolitischen Grundsatzfragen miteinander unter geringer Beteiligung der Massen um die Macht gerungen hätten, in die Trendperiode der „Großen Depression“ , in der die Parteien zu ausgeprägten Vertretern und Sammel­ becken spezifischer Interessen wurden. Die Frage ist, warum in England der Übergang vom „Age of Equipoise“ (Burn, d. h. 1850—1865) ins Zeitalter des Sozialimperialismus von keiner Radikalisierung auf Kosten des Liberalis­ mus begleitet war. Zugespitzt formuliert: War der politische Liberalismus eine Schönwetterpartei17, die in der Aufschwungperiode von 1868/1873 in beiden Ländern eine Serie von Reformgesetzen verabschieden konnte, aber gegen das Kesseltreiben der von diesen Aktivitäten betroffenen Interessengruppen und als politische Pechvögel der Wirtschaftskrise18 wenig ausrichten konnte? Diese Ohnmacht äußerte sich in der gerade von Exponenten des linken Flügels der liberalen Mittelpartei, von Eduard Lasker (1875) wie von John © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bright (1873) gestellten Diagnose19, daß der Liberalismus ein neues belebendes Prinzip benötigte, um mit Elan das Reformwerk der erfolgreich abgeschlossenen ersten Phase fortführen zu können. Während die Gladstone-Partei ihr in der Hochschwungphase geschaffenes Reform-Image durch moralische Feldzüge le­ bendig hielt und durch das Ausweichen des Gegenspielers Disraeli auf ähnliche Gefilde der Legendenbildung nicht zur Inangriffnahme der interessengebunde­ nen Probleme der „Great Depression“ gezwungen wurde, geriet der deutsche Liberalismus in eine unvergleichbare Krise. Mit Fritz Stern zu sprechen, war es Deutschlands besonderes Mißgeschick, „that the crises precipitated by capi­ talism coincided with twenty years of Bismarckian rule“ 20. Die Verderbnis der politischen Sitten durch Bismarcks innenpolitische Krisenstrategie und die gleichzeitig vom Industriekapitalismus — zudem im Moment des Umschlags vom Boom und Milliardenrausch zur „Großen Depression“ — hervorgerufene Fundamentalkrise der moralischen Wertnormen schufen ein Erfahrungsfeld, auf dem dem Liberalismus eine Ortsbestimmung schwerfallen mußte. Während die Weltwirtschaftskrise in Deutschland von den Gegnern des Liberalismus sofort genutzt wurde, um die Unzulänglichkeit der liberalen Ideologie und die Untauglichkeit der liberalen Politiker anzuprangern, blieb das politische Duell zwischen Gladstone und Disraeli, aber auch der Wettstreit der reorgani­ sierten und formal-demokratisierten englischen Parteien bis in die 80er Jahre von wirtschaftlichen Krisensymptomen und Interessenformationen nahezu ver­ schont. Die bürokratische, staatsinterventionistische Tradition tat in Preußen­ Deutschland ein übriges, um den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus zu diskreditieren, der in der kurzen Zeitspanne zwischen Reichsgründung und Depression wenig Gelegenheit fand, seine Grundvorstellungen durchzusetzen oder zu verankern und sich gleichzeitig aus der Umklammerung alter und neuer Gegner (Kirche, Konservative, SPD) zu lösen. Hinzu kam, daß die Wirtschaftskrise in England vor Mitte der 80er Jahre nicht das Ausmaß erreichte, daß den bedrohten Berufsklassen und Gesellschaftsschichten das Ein­ greifen der Staatsmacht zwingend erschien und von organisierten Interessen mit Nachdruck gefordert wurde. Bevor ich in die Erörterung dieses Themenkomplexes eintrete, muß ich die einleitend gegen die vorherrschende Auffassung angemeldeten Bedenken präzisieren. Sie beziehen sich auf zwei Bereiche: Einmal halte ich die Aussagen über die politische Resignation des nationalen Liberalismus nicht für stichhal­ tig21. Zum anderen sprechen gewichtige Gründe gegen die Plausibilität der Schlußfolgerungen, die aus Beobachtungen über soziale Verhaltensweisen des „Bürgertums“ für die Ausgestaltung des politischen Klimas im Bismarckreich gezogen werden. Schließlich muß die Kritik an den Deutungen von Zunkel, Böhme, Stürmer bei der Ungenauigkeit der verwendeten Kategorien einsetzen, die nicht immer klarmachen, ob die Aussagen über das „unpolitische Bürger­ tum“ auch für die bürgerliche Mittelpartei gelten sollen. Die Urteile über die Interessenbedingtheit der bürgerlichen Zuflucht in die Arme des preußischen Militär- und Verwaltungsstaats werden zu unbesehen auf die Politik der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Nationalliberalen Partei ausgedehnt; man konstatiert z. B., daß die Partei in der Krise nach 1873 nicht mehr als Interessenvertretung des Bürgertums galt, lastet ihr aber dennoch alle Folgen des Sündenfalls des Besitz- und Bildungsbürgertums an. Demgegenüber veranschaulicht Rosenbergs Situations­ analyse22, warum der politische Liberalismus im Kampf gegen die hemmungs­ lose Ausnutzung der „falschen“ Bewußtseinslage des Bürgertums durch Bis­ marck, die Konservativen, das Zentrum, die Linksliberalen und die Sozial­ demokratie gehandicapt war. Die Nationalliberalen verloren das mit hohem Einsatz, wenn auch verzagt gespielte Spiel um die Zukunft des Reiches, weil sie sich nicht rechtzeitig auf die sozialen Veränderungen im Gefolge des Um­ schlags von der Hochschwungepoche in die „Große Depression“ einzustellen vermochten. Das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem „C äsarismus“ Bis­ marcks, der bestimmte, von Rosenberg und Wehler analysierte, soziale und sozialpsychologische Auswirkungen der Krisenzeit gegen die Intentionen des gemäßigten politischen Liberalismus auszunutzen wußte, ist anders zu bewer­ ten als die an Kehr anschließende These, daß die Wendung des Bürgertums zum Staat nach dem Ausgang des Verfassungskonflikts eine Wendung zu den in ihm entscheidenden Einfluß besitzenden sozialen Schichten bedeuten mußte und daß der politische Liberalismus, gebannt durch die Furcht vor der radi­ kalen Demokratie, den Blick für die Notwendigkeit politischer Machtverschie­ bungen im Gefolge des sozialen Strukturwandels verlor23. Grundlage der Deutung, daß in der Bismarckzeit jene grundlegende Kon­ stellation sozialer Machtbildung und politischer Kräftekombination geschaffen wurde, die die Herausbildung der Demokratie im Kaiserreich zunächst blockiert und dann — in der Weimarer Republik — durch die Unterstützung der Hitlerbewegung torpediert habe, sind eine Reihe von Auffassungen über Rolle und Bedeutung der preußischen Elemente in der deutschen Politik (Monarchie, Militär, Bürokratie, agrarische Machteliten) und über das Bürgertum, genauer das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, das als Emanzipationsbewegung ab­ gedankt habe24. Anzeichen der Korrumpierung des Bürgertums sieht man in der Tendenz zur Übernahme des Moralkodex und der Lebensformen der vorindustriell-agrarischen Führungsschichten, im Erwerb von Landbesitz und im Konnubium, in der Interessengemeinschaft in den Parlamenten gegen Ge­ setzesinitiativen von links und im Ruf nach Unterdrückungsmaßnahmen, z. Β. dem Sozialistengesetz. Niemand wird die Richtigkeit der Beobachtungen be­ streiten wollen. Sie beruhen jedoch teils auf einer zu dünnen Materialbasis25, teils auf einer einseitigen Blickrichtung auf die Unternehmer — als dem Gegenpol zur Arbeiterschaft, die das vorrangige Interesse der Sozialgeschichte besitzt —, deren soziale und politische Verhaltensweisen stellvertretend für „Bürgertum“ stehen. Die These von der politischen Resignation des Bürgertums in den 1850/60er Jahren, die sich schon am Beispiel Bennigsens widerlegen ließe26, geht unbekümmert darüber hinweg, daß sich im Lager der Konservativen um Roon und Blanckenburg trotz des Prestigegewinns der preußischen Mon­ archie nach 1871 eine gewisse Resignation bemerkbar machte27. Diese These © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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verliert noch stärker an Substanz, wenn man berücksichtigt, daß die sog. liberale Bourgeoisie vor den Wahlen von 1877 die von der Arbeiterpartei drohenden Gefahren kaum ernst nahm bzw. registrierte, sondern vielmehr argumentierte, die SPD sitze auf einem absterbenden Ast28. Ähnlich wie in England zum Zeitpunkt der zweiten Wahlrechtsreform (W. Bagehot, R. Lowe) fürchtete man auch auf deutscher liberaler Seite die Massen weniger wegen ihrer eigenen revolutionär-militanten Potenz, sondern wegen ihrer Anfälligkeit gegenüber klerikalen, linksradikalen und/oder konservativen Magnaten und Demagogen, d. h. Nachahmern Napoleons III. Nimmt man hinzu, daß um 1870 auf Seiten der bürgerlichen Schichten Hochstimmung und ein Gefühl der Selbstsicherheit herrschten29, die Ausdruck in dem Glauben fanden, die säkulare, in England vorherrschende Welle des Liberalismus werde auch in Deutschland, nur gedämpft und verlangsamt durch die Tradition des preußischen monarchisch-bürokratischen Staates und das Gebot der Rücksichtnahme auf das Zweckbündnis mit Bismarck, voll zur Geltung kommen, so festigten die aktuellen Erfolge im Gesetzgebungswerk die Hoffnung, als Juniorpartner an der Macht partizipieren und die Ausgangs­ position für den Machtkampf „nach Bismarck“ ausbauen zu können. Vom Ergebnis her gesehen, wirkt dieser auf der bürgerlich-liberalen wirtschaftlichen Gesetzgebung beruhende Zweckoptimismus — daß Bismarck aus dem objekti­ ven Zugzwang des wirtschaftlich-rechtlich-politischen Einheitsraumes heraus auch den zweiten Schritt tun oder zulassen müsse, nämlich die freiheitliche Entwicklung im Innern voranzubringen — wie ein Alibi, um sich über die Unzulänglichkeiten der Verfassungs- und Gesellschaftsordnung hinwegzutrö­ sten. Die sog. liberale Ära täuschte vor, daß der Staat in den Dienst der Gesellschaft genommen und nicht mehr umgekehrt die Gesellschaft dem Staat dienstbar gemacht würde. Die Liberalen zögerten daher auch nicht — besonders im Kulturkampf30 —, den „Staat“ , den sie in seiner legislativen Funktion verstanden31, in den Dienst ihrer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Interessen zu stellen. Der Vorwurf der Marxisten sowie der Konservativen, der Rechts­ and Verfassungsstaat sei das Instrument, mit dem das politisch-liberale Bür­ gertum seine Herrschaft über die anderen Klassen ausüben wolle, entbehrt insoweit nicht der Grundlage. Durch seine Bereitschaft, den Staat als gesetzgebende Gewalt zu nutzen, trug der Liberalismus dazu bei, die Machtbefugnisse des Staates auszudehnen und u. U. den Einsatz staatlicher Machtmittel gegen die Gegner der Politik des Teilbündnisses mit Bismarck zu tolerieren bzw. zu verlangen. Um einen Bumerangeffekt zu vermeiden, waren Verwaltungsreformen (Wachablösung) und Verfassungsreform (schrittweise Parlamentarisierung) nötig, im Zuge der Verschärfung der Konfliktlage zwischen Bismarck und den Nationalliberalen seit Ende 1874 sogar dringlich. Der Tendenz, die Staatsmacht im Bereich des Wirtschaftslebens abzubauen, standen also Tendenzen zur Aufwertung und Ausweitung der Staatsbefugnisse gegenüber. Solange die Liberalen sich Hoffnungen auf die Liberalisierung von Staat und Verwaltung und damit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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auf einen Machtwechsel machen durften, schienen die Gefahren der Macht­ steigerung des Staates kontrollierbar. Gegen eine vereinfachte und methodisch oft zweifelhafte Erklärung der sozialen und politischen Machtstrukturen im Bismarckreich drängt sich schließ­ lich aus einem weiteren Grund Widerspruch auf: Bei einem Vergleich mit der englischen Entwicklung im selben Zeitraum verlieren einige für die Beweisfüh­ rung maßgebliche Indizien ihre auf die Einmaligkeit des deutschen Falles bezogene Aussagekraft. Die englische Forschung zur Partei- und Sozialgeschich­ te des Viktorianischen Zeitalters hat nämlich herausgearbeitet, daß auch dort die alten Führungsschichten bis hin zur dritten Wahlrechtsreform 1884/85 ihre soziale und politische Machtstellung relativ ungebrochen und unangefochten behaupten konnten, wobei Gladstone, der die Massen und die „Radicals“ an die Liberale Partei band, den Einflußbereich der für regierungsfähig gehal­ tenen „Mobility“ zu erhalten suchte, während die „C ommercial and Industrial“ Middle C lasses“ , vor allem die „Upper Middle C lasses“ , durch Einheirat, Landerwerb und besonders durch die Assimilierung über das Bildungswesen (Public Schools, „Gentleman“ ) freiwillig den Prozeß der Anpassung an tra­ dierte, vorindustrielle Sozialnormen vollzogen und sich mit einer Machtteilung zufrieden gaben, die den Politik als Beruf begreifenden „Landed Interests“ zum Vorteil gereichte32. Die geschickte Auffangtaktik der von liberal-konser­ vativen Regierungschefs im unausweichlichen Moment durchgeführten Wahl­ rechtsreformen habe die ursprüngliche Forderung der industriellen Führungs­ schichten Nord- und Mittelenglands, die auf einen Machtwechsel zugunsten der „Middle C lasses“ abzielte, abgeblockt33. Die Flucht der Unternehmer, Handelsleute und Bankiers zunächst unter die Fittiche Palmerstons und dann zur Konservativen Partei entzog der Freihandelsbewegung als klassenbewußter Emanzipationsbewegung gegen die Großgrundbesitzer ihre Stoßkraft34. Die auf englischer Seite anzutreffenden vergleichbaren Erscheinungen sollten davor warnen, aus Fakten zu unvermittelt auf Motivationen und Intentionen von Gruppen zurückzuschließen und diese als Erklärungsgründe für folgen­ schwere verfassungspolitische Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen, Vergleiche auf der Ebene der Selbsteinschätzung und der Stimmungslage, denen konkretisierbare Angaben über soziale und politische Verhaltensweisen entsprechen, drängen dazu, stichhaltigere Erklärungen für die Unterschiede in der Entwicklungsrichtung der englischen und der deutschen industriellen Gesellschaft aufzuspüren. Was zu leisten bleibt, ist eine exakte, die Ergebnisse verschiedener Frage- und Forschungsansätze integrierende Bestimmung der Konstellation in Deutschland, in der 1. der säkulare Konflikt: „Verfassungs­ reform“ contra „Konservatismus“ in den politischen Klassenkampf zwischen Solidarprotektionismus und Sozialismus unter Aufhebung der Mittelpositionen umschlug, und in der 2. die Reformvertreter ihren Blick gegen links richteten und aus Sozialistenfurcht ihren Glauben an die Möglichkeit des dritten Weges mit ihnen als eigenständiger breiter sozialer Trägergruppe verloren bzw. ver­ loren geben mußten. Mein Beitrag will versuchen, anhand eines Vergleiches © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mit englischen Entwicklungslinien einige Besonderheiten der Situation zu ver­ deutlichen, in der Bürgertum und Liberalismus in Deutschland wirkten35. Der chronologische Zusammenfall der Reichsgründungszeit mit einer guten Industriekonjunktur und einer günstigen Lage der Landwirtschaft36 einerseits und die Entstehung der Liberal Party im „Age of Equipoise“ andererseits rücken objektive Bedingungen ins Blickfeld. Sie wirkten sich zunächst gleich­ artig auf beide Länder aus. Die Ausbildung einer interdependenten Verkehrs­ wirtschaft begründete eine Wechselwirkung zwischen Außenwirtschaft und Lebensstandard. Während die Freihandelsstruktur in England erhalten blieb, da die Vorteile aus der „Workshop-of-the-World“ -Funktion noch das sich verlangsamende wirtschaftliche Wachstum kompensierten37 und massive In­ teressen das in der Hochschwungpenode etablierte System auch weiterhin poli­ tisch abstützten, bewirkte die „Große Depression“ in Deutschland die Ausprä­ gung einer Interdependenz von nationalem Selbstbewußtsein und Wirtschafts­ kraft. In Deutschland erfolgte infolgedessen eine Aktivierung des national­ staatlichen Denkens durch wirtschaftliche Elemente, die zugleich eine Stoß­ richtung gegen den englischen Konkurrenten bewirkten. Aus der bisherigen regen Zusammenarbeit, die der Arbeitsteilungshypothese der Freihandelslehre entsprach, wurde Verdrängungswettbewerb38. Aus ihrer Interessenlage heraus wurden die ostelbische Landwirtschaft, die ihren englischen Absatzmarkt gefährdet sah, und die Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die ihren Binnenmarkt gegen das Eindringen englischer Produkte abschirmen wollte, zu den Banner­ trägern einer englandfeindlichen Politik (Kehr). Elemente des wirtschaftlichen Prestigestrebens und Konkurrenzdenkens verschmolzen mit älteren Traditionen politisch-militärischen Wettbewerbs. Von diesem Stimmungsumschwung profi­ tierten die wirtschaftlichen Interessen, die in der im Zeitalter der Balance­ of-Power-Politik vorherrschenden Konzeption der nationalen Sicherheit Schlüsselfunktionen innehatten. Von Axiomen der nationalen Sicherheit aus­ gehend, konnten sie die Regierung an ihre Pflicht erinnern, nunmehr für die wirtschaftliche Expansion und die soziale Stabilität die gleiche Sorgfalt auf­ zuwenden, die sie zuvor der Pflege ihrer militärischen Machtmittel hatte angedeihen lassen. Die Annäherung zwischen getreideanbauender ostelbischer Landwirtschaft, die die Schutzzollparole aufgriff, und den west- und ostdeut­ schen Industriezentren wurde noch dadurch gefördert, daß die „Landwirtschaft in den stärker industrialisierten Gebieten . . . hauptsächlich binnenmarktorien­ tiert (war) und . . . (dort) die den Solidarschutz von Industrie- und Landwirt­ schaft bejahende Richtung“ dominierte39. Der Solidarprotektionismus, der die deutsche Entwicklung von der englischen grundlegend unterscheidet, bildete die Plattform, von der aus das politische Rechtskartell den Monopolanspruch der von ihm repräsentierten Machteliten durch Entrechtung und Ausschluß der Arbeiterschaft von den EntScheidungsprozessen in Wirtschaft und Politik aufrechterhielt. In England hatte sich in der Hochschwungepoche die Verbin­ dung von „Landed Interests“ und „Upper Middle C lasses“ durch Teilnahme des Adels an der Industrialisierung und durch Landerwerb und Nobilitierung 18 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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der großbürgerlichen Honoratioren vertieft und eine Spitze gegen die „Radi­ cals“ und gegen „sozialistische Experimente“ angenommen40, jedoch erstarrten die interessenmäßigen Loyalitäten unter den Wettbewerbsbedingungen des Zweiparteiensystems, der Wahlrechtsreformen und wirtschaftlich-sozialer Dif­ ferenzierungsprozesse nicht zur Klassenkampfformation. Für England konnte der Sozialhistoriker Perkin vielmehr das Konzept einer „Viable C lass Society“ entwickeln. Dabei spielte es offenbar eine Rolle, daß die stark ausgeprägten „Localisms“ , die durch die Wahlrechtsreformen eher geschützt wurden, erst allmählich durch technische Innovationen (Eisenbahn, Telegraf, Massenpresse) aufgebrochen wurden; die potentielle Klassengesellschaft der „First Industrial Nation“ (Mathias) fand also ein Gegengewicht in älteren Strukturelementen einer „klassenlosen“ Gesellschaft, die die Einflußchancen der Aristokratie in den „C ounties“ und der Unternehmer in den Boroughs“ verlängerten. Jene Gegengewichte behielten solange ausschlaggebende Bedeutung, wie die Lokal­ verwaltung den sozialen und politischen Alltag bestimmte, d. h. bis in die 1880er Jahre. Das industrielle Unternehmertum blieb außerdem so stark von seinem Einfluß auf die Legislative überzeugt, daß es in der Übertragung des Wahlrechts auf die städtische Lohnarbeiterschaft durch die Wahlreform von 1867 noch keine Bedrohung seiner Interessen erblickte; 1884/85 war das an­ ders41. Die parteitaktischen Manöver Disraelis und geschickte Amendments der „Backbenchers“ bewirkten letztlich die Einführung des gleichen Wahlrechts in den „Boroughs“ und beseitigten damit den Zankapfel zwischen den gehobe­ nen Arbeiterschichten und den Liberalen, die ein qualifiziertes Wahlrecht vorge­ zogen hätten42. Durch Angriffe auf die „Landed Interests“ konnten die „Radicals“ zwar das Image der Liberal Party als Emanzipationsbewegung erneuern und den Glauben an die Interessenharmonie von Bürgertum und Arbeiterschaft festigen, doch machten die Liberalen als Regierungspartei unter Gladstone keine Anstalten, den Grundstein für den Wohlfahrtsstaat zu legen oder die als regierungsfähige Schicht betrachteten Whigs aus der Partei hinaus­ zudrängen. „Gladstone's creation of a high minded democracy did not lead to changes in public policy comparable to the revolution he caused in rhetoric and public expectations.“ 43 Erst 1880—1885 verabschiedete die zweite Gladstone-Regierung Maßnah­ men, die die gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Machtstellung der „Landed Interests“ wirklich antasteten44. Auch die Konservative Partei be­ folgte die Strategie, die „satisfied and defensive sections of the bourgeoisie into alliance with the land“ zu ziehen, „in a party combining the defence of the constitution and the social order with the pursuit of cautious progress“ 45. Die innere Kräfteverteilung in der Partei, die sich als Hort des Widerstands gegen die effektive Machtergreifung der linksemanzipatorischen Kräfte ausgab, ließ lediglich Palliative zu, die weder steigende Staatsausgaben noch Staats­ intervention bedeuteten. Die Vorgänge, die in Deutschland die Wendung zum Interventions- und Steuerstaat förderten, fanden in England ihr Gegenstück erst zu einem späteren Zeitpunkt46. Während in Deutschland Mitte der 70er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Jahre unter der „Druckglocke der industriewirtschaftlichen und agrarischen Wachstumsstörungen“ (Wehler) die Abkehr vom Liberalismus erfolgte, blieb den englischen Parteien in der politischen Umbruchphase von 1867 bis 1885 der Konflikt erspart, wem die Lasten für die äußere Sicherheit und die innere soziale Stabilität aufgebürdet werden könnten47. Es waren außenpolitische, von Gladstone moralisierte Gegensätze, und weniger die von Flügelgruppen getragenen programmatischen Divergenzen in der Innenpolitik, die die Aus­ bildung eines Zweiparteiensystems begleiteten, das zum Rechts-Links-Schema tendierte. Beide Parteien vermieden es bis in die 80er Jahre, die zunehmend verschärften ideologischen und verfassungspolitischen Konfrontationen durch eine Gesetzgebung zu ergänzen, die den Lebensnerv der im Gegenlager domi­ nierenden Interessengruppen verletzte. Die Möglichkeit, Regierungspartei zu sein, zu werden oder zu bleiben, entwickelte einen stärkeren Solidarisierungs­ effekt als die ohnehin nicht vorhandene programmatische Basis oder die Lei­ stungen der eigenen Regierung. So gesehen, enthüllt die von einigen national­ liberalen Führern in der Krise ausgegebene Devise, offiziell Regierungspartei zu werden, das Wunschbild, durch den Soildarisierungseffekt des „to be in“ den drohenden Verfall der Partei zu vereiteln. Für die unterschiedliche Entwicklung des Liberalismus in England und Deutschland fiel wohl entscheidend ins Gewicht, daß in England das industrielle Bürgertum die Freihandelsbewegung trug; daß die Landwirtschaft durch struk­ turelle Verbesserungen und günstige Marktbedingungen die politische Agonie infolge der Aufhebung der C orn Laws überwand48; daß der Ansatz zum Klassenkampf innerhalb der besitzenden Klassen durch die Teilhabe von Landwirtschaft und Industrie am Konjunkturaufschwung abgebogen wurde49; daß die beschleunigte Industrialisierung und die Steigerung des Anteils der Lohnarbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung, aber auch die Struktur der englischen Landwirtschaft die Rückkehr zum Agrarschutzzoll in der Depres­ sionsphase aus politischen Gründen ausschlossen und die wichtigsten Industrie­ zweige (Kohlebergbau, Baumwollindustrie, Schiffahrt) teils aus Eigeninteresse am Freihandel festhielten, teils wie die Eisen- und Stahlindustrie und der Maschinenbau auf den Märkten des „Formal and Informal Empire“ für die Rückschläge in den wirtschaftlichen Großraumstaaten (Deutschland, USA, Ruß­ land) Ersatz fanden50. Demgegenüber hatte der Übergang zum Freihandel in Preußen in der Kon­ junkturperiode 1850/1873 zwar den Brückenschlag zwischen dem agrarischen Osten und dem Westen des preußischen Führungsstaates erleichtert51, aber die schutzzöllnerische Interessenlage der Schwerindustrie bzw. wichtiger Wirt­ schaftsregionen des künftigen deutschen Reiches lediglich übertünchen können52. Wie Gall gegenüber Böhme hervorgehoben hat53, war die Rücksichtnahme auf die Interessen des Handelsbürgertums beim Übergang zum Freihandel nur ein Nebenprodukt der den „objektiven“ Entwicklungstendenzen entspre­ chenden preußischen Wirtschaftspolitik. Diese genügte in erster Linie der Inter­ essenlage und den Wünschen der bisherigen staatstragenden Schicht des ost18*

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elbischen Großgrundbesitzes. Die Überleitung zum Freihandel, an die der Liberalismus so weitgehende wirtschafts- und verfassungspolitische Erwartun­ gen knüpfte, war in Deutschland also nicht gleichbedeutend mit einem Auftakt zur Liberalisierung bzw. „Entkonservauvierung". Die „Große Depression“ zerstörte in Deutschland die Basis, auf der die Erwartungen des Liberalismus beruhten, denn mit der Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums ent­ fiel die Möglichkeit, daß einerseits der Wohlstand nach unten durchsickerte und andererseits die Hebung des Bildungsstandes unter bürgerlich-liberaler Protektion, ζ. Β. in den Arbeiterbildungsvereinen, eine Verbürgerlichung der Lebensformen nach sich ziehen werde, hinter der sich das Bild einer konflikt­ freien Gesellschaft verbarg. Auch in England erzielten die industriellen Träger­ gruppen der liberalen Wirtschaftsära im politischen Machtbereich keinen revo­ lutionierenden Durchbruchserfolg54, doch verband sich ihr tarifpolitisch be­ dingtes Interesse an niedrigen Lebenshaltungskosten dauerhaft mit der Inter­ essenlage der Arbeiterschaft, so daß einer der Impulse für eine wirtschafts­ politische Kräftekombination analog dem „Kartell der schaffenden Stände“ bzw. „raffenden Hände“ in Deutschland auf Kosten der breiten Schichten der Konsumenten und Arbeitnehmer fehlte. In Deutschland begünstigten strukturelle Faktoren den Solidarprotektionis­ mus55: In den 1870er Jahren bestand noch annähernd ein Gleichgewicht zwi­ schen Industrie und Landwirtschaft. In beiden Bereichen war die großbetrieb­ liche Organisation, vor allem aber die Verbandsbildung weiter ausgebildet als in England. Auf beide Bereiche setzte gleichzeitig von außen ein wirt­ schaftlicher Konkurrenzdruck ein, so daß die organisierten Interessen sich mit­ einander als gleichgewichtige Partner verständigen und den „Staat“ auffordern konnten, ihre Vorschläge zur Abwehr der außenwirtschaftlichen Bedrohung aufzugreifen und Maßnahmen zur Stabilisierung des bestehenden gesellschaft­ lichen Gleichgewichts zu ergreifen. Dank ihrer relativen inneren Homogenität konnten die Exponenten der in den Leitsektoren großbetrieblich organisierten deutschen Wirtschaft Absprachen von hoher Verbindlichkeit treffen und auf­ grund ihres Interesses an der Verteidigung des soziopolitischen Status-Quo die soziale und politische Stützmacht für eine konservative Sammlungspolitik bilden. Der Unterschied zwischen der Dominanz wirtschaftsnationalistisch-schutz­ zöllnerisch-antiliberaler Tendenzen in Deutschland und der bleibenden Vor­ rangstellung freihändlerisch-liberaler Einflußfaktoren in England scheint durch unterschiedliche Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das politische und wirtschaftliche System beider Länder bedingt zu sein. „Objektiv“ folgte in beiden Ländern die agrarische Strukturkrise (1879—86) auf die in Deutschland in der ersten Phase der Depression stärker ausgeprägte industrielle Krise (1873—1878). Entscheidender war aber die Tatsache, daß sich fast gleichzeitig zwei Interessenverbände, der „C entralverband Deutscher Industrieller“ und die „Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer“ , konstituierten, die dann seit Anfang 1878 gemeinsam auf der Basis einer antiliberalen, zunehmend © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schutzzöllnerisch akzentuierten Wirtschafts- und Sozialpolitik agitierten und operierten56. Für die Entstehung der beiden Kräfte, die in Deutschland als Folge der Depression entstanden (Kartelle und Interessenverbände) bzw. vom Umschwung gegen den Liberalismus profitierten (Zentrumspartei), die bei der Wendung zum Schutzzoll eine Schlüsselrolle spielten und daher m. E. in erster Linie für die Rolle des „Sündenbocks“ der deutschen Sonderentwicklung in Betracht kommen57, fehlten auf englischer Seite die Voraussetzungen. Mit einer geringen Phasenverschiebung gegenüber Deutschland traten auch in England soziale und politische Folgeerscheinungen in der Depression von 1882 bis 1886 ein, die mit dem deutschen Fall korrespondieren: „Fair Trade League“ 58 und Sozialimperialismus59, monopolistische Arrangements und das Wiederaufleben einer kämpferischen Arbeiterbewegung sind neben der Um­ gruppierung der Parteien infolge der „Home-Rule“ -Frage und dem Niedergang der Liberal Party in erster Linie zu nennen. Nach der 1884/85 erfolgten Demokratisierung des Wahlrechts, mithin von dem Moment ab, in dem „Bread-and-Butter-Issues“ das Wahlverhalten der „C lasses“ entscheidend be­ stimmten60, gerieten auch die englischen Liberalen in eine ihre Vorherrschaft brechende Zerreißprobe: Die Whigs hielten ihre finanzielle Unterstützung zu­ rück, die „Suburban“ -Wählerschaft wechselte zur Konservativen Partei über, in den Großstädten wandten sich die Arbeiterwähler von ihr ab, und schließ­ lich reduzierte die Umverteilung der Sitze von den Doppel- auf Einmannwahl­ kreise (1885) die Möglichkeit, bei der Kandidatenaufstellung einen Interessen­ ausgleich vorzunehmen61. Um die Wirkungschancen des Liberalismus zu verdeutlichen, stelle ich ab­ schließend die wichtigsten sozial-politischen Beziehungsgeflechte in Deutschland und England einander gegenüber. In der Hochschwungepoche, in der die fort­ schreitende Industrialisierung das politische Potential für eine Arbeiterpartei erhöhte, verfiel die Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft nach dem Schei­ tern der C hartistenbewegung 1848 in einen politischen Dämmerschlaf62. Die Unterschiede zwischen „Artisans“ und „Unskilled Labour“ waren noch zu ausgeprägt63, um aus den „Working C lasses“ eine Labour Party zu formen. Für die „Skilled C raftsmen“ , das Einzugsfeld der Liberalen Partei, bestand in der Hochschwungepoche kein Anlaß, sich von den „Middle C lass“ -Liberalen abzusondern, mit denen sie im Alltag den gleichen wirtschaftlichen und religiö­ sen Einflüssen unterlagen64. Das Risiko einer zu frühen Parteigründung, von der Wolfgang Schieder im Fall der SPD spricht, lehnten vor allem die engli­ schen Trade Unions ab. Offenbar wirkte auch der Fehlschlag des C hartismus nach, der sich nicht aus den „Upper Trades“ , sondern in der Hauptsache aus den „Lower“ , von wirtschaftlichen Abschwüngen stärker betroffenen „Trades“ rekrutiert hatte65. Der pragmatische „Trade Unionism“ , der sich seit dem „Repeal of C ombination Laws“ 1824 relativ ungehindert betätigen konnte, führte erfolgversprechende industrielle Aktionen durch oder betrieb eine ge­ zielte Agitation zur Erreichung begrenzter politischer Zwecke, z. Β. einer Re­ form des Wahl- und Verbesserung des Koalitionsrechts, mit der Folge, daß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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er nach Erfolgen wie nach Niederlagen in eine Art Ruhestand zurückpendelte. Eine eigenständige politische, ständig präsente Arbeiterbewegung spielte auf der englischen politischen Bühne vor Ende der 80er Jahre demzufolge keine Rolle. Das ist umso mehr zu beachten, als weder Gladstone noch die „Radicals“ stellvertretend für den Vierten Stand einen die Machtverhältnisse umgestalten­ den Klassenkampf gegen die besitzenden Schichten führten oder auch nur Kandidaturen von Gewerkschaftsführern in den Unterhauswahlen entsprechend dem Gewicht ihrer Unterstützung für die Liberal Party förderten66. Einer der Erklärungsgründe für die Verselbständigung der deutschen Arbeitervereine von ihren linksliberalen Protektoren trifft mithin im englischen Fall nicht zu. Während der deutsche Liberalismus in den 60er Jahren keinen Resonanzbo­ den für seine Lehre fand, durch Selbsthilfe die sozialen Ungleichheiten über­ winden zu können, und damit die Spaltung zwischen liberaler und sozialer Demokratie (G. Mayer) beschleunigte67, gründete das Zusammenwirken zwi­ schen „Middle C lass Radicals“ und „Artisans“ in England auf der Überzeu­ gung, daß es in jedermanns Reichweite liege, seinen Wohlstand zu heben und den sozialen Abstand einzuebnen. „To vote Liberal was closely tied to the growing ability of whole new classes to stand on their own feet and lead independent lives.“68 Die englischen Liberalen (Bright, Regierung Gladstone 1866), die den „objek­ tiven“ Unterschied zwischen „Upper and Lower Trades“ durch ein qualifizier­ tes Wahlrecht verfassungspolitisch festschreiben wollten, kompensierten diese Absage an die demokratischen Impulse der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter durch die Unterstützung im Kampf um die Sicherung und Verbesse­ rung des Koalitionsrechts. Diese Unterstützung der bürgerlichen Linken erhielt den Glauben der „Respectable Working C lasses“ an die Reformfähigkeit des politisch-sozialen Systems; umgekehrt nährte die freiwillige Unterwerfung der gehobenen Arbeiterschichten unter die sozialen Normen des mittelviktoriani­ schen Zeitalters bei den regierenden Schichten die Vorstellung, „that the good working man could be relied on to dissociate himself from, and to help the rest of the respectable community put down, the bad one“ 69. Die englische marxistische Sozialgeschichte (R. Harrison, E. Hobsbawm) bemüht für die Erklärung dieses Phänomens die Denkfigur der „Labour Aristocracy“ und die Korrumpierung der mit den liberalen Parteimanagern kollaborierenden Gewerkschaftsführer, während die „bürgerliche“ Sozialge­ schichte die „Deferential Theory“ (Bagehot, D. C . Moore) oder andere Versio­ nen des „Localism“ vertritt. Auch die englische Konservative Partei ermutigte diese Tendenzen, indem sie den Gebrauch der Streikwaffe durch den Schutz des Gewerkschaftsvermögens vor der Beschlagnahme zur Kompensation von Streikverlusten an die Unternehmer gewissermaßen freigab. Der Bericht einer Königlichen Untersuchungskommission (1869) sowie das zurückhaltende Vor­ gehen der Gewerkschaftsführer in Wirtschaftskämpfen hatten die Öffentlichkeit vom gesellschaftlichen Nutzwert verantwortlicher Arbeitervereine überzeugt70. Wahlrechtsreform und Verbesserung des Koalitionsrechtes, in Deutschland wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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in England von konservativen, um die Aufrechterhaltung der „Landed Inter­ ests“ besorgten Politikern zwischen 1867 und 1875 verabschiedet70a, haben ihren Ursprung in einem machtpolitischen Realismus, der sich gegen das Zweckbünd­ nis zwischen Linksliberalen, Freikonservativen (Whigs) und bürgerlichen Mit­ telparteilern richtete. Man hoffte, den Anspruch der Liberalen auf Vertretung des Volkswillens demaskieren zu können, um dann — mit Hilfe nationalistisch­ imperialistischer Demagogie und „War Scares“ — das „natürliche“ Bündnis zwischen den alten staatstragenden Schichten und den Massen auch unter den Bedingungen eines demokratisierten politischen Betriebs wiederherstellen zu können. Diese Kalkulation ging jedoch in beiden Fallen nicht unmittelbar auf. Auf die Wahlreform folgte in beiden Ländern eine „liberale Ära“ , auf die Gewerkschaftsgesetze der englischen Konservativen (C onspiracy and Protec­ tion of Property Act, Emphyers and Workmen Act, 1875) eine zweite Re­ gierung Gladstone (1880/85). Die Erfolge angesehender Liberaler als „Ar­ bitrators“ unter den „C onciliation Agreements“ und ihre sozial-politische Tä­ tigkeit auf der Ebene der lokalen Selbstverwaltung sicherten der Liberal Party die Loyalität der organisierten Arbeiterschaft und erneuerten damit den „Lib­ Labism“ der Wahlreformbewegung der 1860er Jahre. In Deutschland dagegen leisteten die Bildung sozialdemokratischer Arbeiter­ parteien vor der Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung (seit 1865) und die z. Τ, durch Militäreinsatz verschärften polizeistaatlichen Eingriffe in Streiks71 der Ideologisierung der sozialen Konfliktstoffe Vorschub. Der deutsche Libera­ lismus erkannte zu spät (1867/68) die Rolle und Bedeutung von Gewerkschaf­ ten für die Integration der Arbeiterschaft in ein „liberales“ Wirtschafts- und Verfassungssystem. Darüber hinaus verhinderten Koalitionsverbote und ein restriktives Vereinsrecht72, daß die bessergestellten Arbeiterschichten sich in der politischen Ermattungsphase der 1850er Jahre organisieren und für ihre wirtschaftlich-soziale und rechtliche Statusverbesserung eintreten konnten. Un­ ter dem Eindruck repressiven Vorgehens gegen die Arbeitervereine73 formierte sich die Arbeiterschaft als eine politische Protestbewegung gegen die Reichs­ gründung von oben und gegen den kompromißwilligen Liberalismus. In der einsetzenden Depression und in der Ära Tessendorf schlossen sich schließlich die einander befehdenden Richtungen zur politischen Klassenkampfpartei zu­ sammen. In Deutschland hatten die liberalen Parteien zwar erheblichen Anteil an der Einführung der Koalitionsfreiheit (1869)74, ohne die Arbeiterschaft damit gewinnen zu können, zumal andere Ereignisse die Entfremdung zwischen Liberalismus und Arbeiterschaft in feste Gleise geleitet hatten. Der Heeres­ und Verfassungskonflikt in Preußen besiegelte nicht nur die Niederlage der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, sondern spaltete auch die liberal-demo­ kratische Bewegung. Das Beharren auf liberalen Grundsätzen bewahrte selbst den Linksliberalismus nicht vor dem Verlust der demokratischen Impulse. Während Linkskräfte in den 60er Jahren die Liberal Party von unten her als „C ommunity of Sentiment“ , basierend auf religiösen Bewegungen und einer bestimmten Geschichtskonzeption75 aufbauten und im Lande fest veran© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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kerten, begann für die liberalen Fraktions-Parteien in Deutschland die Zeit der Suche nach einem loyalen Rekrutierungsfeld76. Während Gladstone für die gehobenen „Working C lasses“ die Hoffnung „of ultimate justice in an immediately oppressive world“ verkörperte und die zentrifugalen Kräfte des Liberalismus auf sich zog77, wurde der Nimbus, der die Fortschrittsparlamen­ tarier vor 1863 umgab, von Bismarck und Lassalle zerstört78. Während die Bestimmungen und die Handhabung des Vereinsrechtes, das Dreiklassenwahl­ recht sowie das Postvereinsgesetz mit seiner die Presse verteuernden Wirkung79 die Entwicklung des deutschen Parteiwesens an der Basis behinderten, schuf die Herabsetzung der „Stamp“ und „Paper Duties“ zwischen 1851 und 1861 in England die Voraussetzungen für die Bildung eines politischen Massen­ marktes, der auch schon die Nichtwähler in den politischen Willensbildungs­ prozeß zu integrieren begann, und zwar wegen der Dominanz liberaler Ein­ flüsse auf die Provinzpresse zugunsten der Liberal Party80. Jeder, der Rosen­ bergs Analyse der Ausbildung des politischen Massenmarktes während der „Großen Depression“ in Deutschland im Blick hat, kann ohne nähere Erläute­ rung die Bedeutung ermessen, die dem entsprechenden Vorgang auf englischer Seite unter den ganz andersartigen Bedingungen der Prosperitätsperiode zu­ kommt. Die Gleichzeitigkeit nationaler, religiöser, sozial- und wirtschaftspolitischer sowie verfassungspolitischer Gegensätze81 erschwerte es den liberalen Parteien in den 60er Jahren und erst recht später, einen festen Rückhalt im Lande zu finden. Dabei fiel entscheidend ins Gewicht, daß die Abwehrhaltung des Libera­ lismus gegenüber dem Ruf der Arbeiterschaft nach politischer Gleichberechti­ gung und staatlicher Sozialpolitik dem deutschen Liberalismus erheblich scha­ dete82, während das Desinteresse der englischen „Trade Unions“ am Aufbau eines Wohlfahrtsstaates den englischen Liberalismus vor der Gretchenfrage, der „sozialen Frage“ , verschonte83. „The vote was discussed chiefly as a kind of personal reward or certificate of good character, never as an instrument for changing the social condition of the people.“ 84 Die Reform Acts, die vor 1884/85 ohnehin Kautelen zugunsten der Status­ Quo-Interessen enthielten, gaben nicht einmal den Impuls zur Bildung einer eigenständigen Arbeiterpartei. Außerdem erschwerten Probleme der Registrie­ rung der Wahlberechtigten, vor allem der Finanzierung des Wahlkampfes85 und der MP's den Aufbau einer Linkspartei. Demgegenüber erwies sich das von Bismarck oktroyierte Reichstagswahlrecht als Vorbedingung für den von Rosenberg eindringlich geschilderten Prozeß der Umgestaltung der Parteien und für den Aufstieg der Verbändeherrschaft während der „Großen Depres­ sion“ , z. T. in Konkurrenz und auf Kosten des Parlaments86. Der nationale Liberalismus, der in den Wahlen zum Zollparlament und in den Landtagswah­ len vor 1870 den „Mißbrauch“ des Stimmrechts durch konservative Regierun­ gen und durch den politischen Katholizismus erlebt hatte, der seinen Werbe­ appell an die von der liberalisierenden Gesetzgebung getroffenen Unterschich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ten richtete, sich gleichzeitig aber auch als Hort konservativer Interessen an­ bot87, fühlte sich als Leidtragender des Demokratisierungsprozesses. Dem englischen Liberalismus kam nicht nur die relative politische Abstinenz der Arbeiterschaft nach 1848 zugute, sondern auch die Tatsache, daß der Aufschwung in der Weltwirtschaft und die Verbesserung des Preisgefüges für Agrarprodukte wie für Industrieerzeugnisse die Agrarkonservativen ihrer Zu­ kunftssorgen enthob88. Da die politische Seite der Freihandelsbewegung, die ihre Spitze gegen den „feudalism with its twin monopolies, landed and eccle­ siastical“ (C obden) richtete, zudem an Relevanz verlor, verschwand der latente Konflikt zwischen dem industriellen, auf Freihandel drängenden Norden und dem agrarisch-schutzzöllnerischen Süden und Südosten Englands anfangs der 50er Jahre auf Jahrzehnte vom politischen Horizont89. Die Ausbalancierung agrarischer und bürgerlich-industrieller Interessen im „Age of Equipoise“ er­ folgte also weder auf dem Hintergrund sozialrevolutionärer Agitation, noch forderte sie ihrerseits die Frontstellung der Arbeiterschaft heraus. Dies gab den Liberalen die Möglichkeit, ihre Partei nach rechts und nach links90 offen­ zuhalten. Im Unterschied zu ihren „armen deutschen Vettern“ waren die engli­ schen „Landed Interests“ nicht auf Schutzzölle angewiesen91, da sie ihre Ein­ kommen aus nicht-agrarischen Quellen vergrößern konnten. Sie nutzten ihre Machtstellung im Parlament auch nicht für eine Subventionierung ihrer Klasse auf Kosten der volkswirtschaftlich bedeutsameren Industriezweige. Während in Deutschland die binnenmarktorientierten agrarischen und industriellen Sek­ toren, die protektionistische Maßnahmen forderten, zu Lasten der Konsumenten miteinander paktierten und Schutzzollandschaften bildeten, kollidierten in England die Agrarinteressen nicht mit dem Interesse der Industriearbeiterschaft am Freihandel. Von natürlichen Voraussetzungen begünstigt, leistete die Agrar­ wirtschaft im Norden und Nordwesten Englands Zubringerdienste für Indu­ striereviere, die einen rentablen Absatzmarkt für deren Produkte — Fleisch, Milch, Käse usw. — boten. Hinzu kommt, daß die englischen „Landed Interests“ sich in keiner Phase gleichzeitig einem direkten, frontalen Angriff auf die Basis ihrer wirtschaftlich­ sozialen Existenz und ihre politische Machtstellung in der Lokalverwaltung und im Parlament gegenübersahen, also keinen Anlaß zur kollektiven Gegen­ wehr gegeben sahen92. Anders in Deutschland: Unter Bismarcks kräftiger Einwirkung rafften sich die preußischen Rittergutsbesitzer aus der „konserva­ tiven Resignation“ (1871—74/75) auf, als der Liberalismus, in diesem Fall Nationalliberale und Fortschrittspartei, seine Angriffe auf die patriarchalische Stellung der Gutsbesitzer mit den Vorstößen zur Reform der Landgemeinde­, Städte- und Provinzialordnung fortsetzte und gleichzeitig die Veränderungen auf dem Weltmarkt die ökonomische Position der Landwirtschaft zu gefährden begannen93. Da der Liberalismus auch noch auf eine Klärung des Preußen­ Reich-Problems und auf eine „Parlamentarisierung“ der Reichsleitung drängte, nutzte Bismarck die Situation zum Gegenschlag gegen die Partei aus, die bislang versucht hatte, ihre Rolle als Stütze der Regierung durch Ausschlachten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Gegensätze zwischen Bismarck und den „Junkern“ zu festigen. Die Partei, die als ,Reichsgründungspartei' ihre Machtstellung in den Parlamenten z. Τ. der Tatsache verdankte, daß sie Bismarckwähler-Partei war, rief durch den Versuch, sich als liberale Partei zu behaupten und zu profilieren, jene Kräfte zur Gegenwehr heraus, die eine Vorwärtsrevision der 1867 bzw. 1870/71 abgewiesenen liberalen Forderungen verhindern wollten. Und die einsetzende Wirtschaftskrise half diesen Kräften, einerseits die Unruhe und die soziale Differenzierung des Bürgertums und andererseits die konstitutiven Schwächen der Nationalliberalen Partei zum Sturz der „Regierungspartei“ und zu ihrem Vorteil auszunutzen. Anmerkungen 1 Zum Stand der Diskussion vgl. meinen Aufsatz: Die Nationalliberalen — eine regierungsfähige Partei?, in: G. A. Ritter Hrsg., Deutsche Parteien vor 1918, 1973. Eine Ausnahmestellung nehmen die Arbeiten von L. Gall ein: Die „deutsche Frage“ im 19. Jahrhundert, in: 1871 — Fragen an die deutsche Geschichte, (1971) 19—52; Der Liberalismus als regierende Partei, 1968; Parlamentarische Opposition im deut­ schen Frühliberalismus, in: Fs. T. Schieder, 1968, 153—70; Sozialistengesetz u. innen­ politischer Umschwung. Baden u. die Krise des Jahres 1878, ZGOR 111. 1963, 494 ff.; Die partei- u. sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kulturkampfes, ebd., 113. 1963, 186 ff.; Staat u. Wirtschaft in der Reichsgründungszeit, HZ 209. 1969, 616—30. — Aus Platzmangel muß ich die Literaturangaben auf ein Mindestmaß beschränken. 2 H. Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. u. 20. Jahrhundert, 1968, 43 f., 51 f.; G. Eckert, Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren 1871—1878, Mskr. für den Regensburger Historiker­ tag 1972, 3—5; M. Stürmer, Reichstag u. Regierung im Zeitalter Bismarcks, Teil I: 1871—1881, Habil.-Schrift, Darmstadt 1971, ms; ich bin M. Stürmer für die Über­ lassung des Manuskripts und für einen intensiven Gedankenaustausch dankbar ver­ pflichtet. 3 G. Seeber/H. Wolter, Neue Tendenzen im bürgerlichen Geschichtsbild der BRD über die Reichsgründung von 1871, ZfG 20. 1972, bes., 1080 ff., 1089 ff. 4 S. hierzu H. J . Hennings Auseinandersetzung mit der bisherigen Lit. über das deutsche Bürgertum: Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustria­ lisierung 1860—1914, I, 1972, 6 ff. 5 Zum Stand und zu den Kontroversen in der englischen Sozialhistorie s. G. Himmelfarb, The Writing of Social History, Journal of British Studies 11. 1971, 148—70, u. G. Best, Mid-Victorian Britain 1851—1875, 1973. β Η. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, 1967, 56 f., 142, 178; ders., Honoratiorenpolitiker u. großdeutsche Sammlungsbestrebungen im Reichsgründungs­ jahrzehnt, Jahrbuch für Geschichte Ost- u. Mitteldeutschlands 19. 1970, 165; ders., Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: H.-U. Wehler Hrsg., Moderne Deutsche Sozialgeschichte, 1973, 287—308, bes., 297 f. — Rosenberg be­ kennt sich zu den Ergebnissen F. Zunkels, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834—1879, 1962 (Bismarckzeit, 142, Anm. 133), obwohl seine Kernthese der Deutung Zunkels widerspricht, der in der Hochschwungepoche eine weitere Phase des Rückzugs der Wirtschaftsführung aus der (Partei-)Politik feststellt. 7 Rosenberg, Bismarckzeit, 56 f., 64 ff., 143, 149, 154 ff.; Zit. 132. 8 Ebd., 63; vgl. 138 ff.

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Ebd., 58; vgl. 118 ff. Ebd., 172, 202, 181, 184 f., 25, 47, 84; Pseudodemokratisierung, 301. J . Vincent, The Formation of the Liberal Party 1857—1868 (Pelican-Book), 1972; P. Smith, Disraelian Conservatism and Social Reform, 1967; R. Blake, Disraeli, 1967. 12 Rosenberg, Bismarckzeit, 20, 29. 13 Ο. Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, PVS 6. 1965, 20. 14 Η. Ε. Matthes, Die Spaltung der Nationalliberalen Partei u. die Entwicklung des Linksliberalismus bis zur Auflösung der Deutsch-Freisinnigen Partei (1878—1893), phil. Diss. Kiel 1953, MS, 18. 15 Rosenberg, Bismarckzeit, 62 ff., 138 ff. 16 Ebd., 126 ff. 17 W. Zorn, Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit 1850—1879, in: Wehler Hrsg., 254 ff. 18 Rosenberg, Bismarckzeit, 66; vgl. 132 ff., 138 ff., 140 f., 149; für England s. Vincent, 159 ff. 19 E. Lasker an H. Baerwald, 1.11/27.12.1875, in: P. Wentzcke/J. Heyderhoff Hrsg., Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, II, 1926, 140, Nr. 176; G. M. Trevelyan, The Life of John Bright, 1913, 411 ff. 20 F. Stern, Money, Morals, and the Pillars of Bismarcks Society, C EH 3. 1970, 51, auch in: ders., The Failure of Illiberalism, 1972, 27 ff. 21 An anderer Stelle (s. Anm. 1) habe ich den Nachweis zu führen versucht, daß die Nationalliberalen auch nach der Erfüllung ihrer nationalen und wirtschaftlichen Wunschträume „regierungswillig“ blieben, d. h. auf eine formelle Beteiligung an der Regierungsverantwortung hinarbeiteten und die Forderung anmeldeten, den Schritt vom ,ministeriellen Parlament' zum ,parlamentarischen Ministerium' zu vollziehen, zumindest in dem Sinn, daß Parteiminister Regierungsvorlagen in den Mehrheits­ fraktionen vertreten und umgekehrt die Entwürfe in der Phase ministerieller Bera­ tung beeinflussen könnten. Sie wollten damit die Konventionen der in den 1870er Jahren geübten „informellen Richtungskontrolle durch die Mehrheitsfraktionen“ (Stür­ mer) legalisieren und institutionell verankern, die sich in der Phase der ,liberalen Beamtenminister' und einer Vorform des Interfraktionellen Ausschusses eingespielt hatten, s. dazu Stürmer, 35 ff., 127, 136 ff., 42 (Anm. 205), 92 ff., 106, 336. 22 Rosenberg, Bismarckzeit, 132 ff., 62 ff. 23 E. Kehr, Schlachtflottenbau u. Parteipolitik 1894—1901, Berlin 1930, 305. 24 Zunkel (165 ff., 178 ff., 185, 195 f., 215 ff., 223, 243 ff., 246 ff.) enthält die einschlägigen Passagen über die Feudalisierung des Bürgertums, die „Zuflucht“ -These usw., auf ihn berufen sich die meisten Untersuchungen. 25 Henning bestreitet von seiner Materialbasis aus die von Kehr, Max Weber, Zunkel u. a. vertretene Auffassung von der Anfälligkeit des Bildungsbürgertums (in Rheinland-Westfalen, anders in Hannover) für das Patent des Reserveoffiziers als gesellschaftliche Visitenkarte (318 ff., 368 ff., 376 f., 410 ff., 447 f., 489 ff.). Der 2. Band über das industrielle Bürgertum liegt allerdings noch nicht vor. 2e Bennigsen gab als Motiv für seinen Eintritt in die Politik (im Rückblick) an, daß endlich die Zeit wiederkommen müsse, „wo gegenüber der seit der Niederwerfung der Bewegung von 1848 siegreichen Reaktion in ganz Deutschland die bürgerlichen Rechte wieder zur Geltung kommen“ müßten — s. H. Oncken, R. v. Bennigsen, I, 1910, 280 f. Bennigsen resignierte erst nach ,Bismarcks Verrat' an der Reichsgründungs­ partei 1878/79. Dieser Fall sollte davor warnen, politischen Liberalismus und Bürger­ tum für analytische Zwecke gleichzusetzen. 27 A. v. Roon, Denkwürdigkeiten, Breslau 1892, 545; W. Schröder, Junkertum u. preußisch-deutsches Reich, in: H. Bartel/E. Engelberg Hrsg., Die großpreußisch-mili9

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taristische Reichsgründung 1871, 1971, II, 190 ff., 209 ff., 217 f. — Für Beispiele der „konservativen Resignation“ s. Stürmer, 93 f., 202 f. 28 G. Seeber, Die Bourgeoisie u. das Reich, in: Bartel/Engelberg, II, 154 ff.; H. Schwab, Von Koniggrätz bis Versailles, ebd., I, 340—41, 317 ff. 29 D. Harris, European Liberalism in the 19th C entury, AHR 60. 1955, 510 ff. 30 In dem in Anm. 1 genannten Aufsatz deute ich den Kulturkampf nicht als ein von Bismarck inszeniertes Manöver zur Vergeudung liberaler Energien am „falschen“ Gegner, sondern als Konflikt um den vorrangigen Einfluß auf die Gesetzgebung im „Neuen Reich“ . Das Zentrum nimmt nach der Machteinbuße und Resignation der Konservativen die Rolle des Gegenpols zum Liberalismus ein. 31 L. Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957, 348 ff., 437. 32 Smith, 319 ff.; Vincent, 60, 245 f., 250, 290; Best, 275 ff.; Α. Briggs, The Making of Modern England, 406 ff.; G . R. S. Kitson Clark, The Making of Victorian England, 209ff., 242ff.; Blake, Kap. XXI; P.Adelmann, G ladstone, Disraeli, and Later Victorian Politics, 1970, 13—14; R. Wilkinson, G entlemanly Power, 1964; L. O'Boyle, The Middle Class in Western Europe 1815—1848, AHR 71. 1966, 829 f.; F. Μ. L. Thompson, English Landed Society in the 19th Century, 1963, 267 ff.; M. Cowling, 1867 — Disraeli, G ladstone, and Revolution, 1967, 233; S. G . Checkland, The Rise of Industrial Society in England 1815—1885, 1964, 284 ff., zit. 300 eine von Taine überlieferte Passage, die H. Baumgartens Plädoyer für den politischen Verzicht des Bürgertums zugunsten der Aristokratie entspricht, s. dazu Best, 261, 264, 268 ff., 182 ff. 33 D. C . Moore, Social Structure, Political Structure, and Public Opinion in Mid-Victorian England, in: R. Robson Hrsg., Ideas and Institutions of Victorian Britain, 1967, 46 ff.; Kitson C lark, An Expanding Society: Britain 1830—1900, 1967, 25 ff., 35 f.; Best, 261 f.; Blake, 473 f.; Über die konservativen Kautelen der Wahl­ reformen s. Η. J . Hanham, Elections and Party Management, 1959. 34 N. McCord, Cobden and Bright in Politics 1846—1857, in: Robson, 95 f., 101 f., 111 ff.; Blake, 514, 553; Smith, Einleitung; Best, 276; Vincent, 159 f.; J . P. Cornford, The Parliamentary Foundations of the Hotel Cecil, in: Robson, 270 ff. — Zum Anteil der Unternehmer und der „Landed Interests“ in den Parlamenten s. L. O'Boyle, Liberal Political Leadership in G ermany 1867—1884, JMH 28. 1956, bes. S. 347 (vergleichend). 35 Der Vergleich bezieht sich in erster Linie auf die Wirkungsbedingungen von Bürgertum und Liberalismus, die in beiden Ländern bestanden. Es geht um die Frage, welche „objektiven“ Bedingungen des „bürgerlichen Zeitalters“ (Morazé) die Fortdauer der typologischen Unterschiede zwischen Preußen-Deutschland und dem englischen „Handelsstaat“ ausmachten. Die Ausklammerung des Verhältnisses von Bürgertum, Liberalismus und „Militarismus“ dient lediglich dem Zweck, jene politisch­ sozialen Konstellationen schärfer auszuleuchten, die in beiden Ländern bedeutsam waren, d. h. Liberalismus/Bürgertum-Arbeiterschaft-„Landed Interests“ . 36 Zorn, in: Wehler Hrsg., 259 ff. 37 Dabei ist zu beachten, daß England seine Rolle als Finanzzentrum der Welt nicht aus Exportüberschüssen erwirtschaftet hatte, sondern aus den Erträgen seiner Dienstleistungen für die Weltwirtschaft. Das Problem für die englische Wirtschaft lag in der Veränderung der Zusammensetzung seiner Ein- und Ausfuhren und in der Art der Nutzung der Ressourcen und der verfügbaren Technologie. S. zu letzterem: D. N. McC loskey, Did Victorian Britain Fail?, EHR 23. 1970, bes. 458 ff.; P. Mathias, The First Industrial Nation, 1969, 343 ff., 348; C heckland, 62 ff.; Α. Κ. Cairncross, Home and Foreign Investment, Kap. IX. 38 K. W. Hardach, Anglomanie und Anglophobie während der Industriellen Revo­ lution in Deutschland, Sch. Jb. 91. 1971, 174 ff. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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39 Ders., Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- u. Getreidezölle in Deutschland 1879, 1967, 111, 117 ff., 125. 40 D. Springer, English Landowners and 19th C entury Industrialisation, in: J . T. Ward/R. G. Wilson, Land and Industry, The Landed Estate and Industrial Revolu­ tion, 1971, 16—62; C heckland, 282 ff.; Best, 260 ff.; Briggs, Kap. 8: The Balance of Interests; C lark, Victorian England, 214 ff.; Thompson, Society, 285: „The main effect of the attempts to attack the landed system at its roots (,free trade in land') was to damage middle-class unity rather than wound the landed interest.“ 41 H. Perkin, The Origins of Modern English Society, 1780—1880, 31972, 319. 42 Blake, Kap. XXI; Α. Briggs, Victorian People, 1954, Kap. 8 (Bright) und 10 (Disraeli); Vincent, 195 ff.; Cowling; Smith, Einleitung. 43 Vincent, 265; vgl. ebd., 274 ff.; J . L. G arvin, Life of J . Chamberlain, 1932, II, 124. 44 R. C. K. Ensor, England 1870—1914, 1936, 66 f.; Thompson, Society, 318 ff. Der „Settled Land Act“ von 1882 hatte jedoch nicht die gefürchtete Wirkung, da die Nachfrage nach Landbesitz in der Depression schwach bis rückläufig war. S. ferner Clark, England, 218, 248 ff. 45 Smith, 319; vgl. 202; Vincent, 274 ff. 46 Einen klärenden Beitrag zur Kontroverse um Laissez-Faire und Kollektivismus in England stellt der Literaturbericht von A. J . Taylor, Laissez-Faire and State Inter­ vention in 19th C entury Britain, 1972, dar. Im Zusammenhang wäre die Frage zu stellen, ob eine Verbindung besteht zwischen der These McC loskeys, daß „failure in productivity“ erst in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts anzusiedeln wäre, und dem tiefgreifenden Konflikt zwischen Tariff Reformers und Freihändlern, in dem Lloyd George die Kampfansage gegen die „Landed Interests“ mit den Mitteln der amtlichen Finanzpolitik wiederholte. 47 Blake, 553 ff.; Vincent, 255 ff., 274 ff.; Taylor, 56, 59 f.; A. T. Peacock/J. Wiseman, The Growth of Public Expenditure in the United Kingdom, 1961, 190 f. 48 D. C . Moore, The C orn Laws and High Farming, EHR 18. 1965, 544 ff.; Ε. L. Jones, The Development of English Agriculture 1815—1873, 1968, 17 ff. 49 Best, 260 ff.; L. C. B. Seaman, Victorian England, 1973, 91 ff., vgl. Anm. 32. 50 E. Hobsbawm, Industry and Empire (Pelican Books), 1969, 191, 131, 146 f.; S. B. Saul, Studies in British Overseas Trade 1870—1914, 21967, Kap. 6; J . D. Chambers, The Workshop of the World, 1968, 113 f. 51 Zorn, 259 ff.; Zunkel, 185, 187 ff. 52 L. Maenner, Deutschlands Wirtschaft u. Liberalismus in der Krise von 1879, Berlin 1928; Ι. Ν. Lambi, The Protectionist Interests of the G erman Iron and Steel Industry 1873—1879, JEH, 22. 1962, 59 ff.; W. Lotz, Die Ideen der deutschen Zoll­ politik 1860—1891, 1892; W. Schübelin, Das Zollparlament u. die Politik von Baden, Bayern u. Württemberg 1866—1870, 1935; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, 1966; H. Block, Die parlamentarische Krisis der nationalliberalen Partei 1879/80, Münster 1930. 53 Gall, Staat u. Wirtschaft, 622 f.; vgl. Κ. Ε. Born, Der soziale u. wirtschaftliche Strukturwandel Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Wehler Hrsg., 280. 54 Die Aufhebung der Kornzölle ging in erster Linie auf die politisch-taktische Konstellation Pecl-Russcll sowie auf die Ansicht zurück, daß die Aktion den „Landed Interests“ wirtschaftlich nicht schaden würde. Der Übergang zum Freihandel war also kein Erfolg, den C obden/Bright für ihre Bewegung beanspruchen und entspre­ chend hätten ausnutzen können. Der Vorgang wirkte konsolidierend und nicht als Auftakt zu einer politischen Wachablösung. Vgl. Anm. 48; Best, 260 ff.; Vincent, 66 ff.; s. auch die in Anm. 40 zitierte Deutung Thompsons, 285. J . D. C hambers/ G. E. Mingay, The Agricultural Revolution 1750—1880, 1966, 157.

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55 Zum folgenden Gall, Staat u. Wirtschaft, 626 f.; Rosenberg, Bismarckzeit, 74 f., 78 f.; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, 1969, 95 ff. 56 Wehler, Bismarck, 94, 67 ff., 87 ff.; Böhme, Weg, 389 ff., 400 ff.; I. N. Lambi, Free Trade and Protection in Germany 1868—1879, 1963, 115 ff., 137 ff. 57 Rosenberg, Bismarckzeit, 51, 54, 68, 76, 123, 143 ff., 167 ff.; G. G. Windell, The Bismarckian Empire as a Federal State 1866—1880, C EH 2. 1969, 307; s. auch meinen in Anm. 1 genannten Aufsatz. 58 B. H. Brown, The Tariff Reform Movement in Great Britain 1881 — 1895, 1943. 59 Β. Semmel, Imperialism and Social Reform, 1960; K. Rohe, Ursachen u. Be­ dingungen des modernen britischen Imperialismus vor 1914, in: W. J . Mommsen Hrsg., Der moderne Imperialismus, 1971, bes. 68 ff.; über Disraelis Flucht in die Außen­ politik s. Blake u. Smith. 60 H. Pelling, Social Geography of British Elections 1885—1910, 1967, 16; J . P. Cornford, The Transformation of C onservatism in the Late 19th C entury, Victorian Studies 7. 1963/64; Mathias, 372 ff.; Hobsbawm, 237 f., 165; Η. Pelling, The Origins of the Labour Party 1880—1900, 2 1965; Hanham, Kap. 17 (Finanzen); P. F. Clarke, Lancoshire and the New Liberalism, 1971. 61 R. Blake, The Conservative Party, 1970, 152 f.; Cornford; Vincent 152, 159 f.; P. Thompson, Socialists, Liberals and Labour. The Struggle for London 1885—1914, 1967, 90; Pelling, Social G eography, 9. 62 Best, 250 ff.; Clark, Society, 31 f.; Checkland, 349, 358, 363, 376; Pelling, Origins, 4 ff., 39 ff.; R. V. Clements, British Trade Unions and Popular Political Economy 1850—1875, EHR 14. 1961; A. E. Musson, British Trade Unions 1800— 1875, 1972, 66 f.; Briggs, People, Kap. 7 (R. Applegarth and the Trade Unions). 63 Best, 115—117 (tabellarischer Überblick „The Hierarchy of Labour“ ). M Vincent, 113 f., 116, 122 ff., 141. 65 D. J . Rowe, The Failure of London C hartism, HJ 11. 1968; L. Prothero, Chartism in London, Past & Present, 44. 1969; M. Hovell, The C hartist Movement, 1966, 169. 66 E. Hobsbawm, Labouring Men, 1964, Kap. 15; R. Harrison, The British Work­ ing C lass and the General Election 1868, IRSH 6. 1961, 79 ff., 103; ders., Before the Socialists, 1965, 19; Pelling, Origins, 2 f. Für die deutsche Seite s. Anm. 82. 67 G. Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Revolution in Deutschland (1863—1870), 1911; W. C onze, Möglichkeiten u. Grenzen der libera­ len Arbeiterbewegung in Deutschland. Das Beispiel Schulze-Delitzsch, 1965; W. Schie­ der, Das Scheitern des bürgerlichen Radikalismus u. die sozialistische Parteibildung in Deutschland, Mskr. für den Regensburger Historikertag 1972; E. Schracpler, Links­ liberalismus u. Arbeiterschaft in der preußischen Konfliktzeit, in: Fs. F. Harting, 1958, 385—401; Sh. Na'aman, Demokratische u. soziale Impulse in der Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung der Jahre 1862/63, 1969; K. Birker, Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840—1870, 1973, 72 ff. 68 Vincent, 14; vgl. Best, 256 ff., 290 f.; Seaman, 97 ff. Das beste Beispiel hierfür bietet die Rolle der „Friendly Societies“ in der Geschichte der englischen Arbeiter­ schaft. Zum Gegenstück auf deutscher Seite s. Lademacher (Anm. 82), 250 ff. 69 Best, 290; vgl. Vincent, 73 ff.; Seaman, 94. 70 Blake, 555; Musson, 60 ff.; H. Pelling, A History of British Trade Unionism, 1963, 63 ff., 74 ff.; Best, 290 f.; Briggs, People, Kap. 7. Zum grundsätzlichen Problem s. T. H. Marshall, C lass, C itizenship, and Social Development, 1965, 76 ff., 102 f. 70a E. Thierbach, Die Zusammenhänge der ersten Gewerkschaftsgründungen mit dem Liberalismus u. der Sozialdemokratie in den 60er Jahren, Diss. Köln 1958, 29. 71 C onze, 9 ff.; F. Baiser, Sozial-Demokratie 1848/49 bis 1863, in: Wehler Hrsg., Sozialgeschichte, 168 ff.; W. Köllmann, Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in

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Preußen bis 1869, VSWG 53, 1966, 47 ff.; Born, Strukturwandel, in: Wehler Hrsg., Sozialgeschichte, 275 f.; J . Kaalck, Die staatspolizeilichen Koordinierungsmaßnahmen innerhalb des Deutschen Bundes zwischen 1851 und 1866, Wissenschaftliche Zeitschrift der Univ. Rostock, 1959/60, Heft 1; D. Fricke, Bismarcks Prätorianer (1871—1898), 1962. — Das englische Gegenbild, das von dunklen Flecken nicht frei ist, zeichnet Best, 293 f. 72 H. Volkmann, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus 1848—1869, 1968, 143 ff., 151. Vor 1863 scheinen die Arbeiter weder am Koalitionsverbot Anstoß genommen noch die Möglichkeiten organisierter Lohnkämpfe oder Tarifverhandlun­ gen für ihre Emanzipation begriffen zu haben. Baiser, 165, 168 ff., 170 ff.; E. Todt, Die gewerkschaftliche Betätigung in Deutschland 1850—1859, 1950; W. Abendroth, Die deutschen Gewerkschaften, o. J., 8 ff. 73 H. J . Steinberg, Sozialismus, Internationalismus u. Reichsgründung. Aus Politik u. Zeitgeschichte Β 6/70, 7. 2. 1970. 74 Volkmann, 148 ff., 184 ff.; Conze, 23 ff.; Κ. Ε. Born, Sozialpolitische Probleme u. Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung, VSWG 46. 1959, 33, 42 f. 75 Vincent, 19 f., 33 ff., 175 ff., 195 ff., bes. 27 ff., 29. 76 Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, 1961, 26 ff.; H. Schwab, Aufstieg u. Niedergang der Nationalliberalen Partei, phil. Habil.-Schrift, Jena 1969; s. auch Anm. 1. 77 Vincent, 265; D. Bahlmann, ed., The Diary of Sir Edward Walter Hamilton, 1972, I, 302, 359. 78 Schieder, 6. 79 G . Eisfeld, Die Entstehung der liberalen Parteien in Deutschland 1858—1870, 1969, 38. 80 Best, 246 ff.; Vincent, 33, 93 ff. 81 Th. Nipperdey, G rundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhun­ dert, in: W. Conze Hrsg., Beiträge zur deutschen u. belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, 1967, 147—69. 82 Außer den in Anm. 67 genannten Arbeiten s. zum Verhältnis der sozialen und der demokratisch-politischen Komponenten der deutschen Arbeiterbewegung: H. Lade­ macher, Zu den Anfängen der deutschen Sozialdemokratie 1863—1878, IRSH 4. 1959, 239 ff., 367 ff.; Sh. Na'aman, Von der Problematik der Sozialdemokratie als demo­ kratischer Partei, AfS 5. 1965, bes. 505, 525. 83 H. Pelling, Popular Politics and Society in Late Victorian Britain, Essay 1. 1968; ders., Origins, 38; Vincent, 74; T. Lloyd, The General Election of 1880, 1968, 158. 84 Vincent, 285; vgl. ebd., 187, 274 ff. 85 R. Harrison, General Election, 79 ff.; Pelling, Origins, 2, 52; A. O. Bell, Administration and Finance of the Reform League 1865—1867, IRSH 10. 1965, 385—409. 8e Außer den Arbeiten von Rosenberg, Böhme u. Wehler s. vor allem die anregende Studie von H. Schwab, Zur Wandlung von Funktion u. Organisationsstruktur der deutschen bürgerlichen Parteien im Übergang zur imperialistischen Epoche, Wissen­ schaftliche Zeitschrift der Univ. Jena 14. 1965, 201 ff. 87 Rosenberg, Bismarckzeit, 68, 76, 123, 143 ff., 167 ff., 51, 54; Gall, Kulturkampf, 191 ff.; G. G. Windell, The C atholics and Germany Unity 1866—1871, 1954. 88 Jones, 17 ff.; Mathias, 343 ff.; Blake, Disraeli, Kap. X/XIII. 89 C heckland, 358; Briggs, England, 405; Thompson, Kap. X. 90 R. Harrison, Before the Socialists, 19, 203, 4; Τ. R. Tholfsen, Transition to Democracy in Victorian England, IRSH 6. 1961, 238 ff.; Vincent, 77. 91 Checkland, 282 f., 376; Thompson, Kap. X/XI, bes. 276 f.; Clark, England, 214 ff., 251 ff.; T. W. Fletcher, The G reat Depression of English Agriculture 1873— © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1896, in: P. J . Perry Hrsg., British Agriculture, 1973, 41; R. Perren, The Landlord and Agricultural Transformation 1870—1900, ebd., 118 ff. 92 F. M. L. Thompson, Land and Politics in England in the 19th C entury. Transac­ tions of the Royal Historical Society 15. 1965; ders., Society, 308 ff. 93 Böhme, Prolegomena, 77 ff.

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Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840 bis 1864 Von REINHARD SPREE und JÜRGEN BERGMANN

Ziel dieses Aufsatzes ist die Analyse der konjunkturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft in einer Phase grundlegender Änderungen des Investi­ tionsverhaltens, der Investitionsrate und -richtung, der Wachstumsformen und -bedingungen sowie eines daraus resultierenden beschleunigten gesamtwirt­ schaftlichen Strukturwandels. Diese Prozesse konvergieren in dem Effekt einer tendenziellen Abkoppelung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums von den Produktionszyklen des Agrarsektors. Die Genese eines um die Investitions­ güter- und Energieproduktion herum gruppierten industriellen Sektors bildet die Grundlage für das Ansteigen der gesamtwirtschaftlichen Investitionsrate auf durchschnittlich 5—12 % des Sozialprodukts und die Verstetigung eines im Vergleich zur Vorzeit relativ steilen Wachstumstrends des Pro-Kopf-Ein­ kommens. Zwar läßt sich die Entwicklung der wichtigsten Voraussetzungen dieser ,industriellen Revolution' insbesondere seit dem Ende des 18. Jahr­ hunderts in Deutschland verfolgen, doch nimmt die Akkumulation industriellen Kapitals erstmalig in den Zyklen der 1840er und 1850er Jahre einen Umfang und ein Tempo an, daß sie das gesamtwirtschaftliche Wachstum sichtbar mit­ reißt. Mit der Durchsetzung privatkapitalistischer Akkumulationsformen und -bedingungen entfaltet sich auch die auf deren innere Widersprüchlichkeit zurückzuführende besondere Dynamik des Wechsels von Phasen beschleunigten und retardierenden Wachstums. Solange in einem derartigen System nicht staatliche Konjunkturpolitik gegensteuernd wirksam wird, kulminieren die antagonistischen Tendenzen der Akkumulation immer wieder in mehr oder weniger starken Boom- und Depressionserscheinungen. Zum Konjunkturbegriff. Wir definieren Konjunktur für unsere Zwecke vor­ läufig als die Zyklizität des industriewirtschaftlichen Wachstums1. Die Analyse wird im wesentlichen auf makroökonomischer Ebene durchgeführt. Das wirft ein theoretisches Problem insofern auf, als die deutsche Wirtschaft im Unter­ suchungszeitraum eine erst partiell ausgebildete räumliche und marktmäßige Integration besitzt bei einem strukturellen Übergewicht der Landwirtschaft. Die Wertschöpfungs- bzw. Beschäftigtenanteile des Bergbaus, der Hütten­ industrie und der Eisenbahnen sind zusammen kleiner als 5 % und könnten diesen Kernbereich industriewirtschaftlichen Wachstums nahezu bedeutungslos 19 Sozialgeschichte Heute

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erscheinen lassen. Wir müssen damit rechnen, daß das Konjunkturphänomen in den makroökonomischen Aggregaten (Sozialprodukt, Gesamtbeschäftigung, Kapitalstock usw.) nur unzulänglich ausgeprägt ist. Mit Rücksicht auf die Divergenzen zwischen den strukturellen Implikationen unseres Konjunktur­ begriffs, der sich auf den industriellen Zyklus bezieht, und der Gewichtungs­ struktur der gesamtwirtschaftlichen Aggregate, werden wir von konjunktu­ rellen Schwankungen auch dann sprechen, wenn sie in letzteren nur schwach zu erkennen sind, dagegen in den industriell-kapitalistisch organisierten Sek­ toren deutlich hervortreten. Wir können jedenfalls in Anbetracht des Entwick­ lungsstandes der deutschen Wirtschaft im Untersuchungszeitraum sowie ihrer Wertschöpfungs- und Beschäftigtenstruktur die Auffassung von Aldcroft und Fearon nicht teilen, die auch für historische Konjunkturforschung darauf be­ stehen, in erster Linie makroökonomische Kennziffern und Relationen zum Untersuchungsgegenstand zu wählen, da bei stärkerer Disaggregation die Ge­ fahr bestünde, daß die Analyse infolge der vielen Differenzen in Timing und Amplitude der Branchenzyklen außer Kontrolle geraten und letzten Endes sogar sinnlos werden könne2. Will man den besonderen Wachstums­ bedingungen in unserem Untersuchungszeitraum Rechnung tragen, ist eine stärkere sektorale und möglicherweise sogar regionale Disaggregation unum­ gänglich, wenn auch die Ergebnisse oft schwer zu integrieren und zu gewichten sind. Nach diesen Vorbemerkungen können wir Konjunktur als Wachstumszyklen der wesentlichen Aggregate in den die „Take-off“ -Entwicklung induzierenden und tragenden Sektoren definieren. Die Zyklizität dokumentiert sich in der Aufeinanderfolge von mehrjährigen Perioden positiver bzw. negativer Abwei­ chungen der Konjunkturindikatoren vom Trend, ohne daß die Reihen auch absolute Rückgänge aufweisen müßten oder eine konstante Lange der Wachs­ tumsphasen gefordert wäre. Der Untersuchungszeitraum umfaßt zwei volle Konjunkturzyklen und — da­ mit das Ende des letzten bestimmt werden kann — die beginnende Aufschwungs­ phase des Zyklus der 60er Jahre. Mit der Festlegung auf die Periode 1840 bis 1864 haben wir zudem Gelegenheit, die von Rosenberg in seiner bekannten Frühschrift3 niedergelegten Aussagen zur konjunkturellen Entwicklung Deutsch­ lands von 1848 bis 1860 zu konkretisieren und um die von ihm etwas vernach­ lässigte Analyse der aus der Produktionssphäre resultierenden Krisendetermi­ nanten zu ergänzen. Zur Methode. Konjunktur ist eine in erster Linie quantitativ zu messende Bewegung innerhalb hochkomplexer Strukturen und erfordert insofern auch eine quantitative Analyse. Wir werden versuchen, uns dabei auf ein möglichst fundiertes und systematisch zusammengestelltes Gerüst von Daten und Rela­ tionen zu stützen4. Um den aus der Disaggregation und der relativen Aussage­ leere makroökonomischer Variabler im Beobachtungszeitraum folgenden Ge­ wichtungs- und Interpretationsunsicherheiten methodisch entgegenzuwirken, sind wir bemüht, auch die Auswertung der Indikatoren möglichst weit durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Anwendung quantitativer Methoden abzusichern. Das statistische Basismaterial unterliegt hinsichtlich seiner Genauigkeit und Verläßlichkeit all den Einschrän­ kungen, die für quantitative Angaben aus dem 19. Jahrhundert generell gelten. Auch wenn wir erkennbare Fehler beseitigt haben, konnten wir doch über weite Strecken den bekannten Mängeln nur durch möglichst große Vorsicht bei der Bearbeitung und Interpretation der Quellen Rechnung tragen. Deshalb bleibt auch die quantitative Auswertung auf einem niedrigen Anspruchsniveau, d. h. es handelt sich um einfache Methoden der Materialaufbereitung, als da sind: Trendbereinigung der Zeitreihen5, Berechnung von Diffusions-Indizes, Wachstumsraten, Streuungsmaßen und Korrelationskoeffizienten6. Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, neue oder optimale Rechen- und statistische Schluß­ verfahren, sondern ein in dieser Breite und Systematik bisher nicht ausgewer­ tetes, wenn auch nicht mängelfreies Material bzw. die daraus ableitbaren ersten Ergebnisse vorzuführen. Der Referenz-Zyklus. Will man die Ergebnisse sektoraler oder gar einzel­ wirtschaftlicher Konjunkturanalysen untereinander vergleichbar machen, so ist die Möglichkeit der Einordnung in einen begründeten, übergreifenden Zu­ sammenhang notwendig. Deshalb sind Kriterien für das Timing der gesamt­ wirtschaftlichen Konjunkturbewegung vorzugeben. Diese lassen sich in einer Referenz-Kurve zusammenfassen, die die Wendepunkte der Konjunktur mar­ kiert. Naheliegend ist die Verwendung einer Sozialproduktsschätzung als Refe­ renz-Große für unsere Zwecke. Dagegen spricht zweierlei: Zum einen ist die vorliegende Schätzung des Nettoinlandsprodukts für Deutschland ab 1840 wahrscheinlich besonders ungenau, weil darin alle Unsicherheiten und Fehler der Subaggregate zusammengefaßt werden7. Zum anderen — und das ist hier entscheidend — setzt die Berechnung des Sozialprodukts, wenn sie sinnvoll sein soll, eine entwickelte, integrierte Wirtschaft voraus. Erst in diesem Fall sind seine Wachstumsschwankungen als Maßstab der gesamten Ökonomischen Aktivität und nicht als Ergebnis einer nur formal begründeten Aufsummierung heterogener Produktionsziffern anzusehen. Die Art der Gewichtung mit Wert­ schöpfungs- oder Beschäftigtenanteilen führt nun im Beobachtungszeitraum dazu, daß die konjunkturell bedeutsamen Sektoren kaum einen Einfluß auf Größe und Dynamik des Gesamtaggregats haben. Die durch Schwankungen der Ernteerträge bedingten landwirtschaftlichen Zyklen dominieren noch die Variationen des Sozialprodukts. Deshalb ist das Sozialprodukt als Referenz­ Größe zur Bestimmung des Timing der Konjunktur im Untersuchungszeitraum ziemlich schlecht geeignet und kann nur zu Vergleichszwecken herangezogen werden. Ein brauchbares Instrument scheint uns aber ein Diffusions-Index nach dem Vorbild entsprechender Arbeiten des amerikanischen „National Bureau of Economic Research“ (NBER) zu sein8. Den Berechnungen legen wir eine syste­ matische Indikatorenauswahl zugrunde, die den Implikationen unseres Kon­ junkturbegriffs hinsichtlich der zu analysierenden Variablen und Sektoren Rechnung trägt und auch unter Lead-lag-Gesichtspunkt als angemessen propor19*

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tioniert gelten kann9. Der Diffusions-Index gibt die vorherrschende Bewegungs­ richtung der Indikatoren innerhalb des Samples an, d. h. er zeigt, in welchem Umfang die durch das Sample repräsentierte ökonomische Aktivität in der Gesamtwirtschaft von Expansions- oder Kontraktionsprozessen bestimmt wird. Die den Anteilen expandierender Reihen pro Periode entsprechende A-Kurve reagiert schon auf geringfügige Veränderungen des ,Geschäftsklimas'; die Lage ihrer Wendepunkte wird bestimmt durch diejenigen der Leading Indica­ tors im Sample (Börsenkurse, Produktivitäts- und Profitreihen)10. Kumuliert man die Differenzen zwischen den Anteilen wachsender und schrumpfender Reihen, dann ergeben sie die Datenbasis für eine Kurve, die zuverlässig die Wendepunkte der durchschnittlichen oder vorherrschenden Konjunkturbewe­ gung anzeigt; sie wird deshalb als „Business C ycle C urve“ (BC C ) bezeichnet. Das Niveau der ökonomischen Aktivität spiegelt die BC C nicht wider, da bei ihrer Ableitung keine Gewichtung erfolgt. Die Qualität der BC C ist vom NBER verschiedentlich getestet worden und drückt sich in der Tatsache aus, daß sie bei sinnvoll zusammengesetztem Sample nur um zwei Monate hinter einer auf exakten Informationen beruhenden Sozialproduktskurve zurückzu­ bleiben pflegt11. Einen derartig geringfügigen Time-lag können wir hier zwei­ fellos vernachlässigen, vor allem da wir ohnehin nur über Zeitreihen aus Jahresdaten verfügen. Eine Ex-ante-Prüfung der Indikatoren in bezug auf ihre Lead-lag-Eigen­ schaften war uns in Ermangelung eines verläßlichen Wendepunktkatalogs nicht möglich. Wir gingen deshalb von den Zusammenstellungen des NBER aus und überprüften die Angaben für jeden einzelnen Typ von Indikator soweit wie möglich an den Ergebnissen neuerer Arbeiten auf diesem Gebiet. Das schließ­ lich verwendete Sample dürfte sowohl in dieser Hinsicht als auch bezüglich seiner sektoralen Zusammensetzung so ausgewogen sein, daß es unverzerrte Schlüsse auf die Lage der konjunkturellen Wendepunkte zuläßt. Die BC C zeigt eindeutige Wendepunkte in den Jahren 1847 und 1857 (Maxima) sowie 1848 und 1859 (Minima). Nicht ganz so ausgeprägt ist ein weiteres Minimum im Jahre 1844 (vgl. Schaubild I). Im Gegensatz dazu wird in der Literatur verschiedentlich eine konjunkturel­ le Wende im Jahre 1842 und der Beginn des ersten industriellen Zyklus in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ab 1843/44 angenommen12. Um diese Diskre­ panz zu klären und die Lage der übrigen genannten Wendepunkte zu über­ prüfen, haben wir einige Kontrollrechnungen durchgeführt. Die erste bestand darin, eine BCC aus einem kleineren, nach anderen Gesichtspunkten zusammen­ gesetzten Sample abzuleiten. Und zwar wurden in das Kontroll-Sample nur Reihen aufgenommen, die als makroökonomische Konjunkturindikatoren gel­ ten, d. h. auf die Repräsentation einzelner Sektoren als solcher wurde verzich­ tet. Die sich ergebende BC C II weist trotz veränderter Sample-Struktur diesel­ ben Wendepunkte wie die BC C I auf; auch hier gibt es 1844 ein konjunk­ turelles Tief. Zur Kontrolle wurden auch die Wendepunkte der Zyklen des Nettoinlandsprodukts bestimmt. Während die Wachstumsratenreihe keine kla© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild I Wendepunkte der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur Α-Kurve und BCC (48er sample) ren Konturen erkennen läßt, zeigt die trendbereinigte Reihe deutlich obere Wendepunkte in den Jahren 1847, 1857 und 1864, untere Wendepunkte 1844, 1855 und 1861 (vgl. Schaubild II). Zieht man die Informationen der Wachstumsratenreihe hinzu, so muß dem in der Kurve der trendbereinigten Werte nur schwach ausgeprägten Minimum 1848 größeres Gewicht beigemessen werden; für 1850 wäre ein weiterer oberer Wendepunkt anzunehmen. Obwohl sich also die Wendepunkte der allgemeinen Konjunktur auch in der Entwicklung des Nettoinlandsprodukts spiegeln, zeich­ nen sich doch tendenziell unterschiedliche Zyklen ab, wobei wir die Gegen­ läufigkeit in den 50er Jahren betonen. Für die beginnenden 40er Jahre weisen die A-Kurve I und die Zuwachsraten des Nettoinlandsprodukts auf eine stagnierende Wirtschaftsentwicklung hin, die 1844 noch einmal deutlich abfällt. Aus den unabhängig voneinander ge­ wonnenen Informationen schließen wir, daß die bisher in der Literatur vor­ herrschende Meinung unzutreffend ist, wonach die Stockungsphase — Erbe der 30er Jahre — 1842 endete. Vielmehr dürfen wir begründet folgern, daß der eigentliche Wendepunkt der schwachen Konjunktur der beginnenden 40er Jahre 1844 durchschritten wurde, die Aufschwungstendenzen sich also erst 1845 voll entfalten konnten. Wir erhalten folgendes Timing der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur: Messen wir die Zyklen von Tief zu Tief, so lassen sich im Untersuchungszeitraum zwei Zyklen ausmachen. Der erste dauert von 1844 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Nettoinlandsprodukt, Deutschland Wachstumsraten (WR) und Abweichungen v. Trend (TB) bis 1848, Höhepunkt 1847; der zweite von 1848 bis 1859, Höhepunkt 1857. In den 60er Jahren setzt ein neuer Aufschwung ein, dessen oberer Wendepunkt außerhalb unserer Beobachtungsperiode liegt. Tendenzumschwünge müssen wir allerdings schon in den Jahren 1845 und 1856 annehmen, nachgewiesen durch Maxima der A-Kurven. Mit der folgenden sektoralen Analyse soll zum einen die innere Differenziert­ heit der genannten Zyklen verdeutlicht werden. Zum anderen hoffen wir, gewisse Strukturen und ihre Leistungen herausarbeiten zu können. Dabei geht es jedoch nicht primär um die Besonderheiten der untersuchten Sektoren. Viel­ mehr bleiben wir auf einem relativ hohen Aggregationsniveau und bemühen uns, durch Gegenüberstellung sektorspezifischer Zyklen Zusammenhangshypo­ thesen mit Erklärungswert für die gesamtwirtschaftliche Konjunktur abzulei­ ten. Im Gegensatz zur überragenden Bedeutung, die man in zeitgenössischen Quellen des vorigen Jahrhunderts den Entwicklungen im Geld- und Kredit­ sektor sowie im Außenhandel für den Konjunkturverlauf beimaß, wird diesen heute überwiegend eine mehr reaktive und vermittelnde konjunkturelle Funk­ tion zugeschrieben — hinsichtlich des Außenhandels zumindest bei einer relativ kleinen Außenhandelsquote, wie sie Deutschland um die Mitte des 19. Jahr­ hunderts aufwies13. Die Untersuchung dieser Sektoren muß dennoch derjenigen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der produzierenden Bereiche vorangestellt werden, um die von daher übergrei­ fenden Impulse und Bedingungen für das zyklische Wachstum der Produktion berücksichtigen zu können. Das Geld- und Kreditwesen. Als eine zentrale Funktion des monetären Sektors innerhalb der Gesamtwirtschaft gilt die Anpassung des Geld- und Kreditvolumens an die Schwankungen der ,wirtschaftlichen Transaktionen' im Ablauf der durch die ,realen Kräfte' bestimmten Konjunkturbewegungen. Folgende Tabelle enthält die wichtigsten für unseren Untersuchungszeitraum verfügbaren monetären Indikatoren. Tabelle 1 Monetäre Indikatoren, 1840—1864 Jahr

1840

1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864

Depositen­ Noten­ bestände umlauf deutscher Mio. M. Banken Mio. M.

7

8 10 12 15 17 34 81 66 84 92 102 113 113 119 129 245 288 320 360 463 533 521 524 527

203 218 234 250 257 261 268 280 261 277 303 333 351 398 428 470 521 573 618 631 745 845 930 1023 1049

Wechselbestände deutscher Banken Mio. M. 45 38 38 45 34 53 60 87 50 56 73 86 92 114 137 205 281 381 411 340 356 384 440 485 480

Lombard­ 0 Aktien­ Fonds­ bestände deutscher kurse kurse Banken 1840=100 v. H. Mio. M. 37 33 31 39 39 43 49 72 61 57 66 68 70 86 74 85 124 161 171 165 136 130 150 155 152

100

101 91 113 129 111 106 103 82 85 84 93 103 107 102 112 115 91 82 72 69 72 82 85 87

101,2 101,3 101,6 101,3 100,9 100,3 96,8 94,3 84,1 88,1 89,9 95,1 99,0 101,4 98,0 97,3 99,1 96,1 96,8 93,4 97,7 102,1 106,0 104,5 102,9

Φ

Bank­ diskont Preußen v. H.

4,00 4,00

4,00 4,00 4,32 4,33 4,66 4,83 4,65 4,07 4,00 4,00 4,00 4,25 4,35 4,07 4,93 5,75 4,13 4,19 4,00 4,00 4,00 4,07 5,30

Eine Analyse der Tabelle in Hinblick auf den oben herausgestellten Verlauf der Gesamtkonjunktur ergibt, daß die Entwicklungsphasen der meisten monetä­ ren Indikatoren mit denen der Gesamtkonjunktur weithin übereinstimmen, so daß sich auch für den monetären Sektor zwei Zyklen — von 1840 bis 1848 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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und von 1848 bis 1859 — feststellen lassen, während das Ende des Anfang der 60er Jahre einsetzenden dritten Aufschwungs hier nicht bestimmt werden kann. Beide Zyklen zeigen starke Ähnlichkeit im generellen Entwicklungsablauf und im Verhalten der einzelnen Indikatoren. Unterschiede bestehen hauptsäch­ lich in der Höhe der durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten und der Inten­ sität der konjunkturellen Schwankungen. Der Zyklus der 50er Jahre zeichnet sich gegenüber dem der 1840er Jahre durch höhere Zuwachsraten bei geringeren Amplituden der konjunkturellen Ausschläge aus. Die durchschnittlichen Wachs­ tumsraten betrugen 1840—1847 und 1848—1857: Wechsel 8,6 % bzw. 22,5 %; Lombarde 8,7 % bzw. 10,2 %; Depositen 4,1 % bzw. 8,2 %. Von diesen quanti­ tativen und strukturellen Unterschieden abgesehen, entfaltete sich in beiden Zyklen derselbe komplexe Entwicklungsablauf der monetären Faktoren, der zunächst durch eine starke Expansion des Geld- und Kreditvolumens, einen Anstieg der Zins- und Diskontsätze, wachsende und doch hinter der Kredit­ expansion zurückbleibende Depositenbestände und sinkende Wertpapierkurse gekennzeichnet ist und nach Überschreiten des oberen Wendepunktes ausge­ prägte Rückgänge in Form stärkerer negativer Zuwachsraten aufweist. Die an der Expansion des Geld- und Kreditvolumens ablesbaren eigentlichen Aufschwungsphasen liegen — nach einer anfänglichen Stagnationsphase beider Zyklen (bis 1844 bzw. 1852) — in den 40er Jahren zwischen 1844 und 1847, im darauffolgenden Zyklus zwischen 1852 und 1857 und manifestieren sich besonders in dem starken Anstieg der Wechsel- und Lombardbestände (1844 bis 1847: 156 % bzw. 84 %, 1852—1857: 314 % bzw. 130 % ) , die in den letzten Aufschwungsjahren beider Zyklen Wachstumsraten zwischen 40 % und 50 % aufweisen. Die wachsende Liquiditätsanspannung führte in Preußen in diesen Boomphasen zu staatlich verordneten Erhöhungen des Notenumlaufs und zu einem ungewöhnlichen Anstieg des Zinsniveaus14. Der Diskontsatz der Preußi­ schen Bank stieg von 1845 bis 1847 aufgrund der gesetzlichen Zinsobergrenzen zwar nur von 4 % auf 5 %, im Jahr 1857 jedoch, als die Zinsbeschränkung kurzfristig aufgehoben wurde, von 4 % auf 7 ½ %, und in Hamburg erreichte der Privatdiskontsatz 1857 sogar 10 %. Einen weiteren Hinweis auf die wach­ sende Kapital- und Kreditknappheit bietet die Entwicklung der Wertpapier­ kurse. Sowohl der Zyklus der 40er wie der der 50er Jahre sind durch in die Aufschwungsphase der Konjunktur fallende Spekulationskrisen an den Wert­ papierbörsen gekennzeichnet, die 1844 und 1856 starke Aktienkursstürze ein­ leiteten und die angespannte Lage auf dem Kapital- und Kreditmarkt ver­ schärften. Die weiteren Kursrückgänge (zwischen 1844 und 1848 von 129 % auf 82 % und von 1856 bis 1860 von 115 % auf 69 %) gehen in zunehmendem Maße auf die infolge des ,heißlaufenden Booms' in der Produktionssphäre weiter wachsenden Kapital- und Kreditschwierigkeiten zurück, sowie ab 1847 bzw. 1856 auf die negativen Informationen über die keineswegs erfreuliche Entwicklung vieler junger Unternehmen besonders im Bergbau, in der Hütten­ industrie und im Eisenbahnsektor, die vorher in der Gründungshausse von der Börse mit übertriebenen Erwartungen bewertet worden waren. Die Depositen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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als letzter wichtiger Indikator dieses vielschichtigen Zusammenhangs nahmen in beiden Zyklen aufgrund der Zinssteigerungen aufschwungstypisch zu. Das Zurückbleiben ihrer Zuwachsraten gegenüber denen der Wechsel- und Lombard­ bestände zeigt andererseits, daß in den Endphasen beider Aufschwungsperioden die Kreditexpansion die Liquidität der Banken erheblich verschlechterte. Beide Zyklen sind nach Überschreiten der oberen Wendepunkte durch einschneidende Rückgänge aller Indikatorenreihen gekennzeichnet. Die anschließende Stagna­ tionsphase dauerte jeweils drei bis vier Jahre, wobei sich die Erholungstenden­ zen im monetären Bereich Anfang der 1860er Jahre frühzeitiger als im voran­ gegangenen Zyklus durchsetzten. Der Außenhandel. Der Anteil des deutschen Außenhandels am Nettosozial­ produkt lag nach neueren Schätzungen in den 40er Jahren meist erheblich unter 10 %, nahm aber schon zu Beginn der 50er Jahre schnell auf 12,7 % beim Import und 13,1 % beim Export zu15. Die Reihen des gesamten Import­ und Exportvolumens als wichtigste Indikatoren der konjunkturellen Entwick­ lung des Außenhandels weisen übereinstimmend 1847 einen oberen Wende­ punkt auf, in den 50er Jahren liegt dieser beim Import 1856 und beim Export 1857; untere Wendepunkte haben beide Reihen wiederum übereinstimmend im Jahre 1848, in den 50er Jahren beim Import nach der trendbereinigten Reihe 1859 und beim Export 1858 (vgl. Schaubild III). Ob es sich bei dem in der weiteren Entwicklung zu beobachtenden Import­ maximum 1861 — trendbereinigt bereits 1860 — und dem Importminimum 1863 um echte Wendepunkte handelt, kann hier nicht entschieden werden. Im Zyklus der 40er Jahre stimmen die Wendepunkte im Im- und Export untereinander wie mit denen der Gesamtkonjunktur überein, während in den 50er Jahren das Maximum des Imports und das Minimum des Exports jeweils ein Jahr vor den entsprechenden gesamtkonjunkturellen Wendepunkten liegen. Der erste Zyklus von 1840 bis 1848 ist trotz gleichgelagerter Wendepunkte gekennzeichnet durch eine gegenläufige Entwicklung von Im- und Export, was sich in einer durchschnittlichen jährlichen Zuwachsrate des Imports von 3,9 % und des Exports von 0,24 % ausdrückt. Das Zurückbleiben des bis 1843 sinkenden und bis zum schwach ausgeprägten Maximum 1847 nur langsam steigenden Exports hinter den ständig anwachsenden Importen führte zu einem Handelsbilanzdefizit während der Aufschwungsphase mit eher konjunktur­ dämpfendem Effekt. In der Zeit von 1848 bis 1857 betrugen die durchschnitt­ lichen jährlichen Wachstumsraten im Import 6,1 %, im Export 8,7%. Darin spiegelt sich der gewaltige Exportanstieg während der 1850er Jahre, aufgrund dessen die Handelsbilanz im Verlauf des gesamtkonjunkturellen Aufschwungs ausgeglichen werden konnte. Die Preisentwicklung im Außenhandel gibt — in Drei-Jahres-Durchschnitten berechnet — Tabelle 2 wieder16. Die Maxima und Minima des Ex- und Importvolumens wurden von ent­ sprechenden Preissteigerungen bzw. -rückgängen begleitet, wodurch sich die negativen konjunkturellen Auswirkungen der passiven Handelsbilanz der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Export- (EM) und Importvolumen (IM) Zollverein Indizes, 1836 = 100 Tabelle 2 Index der Außenhandelspreise; Zollverein; 1836/41 = 100 Periode/ Bereich

1839/ 41

1842/ 44

1845/ 47

1848/ 50

1851/ 53

1854/ 56

1857/ 59

1860/ 61

Einfuhr Ausfuhr

98 101

87 95

96 97

86 87

94 91

110 105

110 105

111 84

1840er Jahre in Form einer Erhöhung des Defizits noch verstärkt haben müssen. Das Preisminimum 1842—1844 ist zwar keine eindeutige Bestätigung unserer These eines erst 1845 einsetzenden Konjunkturaufschwungs, läßt aber die Gegen­ these, der Aufschwung habe schon 1843 eingesetzt, zumindest wenig stichhaltig erscheinen, stützt also — von der Außenhandelsseite her — unser Argument. Die konjunkturelle Bedeutung des Außenhandels für die Gesamtwirtschaft ist im Zyklus von 1840 bis 1848 besonders in der negativen Handelsbilanz © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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aufgrund des starken Zurückbleibens des Exports gegenüber dem Import bis 1847 zu sehen, im Zyklus von 1848 bis 1859 dagegen umgekehrt in dem an den durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten gemessen überproportionalen Anstieg von Ex- und Import bis 1856/57 bei tendenziell ausgeglichener Han­ delsbilanz; deshalb hat der Außenhandel als ein besonders dynamischer, den Aufschwung stützender Faktor innerhalb dieser Phase zu gelten. Damit sind die Entwicklungslinien des monetären Sektors und des Außen­ handels grob skizziert, ihr Gewicht für die gesamtwirtschaftliche Konjunktur wurde angedeutet. Die spezifische Relevanz beider Sektoren für die Entwick­ lung einzelner Wirtschaftsbereiche weicht davon in positiver wie negativer Richtung teilweise erheblich ab, läßt sich aber nur in sektoralen oder Branchen­ monographien angemessen herausarbeiten. Wir können hier nur in Ausnahme­ fällen darauf eingehen. Der Agrarsektor. Die Bedeutung des Agrarsektors für den Ablauf der Wirtschaftskonjunktur gehört zu den am wenigsten geklärten Problemen der Konjunkturtheorie. Der Basisindikator für die Entwicklung des gesamten Agrarsektors ist die Reihe des landwirtschaftlichen Outputs, die Maxima 1847, 1857 und 1864, Minima 1846 und 1855 aufweist. Die Agrarkonjunktur ist also wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß in den 40er und 50er Jahren die Produktions-Minima unmittelbar vor den Maxima liegen (vgl. Schaubild IV). Die anhand dieser Wendepunkte erkennbaren langfristigen Entwicklungsphasen lassen sich noch besser an der Kurve des trendbereinigten Outputs ablesen17. Ein weiterer wesentlicher Indikator ist der Preisindex für landwirtschaftliche Produkte. Er weist sowohl in den absoluten Werten wie in der trendbereinigten Reihe Maxima 1847 und 1856, sowie Minima 1849/50 und 1858 auf, stimmt also in seiner Entwicklung und in der Lage der Wendepunkte bis zum Ende der 50er Jahre tendenziell mit der Gesamtkonjunktur überein. Die Phasen von Tief zu Tief sind: 1844—1850, oberer Wendepunkt 1847; 1850—1858, oberer Wendepunkt 1856; 1858—1864, oberer Wendepunkt 1861. Aufschluß­ reich wird dieser Verlauf, wenn man ihn der landwirtschaftlichen Outputkurve gegenüberstellt. Wie zu erwarten, und in vergleichbaren Untersuchungen viel­ fach bestätigt, entwickeln sich beide Reihen über weite Strecken gegenläufig, d. h. steigendem Output entspricht ein Fallen des Preisindex. C harakteristisch ist nur, daß diese Reaktion der Preisentwicklung bei kurzfristigen Änderungen des Output mit einer gewissen Verzögerung erfolgt. Aufgrund der Tatsache, daß in der Outputreihe unmittelbar vor den oberen Wendepunkten regelmäßig ein Minimum liegt (1846 und 1855), führt die verzögerte Reaktion der Preise dazu, daß Output- und Preismaxima — wie in grober Annäherung auch die Minima — zeitlich zusammenfallen, da die nachhinkende Preisentwicklung immer auf ein in seiner Richtung schon wieder verändertes Outputwachstum und Preisentwicklung und der dadurch bedingten inversen Schwingungen beider Aggregate ist, daß die Aufschwungsphasen der Gesamtkonjunktur in den Die Konsequenz dieser Wechselbeziehung von landwirtschaftlicher Output­ trifft. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild IV Landwirtschaft, Deutschland Produktion (YM) in Preisen von 1913 + Index der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise (P) (1913 = 100) 1840er und 1850er Jahren mit Zyklen ansteigender Agrarpreise zusammen­ fallen, da die Preisrückgänge als Reaktion auf die Outputsteigerungen 1847 und 1856/57 im wesentlichen erst nach Überschreiten der oberen Wende­ punkte der Gesamtkonjunktur wirksam wurden. Das widerspricht einer oft vertretenen Theorie über den Zusammenhang von Agrarkonjunktur und allgemeiner Konjunkturentwicklung, nach der ein niedriges Preisniveau für agrarische Produkte eine der wichtigsten und auch historisch am häufigsten anzutreffenden Bedingungen für den industriekonjunkturellen Aufschwung dar­ stellt18. Die Aufschwungsphasen der Zyklen der 40er und 50er Jahre haben sich offenbar auch ohne diese als notwendig angesehenen agrarwirtschaftlichen Voraussetzungen entfalten können, was allerdings diese Konstellation nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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bedeutungslos machte. Vielmehr resultierten daraus starke negative oder zumin­ dest hemmende Impulse für die Intensivierung der allgemeinen ökonomischen Aktivität im Aufschwung, und zwar besonders in Form der dadurch bedingten hohen Preise für von der Industrie (z. Β. der Textil- und der Nahrungs- und Genußmittelindustrie) benötigte agrarische Rohstoffe sowie der erhöhten Le­ benshaltungskosten, die die Nachfrage nach allen gewerblich-industriellen Kon­ sumgütern verringern mußte. Die Erklärung für letzteren Effekt liefert ein Vergleich der für die 50er Jahre vorhandenen Zeitreihe des Nahrungsmittel­ konsums (absolut und pro Kopf) mit den Reihen des landwirtschaftlichen Outputs und des Preisindex' für landwirtschaftliche Produkte. Er zeigt, daß die Konsumreihe stets parallel zur Outputreihe verläuft. Die oben skizzierte entgegengesetzte Entwicklung des Preisindex' bewirkte keine erkennbare Reak­ tion des Konsums. Selbst in Zeiten extremer Preissteigerungen sinkt die Kon­ sumreihe nur proportional zum Output. Die Höhe des Lebensmittelkonsums wird überwiegend durch das absolute Angebot an Agrarprodukten, nicht durch die Höhe der Preise bestimmt. Die Lebensmittelnachfrage ist also relativ unela­ stisch, und Preissteigerungen für Agrarprodukte konnten nur zu Lasten der Nachfrage nach gewerblichen Konsumgütern gehen. Große Bedeutung wird ferner in der Diskussion um die Wechselbeziehungen zwischen agrar- und industriewirtschaftlicher Konjunktur dem weitgehend von Output- und Preisentwicklung des Agrarsektors bestimmten agrarischen Außen­ handel zugemessen19. Die Entwicklung innerhalb unseres Untersuchungszeit­ raums zeigt deutlich, daß die Perioden stagnierenden oder abfallenden land­ wirtschaftlichen Outputs bzw. entsprechend steilen Preisanstiegs (1845—1847 bzw. 1854—1856) durch eine starke Zunahme der Lebensmittelimporte ge­ kennzeichnet waren, begleitet von einem fast ebenso steilen Anstieg der Import­ preise, so daß negative Auswirkungen auf Zahlungsbilanz und inländische Liquidität anzunehmen sind. 1854—1856 wurde diese Entwicklung durch eine ebenfalls bedeutende Steigerung der Lebensmittelexporte und der Ausfuhrpreise teilweise kompensiert, 1845—1847 sowie Ende der 1850er Jahre stagnierte aber die Lebensmittelausfuhr, so daß in diesen Perioden die negativen Effekte durchschlagend gewesen sein müßten. Der starke Rückgang der Lebensmittel­ importe, verbunden mit gleichzeitigem, erheblichem Exportanstieg in der Perio­ de von 1848—1850, hervorgerufen durch das Outputmaximum 1847 und die anschließend sinkenden Inlandspreise, trat erst nach Überschreiten des oberen Wendepunktes der Gesamtkonjunktur ein, mag aber die Depression der Jahre 1848/49 gemildert haben. Als wesentlichste Ergebnisse halten wir fest: Die Entwicklung des als Basis­ indikator anzusehenden Agrar-Outputs war in den Zyklen der 40er und 50er Jahre durch die Lage ausgeprägter Minima vor den mit den oberen Wende­ punkten der Gesamtkonjunktur übereinstimmenden Maxima 1847 und (weniger ausgeprägt) 1857 bestimmt. Das bedingte, daß die gesamtkonjunkturellen Auf­ schwungsphasen von stark ansteigenden Agrarpreisen und der Notwendigkeit wachsender Nahrungsmittelimporte begleitet waren. Aufgrund der unelasti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schen Lebensmittelnachfrage muß auf fühlbare Behinderungen des Aufschwungs der Konsumgüterindustrie geschlossen werden, da die steigenden Preise für landwirtschaftliche Produkte zu Nachfragerückgängen bei gewerblichen und industriellen Konsumgütern führten und die Beschaffungskosten der von der Konsumgüterindustrie benötigten agrarischen Rohstoffe erhöhten. Darüber hin­ aus absorbierten die wachsenden, sich verteuernden Agrarimporte in gewissem, wenn auch, isoliert betrachtet, nicht konjunkturbestimmendem Umfang zusätz­ liche Kaufkraft. Vom Agrarsektor gingen mithin in den Aufschwungsphasen der 1840er und 1850er Jahre konjunkturdämpfende Effekte aus. Ob jedoch die Preissenkungen bei Agrarprodukten in den Depressionsphasen umgekehrt anregend oder zu­ mindest stabilisierend wirkten, ist schwer zu entscheiden, denn hinsichtlich der Kaufkraftentwicklung im Konsumgüterbereich sind die Arbeiterentlassun­ gen, das Auftreten von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit sowie die Nominal­ lohnsenkungen zu berücksichtigen, so daß möglicherweise keine Nachfrage­ steigerungen und -Umschichtungen stattfanden. Die Textilindustrie. Die Textilindustrie fungiert hier als wichtigster Reprä­ sentant der Konsumgüter produzierenden Gewerbe; wir behandeln ergänzend nur noch die Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Wir haben für den Textil­ bereich eine auf zwanzig ausgesuchten Indikatoren basierende BC C abgeleitet. Sie zeigt obere Wendepunkte der Textilkonjunktur in den Jahren 1845 und 1861, untere Wendepunkte in den Jahren 1844, 1848 und 1864. Diese Angaben überprüften wir anhand der trendbereinigten Outputkurve für den Textil­ sektor. Ihre Maxima liegen bei 1845, 1849, 1856 und 1861, die Minima bei 1844, 1848, 1852 und 1859 (vgl. Schaubild V). Da sich die Wendepunkte der Outputreihe auch in der Α-Kurve des Textil­ samples abzeichnen, nehmen wir an, daß die BC C einige relevante Schwan­ kungen zu stark ausglättet, so daß die Datierung der ,Textilzyklen' nach der Outputkurve genauer ist. Wir müßten demnach von vier Zyklen ausgehen: 1844—1848, oberer Wendepunkt 1845; 1848—1852, oberer Wendepunkt 1849; 1852—1859, oberer Wendepunkt 1856; 1859—1864, oberer Wendepunkt 1861. Diese Zyklen sind im Durchschnitt kürzer als die der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur und weichen hinsichtlich der Lage der Wendepunkte mehrfach von ihr ab. Die Outputreihen für Untergruppen der Textilindustrie sowie die Reihen des Pro-Kopf-Verbrauchs an Baumwoll-, Woll- und Seidenwaren bestätigen diese Folgerungen im großen und ganzen. Eine bedeutsame Abweichung beob­ achten wir zu Beginn der 50er Jahre: Die Reihen des Pro-Kopf-Verbrauchs erreichen ihre Minima erst 1853 (Woll- und Seidenwaren) bzw. 1854 (Baum­ wollwaren). Da die Annahme eines Produktionsminimums im Jahre 1852 aber gut gesichert erscheint — alle Produktionsreihen sind 1852 rückläufig, expandieren dagegen 1853 und 1854 überwiegend —, andererseits an den Au­ ßenhandelsreihen ablesbar ist, daß die Importe der betrachteten Warengruppen Anfang der 50er Jahre entweder stagnierten oder sogar schrumpften, während © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild V Textilindustrie, Deutschland BCC und trendbereinigter Output-Index, 1840 = 100 die Exporte stark zunahmen, glauben wir, auf einen Rückgang der Binnen­ nachfrage schließen zu dürfen, dessen negative konjunkturelle Bedeutung offen­ bar durch Exportsteigerungen ausgeglichen werden konnte. Das Tief ist — vom Standpunkt der Industrie aus — 1853 tatsächlich überwunden gewesen. Um der Konjunktur von der ,Wertseite' näherzukommen, betrachten wir als nächstes einen Index der Durchschnittspreise für Textilien. Berücksichtigt man die kurzfristigen Einbrüche, dann zeigt der Index folgende Entwicklung: Maxima 1847, 1850, 1853, 1857 und 1864, Minima 1843, 1848, 1851, 1854 und 1858. Demnach würden die unteren Wendepunkte der Preisentwicklung meist ein Jahr vor denen der Produktion liegen, die wiederum ihren oberen Wendepunkt regelmäßig eher als die Preise erreicht, d. h. schon rückläufig wird, wenn die Preise noch steigen20. Ausgehend von den mitgeteilten Wendepunkten der durchschnittlichen kon­ junkturellen Entwicklung der Textilindustrie, können wir eine in gewissem Umfang von der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur abgehobene Zyklizität konstatieren. Es gibt Hinweise dafür, daß diese u. a. von der Entwicklung der Reallöhne bzw. der Massenkaufkraft in Deutschland, damit also in ver­ mittelter Form von der Bewegung der Agrarpreise beeinflußt wird21. In © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Spitzenjahren der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur, wenn Nominallohnstei­ gerungen die Effekte hoher oder sogar zunehmender Agrarpreise überkompen­ sieren, kann dieser Link durchbrochen und für kurze Zeit eine Synchromtät zwischen allgemeiner und ,Textilkonjunktur' hergestellt werden. Andererseits ist die Textilindustrie aufgrund ihrer starken Außenhandelsverflechtung phasen­ weise ziemlich unabhängig vom Binnenmarkt, z. Β. Anfang der 50er Jahre, wird vielmehr von den Konjunkturen in den wichtigsten Abnehmerländern deutlich beeinflußt. Das macht sich negativ etwa in der Weltwirtschaftskrise 1857/58 bemerkbar22. Die Außenhandelsabhängigkeit ist jedoch bei den ein­ zelnen Teilbereichen der Textilindustrie so unterschiedlich, daß wiederum gene­ ralisierende Aussagen über das Gegeneinander- oder Zusammenwirken der genannten hauptsächlichen Determinanten der ,Textilkonjunkturen' kaum zu machen sind. Sicher scheint zu sein, daß die Zyklen in der Textilindustrie vor allem auf dem Höhepunkt des Booms durch die gesamtwirtschaftliche Kon­ junktur mitbestimmt werden, ohne aber in nennenswertem Maße auf diese rückzuwirken. Soweit nicht Außenhandelseinflüsse dominant sind, ist das zykli­ sche Wachstum der Textilindustrie als Konsumgüter produzierendes Gewerbe in erster Linie von der Entwicklung der Massenkaufkraft im Inland, damit von den Agrarpreis-Schwankungen in Relation zu den Nominallöhnen abhän­ gig. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Wir wollen die Aussagen über die Zyklen der Konsumgüterproduktion noch etwas besser absichern, obwohl wir eine restlos überzeugende Beweisführung hier nicht liefern können. Dazu be­ trachten wir die Produktionsentwicklung in der Nahrungs- und Genußmittel­ industrie23. Die in den absoluten Werten kaum erkennbaren Schwankungen treten erst in der trendbereinigten Reihe hervor. Demnach liegen obere Wende­ punkte in den Jahren 1841, 1849, 1857 und 1863, untere Wendepunkte 1847, 1855 und 1862 (vgl. Schaubild VI). Noch deutlicher als im Fall der Textilindustrie bemerken wir hier 1. die weit­ reichende Unabhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur, 2. die nahezu vollkommene Gegenläufigkeit zu den Agrarpreisen: Alle Minima der Outputentwicklung im Nahrungs- und Genußmittelsektor finden ihr Pendant in stark steigenden oder maximalen Agrarpreisen, alle Maxima der Nahrungs­ mittelproduktion fallen in Jahre sinkender oder minimaler Agrarpreise. Da die Wendepunkte aber keineswegs mit denen der Agrarproduktion zusammen­ fallen, folgern wir, daß die zyklische Entwicklung der Nahrungs- und Genuß­ mittelproduktion nicht von den Schwankungen auf den Beschaffungsmärkten determiniert wird, sondern ziemlich eindeutig von den durch steigende oder fallende Agrarpreise bestimmten Variationen der Massenkaufkraft24. Dem entspricht auch der oben schon erwähnte Rückgang des durchschnittlichen Nahrungsmittelkonsums von 1850 bis 1855. Da Nahrungs- und Genußmittel­ sowie Textilindustrie zusammen immerhin rd. 40 % der Wertschöpfung des Aggregats ,Industrie und Handwerk' erbringen25, dürften die abgeleiteten Ergebnisse einer beachtlichen Disparität zwischen der zyklischen Entwicklung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild VI Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Deutschland Produktions-Index, 1913 = 100, trendbereinigt der Konsumgüterindustrien und der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur als für unsere Zwecke ausreichend gesichert gelten. Wichtigste erklärende Variable ist, solange die Nominallöhne im Durchschnitt stagnieren, die Entwicklung der Agrarpreise. Zur relativen Bedeutung der ,Schwerindustrie'. Im folgenden werden die Zyklen im Bergbau, in der Hüttenindustrie und im Verkehrssektor untersucht. Wir können die von ihnen auf die gesamtwirtschaftliche Konjunktur ausstrah­ lenden Effekte nicht direkt messen26; Anhaltspunkte liefern jedoch die Ergeb­ nisse einer Input-Output-Kalkulation für den Zeitraum 1850—1873. Sie kommt zu dem Schluß: „Die Kumulation des Wachstums im Eisenbahnsektor mit dem der . . . mehr abhängigen Sektoren Eisen und Stahl und Kohle schuf einen solch gewichtigen Wachstumskern, daß die Gesamtwirtschaft mitgerissen wurde.“ 27 Holtfrerich stellt fest, daß die drei Sektoren in hohem Maße inter­ dependent sind; während Hüttenindustrie und Bergbau in erster Linie auf Impulse aus diesem ,System' angewiesen seien, reagiere der Eisenbahnbau primär auf exogene Effekte. Daß das zyklische Wachstum des entstehenden schwerindustriellen Bereichs in den 40er Jahren in noch größerem Umfang von den Eisenbahninvestitionen induziert und dominiert wurde als in den Jahren 1850—1873, darf als sehr wahrscheinlich gelten28. 20 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Der Bergbau. Wir beschränken unsere Analyse im wesentlichen auf den Steinkohlenbergbau29. Legen wir das Timing der Zyklen im Steinkohlenberg­ bau zunächst mit Hilfe eines Diffusions-Index fest, so erhalten wir 1847 und 1858 obere Wendepunkte, 1843, 1848 und 1859 untere Wendepunkte. Sie werden durch den Verlauf der Kurven des Steinkohlenverbrauchs und der Fördermenge bestätigt (vgl. Schaubild VII).

Schaubild VII Steinkohlenbergbau, Deutschland Α-Kurve und BCC Ein anderes Bild liefern uns die trendbereinigten Mengenreihen: Die Ver­ brauchsreihe weist dann Maxima in den Jahren 1845 und 1855, Minima in den Jahren 1844, 1853 und 1860 auf. Die Aufschwungsphasen werden auf diese Weise verkürzt, die Abschwungsphasen verlängert. Bei der trendbereinigten Produktionsreihe ist dieser Effekt auch zu beobachten, jedoch in geringerem Umfang; Maxima haben wir 1845 wie beim Konsum und 1856, Minima 1843, 1851 und — mit der Originalreihe wie der BC C übereinstimmend — 1859. Die Erklärung für diese Verschiebungen liefert ein Blick auf die Wachstums­ raten: Die trendbereinigten Reihen weisen regelmäßig schon obere Wendepunk­ te auf, wenn sich das Wachstum nur verlangsamt, untere Wendepunkte erst dann, wenn es sich deutlich beschleunigt. Da die durchschnittlichen Wachstums­ raten über den ganzen Zeitraum hin sehr hoch sind — beim Verbrauch 7,3 %, bei der Förderung 7,5 % pro Jahr —, erscheinen schon Jahre mit einer posi­ tiven Zuwachsrate von beispielsweise 3 % bis 4 % als solche rückläufiger Kon­ junktur. Im folgenden prüfen wir, ob die durch die trendbereinigten Kurven als Phasen negativer Trendabweichung ausgewiesenen Perioden tatsächlich als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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konjunkturelle Abschwünge zu bewerten sind, auch wenn Output und Ver­ brauch noch wachsen. Die Werte pro Tonne ab Grube fallen im Durchschnitt aller preußischen Steinkohlenreviere von 1842 bis 1845, 1848/49, 1851/52 und 1858 bis 1863, d. h. steigende oder stabile Preise haben wir nur in 10 von 25 untersuchten Jahren30 (vgl. Schaubild VIII).

Schaubild VIII Steinkohlenbergbau, Preußen Durchschnittspreis ab Grube Wir können daraus schließen, daß das Wachstum des Steinkohlenbergbaus im wesentlichen angebotsdeterminiert war, denn bis auf die kurze Phase von 1853 bis 1857 sowie die drei Jahre mit absoluten Produktionsrückgängen (1843, 184S und 1859) variieren Produktion und Preise invers zueinander. Die Erlösentwicklung muß als im Durchschnitt ungünstig angesehen werden. Entscheidend für die Ertragslage ist demnach die Entwicklung auf der Kosten­ seite. Ein wichtiger Kostenfaktor sind die Löhne. Der Verlauf der Jahreslohnkurve für Preußen stimmt relativ gut mit der ,Mengenkonjunktur' übercin, d. h. im wesentlichen erfolgen Lohnsteigerungen nur in ausgesprochenen Auf­ schwungsjahren. Allerdings beobachten wir das ,klassisdie' Nachhinken der Lohnreihe an den oberen und unteren Wendepunkten: Die Löhne steigen wei­ ter, wenn die Konjunktur schon rückläufig ist und fallen noch, wenn zumindest die ,Mengenkonjunktur' wieder eingesetzt hat. Am unteren Wendepunkt be­ deutet das eine kostenmäßige Entlastung, am oberen aber eine weitere Ver­ schlechterung der Erlös-Kosten-Relation. Die Produktivitätsentwicklung hat bis zum Ende der 50er Jahre keinen nennenswerten Einfluß auf die Kostenstruktur, denn bis dahin bleiben die 20*

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Schaubild IX Steinkohlenbergbau, Preußen Arbeitsproduktivität (YM/A) und ,Mehrwertrate' (Q/L) Fortschritte gering und gehen in den Aufschwungsjahren regelmäßig wieder verloren31 (vgl. Schaubild IX). Erst ab 1859 erzielte der Steinkohlenbergbau hohe Produktivitätsgewinne. Daß die Zuwächse der Arbeitsproduktivität besonders in den 40er und begin­ nenden 50er Jahren keine Verbesserung der Kosten-Ertrags-Relation bewirken konnten, verdeutlicht die Tatsache, daß die ,Stücklöhne' (Löhne pro Tonne Förderung) von 1845 bis 1857 nahezu ununterbrochen gestiegen sind; erst die massiven Lohnsenkungen Ende der 50er Jahre verursachten einen Rückgang diese Indikators (vgl. Schaubild X). Die bisherigen Vermutungen über die Entwicklung der Ertragslage können anhand zweier Profitindikatoren direkt überprüft und konkretisiert werden. Die ,Stückgewinne'32 zeigen nur 1841, 1844, 1845, 1849, 1853—1855 und 1858 einen Anstieg, in allen anderen Jahren (d.h. in 7 0 % ) fallen sie. In den 40er Jahren sind ,Stücklöhne' und ,Stückgewinne' deutlich gegenläufig: Die ,Stückgewinne' steigen nur bei sinkenden ,Stücklöhnen'. Die kurze Phase einer synchronen Zunahme beider Reihen (1853—1855) ist durch die gleich­ zeitig erfolgenden ungewöhnlichen Preissteigerungen zu erklären, die es ermög­ lichten, daß trotz Lohnerhöhungen der Lohnanteil am Umsatz von 58 % © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild X Steinkohlenbergbau, Preußen .Stücklöhne' (L/YM) und ,Stückgewinne' (Q/YM) auf 46 % zurückging33. Offenbar wurde der Bergbau durch den einsetzenden Nachfragesog überrascht. Die Grundlage für diese im gesamten Untersuchungs­ zeitraum einmalig günstige Ertragssituation, der Nachfrageüberhang, wurde in den Folgejahren durch das forcierte Kapazitätswachstum rasch abgebaut. Wie aus dem 1856 beginnenden Preisverfall und dem zum gleichen Zeitpunkt einsetzenden Rückgang der ,Stückgewinne' bei nahezu stagnierender Produk­ tivität abzulesen, waren Überkapazitäten entstanden, die eine weitere Expan­ sion nur bei rückläufigen Preisen und Gewinnen zuließen34. Die komprimierteste Information liefert uns ein ,Gewinnindikator', der das Kapitaleinkommen im Steinkohlenbergbau auf die Lohnsumme bezieht35. Die Kurve fällt tendenziell im gesamten Untersuchungszeitraum (vgl. Schau­ bild IX). Interpretieren wir, wie es die formale Konstruktion nahelegt, den Indikator im Sinne der Marxschen Mehrwertrate, so konnte diese offenbar im Untersuchungszeitraum nur selten und nie auf Dauer erhöht werden. Berücksichtigt man die gleichzeitig zu beobachtenden enormen Investitions­ anstrengungen, so muß davon ausgegangen werden, daß in der Mehrzahl der Jahre bei sinkender Profitrate produziert wurde. Hinzu kamen — durch den fortgesetzten Preisfall indiziert — zumindest seit dem Ende der 50er Jahre erhebliche Absatzschwierigkeiten. Das Beispiel des Aufschwungs der 50er Jahre zeigt, daß kurzfristig erzielte relativ hohe Gewinne zu Investitionen anregten, die erst sehr viel später ausreiften und über lange Jahre hin keine angemessene Rendite ermöglichten. Derartige krisenhafte Zuspitzungen können wir jetzt ziemlich genau datieren. Die Schwingungen der ,Mengenkonjunktur', wie wir sie oben anhand der BC C ermittelten, werden überlagert von zykli­ schen Bewegungen der Profite. Messen wir diese von Tief zu Tief durch die Entwicklung der Stückgewinne, so erhalten wir drei unterschiedlich lange © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Zyklen: 1843—1848 (Maximum 1845), 1848—1852 (Maximum 1849) und 1852—1864 (Maximum 1855). Sowohl der Verlauf der ,Stückgewinne' wie der der Mehrwertrate' zeigen, daß sich im Steinkohlenbergbau jeweils zwei Jahre vor dem Erreichen des oberen Wendepunkts der ,Mengenkonjunktur' Faktorenkonstellationen herausgebildet haben, die im Sinne des Marxschen Überproduktionstheorems zu interpretieren waren. Deshalb schwächt sich nach den Ertrags-Maxima das Wachstum deutlich ab, und die trendbereinigten Men­ genreihen indizieren den Eintritt in eine Rezession. In der kritischen Phase gehen die Profite zurück, während die Produktion weiter expandiert — wenn auch mit niedrigerer Rate. Außerdem wächst der Liquiditätsbedarf, denn die Selbstfinanzierungsspielräume verengen sich, doch die laufenden und längst nicht ausgereiften Investitionsprojekte verschlingen immer noch große Kapital­ summen. Mit dem Kreditbedarf erhöhen sich dessen Kosten. Gleichzeitig nimmt auch der Bedarf an Umlaufmitteln zu, denn die Löhne steigen ebenso wie die übrigen Kostenpreise. Als bisheriges Ergebnis ist festzuhalten: Dem Umschlag der Mengenkon­ junktur' geht im Steinkohlenbergbau eine krisenhafte Periode voraus, die vor allem durch ein Produktionswachstum bei rückläufigen ,Stückgewinnen' cha­ rakterisiert ist. Die Ursachen dafür müssen im wesentlichen in den antagoni­ stischen Expansionstendenzen dieses Sektors selbst gesehen werden. Wenn aus­ gesprochene Absatzschwierigkeiten hinzukommen, geht auch die Produktion zurück, bis der Markt in die allzu rasch vergrößerten Kapazitäten hineinge­ wachsen' ist bzw. sich die Erlös-Kosten-Relation entscheidend verbessert. Diese Dynamik ist nahezu unabhängig von der Entwicklung der Massenkaufkraft und den Agrarzyklen. Sie begründet einen Konjunkturverlauf eigener Prägung. Die Hüttenindustrie. Wir betrachten hier die gesamte metallerzeugende In­ dustrie. Ein Diffusions-Index aus zwanzig Indikatoren weist obere Wende­ punkte der ,Hüttenkonjunktur' für 1847 und 1857, untere Wendepunkte für 1844, 1849 und 1860 auf (vgl. Schaubild XI). Die oberen Wendepunkte stimmen mit der allgemeinen Konjunktur überein, die unteren, abgesehen von 1844, weisen einen time-lag von jeweils einem Jahr auf. Etwa dieselben Wendepunkte können wir aus der Outputreihe für die gesamte preußische Hüttenindustrie sowie der trendbereinigten Reihe des Roheisenverbrauchs im Zollverein ablesen36. Eine neue Information liefert uns die trendbereinigte Reihe des Produktions­ werts der preußischen Hütten: Sie hat nur einen oberen Wendepunkt im Untersuchungszeitraum — 1856 — sowie zwei untere Wendepunkte — 1851 und 1861. Die 40er Jahre stellen sich demnach — von der Wertseite her — als eine Phase des Niedergangs dar, unterbrochen von einer kurzen Auf­ schwungsphase von 1845 bis 1847. Betrachten wir die Preise isoliert, und zwar einmal den Durchschnittswert aller Hüttenprodukte in Preußen, zum anderen den Durchschnittspreis für Roheisen im Zollverein, so zeigt sich fol­ gendes Bild: Der Durchschnittswert der Hüttenproduktion sinkt tendenziell © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XI Hüttenindustrie, Deutschland BCC und ,Stückgewinne' (Q/YM) die ganzen 40er Jahre hindurch, während die Roheisenpreise von 1844 bis 1847 stärker ansteigen (vgl. Schaubild XII). Beide Reihen erreichen ihr Minimum 1851 und verlaufen von da ab im wesentlichen parallel bis zum Ende des Untersuchungszeitraums. In den 40er Jahren macht der Roheisenpreis eine Sonderbewegung durch, was darauf schließen läßt, daß der kurze Aufschwung von 1845 bis 1847 insbesondere auf der Roheisennachfrage basierte. Mit Ausnahme der frühen 60er Jahre sind die Preis- und Mengenzyklen relativ gut aufeinander abgestimmt. Die Korrelation von Durchschnittswert der Hüttenprodukte und trendbereinigtem Output ergibt ein r von + 0,71. Dieser Koeffizient ist signifikant und für derartige Reihenkombinationen rela­ tiv hoch; zumindest kann der im Durchschnitt positive Zusammenhang als sicheres Ergebnis gelten, so daß eine nachfrageinduzierte Konjunktur nicht auszuschließen ist. Weiter dürfen wir folgern, daß die Hüttenindustrie im großen und ganzen sehr viel besser als der Steinkohlenbergbau die Kapazi­ täten der Nachfrageentwicklung anpassen konnte, jedenfalls bis zur Mitte der 1850er Jahre. Anfang der 60er Jahre hat sich diese Situation offenbar © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XII Durchschnittswert pro Tonne Hüttenproduktion (PH) in Preußen Durchschnittspreis, Roheisen, Deutschland (PR) geändert, denn von da ab wird die Steigerung der Outputmenge auch bei sinkenden Preisen forciert. Die Lohnkurve weist ähnlich wie im Steinkohlenbergbau für die 40er und 50er Jahre jeweils völlig unterschiedliche Verläufe auf: Zwar schwankten die Jahreslöhne in der Hüttenindustrie bis 1853 geringfügig, doch fand keine trendmäßige Erhöhung statt; von 1854 an explodierten sie dagegen förmlich und stiegen mit nur zweijähriger Unterbrechung bis 1864 an. Allerdings macht die Kurve der Arbeitsproduktivität eine nahezu parallele Entwicklung durch: Auch sie stagniert in den 40er Jahren tendenziell und wächst dann von 1850 ab fast ohne Unterbrechung (vgl. Schaubild XIII). Die Erfolge der Produktivitätssteigerungen lassen sich gut aus der Entwicklung der ,Stücklöhne' (Jahreslöhne pro Outputeinheit) ablesen. Ab 1857 sind Ar­ beitsproduktivität und ,Stücklöhne' eindeutig gegenläufig. Wir stellen fest, daß die Hüttenindustrie sehr viel elastischer hinsichtlich der kapazitätsmäßigen Anpassung an Nachfrageschwankungen ist als der Steinkohlenbergbau. Darüber hinaus kann sie nach Ausreifen der im Auf­ schwung der 50er Jahre getätigten Investitionen die Produktion bei sinkenden Preisen steigern, ohne eine Verschlechterung der Erlös-Kosten-Relation in Kauf nehmen zu müssen, da sie überproportionale Produktivitätsgewinne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XIII Hüttenindustrie, Preußen Arbeitsproduktivität (YM/A und Stücklöhne' (L/YM) erzielt. Die wenigen Informationen, die wir über die Ertragslage besitzen, zeigen allerdings, daß auch dieser Industriezweig erhebliche Schwierigkeiten hatte, eine angemessene Kapitalverzinsung zu erzielen. Eine von uns ermittelte Reihe der ,Stückgewinne' (Bruttogewinne pro Outputeinheit), die leider erst ab 1853 zur Verfügung steht, steigt im Aufschwung bis 1855 stark an. Von 1856 fällt sie jedoch bis 1859 rapide (Rückgang allein 1855 auf 1856 = — 6 0 % ) . Auch die Erholung zu Beginn der 60er Jahre ist nur von kurzer Dauer, denn ab 1863 sinkt die Kurve weiter (vgl. Schaubild XI). Nehmen wir diese Informationen zusammen, so läßt sich behaupten, daß auch in der Hüt­ tenindustrie dem oberen Wendepunkt der ,Mengenkonjunktur' zumindest in den 1850er Jahren eine mehrjährige krisenhafte Entwicklungsphase vorausgeht, die besonders durch rückläufige ,Stückgewinne' und steigende ,Stücklöhne' cha­ rakterisiert ist. Der eigentliche Höhepunkt einer auch vom unternehmerischen Standpunkt aus ,erfreulichen Konjunktur' wurde zweifellos schon 1855 über­ schritten. Für die 40er Jahre müssen wir aufgrund fehlender Informationen über die Ertragslage dagegen aus dem Gleichlauf von Produktion und Preisen bis 1847 zumindest in der Roheisenproduktion schließen, daß die krisenhafte Zuspit­ zung relativ plötzlich einsetzte und stärker durch von außen kommende Im­ pulse — nämlich Außenhandelsentwicklung37 und rückläufige Eisenbahninve­ stitionen — bedingt war. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die Eisenbahnen. Wenn sich die Bruttowertschöpfung des gesamten Verkehrs­ sektors in Deutschland von 1840 bis 1850 vervierfachte und in den 50er Jahren bis 1860 noch einmal verdoppelte bei einer durchschnittlichen Wachstumsrate von fast 12 % pro Jahr38, dann spricht viel für die Vermutung, daß diese Leistungssteigerung nur durch umfangreiche Investitionen ermöglicht wurde. Leider verfügen wir nur bei den Eisenbahnen über entsprechende Zeitreihen. Wir werden im folgenden kurz auf die Leistungen der Eisenbahnen eingehen; unter dem Aspekt der Impacts für die allgemeine Konjunkturentwicklung interessieren uns primär die Backward Linkages, also die mit dem Eisenbahn­ bau verbundenen Nachfragestöße. Die Rolle der Eisenbahnen am Kapital­ markt können wir nicht berücksichtigen. Die oberen Wendepunkte der trendbereinigten Reihe der geleisteten Tonnen­ kilometer liegen 1847 und 1855, die unteren Wendepunkte 1853 und 186139 (vgl. Schaubild XIV). Deutlicher als alle bisher diskutierten Indikatoren zeigt diese Reihe die Schwan­ kungen des Wachstumstempos der ,Schwerindustrie' an. Dagegen schwankt die Reihe der Erlöse aus Personentransport sehr viel enger mit dem Nettoinlands­ produkt bzw. der allgemeinen Konjunktur (obere Wendepunkte: 1843, 1847, 1852, 1857, 1863; untere Wendepunkte: 1841, 1845, 1849, 1855, 1859). Bei der Behandlung der Backward Linkages gehen wir von der in der Litera­ tur vielfach behaupteten Induktionswirkung des Eisenbahnbaus für das gesamt­ wirtschaftliche, besonders das industriewirtschaftliche Wachstum aus. Sie impli­ zierte ein außerordentliches konjunkturelles Gewicht der entsprechenden Inve­ stitionsausgaben. Im folgenden soll diese Hypothese konkretisiert und auf ihre Stichhaltigkeit hin getestet werden. Die Backward Linkages werden meist an den Zuwächsen des Anlagekapitals der Eisenbahnen bzw. am Wachstum der Streckenlänge gemessen. Beide Maßstäbe sind höchst unsicher, wenn auch zur Abschätzung der allgemeinen Wachstumseffekte über längere Zeiträume möglicherweise brauchbar. Besonders unklar ist, wie groß die Investitionsaus­ gaben pro Jahr waren und wann sie faktisch wirksam wurden. Das aber sind für die Konjunkturforschung die entscheidenden Informationen. Stellen wir kurz die daraus ableitbaren Ergebnisse dar. Schaubild XV ver­ anschaulicht die aus der Reihe des ,verwendeten Anlagekapitals' 40 errechneten Nettoinvestitionen (vgl. Schaubild XV). Sollten diese Zahlen tatsächlich das Investitionsverhalten der deutschen Eisen­ bahngesellschaften wiedergeben, so müßte es als tendenziell prozyklisch in den 40er Jahren und antizyklisch in den 50er Jahren bezeichnet werden, obwohl auch 1848/49 eine eher stabilisierende Wirkung von den weiter ein relativ hohes Niveau haltenden Eisenbahninvestitionen ausgegangen sein dürfte. Zu etwas abweichenden Ergebnissen kommen wir bei Untersuchung des Strecken­ wachstums41. Die größten absoluten Zuwächse fallen in den 40er Jahren auf 1846 und 1847, dann erfolgt ein starker Rückgang bis 1851, also ein deutlich prozyklischer Verlauf. In den 50er Jahren sind die Zuwächse im Durchschnitt kleiner, Höchstwerte liegen bei 1856, vor allem aber 1858/59; hier müßte auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XIV Eisenbahnen, Deutschland geleistete Tonnenkilometer (TKm) + Erlöse aus Personentransport (EPT) — jew. trendbereinigt — eine eher antizyklische Wirkung des Streckenbaus geschlossen werden. Derartige Folgerungen widersprechen allen verfügbaren Informationen. Steinkohlenför­ derung und -verbrauch fallen 1848—1850 gegenüber 1847 und 1859/60 gegen­ über 1858 deutlich zurück; der Roheisenkonsum bleibt bis 1853 unter dem Niveau von 1847 bzw. bis 1862 unter dem von 1857; die Stabeisenerzeugung in Preußen erreicht erst wieder 1852 den Umfang von 1847 und 1862 den von 1858; die als Eisenbahnzulieferer spezialisierten Maschinenfabriken in Berlin warten von 1858 bis 1861 vergeblich auf größere Aufträge42. Die Zuwächse des ,verwendeten Anlagekapitals' der Streckenlänge geben die zeit­ liche Entwicklung der Investitionsnachfrage der Eisenbahnen nur verzerrt wieder. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XV Eisenbahnen, Deutschland Wachstum der Streckenlänge (St) und Nettoinvestitionen (I n ) Wir haben den Versuch unternommen, eine Investitionsreihe zu schätzen, die die tatsächliche Investitionsnachfrage mit einem plausibleren Timing repräsen­ tiert. Dabei gehen wir, um die Unsicherheiten der durch Bewertungsmanipu­ lationen verzerrten Bilanzziffern auszuschalten, von den Reihen der Schienen­ länge sowie des Lokomotiv- und Waggonbestandes aus. Der im folgenden diskutierte Index bringt also die reale Investitionsnachfrage der Eisenbahnen zum Ausdruck. Der kritische Punkt sind die unterstellten Time-lags, und zwar wurde angenommen, daß der Zuwachs der Streckenlänge im Jahre t auf einer realen Investitionsnachfrage im Jahre t—2 basiert; der Time-lag beim ,rol­ lenden Material' beträgt 1 ½ Jahre 43 . Die Prüfung der Reihe hat sich in erster Linie auf die Time-lag-Annahmen zu konzentrieren. Die Testmöglich­ keiten sind allerdings beschränkt, wobei vor allem die Mängel des Zeitreihen­ materials und die Kürze des Untersuchungszeitraums in Betracht kommen. Wir haben außerdem die Hypothese getestet, die durch den Index reprä­ sentierte Investitionsnachfrage könnte eine Funktion der Nachfrage nach Verkehrsleistungen sein gemäß dem Akzelerationsprinzip44. Die sich in alternativen Rechnungen mit verschiedenen Kontrollvariablen und Time-lags ergebenden Korrelationskoeffizienten sind entweder nicht signifikant oder doch immer noch so niedrig, daß eine eindeutige Aussage darauf nicht gegründet werden kann45. Daß der Zusammenhang enger ist als durch die Korrelation © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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meßbar, zeigt die entsprechende graphische Darstellung (vgl. Schaubild XVI). Die Hypothese, daß die Investitionen auf die Verkehrsnachfrage (im Schaubild repräsentiert durch die geleisteten Personenkilometer) reagiert, kann nicht ausgeschlossen werden.

Schaubild XVI Eisenbahnen, Deutschland Meßziffer der realen Investitionsnachfrage (Ir) + geleistete Personenkilometer (PKm), 1. Differenzen Des v/eiteren haben wir geprüft, ob die Investitionsnachfrage von den Gewinnerwartungen bestimmt wurde. Die Hypothese wird durch die Test­ rechnungen mit alternativen Renditenreihen als Indikatoren der Gewinnerwar­ tungen nicht widerlegt, kann jedoch keinesfalls als gut abgesichert gelten. Immerhin ist der Zusammenhang in der Graphik deutlich zu erkennen (vgl. Schaubild XVII). In dieser Situation halten wir so lange an der Schätzung fest, wie sie einerseits nicht eindeutig als unhaltbar angesehen werden muß, andererseits aber die tatsächliche Konjunktur im Bereich der ,Schwerindustrie' gut erklärt. Sie liefert uns folgende Informationen: Höhepunkte der Investitionstätigkeit der Eisen­ bahnen sind die Jahre 1844—1846, 1854—1857, 1863 und 1864; Jahre nie­ drigster Nachfrage sind im Vergleich zu den vorangegangenen und nachfolgen­ den Jahren 1843, 1849, 1859. Die zyklischen Schwankungen der Investitions­ nachfrage stimmen ziemlich gut mit denen des Roheisenverbrauchs, der Stab© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schaubild XVII Eisenbahnen, Deutschland Meßziffer der realen Investitionsnachfrage (I r ) und ,Gewinnerwartungen' (QE) — dimensionslos — eisenproduktion und des Lokomotivbaus überein. Die Haltbarkeit der Investi­ tionsreihe als Hypothese für die wahrscheinliche Nachfrageentwicklung der Eisenbahnen vorausgesetzt, kann diese als wichtigste Erklärung für die Zyklen in Hüttenindustrie, Maschinenbau und Steinkohlenbergbau gelten. Hinsichtlich des Steinkohlenbergbaus ist zu beachten, daß sich die Abschwungsphasen in den erstgenannten Bereichen als Rückgang der Energienachfrage auswirkten. Wir haben damit den entscheidenden Hinweis auf die Ursachen der die Depressionsphasen von 1848 bis 1852 und 1858 bis 1861 auslösenden Absatz­ schwierigkeiten im Bereich der ,Schwerindustrie' geliefert. Die Schwankungen der Eisenbahninvestitionen selbst können wir hier nicht zureichend erklären, glauben jedoch, wichtige Impulse nennen zu können: Sie dürften aus den Gewinnerwartungen resultieren, die durch die in Schaubild XVII abgebildete Kurve der Eisenbahnrendite relativ gut repräsentiert werden, sowie aus Anti­ zipationen der allgemeinen Konjunkturtendenz, von der die Nachfrage nach Verkehrsleistungen abhängt, aber auch aus spezifischen Kapitalmarktkonstella­ tionen48. Folgerungen47. Wenn wir eine Untergliederung des Zyklus in Aufschwung, kritische Phase und Depression vornehmen, lassen sich diese Teilperioden wie folgt terminieren: Aufschwungsjahre sind 1845/46, 1853—1855 und 1862—1864; kritische Jahre: 1847 und 1856/57; Depressionsjahre: 1840—1844, 1848—1852 und 1858—1861. Die oberen Wendepunkte markieren den Abschluß der ,kriti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schen Phase', untere Wendepunkte das Jahr des schwächsten Wachstums. Die gesamtwirtschaftlichen Zyklen im Rahmen dieser Wendepunkte basieren auf den Wachstumsschwankungen des ,schwerindustriellen' Sektors, d. h. des durch straffe Input-Output-Relationen gekennzeichneten Blocks, bestehend aus Eisen­ bahnen, Bergbau, Hüttenindustrie und Maschinenbau. Dieser Block ist aufgrund seines hohen Finanzbedarfs sowohl für Gründungs- und Investitionszwecke wie zur Deckung seines zyklisch anschwellenden Defizits an Umlaufmitteln mit dem Geld- und Kreditsektor rückgekoppelt: Er bestimmt in starkem Maße dessen Entwicklung; infolge gewisser Eigengesetzlichkeiten des monetären Sektors bringt dieser wiederum autonome Impulse in das Wachstum der ,Schwerindu­ strie' ein. Deshalb schwingen die monetären Indikatoren im Rhythmus des schwerindustriellen Wachstums, dem sie aber in der ,kritischen Phase' des Booms und in der einsetzenden Depression durchaus auch ihre Bedingungen aufzwin­ gen. Die durch die spezifische Interaktion zwischen ,Schwerindustrie' und Geld­ und Kreditsektor gekennzeichneten Zyklen sind relativ unabhängig von der Entwicklung in der Konsumgüterindustrie, deren Konjunkturen offenbar — vermittelt durch die Schwankungen der Massenkaufkraft — im Beobachtungs­ zeitraum noch stark von den Agrarzyklen mitbestimmt werden. Zwar bildet sich auch in diesem Bereich zunehmend die auf den Bedingungen industriell­ kapitalistischer Akkumulation beruhende innersektorale Dynamik des Wachs­ tums heraus, doch sind exogene Impulse von seiten der Außenhandels- und Agrarentwicklung noch dominant. Deshalb weichen die Zyklen im Timing deutlich von den oben skizzierten ab. Die Entwicklung des Nettoinlandspro­ dukts folgt, bedingt durch seine Gewichtungsstruktur, tendenziell diesen ,vor­ industriellen' Zyklen. Wir glauben, die Dynamik der ,modernen' Konjunkturbewegungen im Un­ tersuchungszeitraum auf der Basis unserer Ergebnisse bis zu einem gewissen Grade erklären zu können. Wie wir gesehen haben, wird das Wachstum bis zum oberen Wendepunkt durch das fortgesetzte Expandieren der Produktions­ reihen in den ,schwerindustriellen' Sektoren getragen. Der wichtigste Impuls für das Produktionswachstum ist in allen drei Aufschwungsphasen das Empor­ schnellen der Eisenbahninvestitionen, die selbst wiederum auf vier voneinander nicht ganz unabhängige Anstoße reagieren: 1. auf spekulative Gewinnerwar­ tungen, 2. auf eine befriedigende Kapitalverzinsung in den dem Investitions­ stoß jeweils vorangegangenen drei Jahren, 3. auf eine, wie unsere Reihe für den Verkehrsoutput zeigt, durchaus realistische Antizipation zukünftiger Nach­ frage nach Verkehrsleistungen und 4. im Verlauf des Untersuchungszeitraums zunehmend auf militärische Interessen der jeweiligen Bundesstaaten. Die speku­ lativen Gewinnerwartungen spielen vor allem im Gründungs- und ersten Pla­ nungsstadium eine entscheidende Rolle und prägen die wichtige Beziehung zum Kapitalmarkt bzw. zur Börse. Insofern wirkten Kapitalmarkt- und Bör­ senbewegungen auf die Entfaltung der Eisenbahninvestitionen zurück und indu­ zierten u. a. die Investitionseinschränkungen 1846/47. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Im Aufschwung der ,Schwerindustrie' machen sich aber, abgesehen von der Investitionsnachfrage der Eisenbahnen, auch sektorspezifische spekulative und antizipatorische Momente geltend, z. B. bei der Dimensionierung der Investi­ tionsprojekte, die besonders in den beginnenden 50er Jahren sozusagen immer ,ein paar Nummern zu groß' ausfallen — jedenfalls auf kurze und mittlere Sicht. Doch lange ehe sich das am Markt in Form sinkender Preise und rück­ läufiger Zuwachsraten des Absatzes manifestiert, stößt der Aufschwung an zwei ,eingebaute Schranken': Eine solche ,Schranke' bilden die Liquidität und der Umfang der mobilisierbaren Finanzierungsmittel. Die meisten Investitions­ projekte erwiesen sich besonders im Aufschwung der 50er Jahre recht bald als mehr oder weniger unterkapitalisiert, was nur die Kehrseite ihrer Überdimen­ sionierung war, und die Finanzierungsspielräume als begrenzt48. Hinzu kam als zweite ,Schranke' die sich rasch verschlechternde Eigenkapitalverzinsung: Die Einführung technischer Fortschritte mit Übergang zu massenhafter Produk­ tion erzwang im Konkurrenzzusammenhang die Senkung der Preise, also rück­ läufige ,Stückgewinne' bei steigenden Kapitalkosten (Zinsen) und Löhnen mit der Konsequenz stagnierender oder schrumpfender Profitmassen, die ein immer noch wachsendes Eigenkapital zu verzinsen hatten. Der Rückgang der Investitionsnachfrage der Eisenbahnen gab nur noch den letzten Anstoß, indem er eine weitere Absatzexpansion unmöglich machte. Diese Häufung ungünstiger Impulse, verschärft durch die ,Kreditklemme' bzw. die weit verbreitete Liquiditätsnot und die sich aus Börsenkrach sowie einigen spektakulären Zusammenbrüchen von Handelshäusern ableitende allgemeine Verschlechterung des sogenannten Geschäftsklimas, lösten 1847 und 1857 kumu­ lative Prozesse der Investitionseinschränkung, des Auftragsrückgangs, der Ab­ satzschrumpfung aus, die in der ,Schwerindustrie' sogar zu einem Produktions­ rückgang führten, verbunden mit Arbeiterentlassungen, Lohnsenkungen und verschärften Rationalisierungsanstrengungen. Die dadurch erzwungenen allge­ meinen Preissenkungen besonders auch auf den Beschaffungsmärkten brachten in den Depressionsjahren die Erlös-Kosten-Relation nach und nach wieder auf ein Niveau, das die für einen neuen Aufschwung erforderlichen Spekulationen und Antizipationen zu nähren erlaubte. Diesen Mechanismus haben wir am Beispiel der Hüttenindustrie und des Steinkohlenbergbaus relativ differenziert nachzeichnen können. Auch der Bezug zum Eisenbahnsektor scheint uns gesichert zu sein. Der Zusammenhang mit der Konsumgüterindustrie war im Untersuchungszeitraum deshalb noch schwach, weil einerseits die ,Schwerindustrie' auf Nachfrageimpulse aus diesem Bereich kaum angewiesen zu sein schien, mit der Ausnahme des Maschinen­ baus, der selber wiederum ein noch unbedeutender Faktor in diesem ,System' war, während umgekehrt die Einkommenseffekte aus der Beschäftigungsent­ wicklung innerhalb der ,Schwerindustrie' angesichts im gesamtwirtschaftlichen Maßstab relativ kleiner Beschäftigtenzahlen für die Konsumgüterindustrie we­ nig Gewicht hatten; was für bestimmte industrielle Ballungsgebiete nicht gelten dürfte, dort könnten die Links enger gewesen sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Das von uns vorgenommene Timing der Zyklen brachte zumindest hinsicht­ lich der Wendepunkte der allgemeinen Konjunktur keine neuen Einsichten. Einen Fortschritt sehen wir schon eher darin, die Umschlagpunkte der unter­ nehmerischen Konjunktur', also den Eintritt der ,kritischen Phase' begründet angeben zu können. Darüber hinaus glauben wir, auf dem Weg über die sek­ torale Analyse den Nachweis dafür erbracht zu haben, daß 1. die Investitions­ nachfrage der Eisenbahnen nicht nur das langfristige Wachstum des ,schwer­ industriellen' Sektors, sondern auch dessen zyklische Entwicklung im Unter­ suchungszeitraum induziert hat; 2. daß die Depressionsphasen 1848—1852 und 1858—1861 zwar durch Entwicklungen im Geld- und Kreditsektor deut­ lich mitbestimmt wurden, wesentliche Voraussetzungen aber in sektorspezifi­ schen Konstellationen, besonders dem Wachstum bei rückläufiger Kapitalver­ zinsung, hatten. Bestimmte Bedingungen im monetären Bereich, Impulse von seiten des Außenhandels und schließlich die rückläufige Eisenbahnnachfrage terminieren den oberen Wendepunkt der ,Mengenkonjunktur' und modifizieren den Depressionsverlauf, sie sind aber nicht dessen Ursache. Diese Zusammen­ hänge treten im Zyklus der 40er Jahre weniger deutlich hervor als in dem der 50er Jahre, was vor allem auf das inzwischen erheblich vergrößerte Gewicht der ,Schwerindustrie' innerhalb der Gesamtwirtschaft, die fortgeschrittene Ka­ pitalakkumulation und die gegenüber der ausländischen Konkurrenz gestärkte Marktposition zurückzuführen ist.

Anmerkungen 1 Vgl. zum konjunkturtheoretischen Vorverständnis R. Spree, Zur Kritik moderner bürgerlicher Krisengcschichtsschreibung, Argument 75. 1972, 94—103. 2 Vgl. D. H. Aldcroft/P. Fearon Hrsg., British Economic Fluctuations, 1790—1939, London 1972, 13, Fn. 2. 3 H. Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859, Stuttgart 1934, Neu­ druck Göttingen 1974. 4 Die Analyse basiert auf der Auswertung von über 250 Indikatoren und be­ schränkt sich bewußt darauf, d. h. qualitative Informationen werden selten explizite berücksichtigt. Das Material kann hier nicht dokumentiert werden. Insbesondere müssen wir aus Platzmangel überwiegend auf Quellennachweise und Erläuterungen der Schätzmethoden verzichten. Die Reihen für den monetären Sektor und den Außen­ handel hat J . Bergmann zusammengestellt. Vgl. zu den Quellen seine vor dem Abschluß stehende Analyse des Zyklus' der 1840er Jahre, besonders der sozialge­ schichtlichen Aspekte. Die übrigen neuen Reihen werden bei R. Spree, Analyse der Zyklizität des Wachstums der deutschen Wirtschaft 1840—1880, veröffentlicht. 5 Aus alternativen Schätzungen wählten wir die Anpassung eines Polynoms 2. Gra­ des als durchweg beste Approximation des Trends aus. Dieser wurde für die Periode 1840—1880 berechnet, da unser hier gewählter Untersuchungszeitraum zu kurz ist. Dadurch sind Form und Lage der Trendkurven in einigen Fällen stark verändert, doch sind die Verzerrungen im großen und ganzen unerheblich. Wir haben auf eine Trendbereinigung nicht verzichten wollen, weil sich Konjunkturen als Wachstums­ schwankungen meist nur in bezug auf einen Trend klar definieren und messen lassen. Vgl. z. B. R. C . O. Matthews, Postwar Business C ycles in the United Kingdom, in:

21 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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M. Bronfenbrenner Hrsg., Is the Business C ycle Obsolete?, Ν. Y. 1969, 99 ff. Zur Kritik der Trendbereinigung: A. F. Burns/W. C. Mitchell, Measuring Business Cycles, Ν. Y. 1947, Kap. 7, sowie Ο. Anderson, Probleme der statistischen Methodenlehre, Würzbure 51965, 176. 6 Die Korrelationen lieferten meist unbefriedigende Ergebnisse. Das ist zum Teil auf das inadäquate Material zurückzuführen. Man würde wahrscheinlich schon durch intensivere Bearbeitung der Reihen (Differenzenbildung, Glättung usw.) sowie durch Berücksichtigung von alternativen Ansätzen (etwa bei Time-lags) die Resultate ver­ bessern können. 7 Die Originalreihe ab 1850 bei W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deut­ schen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, 454. Die daran anknüpfende Schätzung für die 1840er Jahre demn. bei Spree, Analyse. 8 Vgl. zur Konstruktion des Index: H. Theiler, Nicht-monetäre Indikatoren zur Bestimmung von Konjunkturtendenzen, Zürich 1971, 16; zu seinen Eigenschaften G. H. Moore, The Diffusion of Business C ycles, in: ders. Hrsg., Business C ycle Indicators, Princeton 1961, 261 ff. 9 Die Tatsache, daß die Wendepunkte einer Indikatorenkurve vor denen der all­ gemeinen Konjunktur liegen (,Leading Indicator') oder nachhinken (,Lagging Indica­ tor'), ist keine feste Eigenschaft des betreffenden Indikators; deshalb gibt es keine generell gültige entsprechende Klassifikation konjunkturstatistischer Reihen; vgl. dazu insbes. G. H. Moore, Leading and C onfirming Indicators of General Business C hanges, in: ders. Hrsg., 48 ff. 10 Die Wendepunkte der Α-Kurven kennzeichnen nach unserer Auffassung so etwas wie Krisen im traditionellen Sinne (Spekulationszusammenbrüche, Börsenpanik, Kreditengpässe) bzw. den Eintritt dessen, was man heute einen ,sich heiß laufenden Boom' nennt. 11 Theiler, 28. 12 Vgl. z. B. A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wechsellagen, I, Tübingen 1955, 114 f.; J . A. Schumpeter, Konjunkturzyklen, I, Göttingen 1961, 313; H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, II, Berlin 2 1971, 198 f. 13 Vgl. dazu R. C . O. Matthews, The Trade C ycle, Digswell Place 51966, 128 (dt. München 1972); sowie Aldcroft/Fearon, 44 u. 56 — trotz der von ihnen er­ wähnten ,Monetary C ounter-Revolution' der letzten Jahre. Die Produktionsbereiche sind im Hinblick auf ihre überproportionalen Wachstumsraten im Untersuchungszeit­ raum und die ihnen zugeschriebenen Demonstrationseffekte ausgewählt worden. 14 Die starken Erhöhungen des Notenumlaufs 1846/47 und 1856 gehen darauf zurück, daß die in ihrem Notenausgaberecht beschränkte Preußische Bank 1846 die Genehmigung zur Ausgabe von 10 Mio. Talern erhielt und 1856 von der Beschränkung ganz befreit wurde. Die Entwicklung der Zinssätze wurde noch bis 1861, jedenfalls in Preußen, durch die auf der traditionellen Wuchergesetzgebung basierenden Höchst­ zinsgrenzen manipuliert, 1857 mußte die Beschränkung kurzfristig aufgehoben wer­ den, so daß die Zahlen für dieses Jahr aussagekräftiger sind. Vgl. L. Kluitmann, Der gewerbliche Geld- u. Kapitalverkehr im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, Bonn 1931, 40. 15 Vgl. B. v. Borries, Deutschlands Außenhandel, 1836—1856, Stuttgart 1970, 209. 16 Vgl. ebd., 88. Von uns auf der Basis der Handelswertangaben bei Hübner bis 1861 ergänzt; vgl. Jahrbuch für Volkswirtschaft u. Statistik, O. Hübner Hrsg., 1—8, Leipzig 1852—63. Die Indexwerte der Ein- bzw. Ausfuhrpreise (pro Jahr): 1857: 118 bzw. 102; 1858: 103 bzw. 125; 1859: 109 bzw. 88; 1860: 108 bzw. 88; 1861: 113 bzw. 80. 17 Die in der Lage der Maxima 1847 und 1857 sowie schwacher Rückgänge 1848 u. 1858 angedeutete partielle Übereinstimmung der agrarischen und der industriewirt­ schaftlichen Produktionsentwicklung wird durch den Verlauf einer auf 10 Indikatoren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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basierenden BC C für den Agrarsektor bestätigt, konnte aber trotz der sich daraus ergebenden interessanten Aspekte hier nicht verfolgt werden. Vgl. dazu demn. J . Bergmann. 18 Vgl. V. P. Timoshenko, The Role of Agricultural Fluctuations in the Business Cycle, Michigan Business Studies II, 9, 1930, 20; ebenso E. Graue, Business Activity and Agriculture, JPE 38. 1930, 472. Ferner Aldcroft/Fearon, 40. 19 Vgl. Timoshenko, 49. 20 Für die Baumwollindustrie verfügen wir über genügend konjunkturrelevante Zeitreihen, daß wir die Zusammenhänge zwischen Preisen, Produktion, Löhnen, Inve­ stitionen, Produktivitäten und Gewinnen quantitativ analysieren können. Da aber für keinen weiteren Zweig der Textilindustrie ein derartig differenziertes und zuver­ lässiges Material vorliegt und man nicht von der Baumwollindustrie auf den ganzen Sektor schließen kann, verzichten wir hier auf die Wiedergabe der Ergebnisse. Vgl. dazu demn. Spree, Analyse. Die ,Baumwollreihen' bei: G. Kirchhain, Das Wachstum der deutschen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert, Diss. Münster 1971. 21 Zu denken ist an die relative Stagnation des Pro-Kopf-Konsums die 1840er Jahre hindurch (mit Ausnahme des kurzfristigen Anstiegs 1849) und den starken Rück­ gang desselben bis 1854. 22 Vgl. z. B. für die Wollindustrie H. Blumberg, Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution, Berlin 1965, 194—241. Auch 1847/48 setzten sich die Weltmarkttendenzen in der deutschen ,Textilkonjunktur' durch. 23 Wir haben den ab 1850 vorliegenden Produktionsindex von Hoffmann (390 f.) für diesen (von der Kapitalstruktur und dem technologischen Niveau her) äußerst heterogenen Industriezweig bis 1840 zurückgerechnet. 24 Als weiterer Beleg darf die gute Übereinstimmung mit den Schwankungen des Reallohn-Index' von Kuczynski gelten; vgl. J . Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, I, Berlin 1961, 253 u. II, 1962, 152. 25 Wertschöpfungsanteile nach Hoffmann, 390 f. 26 Einen groben Anhaltspunkt liefert folgende Berechnung: Gewichtet man die Wachstumsraten der drei Sektoren (Ø 1840—1864) mit ihren Wertschöpfungsanteilen (nach Hoffmann, 390 f. u. 454 f.) und drückt sie in Prozent der durchschnittlichen Wachstumsrate des Nettoinlandsprodukts aus, so zeigt sich, daß ihr Wachstum bei einem Gewicht von zusammen knapp 3 % immerhin 10 % des gesamtwirtschaftlichen Wachstums zu ,erklären' vermag. Gegenbeispiel: Die Landwirtschaft tragt im selben Zeitraum bei einem Gewicht von rd. 43 % ,nur' etwa 24 % zum Wachstum des Nettoinlandsprodukts bei. Die Wachstumseffekte der drei ,schwerindustriellen' Sek­ toren sind also erheblich höher zu veranschlagen, als nach ihrem Wertschöpfungsanteil zu vermuten. 27 C .-L. Holtfrcrich, Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert, Dortmund 1973, 167. 28 Vgl. dazu die auf mikroökonomischer Ebene gewonnenen Ergebnisse von Wagen­ blaß, der die überragende Bedeutung des Eisenbahnbaus für die Entwicklung der Hütten- und Maschinenbauindustrie nachweisen kann; H. Wagenblaß, Der Eisenbahn­ bau u. das Wachstum der deutschen Eisen- u. Maschinenbauindustrie 1835—1860, Stuttgart 1973, 3. Kap. 29 An preußischen Zahlen gemessen, steigt der Beschäftigtenanteil des Steinkohlen­ bergbaus am gesamten Bergbau (ohne Salinen) von 1840—1864 von rd. 53 % auf 60 %, der Förderanteil schwankt um rd. 71 %. 30 Daß die Preisschwankungen in den 40er Jahren so schwach ausfallen, erklärt sich aus der Tatsache, daß sie bis 1851 administriert wurden. Vgl. Th. Schulz, Die Ent­ wicklung des deutschen Steinkohlenhandels, Diss. Tübingen, Waidenburg 1911, 87 f. Bei den Importpreisen haben wir zwar dieselben Wendepunkte, aber stärkere Schwan­ kungen. Vgl. A. Jacobs/H. Richter, Die Großhandelspreise in Deutschland 1792—1934, 21*

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Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 37, Berlin 1935, 62 f. Die Löhne wurden bis 1860 staatlich reguliert, doch waren davon direkt nur die Mindest­ löhne betroffen; vgl. Holtfrerich, 56. 31 Die Arbeitsproduktivität ist in erheblichem Umfang durch die ungenügend berücksichtigten Auslastungsschwankungen der Beschäftigten verzerrt, worauf sich ein großer Teil der Produktivitätsvariationen zurückführen läßt. 32 ,Stückgewinnc' = Kapitaleinkommen im preußischen Steinkohlenbergbau, bezo­ gen auf die Fördermenge. Schätzung analog zu Holtfrerich, 88 ff.; (vgl. Schaubild X). 33 In den Folgejahren ab 1856 springt der Anteil sofort wieder auf über 5 0 % ; berechnet aus unserer Lohnreihe, kombiniert mit den Umsatzzahlen bei M. Reuss, Mittheilungen aus der Geschichte des Königlichen Oberbergamtes zu Dortmund, ZfBHW 40. B, 1892, 387. 34 Zur Investitionstätigkeit: Holtfrerich, 74 ff. 35 Konstruktion und Interpretation dieses Indikators erfolgen in Anlehnung an Holtfrerich, 121. Vgl. auch Spree, Kritik, 79—87. 36 Von den Extremwerten der Reihe des Roheisenverbrauchs zu Beginn der 1840er Jahre wissen wir, daß sie durch die Einführung der Schutzzölle 1844 verzerrt und ohne Berücksichtigung der Lagerhaltung aussageleer sind. 37 Bei den Eisenhütten muß die starke Auslandskonkurrenz berücksichtigt werden — die Importe stiegen in den Aufschwungsphasen im Vergleich zur Produktion regelmäßig überproportional an. Die Preise für englisches Roh- und Schmiedeeisen fielen in Hamburg jeweils 2 Jahre früher und stärker als die Inlandspreise. Da gleich­ zeitig die Importmengen zunahmen — bei Schmiedeeisen allerdings nur in den 40er Jahren —, dürfte der Preis- und Konkurrenzdruck auf den Inlandsmärkten erheblich verschärft worden sein. Das könnte die Ertragslage der Eisenhütten schon ab 1846 stark beeinträchtigt haben. In den 50er Jahren stehen dagegen die Belastungen durch die innersektoralen Überproduktionsphänomene im Vordergrund. Vgl. die Preis­ reihen bei Jacobs/Richter, 62 f., u. Spiethoff, II, Tafel 25. 38 Der Verkehrssektor umfaßt hier neben den Eisenbahnen die Post, die Binnen­ und Seeschiffahrt. Wir haben die ab 1850 vorliegenden Angaben zur Bruttowert­ schöpfung des Verkehrs von Hoffmann (424) bis 1840 zurückgerechnet. 39 Diese Reihe sowie die von uns ausgewerteten Reihen der geleisteten Personen­ kilometer deutscher Eisenbahnen, der Einnahmen aus Güter- und Personenverkehr sowie des Kapitalstocks zu Anschaffungspreisen entnahmen wir der demn. erscheinenden Arbeit von R. Fremdling, Das deutsche Eisenbahnwesen 1840—1870, Univ. Münster, MS. Wir danken dem Verf., daß er uns die Reihen vorab überließ. 40 Nach Hoffmann (261) das auf den Zeitwert abgeschriebene Anlagekapital zu Anschaffungspreisen. 41 Vgl. E. Kühn, Die historische Entwicklung des deutschen u. deutsch-österreichi­ schen Eisenbahn-Netzes . . . 1838—1881, Zeitschrift des Königl. preuss. statistischen Bureaus, Erg.heft XII. 1883, 173. Nicht berücksichtigt sind die doppelgleisigen Strecken­ teile und die auf Bahnhöfen verlegten Schienen. 42 Bericht über den Handel und die Industrie Berlins im Jahre 1857[—1861], erstattet von den Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin, Berlin 1858[—1862], sowie M. Krause, A. Borsig Berlin, 1837—1902, Tegel 1902, 40 u. 62. 43 Vgl. ausführlich demn. Spree, Analyse. Dort Text der Time-lags durch Korrelation mit schwerindustriellen Produktions- und Verbrauchsreihen. 44 Vgl. zur Theorie Matthews, Trade C ycle, Kap. III. 45 Vgl. dazu Spree, Analyse; auch verweisen wir auf J . Tinbergen, Statistical Testing of Business-C ycle Theories, I, Genf 1939, 124 ff. 46 Der Rückgang der Investitionsnachfrage von 1845 auf 1846 darf sicher nicht unabhängig vom Zusammenbruch der Eisenbahnspekulation gesehen werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Entwicklung der deutschen Wirtschaft

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47 Infolge Platzmangels haben wir auf eine allgemeine Darstellung der Zusammen­ hange zwischen den behandelten Sektoren verzichtet. Wir werden diese im folgenden nur in für unsere Argumentation besonders wichtigen Fällen andeuten. 48 Vgl. auch Kluitmann, 49 ff. u. 77 ff.

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17. Zum Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution bei Marx und Engels Von HEINRIC H AUGUST WINKLER

Vom Verhältnis zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution kann unter verschiedenen Gesichtspunkten die Rede sein. So haben beispielsweise Crane Brinton und Isaac Deutscher versucht, die Gemeinsamkeiten im Ablauf der Französischen Revolution von 1789 und der russischen Oktoberrevolution von 1917 herauszuarbeiten. Aus einer anderen Perspektive hat Richard Löwen­ thal nach den objektiven Bedingungen gefragt, die den unterschiedlichen Ver­ lauf der „demokratischen Revolution“ des 18. Jahrhunderts und der „totali­ tären Revolutionen“ des 20. Jahrhunderts zu erklären vermögen, wobei unter letzteren Begriff auch die russische Oktoberrevolution subsumiert wird. In die Rubrik „Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution“ läßt sich auch die Frage einordnen, welchen Anteil die Arbeiter an bürgerlichen Revo­ lutionen hatten. Und sicherlich gehört hierher das Problem, ob eine bürgerliche Revolution unmittelbar in eine sozialistische umschlagen oder eine sozialistische Revolution eine bürgerliche ersetzen kann1. Alle diese Fragen sind nicht unser Thema. Vielmehr geht es im folgenden um ein sehr viel begrenzteres Problem: die Rückschlüsse, die die Begründer der bis heute wirksamsten Gesellschaftsthcorie, Karl Marx und Friedrich En­ gels, aus den bürgerlichen Revolutionen zogen, um die von ihnen erwartete proletarische Revolution historisch zu legitimieren. Idealtypisch verkürzt lautet die Frage: Inwieweit haben Marx und Engels der Revolution des Dritten Standes einen Modellcharakter für die Revolution des Vierten Standes beige­ messen und wie begründet waren ihre Analogieschlüsse? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns erstens dem Bild zu, daß die beiden Autoren von den historischen Voraussetzungen und den gesellschaftlichen Aufgaben der bürgerlichen Revolution entworfen haben. Zweitens ist zu erörtern, welche Schlußfolgerungen und Probleme sich hieraus für die Marx-Engels'sche Auf­ fassung von der proletarischen Revolution ergaben. Drittens ist nach den Ur­ sachen und den Folgen der Revolutionstheorie von Marx und Engels und damit zugleich nach der praktischen Bedeutung des hier behandelten Problems zu fragen. I. Im Kommunistischen Manifest hat Marx, nach dem Urteil Joseph Schum­ peters, „eine geradezu begeisterte Darstellung der Leistungen des Kapitalismus“

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gegeben und seine historische Notwendigkeit auch noch anerkannt, indem er „pro futuro das Todesurteil über ihn aussprach“ 2. In der Tat haben Marx sowohl wie Engels dem Bürgertum eine geschichtliche Mission bescheinigt, die sich auf weiten Strecken mit Max Webers späterer Interpretation berührt3. Die Bourgeoisie erscheint als der Träger eines umwälzenden Rationalisierungs­ prozesses, in dessen Verlauf das Land der städtischen Herrschaft unterworfen, die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung überwunden und die politische Zentralisation ermöglicht wird. Soziologisch stellt sich dieser Prozeß als eine Jahrhunderte währende Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Feudaladel dar, wobei vorübergehend die absolute Monarchie zum Verbündeten der aufstrebenden Kräfte wird. Für Engels gab es drei große Entscheidungsschlachten zwischen Bürgertum und Feudalismus: die Reformation des 16. Jahrhunderts, die als die „Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie“ gedeutet wird; den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts, der in der Hinrichtung Karls I. gipfelt; und die Französische Revolution von 17894. Die europäischen Dimensionen des Kampfes zwischen Bürgertum und Adel hat Marx im Dezember 1848 mit nostalgischer Beredsamkeit herausgearbeitet. „Die Revolutionen von 1648 und 1789“ , so heißt es in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ , „waren keine englischen und französischen Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils. Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte politische Ordnung. Die Bourgeoisie siegte in ihnen, aber der Sieg der Bourgeoisie war damals der Sieg einer neuen

Gesellschaftsordnung, der Sieg des bürgerlichen Eigentums über das feudale, der Nationalität über den Provinzialismus, der Konkurrenz über die Zunft, der Teilung über das Majorat, der Herrschaft des Eigentümers des Bodens über die Beherrschung des Eigentümers durch den Boden, der Aufklärung über den Aberglauben, der Familie über den Familiennamen, der Industrie über die heroische Faulheit, des bürgerlichen Rechts über die mittelaltrigen Privilegien. Die Revolution von 1648 war der Sieg des 17. Jahrhunderts über das 16. Jahrhundert, die Revolution von 1789 der Sieg des 18. Jahr­ hunderts über das 17. Jahrhundert. Diese Revolutionen drückten mehr noch die Bedürfnisse der damaligen Welt als der Weltausschnitte aus, in denen sie vorfielen, Englands und Frankreichs. In der preussischen Märzrevolution nichts von alledem . . .“ 5 Die großen bürgerlichen Revolutionen sprengten jedoch nicht nur jeden nationalen Rahmen, sie wuchsen auch noch in anderer Weise über sich hinaus. Sie waren notwendigerweise mehr als bloß Revolutionen des Bürgertums: „die Bourgeoisie kann ihre eigene Herrschaft nicht erkämpfen, ohne vorläufig das gesamte Volk zum Bundesgenossen zu haben, ohne daher mehr oder minder demokratisch aufzutreten“ 6. Was Marx und Engels in diesem Diktum vom Juli 1848 aussprechen, ist gleichzeitig eine historische Relativierung wie eine bedingte Bestätigung jenes klassischen Anspruchs, den am Vorabend der Fran­ zösischen Revolution der Abbé Sieyès erhoben hatte: daß nämlich der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Dritte Stand der allgemeine Stand schlechthin sei. Die Bedingung einer solchen, wenn auch nur ephemeren Transzendenz von bürgerlichen Klassenforderungen ist der Kampf zwischen Bürgertum und Feudaladel — aber nur insofern, als dieser Kampf konsequent ausgetragen wird und der Dritte Stand seinen geschichtlichen Auftrag nicht verfehlt: „nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren“ 7. Die neuere Forschung hat die These nicht bestätigt, daß das Bürgertum über mehr als ein halbes Jahrtausend hinweg — letztlich seit der Entstehung der „Schwurgenossenschaften“ im 11. Jahrhundert, einer Keimzelle der spä­ teren Bürgergemeinde — ein revolutionäres Ferment in der Gesellschaft gewe­ sen sei und sich in einem mehr oder minder kontinuierlichen Kampf mit dem Feudaladel befunden habe8. Das kontinentaleuropäische Bürgertum hat sich vielmehr bis in das ausgehende 18. Jahrhundert in die ständische Ordnung eingefügt und diese vor allem dadurch gefestigt, daß es das soziale Rekrutie­ rungsfeld eines neuen Amtsadels wie des landesherrlichen Beamtentums wurde. Auch läßt sich die Reformation kaum als Revolution der Bourgeoisie interpre­ tieren. In ihrem politischen Teil war sie viel eher eine Fürstenrevolution, wie denn nach dem Urteil Eugen Rosenstock-Huessys in Deutschland die Landes­ herren überhaupt den eigentlich revolutionären Stand bildeten9. Und schließ­ lich war der europäische Feudalismus keineswegs jener Fleisch gewordene Gegen­ satz zur bürgerlichen Rationalität, als welchen Marx ihn sah, sondern geradezu die Bedingung ihrer Möglichkeit. Der Feudalismus schloß in sich Strukturele­ mente wie das der Immunität, dem sich in letzter Instanz der Aufstieg des Bürgertums institutionell verdankt. Insofern kann man mit Otto Brunner durchaus von einer spezifischen und weltgeschichtlich einzigartigen Rationalität der alteuropäischen Sozialstruktur sprechen10. Ob die gesellschaftlichen Verhältnisse am Ende des Ancien Régime über­ haupt noch sinnvoll mit dem Begriff des Feudalismus beschrieben werden kön­ nen, ist umstritten11. Aber es gibt kaum Meinungsverschiedenheiten darüber, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Feudaladel seine ursprünglichen Funktionen längst verloren hatte. Durch die Schaffung der stehenden Heere war, worauf Engels mit Recht verwiesen hat, die raison d'être des Schwert­ adels und damit die Basis seiner Privilegien ausgehöhlt worden12. Im Zeichen eines wachsenden Welthandels, von Hausindustrie und Manufakturen hatte das Bürgertum den Grundadel ökonomisch langst überrundet — sofern dieser nicht, wie in England, sich selber dem kommerziellen und industriellen Er­ werbsleben widmete. Den französischen Aristokraten, für die fast jede wirt­ schaftliche Betätigung außerhalb des Grundbesitzes mit dem Verlust der Adelsprivilegien verbunden war, blieb dieser Weg versperrt. Die politische Bevorrechtung des Adels stand darum gerade in Frankreich in einem eklatanten Mißverhältnis zu seiner tatsächlichen gesellschaftlichen Bedeutung. Der höchstprivilegierte Stand übte keine gesellschaftlich notwendi­ gen Funktionen mehr aus, die nicht vom Bürgertum wirksamer erfüllt werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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konnten. Dies war die entscheidende Vorbedingung der Französischen Revo­ lution. In den Worten von Marx: „Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein anderer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein. Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegengesetzten Klasse der Bourgeoisie.“ 13 Wenn in Frankreich die „Produktionsverhältnisse“ in der Tat zu Fesseln der „Produktivkräfte“ geworden waren, so stand es doch keineswegs an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Formulierung des Kommunisti­ schen Manifestes, die Bourgeoisie habe „in ihrer kaum hundertjährigen Klassen­ herrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“ 14, zielt offenkundig auf den Beginn der Industriellen Revolution in England, der hier freilich überraschend früh angesetzt wird15. Zwischen der Industriellen Revolution in England und der politischen Revolution in Frankreich gab es für Marx und Engels kein Ver­ hältnis unmittelbarer historischer Kausalität. Die „Revolution Englands“ schien Engels schon 1844 „umfassender und eingreifender als irgendeine andere“ , und zwar deswegen, weil sie eine „soziale Revolution“ war. „Die soziale Revolution ist erst die wahre Revolution, in der die politische und philosophi­ sche Revolution ausmünden müssen; und diese Revolution ist in England schon seit siebzig oder achtzig Jahren im Gange und geht eben jetzt mit raschen Schritten ihrer Krisis entgegen.“ Die Industrielle Revolution habe für England, so heißt es ein Jahr später, dieselbe „Bedeutung wie die politische Revolution für Frankreich und die philosophische für Deutschland“ . 1852 erwächst Engels aus der englischen Entwicklung ökonomischer Trost angesichts politischer Ent­ täuschungen. „Mag diese eigentümlich methodische Entwicklung Englands auch momentan, wie 1848 und früher von 1793 an, den momentan siegreichen Revolutionären des Kontinents manchmal im Wege sein, so hat sie doch im Grunde weit mehr revolutionären Inhalt als alle diese kontinentalen, vorüber­ gehenden Kämpfe zusammengenommen. Während die große französische Revo­ lution an der Eroberung Europas scheiterte, revolutionierte England mit der Dampfmaschine die Gesellschaft, eroberte den Weltmarkt, verdrängte mehr und mehr alle historisch überkommenen Klassen von der Herrschaft und bereitete das Terrain vor für den großen Entscheidungskampf zwischen dem industriellen Kapitalisten und dem industriellen Arbeiter.“ 18 Die Industrielle Revolution und die Französische Revolution waren für Engels beides Erscheinungsformen der bürgerlichen Revolution, wobei er im wirtschaftlichen und technischen Umbruch den säkularen Grundvorgang, in den politischen Revolutionen mitunter nur wiederholbare Episoden sah. Marx ging von einem dialektischen Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Revolutionen aus. Für ihn waren die englischen Revolutionen von 1640 und 1688 und die Französische Revolution von 1789 notwendige Voraussetzungen dafür, daß die „freie Konkurrenz in der Nation“ sich entfalten konnte17. Insofern waren also politische Revolutionen Bedingungen für die ungehemmte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Entwicklung der Produktivkräfte. Andererseits konnte das aufstrebende Bür­ gertum den Entscheidungskampf mit dem Feudalismus erst aufnehmen, nach­ dem die ökonomischen Verhältnisse dafür reif waren. Wie immer das Verhält­ nis zwischen ökonomischer und politischer Revolution des Bürgertums im kon­ kreten Fall bestimmt werden mochte, sie waren beide Negationen einer über­ holten Produktionsweise. Der Feudaladel hatte seine spezifischen gesellschaft­ lichen Funktionen und damit seinen Herrschaftsanspruch verloren; dies war für Marx und Engels eine historische Grundtatsache. Wir wenden uns der Frage zu, was dieses Faktum für ihre Auffassung vom Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat bedeutete. II. Das allgemeine Gesetz, das Marx und Engels aus der Erfahrung der bürgerlichen Revolutionen extrapolierten, lautet in der „Deutschen Ideologie“ wie folgt: „Alle Kollisionen der Geschichte haben also, nach unserer Auffas­ sung, ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform . . . Der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform, der, wie wir sahen, schon mehrere Male in der Ge­ schichte vorkam, ohne jedoch die Grundlage derselben zu gefährden, mußte jedesmal in einer Revolution eklatieren . . .“ 18 Auf die Gegenwart angewandt heißt das, daß der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie sich nach ähnlichen Regeln entwickeln muß wie der Konflikt zwischen Bourgeoisie und Feudaladel. Wieder rebellieren die Produktivkräfte gegen die Produktions­ verhältnisse, die ihnen zu eng geworden sind. Die bürgerliche Gesellschaft, heißt es in einer bekannten Passage des Kommunistischen Manifestes, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. „Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.“ 10 Engels drückt sich 1847 noch entschiedener aus: „Die Bourgeoisie wird und muß vor dem Proletariat ebenso zu Boden sinken, wie die Aristokratie und das unbeschränkte Königtum von der Mittelklasse den Todesstoß erhalten hat.“ 20 Die Revolution der französischen Bourgeoisie wurde mithin zum Paradigma der Revolution schlechthin, und die Annahme, daß sich die Konstellation von 1789 auf der nächsten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung mutatis mutandis wie­ derholen werde, ist die vorwissenschaftliche Grundannahme von Marx und Engels: sie liegt ebenso ihrer Auffassung von der Mission des Proletariats zu­ grunde wie sie ihre Kritik des Kapitalismus beeinflußt hat. Wir werden auf die Frage zurückkommen müssen, wo die Ursachen für die Verallgemeinerung der historischen Konstellation von 1789 liegen. Prüfen wir zunächst, mit welchen Argumenten Marx und Engels die Analogie von bürger­ licher und proletarischer Revolution zu belegen suchten! Eine Parallelität haben beide Autoren — im Unterschied zu Lenin und Trotzki — nicht für den Verlauf beider Arten von Revolution postuliert, wohl aber im Hinblick auf ihre Voraussetzungen21. Aus dem Exempel der bürgerlichen Revolutionen und zumal der Französischen Revolution von 1789 ließ sich eine Grundbe­ dingung der Revolution überhaupt ableiten: Die herrschende Klasse mußte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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einen zunehmenden Funktionsverlust erleiden, sie mußte schließlich ebenso überflüssig wie herrschaftsuntüchtig werden. Es gibt drei Ebenen, auf denen Marx und Engels die wachsende Funktionsuntüchtigkeit der Bourgeoisie nach­ zuweisen versuchten. Erstens zeigen die periodischen und sich verschärfenden Wirtschaftskrisen, daß den Kapitalisten die Produktivkräfte über den Kopf gewachsen sind. Zweitens manifestiert sich immer deutlicher die Unfähigkeit der Bourgeoisie, unmittelbare politische Herrschaft auszuüben. Drittens folgt aus der Trennung von Eigentum und tatsächlicher Kontrolle über die Produk­ tion, daß die Kapitalisten die klassische Unternehmerfunktion verlieren. Es wird sich zeigen, daß die ersten beiden Argumente einen eher zeitgeschichtlichen Charakter tragen, während das dritte prinzipieller Natur ist. Das historisch früheste Argument bezieht sich auf die Krisen und ihre sozia­ len Auswirkungen. Die Handelskrisen, heißt es im Kommunistischen Manifest, stellten in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage. Die Bourgeoisie überwinde diese Krisen einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktiv­ kräften, andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung aller Märkte — dadurch also, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereite und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindere22. Die Unvermeidbarkeit von Krisen ist für Marx und Engels das klassische makroökonomische Argument gegen den Kapitalismus geblieben. Die „Handels­ krisen und namentlich der letzte große Krach“ — gemeint ist die Wirtschafts­ krise von 1873 — bewiesen nach Meinung von Engels, „daß das herrschende Großbürgertum seinen geschichtlichen Beruf erfüllt hat, daß es der Leitung der Gesellschaft nicht mehr gewachsen und sogar ein Hindernis der Entwick­ lung der Produktion geworden ist“ 23. An ökonomische Krisen knüpften Marx und Engels ebenso häufig wie an Kriege die Hoffnung, sie möchten schließlich in die soziale Revolution um­ schlagen. Den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1857 begrüßte Engels in einem Brief an Marx mit der Bemerkung: „Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebad, das merk' ich jetzt schon. 1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam ja in a certain sense, diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf.“ 24 Auch spätere Krisen hielten nicht, was sie versprachen. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre zögerte Marx mit dem Abschluß des zweiten Bandes des „Kapital“ , da er den Fort­ gang der Wirtschaftskrise in England abwarten wollte. Es galt das Problem zu lösen, weshalb die Krise diesmal nicht in einem Börsenkrach kulminierte25. Engels hat wenige Monate vor seinem Tod in einem Gespräch mit Vera Sassu­ litsch gemeint, die verbesserten internationalen Kommunikationsmittel und die Kartelle hätten der spekulativen Überproduktion den Boden entzogen26. Auf Krisen ließen sich demnach Revolutionserwartungen nicht mehr verläßlich ab­ stützen. Tatsächlich sind die Krisen noch jahrzehntelang ein konstitutives Moment des kapitalistischen Wirtschaftssystems geblieben: Sie erreichten ihren Höhe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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punkt im Gefolge des „Großen Krachs“ von 1929. Erst die in den 1930er Jahren beginnende „Keynesian Revolution“ hat jenes antizyklische Instrumen­ tarium hervorgebracht, mit dem bisher eine relative Stabilisierung der Kon­ junkturbewegungen erreicht worden ist. Die politischen Konsequenzen der ökonomischen Krisen waren ebenfalls andere, als Marx und Engels erwartet hatten. Sie lösten nirgendwo die soziale Revolution aus, sondern gaben — zumal in Deutschland — „rechten“ Bewegungen Auftrieb. Das gilt für die Antisemitenparteien in der „Großen Depression“ nach 1873 ebenso wie für die Nationalsozialisten nach 1929. Die Krisen erwiesen sich hier, um ein Wort von Marx abzuwandeln, als Lokomotiven der Konterrevolution. Als Zeichen dafür, daß die Bourgeoisie ihre politische Führungsrolle nicht mehr auszufüllen verstand, deuteten Marx und Engels jene Verselbständigung der Exekutivgewalt, die im Regierungssystem Napoleons III. ihren exemplari­ schen Ausdruck fand. Ein solches System schien Marx typisch für eine histori­ sche Situation, in der die Bourgeoisie nicht mehr und das Proletariat noch nicht zur Herrschaft fähig war. Um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, war die Bourgeoisie bereit, ihre politische Macht an einen Usurpa­ tor abzutreten27. Engels kam 1866 zu dem Schluß, „daß die Bourgeoisie nicht das Zeug hat, selbst direkt zu herrschen und daß daher, wo nicht eine Oligarchie wie hier in England es übernehmen kann, Staat und Gesellschaft gegen gute Bezahlung im Interesse der Bourgeoisie zu leiten, eine bonaparti­ stische Halbdiktatur die normale Form ist; die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie führt sie durch selbst gegen die Bourgeoisie, läßt ihr aber keinen Teil der Herrschaft selbst. Andererseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie widerwillig zu adop­ tieren . . .“ 28. Den Spielraum, den die verselbständigte Exekutivmacht gegenüber der wirt­ schaftlich herrschenden Klasse besaß, haben Marx und Engels für sehr erheb­ lich gehalten. Für Engels zeichnet sich der Bonapartismus dadurch aus, daß er Arbeiter und Kapitalisten daran hindert, aufeinander loszuschlagen. „Das heißt, er schützt die Bourgeoisie vor gewaltsamen Angriffen der Arbeiter, begünstigt ein kleines friedliches Plänkelgefecht zwischen beiden Klassen und entzieht im übrigen den einen wie den anderen jede Spur politischer Macht.“ 29 Marx sprach 1859 im Hinblick auf das bonapartistische Frankreich von einem „grundlegenden Antagonismus zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem coup d'etat“ , der erneut aufleben werde, und sobald die innere Auseinander­ setzung wieder einen bestimmten Grad der Intensität erreicht habe, müsse „auf ein neues kriegerisches Zwischenspiel als einzig anwendbares Sicherheits­ ventil zurückgegriffen werden“ 30. Als die eigentlich herrschende Gruppe im Regime Napoleons III. betrachtete Marx seit Ende der 1850er Jahre die Militärs: „Die Armee soll nicht länger die Herrschaft eines Teiles des Volkes über einen anderen Teil des Volkes aufrechterhalten. Die Armee soll ihre eigene Herrschaft, verkörpert durch ihre eigene Dynastie, über das französische Volk im allgemeinen aufrechterhalten.“ 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Die Marx-Engels'sche Interpretation des Bonapartismus hat sich als außer­ ordentlich fruchtbar nicht nur im Hinblick auf das Regierungssystem des Louis Bonaparte, sondern auch auf wesentliche Elemente der Herrschaftsstruk­ tur des Bismarckreiches erwiesen. Engels hat bereits 1865 auf „bonapartistische“ Tendenzen in der Politik Bismarcks — wie das Spiel mit dem allgemeinen Wahlrecht — verwiesen112. Später hat er davon gesprochen, daß es in Deutsch­ land „neben der Grundbedingung der alten absoluten Monarchie: dem Gleich­ gewicht zwischen Grundadel und Bourgeoisie, die Grundbedingung des mo­ dernen Bonapartismus: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proleta­ riat“ gebe33. Und 1883 deutete er das politische Regime des deutschen Kaiser­ reiches als „einen Mischmasch von Halbfeudalismus und Bonapartismus“ 34. Der reine Bonapartismus ohne feudale Beimengungen scheint nur in einem Land wie Frankreich möglich gewesen zu sein, das einerseits seine feudale Vergangenheit revolutionär bereinigt, andererseits, und zwar gerade durch die Revolution, in Gestalt der Parzellenbauern eine große vorindustrielle Gesell­ schaftsklasse konserviert hatte. Die Verselbständigung der Exekutivgewalt ging hier nicht weiter als bis zum Bonapartismus und, im 20. Jahrhundert, zum Gaullismus. In Ländern wie Deutschland und Italien, die ihre feudale Ver­ gangenheit weiter mit sich schleppten, gab es in prinzipiell vergleichbaren Krisensituationen keine revolutionären Traditionen, die als Korrektiv gegen faschistische Konfliktlösungen hätten wirken können. Demgegenüber vermochte England, das seine vorindustrielle Vergangenheit nicht in modo, aber in re abgeschlossen hatte, die soziale Basis seines parlamentarischen Regierungssy­ stems kontinuierlich zu verbreitern, ohne je eine bonapartistische oder faschi­ stische Phase zu durchlaufen35. Der Bonapartismus war in der Tat ein Zeichen bürgerlicher Unfähigkeit zur politischen Herrschaft — aber er konnte sich nur dort durchsetzen, wo die „bürgerliche Gesellschaft“ noch auf dem Wege zur industriellen Gesellschaft war. Daß er das Werk der bürgerlichen Revo­ lution bis zu jenem Punkte vorantreiben würde, an dem der Umschlag erfolgen mußte in die Revolution des Proletariats: Diese Erwartung von Marx ist am Ende auch durch die Pariser Kommune nicht erfüllt worden. Haben die Konjunkturkrisen die gesamtwirtschaftliche und der Bonapartis­ mus die politische Funktionsuntüchtigkeit der Bourgeoisie enthüllt, so zeigt nach Meinung von Marx die Trennung von Eigentum an den Produktions­ mitteln und tatsächlicher Leitung der Produktion, daß sich das Kapital als

Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst aufhebt. Die Aktiengesellschaften bedeuten die „Verwandlung des wirk­ lich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremden Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapita­ listen“ 36. Engels formuliert in der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ noch drastischer: „Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur ferneren Verwaltung der modernen Produktivkräfte auf­ deckten, so zeigt die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrs­ anstalten in Aktiengesellschaften, Trusts und Staatseigentum die Entbehrlich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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keit der Bourgeoisie für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenueeinstreichen, Kupon­ abschneiden und Spielen an der Börse, wo die verschiedenen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen. Hat die kapitalistische Produktions­ weise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächst noch nicht in die industrielle Reservearmee . . .“ 37 Im „Anti-Dühring“ heißt es, die Revolution des Bürgertums habe sich in der ihr angemessenen poli­ tischen und rechtlichen Atmosphäre glänzend entwickelt, „so glänzend, daß die Bourgeoisie schon nicht mehr weit von der Stellung ist, die der Adel 1789 ein­ nahm: sie wird mehr und mehr nicht nur sozial überflüssig, sondern soziales Hindernis; sie scheidet mehr und mehr aus der Produktionstätigkeit aus und wird mehr und mehr, wie seinerzeit der Adel, eine bloß Revenuen einstreichende Klas­ se . . .“ 38. Die Frage ist, inwieweit hier wirklich eine Parallele zur Konstellation von 1789 vorliegt. Einerseits hat die Trennung von Eigentum und Kontrolle die individuellen Nur-Eigentümer in der Tat ihrer besonderen ökonomischen Funk­ tion beraubt, und insofern kann man die bloßen Kapitalrentner in die Nähe der aristokratischen Müßiggänger des späten Ancien Régime rücken. Anderer­ seits aber waren schon lange vor der Revolution von 1789 die wichtigsten öko­ nomischen Funktionen in den Händen des Dritten Standes, während die Leitungsaufgaben, die die kapitalistischen Unternehmer abtraten, nicht vom Proletariat übernommen wurden, sondern vom „Management“ , einer neuen sozialen Gruppe mit weder subjektiv noch objektiv proletarischer Klassen­ lage. Im geschichtlichen Horizont des Bedeutungswandels, den der Begriff „bürgerlich“ seit dem 18. Jahrhundert durchlaufen hat — er umschloß längst schon ökonomisch selbständige und unselbständige Gruppen —, läßt sich cum grano salis von einer Funktionsverschiebung innerhalb der bürgerlichen Sphäre sprechen39. Das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat sich durch die Ent­ stehung der neuen Managergruppe und ihren Einflußgewinn nicht qualitativ ver­ ändert. Die leitenden Angestellten sind nirgendwo zu einem sozialen „pouvoir neutre“ geworden, sondern zu einem integrierenden Bestandteil der wirtschaft­ lichen Führungsschicht. Das entscheidende Problem ist, zumal angesichts der Mediatisierung großer Teile des Aktienkapitals durch die Banken, wie kon­ zentrierte wirtschaftliche Macht, die sich den Gesetzen des Marktes weitgehend entzogen hat, einer alternativen öffentlichen Kontrolle unterworfen werden kann. Helge Pross hat das so ausgedrückt: „Nicht in der Eindämmung der besonderen Managermacht, der Stärkung der Eigentümermacht, sondern in der Kontrolle der heutigen Kontrollgruppen, gleichgültig, welchen Umständen diese ihren Einfluß verdanken, im Sinne der die anderen politischen Verbände re­ gierenden demokratischen Prinzipien besteht das Problem, mit dem das Ge­ meinwesen fertig werden muß.“ 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Marx hat in den Aktiengesellschaften einen „sich selbst aufhebenden Wider­ spruch“ gesehen, „der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt“ 41. Die neue Produktionsweise: das war jene, in welcher nach der Formulierung des Kommunistischen Manifestes „alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert“ war42. Die Aktiengesellschaften bildeten für Marx nur eine Form des Übergangs zur assoziierten Produktionsweise, und zwar eine, in der der Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung negativ aufgehoben war: Die Form der Aktie blieb selbst noch befangen in den kapitalistischen Schran­ ken. Die positiven Formen der Aufhebung des Gegensatzes waren, obgleich auch sie noch die Mängel des bestehenden Systems reproduzierten, die Koopera­ tivfabriken der Arbeiter. Von ihnen heißt es im dritten Band des „Kapital“ , der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit sei innerhalb derselben aufgehoben, „wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eigenen Ar­ beit verwenden. Sie zeigen, wie, auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Pro­ duktionsformen, naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Pro­ duktionsweise entwickelt und herausbildet“ . Die Kooperativfabriken lieferten, so lesen wir an anderer Stelle desselben Bandes, den Beweis, daß der Kapitalist als Funktionär der Produktion ebenso überflüssig geworden sei, „wie er selbst, in seiner höchsten Ausbildung, den Großgrundbesitzer überflüssig findet“ 43. Mit dem Problem der Kooperativunternehmungen hat Marx sich immer wieder auseinandergesetzt. In der „Inauguraladresse der Internationalen Ar­ beiterassoziation“ vom Oktober 1864, dem Gründungsdokument der Ersten Internationale, wird die auf Robert Owen zurückgehende englische Kooperativ­ bewegung geradezu als Modell der Zukunft gefeiert, als „Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals“ . Der Wert dieser großen Experimente könne nicht überschätzt werden. „Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klasse von Händen' anwendet; daß, um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen den Arbeiter selbst, und daß wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenschaft so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit, die ihr Werk mit williger Hand, rüstigem Geist und fröhlichen Herzens verrichtet.“ Um die arbeitenden Massen zu befreien, genügten jedoch nicht gelegentliche Versuche einzelner Arbeiter, die das Wachstum des Monopols in geometrischer Progression doch nicht aufhalten konnten. Es bedürfe hierzu vielmehr einer Entwicklung des Kooperativsystems „auf nationaler Stufen­ leiter“ und seiner „Förderung durch nationale Mittel“ . Da die herrschenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Kräfte hierzu nicht bereit seien, sei es jetzt die große Pflicht der Arbeiterklas­ sen, politische Macht zu erobern44. Zwei Jahre nach dieser Erklärung, im August 1866, wurde in den „Instruk­ tionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats“ der Internationale die Kooperativbewegung als „eine der Triebkräfte“ zur Umwandlung der gegenwärtigen, auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaft anerkannt. „Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, daß das bestehende despo­ tische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten“ Und wiederum

betont Marx, daß es, um die gesellschaftliche Produktion in ein umfassendes und harmonisches System freier Kooperativarbeit zu verwandeln, „allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen, Veränderungen der allgemeinen Bedingungen

der Gesellschaft“ bedürfe, „die nur verwirklicht werden können durch den Übergang der organisierten Gewalt der Gesellschaft, d. h. der Staatsmacht, aus den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer in die Hände der Pro­ duzenten selbst“ 45. Die Pariser Kommune von 1871 hat Marx erneut Anlaß gegeben, sich zum Kooperativsystem zu bekennen. Das Dekret vom 16. April hatte die Ausarbei­ tung von Plänen angeordnet, mit deren Hilfe die von den Kapitalisten still­ gelegten Unternehmungen wieder in Betrieb genommen werden konnten. Zu diesem Zweck sollten die bisher in diesen Fabriken und Manufakturen beschäf­ tigten Arbeiter in Produktivgenossenschaften vereinigt und diese Genossen­ schaften zu einem großen Verband zusammengeschlossen werden. Marx atte­ stierte dieser Absichtserklärung, sie habe das „individuelle Eigentum zu einer Wahrheit“ machen wollen, „indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt“ . Er fügte eine bemerkenswerte Schlußfolgerung hinzu: „Wenn aber die genos­ senschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossen­ schaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigene Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Konvulsionen, welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll — was wäre das anderes, meine Herren, als der Kommunismus, der ,mögliche' Kom­ munismus?“ 48 Der Kommunismus als Folge einer Revolution des Proletariats: Das ist der Beginn der wahren Geschichte der Menschheit, die Aufhebung des Gegen­ satzes von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der alle bisherige Geschichte zu einer Geschichte von Klassenkämpfen gemacht hat. Die kommu­ nistische Revolution hebt, in den Worten der „Deutschen Ideologie“ , „die Herr­ schaft aller Klassen mit den Klassen selbst“ auf, „weil sie durch die Klasse be­ wirkt wird, die in der Gesellschaft für keine Klasse mehr gilt, nicht als Klasse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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anerkannt wird, schon der Ausdruck der Auflösung aller Klassen, Nationalitä­ ten etc., innerhalb der jetzigen Gesellschaft ist“ 47. Wenn nun die Vollendung des Systems der Produktivgenossenschaften mit dem Kommunismus gleichgesetzt wird, muß in diesem System auch alle Klassenspaltung aufgehoben sein. In der Tat hat Marx im dritten Band des „Kapital“ , der nach Engels' Auskunft Mitte der 60er Jahre geschrieben wurde, die Ansicht vertreten, daß bereits in den existierenden Kooperativfabriken der „gegensätzliche C harakter der Aufsichtsarbeit“ wegfällt, „indem der Diri­ gent von den Arbeitern bezahlt wird, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten“ . Der Unterschied zwischen „Arbeitern“ und „Dirigenten“ wird also als nichtantagonistisch interpretiert, aber er bleibt erhalten und er wird auch im Kommunismus erhalten bleiben. „Die Arbeit der Oberaufsicht und Leitung entspringt notwendig überall da, wo der unmittelbare Produktionsprozeß die Gestalt eines gesellschaftlich kombinierten Prozesses hat und nicht als vereinzelte Arbeit der selbständigen Produzenten auftritt.“ Die Arbeit der Oberaufsicht und Leitung ist aber nach Marx doppelter Natur. Einmal entspringt sie jeder Produktionsweise, die auf dem Gegensatz zwischen dem Arbeiter als dem unmittelbaren Produzenten und dem Eigen­ tümer der Produktionsmittel beruht, wobei die Rolle der Oberaufsicht eine umso größere Rolle spielt, je größer dieser Gegensatz ist. Zum anderen aber stellt sich „in allen Arbeiten, worin viele Individuen kooperieren, . . . notwen­ dig der Zusammenhang und die Einheit des Prozesses in einem kommandie­ renden Willen dar, und in Funktionen, die nicht die Teilarbeiten, sondern die Gesamttätigkeit der Werkstatt betreffen, wie bei dem Direktor eines Orchesters. Es ist dies eine produktive Arbeit, die verrichtet werden muß in jeder kombinierten Produktionsweise“ 48. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, im einzelnen der Entwicklung der englischen Kooperativfabriken nachzugehen, die Marx als Beispiel dafür nahm, daß eine nichtantagonistische Beziehung zwischen „Arbeitern“ und „Dirigenten“ selbst in einer kapitalistischen Gesellschaft möglich ist. Es genügt festzuhalten, daß diejenigen englischen Produktivassoziationen, die sich als lebensfähig erwie­ sen, fast alle als Zulieferbetriebe einer zentralen Großeinkaufsgenonssenschaft fungierten, die ihrerseits die lokalen Konsumgenossenschaften versorgte. In ihrer betrieblichen Binnenstruktur unterschieden sich die Kooperativfabriken nicht wesentlich von Privatunternehmungen: ein Umstand, der offenbar eben­ falls eine Bedingung ihres Überlebens war49. Wichtiger ist es in unserem Zusammenhang, sich die theoretischen und praktischen Konsequenzen der Tatsache klarzumachen, daß Marx Leitungs­ und Aufsichtsfunktionen für gesellschaftlich notwendig hielt. Die Trennung von leitenden und ausführenden Funktionen impliziert Arbeitsteilung, und zwar gerade jene Arbeitsteilung, von der Marx in der „Deutschen Ideologie“ sagt, erst sie sei wirklich „Teilung“ : Die „Teilung der materiellen und geistigen Arbeit“ 50. 22 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Nun wird gelegentlich die Ansicht vertreten, daß der reife Marx sich von einer Annahme entfernt habe, zu der er sich in seinen Frühschriften bekannt hat — der Annahme, in der kommunistischen Gesellschaft werde es keine Arbeitsteilung mehr geben, werde es jedem möglich sein, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden . . .“ 51. In der Tat hat Marx später solche präzisen Voraussagen unterlassen. Aber er blieb dabei, daß im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Arbeiter sich zunehmend entspezialisieren und gewissermaßen „neben den Produktionspro­ zeß“ treten könne, „statt sein Hauptagent zu sein“ 52. In der „Kritik des Gothaer Programms“ hat Marx sogar ausdrücklich davon gesprochen, daß in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden“ sein werde53. An­ dererseits sah Marx schon frühzeitig die Klassen als eben „durch die Teilung der Arbeit bedingt“ an — eine Erkenntnis, die Engels noch 1882 unzweideutig bestätigt hat: „Es ist also das Gesetz der Arbeitsteilung, das der Klassen­ teilung zugrundeliegt“ 54. Wenn also Arbeitsteilung, und zwar gerade die elementare Teilung von lei­ tender und ausführender Arbeit, im Kommunismus erhalten bleibt, so ist eine klassenlose Gesellschaft auch nach der proletarischen Revolution nicht möglich. Und es folgt aus der Fortdauer der Arbeitsteilung im Kommunismus weiter, daß die Entfremdung des Menschen offenbar nicht aufgehoben werden kann. Denn, wie Marx 1844 in seinem Pariser Manuskript „Nationalökonomie und Philosophie“ festgestellt hatte: „Die Teilung der Arbeit ist der national­ ökonomische Ausdruck von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit innerhalb der Entfremdung. Oder, da die Arbeit nur ein Ausdruck der menschlichen Tätigkeit innerhalb der Entäußerung, der Lebensäußerung als Lebensentäußerung ist, so ist auch die Teilung der Arbeit nichts anderes als das entfremdete, entäußerte Setzen der menschlichen Tätigkeit als einer realen Gattungstätigkeit des Men­ schen als Gattungswesen“ 55 Marx hat die Notwendigkeit von Leitungsfunktionen nicht nur im betrieb­ lichen, sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Rahmen anerkannt. Der Buch­ führung, zunächst ein Ausdruck kapitalistischer Arbeitsteilung innerhalb der Unternehmung, wächst im Kommunismus eine wichtige Funktion für die Gesellschaft als Ganzes zu. Denn es „bleibt, nach Aufhebung der kapitalisti­ schen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion, die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinn, daß die Regelung der Arbeits­ zeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiedenen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hierüber, wesentlicher denn je wird“ 56. Die gesellschaftliche Buchführung als Aufgabe einer besonderen Gruppe von Funktionsträgern erscheint bei Marx nicht als Relikt der alten Gesellschaft, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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sondern als Errungenschaft der neuen. Die Bedeutung dieser Instanz wird noch klarer, wenn man berücksichtigt, daß Marx in der „nationalen Zentralisa­ tion der Produktionsmittel . . . die natürliche Basis einer Gesellschaft“ sah, „die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt“ 57. Diese zentra­ listische Haltung widersprach offenkundig dem Weg der politischen Dezentrali­ sation, den die Kommunarden unter dem Beifall von Marx hatten einschlagen wollen. Doch dem „Bürgerkrieg in Frankreich“ folgten wenig später von Marx wie von Engels Erklärungen, die wieder in die entgegengesetzte Richtung zielten. Im Kampf gegen den Anarchismus Bakunins bezog insbesondere Engels ein­ deutig Position zugunsten von Autorität und Zentralisation. Überall trete, so schrieb er 1872/73, die kombinierte Tätigkeit, die Komplizierung voneinan­ der abhängender Prozesse, an die Stelle der unabhängigen Tätigkeit der Individuen. Wer aber kombinierte Tätigkeit sage, sage Organisation, und die sei ohne Autorität nicht möglich. Die Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeute „die Industrie selber abschaffen wollen; die Dampfspinnerei vernichten, um zum Spinnrad zurückzukehren“ . Auf Hohn stieß die Illusion der „Antiautoritären“ , man könne den autoritären politischen Staat auf einen Schlag abschaffen: „Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritären Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“ 58 Und an einen Turiner Arbeitersekretär schrieb Engels im Januar 1872: „Es war der Mangel an Zentralisation und an Autorität, der die Pariser Kommune das Leben gekostet hat.“ 50 Marx und Engels waren seit dem Beginn ihres Zusammenwirkens davon ausgegangen, daß die „moderne Staatsgewalt“ , da sie nur ein Ausschuß war, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltete60, im Kommunismus ihr Recht verloren hatte. Wo es keine Klassen mehr gab, bedurfte es auch keiner besonderen politischen Gewalt. In den bekannten Wor­ ten von Friedrich Engels aus dem Jahre 1882: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt — die Besitz­ ergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft —, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen über­ flüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktions­ prozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft', er stirbt ab.“ 61 Der Zeitpunkt freilich, an dem dieser Prozeß beginnen konnte, lag im Dun­ keln. Und es war die Frage, ob er je einsetzen würde. Denn wenn die Arbeits­ teilung zwischen leitenden und ausführenden Funktionen nicht nur im Betrieb, 22*

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sondern auch in der Gesamtgesellschaft erhalten blieb: Was sprach dafür, daß dieser Unterschied ein nichtantagonistischer sein und bleiben müsse? Daß es zwischen den einzelnen Betriebseinheiten und der gesellschaftlichen „Buch­ führung“ keine Konflikte geben würde? Daß die gesellschaftlichen Evolutionen nicht doch umschlagen würden in politische Revolutionen62? III. Wir haben gesehen, daß das Verhältnis von bürgerlicher und proletari­ scher Revolution im positiven wie im negativen Sinn anders zu bestimmen ist, als es sich Marx und Engels darstellte. Positiv: indem die angeblich gemeinsame Voraussetzung beider Revolutionen, der Funktionsverlust der herrschenden Klasse zugunsten der aufstrebenden, wohl im Hinblick auf den Gegensatz zwischen Feudaladel und Bourgeoisie, aber nicht auf den zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse vorliegt. Insofern war die Konstellation von 1789 oder, allgemeiner gesprochen, der bürgerlichen Revolution historisch singular. Nega­ tiv: indem der Anspruch der kommunistischen Revolution auf Unvergleichbar­ keit mit allen früheren Revolutionen offenbar nicht einzulösen ist. Wenn die Arbeitsteilung zwischen leitenden und ausführenden Funktionen nicht aufzuhe­ ben ist, dann auch nicht die Fortdauer von politischer Herrschaft und die prinzipielle Möglichkeit von Revolution. Insofern konnte die kommunistische Revolution historisch nicht singular sein. Wo lag die Ursache für den folgenreichen historischen Analogieschluß von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution? Richard Nürnberger hat zu Recht festgestellt, daß das „Selbstverständnis der Menschen im 19. Jahrhun­ dert von der Art und Weise ihrer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution so entscheidend mitbestimmt wurde, wie für die Menschen des 20. Jahrhunderts die Art ihrer Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Revolution bestimmend ist“ 63. Es braucht in diesem Zusammenhang nur auf die überragende Bedeutung verwiesen zu werden, die die Revolution von 1789 im Denken Hegels eingenommen hat64. Für die Junghegelianer wie für Marx, Nachgeborene der großen Revolution, war das Verhältnis zu diesem Ereignis zugleich ein Verhältnis zu seiner Vermittlung durch Hegel. „Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden“ , hatte Hegel über die Französische Revolution gesagt, „und auf diesen Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklich­ keit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der νους die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dies somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitge­ feiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen“ 65. Aber Hegel hatte auch gelehrt, daß die Weltgeschichte den „Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist“ , © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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darstelle, daß jede Stufe ihr eigentümliches Prinzip habe, in dem das frühere aufgehoben werde, daß der Geist im harten unendlichen Kampf gegen sich selbst fortschreite vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren66. Warum also sollte der Stufengang der Entwicklung nicht weitergehen, über das Prinzip hinaus, in dem für Hegel die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht hatte? In der Französischen Revolution war ja im Keim schon angelegt, was das Prinzip der nächsten werden mußte: das Soziale. Und in Paris, wo der junge Marx zu Beginn der 40er Jahre noch mit einem Mitbeteiligten der Revolution in der Revolution, mit Babeufs Kampfgefährten Buonarotti, persönlich be­ kannt wurde, lag die Logik der Entwicklung gleichsam auf der Straße. Fran­ zösische Frühsozialisten und ihre deutschen Beobachter, von Lorenz v. Stein bis Heinrich Heine, hatten bereits die Klasse entdeckt, deren Forderungen und Aktionen fortan den Gang der Geschichte bestimmen mußten: das Proleta­ riat67. Für Marx wurde die französische Erkenntnis zum Mittel, mit dem der deutschen Wirklichkeit beizukommen war. Hier befand sich „das Fürstentum im Kampf gegen das Königtum, der Bürokrat im Kampf gegen den Adel, der Bourgeois im Kampf gegen sie alle, während der Proletarier schon beginnt, sich im Kampf gegen den Bourgeois zu befinden“ . Daraus folgte ein grund­ legender Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland: „In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund der universellen. In Deutschland ist die universelle Emanzipation conditio sine qua non jeder partiellen.“ Nur die „Klasse mit radikalen Ketten“ , die keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft mehr war, die Klasse der schlechthinnigen Entfremdung, konnte die deutschen Zustände aus den Angeln heben. Denn nur sie stand in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens. Nur das Proletariat also vermochte die Emanzipation vom Mittelalter und zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters zu vollziehen. Es war dazu aber nur fähig im Bunde mit der Theorie, die den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärte. „Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat . . .“68 Die deutsche Rückständigkeit gebar die deutsche Radikalität. Ein Schwert war notwendig, den gordischen Knoten zu durchhauen: Das Proletariat sollte das Schwert sein, geführt vom Philosophen. Die Geschichte selbst wies diesen Weg, war doch die revolutionäre Vergangenheit Deutschlands eine theoretische: die Reformation. „Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.“ 69 Bei Hegel hatte der Eine allgemeine Geist in den Volksgeistern Gestalt angenommen, damit deren Prinzipien als seine Momente in einer notwendigen Stufenfolge sich in der Geschichte zu einer sich erfassenden Totalität erheben und abschließen konnten. Marx ersetzte den Volksgeist durch den Klassengeist, der sich jedoch auf höherer Stufe, durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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den Philosophen vermittelt, mit dem Volksgeist wieder versöhnte. Eine transla­ tio revolutionis sollte zum Akt sozialer, nationaler und individueller Befreiung werden. Sie wurde es: im Bewußtsein des Philosophen. Von den Revolutionen des Jahres 1848 erwarteten Marx und Engels, sie würden zunächst überall den Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung herbeiführen. Frankreich, das bereits in die nächste Phase der Klassenauseinandersetzungen eingetreten war, in die Phase des offenen Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sollte dann Europa das Signal geben für den Umschlag der bürgerlichen in die soziale Revolution. Engels hat später Selbstkritik geübt und zugestanden, daß die Geschichte solchen Erwartungen unrecht gegeben habe. „Sie hat klargemacht“ , schrieb er 1895, „daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion; sie hat dies bewiesen durch die ökonomische Revolution, die seit 1848 den ganzen Kontinent ergriffen und die große Industrie in Frankreich, Österreich, Ungarn und Polen und neuerdings Rußland erst wirklich eingebürgert, aus Deutschland aber geradezu ein Industrieland ersten Ranges gemacht hat — alles auf kapitalistischer, im Jahre 1848 also noch sehr ausdehnungsfähiger Grundlage. Gerade diese industrielle Revolution aber ist es, die überall erst Klarheit geschaffen hat in den Klassenverhältnissen . . .“ 70 Proletarische Revolutionen im 19. Jahrhundert, so folgerte Marx schon 1852 aus den Erfahrungen der Jahre 1848/49, unterschieden sich von den bürger­ lichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts wesentlich. Diese stürmten von Erfolg zu Erfolg und überboten sich in dramatischen Effekten; aber letzten Endes erwiesen sie sich als kurzlebig und wichen einem langen Katzenjammer. Proletarische Revolutionen dagegen „kritisieren beständig sich selbst, unter­ brechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam­ gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Ver­ suche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrek­ ken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta / Hier ist die Rose, hier tanze!“ 71 Einen wesentlichen Unterschied zwischen der aufsteigenden Bourgeoisie und dem modernen Proletariat — die wirtschaftliche Prosperität der einen Klasse und die (relative) Verelendung der anderen — haben Marx und Engels immer wieder betont; aber den naheliegenden Schluß, daß damit die Bedingungen der proletarischen Revolution von vornherein schlechtere waren als die der bürger­ lichen, zogen sie nicht. Empirische Mißerfolge führten sie zu ganz anderen Kon­ sequenzen. So war eine der Lektionen der Revolution von 1848/49 für Marx die, daß das Proletariat die einmal eroberte Macht nur durch die systematische Unter­ drückung seiner Klassengegner würde festigen können. Der Sozialismus, heißt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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es in den „Klassenkämpfen in Frankreich“ , sei die „Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangs­ punkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt“ 72. Die Analogie zum Terreur von 1793 ist offenkundig, obwohl sie nicht ausgesprochen wird: Damals mußte, wie Marx 1847 schrieb, die Schreckensherrschaft in Frankreich dazu dienen, „durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern“ 73. Ein Proletariat, das auf der Höhe der Zeit stand, konnte sich aber nicht den antikisierenden Illusionen der Kleinbürger von 1793 hingeben, die durch Abstraktion von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren politischen Untergang selbst herbeiführten. Daß die Ar­ beiter bessere C hancen hatten, ihre Macht zu behaupten, lag nicht zuletzt daran, daß ihnen eine wissenschaftliche Theorie zur Verfügung stand, die sich, trotz aller aktuellen Enttäuschungen, ihrer Sache — der Revolution — so gewiß war wie nie zuvor. Marx sprach in den 1850er Jahren geradezu von der „Naturnotwendigkeit der Revolution“ , und Engels, für den sich Dialektik häufig auf mechanische Wechselwirkung reduzierte, bezeichnete gar die Revo­ lution als „ein reines Naturphänomen, das mehr nach physikalischen Gesetzen geleitet wird als nach den Regeln, die in ordinären Zeiten die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen“74. Was die Voraussetzungen und die Formen einer sozialen Revolution anging, so haben jedoch Marx und Engels sich wiederholt ebenso differenziert wie elastisch geäußert. Eine „radikale soziale Revolution“ sei, so hat Marx 1874/75 in persönlichen Aufzeichnungen zu Bakunins „Staatlichkeit und Anarchie“ be­ merkt, an „gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztere sind ihre Voraussetzung. Sie sei also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt. Und damit es irgendeine Chance zum Sieg habe, muß es wenigstens fähig sein, soviel unmittelbar mutatis mutandis für die Bauern zu tun, als die französische Bourgeoisie in ihrer Revolution für die damaligen französischen Bauern tat“ 75. Mehrfach hat Marx ausdrücklich festgestellt, daß eine Revolution des Prole­ tariats unter bestimmten Voraussetzungen auch auf friedlichem Wege statt­ finden könne. Er hielt diesen Weg namentlich in den entwickelten Demokra­ tien Amerikas und Englands für gangbar und schloß ihn für andere Länder mit liberal-parlamentarischer Verfassung nicht aus. In den meisten Ländern des Kontinents müsse freilich der Hebel der sozialen Revolution die Gewalt sein76. In einem Interview mit der „C hicago Tribune“ am 18. Dezember 1878 machte Marx deutlich, an welche Länder er dabei besonders dachte: „Man braucht kein Sozialist zu sein, um vorauszusehen, daß es in Rußland, Deutsch­ land, Österreich, und möglicherweise in Italien, wenn die Italiener auf dem bisherigen Wege fortschreiten, zu blutigen Revolutionen kommen wird. Die Ereignisse der Französischen Revolution könnten sich in diesen Ländern noch einmal abspielen. Das ist jedem Kenner der politischen Verhältnisse deutlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Aber diese Revolutionen werden nicht von der Mehrheit gemacht, sondern von der ganzen Nation.“ 77 Marx hielt gewaltsame Revolutionen offenbar nur in Ländern für erforder­ lich, wo erfolgreiche bürgerliche Revolutionen nicht stattgefunden hatten, wo feudale und absolutistische Kräfte sich bis in die Gegenwart in gesellschaft­ lichen oder staatlichen Machtpositionen hatten behaupten können. Den bürger­ lichen Revolutionen wurde damit post festum eine für den späteren politischen Weg des Proletariats schlechterdings entscheidende Bedeutung zugemessen. Die Bourgeoisie, schrieb Engels 1886, werde von dem Augenblick an, wo ihr ein bewußtes und organisiertes Proletariat entgegentrete, „in hoffnungslose Wider­ sprüche verstrickt zwischen ihren liberalen und allgemein demokratischen Be­ strebungen hier und den Unterdrückungsmaßnahmen in ihrem Entscheidungs­ kampf gegen das Proletariat dort. Eine feige Bourgeoisie, wie die deutsche und die russische, opfert ihre allgemeinen Klassenbestrebungen den augen­ blicklichen Vorteilen brutaler Unterdrückung. Aber eine Bourgeoisie mit eigener revolutionärer Geschichte, wie die englische und besonders die französische, kann das nicht ohne weiteres tun. Daher der Kampf innerhalb der Bourgeoisie, der sie, trotz gelegentlicher Ausbrüche von Gewalt und Unterdrückung, im ganzen gesehen, vorwärts treibt . ..“78. Daß die bürgerlichen Freiheiten für die junge Arbeiterbewegung eine Grund­ bedingung ihres Kampfes bildeten, hat Engels nachdrücklich betont. Ohne Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht sei keine Arbeiterbewegung möglich, erklärte er 1865; und wenn die Bourgeoisie sich aus Furcht vor den Arbeitern unter der Schürze der Reaktion verkrieche, selbst dann werde „der Arbeiterpartei nichts übrigbleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht trotz der Bürger fortzuführen. Ohne diese Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei­ bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat“ 79. Und 1882 schrieb er an Kautsky: „Polnische Sozialisten, die nicht die Befreiung des Landes an die Spitze ihres Programms setzen, kommen mir vor wie deutsche Sozialisten, die nicht zunächst Abschaffung des Sozialistengesetzes, Preß-, Vereins-, Versammlungsfreiheit for­ dern wollten. Um kämpfen zu können, muß man erst einen Boden haben, Luft, Licht und Ellenbogenraum. Sonst bleibt alles Geschwätz.“ 80 Derselbe Engels jedoch, der liberale Freiheiten so engagiert verfocht, spielte auf der anderen Seite die Demokratie auf die Ebene einer Formfrage hinunter. Auch das Proletariat, heißt es 1884 in einem Brief an Bernstein, brauche „zur Besitzergreifung der politischen Gewalt demokratische Formerly sie sind ihm aber, wie alle politischen Formen, nur Mittel. Will man aber heute die Demo­ kratie als Zweck, so muß man sich auf Bauern und Kleinbürger stützen, d. h. auf Klassen, die am Untergehen und gegenüber dem Proletariat, sobald sie sich künstlich erhalten wollen, reaktionär sind“ 81. Engels ließ die Frage offen, in welchen „Formen“ das Proletariat nach der „Besitzergreifung der politischen Gewalt“ die Macht ausüben werde, ob nach einer revolutionären Übergangs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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periode die Freiheiten wieder in Kraft gesetzt werden sollten, die ihm für das Proletariat im Kampf um die Macht unabdingbar schienen. Man muß nach allen seinen Äußerungen vermuten, daß er dies für selbstverständlich hielt. Aber daß er Demokratie als ein bloß „formales“ Element begriff, das sich vom „Zweck“ der Politik abtrennen ließ, deutet auf einen undialektischen Zug seines Denkens hin — und darüber hinaus auf seine andauernde Verbun­ denheit mit der Liberalismuskritik des jungen Marx. Marx hatte bereits in seiner Auseinandersetzung mit der Hegeischen Rechts­ philosophie eine Position bezogen, die sich historisch aus Rousseaus Theorie einer direkten Demokratie und aus der jakobinischen Praxis ableitete82. Die Ablehnung des repräsentativen Prinzips fand ihre Entsprechung in der Kritik der Menschenrechte: diese seien „nichts anderes als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen und vom Gemein­ wesen getrennten Menschen“ 83. Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprächen nur die Herrschaft der Konkurrenz auf dem Gebiet des Gewissens aus84. Bei seiner „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden“ 85 ging Marx davon aus, daß erst die Aufhebung der Trennung des Menschen in einen „öffentlichen“ und in einen „Privatmenschen“ , in „citoyen“ und „homme“ , die Emanzipation des Menschen vollenden werde. Von diesem Standpunkt aus mußte er die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution kritisieren. Aber die individuel­ len Rechte haben längst aufgehört, nur besitzbürgerliche Privilegien zu sein. Sie sind ergänzt worden durch soziale Rechte, und es gibt keine freie Gesell­ schaft, wo es diese Rechte nicht gibt. Die von Marx angestrebte Aufhebung des Privaten war hingegen eine so radikale Forderung, daß es sich fragt, ob ihre Verwirklichung jemals denkbar war ohne radikalen Zwang. Das Ziel der totalen Emanzipation des Menschen konnte unter solchen Vorzeichen nur zu leicht umschlagen in sein Gegenteil. Als Marx in seinem Plädoyer für die Sache der Pariser Kommune die Auf­ hebung der Gewaltenteilung, der unabdingbaren Garantie aller individuellen und kollektiven Rechte, theoretisch begründete, trug er ungewollt dazu bei, eine Praxis zu legitimieren, die bis heute fortdauert. Engels' emphatischer Ausruf von 1891 — „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Dikta­ tur des Proletariats“ 86 — wirkte, wiederum ungewollt, als historische Vermitt­ lung: Er gab das Stichwort ab für Parolen, die Lenin 1917 in „Staat und Revolution“ vortrug. Als Marxist sollte fortan nur noch gelten, wer die An­ erkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Prole­ tariats erstreckte. Diese aber wurde jetzt nicht mehr verstanden als Ausdruck des Willens der Masse der Werktätigen, die ihrerseits die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildeten, sondern die „Organisation der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Niederhaltung der Unter­ drücker“ 87. Die Avantgarde aber war die Partei des Proletariats — oder viel­ mehr ihre Führung. Die Entwicklung der Sowjetunion seit 1917 ist oft mit den besonderen Bedingungen der russischen Vergangenheit erklärt worden, mit einer Jahr© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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hunderte währenden obrigkeitsstaatlichen Tradition, die von den großen euro­ päischen Emanzipationsbewegungen, von der Reformation über die Aufklärung bis zu den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, nicht ernsthaft erschüttert worden ist. Das ist sicherlich richtig, und es ist bekannt, daß Marx und Engels nach den Erfahrungen von 1848/49 eine proletarische Revolution in einem Zustand bürgerlich-kapitalistischer Unterentwicklung für unmöglich hielten. Und doch kann man fragen, ob nicht auch im Hinblick auf die endlich adoptierte westliche Theorie in einem spezifischen Sinn gilt, daß sich hier nicht nur die Wirklichkeit zum Gedanken, sondern auch der Gedanke zur Verwirklichung drängte. Nachdem die wirksamsten Korrektive gegen eine Konzentration der Macht in der Theorie entfernt waren, fand die Konzen­ tration der Macht in der Praxis keinen wirksamen Widerstand. Aus dem Axiom, daß der Widerspruch zwischen Proletariern und „Dirigenten“ in der sozialistischen Gesellschaft seinen antagonistischen C harakter verliere, wurde die Legitimationsideologie einer neuen herrschenden Klasse. Die Mängel der Theo­ rie waren eine Bedingung dafür, daß die Diktatur des Proletariats umschlagen konnte in eine Diktatur über das Proletariat88. Durch die Kritik am Analogieschluß von der bürgerlichen auf die proletari­ sche Revolution ist nicht die Möglichkeit einer proletarischen Revolution in Zweifel gezogen worden, sondern die Möglichkeit des Inhalts, den Marx und Engels der Revolution der Arbeiterklasse im voraus attestierten. Die Kritik an der Revolutionstheorie von Marx und Engels ist die Kritik an der histori­ schen Stichhaltigkeit einer Theorie, die sich als Erklärung der Geschichte ver­ steht und die wie keine andere Theorie Geschichte gemacht hat. Diese Geschichte ist selbst keine einseitige; sie besteht nicht nur in der mittelbaren Legitimation neuen gesellschaftlichen Zwanges. Marx und Engels haben durch ihr theoreti­ sches Werk auch gewaltige Energien geweckt für den Kampf gegen menschen­ unwürdige Verhältnisse, sie haben alle gesellschaftlichen und politischen Autori­ täten einem rigorosen Legitimationszwang unterworfen, sie haben für die wis­ senschaftliche Analyse sozialer Konflikte und die Kritik von Ideologien die methodischen Grundlagen geschaffen. Der Hinweis auf Grenzen und Wider­ sprüche ihrer Theorie kann dieses Verdienst nicht aufheben. Aber Theoriekritik ist die andere Seite der Offenheit, die die Geschichtswissenschaft der Theorie schuldig ist.

Anmerkungen 1 C . Brinton, The Anatomy of Revolution, Ν. Y. 1956; dt.: Die Revolution u. ihre G esetze, Frankfurt 1959; I. Deutscher, The French Revolution and the Russian Revolution, World Politics 4. 1951/52, 369—81; R. Löwenthal, Demokratische u. totalitäre Revolution, Der Monat 13. 1960 (Nr. 146), 29—40. Die neuere Literatur zu den hier erörterten Problemen ist umfassend in den einschlägigen Artikeln der vergleichenden Enzyklopädie „Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft“ (SDG, Freiburg 1966—72) aufgeführt. Die Beiträge über Theorie der Revolution (T. Schie-

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der), Industrielle Revolution (H. Böhme), Französische Revolution (E. Schmitt), Die Revolutionen von 1848 (A. Dorpalen), Oktoberrevolution (D. Geyer), Kulturrevolu­ tion (G. Erler u. C . D. Kernig) sind jetzt bequem zugänglich in: Th. Schieder Hrsg., Revolution u. Gesellschaft, Freiburg 1973. Ich selbst weise, da es mir wesentlich um die Diskussion der Ansichten von Marx und Engels geht, auf spätere Arbeiten nur dort hin, wo es mir unbedingt erforderlich scheint. Der vorliegende Text ist die er­ weiterte Fassung einer Antrittsvorlesung, die ich am 22. November 1973 an der Albert­ Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. gehalten habe. 2 J . A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus u. Demokratie (C apitalism, Social­ ism and Democracy, Ν. Y. 1942), Bern 21950 (31972), 22 f. 3 Zum Verhältnis von Marx und Weber insbesondere: K. Löwith, M. Weber u. K. Marx, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1960, 1—67; J . Kocka, K. Marx u. M. Weber, Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 122. 1966, 328—57, Überarb. in: Geschichte u. Ökonomie, H.-U. Wehler Hrsg., Köln 1973, 54—84; A. Giddens, C apitalism and Modern Social Theory, London 1971. 4 MEW 21, 402 (Die Rolle der Gewalt in der Geschichte [1887/88]); 19, 533 ff. (Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ [1892]). 5 MEW 6, 109 f. (Die Bourgeoisie u. die Konterrevolution; Hervorhebungen im Original). 6 MEW 5, 249 (Marx/Engels, Der Bürgerwehrsgesetzentwurf). 7 MEW 1, 388 (Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung [1843/44]). 8 Auf die revolutionären „conjurationes“ des Mittelalters verweist Marx im An­ schluß an die Forschungen Thierrys in einem Brief an Engels vom 27.7.1854 (MEW 28, 381 ff.). Bei Engels findet sich die ausführlichste Darlegung der revolutionären Rolle des Bürgertums seit dem Mittelalter in der 1892 geschriebenen Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen­ schaft“ (MEW 19, 532 ff.). 9 E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen u. der C harakter der Nationen, Stuttgart 31961, 234 ff. Zur „Statik“ der vorrevolutionären Gesellschaft: D. Gerhard, Alte u. neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962, 13—75. Zum Amtsadel und zur Bürokratie siehe besonders: H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy, and Autocracy, C ambridge/Mass. 1958 u. ö.; F. C . Ford, Robe and Sword, C ambridge/Mass. 1953. 10 O. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingun 1956 (21968), passim. Vgl. zum Vorstehenden ausführlicher meinen Beitrag „Bürgertum“ , SDG, I, 934—53, mit weiteren Literaturangaben. 11 Ein instruktiver marxistischer Beitrag zu dieser Debatte mit einem guten Über­ blick über den Forschungsstand ist: A. Soboul, La Révolution française et la ,féodalité', Revue Historique 240. 1968, 33—56. Gegenüber A. C obban, The Myth of the French Revolution, London 1955 (vgl. auch ders., The Social Interpre­ tation of the French Revolution, C ambridge 1964, 25—35), der für die Zeit um 1789 keine „Feudalität“ mehr gegeben sieht, betont Soboul, daß im allgemeinen Bewußtsein und von den Betroffenen selber die bäuerlichen Lasten als Feudallasten betrachtet wurden. 12 MEW 21, 398 ff. (Über den Verfall des Feudalismus u. das Aufkommen der Bourgeoisie [1884]). Einen Überblick über die politischen und sozialen Funktionen des englischen, französischen, polnischen und deutschen Adels gegen Ende des 18. Jahr­ hunderts geben die Beiträge in: R. Vierhaus Hrsg., Der Adel vor der Revolution, Göttingen 1971. Vgl. für Frankreich außer dem Beitrag von E. Weis (ebd., 29—40) noch besonders: M. Reinhard, Elite et noblesse dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, Revue d'histoire moderne et contemporaine 3. 1956, 5—37. Zur Lage des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Adels allgemein auch: A. Goodwin Hrsg., The European Nobility in the 18th C entury, London 1953 (21967). 13 MEW 1, 388 (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung; Hervor­ hebungen im Original). Die Beurteilung des Ablaufs der Französischen Revolution durch Marx kann hier nicht im einzelnen erörtert werden, da unsere Fragestellung auf die Voraussetzungen der Revolution zielt. Vgl, zu ersterem Problem: R. Nürn­ berger, Die Französische Revolution im revolutionären Selbstverständnis des Marxis­ mus, Marxismus-Studien, 2, Tübingen 1957, 61—76; A. C ornu, K. Marx' Stellung zur französischen Revolution u. zu Robespierre (1843—45), in: W. Markov Hrsg., M. Robespierre, 1758—1794, Berlin 1958, 553—71; S. Avineri, The Social and Political Thought of Κ. Marx, Cambridge 1969 (31970), 185—201. 14 MEW 4, 467. 15 Marx ließ im ersten Band des „Kapital“ die Industrielle Revolution mit der Erfindung der Werkzeugmaschinen beginnen (MEW 23, 391 ff.; ebenso im Brief an Engels vom 28.1.1863, MEW 30, 320 ff.). Für Engels vgl. besonders MEW 2, 239 ff. (Die Lage der arbeitenden Klasse in England [1845]). 16 MEW 1, 550 (Die Lage Englands [1844]); 2, 250 (Lage der arbeitenden Klasse [1845]); 8, 209 f. (England [1852]). Der zuletzt zitierten Stelle folgt wenig später die Bemerkung: „Die Unterminierung der alten englischen Institutionen und die ihr zum Grunde liegende fortwährende Revolutionierung der englischen Gesellschaft ver­ mittelst der großen Industrie geht ihren Gang ruhig weiter, unbekümmert darum, ob auf dem Kontinent die Revolution siegt oder die Konterrevolution, und wenn sie langsam geht, so geht sie dafür auch sicher und tut nie einen Schritt zurück.“ 17 MEW 3, 59 (Deutsche Ideologie: Feuerbach). 18 MEW 3, 73 f. (ebd.). 19 MEW 4, 468. Vgl. auch bereits den Artikel „Der Kommunismus und die Augs­ burger ,Allgemeine Zeitung'“ vom 16. Oktober 1842 (MEW 1, 106), wo Marx die These eines Mitarbeiters der Rheinischen Zeitung unterstützt, mit dem Mittelstand sei es heute wie mit dem Adel im Jahre 1789; damals habe der Mittelstand die Privilegien des Adels in Anspruch genommen und erhalten; heute verlange der „Stand, der nichts besitzt, teilzunehmen am Reichtum der Mittelklassen, die jetzt am Ruder sind . . .' 20 MEW 4, 61. 21 Allgemeine Prognosen über den Phasenablauf einer proletarischen Revolution wären Marx als unhistorische Spekulation erschienen. Der späte Engels hat immerhin die Möglichkeit erwogen, die Sozialdemokraten könnten bei einem Krieg Rußlands und Frankreichs gegen Deutschland in die Lage kommen, das Beispiel der französischen Sansculottes von 1793 zu wiederholen: MEW 22, 255 f. (Der Sozialismus in Deutsch­ land [1891]); 38, 176 (An Bebel am 13. 10. 1891); 38, 188 (An Bebel am 24./26. 10. 1891). Zu Lenin und Trotzki: Nürnberger, 71 ff. 23 MEW 19, 104 (Engels, K. Marx [1877]). 22 MEW 4, 467 f. 24 MEW 29, 211 f. (15.11.1857). Vgl. hierzu: P. Stadler, Wirtschaftskrise u. Revolution bei Marx u. Engels, HZ 199. 1964, 113—44. 25 MEW 34, 370—75; 35, 154—58 (Briefe an N. F. Danielson vom 10.4.1879 u. 19.2.1881). Marx' Auffassung von den Ursachen und der Natur der Konjunktur­ krisen steht im Rahmen unseres Themas nicht zur Diskussion. 26 MEW 39, 540 f. Das Gespräch ist in dem Brief von Vera I. Sassulitsch an G. W. Plechanow vom 1. 1. 1895 nicht wörtlich wiedergegeben. Engels' Äußerungen scheinen hier in gewisser Weise die Einschätzung der stabilisierenden Tendenzen im Kapitalismus vorwegzunehmen, die Rudolf Hilferding später in seiner Theorie des „Organisierten Kapitalismus“ vertrat. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Einleitende Bemer­ kungen zu Hilferdings Theorie des „Organisierten Kapitalismus“ , in: Organisierter Kapitalismus, Voraussetzungen u. Anfänge, Η. Α. Winkler Hrsg., Göttingen 1973, 9—18. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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27 MEW 8, 111—207 (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte [1852]); 17, 335 bis 338 (Der Bürgerkrieg in Frankreich [1871]). 28 MEW 31, 208 (An Marx am 13. 4. 1866). 29 MEW 16, 71 (Die preußische Militärfrage u. die Arbeiterpartei [1865]). 30 MEW 13, 448 (Die französische Abrüstung). Vgl. dazu die Interpretation der Herrschaft Napoleons I. in der „Heiligen Familie“ : „Napoleon war der letzte Kampf des revolutionären Terrorismus gegen die gleichfalls durch die Revolution proklamierte bürgerliche Gesellschaft und deren Politik . . . Er war kein schwärmerischer Terrorist. Aber Napoleon betrachtete zugleich noch den Staat als Selbstzweck und das bürger­ liche Leben nur als Schatzmeister und als seinen Subalternen, der keinen Eigenwillen haben dürfe. Er vollzog den Terrorismus, indem er an die Stelle der permanenten Revolution den permanenten Krieg setzte . . . Wenn er den Liberalismus der bürger­ lichen Gesellschaft — den politischen Idealismus ihrer alltäglichen Praxis — despotisch unterdrückte, so schonte er nicht mehr ihre wesentlichsten materiellen Interessen, Handel und Industrie, sooft sie mit seinen politischen Interessen in Konflikt gerie­ ten . . .“ (MEW 2, 131 [1845]; Hervorhebungen im Original). 31 MEW 12, 400 (Die Herrschaft der Prätorianer [1858]. 32 MEW 16, 71 ff. (Preußische Militärfrage). 83 MEW 18, 258 (Zur Wohnungsfrage [1872]). 34 MEW 36, 54 (An Bernstein am 27.8.1883). Zur neueren Diskussion über den „Bonapartismus“ des Bismarckrciches vgl. insbesondere: W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler Hrsg., Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 41973, 407—36; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 31972, 455—64; E. Engelberg, Zur Entstehung u. historischen Stellung des preußisch-deutschen Bonapartismus, in: Festschrift (= Fs.) A. Meusel, Berlin 1956, 236—51; M. Stürmer, Konservativismus u. Revolution in Bismarcks Politik, in: M. Stürmer Hrsg., Das Kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 143—67; H.-J. Puhle, Parlament, Parteien u. Interessenverbände 1890—1914, ebd., 340—77. Über Marxens Bewertung des Bonapartismus auch: M. Rubel, K. Marx devant le bonapartisme, Paris 1960. 35 Zum Vorstehenden vor allem: B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969 [Social Origins of Dictatorship and Democracy, Boston 2 1967]. Zur Anwendung der Marxschen Bonapartismus-Theorie auf die Analyse des Faschismus: A. Thalheimer, Über den Faschismus, in: O. Bauer u. a., Faschismus u. Kapitalismus, Frankfurt 1967, 19—38. Daselbst auch eine Diskussion der Marxschen Bemerkung aus dem „Bürgerkrieg in Frankreich“ , der „Imperialismus“ (womit die Regime der beiden Napoleons gemeint sind) sei die „prostituierteste und zugleich die schließliche Form jener Staatsmacht, die von der entstehenden bürgerlichen Gesell­ schaft ins Leben gerufen war als das Werkzeug ihrer eigenen Befreiung vom Feudalis­ mus und die die vollentwickelte Bourgeoisiegesellschaft verwandelt hatte in ein Werk­ zeug zur Knechtung der Arbeit durch das Kapital“ (MEW 17, 338). 36 MEW 25, 452 (Kapital III). Vgl. auch MEW 26/3, 488 (Theorien über den Mehrwert). Nach Branchen differenzierende Untersuchungen zeigen übrigens, daß Aktiengesellschaften häufig die originäre Form der Kapitalbeschaffung und nicht eine Spätform derselben bildeten. 37 MEW 19, 221 f. In der Zusammenfassung (228) heißt es nochmals ausdrücklich: „Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse, alle ihre gesellschaftlichen Funk­ tionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte.“ 38 MEW 20, 153 (1877/78). Im gleichen Sinn: MEW 19, 287—90 (Notwendige u. überflüssige Gesellschaftsklassen [1881]). 39 Es ist zu beachten, daß keineswegs alle Funktionen des Managements „delegierte“ Unternehmerfunktionen, sondern vielfach neue, erst im Zuge des Industrialisierungs­ prozesses erwachsene Funktionen sind. Daß die Funktionen der frühen Unternehmer ihrerseits neuartige waren, sei nur en passant angemerkt. Vgl. dazu etwa: J . Kocka,

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Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stutt­ gart 1968, bes. 91 ff. Die beste Analyse der Auswirkungen, die die Entstehung des in­ dustriellen Managements auf die Marxsche Klassentheorie hat, scheint mir nach wie vor: R. Dahrendorf, Soziale Klassen u. Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, bes. 41—45, 89—95, 121 ff. Vgl. hierzu auch: M. Mauke, Die Klassen­ theorie von Marx u. Engels, Frankfurt 1970, 85—91, 99—104. Aus der neueren empiri­ schen Forschung vor allem: H. Pross, Manager u. Aktionäre in Deutschland, Frankfurt 1965. Zur Geschichte des Begriffs „Bürgertum“ jetzt vor allem: M. Riedel, Bürger, in: Geschichtliche Grundbegriffe, I, Stuttgart 1973, 672—725. 40 Pross, 189. Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle auf die Frage, inwie­ weit Marxens Prognosen zum Verhältnis von Kapitalisten und Proletariern durch die tatsächliche gesellschaftliche Entwicklung bestätigt oder widerlegt worden sind. Vgl. dazu etwa: Sternberg, Marx u. die Gegenwart, Köln 1955. 41 MEW 25, 454 (Kapital III). 42 MEW 4, 482. 43 MEW 25, 400, 456. 44 MEW 16, 11 f. (Hervorhebungen im Original). Die zitierte Passage macht deutlich, daß Marx und Engels im Unterschied zu Lassalle Produktivassoziationen von Arbeitern nicht mit Hilfe des bestehenden Staates zu schaffen gedachten. 45 MEW 16, 195 f. Den Arbeitern wird sodann empfohlen, sich eher mit Produktiv­ genossenschaften als mit Konsumgenossenschaften zu befassen, da die letzteren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Systems berührten, während die ersteren es in seinen Grundfesten angriffen. Im folgenden Abschnitt über die „Gewerksgenossen­ schaften“ wird ein historisch interessanter Vergleich gebraucht: Die Gewerkschaften seien zu „Organisationszentren“ der Arbeiterklasse geworden, wie es die mittelalter­ lichen Munizipalitäten und Gemeinden für das Bürgertum waren (197; Hervorhebun­ gen im Original). 46 MEW 17, 342 f. (Bürgerkrieg in Frankreich). Ich verzichte darauf, hier auf die umfangreiche Literatur zur Pariser Kommune, zur Marxschen Interpretation der­ selben und zu ihrer Wirkungsgeschichte einzugehen. Eine knappe Übersicht über Marx' Haltung gegenüber der Kommune findet sich bei W. C onze u. D. Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966, 127—30. 47 MEW 3, 70. 48 MEW 25, 396. Vgl. hierzu auch: MEW 26/3, 488 (Theorien über den Mehr­ wert). Zur Entstehungsgeschichte des 3. Bandes des „Kapital“ siehe Engels' Vorwort: MEW 25, 10 f. 49 Hierzu nach wie vor B. Webb, Die britische Genossenschaftsbewegung, Leipzig 1893. Die Darstellung der englischen Genossenschaftlerin Beatrice Webb hat starken Einfluß ausgeübt auf die Kritik Eduard Bernsteins an Marx' in der Tat unrealistischer Beurteilung der Produktivfabriken. Vgl. E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozia­ lismus u. die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1909, 94—118. Einen informa­ tiven Überblick über die Entwicklung der englischen Genossenschaftsbewegung gibt: M. Digby, Das Genossenschaftswesen in Großbritannien, Frankfurt 1971. 50 MEW 3, 31. Siehe dazu die Stelle im 1. Band des „Kapital“ (MEW 23, 382): „Es ist ein Produkt der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit, ihnen (= den Teil­ arbeitern, H.A.W.) die geistigen Potenzen des materiellen Produktionsprozesses als fremdes Eigentum und sie beherrschende Macht gegenüberzustellen. Dieser Scheidungs­ prozeß beginnt in der einfachen Kooperation, wo der Kapitalist den einzelnen Arbei­ tern gegenüber die Einheit und den Willen des gesellschaftlichen Arbeitskörpers ver­ tritt. Er entwickelt sich in der Manufaktur, die den Arbeiter zum Teilarbeiter ver­ stümmelt. Er vollendet sich in der großen Industrie, welche die Wissenschaft als selbständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt und in den Dienst des Kapitals preßt.“ In den „Theorien über den Mehrwert“ sagt Marx: „Es ist ja eben das Eigen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tümliche der kapitalistischen Produktionsweise, die verschiedenen Arbeiten, also auch die Kopf- und Handarbeiten — oder die Arbeiten, in denen die eine oder die andere Seite vorwiegt, — zu trennen und an verschiedene Personen zu verteilen ...“ (MEW 26/1, 387). 51 MEW 3, 32 f. (Deutsche Ideologie), wo es auch heißt, Teilung der Arbeit und Privateigentum seien identische Ausdrücke. Ähnlich: ebd., 424. 52 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1857/58), Berlin 1953, 592 f. Vgl. zum Problem der Arbeitsteilung und ihrer Aufhebung besonders: H. Wollmann, Aufhebung der Arbeitsteilung als Problem des Marxismus-Leninismus, Fs. C . J . Friedrich, Den Haag 1971, 390—416; H. Klages, Technischer Humanismus, Philosophie u. Soziologie der Arbeit bei K. Marx, Stuttgart 1964; Th. Ramm, Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx u. Engels, Marxismus­ Studien, 2, 77—119. Engels schreibt im „Anti-Dühring“ , die „Aufhebung der alten Teilung der Arbeit“ sei eine „Bedingung der Produktion selbst geworden durch die große Industrie“ (MEW 20, 274). Ähnlich Marx im 1. Band des „Kapital“ : MEW 23, 53 MEW 19, 21 (1875). 512. 54 MEW 3, 33 (Deutsche Ideologie); MEW 19, 225 (Entwicklung des Sozialismus). 55 K. Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1953, 289 (Hervorhebungen im Original). 50 MEW 25, 328 f., 859 (Kapital III). Vgl. dazu auch: MEW 24, 135—37 (Kapital II). Zur Bedeutung dieser Stellen: E. Thier, Über den Klassenbegriff bei Marx, in: Marxismus-Studien, 3, Tübingen 1960, 182 f.; E. Kux, K. Marx — Die revolutionäre Konfession, Stuttgart 1967, 103 ff.; M. M. Bober, K. Marx's Interpretation of History, Cambridsre/Mass. 21965 (11927), 283—90. 57 MEW 18, 62 (Über die Nationalisierung des Grund und Boden [1872]). Die Zentralisation der Produktionsmittel „in den Händen des Staats, d. h. des als herr­ schende Klasse organisierten Proletariats“ ist bereits eine Forderung des Kommunisti­ schen Manifestes (MEW 4, 481). Übrigens finden sich, soweit ich sehe, bei Marx keine expliziten Hinweise darauf, daß die Dirigentenfunktionen auswechselbar und etwa im Rotationsverfahren durch die Arbeiter zu besetzen seien. Aber er ging unzweifelhaft davon aus, daß nach der sozialistischen Revolution — entsprechend dem Modell der Pariser Kommune — alle Inhaber von Leitungsfunktionen durch ihre Auftraggeber jederzeit wieder abgewählt werden könnten und daß es in der entwickelten kommu­ nistischen Gesellschaft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit keinen Gegensatz mehr geben werde. 58 MEW 18, 305—8 (Von der Autorität). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den sehr bemerkenswerten Brief an Paul Lafargue vom 30. 12. 1871 (MEW 33, 364—66), wo Engels gegenüber den spanischen Bakunisten betont, „wenn sie nur ein wenig die ökonomischen Fragen und die Bedingungen der modernen Industrie studiert hätten, dann wüßten sie, daß keine gemeinsame Aktion möglich ist, ohne einigen den Willen anderer, das heißt einer Autorität aufzuerlegen“ . 59 MEW 33, 374 (An C . Terzaghi am 14./15. 1. 1872). 60 MEW 4, 464 (Kommunistisches Manifest). 61 MEW 19, 224 (Entwicklung des Sozialismus; Hervorhebung im Original). Zur Rolle des Staates nach der proletarischen Revolution vgl. jetzt: D. Jarschys, Beyond the State, The Future Polity in C lassical and Soviet Marxism, Uddevalla 1972. Aus dogmatischer Perspektive: Κ.-Η. Schöneburg, Diktatur des Proletariats u. Befreiung des Menschen, in: K. Marx, Begründer der Staats- u. Rechtstheorie der Arbeiterklasse, Berlin 1968, 137—67 (Auseinandersetzung mit einschlägigen Thesen u.a. von A. Schaff u. W. Maihofer). 62 „Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassen­ gegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören politische Revolu­ tionen zu sein“ : MEW 4, 182 (Marx, Das Elend der Philosophie [1847]; Hervorhe­ bungen im Original). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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63 Nürnberger, 61. Warum die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts nie­ mals dieselbe Faszination auf das Bewußtsein von Marx und Engels ausübten wie die Französische Revolution, machte Engels 1892 deutlich. Nur in Frankreich habe es wirklich einen radikalen Bruch mit der feudalen Vergangenheit gegeben, während in England vorrevolutionäre Institutionen in ungebrochener Kontinuität fortlebten: MEW 19, 537 (Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus“ ). Vgl. auch: P. Kaegi, Genesis des historischen Materialismus, Wien 1965, 169—89. 64 Dazu besonders: J . Ritter, Hegel u. die französische Revolution, Köln 1957; J . Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders., Theorie u. Praxis, Neuwied 1963, 89—107. Diese Arbeiten sind auch für die hier nicht zu erörternde Kritik Hegels am Verlauf der Revolution, ihrer Entartung zu „fürchterlichster Tyran­ nei“ , heranzuziehen. 65 G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 11 (= Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), Stuttgart 19493 (18371), 557 f. 66 Ebd., 88 ff. (Hervorhebungen im Original). Vgl. Zur Wirkungsgeschichte des Hegeischen Entwicklungsgedankens: H. Bollnow, Engels' Auffassung von Revolution u. Entwicklung in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ (1847), in: Marxismus­ Studien, 1, 1954, 77—144. Zu Motivation und Kontinuität des Marxschen Den­ kens u. a.: R. C . Tucker, Philosophy and Myth in Karl Marx, C ambridge 2 1973; ders., The Marxian Revolutionary Idea, London 1969; R. Heiss, Die Idee der Revo­ lution bei Marx u. im Marxismus, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 38. 1949/50, 1—24; ders., Utopie u. Revolution, München 1973, 84 ff. 67 Hierzu besonders: Nürnberger, 62 ff. 68 MEW 1, 389 ff. (Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung; Hervor­ hebungen im Original). 09 Ebd., 385 (Hervorhebungen im Original). Vgl. für Marx' Identifikation mit der proletarischen Revolution bes.: H. Popitz, Der entfremdete Mensch, Basel 1953, 94 ff. (Frankfurt 21968) (mit dem Nachweis, daß Marx die historische Mission des Proletariats postulierte, bevor er die sozialen Bedingungen dieser Klasse wissenschaft­ lich zu analysieren begann); M. Friedrich, Philosophie u. Ökonomie beim jungen Marx, Berlin 1960, 81 ff., 192 ff. O. Berland, Radical C hains: The Marxian C oncept of Proletarian Mission, Studies on the Left 5. 1966, 27—51. 70 MEW 22, 515 (Einleitung zu Marx' „Klassenkämpfen in Frankreich“ ). Marx sprach 1856 davon, daß die Besorgnis der oberen Klassen Europas durch die Über­ zeugung vergällt werde, „daß gerade ihre Siege über die Revolution nur dazu gedient haben, die materiellen Bedingungen im Jahre 1857 für die ideellen Tendenzen von 1848 zu schaffen“ . MEW 12, 54 f. (Die Geldkrise in Europa). 71 MEW 8, 118 (18. Brumaire). 72 MEW 7, 89 (Hervorhebungen im Original). Die Formulierung „Diktatur des Proletariats“ taucht erstmals in einem Brief von Marx an Joseph Weydemeyer vom 5. 3. 1852 auf (MEW 28, 507 f.). Zum Problem der Verelendung bei Marx allgemein jetzt: G. Herre, Verelendung u. Proletariat bei K. Marx, Düsseldorf 1973; zur Auswirkung des materiellen Elends auf die Revolutionschancen: Berland, 27—51. 73 MEW 4, 339 (Die moralisierende Kritik u. die kritisierende Moral). Zur Kritik der Illusionen der Terroristen von 1793: MEW 2, 129 ff. (Heilige Familie). Marx bemerkt in diesem Zusammenhang, daß die von 1789 datierende Französische Revolu­ tion auch mit der Julirevolution von 1830 noch nicht abgeschlossen sei. Siehe zum Terreur und der Rolle der „Plebejer“ in der Französischen Revolution auch Engels' Bemerkungen zu Kautskys Aufsatzserie „Die Klassengegensätze von 1789“ (Neue Zeit 7. 1889, 1—9, 49—56, 97—108, 145—57), in: MEW 37, 154—58 (An Kautsky am 20. 2. 1889), desgleichen Engels' Brief an V. Adler vom 4. 12. 1889 (ebd., 317 f.). Vgl. dazu ferner: Engels an Marx am 4. 9. 1870 (MEW 33, 53). 74 MEW 13, 392 (Marx, Spree u. Minzio [1859]); 27, 190 (Engels an Marx am

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Revolution bei Marx und Engels

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13. 2. 1851). Vgl. Zum Problem des naturwissenschaftlichen Determinismus bei Engels: D. Groh, Marx, Engels u. Darwin: Naturgesetzliche Entwicklung oder Revolution?, Politische Vierteljahresschrift 8. 1967, 544—59. 75 MEW 18, 633. Das zwischen Marx und Engels einerseits und russischen Sozia­ listen andererseits vieldiskutierte Problem, ob das bäuerliche Gemeineigentum in Ruß­ land direkt in sozialistisches Eigentum transformiert werden könne, muß hier ebenso außer Betracht bleiben wie die Frage nach der Rolle Rußlands bei einer künftigen Revolution überhaupt. 76 MEW 18, 160 (Rede auf dem Haager Kongreß, September 1872). Weitere ähnliche Aussagen von Marx: MEW 34, 482 (An H. M. Hyndman am 8. 12. 1889), 498 f. (Konspekt der Reichstagsdebatte über das Sozialistengesetz [1878]). Vgl. hierzu auch H. Skrzypczak, Marx, Engels, Revolution, Berlin 1968, 62—64, 97—101. Engels ist unter dem Eindruck der sozialdemokratischen Wahlerfolge in Deutschland später in der Bejahung des parlamentarischen Weges noch weiter gegangen als Marx, wobei er aber die Notwendigkeit einer revolutionären Abwehr von Gewaltanwendung sei­ tens der Herrschenden betonte. Dazu: H.-J. Steinberg, Sozialismus u. deutsche So­ zialdemokratie, Hannover 31972. Generell sah Engels in der Revolution einen „mehrjährigen Entwicklungsprozeß der Massen unter beschleunigenden Umständen“ : MEW 36, 55 (An Bernstein am 27. 8. 1883). 77 MEW 34, 514. Vgl. zu diesem Interview: B. Andreas, Marx über die SPD, Bismarck u. das Sozialistengesetz, Archiv für Sozialgeschichte 5. 1965, 363—76. Aller­ dings hat Marx es auch im Fall Englands für wahrscheinlich gehalten, daß die Bourgeoisie sich nicht widerstandslos majorisieren lassen und in Fragen, die sie für lebenswichtig halte, einen ,neuen Krieg der Sklavenhalter' entfesseln werde. MEW 17, 643 (Interview mit der „World“ , Juli 1871). Vgl. dazu auch Engels' Einleitung zur englischen Ausgabe des 1. Bandes des „Kapital“ : MEW 23, 40 [1886]). 78 MEW 36, 540 (An Laura Lafargue am 2. 10. 1886; Hervorhebungen im Origi­ nal). 79 MEW 16, 77 (Preußische Militärfrage). 80 MEW 35, 270 (An Kautsky am 7. 2. 1882). 81 MEW 36, 128 (An Bernstein am 24. 3. 1884; Hervorhebungen im Original). 82 A. Schaefer, Reichtum u. Gewalt, Industrielle u. politische Revolution in den Schriften des jungen Marx, Zeitschrift für Politik 14. 1967, 130—49. 83 MEW 1, 364 (Zur Judenfrage [1843]). Eine etwas harmonisierende Interpreta­ tion dieser Aussage findet sich bei E. Bloch, Naturrecht u. menschliche Würde, Frank­ furt 1961, 200 ff. 84 MEW 1, 480 (Kommunistisches Manifest). 85 Marx, Frühschriften, 168 (Brief an Ruge vom September 1843). 86 MEW 22, 199 (Einleitung zur Neuausgabe von Marx' „Bürgerkrieg in Frank­ reich“ ). 87 W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Berlin 1955, II, 182, 225. 88 Vgl. hierzu K. Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, 21 ff. Siehe zu der hier angedeuteten Problematik jetzt auch den ausgezeichneten Essay von D. Settembrini, Le due teorie della rivoluzione in Engels e Marx, Rivista Storica Italiana 83. 1971, 846—95; 84. 1972, 111—63.

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18. Revolutionsstrategie und Wirtschaftskonjunktur Von DIETER G R O H

Es wäre erstaunlich, wenn der Konjunkturverlauf seit dem „Gründerkrach“ , der, wie zuerst Hans Rosenberg und nach ihm andere gezeigt haben, das Kaiserreich von 1871 strukturell geprägt hat, nicht auch die Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung entscheidend beeinflußt hätte. Im er­ sten Jahrzehnt der „Großen Depression“ ist ausweislich der Reichstagswahlen und des Organisationsausbaus die Wandlung der Sozialdemokratie von einer durch Arbeitergesellen und Heimgewerbetreibende getragenen Bewegung in eine Partei des Industrieproletariats vor sich gegangen. Der gegenwärtige Stand der Forschung erlaubt freilich nicht mehr als die Formulierung einer korrelationsanalytischen Hypothese: Die ökonomischen Folgen der ersten De­ pressionsphase — wie Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne bis zu Beginn der 80er Jahre — haben die Verbreiterung der Rekrutierungsbasis für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung sowie zusammen mit dem staatlichen Eingreifen in Arbeitskämpfe und vor allem gegen sozialdemokratische Organi­ sationen seit 1874 die Verbreitung Marxscher Theoreme und daraus abgelei­ teter Topoi enorm gefördert. Sowohl die Depression und ihre Folgen für große Teile der Arbeiterklasse als auch die damit eng zusammenhängende staatliche Repression von deren sozialdemokratischen Organisationen verschafften den Theoremen vom sich verschärfenden Klassenkampf und von Ökonomischer Ausbeutung, später auch den Theoremen von Unterkonsumtion und vom tendenziellen Fall der Profit­ rate, unmittelbare Evidenz. Rezipiert wurde nicht in erster Linie eine sozio­ Ökonomische Theorie, aus der sich dann unter Berücksichtigung der politischen Gesamtsituation revolutionsstrategische Überlegungen ableiten ließen, sondern rezipiert wurden Bruchstücke von Theorien, oder was dafür gehalten wurde, unter bestimmten, sozialpsychologisch beschreibbaren Bedingungen. Die Rezep­ tion geschah nicht primär mittels theoretischen Diskurses, sie wurde in erster Linie vermittelt durch sozialpsychologische Dispositionen, die ihrerseits wie­ derum im allgemeinen durch die Stellung der Arbeiterklasse im Produktions­ prozeß sowie im besonderen durch den Konjunkturverlauf und seine Auswir­ kungen für diese Klasse bedingt waren. Auf den folgenden Seiten sollen nicht die direkten Auswirkungen der „Gro­ ßen Depression“ auf die Sozialdemokratie untersucht werden, sondern allein die damit in engerem oder weiterem Zusammenhang stehenden revolutions-

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strategischen Erwägungen. Da ein möglicher Krieg im Revolutionskalkül stets einen hohen Stellenwert besaß, müssen die ihn betreffenden Überlegungen mit­ behandelt werden. I. Seit der Reichsgründung spielte die deutsche sozialdemokratische Arbeiter­ bewegung in der Revolutionsstrategie von Marx und Engels eine immer grö­ ßere Rolle. Hatte der deutsch-französische Krieg den „Schwerpunkt der kon­ tinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt“ , so schuf die Gründung des deutschen Nationalstaats 1871, so wenig die durch die preußische Dynastie geschaffene kleindeutsche Einheit „von oben“ den Hoff­ nungen der sozialdemokratischen Führer auf einen durch die nationale Demo­ kratie zu Wege gebrachten großdeutschen Einheitsstaat entsprach, erst die unab­ dingbare nationale Basis für die Entwicklung einer proletarischen Klassen­ partei, und damit von deutscher Seite die Voraussetzung für eine „interna­ tionale Bewegung des Proletariats“ 1. Signalisiert wurde das Näherkommen der Revolution für Engels durch die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen. Damit legte er die Grundlage für ein wesentliches Moment des revolutionären Attentis­ mus2, für den „Elektionismus“ . Darunter verstehe ich die sowohl spontane als auch von den Umständen erzwungene vorrangige Ausrichtung der gesamten politischen Energien auf die Wahlen sowie die Unterordnung der politischen Strategie und Taktik unter die Gesichtspunkte möglichst hoher Stimmenge­ winne. Die Reichstagswahlen von 1874, die die Niederlage der unter „nationa­ len“ Vorzeichen durchgeführten Wahlen von 1871 wieder voll ausglichen, stellten für Engels „das deutsche Proletariat an die Spitze der europäischen Arbeiterbewegung“ 3. Aus der Analyse der Reichstagswahlen von 1877 leitete er die Prognose ab, daß die sozialdemokratische Bewegung in Deutschland „nur ein wenig Zeit braucht, um uns zu einem sicheren Triumph zu führen“ , und daß nach einigen Jahren „solcher Fortschritte“ — beinahe Verdoppelung des absoluten Stimmanteils seit 1874 — „die Reserve und die Landwehr (drei Viertel des Kriegsheeres) . . . so weit mit uns gehen“ werden, „daß das Ganze desorganisiert und jeder Offensivkrieg unmöglich gemacht wenden kann“ 4. Als wichtigstes Ergebnis der Wahlen von 1881 registrierte Engels, daß der „Schwerpunkt der Bewegung . . . aus den sächsischen halbländlichen Di­ strikten in die industriellen großen Städte“ verlagert und damit die „ihrer ökonomischen Lage nach revolutionäre Klasse . . . Kern der Bewegung gewor­ den“ ist5. Ein Krieg hätte, wie die stets präsenten Erfahrungen der Kriege von 1866 und 1870/71 zeigten, die die Arbeiterbewegung in jeder Beziehung reduziert hatten6, diese vielversprechende Entwicklung stark beeinträchtigt. Die Furcht, daß ein Krieg die Revolution verzögere, verhält sich bei Engels direkt propor­ tional zu dem Wachstum der deutschen Sozialdemokratie. Nach den Reichstags­ wahlen vom Oktober 1884, die der sozialdemokratischen Partei trotz scharfer Verfolgungen mehr Stimmen als vor dem Sozialistengesetz und doppelt soviel Mandate — 24 statt bisher 12 — einbrachten, benutzte er zum ersten Mal 23*

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die später oft wiederholte Formel, daß der „Zeitpunkt ihres schließlichen Siegs sich schon jetzt mathematisch berechnen läßt“ . Das „Geheimnis des un­ aufhaltsamen Fortschritts der deutschen Arbeiterbewegung“ sah er in der spezifischen Intensität der industriellen Entwicklung in Deutschland und in ihrem Zusammenfallen mit der Ausarbeitung der Marxschen Theorie7. Dies galt umsomehr, da es sich nur um, wenn auch entscheidende, Ansätze handelte. Denn Marx und Engels machten sich allerdings zu Beginn der 80er Jahre, was den Zeitpunkt einer Revolution und die Macht der Arbeiterbewegung anbe­ traf, von einer kurzen Episode im Frühjahr 1882 abgesehen, keine allzu großen Illusionen. Wiederholt wiesen sie darauf hin, daß die Zeit noch nicht reif dafür sei, das „internationale Proletariat“ zu organisieren, daß die Revolution noch weit entfernt und, falls sie ausbrechen würde, ein langwieriger Prozeß sei8. II. Im Februar hat Engels unter dem Eindruck der Ereignisse in Rußland, von denen er glaubte, daß sie den Anstoß für eine deutsche Revolution geben könnten, seine Anschauung über das Verhältnis von Krieg und Revolution in einem Brief an Bernstein ausführlich entwickelt. Bernstein war damals im „Sozialdemokrat“ für die in der Herzegowina und Krivosce gegen Österreich im Aufstand befindlichen Südslaven eingetreten9 und hatte nach der Meinung von Engels die aus den Balkanereignissen resultierende Gefahr eines Krieges zwischen Österreich und Deutschland einerseits sowie Rußland und Frankreich andererseits unterschätzt: „Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proletariats mitzuwirken und diesem Ziel alles andere unterzuordnen. Und wären die Balkanslawen etc. noch so interessant, sobald ihr Befreiungsdrang mit dem Interesse des Proletariats kollidiert, so können sie mir gestohlen werden . . . Um der paar Herzegowzen willen einen Weltkrieg entflammen, der 1000 mal mehr Menschen kostet, als in der ganzen Herzegowina wohnen — das ist nicht meine Ansicht von der Politik des Proletariats.“ Engels sah damals „in Deutschland eine Situation, die mit steigender Geschwindigkeit der Revolution zutreibt und in kurzem unsere Partei in den Vordergrund drängen muß . . . Was uns fehlt, ist einzig ein rechtzeitiger Anstoß von außen“ . Diese „so prachtvolle revolutionäre Situation wie noch nie“ könne nur ein Krieg verderben, der Rußland aus seiner inneren Misere herausreißt und in Deutsch­ land dazu führt, „daß unsere Leute entweder ins patriotische Geheul mit einstimmen oder einen Wutausbruch gegen sich hervorrufen müssen, gegen den der nach den Attentaten ein Kinderspiel ist . . .“ 10. Bebel neigte damals wie auch später zu einer Überrationalisierung der Motivation politischer Entscheidungen sowie zu einer Überschätzung der damaligen Bedeutung der Sozialdemokratie: Ohne ihr Vorhandensein hätte es bereits einen Krieg gegeben11 und die Angst der „leitenden Kreise“ vor der Revolution werde auch weiterhin einen europäischen Krieg verhindern12. Die ungeheuren Erschütterungen der Wirtschaft durch einen modernen Krieg waren eines von Bebeis Lieblingsthemen13. Einmal würden sie die Furcht vor einem Krieg erhöhen und damit kriegsverhindernd wirken, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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sei ein Krieg aber einmal ausgebrochen, würden sie seinen Übergang in die Revolution garantieren14. Im Jahr 1890 spielte die Angst vor der Sozialdemokratie, d. h. die Fehlein­ schätzung ihres eventuellen Verhaltens im Kriegsfall, bereits eine Rolle in den außenpolitischen Kalkulationen Holsteins15. Die Empfindlichkeit des kapitali­ stischen Wirtschaftssystems gegen die durch Kriege ausgelösten Störungen hatte Moltke schon in den 60er Jahren veranlaßt, die Strategie von den Gegeben­ heiten der Wirtschaftsform abhängig zu machen und konsequenterweise das strategische Axiom vom kurzen Krieg aufzustellen. Da er, ebenso wie später Schlieffen, einen Material- und Wirtschaftskrieg für unmöglich hielt, sollte die Entscheidung im ersten Ansturm gesucht werden16. Gerade die Modernität der Planungen des Generalstabs — was freilich, wie sich im 1. Weltkrieg her­ ausstellte, nicht unbedingt mit Nähe zur Realität gleichzusetzen war — unter­ lief die Hoffnungen der Sozialdemokratie auf den rationalisierenden und damit pazifizierenden Effekt, der durch die Empfindlichkeit der kapitalistischen Industriewirtschaft gegenüber einem Krieg hatte entstehen können. Andererseits glaubte man, durch den kurzen Krieg, auf den die gesamten Planungen des Generalstabs sowie die kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen der Behörden abgestellt waren, die wirtschaftliche Katastrophe vermeiden zu können. Gerade auf sie aber konzentrierten sich die Revolutionserwartungen der Sozialdemo­ kratie mit fortschreitender Zeit, d. h. mit dem Schwinden der revolutionären Naherwartung seit den 90er Jahren. III. Für Bebel, Engels, Marx und andere Sozialdemokraten bedeutete die 1873 einsetzende langfristige ökonomische Depressionsphase den Beginn der letzten, entscheidenden Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems und damit auch der mit ihm eng verbundenen politischen Systeme. Bestärkt wurden sie in dieser Auffassung dadurch, daß Marx die Krise kurz vor ihrem Ausbruch vorausgesagt hatte: „Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Ge­ sellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durch­ läuft, und deren Gipfelpunkt — die allgemeine Krise. Sie ist wieder im An­ marsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die All­ seitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpau­ ken.“ 17 Engels hat dann 1886 die große Abschwungphase als „dauernde und chronische Depression“ und als letztes Stadium des Kapitalismus vor dem Ausbruch der „unvermeidlichen sozialen Revolution“ interpretiert18. Die „Große Depression“ bildete gleichsam die ökonomische Basis für die Verbreitung der Marxschen Theorie, deren Kern ja darin bestand, nachzuwei­ sen, daß die gegenwärtige Geschichtsperiode unter dem Zeichen des Kapitalis­ mus die letzte vor dem Anbruch der sozialen Revolution sei. Die Masse der Parteimitglieder sah mit der Dauer der Krise die in der „Bibel der Arbeiter­ klasse“ , im 1. Band des „Kapital“ , enthaltene Prognose von Marx bestätigt, die bürgerliche Gesellschaft gehe ihrem Ende entgegen. Und Theoretiker wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Bernstein und Kautsky, für die die Marxsche Theorie eine empirisch verifizier­ bare Geschichtsphilosophie war, sahen sich zunehmend in dieser Auffassung bestärkt. Der neue ökonomische Aufschwung seit Mitte der 90er Jahre war damals genau so wenig absehbar wie die Tatsache, daß die im letzten Satz des Nach­ worts zum „Kapital“ enthaltene Prognose, ein Teil des Bürgertums werde durch die Krise zur Einsicht in die „wahre“ Natur des Kapitalismus gelangen und daraus die politischen Konsequenzen ziehen, ein Trugschluß war. Die Wirtschaftskrise wirkte nämlich in genau entgegengesetzter Richtung: Nicht nur Gewalt, so könnte man eine Erkenntnis von Eduard Bernstein aus dem Jahre 191819 erweitern, stärkt die Reaktion, sondern auch ökonomische De­ pression. Die Spekulation auf die Einsicht in das prospektive, von der Marx­ schen Geschichtstheorie definierte Eigeninteresse anderer Schichten als das der Arbeiter, das auf Abschaffung der Klassengesellschaft gerichtet sein sollte, erwies sich als große Fehlspekulation. All das lag damals allerdings noch außerhalb des Blickfelds, da man die Revolution als unmittelbar bevorstehend erwartete. Während Bebel noch An­ fang der 70er Jahre glaubte, daß die Situation für die Revolution „in etwa zwanzig Jahren“ reif sein werde20, waren er und Bernstein seit 1879 unter dem Eindruck der Marxschen Prognose sowie der Depression selber zu der Auffassung gelangt, daß der Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft in naher Zukunft, d. h. in fünf bis zehn Jahren, bevorstehe21. Während aber Bernstein und der weitaus vorsichtigere Engels ihre Prognosen empirisch mit Handels- und Börsenberichten abstützten, verließ sich Bebel meistens auf Stim­ mungen, und zwar auf die Stimmung der Geschäftsleute, mit denen er auf seinen Geschäftsreisen — er betrieb damals eine kleine Fabrik für Horngriffe — zusammenkam, sowie auf seine eigene Stimmung als von der Depression be­ sonders stark betroffener Kleinunternehmer22. Auf die Bedeutung der Depres­ sion für Kleinunternehmer seines Typs hat Hans Rosenberg ja nachdrücklich hingewiesen23. Die Pointe der Differenz zwischen den Vorstellungen von Bebel und Engels über Zeitpunkt und Verlauf der künftigen Revolution und über die Verbindung von Krieg und Revolution liegt in folgendem: In Bebeis Einschätzung der Situation kam der Pessimismus der Schicht zum Ausdruck, der er sozioökono­ misch angehörte, nämlich der unternehmerisch tätigen Handwerksmeister — nur daß er diese dann im Sinn seiner sozialistischen Weltanschauung ins Posi­ tive wendete. Engels' Analysen und Prognosen waren dagegen frei von solchen Motiven. Bebel erlebte die totale Abhängigkeit von einer Wirtschaftsordnung in der Depressionsphase gleichsam doppelt, nämlich als Unternehmer und als Führer einer Arbeiterpartei. Sozialpsychologisch gesehen war dieses doppelte Erleben der eigenen Ohnmacht geeignet, eine Überschätzung des objektiven Moments des Revolutionsbegriffs zu fördern, zumal da er den einzig positiven Effekt der permanenten Wirtschaftskrise für die Arbeiter, die beträchtliche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Steigerung des Reallohnes in den 80er Jahren, nicht unmittelbar persönlich erfuhr. Bebeis Vorstellungen über den Zusammenhang von Krieg und Revolution waren mechanistischer als die von Engels und ähnlich wie seine Revolutions­ vorstellungen Ausdruck seiner Ungeduld. Was den Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution und ihren Ablauf betraf, so rechnete er generell mit kürzeren Zeitspannen. Die Bekanntschaft mit den Schriften von Marx erlaubte es ihm allerdings, seine auf Stimmungen gegründeten Revolutionsprognosen mittels einer kruden Vereinfachung der Marxschen ökonomischen Analyse in ein ratio­ nales Gewand zu hüllen. So sagte er von 1879 bis 1886 mindestens einmal im Jahr, meist jedoch öfter, den baldigen Zusammenbruch der „kapitalistischen Welt“ voraus24. Dieser Glaube an den nahe bevorstehenden „großen Kladde­ radatsch“ , der zu Beginn der 80er Jahre von vielen führenden Sozialdemokra­ ten geteilt wurde25, war damals durch nichts zu erschüttern. In Zeiten akuter Krisenerscheinungen prophezeite Bebel den Zusammenbruch für die allernäch­ ste Zukunft, in ruhigeren Depressionsphasen oder Zwischenaufschwüngen er­ wartete er ihn in fünf bis zehn Jahren. Die Kritik von Engels und Marx, die Bebel zu Recht eine völlig unzureichende Analyse wirtschaftlicher und politischer Faktoren vorwarfen26, störte ihn dabei ebensowenig wie der Spott vieler Parteigenossen, die sich über ihn als „unver­ besserlichen Optimisten“ lustig machten27. Daß hier die tiefste Schicht von Bebeis Weltanschauung im Spiel war, wird nicht nur durch seine Unbeirrbar­ keit belegt, sondern auch durch eine Äußerung Engels gegenüber aus dem Jahre 1885: „Ich lege mich jeden Tag mit dem Gedanken schlafen, daß das letzte Stündlein der bürgerlichen Gesellschaft in Bälde schlägt.“ 28 Das auf­ fallendste Merkmal dieser Vorstellung vom „großen Kladderadatsch“ war die in der Wortwahl sehr vage bleibende und an die Betrachtung einer Natur­ katastrophe erinnernde Beschreibung der prognostizierten Ereignisse. Bebel schrieb z.B. im Frühjahr 1881: „Ich kann entsprechend meinen früheren Briefen nur wiederholt konstatieren, daß sich die Erkenntnis von der Unnalt­ barkeit der Situation und dem Herannahen einer Katastrophe weiter und weiter verbreitet. Wenn die Dinge, wie gar nicht zu zweifeln ist, sich so weiter­ entwickeln, halte ich für möglich, daß in einem gewissen Moment die herr­ schenden Klassen sich in einer Art hypnotischen Zustandes befinden und fast widerstandslos alles über sich ergehen lassen. Es ist dies ein Gedanke, den ich schon lange habe und auch öfters schon aussprach, der mir in der letzten Zeit aber auch von anderer Seite entgegengebracht wurde.“ 29 Die in dieser und ähnlichen Stellen zum Ausdruck kommende mechanistische und attentistische Geschichtsauffassung ist ein wesentliches Moment von Bebeis durchaus eigenständiger Variante des theoretisch durch Kautskys Darwino­ marxismus fundierten revolutionären Attentismus, der Verhaltensmuster und Ideologie zugleich war30. Die für Bebel typische enge Verbindung von Ent­ wicklungsglauben und Revolutionshoffnung, die eine Hoffnung auf den „gro­ ßen Kladderadatsch“ , auf den großen, plötzlich über Nacht auftretenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Zusammenbruch war, wurde durch das doppelte Erleben der „Großen Depres­ sion“ entscheidend geformt. Er und auch andere sozialdemokratische Führer, die als Kleinunternehmer tätig waren, wurden durch den „Gründerkrach“ und die sich anschließende Depressionsphase in ihrer gesamten Existenz betrof­ fen und für immer verunsichert. Diese Verunsicherung, die den bürgerlichen Teil ihrer Existenz betraf, prägte dann ihre Vorstellungen von der kommenden sozialen Revolution, die sie als Führer der sozialdemokratischen Partei an­ strebten. Die unmittelbar erfahrenen Ökonomischen Folgen der „Großen De­ pression“ und die dadurch eintretende Reduzierung der Betroffenen auf eine Objektrolle gegenüber scheinbar übermächtigen und unbeeinflußbaren Mächten gingen als Paradigma für Krise und Zusammenbruch schlechthin in Ideologie und Politik der deutschen Sozialdemokratie für die nächsten Jahrzehnte ein: Die vorherrschende, gleichsam parteioffizielle, da von Bebel als politischem und Kautsky als theoretischem Führer der Sozialdemokratie vertretene Revo­ lutionsvorstellung war mit dem Bild des plötzlichen, unbeeinflußt durch das Handeln von Subjekten hereinbrechenden Zusammenbruchs, der allein das Werk blindwütender Kräfte war, unauflöslich verbunden. Bebel konnte die politische Tagesarbeit mit dem Warten auf den Zusammen­ bruch der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Revolution, die bis Mitte der 90er Jahre Naherwartung war, durchaus vereinen. Dieser Erwartungshaltung verdankte Bebel sogar einen Großteil seiner Energie für die politische Tages­ arbeit31. Was darunter aber litt — das gilt natürlich verstärkt für die unteren Funktionäre und die breite Mitgliederschaft —, war die Ausarbeitung politi­ scher Strategien, die zwischen praktischer Tagesarbeit und Fernziel gleich Revo­ lution vermittelt hätten. Auf konkrete Herausforderungen gab die Sozial­ demokratie dann entweder abstrakte, allgemeine Antworten, die aus dem Bereich der Theorie stammten, also sub specie revolutionis entwickelt worden waren, oder solche, die allzusehr Rücksicht auf die politische Kleinarbeit und das Wohl und Wehe der Organisation nahmen. Bebel bemerkte übrigens nicht, daß sein revolutionärer Attentismus sich grundsätzlich von Engels' Revolutionsauffassung unterschied, in deren Rahmen passives Abwarten allenfalls als örtlich und zeitlich begrenzte Taktik sich rechtfertigen ließ. Der Unterschied war um so leichter zu verdrängen, da er grund­ sätzliche und deshalb letztlich unaufhebbare Differenzen betraf, die zwischen beiden eben dieses C harakters wegen wohl erwähnt, aber nicht ernsthaft dis­ kutiert wurden. Konkretere und weniger grundsätzliche Probleme, wie Dauer und Ablauf einer eventuellen Revolution in Deutschland, waren jedoch Gegen­ stand harter Diskussionen, die meist zu „Meinungsdifferenzen“ führten, wie Bebel sich euphemistisch ausdrückte32. In manchen Punkten nahmen diese Differenzen die spätere Polemik zwischen Karl Kautsky und Rosa Luxemburg vorweg, was zusätzlich dafür spricht, daß der Attentismus Bebeis und Kautskys bereits aus den 70er und 80er Jahren stammt. So wie später Kautsky gegenüber Luxemburg, so vertrat hier Bebel gegen­ über Engels eine mehr punktuelle Revolutionsvorstellung, die sich an dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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primitiven Modell eines plötzlichen und einmaligen Zusammenbruchs orien­ tierte. Er wurde entweder durch einen Krieg oder durch eine Wirtschaftskrise ausgelöst, brach wie ein Naturereignis ohne Zutun der Beteiligten herein und lief auch dementsprechend ab. Das Bebeische Revolutionsmodell ist mit der attentistischen Haltung untrennbar verbunden, da das subjektive Moment des Revolutionsbegriffs, die handelnden Menschen, ganz zurücktreten, und sich somit die Frage, was zur Herbeiführung der Revolution und was in ihrem Verlauf konkret getan werden kann und soll, gar nicht stellt. In Analogie zu seiner Vorstellung, daß Krieg, Wirtschaftskrise und Revolution unmittelbar ineinander übergingen, glaubte Bebel, daß in Deutschland von „einem bürger­ lichen radikalen Zwischenstadium“ und von einer parlamentarischen Über­ gangsphase keine Rede mehr sein und „auf Grund der großkapitalistischen Entwicklung“ Revolution nur noch soziale Revolution bedeuten könne33. Diese Auffassung fand jedoch innerhalb der Partei nicht überall ungeteilte Zustim­ mung34. Engels betonte demgegenüber den Prozeßcharakter der Revolution. Mit deutlicher Anspielung auf Bebel schrieb er 1883 an Bernstein: „Der große Fehler bei den Deutschen ist, sich die Revolution als ein über Nacht abzuma­ chendes Ding vorzustellen. In der Tat ist sie ein mehrjähriger Entwicklungs­ prozeß der Massen unter beschleunigenden Umständen. Jede Revolution, die über Nacht abgemacht, beseitigte nur eine schon von vornherein hoffnungslose Reaktion (1830) oder führte unmittelbar zum Gegenteil des Erstrebten (1848 Frankreich).“ Die geschichtliche Erfahrung der letzten 50 Jahre lehre das Gegenteil von Bebeis Annahmen, denn das erste unmittelbare Resultat jeder Revolution sei die bürgerliche, demokratische Republik35. Implizit kritisierte Engels weiterhin an Bebel, daß er sich zu sehr an ökonomischen Gegebenheiten orientiere und politische Faktoren weitgehend außer acht lasse, womit Engels eine der entscheidenden Schwächen nicht nur des Bebelschen Revolutionsmo­ dells, sondern der Revolutionsvorstellungen der deutschen Sozialdemokratie überhaupt genannt hatte. Das Paradoxe der Situation bestand jedoch darin, daß seine und Marx' Erkenntnisse und Theorien aufgrund des Erfahrungshorizonts der sozialdemo­ kratischen Führer, der maßgeblich durch die „Große Depression“ geprägt wor­ den war, derart selektiv rezipiert wurden, daß sie die attentistischen und ökonomistischen Tendenzen innerhalb der Ideologie der deutschen und darüber­ hinaus auch der internationalen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg nur noch verstärkten. Anmerkungen 1 Siehe bes. Marx an den Ausschuß der SDAP, zw. 22. u. 30. 8. 1870, MEW 17, 270; Engels in seinem zum Nationalitätenproblem u. zur nationalen Frage programma­ tischen Brief an Kautsky, 7. 2. 1882, der die von ihm und Marx seit jeher vertretene Meinung (siehe z. B. Marx' „Aufruf des Generalrats der IAA an die Sektionen, mit

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genossischen Gesellschaften und alle Arbeiter“ , Juli 1867, MEW 16, 525) sehr präzise zusammenfaßte, F. Engels' Briefwechsel mit K. Kautsky, B. Kautsky Hrsg., Wien 1955 = Kautsky—BW), auch MEW 35, 269 f. Zit. 50 u. 269: „Nun ist es für ein großes Volk geschichtlich unmöglich, irgendwelche innere Fragen auch nur ernsthaft zu diskutieren, solange die nationale Unabhängigkeit fehlt . . . Erst als das Jahr 1866 die großpreußische Einheit Kleindeutschlands tatsächlich entschieden hatte, kam sowohl die lassalleanische wie die sog. Eisenacher Partei zur Bedeutung, und erst seit 1870, wo die bonapartistischen Einmischungsgelüste definitiv beseitigt, kam Schwung in die Sache . . . Eine internationale Bewegung des Proletariats ist über­ haupt nur möglich zwischen selbständigen Nationen.“ Kautsky hat sich dann diese Anschauung zu eigen gemacht: an V. Adler, 5. 8. 1897, V. Adler, Briefwechsel mit A. Bebel u. K. Kautsky, F. Adler Hrsg., Wien 1954 (= Adler—BW), 236. 2 Zum revolutionären Attentismus als strukturellem Merkmal der deutschen Sozial­ demokratie siehe das Kap. 0 meiner Arbeit: Negative Integration u. revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Berlin 1973; gekürzt in engl. Übers.: Waiting For and Avoiding Revolution: Social Democracy and the Reich, Laurentian University Review 5/3, Juni 1973, 83—109; in poln. Übers.: Dzieje Najnowsze 1973, H. 2. 3 An Liebknecht, 27. 1. 1874, W. Liebknecht, Briefwechsel mit K. Marx u. F. Engels, G. Eckert Hrsg., Den Haag 1963 ( = Liebknecht-BW), 184. 4 An Bignami, 13. 2. 1877, MEW 19, 89 f. 5 An Bernstein, 13. 9. 1881, MEW 35, 237 f. 6 Vgl. zu den Auswirkungen der beiden Kriege U. Engelhardt, Die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung in Preußen-Deutschland, phil. Diss. Heidelberg 1969, MS, 244 f., 621, 740 f. u. die dort in den Anm. 482—84 angeführte Lit. (erscheint 1974 in der Reihe Industrielle Welt im Klett-Verlag, Stuttgart); W. C onze/D. Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während u. nach der Reichsgründune, Stuttgart 1966, 95, 102 f., 109. 7 An Kautsky, 8. 11. 1884, Kautsky-BW, 154 f. Ganz ähnlich in bezug auf die Sonderstellung Deutschlands in Brief an Bebel, 11./12. 12. 1884, A. Bebel, Briefwechsel mit F. Engels, W. Blumberg Hrsg., Den Haag 1965 (= Bebel-BW), 202 ff. Siehe auch Marx an F. D. Nieuwenhuis, 22. 2. 1881, MEW 35, 161; an J . Longuet, 29. 4. 1881, ebd., 186. Auch der Brief von Engels an Bebel, 30. 3. 1881, Bebel-BW, 109, bildet keine Ausnahme von dieser Einschätzung, wenn man die anderen Äußerungen über Zeitpunkt und Verlauf der Revolution zur Interpretation heranzieht. 8 Siehe z. Β. Engels an Bernstein, 12. 6. u. 27. 8. 1883, MEW 36, 38 u. 55. 9 Vgl. Bernsteins Anmerkung zu diesem Brief, Briefe von F. Engels an E. Bern­ stein, Berlin 1925, 54. 10 22. 2. 1882, ebd., 278—85. Ähnlich auch an Kautsky und J . P. Becker, 7. u. 10. 2. 1882, MEW 35, 272 u. 276. Für die nächsten Jahre siehe Engels an Bebel, 17. 11. 1885, 13-/14. 9. 1886, Bebel-BW, 244 f., 285 f.; an Sorge, 7. 1. 1888, MEW 37, 10 f. Ignaz Auer bestätigte Engels' Auffassung, wenn er schrieb, daß nur ein Krieg die Revolution fördere, an dem Frankreich nicht beteiligt sei. „Denn ein Krieg um deutsches Land würde auch heute noch das deutsche Volk einig treffen und schließlich wieder in den Dienst der Reaktion bringen.“ (An Weber, Abschrift, 4. 5. 1885, IISG Amsterdam, Kleine Korrespondenz.) 11 An Engels. 3. 10. 1884, Bebel-BW, 188. 12 An Kautsky, 31. 12. 1883, A. Bebeis Briefwechsel mit K. Kautsky, K. Kautsky Hrsg., Assen 1971 (= Bebel-Kautsky-BW); an Engels, 19. 9. 1885, Bebel-BW, 237. 13 Ausführlich hat er sie zum erstenmal dargelegt in seinem Rezensionsaufsatz: Der nächste Krieg in Zahlen, Neue Zeit 5. 1887, 275 ff. 14 An Engels, 12. 10. 1886, Bebel-BW, 293 f. 15 Vgl. N. Rich, F. v. Holstein. Politics and Diplomacy in the Era of Bismarck © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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and Wilhelm II., C ambridge 1965, I, 282. Er betrachtete deshalb auch im Frühjahr 1890 Bismarcks Entlassung als nationales Unglück, da er angesichts der bedrohlichen außenpolitischen Entwicklung ein Garant der Einheit im Innern sei. 16 Vgl. zu dem Problem des kurzen Krieges und der Abhängigkeit der Strategie von den Erfordernissen des kapitalistischen Wirtschaftssystems: E. Kehr, Klassen­ kämpfe u. Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland, in: ders., Primat der Innen­ politik, H.-U. Wehler Hrsg., Berlin 21970, 86 ff., bes. 90—93. Lothar Burchardt hat in seiner Arbeit (Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge, Boppard 1969) zwar nach­ gewiesen, daß die deutschen kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen in den letzten Jahren vor dem Krieg von dem Kriegsbild — kurzer Krieg — direkt abhängig sind, die strukturelle Bedingtheit dieses Kriegsbildes jedoch vernachlässigt. Für die hier behandelten Probleme leider nicht zu gebrauchen ist die im Referieren stehenbleibende Arbeit von E. Silberner, The Problem of War in 19th C entury Economic Thought, Princeton 1946. 17 Nachwort zur 2. Aufl. des 1. Bandes des „Kapital“ , Januar 1873, MEW 23, 28. 18 Vorwort zur englischen Übersetzung des 1. Bandes des „Kapital“ , ebd., 40. 19 E. Bernstein, Die deutsche Revolution, Berlin 1921, 34. 20 Bernstein über ein Gespräch mit Bebel vom März 1872, in: ders., Entwicklungs­ gang eines Sozialisten, in: Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdar­ stellungen, F. Meiner Hrsg., Leipzig 1924, 6. 21 Ebd., 16 f.; Bernstein, Aus den Jahren meines Exils, Berlin 1918, 105. 22 Bernstein (Entwicklungsgang, 16 f.) weist ausdrücklich darauf hin, daß Bebel als empirisches Material vor allem die Stimmung der Geschäftsleute benutzte. Bebeis „Stimmungsberichte“ finden sich in den meisten der in der übernächsten Anmerkung aufgeführten Briefen. 23 Vgl. Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967, 42, 51. 24 Vgl. Bebel im Reichstag, 5. 7. 1879, Sten. Berichte RT, 4. Leg. 2. Sess. 1879, Bd. 3, 2077; Bernstein, Aus den Jahren, 105; Kautsky, Erinnerungen u. Erörte­ rungen, B. Kautsky Hrsg., Den Haag 1960, 425 f.; Bebel an Engels, 11.2.1881, Bebel-BW, 102 f.; 28. 3. 1881, 106; 20. 9. 1881, 118; 12. 12. 1881, 121; Bernstein, Ent­ wicklungsgang, 1882, 16 f.; auf der Züricher „Augustkonferenz 1882“ , IISG Amster­ dam, Nl. Motteier XII, Mappe 5; an Engels, 1.10.1882, Bebel-BW, 130, 133; Brief an New Yorker Genossen, 9. 10. 1882, zit. in: H. Gemkow, F. Engels' Hilfe beim Sieg der deutschen Sozialdemokratie über das Sozialistengesetz, Berlin 1957, 79; an Engels, 14. 11. 1882, Bebel-BW, 139—41; 6. 1. 1883, 146; 8. 6. 1884, 184; 24. 11. 1884, 199; 7. 12. 1885, 249; 9. 3. 1886, 262; 23. 4. 1886, 274; an Kautsky, 14. 3. 1886, Bebel-Kautsky-BW, 52. 25 Für Bernstein: Entwicklungsgang, 16 f.; für Liebknecht den Brief seiner Frau an Engels, 11. 12. 1882, Liebknecht-BW, 278 f.; für Singer siehe Engels an Bebel, 11./12. 12. 1884, Bebel-BW, 204 f. — Karl Höchberg, der Frankfurter Bankierssohn und Parteimäzen, veranstaltete von Mai bis Dezember 1880 ein Preisausschreiben zu dem Thema: „Welche Maßregeln hat die sozialdemokratische Partei durchzuführen, wenn sie in nächster Zukunft einen maßgebenden Einfluß auf die Gesetzgebung aus­ üben wollte?“ , an dem sich auch Liebknecht beteiligen wollte. Von seinem Manuskript, das allmählich auf 285 große Blätter anwuchs (IISG Amsterdam, Nl. Liebknecht), gingen dann 80 Blätter in die drei Teile seiner 1889/90 erschienenen Schrift „Trutz­ Eisenstirn“ ein. Wichtige Passagen aus dem nichtveröffentlichten Teil über die Macht­ übernahme durch die Sozialdemokratie abgedruckt bei Kurt Eisner, W. Liebknecht, Berlin 21906, 285 ff. — Nur Kautsky stand dieser Naherwartung nach eigener Aus­ sage skeptisch gegenüber: Erinnerungen, 425 f. 26 Vgl. Engels an Bebel, 22.12.1882, Bebel-BW, 142 f.; Engels an Marx, 30. 11. 1882, MEW 35, 121; Marx an Engels, 4. 12. 1882, ebd., 123. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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27 Vgl. Bebel an Engels, 20.9.1881, Bebel-BW, 118; 23.4.1886, 274; 29.9.1891, 433; Vollmar auf dem Erfurter Parteitag 1891, Protokoll, 185. 28 17. 12. 1885, Bebel-BW, 249. 29 28. 3. 1881, ebd., 106. 30 Dazu meine in Anm. 2 genannte Arbeit; speziell zum Darwinomarxismus mein Aufsatz: Marx, Engels u. Darwin: Naturgesetzliche Entwicklung oder Revolution?, PVS 8. 1967, 544 ff. 31 Diese Beobachtung machte schon Bernstein, Aus den Jahren, 105. 32 Bebel an H. Schlüter, 13.2.1886, IISG Amsterdam, Nl. Bebel 43. Schlüter leitete den sozialdemokratischen Parteiverlag in Zürich, wurde 1888 aus der Schweiz ausgewiesen und emigrierte 1889 nach den USA, wo er der deutschen Arbeiterbewe­ gung in New York vorstand. Der Quellenwert der Briefe Bebeis an Schlüter ist sehr groß, weil er sich ihm gegenüber am ungezwungensten und frei von taktischen Rück­ sichten äußerte. 33 An Engels, 24. 11. 1884, Bebel-BW, 199; in diesem Sinn auch an Schlüter, 13. 2. 1886, Anm. 32. 34 So schrieb Auer, neben Bebel damals wohl der einflußreichste Mann in der Partei, am 4.5.1885 an Weber (IISG Amsterdam, Kleine Korrespondenz): „ . . . im Volke bereitet sich recht langsam, aber doch in ersichtlicher Weise eine Umwandlung der Stimmung zugunsten einer mehr demokratischen Strömung vor. Freilich, wer da hofft, daß wir in nächster Zeit mit beiden Beinen in die soziale Revolution hinein­ springen werden, der täuscht sich nach meiner Meinung über die Situation.“ 35 27. 8. 1883 u. 24. 3. 1884, MEW 36, 55 u. 128.

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19. Die Lage von Minderheiten als Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft Von STEFI JERSC H-WENZEL

In den vergangenen Jahren ist häufig die Forderung erhoben worden, sich in der Geschichtswissenschaft und im Geschichtsunterricht stärker als bisher mit den freiheitlichen Traditionen in der deutschen Geschichte zu beschäftigen1. Es fällt schwer, angesichts der mißlungenen Revolutionsversuche und der nicht zu zahlenden, im Keim zertretenen Freiheitsbestrebungen dieser Themenstel­ lung mehr als ein skeptisches Interesse abzugewinnen. Hier soll denn auch nur versucht werden, einem Aspekt innerhalb des Kampfes um die politische Emanzipation des deutschen Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts nachzugehen, nämlich dem, inwieweit zu bestimmten Zeitpunkten der unteilbare Anspruch auf Emanzipation aller eingehalten wurde. Wenn man davon ausgeht, daß politische und soziale Emanzipation „Befrei­ ung aus einem beschränkten, abhängigen Zustande“ 2 bedeutet und das aktive Eintreten größerer Bevölkerungsgruppen nicht nur für die Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen, sondern auch für die der bisher besonders benach­ teiligten Gruppen in einer Gesellschaft miteinschließen sollte, dann ist die Lage dieser Gruppen mit minderem Status ein überzeugender Indikator für den allgemeinen Stand der Emanzipation. Ihr minderer Status ist nicht „als Ausnahme von der Regel, sondern vielmehr als Bestätigung der Regel“ zu verstehen, denn „wir müssen uns selbst emanzipieren, ehe wir andere emanzi­ pieren können“ 3. Wir — das heißt zum Zeitpunkt der allmählichen Hetausbil­ dung der industriellen Klassengesellschaft in Preußen-Deutschland: das Bürger­ tum. Die mit seiner Emanzipationsgeschichte eng verflochtenen Minderheiten waren u. a. die Juden und die Polen, die sich auch selber als Minderheiten be­ griffen, im Gegensatz etwa zu dem erst entstehenden Industrieproletariat und der verarmten ländlichen Bevölkerung, die noch nicht über einen eindeutigen Begriff von ihrem faktisch ebenfalls minderen Status verfügten. Ein zentrales Merkmal jener ,klassischen' Minderheiten ist die Tatsache, daß sie ein andersartiges soziales und politisches Wertsystem hatten, das potentiell als eine Bedrohung für das die Mehrheit strukturierende Herrschaftssystem interpretiert werden konnte4. Das galt sowohl für das in Auflösung begriffene, religiös legitimierte Feudalsystem als auch für die sich vorerst national organi­ sierende industrielle Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Beiden gemeinsam war, daß die jeweils geltenden Normen zwangsweise vermittelt worden waren

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und daß nur durch ihre vorbehaltlose Anerkennung und immer wieder vollzo­ gene Befolgung die Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft gesichert werden konnte, außerhalb derer nur eine juristisch und materiell unsichere Existenz möglich war. Demgegenüber bildete die ungleiche Verteilung des gesellschaft­ lichen Reichtums in der Regel den geringeren Skandal. Die aus dem binnen­ gesellschaftlichen wirtschaftlichen und politischen Gefälle notwendig entstehen­ den Aggressionen konnten, unter dem erzwungenen Verzicht, sie gegen die bestehenden Verhältnisse zu wenden, sanktionslos und leicht gegen die Out­ groups gerichtet werden. Zudem konnte eine Reflexion der eigenen sozialen Situation und Offenheit gegenüber anderen Verhaltensweisen die für die Exi­ stenz in einer „Zwangsgesellschaft“ unerläßliche Selbstverständlichkeit des eigenen Verhaltens in Frage stellen; daher wurde die Eigengruppe mit positi­ ven, die Fremdgruppe mit negativen Stereotypen beurteilt, die als naturgegeben und unabänderlich galten. Damit wurden die Minderheiten zu allgemein gebil­ ligten „Sündenböcken“ und ein Verhalten ihnen gegenüber zugelassen, das zumindest zeitweise eine sporadische Entlastung von den normativen Zwängen gewährte; daher läßt die formalrechtliche und noch stärker die informelle ge­ sellschaftliche Stellung von Minderheiten Rückschlüsse auf das jeweilige Maß der gesamtgesellschaftlichen Unterdrückung zu. Im Normalfall genügte zur Sta­ bilisierung dieser Unterdrückung eine latente Fremdenfeindlichkeit, war aber das Herrschaftssystem ernstlich bedroht, konnte von den Herrschenden versucht werden, die latente Fremdenfeindlichkeit in manifesten Fremdenhaß zur Erhal­ tung der Herrschaft zu instrumentalisieren. Als Minderheiten, an deren Situation der allgemeine Stand von Unter­ drückung und Freiheit im Hinblick auf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Gesamtgesellschaft hier überprüft werden soll, wurden die zwei Gruppen ausgewählt, die in der deutschen Geschichte vielfach und bevorzugt das Objekt sozialer Vorurteile gewesen sind: die Juden und die Polen. Die Juden, die für die hier kurz skizzierten Vorurteilsmechanismen als die „traditionelle“ Minderheit angesehen werden können, befanden sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem kaum zuvor gekannten Stadium der Desintegration, was ihren eigenen Gruppenzusammenhang anging; die meisten waren bereit, an dem Kampf für die Emanzipation des Bürgertums von der Vorherrschaft der Aristokratie teilzunehmen und sich voll in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Es soll hier untersucht werden, in welchem Maße die nichtjüdische Bevölkerung bereit war — und aufgrund ihrer eigenen Be­ dingungen bereit sein konnte —, die Interessen dieser mit noch weniger Rechten ausgestatteten Gruppe in ihre eigenen Emanzipationsbestrebungen aufzuneh­ men und mitzuvertreten. Die Polen kämpften im Gegensatz zu den preußischen Staatsbürgern jüdischen Glaubens um die Erhaltung ihrer eigenen Nationalität, hatten aber deshalb „die Tatsache nicht verkennen wollen, daß das Großher­ zogtum (Posen) ein Teil Ew. Majestät Monarchie“ 5 und sie selber demzufolge Untertanen des preußischen Königs seien. Es wird also zu erklären sein, inwie­ weit die Polen — und zwar die emigrierten polnischen Adligen und Intellek© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tuellen ebenso wie die in den preußisch beherrschten, ehemals polnischen Ge­ bieten lebenden polnischen Mittel- und Unterschichten — vom deutschen Bür­ gertum in ihrem Kampf um nationale Unabhängigkeit Unterstützung erhielten. Beide Gruppen waren, wie noch zu zeigen sein wird, in starkem Maße Gegenstand öffentlicher Diskussion, sowohl was ihre Lage als auch was die Einstellung zu ihnen anging, und gleichzeitig hatte sich die Vorstellung von ihnen schon soweit von der tatsächlichen Erfahrung gelöst, daß sie in kombi­ nierten Begriffen (z. B. ,Judenschule', ,Polnische Wirtschaft') oder Redewendun­ gen (,nur keine jüdische Hast', Jetzt ist Polen offen') mit diskriminierendem Charakter in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen war6. Die Frage ist, wie und warum die tatsächlichen oder vermeintlichen Eigenschaften dieser beiden Minderheiten in einem solchen Maß zu Fremdheit bzw. Bedrohung si­ gnalisierenden Stereotypen wurden. Die sozialen Vorurteile gegenüber Fremd­ gruppen haben ebenso wie gesellschaftliche Normen eine Geschichte, d. h. sie sind aus historisch nachweisbaren, gleichwohl schon selektiv gewonnenen Erfah­ rungen entstanden; bemerkenswerterweise — und das ist aus ihrer rein instru­ mentalen Funktion der Entlastung am ehesten zu erklären — verharren sie aber oft in ihrer ursprünglichen, ersten Ausformung, lediglich mit spärlichen Modi­ fikationen, wenn nicht gar Zuspitzungen versehen, so daß sie bald mit der Realität kaum noch übereinstimmen. Das Leben der Juden in Deutschland wurde bestimmt durch die Bedingungen der Diaspora. Sie selber hatten jahrhundertelang aus religiösen Gründen jeden Aufenthaltsort als einen vorübergehenden betrachtet und identifizierten sich daher mit den christlichen Obrigkeiten, denen sie unterstanden, und den christlichen Untertanen nur bis zu dem Grade, der das Überleben sicherte. Die Christen ihrerseits sahen in den Juden eine Gemeinschaft, die aufgrund ihrer ganz andersartigen Religion und ihres festen Gruppenzusammenhangs als fremd erfahren wurde und deren Bekehrung zum C hristentum als permanente Aufgabe verstanden wurde. Sie lebten nebeneinander und beschränkten den Kontakt fast ausschließlich auf einen schmalen Bereich des ökonomischen Sek­ tors: den Handel. Von daher bestimmte sich auch im wesentlichen die recht­ liche Stellung, die den Juden in den verschiedenen Territorien zuteil wurde. Es gab Judenverfolgungen und -ermordungen, Vertreibungen und Diskriminierun­ gen, aber aus wirtschaftlichen Gründen auch immer wieder Neuzulassungen, die lange Perioden ruhigen Nebeneinanderlebens einleiten konnten. Nach dem Verfall des kaiserlichen Instituts der Kammerknechtschaft fehlte seit dem spä­ ten Mittelalter eine starke Zentralgewalt, die — wie die französische, englische oder spanische — eine allgemeine Ausweisung oder — wie die preußische — eine einheitliche Judenpolitik hätte durchführen können. Bis zum ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert hatte sich im Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit nichts geändert: Die Juden blieben Fremde, die an eigenen Traditionen und anderen Lebensgewohnheiten, an ihrem Idiom, dem Jiddi­ schen, festhielten und einer von den Vorstellungen der Mehrheit abweichenden Hoffnung auf Glück anhingen7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik begann um die Wende zum 18. Jahrhundert ein Prozeß, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine kurze Emanzipationsperiode für die Juden überging. Es wurde zwar weiterhin mit religiösen Argumenten gegen die Juden agitiert8, aber in den Vordergrund der judenfeindlichen Äußerungen traten zunehmend die Beschwerden über die wirtschaftliche Bedrohung, die der Handel der Juden für die C hristen dar­ stelle. Gerade in der wachsenden Wirtschaftstätigkeit lag jedoch der Haupt­ grund für ihren veränderten Rechtsstatus und für die Änderung der Einstel­ lung des absoluten Herrschers und seiner Beamten ihnen gegenüber. Die Juden erhielten einen den neuen Ökonomischen Aufgaben angemessenen Status: Sie wurden von einem fürstlichen Regal zu Steuerzahlern des Staates. Sie hatten mehr, oft erheblich mehr zu zahlen, aber sie wurden auch vor Rechtlosigkeit und Gewalttätigkeit geschützt, solange sie die für sie eingeplante Rolle inner­ halb des staatlich gelenkten Wirtschaftssystems mit Erfolg übernahmen. Die Grundlage für diese veränderte Behandlung bildete die merkantilistische Wirt­ schaftspolitik, deren Hauptziel, eine aktive Handelsbilanz, nur zu erreichen war durch die Produktion von für den Export geeigneten Gütern in ausreichen­ der Menge und Qualität und durch einen alle herkömmlichen Grenzen über­ schreitenden Protektionismus zur Förderung des Außenhandels, in dem die Juden von erheblicher Bedeutung waren. Ihre bis zur Emanzipation im wesentlichen unveränderte Rechtsstellung in Preußen läßt sich, leicht vergröbert, in drei Kategorien unterteilen: Die wenigen Finanzmakler und privilegierten Hoffaktoren erhielten über den Schutzbrief hinaus fast unbegrenzte Konzessionen, wenn die von ihnen zu erfüllende Aufgabe es erforderte; die größere, aber auch immer beschränkt gehaltene Zahl von Schutzjuden erhielt durch einen Schutz- oder Geleitbrief das Recht zur Niederlassung und zum Handel 9 ; die dritte Kategorie umfaßte die größte und zugleich ärmste Gruppe der Juden, die „unvergleiteten“ besonders aus Osteuropa, die sich ohne den obrigkeitlichen Schutz in Mitteleuropa auf der — meist vergeblichen — Suche nach Umgehungsmöglichkeiten für die strengen Niederlassungsbeschränkungen befanden10. Dabei waren sie ständig von Aus­ weisung bedroht und zudem kaum gelitten von den „Vergleiteten“ , die um ihre eigene, ohnehin angefochtene Aufenthaltserlaubnis fürchteten. Das Erschei­ nungsbild dieser flüchtenden Juden hat wesentlich zu dem Stereotyp ,des' Juden beigetragen, das man in der zeitgenössischen Literatur bis hin zur na­ tionalsozialistischen Propaganda so häufig findet: ohne festen Wohnsitz, ohne ,ehrliche Nahrung', kleinlich schachernd und übelriechend. Da es die erklärte Absicht der Judenpolitik aller deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts war, aus einer möglichst kleinen Anzahl von Juden durch hohe direkte und indirekte Abgaben und durch zahlreiche Sondergebühren einen möglichst großen finanziellen Nutzen herauszuholen11, fand die absolutistische Toleranz jenseits ihres eigenen materiellen Vorteils ein rasches Ende. Für die regulär niedergelassenen Juden blieb als Erwerbsquelle nur — sofern das für die einheimischen Handelsgilden keine unmittelbare Existenzbedrohung dar© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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stellte — der Waren- und Produktenhandel, der Geld- und Wechselhandel, die Pfandleihe, in ländlichen Gegenden der Vieh- und Getreidehandel und vor allem der Hausier- und Trödelhandel, den sie nahezu als einzige betrieben: Sie brachten auch außerhalb der Markt- und Messezeiten Waren in entlegene Gebiete, sie warteten nicht, wie die christlichen Händler, auf den Kunden, sondern boten ihre Ware an, brachten sie ins Haus, machten verblüffend gün­ stige Angebote — der Verdacht der Hehlerei war ein ständiger Vorwurf gegen Juden —, sie erzählten Neuigkeiten aus den umliegenden Dörfern, aus denen sie gerade kamen, kurzum: Sie waren die Fremden par excellence12 und zogen als solche Neugierde und Mißtrauen, verbunden mit magischen Vorstellungen, auf sich13. Für alle Juden bildete die ihre Existenz sichernde Institution vor allem die Zentralgewalt, und auf dieses „Bündnis mit der Zentralgewalt“ blieben die Juden „auch im 19. Jahrhundert angewiesen“ 14. Aufgrund der Bedingungen dieses Bündnisses fiel ihnen die Aufgabe der Verbreitung kapitalistischer Wirt­ schaftsformen zu, und während sie, um ihr Dasein zu erhalten, dieser Aufgabe gerecht zu werden versuchten15, lebten sie weiterhin neben einer zwangsweise in Korporationen zusammengefaßten Bevölkerung, die selber kaum ein Be­ wußtsein von ihrer eigenen Unfreiheit besaß. Um sich aus dieser gesellschaftlichen und rechtlichen Deklassierung ebenso zu befreien wie aus der kulturellen Isolierung innerhalb der eigenen Gruppe, entstand bei den wirtschaftlich Erfolgreichsten, besonders und zuerst unter den Berliner Juden, das Bedürfnis nach einer Annäherung an die Normen und Vorstellungen der deutschen Gesellschaft, das zunächst zu ersten gesell­ schaftlichen Kontakten mit einer kleinen Gruppe von christlichen Aristokraten, höheren Beamten und Vertretern der Aufklärung aus Wissenschaft und Kunst führte; dadurch wurde ein Umstrukturierung des gesamten deutschen Juden­ tums eingeleitet. Unbeteiligt blieben in dieser Phase die jüdischen und christli­ chen Mittel- und Unterschichten, die weiterhin untereinander nur den unent­ behrlichen geschäftlichen Kontakt hatten. Höhere Beamte, mithin die Vertreter der entscheidenden Zentralinstanzen, traten als erste für die bürgerliche Gleichstellung der Juden ein, da sie am genauesten über die Realitäten ihrer Existenz informiert waren16. Sie waren überzeugt von dem aufgeklärten Staat, identifizierten sich mit seiner fortschritt­ lichen Entwicklung und führten die ,sittliche Verdorbenheit' der Juden auf die bisherige Judenpolitik zurück. Sie wollten deren ,bürgerliche Verbesserung' im Laufe eines langwierigen Erziehungsprozesses erreichen, d. h. durch eine Anpassung der Juden an Sprache, Sitten und Wertvorstellungen der christlichen Umgebung. Die bürgerlich-rechtliche Integration konnte demzufolge nur durch völlige Assimilation, indem die Juden aufhörten, Juden zu sein, erreicht wer­ den17. Dieser Grundsatz, der dann auch bis 1871 tatsächlich in Form der stückweisen Erteilung von Rechten verwirklicht wurde, bedeutete jedoch die unabsehbar lang andauernde Beibehaltung einer nur modifizierten Ausnahme­ stellung der Juden. ZA Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Die einzelnen juristischen Akte des Zugeständnisses und der Rücknahme von Rechten sollen hier nur kurz erwähnt werden. Das preußische Emanzipations­ edikt von 1812 z. Β. war das relativ fortschrittlichste in den deutschen Staaten; es galt aber nur für die 1812 zu Preußen gehörenden Gebiete und bedeutete keineswegs die volle bürgerliche Gleichstellung. Vor allem fehlte die Erlaubnis zur Bekleidung der in der preußischen Gesellschaft besonders hoch bewerteten Staatsämter, zu denen 1822 auch alle akademischen Lehr- und Schulämter und die Offizierslaufbahn gerechnet wurden18. Die „zeitweilig totalitäre Einheit von christlicher Kirche und Staat“ 19, die nur den C hristen als staatserhaltenden und zur Ausübung von politischer Ver­ fügungsgewalt berechtigten Bürger akzeptierte, verdeutlicht, wie groß die Be­ fürchtung war, in der Herrschaftsausübung durch fremde, andersartige Wert­ vorstellungen irritiert zu werden20. Erst 1850 wurden in der revidierten preu­ ßischen Verfassung alle Preußen, unabhängig von der Konfession, de jure für gleichberechtigt erklärt. An der Praxis änderte sich nichts21. Die Reaktionszeit war durch eine rückschrittliche Einstellung gegenüber den Juden ebenso gekennzeichnet wie durch die Abwehr der aufkommenden Indu­ striegesellschaft mit ihren Organisationskriterien: Profit, Mobilität, Leistung. Das sich scheinbar abzeichnende Ende der feudal-ständischen Gesellschaftsord­ nung verunsicherte besonders die an strenge Schutzbestimmungen gewöhnten kleingewerblichen Bevölkerungsgruppen und den Adel, der seine Privilegien gefährdet sah. Starke Bevölkerungsvermehrung, Wirtschaftskrisen, vor al­ lem Agrarkrisen, und das Auftreten bisher nicht gekannter Massen von Arbeit­ suchenden verstärkten die allgemeine Krisenstimmung22. Im Gegensatz dazu gelang der jüdischen Bevölkerung, abgesehen von der im Großherzogtum Posen, zunehmend der wirtschaftliche Aufstieg in die Mittel- und Oberschichten23. Um die Mitte des Jahrhunderts kann man von einem nicht unbeträchtlichen jüdischen Großbürgertum, von einer gut situierten jüdischen Mittelschicht und von einem relativ breiten jüdischen Kleinbürgertum sprechen. Ein nennenswertes jüdisches Proletariat hatte sich nicht herausgebildet. Da die Juden an Unsicherheit und permanence Konkurrenz seit Jahrhunderten zwangsweise gewöhnt waren, zeigten sie sich auch auf den Industrialisierungs­ prozeß und auf die durch ihn ausgelösten sozialen Wandlungen besser vorbe­ reitet als der größte Teil der christlichen Bevölkerung, vor allem die im Hand­ werk und in der Landwirtschaft Tätigen. Die notwendigen, einschneidenden Veränderungen im Wirtschaftsverhalten traten „häufig durch Juden personifi­ ziert“ in deren Bewußtsein24. So blieben judenfeindliche Reaktionen aus den Kreisen des verunsicherten Kleinbürgertums nicht aus, die sich im Wiederbele­ ben der alten Vorurteile von der Habgier, dem angeborenen Handelsgeist der Juden und der Verderblichkeit ihrer Religion äußerten. Sie wurden durch eine Vielzahl von Flugschriften und Pamphleten, aber auch durch literarische Bestseller, wie z. B. Gustav Freytags „Soll und Haben“ (1854) — hier noch gekoppelt mit dem Vorurteil gegen die polnische Minderheit — und Wilhelm Raabes „Hungerpastor“ (1864) ständig genährt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Auf der anderen Seite sicherte ihnen der wirtschaftliche Erfolg die Achtung der Liberalen, die mit wechselnder Intensität die Vollendung der Judenemanzi­ pation in den Katalog ihrer prinzipiellen Forderungen aufnahmen, allerdings auch mit dem gravierenden Vorbehalt der völligen Assimilation. Als jedoch die ,geringeren Volksklassen', d. h. das entstehende Proletariat25, 1848 auch für sich die Verwirklichung des liberalen Prinzips der Volkssouveränität und der Gleichheit aller zu fordern begann, suchte das liberale Bürgertum den staatlichen Schutz vor einer möglichen Sozialrevolutionären Volksbewegung und gab zugunsten der Sicherstellung von ,Ruhe und Ordnung' den größten Teil seiner politischen Forderungen preis. Erleichtert wurde ihm dieses Zurück­ weichen dadurch, daß „auf wirtschaftlichem Gebiet mit Unterstützung der neu begründeten Interesseneinheit aus Feudalaristokratie, Armee, Titel- und Geld­ patriziat eine ganze Reihe von Zugeständnissen erzwungen werden konnte, die für den Kaufmann, Bankier und Unternehmer wichtiger waren als aller politischer Fortschritt“ 26. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das abnehmende öffentliche Eintreten für die volle Emanzipation der in der Mehrzahl dem Bürgertum nach Besitz und Profession so ähnlichen Juden zu sehen, die in gewissem Maße wieder zur Out-group wurden27. Es kam wieder zu juden­ feindlichen Äußerungen, zuweilen auch zu Ausschreitungen gegen Juden und von nationalkonservativer Seite zu einer Gleichsetzung von Juden und Kom­ munisten28. Der Vorwurf der „rothen jüdischen Wühlerei“ , „der Legion vaga­ bundierender Judenjungen“ 20, des „Kaufens“ von Revolutionären traf ein deutsches Judentum, das aufgrund der unterschiedlichen Bereitschaft zur Assi­ milation als Gruppe im Zustand der Spaltung begriffen war und sich in seiner überwiegenden Mehrheit (85—90 %) der gemäßigt liberal bis konservativen Bourgeoisie zugehörig fühlte30. In ihrem Bedürfnis, dazuzugehören, Deutsche zu sein, stellten sie — stärker noch als die ohnehin Dazugehörenden — die Vorstellungen von der Verbesserung der eigenen Situation in den Hintergrund. Befürchtete und auch schon eingetretene Rückschläge im wirtschaftlichen Be­ reich, wo ihnen Erfolge noch am ehesten gelangen, und die Angst vor neuen, schweren Angriffen bewirkten bei einem Großteil der liberalen wie der ortho­ doxen Juden ein „pragmatisches, passives wie loyalistisches Verhalten“ 31. So wie viele andere liberale Forderungen auch fallengelassen oder von den Juden selber aus Furcht vor größeren Rückschritten nicht weiter verfolgt wur­ den, blieb ihre formalrechtliche Gleichstellung 1871 den konservativen herr­ schenden Kräften vorbehalten, aus der pragmatischen Einsicht, daß die Juden „eben einmal da waren, Anno 1871 ein mittelalterliches Ghetto im Kaiserreich nicht denkbar war, und weil die Wirtschaft die Juden brauchte“ 32. Diese Behauptung erhält ihre Berechtigung dadurch, daß unmittelbar nach der offi­ ziellen Vollendung der Emanzipation zusammen mit dem Anwachsen des Nationalismus die gesellschaftliche Diskriminierung verstärkt einsetzte, indem die Juden stillschweigend und mit allgemeinem Konsens von der Ausübung richterlicher, polizeilicher, militärischer und erzieherischer Funktionen, damit 24*

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aber von Positionen im eigentlichen Herrschaftsapparat weitgehend ausge­ schlossen wurden33. „Die Sache der Juden siegt im gleichen Maße und also auch in gleicher Epoche als die der allgemeinen Freiheit“ , hatte Leopold Zunz, der Begründer der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft, schon 1833 erklärt34, und in der Tat spiegelte die Lage der Juden die Unfreiheit der preußisch-deutschen Gesell­ schaft wider, die in ihrer Struktur nicht verändert worden war. Die Loyalität der weder an der Herrschaft noch am wirtschaftlichen Aufschwung Beteiligten, des an vorindustriellen Gesellschaftsidealen orientierten Kleinbürgertums und des Proletariats, konnte nur mühsam erhalten werden. Das Kleinbürgertum wurde durch den C hauvinismus einerseits und — seit der Mitte der 70er Jahre — den Antisemitismus andererseits, der ,den' Juden die Verantwortung für alle angeblichen und wirklichen sozialen Bedrohungen zuschob, zur Stabilisie­ rung des gesellschaftlichen Status quo herangezogen. Die Diskussion der sog. Judenfrage war, obwohl dazu schon bis 1848 über 3000 deutschsprachige Veröffentlichungen erschienen35, eine Sache der Publizisten- und Gelehrten­ auseinandersetzungen geblieben und in den Debatten der Volksvertretungen diskutiert worden. Am Verhalten der Gruppen zueinander änderte sich dadurch nur wenig, weil bei der Mehrheit, und eben auch beim liberalen deutschen Bürgertum, weder Klarheit noch Einigkeit darüber bestand, wovon man sich selber emanzipieren wollte, und nicht zuletz: fehlte dann auch die politische Durchsetzungskraft. Mit anderer Vorgeschichte und mit anderen Inhalten wurde die Frage des Zusammenlebens mit einer Minderheit für die deutsche Gesellschaft durch die preußischen Besitzergreifungen in Polen aufgeworfen. Die Polen stellten eine Gruppe dar, deren Traditionen, Lebensgewohnheiten und Sprache sich von der der Mehrheit unterschieden und die vor allem eine andere Idee von einem zufriedenstellenden Leben hatte. Die Vorstellungen von ,den' Polen — z. B. von ihrer UnZuverlässigkeit, Faulheit, Liederlichkeit, Unsauberkeit, von ihrer Streitsucht oder ihrem Hang zur Trunksucht36 — hatten sich bereits heraus­ gebildet, als der polnische Staat zumindest de jure noch existierte, wenngleich seine Funktionsfähigkeit abnahm. Es gab Streitpunkte zwischen Polen und seinem deutschen Nachbarstaat Preußen, zeitweilig überschnitten sich auch die Einflußsphären, aber manifest wurden die Stereotype erst seit der Zeit, als sich die Polen, die in den vom preußischen Staat annektierten Gebieten leben mußten, gegen die Aufgabe ihrer spezifischen Hoffnungen zu wehren began­ nen37 — als sie integriert werden sollten. Die preußischen Beamten sahen sich nach der Annexion der polnischen Ge­ biete mit einer politisch weitgehend homogenen polnischen Bevölkerung konfron­ tiert38. Zwar waren in ihren politischen Rechten Adel und Klerus deutlich bevorrechtigt vor den außerordentlich armen erbuntertänigen Bauern, doch machten diese die Freiheit des Adels zu ihrem eigenen national-polnischen Ideal. Diese Interesseneinheit auseinanderzubrechen und mit Hilfe einer straff © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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organisierten Verwaltung die Entnationalisierung der Polen zu erreichen, blieb mit wenigen Unterbrechungen und einigen Modifizierungen das Ziel preußischer Polenpolitik, angefangen von den einschneidenden fiskalischen Maßnahmen gegen Adel und Klerus am Ende des 18. Jahrhunderts39, die Macht und Ein­ fluß dieser führenden Schicht beschneiden sollten, bis zu der forcierten Germa­ nisierungspolitik seit den 1870er und 80er Jahren. Wie die Juden wollte man auch die Polen zu preußischen Untertanen umerziehen, doch zeigten die Polen wenig Bereitschaft dazu. „Halbjährige Bemühungen, in den Geist der polnischen Nation einzudringen“ , schrieb der schlesische Provinzialminister Graf Hoym, dem die neu erworbene Provinz ,Südpreußen' mitunterstellt wurde, „nötigen mich zu dem traurigen Bekennt­ nis, daß die Nation der preußischen Verfassung beharrlich widerstrebt, der Adel bei seiner republikanischen Gesinnung bleibt, der niedere Geistliche den Preußen als Ketzer haßt und diese Anschauung auf die unwissende abergläubi­ sche Bevölkerung überträgt.“ 40 Aus diesen Formulierungen spricht deutlich die Ratlosigkeit, wie dem beharrlichen und daher gefährlichen Widerstreben dieser Fremden entgegenzutreten sei. ,Republikanische Gesinnung' bedeutete über die polnische Tradition hinaus am Ende des 18. Jahrhunderts die Assozia­ tion mit der Französischen Revolution, zumal da die Verbindung der Polen zu Frankreich und den revolutionären Ideen bei dem Aufstand von 1794 zu­ tage getreten waren. Der Verdacht des Hasses der katholischen Geistlichen auf den Preußen als Ketzer bildete vielleicht auch eine Projektion: Trotz aller deklarierten Toleranz in der preußischen „Peuplierungspolitik“ wurden Katho­ liken, speziell polnische Katholiken während des 18. Jahrhunderts als Koloni­ sten strikt abgelehnt, sofern es sich nicht um angeworbene Facharbeiter für Manufakturen handelte41. Der feste Zusammenhalt des Klerus mit dem Adel verstärkte in der preußischen Einschätzung dessen Gefährlichkeit, weil dadurch seine abzulehnenden politischen Vorstellungen mit einer als mittelalterlich, fremd und volksverdummend angesehenen Religion verbunden erschienen. Der polnische Adel bezog sein Selbstverständnis aus der 300jährigen Tra­ dition der polnischen Adelsrepublik, die ohne starke Zentralgewalt und auf genossenschaftlicher Grundlage organisiert war, und deren eigentliche ,Nation'42 die fast 10 % der Bevölkerung umfassende Schlachta, der ritterliche kleine Landadel, bildete. Seine Vorstellungen des Zusammenlebens stießen auf das völlige Unverständnis und Mißtrauen der preußischen Regierung und ihrer Beamten43, z. B. die Vorstellung von einem gemeinschaftlich regierenden Adel, der durch Beratungen zum C onsensus omnium zu gelangen versuchte (Liberum Veto) und sich bei einem Minimum an staatlicher Verwaltung in einer Viel­ zahl von regionalen Einheiten selbst verwaltete. Zwar erleichterten Mißbrau­ che und der allmähliche Verfall dieser Konzeption ihre Abwertung, die sich bei den Preußen in Verachtung äußerte, aber vor allem erschwerte die Über­ zeugung von der Überlegenheit und Fortschrittlichkeit der preußischen Ver­ fassung jede Verständigung zwischen den beiden Gruppen. Der ,polnischen Anarchie' stand ein straff organisierter und zentralisierter Verwaltungsstaat © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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gegenüber, in dem der Adel eine Schwächung seiner politischen Position zu­ gunsten seiner Mitwirkung im Staatsdienst hinnehmen mußte. Die Schlachta dagegen blieb im wesentlichen bäuerlicher Landadel, zum Teil proletarisiert, da weder die Wirtschaft wie in den Nachbarstaaten nach merkantilistischen Gesichtspunkten staatliche Lenkung und Förderung erfuhr, noch die spät­ mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Möglichkeiten, in Kriegen das Ver­ mögen zu vermehren, weiterbestanden. Die politische Macht lag gegen Ende des polnischen Staates weitgehend bei einzelnen Magnatenfamilien, doch blieb die Bereitschaft zu politischem und nationalem Engagement auch und gerade bei den verarmten Teilen des Adels erhalten und wuchs nach der Annektierung des polnischen Staates durch die drei Großmächte sogar eher noch an. Insofern hatte es hier die preußische Gesellschaft mit einer anderen Art von Minderheit zu tun als mit den anpassungswilligen Juden etwa in der Mark Brandenburg oder in Ostpreußen, da die Polen mit aller Kraft gegen eine Integration um den Preis der Aufgabe ihrer nationalpolnischen Identität kämpften. Für das in seiner Tradition beharrende Polen schien das vergleichs­ weise traditionsarme Preußen ein „gleichsam abstrakter Nur-Staat“ , und die Durchsetzung seiner dem Machtstaatsdenken verhafteten Besitzinteressen wurde sehr bald als Fremdherrschaft empfunden44. Die Konsequenz war eine starke politische Mobilisierung der Polen insgesamt, nicht mehr nur des Adels. Der wie in allen Feudalstaaten auch in Preußen gefürchtete, von Frankreich aus­ gehende „demokratische Geist, so sich auch stark in Großpolen eingenistet“ , der Verdacht der Verschwörung einer nicht assimilationsbereiten Minderheit mit einer feindlichen Macht erforderten nach Meinung des preußischen Königs „solide Einrichtungen gleich im Anfang desto nötiger“ 45. Unter soliden Ein­ richtungen wurde die preußische Staatsverwaltung verstanden, wie sie seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt worden war; ihre schematische Übertragung sollte, obwohl sie sich im Zustand der Erstarrung bzw. der dringenden Reformbedürftigkeit befand, die Zerschlagung der inneren Selb­ ständigkeit Polens, der regionalen und lokalen Selbstverwaltung bewirken und auf bürokratischem Wege gefügige Untertanen schaffen. Begleitet wurde die bürokratische ,Verpreußung' durch eine erste Germanisierungswelle, die z. Β. in der Benachteiligung der polnischen Sprache im Amtsgebrauch zum Ausdruck kam, oder in Maßregeln wie der, „daß in den neuen Acquisitions und in Südpreußen auf gute deutsche Landwirte gehalten werde und daß erbliche und auf adeliche Rechte konferierte Güter nicht wieder in die Hände der vormahligen Pohlen kommen“ sollten46. Einzelne preußische Kritiker dieser rigorosen Einverleibungspolitik konnten sich kein Gehör verschaffen, so daß sich die Einstellung beider Seiten zueinander verhärtete. Die Gründung des Herzogtums Warschau durch Napoleon I. im Jahre 1806 und die Einführung einer an das französische Vorbild angelehnten Ge­ setzgebung rief bei den Polen leidenschaftliche Hoffnungen auf die Wieder­ errichtung ihres Staates hervor, und zugleich beherrschte eine vehemente Preu­ ßenfeindlichkeit die polnische Öffentlichkeit. Zwar scheiterte die Hoffnung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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auf den eigenen Staat mit der endgültigen Niederlage Napoleons, doch hatte sich in den wenigen Jahren bis zum Wiener Kongreß einerseits das polnische Selbstbewußtsein gesteigert, andererseits entstand aber allmählich auch eine verständnisvollere Einstellung gegenüber den Polen in der preußischen Öffent­ lichkeit. In den Jahrzehnten zwischen dem Wiener Kongreß und der Revolu­ tion von 1848 waren drei Faktoren entscheidend für die Lage und weitere Entwicklung der polnischen Minderheit unter preußischer Herrschaft: 1. die relative Liberalität oder Härte in der Polenpolitik der preußischen Regierung; 2. die jeweilige und davon nicht zu trennende Intensität des polnischen Wider­ stands und seine Konsolidierung durch die Selbsthilfeorganisationen; 3. die von den beiden ersten Faktoren abhängige deutsche Polenbegeisterung. Unter den zahlreichen Überlegungen und Maßnahmen zur Reorganisation des preußischen Staates nach seiner 1806/07 offenbar gewordenen Krise be­ fanden sich auch Ansätze zur Revision der Politik gegenüber den hier im Mittelpunkt stehenden Minderheiten. Für die Juden hatten sie ihren Nieder­ schlag im Emanzipationsedikt von 1812 gefunden; für die Polen, soweit sie in dem Gebiet des früheren Herzogtums Warschau lebten, wurden sie erst nach der Neuaufteilung Polens auf dem Wiener Kongreß wirksam. Zumindest in die Reflexionen führender preußischer Beamter hatte die von wissen­ schaftlichen und künstlerischen Vertretern der Romantik vertretene Lehre von der Individualität der Völker47 Eingang gefunden. In dem Vertrag zwischen Preußen und Rußland vom Mai 1815 wurde dieser Vorstellung Rechnung getragen, allerdings in so vagen Formulierungen, daß es letztlich wieder dem Gutdünken der Großmächte vorbehalten blieb, welches Maß an Zugeständ­ nissen sie den Polen einräumen wollten48. Der preußische Monarch garantierte dann den Polen ausdrücklich die Erhaltung ihrer Nationalität, ihrer Religion und ihrer Sprache — eine Maßnahme, die vor allem aus außenpolitischen Überlegungen zu erklären ist, da im russisch beherrschten „Kongreßpolen“ eine weithin polnische Selbstverwaltung eingesetzt worden war. Bei den Re­ formvorschlägen hatte das Moment der Erziehung nach wie vor ein großes Gewicht, doch wurde damit jetzt nicht mehr in erster Linie die Entnationali­ sierung der Polen angestrebt, sondern vor allem die ,Besserung' der Polen als Menschen49. Die Praxis der Provinzialverwaltung deckte sich aber nur sehr begrenzt mit diesen Zusagen. Eine angemessene polnische Repräsentation war vorhanden in der Kreis- und Lokalverwaltung und setzte sich auch in den Dörfern durch. Dagegen waren die Polen in den Regierungskommissionen eindeutig unterrepräsentiert, und obendrein beherrschten von den preußischen Beamten nur wenige die polnische Sprache50. Die Tendenz, auf der unteren Ebene Zugeständnisse zu machen, auf der höheren Ebene aber keine genügende polnische Beteiligung einzuräumen, bestimmte auch die Bildungspolitik, so daß sich zunächst keine politische, soziale und intellektuelle Führungsschicht heraus­ bilden konnte. Zwar wurde für die Erweiterung der Volksschuleinrichtungen gesorgt und die Schulaufsicht bei den polnischen Geistlichen belassen, der Ausbau des Mittelschul- und Gymnasialschulwesens jedoch stagnierte oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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entsprach durch die Anstellung deutscher Lehrer nicht den Bedürfnissen der polnischen Bevölkerung51. Daß folglich das Mißtrauen der Polen gegen den ,Versöhnungskurs' eher wuchs als verschwand, erstaunt ebensowenig, wie die plötzliche Radikalisierung des polnischen Nationalbewußtseins während des Aufstands von 1830/31 in „Kongreßpolen“ , der noch einmal die Hoffnung auf die nationalstaatliche Wiederherstellung Polens weckte. Im Zuge der all­ gemeinen preußisch-deutschen Unterdrückung freiheitlicher Regungen wurde daraufhin auch im Großherzogtum Posen ein bis dahin nicht gekannter reak­ tionärer Kurs eingeschlagen. Polnische Adlige konnten nun zum „bösen Prin­ zip“ hochstilisiert werden, dessen „polnische Natur“ sich erst in mehreren Generationen „zu einer menschlichen“ umformen ließe52. Gegen diesen Adel, der im übrigen Europa zum Symbol für Freiheitsliebe wurde, richteten sich in erster Linie die restriktiven Maßnahmen der preußischen Regierung, repräsen­ tiert durch den Oberpräsidenten Flottwell: Übertragung der Ämter in der Kreis- und Bezirksverwaltung, die der Adel innegehabt hatte, an regierungs­ treue Beamte; Ausbau der vorwiegend von Deutschen und Juden getragenen städtischen Selbstverwaltung; Förderung von Gewerbe, Handel und Land­ wirtschaft53; stärkere Betonung der deutschen Sprache im Amtsgebrauch usw. Obwohl die sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen durchaus zur Ver­ besserung der Binnenstruktur des Gebietes geeignet waren, riefen die Rücksichts­ losigkeit, mit der sie durchgesetzt wurden, und die durchgängig germanisierende Zielsetzung zunehmend polnischen Widerstand hervor. Auch die 1840 einset­ zende, aus Rücksicht auf die von Friedrich Wilhelm IV. gehegte Sympathie für den Adel (auch den polnischen), ,polenfreundlichere' Politik änderte an dieser Frontstellung nichts mehr54. Zu deutlich war die hinter den Maßnahmen zur Entspannung stehende Absicht, nur um so gehorsamere preußische Untertanen heranzubilden55. Zwar erwog der konservative Hochadel zusammen mit einem Teil des Klerus und des Bürgertums, mit dem preußischen Staat zusammenzu­ arbeiten, um eine Erweiterung der polnischen Selbstverwaltung zu erreichen, doch genügte der Krakauer Aufstand von 1846 ebenso zur Wiedereinführung der harten Politik der 30er Jahre, wie er die Solidarisierung aller Polen för­ derte. Innerhalb der polnischen Bevölkerung des Großherzogtums Posen hatte seit 1815 unter dem Einfluß preußischer Wirtschaftsförderung56 eine Umstruktu­ rierung begonnen, die sich auch auf den Inhalt und auf die Zusammensetzung der politisch engagierten Kreise auswirkte. Die Tatsache, daß die wirtschafts­ politischen Maßnahmen auch das Polentum aufspaltende Wirkungen erzielen sollten, veranlaßte einen kleinen Kreis von polnischen Intellektuellen, An­ strengungen zur Heranbildung eines polnischen Mittelstands zu unternehmen. Die zentrale Figur dieser Bemühungen war in diesem Zeitraum Karl Marcin­ kowski, der 1836 aus der Pariser Emigration zurückgekehrt war und 1840 die „Gesellschaft für wissenschaftliche Hilfe“ , eine Selbsthilfeorganisation zur qualifizierteren Ausbildung polnischer Bürger- und Bauernkinder, gegründet hatte. Ähnliche Initiativen folgten und bewirkten, daß das Nationsbewußtsein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Adelsrepublik einem bürgerlichen Nationalgefühl wich, das vorwiegend vom neu entstehenden Mittelstand und bäuerlichen Kreisen getragen wurde, während sich bei den die europäische Öffentlichkeit für das Schicksal Polens einnehmenden Emigranten noch „romantische Vergangenheitsverklärung und revolutionärer nationaler Messianismus durchdrangen“ 57. Die deutsche „Polenbegeisterung“ des Vormärz', die in der Sympathie für diese Emigranten, in der Regel polnische Adlige oder Intellektuelle, ihre Basis hatte, ist oft und ausführlich dargestellt worden; sie fehlt in kaum einer Geschichte der Revolution von 1848. Die Frage ist, welche Momente zusammen­ gewirkt haben, um ein anderes, positiv überzeichnetes Stereotyp von der polni­ schen Nation zu entwickeln und woher die Bereitschaft in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung rührte, in dem „Rechtskampf der Polen . . . das zertretene Recht der ganzen Menschheit“ zu sehen58. Die Entwicklung des Bildes von den Polen als Inbegriff einer ,edlen Nation' hatte außerhalb Preu­ ßens schon bald nach der mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses vorerst begrabenen eigenen Erwartung der nationalen Einigung und einer Verfassung eingesetzt59. Als Beispiel mag Heines keineswegs vorurteilsfreier Bericht „Über Polen“ (1823) gelten, der im Gegensatz zu den wenig konkreten Vorstellungen der späteren Polenfreude versuchte, eine Beschreibung aller Bevölkerungs­ schichten zu geben60. Die Adligen charakterisierte er abgesehen von einigen negativen Adjektiven (geschmeidig, falsch, bequem, streitlustig) fast nur positiv (tolerant, Vaterlands- und freiheitsliebend, stolz, mutig), schränkte allerdings diese pauschalen Aussagen sofort selbstkritisch ein. Weit weniger differenziert als in seinem Erlebnisbericht war im allgemeinen das positive Klischee vom polnischen Volk bei den deutschen Polenfreunden um 1830/31, das aus den Kampfberichten, Klagen und Enttäuschungen der durch Deutschland ziehenden Flüchtlinge Nahrung erhielt. Polenfeiern, polnische Fahnen, Polenlieder, Grün­ dung von Polenvereinen — darin drückte sich die „stark emotional bestimmte Solidarität“ aus61. Die Julirevolution in Frankreich, in deren Folge der Aufstand in „Kongreß­ polen“ stattfand, hatte die „bürgerliche Opposition aller Schattierungen, von den ängstlichen Liberalen bis zu revolutionären Demokraten“ hoffen lassen, auch in Deutschland könnten durch eine revolutionäre Bewegung die Macht­ verhältnisse geändert werden62. Diese Hoffnung und die Erinnerung an die Restauration seit 1815 schufen in erster Linie bei liberalen Bürgern, Intellek­ tuellen und Handwerkern eine Bereitschaft, für die nationaldeutsche Einheit und für die Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit für alle Bürger einzu­ treten. In den in ihrem Freiheitskampf gescheiterten Polen sahen sie die Opfer der Unterdrückung durch die preußische, österreichische und russische Reaktion. Insofern hatten die deutschen Oppositionellen und die polnischen Kämpfer den gleichen Feind und das gleiche Ziel. Die deutschen Polenfreunde waren liberale Oppositionelle in den süd- und südwestdeutschen Kammern, aber auch Vertreter des rheinischen Großbürgertums und revolutionäre Demo­ kraten, häufig Studenten, Schriftsteller, Journalisten, die aber alle zugleich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mit dem Eintreten für die Polen jeweils eigene Forderungen verbanden63, sei es die Einlösung nicht eingehaltener Verfassungsversprechungen, sei es eine größere Einflußsphäre für die Bourgeoisie oder den gewaltsamen Umsturz zur Errichtung der Republik. Die Existenzbedingungen der polnischen Minderheit im preußischen Staat seit dieser Polenbegeisterung bis zum Ersten Weltkrieg entschieden sich in ihren Grundzügen im Jahre 1848. Nur wenige Tage lang schien es, als könnte wieder ein polnischer Nationalstaat entstehen; die Fürsprache der deutschen Liberalen und Demokraten hielt noch an, wenngleich sie jetzt mit antirussi­ schen Ressentiments begründet wurde. Begriffe wie „Asiatismus“ , „barbarisches Moscowitentum“ , die Überlegung, „Rußlands ungeheure Macht und Ausdeh­ nung“ durch einen polnischen Staat aufzuhalten und — von polnischer Seite — die Versicherung, „eine Vormauer gegen den Drang der Asiaten“ bilden zu wollen64, verdeutlichen zwar den Kampf gegen den gemeinsamen Feind, machen aber auch klar, daß es sich keineswegs nur mehr um das selbstlose Eintreten für die Befreiung der polnischen Nation handelte. In den auf die Märzereignisse folgenden vier Monaten jedoch schlug die in fast zwei Jahr­ zehnten gepflegte und immer wieder beteuerte Polenfreundschaft um in die vorurteilsvolle, von der Überlegenheit des „deutschen Stammes“ über die „slawischen Stämme“ überzeugte ethnozentrische Haltung von Nationalisten. Die tatsächlichen Ereignisse in Posen erklären einen derartigen Meinungs­ umschwung nicht, vor allem wenn man berücksichtigt, daß die Zeitgenossen in diesen turbulenten Monaten kaum hinreichend und zutreffend über sie unterrichtet gewesen sein dürften65. Wenn auf das königliche Versprechen der nationalen Reorganisation hin ein polnisches Nationalkomitee gegründet wurde, das eigene Kreisdeputierte und Bezirkskommissare einsetzte, und dar­ aufhin die Frage gestellt wurde, „ob eine halbe Million Deutscher . . . in der secundären Rolle naturalisierter Ausländer in die Unterthänigkeit einer anderen Nationalität, die nicht soviel humanen Inhalt hat als das Deutschtum, gegeben und hinausgestoßen werden in die Fremde?“ 66, dann ist hier keine Erinnerung mehr an die bewunderten ,Helden', die ,Brüder' im Kampf um die gerechte Sache. Es ist die Rede von „widerstrebenden Elementen“ , denen man versucht habe, „Gesittung und Humanität“ beizubringen, von den „Epigonen des exilierten hundertköpfigen polnischen Despotenthums“ , und diesen Polen solle man „ein deutsch gewordenes Land, eine zahlreiche deutsche Bevölkerung zu Staatsexperimenten überlassen!“ . Man müsse endlich „erwachen zu einem ge­ sunden Volksegoismus, . . . welcher die Wohlfahrt und die Ehre des Vater­ landes in allen Fragen obenan stellt“ . „Poetische Sentimentalität“ sei das „Hauptmotiv aller Derer, welche von uns die Herstellung eines freien Polens verlangen“ , dem stehe aber „das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung“ entgegen. Vergessen waren Überzeugungen wie die, daß die „Befreiung Deutschlands . . . nicht zustande kommen (könne), ohne daß die Befreiung Po­ lens von der Unterdrückung durch Deutsche zustande kommt“ 67, und auch die Berufung auf die Erklärung des ,alten Gagern', „daß es in Europa keinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Frieden, kein Völkerglück, keine Sicherheit der Zustände, keine auf der Gerech­ tigkeit fußende Zukunft und keine Freiheit geben könne, bis die Schuld gesühnt sei, die man an Polen begangen habe“ 68, bewirkte keine Rückkehr zur Polen­ begeisterung. Das Einschwenken der Mehrheit der deutschen Liberalen und Demokraten in die Richtung des nationalstaatlichen Machtdenkens hatte zur Folge, daß das Bild vom ,edlen polnischen Volk' umschlug in das Stereotyp vom minderwertigen, unzivilisierten Polen, vor dem man die deutsche Bevölke­ rung schützen müsse. Es war nicht nur das „nationalistische Grenzer-Ressenti­ ment“ 69, das hier wiederbelebt wurde, sondern auch das Bedürfnis, angesichts der Bedrohung von ,Ruhe und Ordnung' sowohl durch das Aufbegehren der sozial und wirtschaftlich deklassierten deutschen Bevölkerung als auch durch das Beharren der Polen auf ihren spezifischen Freiheitsvorstellungen die eigene privilegierte Position durch ein Arrangement mit den herrschenden Kräften zu sichern. Ausgehend von einem zunehmend forcierten Überlegenheitsbewußt­ sein billigte das liberale Bürgertum die bürokratisch-germanisierende Unter­ drückungspolitik durch die preußische Regierung entsprechend der jetzt ent­ stehenden ,Ostmarkenideologie' als nützliche kolonisatorische Wirksamkeit. Die Frage, warum weder die „Judenfrage“ noch die „Polenfrage“ im Zeit­ alter der bürgerlichen Emanzipationsversuche in Deutschland einer Lösung nähergeführt werden konnte, ist in erster Linie eine „Deutschenfrage“ 70. Es ist die Frage, warum das liberale deutsche Bürgertum, das die Emanzipation bzw. Befreiung beider Gruppen wenn auch mit unterschiedlicher Intensität in den Katalog seiner Forderungen aufgenommen hatte, so schnell bereit war, das von den Minderheiten vertretene und z. Τ. ihnen nur nachgesagte anders­ artige soziale und politische Wertsystem als eine Bedrohung für sich selber zu empfinden. Fest steht, daß es in seinem eigenen Befreiungskampf gegen den feudal-bürokratischen Staat resignierte, als sich als Alternative zu der aufkommenden Sozialrevolutionären Radikalität eine partielle Herrschaftsbe­ teiligung anbot. Die „soziale Frage“ wurde zur „sozialen Gefahr“ uminterpre­ tiert, die Adel, Militär und wirtschaftlich expandierendes Bürgertum gleicher­ maßen einzudämmen suchten. Der an die Stelle der Forderung nach politischer Freiheit getretene nationale Machtwille hatte wegen des labilen Selbstbewußt­ seins der „verspäteten Nation“ (Plessner) sehr bald ausschließenden C harakter gegenüber allen Fremden oder zu Fremden erklärten angenommen, er ließ einen Pluralismus, „das heißt, dem Besonderen die Freiheit zu lassen, innerhalb des Allgemeinen dem eigenen Prinzip sich hinzugeben“ 71, keine C hance. Nach zwei Weltkriegen sind für die Deutschen ihre Probleme mit den beiden ,klassischen' Minderheiten gelöst: Die Juden wurden vertrieben oder ermordet; ein dem Anspruch nach jüdischer Staat wurde 1948 gegründet, im übrigen leben sie weiterhin je nach dem Stand der Emanzipation der jeweiligen Gesellschaft angefeindet oder akzeptiert als Minderheit in zahlreichen Ländern. Den Polen gelang es, den polnischen Staat 1918 wiederzugründen, den auch eine barbari­ sche deutsche Besetzung, die die traditionellen Methoden und Ausmaße der Unterdrückung bei weitem übertraf72, nicht mehr in Frage stellen konnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Daß sich heute noch das Problem der Lage von Minderheiten und damit des Selbstverständnisses der Gesellschaft stellt, zeigt die sich seit einigen Jahren anbahnende Manifestation der Fremdenfeindlichkeit, die in der gesellschaftli­ chen und politischen Diskriminierung der ausländischen Arbeiter in der Bun­ desrepublik zutage tritt73. Die Veröffentlichungen zur Lage der „Gastarbeiter“ , zur Verbesserung ihrer Situation, zu Ziel und Zweck ihrer Beschäftigung in westdeutschen Betrieben sind kaum mehr zu zählen; Good-Will-Berichte in den Massenmedien zielen darauf ab, positive Einstellungen hervorzurufen, oder zumindest Mitleid zu erwecken74, verhärten aber vielleicht noch eher die feindselige Haltung ihnen gegenüber. Die über 10 % aller abhängigen Beschäftigten in der BRD ausmachenden ausländischen Arbeiter, ohne deren Tätigkeit die Wirtschaft nicht mehr funktionsfähig wäre, leben durch die im Ausländergesetz festgelegten Beschränkungen nicht unter einer Rechtsord­ nung, sondern unter dem Maßnahmerecht einer Polizeiordnung, die darauf angelegt ist, „nicht den Ausländer, sondern das Gastland“ zu schützen75. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist ebenso befristet wie es ihre Arbeitsverträge sind, und auch die Wahl der Arbeitsplätze ist beschränkt. Sie erhalten in der Regel Arbeit zugewiesen, deren Anforderungen und Entlohnung unter ihrem Ausbildungsstand liegen und „für die deutsche Arbeitnehmer kaum noch zu gewinnen sind“ 76, da ihr soziales Prestige gering ist (z. Β. schwere körperliche Arbeit in der Industrie, Müllabfuhr, Straßenreinigung usw.). Der dadurch entstehende Eindruck der NichtSeßhaftigkeit, der Unfähigkeit zu qualifizierter Arbeit, der zivilisatorischen Rückständigkeit77 erhält eine entscheidende Verschärfung zur Bedrohlichkeit durch die zahlreichen Presse­ berichte über angebliche sexuelle oder kriminelle Vergehen von Aus­ ländern78. Auf diese Weise werden sie zu den „Niggern Europas“ (Ernst Klee), zu einem gesellschaftlich isolierten Subproletariat, dem kaum eine Aussicht bleibt, von der untersten sozialen Stufe aufzusteigen, und über das auch ein­ heimische Arbeiter noch verfügen zu können meinen. Konflikte zwischen bei­ den Gruppen, die auch auf Kommunikationssperren beider Seiten beruhen, führen häufig zur brutalen Diskriminierung der Ausländer. Angesichts dieser sich in dem latenten Potentials an Grausamkeit und Verständnislosigkeit aus­ drückenden Lage von Minderheiten erscheint die Emanzipation der west­ deutschen Gesellschaft noch immer als eine zu lösende Aufgabe, wenn man von der Forderung ausgeht, „daß die Menschen empfindsam werden nicht gegen das Unrecht an Juden, sondern gegen Unrecht überhaupt, nicht gegen Judenverfolgung, sondern Verfolgung schlechthin, daß sich in ihnen etwas empört, wenn der Einzelne, wer er auch sei, nicht als vernünftiges Wesen geachtet wird“ 79. Das Scheitern der Emanzipation der Minderheiten in der Mitte des 19. Jahr­ hunderts ist als unmittelbare Folge des Scheiterns der bürgerlichen Revolution zu verstehen. Es wäre zu überlegen, ob nicht der historische Zeitpunkt gekom­ men sein könnte, an dem sich die westdeutsche Arbeiterschaft mit den begrün­ deten Ansprüchen der ausländischen Arbeiter solidarisieren sollte, um mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ihnen „neben der Forderung nach sozialer und rechtlicher Gleichstellung aller Lohnabhängigen und nach einer Verbesserung ihrer gemeinsamen Lebensver­ hältnisse“ die politische Emanzipation für alle zu erkämpfen 80 .

Anmerkungen 1 So vor allem Gustav Heinemann bei der Bremer Schaffermahlzeit am 13. 2. 1970, anläßlich des 100. Jahrestages der Reichsgründung im Januar 1971, und im April 1971 zum Gedenken an den Wormser Reichstag von 1521. Kritisch dazu: T. Schieder, Hat Heinemann recht? Zu einer Rede über unser mangelhaftes Geschichtsbewußtsein, Christ u. Welt/Deutsche Zeitung, 27. 2. 1970, 11. 2 Art. „Emancipation“ , Meyer's C onversations-Lexicon, 8, Hildburghausen 1846, 495; diese weitgefaßte Definition wurde gewählt, weil andere, konkreter ausformu­ lierte, wie die von Sdieidler, Art. „Emancipation“ , Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Sect. 1, 34, Leipzig 1840, 3: „ . . . bürgerliche oder politische Gleichstellung aller derer, die in einem solchen Abhängigkeitsverhältnisse zu Andern standen oder stehen, dessen fortwährende Dauer nicht in der Natur der Sache oder der Vernunft selbst begründet ist“ , zwar dem hier mit Emanzipation gemeinten Abbau von Herrschaft und Zwang näherkommen, andererseits aber zuviel Interpretationsspielraum lassen. Zur Geschichte des Begriffes „Emanzipation“ und seiner Anwendungsbereiche vgl. demnächst R. Koselleck/K. M. Graß, Art. „Eman­ zipation“ , Historisches Lexikon der politisch-sozialen Begriffe, II (erscheint Stuttgart 1974); den Stand der gegenwärtigen Diskussion gibt M. Greiffenhagen (Hrsg., Eman­ zipation, Hamburg 1973) wieder. 3 K. Marx, Zur Judenfrage; I. B. Bauer, „Die Judenfrage“ , Braunschweig 1843, MEW 1, Berlin 1972, 347 f. 4 Dazu u. zum folgenden vor allem E. Becker, Art. „Soziale Vorurteile“ , Evange­ lisches Staatslexikon, Stuttgart 1966, 2039—42, sowie u. v. a. G. W. Allport, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971; P. Heintz, Soziale Vorurteile, ebd. 1957; Vorur­ teile. Ihre Erforschung u. ihre Bekämpfung (Politische Psychologie 3), Frankfurt 1964; G. E. Simpson/J. M. Yinger, Racial and C ultural Minorities: An Analyses of Prejudice and Discrimination, N. Y. 3 1965; L. Wirth, The Problem of Minority Groups, in: R. Linton Hrsg., The Science of Man in the World C risis, N. Y. 51947, 347 ff. 5 In der Adresse des VI. Landtags vom 8. März 1843, abgedr. bei G. A. Noah, Die staatsrechtliche Stellung der Polen in Preußen, Berlin 1861, 185. Die Modifizierun­ gen dieser Einstellung werden auszuführen sein. 8 Zwar sind ähnlich konstruierte Begriffe und Redewendungen auch in Anknüpfung an kurzfristige Erfahrungen oder Gerüchte mit anderen Nationennamen geprägt und verwandt worden, aber man kannte sie in der Regel nur vom Hörensagen. 7 Da hier nicht der Ort zur Darlegung der religiösen Verschiedenheiten von Juden­ tum und C hristentum ist, sei nur an die zentralen Punkte erinnert: Es gibt in der jüdischen Religion nicht die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode, und ebenso entscheidend ist, daß der Messias für die Juden noch nicht gekommen ist. 8 So erschienen unmittelbar nach der letzten religiös begründeten Judenvertreibung aus einem deutschsprachigen Land, der der Juden aus Wien, z. B. J . Eisenmengers, bis in die Zeit des Nationalsozialismus gern und viel zitiertes „Entdecktes Judentum“ (1700) und J . J . Schudts „Jüdische Merkwürdigkeiten“ (1714); zwei andere Beispiele: Die „Sämtlichen Kauff- undt Handelsleuthe in Franckfurth an der Oder“ schickten 1688 ihrer Klage über den Handel der Juden ausführliche Überlegungen über die Verderblichkeit der jüdischen Religion voraus, und die Anzeige eines „bekehrten Juden“ , seine früheren Glaubensgenossen bedienten sich „in ihrem gewöhnlichen Gebe-

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te Olenu oder Alenu lästerlicher und schändlicher Ausdrücke wider Jesum, dessen Lehre und deren Bekenner“ , beschäftigte 1703 eine Reihe von Gelehrten und schließ­ lich auch die neumärkische Regierung. Beides abgedr. bei Α. Β. König Hrsg., Annalen der Juden in den preußischen Staaten besonders in der Mark Brandenburg, Berlin 1790, 106 ff., 140 ff. 9 Ein wichtiges Ergebnis absolutistischer Politik war für die Juden, daß an die Stelle der einzeln und willkürlich erteilten Schutzbriefe Generalprivilegien, wie die von 1730 und 1750, traten, die zumindest einer fest umrissenen Anzahl von Juden­ familien das Aufenthaltsrecht garantierten. Für zusätzliche Neuzulassungen galt aller­ dings weiterhin das Prinzip der Willkür. Vgl. dazu vor allem das umfassende Werk von S. Stern, Der preußische Staat u. die Juden, T. 1—3, Tübingen 1962, 1971, sowie L v. Rönne/H. Simon, Die früheren u. gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates, Breslau 1843. 10 Es handelte sich häufig um Juden, die in der Ukraine vom polnischen Adel als Zwischenpächter eingesetzt worden waren und bei den Aufständen der orthodox­ christlichen russischen Bauern und Kosaken gegen die polnische Fremdherrschaft sozu­ sagen stellvertretend verjagt wurden. 11 In Brandenburg-Preußen wurden von vornherein nur außerordentlich wohlha­ bende Juden zur Niederlassung zugelassen, so daß hier Ansätze für eine in der christ­ lichen Bevölkerung damals kaum vorhandene, relativ geschlossene großbürgerliche Schicht geschaffen wurden. 12 Im Sinne von Georg Simmeis „Exkurs über den Fremden“ , in: ders., Soziologie, Berlin 41958, 509—12. 13 In ökonomischer Hinsicht wirkten sie auf die ständisch gebundenen christlichen Kaufleute vor allem beunruhigend, weil diese den gesamten Ehrenkodex des ehr­ baren Kaufmannes' in Frage gestellt sahen. 14 M. Horkheimer/T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969, 184. 15 Am einschneidendsten dürfte ihre Mitwirkung bei der Abkehr von der ,Idee der Nahrung' gewesen sein, bei der Verbreitung des Prinzips der sozialen und wirt­ schaftlichen Mobilität, der Risikobereitschaft in Form der Produktion für einen un­ bekannten Markt usw. 16 Die erste Publikation zu diesem Thema war das 1781 erschienene Buch des Kriegsrats C . W. Dohm (Über die bürgerliche Verbesserung der Juden), das zwar eine breite literarische Diskussion auslöste, aber zunächst keine politischen Konse­ quenzen hatte. Zur beherrschenden Stellung, die diese Beamten erreichten, also zu ihrer „Emancipation from Monarchical Autocracy“ s. Η. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660—1815, Boston 1966, 175 ff., 198 ff. 17 Zu den Öffentlichen Diskussionen und den Debatten in den Kammern verschie­ dener deutscher Kleinstaaten vgl. den für diese Fragestellungen unentbehrlichen Auf­ satz von R. Rürup, Judenemanzipation u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: E. Schulin Hrsg., Gedenkschrift M. Göhring, Wiesbaden 1968, 174—99, hier: 187, wo R. diese Tendenz auf den Nenner „Lösung der Judenfrage durch Auflösung des Judentums“ gebracht hat. 18 1820 war ihnen bereits das Amt des Feldmessers als das eines öffentlichen Beamten verwehrt worden, 1827 der Beruf des Auktionators und 1835 der des Schiedsmanns, Rönne/Simon, 283 f. 19 K. H. Rengstorff/S. v. Kortzfleisch Hrsg., Kirche u. Synagoge, I, Stuttgart 1968, 16. 20 Folgende Äußerung des jungen Bismarck vor dem Ersten Vereinigten Preußi­ schen Landtag 1847 dürfte keineswegs die eines Außenseiters gewesen sein: „Wenn ich mir . . . einen Juden denke, dem ich gehorchen soll, so muß ich bekennen, daß ich mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen würde, daß mich Freudigkeit und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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das aufrechte Ehrgefühl verlassen würden“ (Wortlaut der gesamten Rede Bismarcks in: Vollständige Verhandlungen des Ersten Vereinigten Preußischen Landtags über die Emancipationsfrage der Juden, Berlin 1847, 224 ff.) 21 In Frankfurt und Hamburg wurden sogar nach der Niederlage der Franzosen und der damit beendeten Gültigkeit der französischen Judengesetzgebung mit geringen Modifikationen und einigen Durchbrechungen die Judengesetzgebungen des 18. Jahr­ hunderts für einige Jahrzehnte wieder in Kraft gesetzt. 22 Vgl. W. Abel, Agrarkrisen u. Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 21966, 205 ff.; H. Böhme, Prolegomena zu einer Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. u. 20. Jahrhundert, Frankfurt 1968, 30 ff.; H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, II, Berlin 21972, 225 ff., 230 f. 23 Hierzu und zum folgenden H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967, 90 ff. 24 E. G. Reichmann, Die Flucht in den Haß, Frankfurt (51968), 84. 25 Das Proletariat, die Arbeiterschaft insgesamt, ist nach der hier verwandten Definition auch in der BRD noch die wichtigste Minderheit, sieht man einmal von 28 Böhme. 43. den Frauen als der ältesten ab. 27 Nicht typisch für den gesamten Liberalismus, aber aufschlußreich für seine nach 1848 in das konservative Lager zurückweichenden Vertreter ist folgende Äußerung Richard Wagners von 1850: „Wie all unser Liberalismus ein nicht sehr hellsehendes Geistesspiel war, indem wir für die Freiheit des Volkes uns ergingen, ohne Kenntnis dieses Volkes, ja mit Abneigung gegen jede wirkliche Berührung mit ihm, so entsprang auch unser Eifer für die Gleichberechtigung der Juden viel mehr aus der Anregung eines allgemeinen Gedankens, als aus einer realen Sympathie“ , in: ders., Das Judentum in der Musik, Leipzig 1869, 10. 28 Eine Zusammenstellung von Äußerungen zu dieser Identifikation findet sich bei E. Sterling, Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815—1850), Frankfurt 1969, 140 f. 29 Der Begriff des Vagabundierens legt die Assoziation zu Ahasver, dem Ewigen Juden, nahe, vgl. A. Leschnitzer, Der Gestaltwandel Ahasvers, in: H. Tramer Hrsg., In zwei Welten. S. Moses zum 75. Geburtstag, Tel Aviv 1962, 470—505. 30 J . Toury (Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland, Tübingen 1966, 27) schätzt den Anteil der sich an den Konservativen oder den politisch passiven Loyalisten orientierenden Juden im Vormärz auf 55—60 % und den der gemäßigten Liberalen auf 30—35 %. In den Reaktionsjahren nach 1848: Konservative und aktive Loyalisten 15 %, opportunistische Loyalisten 45 %, gemäßigte Liberale 35 %, Demo­ kraten 4%, Sozialisten 1 % (109, Anm. 43). Unter den politisch aktiven Juden lag im Vormärz das Schwergewicht bei den gemäßigten Liberalen und den Radikaldemokra­ ten (je 32—33 % ) , 21 % rechnet Toury zu den Konservativen, 11—12% zu den Sozialisten. 1848 werden nur noch 9 % zu den Konservativen gezählt, 32 % zu den gemäßigten Liberalen, 41 % zu den Radikaldemokraten und 18 % zu den Sozialisten (27 u. 67, Anm. 84). 31 Verbunden mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber Neuerungen erklärten einige orthodoxe Gemeinden in Baden, sie wollten auf alle politischen Rechte verzichten, um nicht durch entstehende Unruhen Leib und Gut zu gefährden; demgegenüber scheinen die jüdischen Kaufleute und Bankiers ebenso wie der gesamte Handelsstand von der „Wut der durch die gefallenen Staatspapiere ganz kopflos gewordenen Bourgeoisie“ erfaßt worden zu sein (ebd., 88 f., 92). 32 Sterling, 134. 33 Vgl. dazu ausführlich E. Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, Regierungsmitglieder, Beamte u. Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848—1918, Tübingen 1968, 21 ff., 35 ff., 40 ff., 53 ff. Eine Ausnahme bildete lediglich die Anstel­ lung von Juden im technischen Dienst (63 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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34 L. and A. Zunz. An Account in Letters, London 1958, 68; zum Problem der Emanzipation der Minderheit in einer „nicht- oder nur teilemanzipierten Gesellschaft“ vgl. vor allem Rürup, 197 ff. 35 R. Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, ZGO 114. 1966, 42 f. 39 Es sind — wie bei allen Projektionen — vorwiegend Verhaltensweisen, die sich die Bevölkerung des sich nach außen und innen konstituierenden preußischen Staats zu verbieten hatte. 37 Der unscharf klingende Begriff der Hoffnung, nämlich die Hoffnung auf Wieder­ errichtung des polnischen Staates und der davon fest erwarteten freieren Existenz­ form, umreißt tatsächlich am ehesten die Hauptschwierigkeit, die speziell die preußi­ sche Bürokratie für eine „Organisation nach preußischen . . . Grundsätzen“ sah, denn die Beibehaltung der polnischen Verfassung „hatte zugleich mit der Sprache sie täglich an ihre Abkunft erinnert, ihnen zur Rückkehr Hoffnung gelassen“ , Denkschrift des Ministers von Voß von 1794, abgedr. bei C . Bussenius, Urkunden u. Akten zur Ge­ schichte der preußischen Verwaltung in Südpreußen u. Neuostpreußen, 1793—1806, Frankfurt 1961, 61 ff. 38 Die nichtpolnischen Teile der Bevölkerung, vor allem deutsche Protestanten und Juden, bleiben hier unberücksichtigt, weil die preußische Politik sie in anderer Weise betraf als die Polen. Die protestantischen Deutschen wurden als das zu fördernde Element mit staatlichen Vergünstigungen bedacht. Die Geschichte der Juden in den späteren Provinzen Westpreußen und Posen würde eine eigene Bearbeitung erfordern: die Minderheit in der Minderheit, auf die noch im Nachhinein die vermögensorientierte absolutistische Judenauslesepolitik angewandt werden sollte (was sich aus wirtschaft­ lidicn Gründen als undurchführbar erwies) und die im 19. Jahrhundert zum bevor­ zugten Objekt preußischer Germanisierungspolitik wurde, mit dem Ziel, sie bei Bedarf den Deutschen zurechnen zu können. 39 Erwähnenswert sind vor allem die Einziehung von Gütern aus kirchlichem und starosteilichem Besitz und ihre Umwandlung in königliche Domänengüter sowie weit über dem Satz der übrigen Provinzen liegende Steuererhöhungen. 40 Zit. bei M. Laubert (Die preußische Polenpolitik von 1772—1914, Krakau 21942, 24), der die preußische Polenpolitik jener Jahre als zu nachgiebig, zu inkonse­ quent und zu tolerant beurteilt und seine ohnehin verzerrte, einseitig deutschnationale Darstellung, die zuerst 1920 als „wissenschaftliche Kampfschrift gegen das Versailler Diktat“ erschienen war, nunmehr als „Wegweiser für die gewaltigen Aufgaben“ ver­ standen wissen wollte, „die der Deutschen im Ostraum harren“ (5). 41 Noch abweisender verhielt man sich nur bei der Niederlassung von Zigeunern, während über die der Juden jeweils von Fall zu Fall entschieden wurde, vgl. M. Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche C olonisationen, Leipzig 1874, 627—37 (Zu­ sammenstellung der hauptsächlichen Edikte zur Kolonisationspolitik), sowie 403 ff. (Zigeuner). 42 Vgl. zum Begriff der Nation als der „durch Bildung und Besitz herrschenden Klasse“ , wie er bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts verstanden wurde, H. Heller, Staatslehre, Leiden 31963, 162 f. 43 Eine ausführliche Darstellung des „Antagonismus preußischer und polnischer Staats- und Gesellschaftsordnung“ gibt M. Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polen­ politik, Frankfurt 21972, 33—42. 44 Ebd., 40 ff.; dort auch die Gründe dafür, daß das Verhältnis zu den beiden anderen Teilungsmächten weniger zugespitzt war. 45 Zit. nach Laubert, 18. 46 Kabinettsordre an Graf Hoym von 1796, zit. bei F. Mehring, Jena u. Tilsit, in: ders., Ges. Schriften, 6, Berlin 1965, 73, der auch einen Einblick in die skandalösen, aber gewinnträchtigen Durchsetzungsmethoden dieser Anordnung durch die leitenden Provinzialbeamten gibt.

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47 „Diese nicht zu zerstören, sondern auszubilden, wird jeder für einen Gewinn halten, der nicht mechanische Ordnung, sondern freie Entwicklung und Veredlung der eigentümlichen Natur jedes Völkerstammes für den Zweck der bürgerlichen Gesell­ schaft halt“ , schrieb der Freiherr vom Stein 1807 in der Nassauer Denkschrift als künftige Leitlinie der Polenpolitik (abgedr. bei R. C romer, Die Sprachenrechte der Polen in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Nation u. Staat 6. 1932/33, 612). 48 In Art. 3 des Vertrages hieß es: „Die Polen, die beziehungsweise der hohen contrahirenden Theile Unterthanen sind, sollen Einrichtungen, welche die Erhaltung ihrer Nationalität sichern, nach den Formen bürgerlichen Daseins zu Theile werden, die jede der Regierungen, denen sie angehören, ihnen zuzugestehen für angemessen erachten wird“ , Text und Anmerkungen dazu bei Noah, 101 f. Der Inhalt des Artikels wurde auch in die Schlußakte des Wiener Kongresses aufgenommen, ebd., 99. 49 So hieß es z. Β. in der erwähnten Denkschrift Steins, die polnische Nation „zu verbessern sei aber der Gegenstand der Bemühungen des Erziehers und des Regenten; jene Kräfte und Gesinnungen zu lenken und zu richten, nicht sie zu unter­ drücken, sei der Zweck der Regierung“ ; eine bemerkenswerte Ausnahme bildete der ganz in der Tradition Humboldts gehaltene „Sprachenerlaß“ des Kultusministers Altenstein von 1822, in dem ausdrücklich betont wurde, daß die Bildung der polni­ schen Nation nur in der polnischen Sprache geschehen könne, wolle man ihr nicht zugleich ihre „Anschauung und Begriffsweise“ nehmen. Was die deutsche Sprache an­ gehe, so genüge es, wenn die Polen „die Landesregierungssprache verstehen und sich in ihr verständlich zu machen wissen“ , Cromer, 619 f. 50 Zahlenangaben über die Verteilung ebd., 617, 619. 51 Ebd., 619 f.; dagegen behauptet Laubert (61) empört, daß die Regierung „Ostmarkenzulagen zur Polonisierung des höheren Unterrichts“ gewährt habe. 52 So der Kommandierende General in Posen, v. Grolman, in einer Denkschrift von 1832, zit. bei Broszat, 100 f. 53 Eine Schwächung der Wirtschaftskraft des Adels versuchte man mit dem Auf­ kauf adliger Güter durch Deutsche zu erreichen; die Bauern hatte man sich schon nach 1815 durch eine konsequenter als in den übrigen Provinzen durchgeführte Bauernablösung zu verpflichten gewußt. Zum gewerblichen Aufschwung in Posen: Auf 10 000 Einwohner kamen 1822 263 Gewerbetreibende, 1846 dagegen 353; die Vcrgleichszahlen für Ost- und Westpreußen betrugen 303 und 322; die Zunahme der landwirtschaftlichen Erträge und des Viehbestandes lag im gleichen Zeitraum ebenfalls weit über der des Gesamtstaats. Vgl. E. v. Bergmann, Zur Geschichte der Entwickelung deutscher, polnischer u. jüdischer Bevölkerung in der Provinz Posen seit 1824, Tübin­ gen 1883, 11—23, 276—80. 54 Vgl. dazu W. Hallgarten, Studien über die deutsche Polenfreundschaft in der Periode der Märzrevolution, München 1928, 23 ff. 55 Der 1841 eingesetzte neue Oberpräsident Graf Arnim-Boitzenberg hoffte z. B., daß „das Durchdringen des polnischen Elementes in der Provinz mit preußischem Geist und deutscher Bildung das naturgemäße Resultat eines freien Entwicklungs­ ganges sein würde“ (C romer, 630), und in einem Landtagsabschied von 1841 hieß es: „In der untrennbaren Verbindung mit Unserer Monarchie hat das Nationalgefühl der Polnischen Unterthanen Unserer Provinz Posen die Richtung seiner ferneren Ent­ wickelung, die feste Schranke seiner Manifestation zu erkennen“ (Noah, 184). Daß der Schutz von Minderheiten dort seine Grenze finden kann, wo die Loyalität gegen­ über dem Staat, dessen Bürger sie sind, fraglich ist, ergibt sich als Konsequenz auch noch aus der Definition des von der Kommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen eingesetzten Unterausschusses zur Vorbeugung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten aus dem Jahre 1950, vgl. Yearbook of Human Rights for 1950, Ν. Y. 1952, 490.

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Vgl. Anm. 53. Broszat, 97; L. Bernhard, Die Polenfrage, München 1907, 27, 31 ff.; H.-U. Wehler, Die Polenpolitik im deutschen Kaiserreich, in: Fs. T. Schieder, München 1968, 299. 68 Harro Harring in seinen 1831 erschienenen „Erinnerungen aus Warschau“ , zit. bei W. Grab/U. Friesel, Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgrün­ dung, München 1973, 121; vgl. die Analyse von A. Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München 24, Wiesbaden 1964. 59 Bei der von Fontane stets angestrebten historischen Genauigkeit kann man allerdings annehmen, daß auch das in seinem 1812/13 spielenden Roman „Vor dem Sturm“ (1878) zutage tretende freundschaftliche Verhältnis zwischen polnischen und preußischen Adligen keine Ausnahme bildete. 60 H. Heine, Über Polen, in: ders., Sämtliche Werke, 6, München 1964, 195—221. 61 K. Obermann, Deutschland 1815—1849, Berlin 31967, 80 f., wo auch die Maßnahmen der Regierungen zur Unterdrückung derselben aufgeführt sind. Hallgar­ ten (12 f.) spricht zu stark abwertend von einer „wahl- und urteilslosen Begeisterung“ , der „in keiner Weise politische Bedeutung beigemessen werden“ sollte. Die Polenbe­ geisterung äußerte sich vorwiegend in lyrischer Form, man denke an die Polenlieder von Platen, Lenau, Holtei, Grillparzer, Unland, C hamisso, Herwegh usw. Politische Kampfschriften erschienen dagegen weniger, was seine Gründe vermutlich in der scharfen Pressezensur hatte. 62 Grab/Friesel, 105 ff. 63 Siehe die detaillierte Aufgliederung bei Hallgarten, 14 ff. 64 Zusammengestellt aus verschiedenen Zitaten, vgl. u. a. G. Berndt/R. Strecker Hrsg., Polen — ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen. Geschichts­ schreibung und Schulbücher, Reinbek 1971, 24 f.; vgl. zu der politischen Funktion der antirussischen Einstellung bei deutschen Liberalen und Demokraten die Diss. von P. Jahr, Russophilie u. Konservatismus u. gesellschaftliche Funktion konservativer Rußlandliteratur in der Diskussion der deutschen Öffentlichkeit des Vormärz und der Revolution 1831 — 1852 (Berlin 1973 Ms,). 65 Ausführliche Schilderung bei S. Baske, Praxis u. Prinzipien der preußischen Polenpolitik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des deutschen Reiches, Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 9. 1963, 7—268, hier: 16 ff.; Obermann, 314 ff. 86 Dieses Zitat stammt wie die folgenden aus der Rede des Abgeordneten Wilhelm Jordan vor der Frankfurter Nationalversammlung anläßlich der Polendebatte vom 24.—26. Juli 1848, Stenograph. Bericht über die Verhandlungen der deutschen con­ stituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 2, Leipzig 1848, Nr. 34 bis 61, Sitzung vom 24. 7. 1848, 1143 ff.; Jordan war im Vormärz wegen politischer und religiöser Schriften verfolgt und aus Sachsen ausgewiesen worden; er galt noch im Frühjahr 1848 als Mann der Linken. Vgl. im übrigen die in Anm. 20 zitierten Überlegungen Bismarcks von 1847 zu der Vorstellung, einem Juden gehorchen zu sollen. 67 So F. Engels 1847 zum 17. Jahrestag des Aufstandes von 1830, MEW 4, Berlin 1959, 417. 68 Zit. von R. Blum in der Polendebatte der Frankfurter Nationalversammlung, Stenographischer Bericht, 1141. 89 So Berndt/Strecker, 28. 70 E. Bloch, Die sogenannte Judenfrage, FAZ, 14. 3. 1963, 16. 71 M. Horkheimer, Über die deutschen Juden, in: ders., Zur Kritik der instru­ menteilen Vernunft, Frankfurt 1967, 308 f. 56

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Vgl. M, Broszat, Nationalsozialistische

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Polenpolitik

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Frankfurt

75 Die Ausländerbeschäftigung ist in der deutschen Wirtschaft nicht neu, man kann ihre Entwicklung geradezu „als Spezialgeschichte der Bewegung der industriellen Reservearmee im deutschen Kapitalismus betrachten“ . Ihr Weg führt von den polni­ schen Saisonarbeitern in den preußischen Ostprovinzen und den schon seit 1880 zur Behebung des Arbeitskräftemangels im Ruhrgebiet angeworbenen Arbeitern zu einer Massenwanderung von Ost nach West — 1893 waren etwa ein Viertel aller Bergleute Zugewanderte aus den Ostprovinzen. Eine neue Qualität im Hinblick auf den Grad der politischen und ökonomischen Unfreiheit stellte die Einführung der Zwangsarbeit ausländischer Arbeiter (wiederum in der Mehrzahl Polen) im Ersten Weltkrieg und unter dem Nationalsozialismus dar, die besonders der während des Krieges wachsenden Arbeitskräfteverknappung abhelfen sollte, vgl. den zusammenfassenden Überblick bei R. Becker u. a., Fremdarbeiterbeschäftigung im deutschen Kapitalismus, Das Argument 68. 1971, 741—48, u. die dort angegebene, weiterführende Literatur. 74 Dazu vor allem M. J . Delgado, Die Gastarbeiter in der Presse, Opladen 1972. 75 F. Franz, Die Rechtsstellung der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepu­ blik Deutschland, in: E. Klee Hrsg., Gastarbeiter, Frankfurt 1972, 39. 7e So Ministerpräsident Filbinger (C DU) in seinem Regierungsbericht 1971, zit. bei Klee, Gastarbeiter als Subproletariat, ebd., 25. 77 Angesichts der verbreiteten Abneigung gegen ausländische Arbeiter als Mieter oder auch als Nachbarn werden zwangsläufig Notunterkünfte oder Sanierungsgebiete zu ihren häufigsten Wohngegenden. 78 Delgado (31, 93) errechnete aus der nordrhein-westfälischen Presse der Jahre 1966 bis 1969, daß 31 % aller Berichte über diese Ausländer derartige Sensations­ meldungen enthielten, obwohl durch amtliche Zählungen mehrfach ihre Unterreprä­ sentanz bewiesen wurde. 78 Horkheimer, 316. 80 Schwarzbuch: Ausländische Arbeiter, S. Geiselberger Hrsg., Frankfurt 1972, 199.

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Kontinuität und Diskontinuität der Judenfrage' im 19. Jahrhundert Zur Entstehung des modernen Antisemitismus Von REINHARD RÜRUP

Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Ge­ sellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen die­ ser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Dis­ kussion heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. Man ist sich einig dar­ über, daß es trotz einer scheinbaren räumlichen und zeitlichen Universalität der Judenfeindschaft seit hellenistischer Zeit keine Kontinuität eines ,ewigen' Antisemitismus gibt, daß vielmehr die 'religiös und wirtschaftlich motivierte, durch den einzigartigen Minderheitsstatus der Juden bedingte Judenfeind­ schaft der vorbürgerlichen abendländisch-christlichen Welt deutlich vom Anti­ semitismus des 19. und 20. Jahrhunderts unterschieden werden muß. Allerdings sind die historisch-systematischen Voraussetzungen und Ursa­ chen, Entstehung und C harakter dieses modernen Antisemitismus weit weniger geklärt, als es bei einem flüchtigen Blick auf einzelne Forschungsergebnisse zu­ nächst scheinen mag. Während Massing und Pulzer die „Vorgeschichte“ bzw. „Entstehung“ des politischen Antisemitismus in Mitteleuropa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ansetzen, spricht Sterling von den „Anfängen“ des poli­ tischen Antisemitismus im deutschen Vormärz und entdeckt Hertzberg schließ­ lich die „Ursprünge“ des modernen Antisemitismus im Denken der französi­ schen Aufklärung1. Auch hinsichtlich dessen, was das qualitativ Neue im mo­ dernen Antisemitismus ist, gibt es eine Fülle von Aspekten, die jeweils unter­ schiedlich akzentuiert werden, ohne daß eine eindeutige Gewichtung zu er­ kennen ist: die Säkularisierung des christlichen Judenhasses, die Entwicklung einer totalitären antisemitischen Rassentheorie, der nationalistische Kultur­ antisemitismus, die politische Organisation antisemitischer Bewegungen, die Instrumentalisierung des Antisemitismus in den allgemeinen politischen Aus­ einandersetzungen, die Lösung des Antisemitismus von tatsächlichen Minder­ heitsproblemen und Gruppenkonflikten, der manichäische C harakter des Anti­ semitismus durch Hypostasierung der ,Judenfrage' zum Kernproblem des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens, der ,Rückfall' hinter die durch Aufklärung und bürgerlich-liberale Bewegung erkämpften Positionen2.

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Insgesamt ist die moderne Forschung durch die wachsende Tendenz charak­ terisiert, Antisemitismus nicht länger isoliert, sondern im Zusammenhang ge­ samtgesellschaftlicher Entwicklungen und Probleme zu interpretieren3. Der Ausgangspunkt der neueren Antisemitismusstudien ist in der Regel nicht mehr die Situation der Juden, sondern sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Antisemitismus möglich machen. Im Vordergrund des Interesses steht die so­ ziale und politische Funktion des Antisemitismus, stehen Manipulation und Instrumentalisierung antisemitischer Strömungen zugunsten anders gearteter, von der Judenfrage' völlig unabhängiger Interessen. Die weithin akzeptierte Grundannahme dieses Forschungsansatzes ist die These, daß der Antisemitis­ mus nicht — wie es seinem Selbstverständnis entsprechen würde — durch eine Judenfrage' ins Leben gerufen worden sei, sondern daß vielmehr umgekehrt erst der Antisemitismus die moderne Judenfrage' geschaffen habe4. Hinzu kommt die weitere Grundannahme, daß es Konflikte und Krisen in der Ge­ sellschaft gibt, die sich einer Lösung ohne grundlegende Systemänderungen ent­ ziehen und daher bei den jeweils Herrschenden ein Bedürfnis nach Ver­ schleierung der Ursachen der Mißstände und Kanalisierung und Ablenkung der Unzufriedenheit auf ,Sündenböcke' entstehen lassen5. Freilich läßt dieser Forschungsansatz die Frage offen, warum denn gerade die Juden als ,Sün­ denböcke' ausgesondert wurden, wenn es keine Judenfrage' gab, an die solche manipulierten antisemitischen Bewegungen anknüpfen konnten6. Ohne die erheblichen Fortschritte zu leugnen, die durch die Betonung des manipulativen und instrumentalen C harakters des Antisemitismus erzielt wor­ den sind, scheint es doch notwendig, der Entwicklung der ,Judenfrage' in der bürgerlichen Gesellschaft größere Aufmerksamkeit zu schenken, als es bisher üblich ist, wenn man die historischen Dimensionen und die systematischen Zu­ sammenhänge des modernen Antisemitismus nicht unzulässig verkürzen will . Die nachfolgenden Überlegungen sollen dazu einen Beitrag liefern, indem in ihnen versucht wird, das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft Mittel­ europas, d. h. in erster Linie Deutschlands, zu den Juden vom späten 18. Jahrhundert bis zur Krise der 1870er Jahre in seinen Grundzügen genauer zu bestimmen7. I. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die These, daß erst mit dem Be­ ginn des bewußt vorangetriebenen Transformationsprozesses von der ständisch­ feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert eine Judenfrage' entstanden ist. Jahrhundertelang waren die Juden unterdrückt und isoliert, gehaßt und verachtet worden8. Der christlichen Bevölkerung galten sie in der Regel als ein von Gott verdammtes, sittlich verkommenes Volk, dessen wucherische Ge­ schäftspraktiken eine Plage für jedes Land bedeuteten; die Fürsten benutzten sie als Objekt und Instrument ihrer Finanz- und Ausbeutungspolitik. Die Be­ ziehungen zwischen den Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt waren seit dem Mittelalter ganz auf den ökonomischen Bereich eingeschränkt. Da den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Juden das zünftige Handwerk und der ordentliche Handel verschlossen und der Erwerb von Grund und Boden untersagt waren, widmeten sie sich fast ausschließlich dem Trödel- und Hausierhandel und dazu dem Geld- und Kre­ ditgeschäft. In diesem Sektor übernahmen sie Funktionen, die innerhalb der ständisch-feudalen Gesellschaft von kaum jemand anderem wahrgenommen wurden9. Ihr Minderheitscharakter war dadurch zugleich religiös und ökono­ misch geprägt: Ein Jude war nicht nur der einzige Nichtchrist in einer christ­ lichen Gesellschaft, sondern auch der Prototyp des Trödlers und Geldhändlers in einer agrarisch-handwerklichen, statischen und nicht auf Gewinn ausgerich­ teten Wirtschaft. Ihre rechtliche Stellung war höchst ungesichert: Sie waren gegen hohe Abgaben temporär ,geduldete' Untertanen, standen außerhalb der ständischen Gliederung der Gesellschaft und lebten in sozialer und kultureller Isolierung unter besonderen ,Judenrechten'. Die ,Judenpolitik' der Fürsten und Stände beschränkte sich auf Zulassung, finanzielle Ausbeutung und Aus­ weisung der Juden; Angriffe auf Leib und Leben der Juden waren selten ge­ worden. Eine prinzipielle Änderung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen wurde weder von den Juden erwartet, noch von der christlichen Gesellschaft in Betracht gezogen. Die soziale Existenz der jüdischen Minder­ heit galt der Mehrheit als ,lästig' und zugleich unveränderlich: Man konnte die Juden schlimmstenfalls über die Landesgrenzen abschieben, man konnte sie aber nicht ändern. Die Stellung der Juden als eine aus der ständischen Ge­ sellschaft ,ausgegrenzte' religiöse und wirtschaftliche Minderheit schien ein für alle Mal fixiert, dem geschichtlichen Wandel entzogen. Es gab Judenord­ nungen' und ,Judenpolitik', aber es konnte unter diesen Voraussetzungen keine ,Judenfrage' geben. Die Juden bildeten kein Problem, das einer grund­ sätzlichen Lösung zu bedürfen und offen zu sein schien. Das änderte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution gab es plötzlich eine ,Judenfrage', die ihren Aus­ druck fand in einer 1781 von Dohm in Berlin ausgelösten, breiten literari­ schen Diskussion über die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ , in Akade­ miepreisfragen (Metz 1787), in staatlichen Reformkommissionen (Baden, Preu­ ßen, Frankreich, Toscana u. a.) und in ersten Reformedikten (Österreich 1782)10. Die überlieferte jüdische Existenz erschien nun mit einem Mal proble­ matisch, eine tiefgreifende Änderung im Verhältnis der Juden zur christlichen Gesellschaft wurde für nötig und zugleich auch für möglich erklärt. Der An­ stoß dazu ging nicht von den Juden aus, auch nicht von einem plötzlichen, unerklärbaren Philosemitismus. Entwicklungen innerhalb des Judentums waren allerdings insofern von Bedeutung, als sich an sie bestimmte Erwartungen der­ jenigen knüpften, die nun eine Judenfrage' aufwarfen. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Vorgänge: einmal die Herausbildung einer jüdischen Fi­ nanzaristokratie, einer schmalen, ökonomisch einflußreichen Schicht seit dem 17. Jahrhundert, die die potentielle wirtschaftliche Bedeutung der Juden re­ präsentierte11; zum anderen die Bildung einer ebenfalls sehr schmalen kul­ turellen Oberschicht, die die geistige Isolierung des Judentums durchbrach und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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aktiven Anteil am aufklärerischen Bildungsprozeß nahm12. In beiden Fällen handelte es sich zunächst nur um Randerscheinungen, die nichts daran änderten, daß die Masse der Juden weiterhin arm und ungebildet war, sie ließen aber nun auch im aschkenasischen Judentum Mitteleuropas Entwicklungsmöglich­ keiten sichtbar werden, die bis dahin den sephardischen Juden in Bordeaux, Amsterdam und London vorbehalten schienen, deren wohlhabende und kulti­ vierte Oberschicht zu den Trägern und Prototypen des Handelskapitalismus der vorindustriellen Zeit zählte und auch ohne rechtliche Gleichstellung längst weitgehend assimiliert und integriert worden war. Ursache und Triebkraft der um 1780 einsetzenden Versuche, die Verhält­ nisse der Juden grundlegend neu zu ordnen, war der sich beschleunigende Transformationsprozeß von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft, war die Hinwendung zu einer bewußten Politik des ge­ sellschaftlichen Wandels13. Unter den Vorzeichen des ,aufgeklärten Absolu­ tismus' wurde in zahlreichen Staaten eine aktive Wirtschafts- und Gesellschafts­ politik entwickelt, die sich am Merkantilismus und teilweise auch schon an der Freihandelslehre orientierte. Ihr Ziel war, den Theoretikern und Praktikern mehr oder weniger deutlich bewußt, die Ausbildung einer bürgerlichen Gesell­ schaft ohne die Schranken von Ständen, Korporationen und Kirchen, gestützt auf die Freiheit des Individuums und des Eigentums, getragen vom ökonomi­ schen Fortschritt und der freien Konkurrenz der gesellschaftlichen Kräfte. Es entsprach dabei den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Mit­ teleuropas, daß als Motor und Regulator des Transformationsprozesses der Staat — als bürokratischer Wohlfahrtsstaat — angesehen wurde. Nicht ein selbst­ bewußtes Handels- oder Finanzbürgertum, sondern ein aufgeklärt-liberales Beamtentum war Initiator und für lange Zeit Träger der bürgerlichen Eman­ zipationsbewegung — was der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Mitteleuropa das spezifische Gepräge gab. Im Rahmen einer solchen Politik war es unvermeidlich, auch den Platz der Juden neu zu bestimmen: Die Judenfrage' stellte sich als die Frage nach der Stellung und Funktion der Juden in der zu realisierenden bürgerlichen Gesellschaft. Populationistische Theorien und ausgeprägt antikorporative Tendenzen der Reformer bauten ebenso wie etwa die beginnende Kapitalisierung der Landwirtschaft in Ost­ und Norddeutschland die Widerstände gegen eine Einbeziehung der Juden in die Gesellschaft ab und lenkten den Blick auf die mögliche ,Nutzbarmachung' der Juden, die Einbeziehung ihrer potentiellen Handels- und Finanzkapazität in die neue Wirtschaftspolitik. Auch den Juden wurde nun eine von Natur aus gleiche Fähigkeit wie allen anderen Menschen zuerkannt, nützliche Glieder der Gesellschaft zu sein. Ihre gegenwärtige Existenz erschien nicht länger als Aus­ druck einer unveränderlichen Natur, sondern als das Ergebnis ihrer Geschichte, als das Resultat von Haß, Verfolgung, Unterdrückung und Isolierung. Erst die verfehlte Judenpolitik' der Vergangenheit hatte, so argumentierte man nun, die Juden geschaffen, die zum Gegenstand des Hasses und der Verach­ tung ihrer christlichen Umwelt geworden waren; eine Änderung dieser Poli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tik, eine Veränderung der rechtlichen und sozialen Bedingungen jüdischer Exi­ stenz, würde daher auch die Juden ändern. Ohne Ausnahmegesetze, die ihre ,Ausgrenzung' aus der christlichen Gesellschaft fixierten, würden auch sie als Individuen in die allgemeine Bürgergesellschaft aufgehoben werden. II. Die ,Judenfrage' der bürgerlichen Gesellschaft wurde als Emanzipa­ tionsfrage gestellt, als Frage nach der Möglichkeit einer gleichberechtigten Ein­ beziehung der Juden in die entstehende neue Gesellschaft14. Das Ziel der Be­ strebungen war die volle Integration der jüdischen Minderheit, war die Um­ wandlung des Judentums zur Konfession, die in einem säkularisierten Staat ohne öffentliche Relevanz sein würde. Daß diese Integration möglich und wünschenswert war, bildete den Kerngedanken aller Reformer. Unterschied­ liche Auffassungen gab es dagegen über die Mittel und Wege dahin. Unbe­ stritten war, daß an die Stelle der Sonderrechte und Rechtsbeschränkungen der Juden die Gleichheit der Rechte und Pflichten mit den übrigen Bürgern treten mußte. Über die Durchführung dieser ,Emanzipation' aber gab es ver­ schiedene Vorstellungen. Im Mitteleuropa vertraten nahezu alle Theoretiker und Praktiker der Judenemanzipation das Konzept einer stufenweisen, all­ mählichen Emanzipation, einer möglichst engen Koppelung von Emanzipation und Assimilation. Nach einer ersten Teilemanzipation, die den Juden den Weg in die bürgerliche Gesellschaft öffnete, sollte jede weitere Rechtsgewährung vom jeweils erreichten Grad der Assimilation bzw. ,Normalisierung' der Juden ab­ hängig sein. Nur ein solches System von Vorgabe und Kontrolle schien die erwünschte ,Verschmelzung' der Juden mit den C hristen zu gewährleisten. Dieses Konzept bedeutete natürlich zugleich, daß die Emanzipation eine Auf­ gabe des Staates, d. h. konkret der Bürokratie, sein mußte, da allein der Staat in der Lage sein würde, einen langwierigen kollektiven Erziehungsvorgang zu planen und zu kontrollieren. Genau an diesem Punkt wurde das aufklärerisch-bürokratische Emanzipa­ tionskonzept von der Französischen Revolution entscheidend verändert. Ob­ schon zögernd und nicht ohne Widerstände auch im Lager der bürgerlichen Revolution, wurde im Herbst 1791 allen französischen Juden die volle und uneingeschränkte Gleichstellung gesetzlich zugestanden. Während in den Jah­ ren vor der Revolution kaum irgend jemand in Europa an eine sofortige volle Emanzipation zu denken gewagt hatte, konnte man sich in der Nationalver­ sammlung den Konsequenzen der revolutionären Prinzipien und dem Anspruch der Verfassung nicht entziehen. Man schob schließlich alle pragmatischen Er­ wägungen beiseite und traf bewußt eine prinzipielle Entscheidung. Damit gab es in Europa künftig zwei Konzeptionen für die Emanzipation der Juden: eine aufklärerisch-bürokratische und eine revolutionär-liberale bzw. eine deut­ sche und eine französische. Während man sich in Frankreich mit einem ein­ maligen Akt der Emanzipation begnügte und ,bürgerliche Verbesserung', As­ similation und Integration dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte über­ ließ, hielt man in Deutschland an der Vorstellung eines staatlich gelenkten Er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ziehungsprozesses fest, der durch die volle Emanzipation erst seine abschlie­ ßende Krönung finden sollte. Das Vertrauen, das man in Frankreich der inte­ grierenden Kraft der bürgerlichen Gesellschaft entgegenbrachte, setzte man in Deutschland auf den Staat als den Agenten des Fortschritts. Bemerkenswert ist, daß weder in Deutschland noch in Frankreich die je spezifische Konzeption voll durchgehalten wurde. In Frankreich bedeutete das Dekret Napoleons von 1808 einen klaren Bruch mit der revolutionären Eman­ zipationskonzeption: Auch dort griff nunmehr der Staat regulierend ein, in­ dem er unter dem Vorwurf des Wuchers die rechtliche Sonderstellung der Ju­ den erneuerte und ihre Aufhebung von einer vorher nachzuweisenden ,Bes­ serung' abhängig machte15. Wenn auch dieses Dekret nur zehn Jahre lang in Kraft war, so kam ihm doch entscheidende Bedeutung insofern zu, als dadurch der Prozeß des sozialen Ausgleichs, der Zeit und Geduld erforderte (zumal vermehrte soziale Spannungen in einer Übergangszeit geradezu unvermeidlich waren) abrupt unterbrochen wurde und alte und neue Vorurteile gegen die Juden durch den Eingriff des Staates gleichsam offiziell beglaubigt wurden. In Deutschland wie in Frankreich galt das Napoleonische Dekret jahrzehnte­ lang als schlagendes Argument gegen eine zu rasche Gleichstellung der Juden. In Deutschland blieb die Politik der stufenweisen, allmählichen Emanzipa­ tion fast drei Generationen lang beinahe völlig unbestritten. Auch die Libe­ ralen der vormärzlichen Kammern machten sich diese Konzeption fast aus­ nahmslos zu eigen: Der pragmatisch orientierte Reformliberalismus des deut­ schen Vormärz scheute hier wie auf anderen Gebieten vor jeder prinzipiellen Entscheidung zurück. Immer wieder versuchte man in Übereinstimmung mit den Regierungen die bereits erzielten Fortschritte im Assimilationsprozeß der Juden festzustellen, um danach die Möglichkeit weiterer Rechtsgewährungen zu bemessen. Selbst die Revolution von 1848/49 brachte nicht überall im Deutschen Bund die volle Gleichstellung, und wo sie durch Verfassung oder Gesetz ausgesprochen worden war, wurde sie in der Regel nach dem Scheitern der Revolution widerrufen oder wenigstens in der Praxis weitgehend zurück­ genommen16. Zum Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung kam es erst, als sich im Verlaufe der 50er und 60er Jahre der wirtschaftliche und in begrenztem Umfang auch der politische Liberalismus durchsetzte. Im Zusammenhang mit den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Reformen kam es schließlich ohne größere Widerstände auch zur vollen rechtlichen Gleichstellung der Ju­ den: durch die österreichische Verfassung von 1867, durch Gesetzgebungen der süddeutschen Staaten seit 1861, durch das Emanzipationsgesetz des Nord­ deutschen Bundes von 1869 und schließlich durch die Reichsgesetzgebung vom April 1871. In dieser Schlußphase war endlich auch die so lange zäh festge­ haltene deutsche Emanzipationskonzeption aufgegeben worden: Denn die Gleichstellung wurde nicht ausgesprochen, weil man den Assimilations- und Integrationsprozeß für vollendet gehalten hätte, sondern weil man aus grund­ sätzlichen Erwägungen Rechtsungleichheiten auf der Basis von Religionsunter­ schieden nicht länger für tragbar hielt und im Zuge der allgemeinen Reformen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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auch die Judenfrage' endlich vom Tisch haben wollte. Die Statistiken wurden beiseite geschoben — es war der allgemeine Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft, der den definitiven Abschluß der Judenemanzipation erforderlich machte. Überblickt man den Verlauf der Emanzipation im ganzen, so wird deutlich, daß man von einem Zeitalter der Judenemanzipation sprechen kann, von einem klar abgrenzbaren Zeitraum zwischen etwa 1780 und 1870. Das gilt auch, wenn man über den deutsch-mitteleuropäischen Bereich hinausblickt. Die vereinzelten Gleichstellungen von Juden in den amerikanischen Kolonien (Surinam Act 1665, Plantation Act 1740) können dabei ebenso wie die Gleich­ stellung der Juden bei der Gründung der Vereinigten Staaten außer Betracht gelassen werden, da sie ohne Einfluß auf die europäische Entwicklung blieben; auch von dem gescheiterten Versuch, den Juden 1753 in England durch Gesetz die individuelle Naturalisation zu ermöglichen, gingen keine wesentlichen An­ stöße aus17. Erst ab 1780 wurde die Judenfrage' zum Gegenstand theoreti­ scher Auseinandersetzungen und praktischer Politik, ab 1791 für rund zwei Jahrzehnte unter dem beherrschenden Einfluß der französischen Emanzipa­ tionsbestrebungen. Die unter französischer Herrschaft außerhalb Frankreichs durchgesetzten Emanzipationsakte (in Oberitalien, im Herzogtum Warschau oder im Königreich Westfalen) waren jedoch, abgesehen von den Niederlan­ den, nicht von Dauer. Erste Schritte der Emanzipation wurden in fast allen Staaten im früheren 19. Jahrhundert getan, der Abschluß aber ließ vielfach auch nach 1848 noch auf sich warten. Die Daten für Preußen-Deutschland und Österreich sind bereits genannt. 1870 wurde dann die Emanzipation der Juden in Italien abgeschlossen. Ein Jahr später kam es auch in Großbritannien, wo es seit 1830 eine Emanzipationsdebatte gegeben hatte, zur endgültigen Gleichstellung (allerdings waren die rechtlichen und sozialen Einschränkungen der Juden hier niemals so gravierend wie in Mitteleuropa). 1874 wurde durch die neue Bundesverfassung auch in der Schweiz die volle Emanzipation ausge­ sprochen. Den krönenden Abschluß dieser Entwicklung bot schließlich der Ber­ liner Kongreß von 1878, auf dem von den europäischen Großmächten — ent­ sprechend den Bemühungen zahlreicher jüdischer Organisationen — die recht­ liche Gleichstellung der Juden in den neuen südosteuropäischen Staaten durch­ gesetzt wurde18. Es fehlte danach nur noch Rußland, das in den 60er Jahren die Rechte seiner jüdischen Bewohner in einigen Punkten erweitert hatte, von einer wirklichen Emanzipation aber noch weit entfernt war19. Dieses Zeitalter der Judenemanzipation ist zugleich, vor allem in Deutsch­ land, die Zeit der bürgerlich-liberalen Bewegung, des Aufstiegs und der Aus­ formung der bürgerlichen Gesellschaft, der Durchsetzung der kapitalistisch­ industriellen Produktionsweise, der Etablierung liberaler Normen und Insti­ tutionen, der Ausbildung des Nationalstaates und der Entwicklung einer sä­ kularisierten, national geprägten Kultur. Dieser Prozeß vollzog sich nicht ohne Widersprüche und Krisen, er war weder unangefochten noch gleichmäßig im Tempo, aber er prägte die Geschichte dieses Zeitraums, drückte allen anderen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Entwicklungen seinen Stempel auf. Die deutsche Entwicklung ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß nicht ein zur Herrschaft gelangtes Bürgertum die bürgerliche Gesellschaft realisierte, sondern ein Staatswesen, das sich in erster Linie auf eine feudale Aristokratie und eine bürgerliche Bürokratie stützte. Die bürgerlich-liberale Bewegung wurde durch einen Klassenkompro­ miß zwischen Aristokratie und Bürgertum geprägt und befand sich, noch ehe sie ihre eigenen politischen Ziele erreicht hatte, bereits in der Defensive gegen­ über einer demokratisch-sozialistischen Bewegung. Der Durchbruch der Indu­ strialisierung zwischen 1850 und 1873, der Abschluß der liberalen Wirtschafts­ und Sozialreformen und die Gründung des Nationalstaates bezeichnen in Deutschland in praktisch-politischer Hinsicht den Höhepunkt und zugleich auch den Abschluß des Zeitalters der bürgerlichen Emanzipation. Die Judenemanzipation war ein Teil dieses allgemeineren Prozesses, sie war in ihren Problemstellungen, ihrem Tempo und ihren Resultaten abhängig vom Entwicklungsgang der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht die Entwicklungen in­ nerhalb des jüdischen Lagers, nicht die Argumente der Emanzipationsfür­ sprecher und auch nicht die Äußerungen der Judenfeindschaft, die nie völlig verstummten, entschieden über den Verlauf der Judenemanzipation, sondern die Erfolge und Niederlagen der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. So lange sich die bürgerliche Bewegung im Aufstieg, in der historischen Offen­ sive befand, so lange war die ,Judenfrage' Emanzipationsfrage. Auch wenn Liberale und vormärzliche Demokraten zögerten, die unbedingte Gleichstel­ lung auszusprechen, blieb doch die Emanzipation und Integration stets das un­ bezweifelte Ziel ihrer Politik. Und selbst unter den Gegnern der Emanzipation herrschte im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation die Erwartung vor, daß die Emanzipation der Juden zwar verzögert, aber langfristig nicht verhindert werden könne. III. Es ist nun freilich nicht zu übersehen, daß der Abschluß der Emanzipa­ tionsgesetzgebung nur für eine sehr kurze Zeit die Illusion schuf, die bürger­ liche Gesellschaft habe ihre Judenfrage' ein für alle mal gelöst. Fast ohne zeitlichen Abstand trat im Deutschen Reich eine antisemitische Bewegung auf den Plan, die die Judenfrage' neu und anders zu stellen versuchte — und die damit insofern erfolgreich war, als um 1880 niemand in Deutschland mehr daran zweifeln konnte, daß es wieder eine Judenfrage' gab, die in den all­ gemeinen politischen Auseinandersetzungen der Zeit eine Rolle spielte. Das wirft einerseits und in erster Linie die Frage auf nach den Änderungen in der gesamten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Situation, die eine solche Entwicklung überhaupt möglich machten, und zwingt andererseits zu einer Überprüfung der Annahme, daß die Emanzipation der Juden tatsächlich erfolgreich abgeschlossen worden war. Die Frage nach Erfolg oder Mißerfolg der Judenemanzipation mag kaum abschließend zu beantworten sein, sie muß aber gestellt werden, wenn man die Entstehung des Antisemitismus, der J u ­ denfrage' des späteren 19. Jahrhunderts, richtig in den Griff bekommen will. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Es gilt daher, sich zunächst einige der Schwierigkeiten der bürgerlichen Ge­ sellschaft, ihre Judenfrage' befriedigend zu lösen, zusammenfassend zu ver­ deutlichen. Als außerordentlich problematisch erweist sich bei näherer Analyse die in Mitteleuropa eingeschlagene Politik der stufenweisen, allmählichen Emanzi­ pation. Sie hielt für die gesamte Dauer des Prozesses trotz aller Fortschritte im einzelnen prinzipiell an einem Unterschied zwischen Juden und C hristen in bürgerlicher Hinsicht fest. Damit bedeutete jede partielle Emanzipation zu­ gleich eine Bestätigung der fundamentalen Ungleichheit, eine Verfestigung der überlieferten Vorstellungen über einen qualitativen Unterschied zwischen Ju­ den und C hristen auch im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation20. Die Emanzipation der Juden wurde nicht — gemäß dem bürgerlichen Grundsatz der Rechtsgleichheit aller Menschen — als Anspruch und Notwendigkeit akzep­ tiert, sondern dem politischen Kalkül von Regierungen und Parlamenten un­ terworfen. Die schrittweise, zögernde und oft in sich widersprüchliche Eman­ zipationspolitik begünstigte in starkem Maße die ohnehin verbreitete Auffas­ sung, daß die Emanzipation ein Entgegenkommen seitens der christlichen Ge­ sellschaft, kein Recht, sondern ein Vorschuß auf künftige Leistungen bzw. eine Belohnung für soziales Wohlverhalten sei. Die Emanzipation sollte verdient werden, indem die Juden die Erwartungen der Mehrheit erfüllten. Betrachtete man die Sache so, dann mußte die Emanzipation auch jederzeit widerrufbar erscheinen, sobald sich die Umstände änderten oder die Juden sich der zuge­ standenen Rechte ,unwürdig' erwiesen. Die Emanzipation der Juden stand damit, selbst nach ihrem formalen Abschluß, unter der permanenten Drohung der Revision, und es ist kein Zufall, daß in den 1870er Jahren in Deutschland auch außerhalb des Lagers der eigentlichen Antisemiten immer wieder von den getäuschten Erwartungen' der christlich-deutschen Majorität die Rede war. Die Emanzipationspolitik selber hatte eine Einstellung gefördert, die ihre Ziele langfristig gefährdete. Verdeutlichen läßt sich diese Problematik hinsichtlich der Bemühungen um eine Änderung der jüdischen Berufs- und Erwerbsverhältnisse. Im Sinne des angestrebten ,Normalisierungsprozesses' galten die größten Anstrengungen des Staates und auch jüdischer Organisationen dem Versuch, die Juden verstärkt dem Handwerk und der Landwirtschaft zuzuführen21. Das war — obschon Erfolge gar nicht einmal ausblieben — ein höchst problematisches Unterfangen in einer Zeit, in der gerade diese Wirtschaftsbereiche von strukturellen und zeitweise auch konjunkturellen Krisen betroffen waren. Die kapitalistische Wirtschaftsstruktur, die liberale Wirtschaftspolitik, die Industrialisierung und die zunehmende Mobilität der Gesellschaft begünstigten in hohem Maße den Handel und die nichthandwerkliche Produktion, und es war kaum zu erwar­ ten, daß ausgerechnet in der jüdischen Bevölkerung — die durch ihre tradi­ tionelle Erwerbstätigkeit relativ günstige Voraussetzungen hinsichtlich der neuen Entwicklungen hatte — sich ein gegenläufiger, langfristig zukunftsloser Trend durchsetzen würde. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der beginnenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Verstädterung, die aus naheliegenden Gründen ebenfalls die Juden in ungleich höherem Grade erfaßte und damit neue Disproportionalitäten schuf. Beide Entwicklungstendenzen führten zwar nicht zu einer objektiven Verschärfung von Gruppenspannungen, aber sie belasteten das Verhältnis von Juden und Christen dadurch, daß ausdrücklich und immer wieder neu andere Erwartun­ gen an die Emanzipation geknüpft worden waren. Es gab keinen zwingenden Grund für eine völlig uneingeschränkte soziale Homogenität von Minderheit und Mehrheit — durch die Politik der sozialen ,Normalisierung' als Vorbe­ dingung der Gleichstellung wurden jedoch Ansprüche geweckt, die sich auch nach dem unter anderen Voraussetzungen erfolgten Abschluß der Emanzipa­ tionsgesetzgebung nicht einfach abschütteln ließen. Es war daher kein Wunder, daß eine der ersten Forderungen der Antisemiten in den 70er Jahren die Wie­ dereinführung der ,Judenstatistik' war. Die Emanzipation der Juden war, wie wir gesehen haben, ein Teilphäno­ men des Übergangs von der ständisch-korporativ verfaßten Gesellschaft mit ihrer statischen Wirtschaftsordnung zur entstehenden industriell-kapitalisti­ schen Konkurrenzgesellschaft. Die vielfältigen strukturellen Probleme, die sich für weite Bevölkerungsschichten während dieser Übergangszeit stellten, ver­ banden sich nun mit den besonderen Schwierigkeiten, die durch das Auftauchen jüdischer Konkurrenten in ihnen vorher verschlossenen Berufen wie auch in ihnen zuvor versperrten Landschaften und Gemeinden verursacht wurden. Häufig erschienen die Juden dadurch als die wahren Repräsentanten der bür­ gerlichen Gesellschaft, und zwar gerade dort, wo man sich zu den Benachteilig­ ten und Opfern dieser Entwicklung zahlte. Der Jude wurde zur Symbolfigur der bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft — freilich nicht bei ihren Trägern, sondern bei ihren Kritikern, den bedrohten Gesellschaftsschichten auf der einen Seite, den radikalen (demokratischen oder sozialistischen) Theoreti­ kern auf der anderen Seite22. Das Bild des jüdischen ,Wucherers' der ständi­ schen Gesellschaft verwandelte sich in das des ,Kapitalisten' der bürgerlichen Gesellschaft, antijüdische und antikapitalistische Ressentiments potenzierten sich gegenseitig. Dabei kann nicht bestritten werden, daß die Juden in der Tat als Gruppe erhebliche Startvorteile beim Übergang zur kapitalistischen Wirt­ schaft hatten und daß sie insbesondere den vorbürgerlichen Klassen und Schichten wirtschaftlich zunächst deutlich überlegen waren. Allerdings wurde dies von den Zeitgenossen eben nicht als ein Übergangsproblem begriffen, son­ dern als permanente Bedrohung mißverstanden. Die wirtschaftlichen Nöte der in die Defensive geratenen Schichten wurden darüber hinaus allzu gern auf die Emanzipation der Juden zurückgeführt statt auf die Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. War somit einerseits die Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die unerläßliche Voraussetzung der Ju­ denemanzipation, so bedeutete andererseits die Tatsache, daß die Juden in eine entstehende Konkurrenzgesellschaft eingegliedert werden mußten, eine erheb­ liche Belastung des Emanzipationsvorgangs. Sie waren von vornherein po­ tentielle ,Sündenböcke' für wirtschaftliche Krisen23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Der nahezu ein Jahrhundert währende Emanzipationsprozeß wirkte allein schon durch seine Dauer einer befriedigenden Lösung der ,Judenfrage' ent­ gegen. Die soziale Integration einer ungeliebten, auch unbequemen Minderheit bedurfte der Stetigkeit und Ungestörtheit, um die aktuellen Reibungen zu überwinden und die alten Vorurteile abzubauen. Statt dessen war die Juden­ frage' drei Generationen lang Gegenstand leidenschaftlicher öffentlicher Dis­ kussionen, parlamentarischer Debatten und staatlicher Maßnahmen24. Sie stand im Scheinwerferlicht des Öffentlichen Interesses und gewann zugleich mehr und mehr den Anschein eines zeitlosen Problems. Die antijüdischen Stereotypen der Vergangenheit gerieten nicht in Vergessenheit, sondern wurden immer wie­ der neubelebt. Das traditionelle ,Bild' des Juden verstellte auch noch gegen Ende des Emanzipationszeitalters nicht wenigen den Blick auf die jüdische Wirklichkeit25. Angesichts der Tatsache, daß es hundert Jahre lang eine J u ­ denfrage' gab — als ein reales Problem, nicht als ein Phantasiegebilde von Ju­ denfeinden —, kann es kaum überraschen, daß sie unter veränderten gesell­ schaftlichen und politischen Gegebenheiten wenige Jahre nach ihrem scheinbar endgültigen Abschluß erneut aufgeworfen werden konnte. Das Grundproblem der Judenemanzipation bestand darin, daß sie nicht in eine bürgerliche Revolution oder eine konsequente Gesamtreform — zu der man in Preußen immerhin einen Anlauf unternommen hatte — eingebettet war. Nicht nur die Emanzipation der Juden, sondern auch die bürgerliche Emanzipation insgesamt vollzog sich stufenweise, in einer Fülle von Einzel­ vorgängen, die nicht oder nur notdürftig koordiniert waren. Weder waren die politischen und sozialen Reformen auf einander abgestimmt, noch faßten auch nur in Teilbereichen — etwa Gemeindeordnung und Gewerbeordnung — die Maßnahmen hinreichend ineinander. Die Judenfrage' war nur eins unter vie­ len Emanzipationsproblemen und sicherlich nicht das wichtigste. Das Argument mancher Liberalen war daher nicht von der Hand zu weisen, daß eine Eman­ zipation der Juden einfach nicht sinnvoll sei, so lange die ,Deutschen' und die ,C hristen' nicht emanzipiert, die Ziele der bürgerlichen Emanzipation nicht allgemein durchgesetzt seien. In der Praxis aber wurde dessen ungeachtet der Versuch unternommen, die Judenemanzipation in einer nicht bzw. nur in Teil­ bereichen emanzipierten Gesellschaft durchzuführen. Das brachte zusätzliche Spannungen gegenüber anderen, vorübergehend zurückbleibenden oder rascher voraneilenden Gruppen. Die Tatsache, daß längst überfällige Reformen in anderen Bereichen noch ausstanden, verstärkte auch die Widerstände gegen die Gleichstellung der Juden, die unter diesen Umständen leicht als Privile­ gierung interpretiert werden konnte. Je länger die Rechtsgleichheit für die Juden verzögert wurde, um so größer wurden außerdem in manchen Schich­ ten die an ihre Gewährung geknüpften Befürchtungen. Die mit den Jahren wachsende Diskrepanz zwischen der steigenden wirtschaftlichen, zum Teil auch kulturellen Bedeutung vieler Juden und ihrer fortdauernden minderen Rechts­ stellung wirkte sich nicht nur zugunsten der emanzipatorischen Tendenzen aus, sondern erweckte auch Vorstellungen von jüdischer ,Macht' und von der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung der ,letzten Schranken'. In einer in sich widersprüchlichen, nur partiell realisierten bürgerlichen Gesellschaft gab es eine ständige Versuchung, die Emanzipation nicht als Gleichstellung zu ak­ zeptieren, sondern als ,Machtergreifung' der Juden zu denunzieren26. In Deutschland darf auch die konfessionelle Spaltung in diesem Zusammen­ hang als erschwerendes Moment nicht übersehen werden. So lange Protestan­ ten oder Katholiken gegenüber der jeweils herrschenden Konfession nicht gleichberechtigt waren, war es kaum denkbar, daß die Juden gleiche Rechte erhalten konnten. Eine Emanzipation der Juden vor der ,Emanzipation der Christen' hätte unter diesen Umständen in der Tat eine Privilegierung be­ deutet27. Schließlich stellte auch die territoriale Zersplitterung Deutschlands eine Belastung für die Emanzipationspolitik dar. Denn Vorurteile — um deren Überwindung es ja nicht zuletzt ging — können nicht in kleinen und kleinsten Territorien überwunden werden: Die rechtliche Gleichstellung in einem ein­ zelnen Territorium kann keine ungestörte Integration einleiten, wenn in den Nachbarländern die Juden weiterhin als ungleich und von minderer bürger­ licher Qualität betrachtet werden28. Auch in der Geschichte der Judeneman­ zipation erweist sich das Fehlen des Nationalstaates im Zeitalter der bürger­ lichen Bewegung als ein Hemmnis des sozialen Fortschritts. Das Ziel der Emanzipationspolitik war die gesellschaftliche Integration der Juden. Diese Integration aber war den aufgeklärten Beamten ebenso wie den liberalen Politikern nur als Assimilation vorstellbar. Man erwartete, ausge­ sprochen oder unausgesprochen, von der Emanzipation die Auflösung der so­ zialen Identität der Juden. Man verlangte von ihnen nicht gerade, daß sie Christen würden, aber man rechnete doch darauf, daß sie aufhören würden, Juden zu sein29, ,Dejudaisierung' war ein in diesem Sinne gern gebrauchtes Schlagwort30. Im bürgerlich-liberalen Denken der Emanzipationszeit gab es noch keinen Ansatz für eine Minderheitenpolitik, die auf die dauernde Existenz einer gleichberechtigten Minderheit abgezielt hätte. Alle Gruppen und Korpo­ rationen sollten sich auflösen in die freien Individuen einerseits und die ,große Harmonie' der Gesellschaft bzw. des Staates andererseits. Schon während der Französischen Revolution war klargestellt worden, daß man zwar die Juden als Individuen emanzipieren wolle, nicht aber das Judentum, nicht die Juden als religiös-soziale Gruppe. Trotz aller Auflösungserscheinungen innerhalb des Judentums und trotz aller Assimilationstendenzen bildeten aber die Juden auch am Ende des Emanzipationszeitalters noch immer eine soziale Gruppe mit einer unübersehbaren Gruppenidentität. Man hatte versucht, den Begriff Jude' zugunsten von ,Israelit' oder ,Staatsbürger mosaischen Glaubens' in Vergessenheit geraten zu lassen31, aber das Judentum schien schließlich doch immer noch mehr als eine Konfession zu sein. Selbst im Lager der Liberalen kamen Zweifel auf, ob ein Jude wirklich ausschließlich durch seine Religion definiert sei, ob die Judenfrage' tatsächlich, wie man immer wieder behauptet hatte, allein eine Frage der religiösen Toleranz oder Intoleranz sei. So stellte sich zum Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung auch unter diesem Aspekt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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eine latente Gefährdung der Emanzipation heraus. Denn angesichts der Tat­ sache, daß die Befürworter der Emanzipation immer wieder die Erwartung ausgesprochen hatten, daß die Juden sozusagen ,spurlos' in der deutschen Staats- und Kulturnation aufgehen würden, lag es nahe, die erhalten geblie­ bene Gruppenidentität als ,Staat im Staate' oder ,Fremdkörper' in der natio­ nalen Kultur anzugreifen32. Faßt man alle diese Überlegungen zusammen, so dürfte deutlich sein, daß die im Aufstieg befindliche bürgerliche Gesellschaft zwar in einem langwieri­ gen und mühsamen Prozeß die Emanzipation zu einem formalen Abschluß gebracht, ihre ,Judenfrage' aber nicht wirklich befriedigend und dauerhaft gelöst hat. Die Emanzipationskonzeption und die jahrzehntelange Verzögerung der rechtlichen Gleichstellung waren nicht zufällig, sondern Ausdruck der all­ gemeinen Schwierigkeiten dieser mitteleuropäischen bürgerlichen Gesellschaft, ihre Probleme zu lösen. Sie spiegelten die etatistisch-bürokratische, pragmati­ sche und kompromißorientierte Politik der bürgerlichen Bewegung in Deutsch­ land, die Problematik eines auf Teilmodernisierungen hin angelegten Entwick­ lungsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft, der nicht mit einem klaren Herr­ schaftsanspruch des Bürgertums verbunden war. Es kann unter diesen Umstän­ den kaum bezweifelt werden, daß auch nach Abschluß der Emanzipationsge­ setzgebung das Schicksal der Juden noch immer erheblichen Belastungen aus­ gesetzt war. Allzu lange hatte man gezögert, eine klare, prinzipienfeste Hal­ tung einzunehmen, allzu wenig hatte man getan, um überlieferte antijüdische Stereotypen abzubauen, und schließlich hatte man allzu viele illusionäre Er­ wartungen erweckt und von der jüdischen Minderheit ,Dankbarkeit' im Sinne einer völligen Anpassung an Denk- und Verhaltensweisen der Mehrheit er­ wartet. Die rechtliche, vor allem aber die soziale Stellung der Juden war of­ fensichtlich noch für längere Zeit in hohem Maße krisenanfällig. Freilich wäre es falsch, eine Art historischer Zwangsläufigkeit etwa in der Art anzunehmen, als ob der moderne Antisemitismus der 1870er Jahre mit Notwendigkeit auf einen solchen Emanzipationsprozeß habe folgen müssen. Es ist durchaus denkbar, daß eine längere Periode ruhiger innerer Entwicklung unter der Herrschaft bürgerlich-liberaler Prinzipien und auf der Basis anhal­ tender wirtschaftlicher Prosperität zu einem dauerhaften Ausgleich, zu einer definitiven Lösung der ,Judenfrage' im emanzipatorischen Sinne geführt hätte — und der mangelnde Erfolg judenfeindlicher Publizistik, das rasch nachlas­ sende öffentliche Interesse an der ,Judenfrage' in den wenigen verbleibenden Jahren bis zum Ausbruch der großen wirtschaftlichen Krise können als Argu­ ment in dieser Richtung gelten. Gerade diese Bedingungen eines ,Ausreifens' der Emanzipation aber fehlten in Deutschland. Nicht nur die Wirtschaft ge­ riet in eine ungeahnt schwere Krise, auch die bürgerlich-liberale Bewegung kam zum Stillstand, verlor ihre politischen Positionen und büßte darüber hin­ aus die Dominanz ihrer politischen und sozialen Normen in der öffentlichen Meinung ein. Es zeigte sich jetzt, daß die Lösung der Judenfrage' durch die bürgerliche Gesellschaft zu spät erfolgt war, daß ihr nun die Zeit mangelte, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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durch die sie die ihr noch fehlende Stabilität hätte gewinnen können. Die ge­ samtgesellschaftliche Entwicklung — nicht die Entwicklung der Juden — wurde für das weitere Schicksal der Judenfrage' entscheidend. IV. 1873 begann die sog. ,Gründerkrise', die allerdings nicht auf Deutsch­ land beschränkt, sondern Teil einer Weltwirtschaftskrise war, die ein Zeitalter der ,Depression' einleitete — wobei der ,depressive' C harakter der Entwick­ lung sich vor allem im Wirtschaftsklima, in den Befürchtungen und Erwar­ tungen ausdrückte, während Industrialisierung und wirtschaftliches Wachstum trotz krisenhafter Störungen und Hemmungen weiter und zum Teil in ra­ schem Tempo voranschritten. Es handelte sich um eine weltweite Überproduk­ tionskrise, ausgelöst durch Überspekulation und Bankenkrisen, die vor allem die industrialisierten bzw. in raschem Industrialisierungsprozeß befindlichen Staaten traf. Diese Krise erfaßte das Deutsche Reich stärker als andere euro­ päische Staaten; zugleich hatte sie hier, was noch wichtiger ist, die einschnei­ dendsten außerökonomischen Folgen33. In Deutschland war die Entwicklung seit 1850 durch die anhaltende, von den zyklischen Krisen von 1857 und 1866 kaum erschütterte Hochkonjunktur der ,Industriellen Revolution' ebenso wie durch eine langdauernde agrarische Hochkonjunktur bestimmt. Seit 1869 kam es zu einer immer stärkeren Über­ hitzung der Konjunktur, die in eine durch wirtschaftspolitische Entscheidungen, nationales Hochgefühl und Kapitalüberfluß forcierte Überspekulation einmün­ dete, in den ,Gründungs'-Boom der frühen 70er Jahre. So war der Einbruch der Krise in Deutschland schärfer, der Schock stärker, da der Optimismus größer, die Erwartungen ungemessener als in anderen Staaten gewesen waren. Hinzu kam, was oft übersehen worden ist, daß in Deutschland in besonderer Weise die konjunkturelle Krise mit einer strukturellen Krise zusammentraf, die in den Jahren der Hochkonjunktur lediglich überdeckt oder auch bewußt nicht zur Kenntnis genommen worden war. Die Ausbildung der liberal-kapi­ talistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war nur zögernd und wi­ dersprüchlich vollzogen und erst am Vorabend der Krise zu einem gewissen Abschluß gebracht worden. Die durch die Änderung der ländlichen Sozialver­ fassung, durch Gemeindereformen, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit aufge­ worfenen sozialstrukturellen Probleme waren daher bei Krisenausbruch noch keineswegs gelöst. Andererseits waren durch den im internationalen Vergleich relativ späten Beginn der ,Industriellen Revolution' in Deutschland das Tempo und die soziale Durchschlagkraft der Industrialisierung außerordentlich hoch. Die fortgeschrittene industrielle Technik und die langfristig positive konjunk­ turelle Trendperiode bewirkten ein rapides wirtschaftliches Wachstum und forcierten den Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft. Mit der Gesdiwindigkeit des Industrialisierungsprozesses aber wuchsen auch die ,sozialen Kosten', verschärften sich die Übergangsprobleme der im Umbau befindlichen Gesellschaft. Das gilt vor allem für die ,Anpassung' der Sozial­ struktur, aber auch der politischen Verfassung, des Herrschaftssystems an die 26 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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veränderten Verhältnisse, und es gilt in noch höherem Maße für die sozial­ psychische Bewältigung des stürmischen sozialen Wandels. Mit dem Zusam­ menbruch der industriellen Konjunktur und stärker noch mit dem Beginn der strukturellen Agrarkrise seit 1876 traten diese Probleme offen zu Tage34. Der durch den ,Gründerkrach' ausgelöste Schock reichte weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus: im gewerblichen Mittelstand, der zwar Spekulationsverluste erlitten hatte, in seiner Produktion zunächst aber kaum beeinträchtigt war, bei den festbesoldeten Beamten und auch in der Land­ wirtschaft, die in den ersten Jahren noch nicht unmittelbar betroffen war. Das Krisenbewußtsein übertraf in vielen Bereichen bei weitem die aktuellen Kri­ seneinbrüche. Unsicherheit und Pessimismus griffen um sich, eine allgemeine Unzufriedenheit beherrschte die öffentliche Meinung. Symptomatisch war die Reaktion auf den Mißerfolg der deutschen Industrieprodukte auf der Welt­ ausstellung in Philadelphia 1876, als der Slogan ,billig und schlecht' auf die deutschen Ausstellungsstücke gemünzt wurde35. Die ,Stimmungen und Ver­ stimmungen' (K. Hillebrand) artikulierten sich in einer vagen Kapitalismus­ Kritik, die sich in erster Linie gegen den ,Geist' des Kapitalismus, den ,Tanz um das goldene Kalb', das Finanz- und Handelskapital richtete. Die Markt­ und Produktionsmechanismen des industriell-kapitalistischen Systems blieben weithin unbegriffen. Für die politischen Folgen der Krise war es von grundlegender Bedeutung, daß der bürgerliche Liberalismus in den 60er Jahren zwar zur herrschenden Ideologie, nicht aber zur allein ausschlaggebenden politischen Kraft geworden war. Es gab trotz Verfassung und allgemeinem Wahlrecht nur eine Beteiligung der Bürger an der Macht im Staat, nicht aber einen bürgerlichen Staat. Die Konsistenz und Dominanz der vorbürgerlichen Elemente im Herrschaftssystem der deutschen Staaten und des Reiches war in den Jahren der wirtschaftlichen Hochblüte und der Gründung des nationalen Staates unter liberalen Parolen nur verdeckt worden. Mit dem Ausbruch der Krise zeigte sich, daß das liberale Bürgertum im Konfliktfall noch immer nicht stark genug war, um sich gegen Monarchie und Aristokratie durchzusetzen. Die Krise traf im politischen Be­ reich eine nur in ihren Oberflächenphänomenen liberale Gesellschaft. Nur des­ halb war es möglich, die wirtschaftliche Krise erfolgreich für einen politischen Umschwung gegen den Liberalismus auszunutzen. Unterstützt wurde dieser Umschwung durch einen Funktionswechsel des Na­ tionalismus. Auch in Deutschland war der Nationalismus ursprünglich ein In­ strument der bürgerlichen Emanzipation im Kampf gegen die ständisch-feu­ dale Gesellschaft gewesen, freilich von Anfang an zugleich geprägt durch die Wendung gegen den äußeren Feind36. Das Scheitern der bürgerlichen Revolu­ tion ließ dann seine Bedeutung für den materiellen Fortschritt des Volkes in den Vordergrund treten und beförderte das Auseinandertreten von nationalen und liberalen Bestrebungen. Mit der Verwirklichung des Nationalstaates durch die Macht und die Interessen des preußischen Staates wurde schließlich der Nationalismus zum innenpolitischen Programm. Von den konservativen Kräf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ten adaptiert, wurde er zur Staatsideologie, zum Kampfinstrument gegen die sogenannten ,Reichsfeinde', zur Waffe auch gegen liberale bürgerliche Forde­ rungen. Dieser aggressive konservative Nationalismus war die Reaktion auf eine nationale Identitätskrise der 70er Jahre, auf den Umschlag von nationaler Euphorie zu Gesellschafts- und Kulturkritik, auf die Erfahrung der Differenz von erträumter nationaler Harmonie und realen sozialen Spannungen, Kon­ flikten und Krisen. Er verschärfte die Krisenmentalität und beförderte die Umsetzung allgemeiner Unzufriedenheit in politische Entscheidungen gegen den bürgerlichen Liberalismus. Angesichts dieser wirtschaftlichen und politischen Gesamtentwicklung kann es kaum überraschen, daß in den 70er Jahren erneut eine ,Judenfrage' aufge­ worfen wurde — nun allerdings mit antiliberaler und antiemanzipatorischer Stoßrichtung. Das politische und soziale Klima dieser Krisenjahre bot gera­ dezu klassische Voraussetzungen für die Suche nach ,Sündenböcken', die das Unverstandene erklärbar und das Ungewollte revidierbar machen konnten. Zwar richteten sich die Aggressionen auch gegen den politischen Katholizis­ mus, die sozialistische Arbeiterbewegung und nationale Minderheiten, aber dennoch wurde ein erheblicher Teil der kollektiven Unlustgefühle seit der Mitte der 70er Jahre und vor allem seit 1879 auf die Juden abgelenkt. Seit 1874/75 gab es, eingeleitet durch O. Glagau und die ,Gartenlaube', eine an­ schwellende Literatur der antijüdisch akzentuierten Gesellschafts- und Kul­ turkritik. 1875 wurde in den Pressekampagnen der konservativen ,Kreuz­ zeitung' und der katholischen Zeitungen antijüdisches Ressentiment bewußt politisch instrumentalisiert und zur Diffamierung der herrschenden Politik benutzt. 1879 — das Jahr, in dem der Begriff ,Antisemitismus' in Umlauf kam37 — brachte mit der radikalen, rassistischen Publizistik W. Marrs, mit den Massenversammlungen der ,Berliner Bewegung' des Hofpredigers Stoecker und mit dem durch Treitschke ausgelösten ,Antisemitismusstreit' der Intellek­ tuellen den ersten Höhepunkt der neuen judenfeindlichen, antisemitischen Agitation, die sich fortsetzte in der Gründung antisemitischer Organisationen und der Unterschriftensammlung für eine ,Antisemiten-Petition', die im No­ vember 1880 eine ausführliche Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus aus­ löste, in der nicht wenige Konservative und Zentrumsvertreter im Sinne Stoeckers und Treitschkes argumentierten38. Wenn den Juden in diesen Jahren der Krise eine ,Sündenbock'-Funktion übertragen werden konnte, so bedarf das noch einer weiteren Erklärung. Denn es ist eins, daß eine Gesellschaft ein Bedürfnis nach ,Sündenböcken' hat, und es ist ein anderes, daß bestimmte Gruppen — die Juden waren ja nicht die ein­ zigen — diese Funktion tatsächlich übernehmen. Es können nicht beliebig ,Sündenböcke' ernannt werden, sondern es bedarf dazu besonderer Voraus­ setzungen. Im Falle der Juden sind diese Voraussetzungen vor allem durch Ablauf und Ergebnisse des Emanzipationsprozesses gegeben. Der aufsteigen­ den bürgerlichen Gesellschaft war es in Deutschland nicht gelungen, ihre J u ­ denfrage' als Emanzipationsproblem völlig zu lösen, eine gesicherte Integra26*

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tion zu verwirklichen; durch die sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Aus­ einandersetzungen hatten sich alte und neue Stereotypen der Judenfeindschaft verfestigt, war das Bewußtsein einer Judenfrage' tief verwurzelt worden, galt die Stellung der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft als problematisch und nicht selbstverständlich. Die Aspekte der Emanzipationspolitik und ihrer Re­ sultate, an die eine antisemitisch gestellte Judenfrage' anknüpfen konnte, sind in unserer Analyse des Emanzipationsprozesses im einzelnen herausgearbeitet worden. Daneben ist noch einmal zu betonen, daß die noch vorhandenen grup­ penspezifischen Merkmale der Juden eine unleugbare Nähe zu den in der Krise so heftig beklagten Zügen der kapitalistischen Gesellschaft aufwiesen. Sie waren weit überproportional im Bankwesen, im Handel und der Presse ver­ treten, sie waren in weit höherem Maße als andere Bevölkerungsgruppen in den Städten, vor allem den großen Städten zu Hause, sie nutzten energisch die Aufstiegsmöglichkeiten der neuen Gesellschaft und repräsentierten in be­ sonderem Maße die neue räumliche und soziale Mobilität, sie waren ihrer Situation entsprechend Wortführer der Traditionskritik und einer säkulari­ sierten Kultur und Gesellschaft — sie waren, nimmt man alles in allem, als so­ ziale Gruppe unbestreitbar Repräsentanten des liberal-kapitalistischen Wirt­ schaftssystems und der bürgerlichen Moderne. Dieser Gruppencharakter war unproblematisch, so lange die wirtschaftliche Entwicklung ungebrochen posi­ tiv war und die bürgerlich-liberalen Normen die öffentliche Meinung be­ herrschten. Die Disproportionalitäten gegenüber der christlichen Bevölkerung waren nicht von der Art, daß sie von sich aus eine neue Judenfrage' hätten auslösen können. Unter den Vorzeichen einer gesamtgesellschaftlichen Krise und eines tiefgreifenden ideologischen Klimawechsels reichten sie jedoch aus, einer einmal aufgeworfenen Judenfrage' den notwendigen Schein von Be­ rechtigung zu leihen und zugleich die Judenfrage' ins Zentrum der gesamten Gesellschafts- und Kulturkritik treten zu lassen. Bei der durch den Antisemitismus geschaffenen ,Judenfrage' der 70er Jahre handelte es sich nicht um eine Wiederaufnahme der älteren, emanzipatori­ schen ,Judenfrage', sondern um einen qualitativ neuen Sachverhalt. Der mo­ derne Antisemitismus ist nicht nur chronologisch, sondern auch sachlich ein postemanzipatorisches Phänomen. Er findet die rechtliche Gleichstellung als ein Faktum vor und wendet sich gegen das emanzipierte Judentum. Seine ,Judenfrage' ist nicht mehr die Frage nach der Emanzipation der Juden, son­ dern — wie es in vielen Wendungen heißt — die Forderung der „Emanzipation von den Juden“ 39. Die gemeinsame Basis für die Antisemiten aller Schattie­ rungen ist die Behauptung, daß das emanzipierte Judentum eine Macht dar­ stelle, gegen die man sich in einem Abwehrkampf befinde. In seinem Selbst­ verständnis ist der moderne Antisemitismus zunächst eine Abwehrbewegung gegen jüdischen Einfluß und Herrschaftsanspruch. Es geht nicht mehr um die Eingliederung der unterprivilegierten Juden in die bürgerliche Gesellschaft, sondern um die Zurückweisung einer angeblichen Beherrschung dieser Gesell­ schaft oder zumindest gewisser Bereiche dieser Gesellschaft durch die Juden40. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Radikale und gemäßigte Richtungen des Antisemitismus unterscheiden sich dadurch, daß die einen sich mit der Forderung nach einer sozialen ,Eindäm­ mung' des jüdischen Einflusses ohne Revision der rechtlichen Gleichstellung begnügen, während die anderen nicht nur eine angebliche ,Fehlentwicklung' kritisieren, sondern Ausnahmegesetze fordern und prinzipiell jede Möglichkeit der Integration bestreiten. Insgesamt hatten sich die Frontstellungen in der ,Judenfrage' grundlegend verändert: Während vor dem Abschluß der Eman­ zipationsgesetzgebung die Befürworter der Emanzipation und Integration in der Offensive waren und judenfeindliche Polemiken kaum mehr als Rückzugs­ gefechte darstellten, gingen in den 70er Jahren die antisemitischen Kräfte zum Angriff über und drängten die Verfechter der bürgerlichen Gleichberechtigung in die Defensive. Im Zeitalter der Emanzipation waren die judenfeindlichen Äußerungen — in denen sich nahezu alle einzelnen Bestandteile der späteren antisemitischen Doktrinen nachweisen lassen — fast durchweg konkret auf die Juden und ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft bezogen worden. Man hatte die Rolle der Juden in der Gesellschaft für verderblich erklärt, aber man hatte in der Regel nicht vorgegeben, daß man durch eine bestimmte Lösung der Judenfrage' andere, allgemeinere Probleme lösen könne, daß eine Erkennt­ nis der ,Judenfrage' eine Erkenntnis der politischen und sozialen Grundfragen der jeweiligen Gegenwart ermögliche. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre nun wurde der radikale Antisemitismus zur ,Weltanschauung', und auch der gemäßigte Antisemitismus der Konservativen wies zumindest eine starke Ten­ denz zur ,Weltanschauung' auf. Antisemitismus ist mehr als ein antijüdisches Programm, mehr als eine judenfeindliche Bewegung. Er zielt nicht nur auf die Aufhebung der Emanzipation und die soziale ,Ausgrenzung' der Juden (der systematische Massenmord ist, obwohl durch manche Formulierung nahege­ legt, in jener Zeit noch nicht vorstellbar), sondern glaubt, über die ,Juden­ frage' die Gesamtheit der aktuellen Probleme lösen zu können. Er offeriert ein Erklärungsmodell für die nicht verstandenen Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft und suggeriert damit zugleich Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise der Gegenwart. Er bie­ tet das Zerrbild einer Gesellschaftstheorie und ist mit seinem Versuch einer ,einfachen' Erklärung der Verhältnisse Ausdruck des Theoriedefizits der in die Krise geratenen bürgerlichen Gesellschaft41. Dabei tritt der manichäische Ansatz des Antisemitismus bereits deutlich hervor, indem nicht nur die Welt in ,Gut' und ,Böse' eingeteilt, sondern die Verwirklichung des ,Guten' allein durch die Zerstörung und Vernichtung des ,Bösen' vorgestellt wird42. Dieser Ansatz findet sich nicht nur bei den radikalen Antisemiten, sondern in abge­ schwächter Form auch bei denjenigen, die etwa die ,Zersetzungserscheinungen' in Kultur und Sitte durch das Aufwerfen der Judenfrage', durch die Zurück­ drängung jüdischen Einflusses glaubten angemessen bekämpfen zu können. Im Rassismus bekommt diese Auffassung dann — ebenfalls noch in den 70er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Jahren — ihre scheinwissenschaftliche Grundlage, die die totalitären Tenden­ zen des Antisemitismus entscheidend verstärkt43. Judenverfolgungen vergangener Jahrhunderte hatten ebenso wie antijüdi­ sche Publikationen und Petitionsbewegungen im Zeitalter der Emanzipation stets auch politische Funktionen, indem sie von den Ursachen vorhandener Mißstände ablenkten und inhaltlich unbestimmte Proteststimmungen sich ge­ gen die Juden entladen ließen. In den 70er Jahren wurde nun die Juden­ frage' ganz bewußt als ein Instrument in den politischen Auseinandersetzun­ gen eingesetzt. Konservativen wie Katholiken ging es nicht in erster Linie um die Lösung einer wie immer gearteten Judenfrage', sondern um die Mobili­ sierung von Massen und die Diffamierung des Gegners in ihrem Kampf gegen das herrschende liberale System44. Die Funktion eines solchen manipulierten und instrumentalisierten Antisemitismus war eindeutig: Er ermöglichte eine Kritik an den gegebenen Verhältnissen, ohne deren reale Grundlagen in Frage zu stellen; er attackierte den ,Geist' des Kapitalismus, das Bank- und Börsen­ wesen, nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung selber; er bedrohte Per­ sonen statt Institutionen; er äußerte eine radikale Kritik an den Mißständen eines bekämpften Systems, ohne mit revolutionären Konsequenzen zu drohen. Die Absicht und Funktion des konservativen und klerikalen Antisemitismus der 70er Jahre war die Unterstützung einer antiliberalen, konservativen Sy­ stemänderung; der Angriff auf die Juden war eine Form der zulässigen, ge­ fahrlosen Opposition im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat. Daneben ent­ stand gegen Ende der 70er Jahre ein selbständig organisierter, radikaler Anti­ semitismus, der sich als eine antiliberale und antisozialistische, zugleich aber auch als eine antikonservative und antiklerikale Bewegung verstand. Hier handelte es sich um eine Protestbewegung, für die der Antisemitismus nicht nur Mittel im politischen Kampf, sondern Inhalt und Zweck ihres Kampfes war. Diese radikale Haltung brachte ihr das Mißtrauen und die Ablehnung der konservativen Kräfte und der Regierung ein; das änderte aber nichts dar­ an, daß auch der selbständig organisierte Antisemitismus die objektive Funk­ tion hatte, die realen Ursachen gesellschaftlicher Spannungen und Konflikte zu verschleiern und potentielle revolutionäre Energie zu kanalisieren und abzu­ leiten. Wahlerfolge stellten sich — in begrenztem Umfang — für diesen Anti­ semitismus erst gegen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ein, aber selbst dann war er niemals stark genug für eine selbständige Politik45. Entscheidend dafür, daß der Antisemitismus der 70er Jahre zu mehr als einem beliebigen, folgenlosen Randphänomen der Krise werden konnte, ist die Tatsache, daß die ,Gründerkrise' in Deutschland einen säkularen Trend­ wechsel nicht nur in der Konjunktur, sondern auch in der Politik einleitete. Ausgelöst durch die wirtschaftliche Depression, geriet die bürgerliche Gesell­ schaft in Deutschland in ihre erste fundamentale Krise. Bis zum Beginn der 70er Jahre war die bürgerlich-liberale Bewegung trotz aller ihrer Niederlagen und Kompromisse stets im Angriff gewesen. Die Geschichte erschien als eine Geschichte des Fortschritts und die Gesellschaft freier, mündiger Bürger als ihr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ziel. Konservative Theorie und Politik war geprägt durch die Abwehr eines als übermächtig empfundenen bürgerlichen Zeitgeistes', und über allen kon­ servativen Positionen lag der Schatten der Resignation. Auch die politischen Gegner standen unter dem Druck der bürgerlichen Postulate von 1789. Das alles änderte sich nun unter dem Einfluß der Krise. Der ökonomische Opti­ mismus, der zur Übernahme liberaler Wirtschaftstheorien bis weit ins konser­ vative Lager hinein geführt hatte, wurde jäh zerstört; hier wirkte sich lang­ fristig die durch den Druck des amerikanischen und russischen Getreides ver­ ursachte strukturelle Agrarkrise besonders nachhaltig aus. Die durch den kon­ junkturellen Zusammenbruch verschärften sozialen Spannungen vermehrten die Zweifel an der Weisheit liberaler Gesetzgebungspolitik. Hinzu kamen die ungelösten Integrationsprobleme des eben erst geschaffenen Nationalstaates, kam die Aushöhlung liberaler Prinzipien durch Kulturkampf und Sozialisten­ gesetz. Dieser Krise der liberalen Politik standen auf der anderen Seite das unge­ brochene politische System des auf das monarchische Prinzip, Heer und Büro­ kratie gestützten Obrigkeitsstaates und die unerschütterte soziale Vorrang­ stellung der feudalen Aristokratie, vor allem in Preußen, gegenüber, die nun ihre C hance sahen, sich vom Druck der bürgerlich-liberalen Bewegung zu be­ freien. Bismarcks Bruch mit den Liberalen und deren Wahlniederlagen 1878/ 79 bedeuteten daher mehr als eine nur vorübergehende Änderung der politi­ schen Konstellation. Sie markierten das Ende einer Epoche — einer Epoche, die zwar nicht durch die Herrschaft des politischen Liberalismus charakteri­ siert war, aber dennoch eine Epoche der aufsteigenden, sich entfaltenden bür­ gerlich-liberalen Gesellschaft gewesen war. Es handelte sich 1878/79 nicht um bloße Wahlniederlagen der liberalen Parteien: Das gesamte Wert- und Nor­ mensystem des Liberalismus war ins Wanken geraten. Es schien nun plötzlich eine offene Frage zu sein, ob die Weltgeschichte wirklich die Geschichte des liberalen Fortschritts sei oder ob nicht vielmehr der bürgerliche Liberalismus nur die Ideologie einer ganz bestimmten Epoche gewesen sei, die nun von einem postliberalen Zeitalter abgelöst werde. Das Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation war abgeschlossen, und zwar ohne daß die liberalen Ziele und Forderungen voll erfüllt gewesen wären; es folgte nun zunächst eine Periode der konservativen Stabilisierung der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft unter dem Primat des Obrigkeitsstaates. Wenngleich dem Antisemitismus in den entscheidenden politischen Ausein­ andersetzungen der 70er Jahre nur eine relativ geringe Bedeutung zukam, traten in ihm Tendenzen deutlicher hervor, die in anderen politischen Grup­ pierungen und Meinungen verdeckt blieben. Der politische Systemwechsel 1878/79 war begleitet von einer in unterschiedlichen Ausformungen auftre­ tenden, in ihrem Selbstverständnis postliberalen Protestbewegung gegen die Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft — gegen die Postulate der Menschen- und Bürgerrechte, gegen die liberal-kapitalistische Wirtschaftsord­ nung und gegen eine säkularisierte, traditionskritische Kultur. Die antiserm© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tische Bewegung bildete den radikalen Kern dieser Protestbewegung, die mehr und anders war als eine konservative Reaktion auf den bürgerlichen Liberalismus. Der Antisemitismus war antiliberal und antisozialistisch, ohne konservativ zu sein, er zeigte antikapitalistische Tendenzen, ohne revolutionär zu sein, er war antimaterialistisch, ohne religiös gebunden zu sein — kurz, er war eine vielfältig schillernde Anti-Bewegung, deren positive Zielsetzungen widersprüchlich und unklar waren und sich lediglich in der Forderung nach einer ,Lösung der Judenfrage' bündelten 46 . Der moderne Antisemitismus ist im Übergang von einer Epoche der bür­ gerlichen Gesellschaft zu einer neuen entstanden. In einer Gesellschaft, in der der bürgerliche Liberalismus immer mehr in die Defensive gedrängt wurde, in der demokratische und sozialistische Bewegungen unterdrückt wurden und konservative und neofeudalistische Interessen und Meinungen dominierten, hatte er seinen Platz und seine Funktion. Zwar gelang es ihm nicht, die Ge­ setzgebung entscheidend zu beeinflussen, aber er war eine soziale Tatsache, wie immer auch seine politische Bedeutung schwanken mochte. So lange das System politisch stabil blieb, der Staat unbezweifelte Autorität genoß, übte der Antisemitismus systemstabilisierende Funktionen aus, ohne seinen eigenen Zielen sichtbar näher zu kommen. Es gelang ihm jedoch, durch die Verbrei­ tung ,gemäßigter' antisemitischer Vorstellungen und Verhaltensweisen in gro­ ßen Teilen der Bevölkerung das Bewußtsein einer Judenfrage' wachzuhalten und zur gleichen Zeit die auf Vernichtung zielende rassistische Doktrin in den Sekten und Zirkeln der radikalen Antisemiten des Kaiserreichs weiter­ zuentwickeln. Beide Entwicklungen wurden in ihrem vollen Umfang erst erkennbar, als in einer neuen gesamtgesellschaftlichen Krise der bürgerliche in den faschistischen Antisemitismus umschlug.

Anmerkungen 1 P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; P. G. J . Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland u. Österreich 1867—1914, Gütersloh 1966; E. Sterling, Judenhaß. Die Anfänge des po­ litischen Antisemitismus in Deutschland (1815—1850), Frankfurt 1969; A. Hertzberg, The French Enlightenment and the Jews, Ν. Y. 1968. 2 Neben den bereits genannten Werken s. E. G . Reichmann, Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt 19692; H. Arendt, Anti­ semitism, N. Y. 1968 (= The Origins of Totalitarianism, Teil I, mit neuem Vor­ wort); A. Leschnitzer, The Magic Background of Modern Anti-Semitism, Ν. Y. 1956; J . Parkes, Antisemitismus, München 1964; u. vor allem H. Rosenberg, Mo­ derner Antisemitismus u. vorfaschistische Strömungen, in: ders., Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967, 88—117. Ergänzend noch immer die älteren Sammel­ werke: Essays on Antisemitism, Hg. K. S. Pinson, Ν. Y. 19462; Jews in a G entile World. The Problem of Antisemitism, Hg. J . G raeber u. S. H. Britt, Ν. Y. 1942. Wichtig unter den neueren Sammelwerken: Judenfeindschaft, Hg. K. Thieme, Frank­ furt 1963; Antisemitismus, Hg. H. Huss u. A. Sdiröder, Frankfurt 1965; Kirche u. Synagoge. Handbuch zur Geschichte von C hristen u. Juden, Hg. K. H. Rengstorf

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u. S. v. Kortzfleisch, 2 Bde, Stuttgart 1970. L. Poliakovs „Histoire de l'antisémi­ tisme“ (Bd. 1 ff., Paris 1955 ff.) ist noch unabgeschlossen. Zur allgemeinen Diskussion über C harakter und Funktion des Antisemitismus s. außerdem J . P. Sartre, Be­ trachtungen zur Judenfrage, in: ders., Drei Essays, Frankfurt 1966, 108—90; M. Horkheimer u. T. W. Adorno, Elemente des Antisemitismus, in: dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969, 177—217; A. Silbermann, Zur Soziologie des Anti­ semitismus, Psyche 16. 1962, 246—54; H. P. Bahrdt, Soziologische Reflexionen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus in Deutschland, in: Ent­ scheidungsjahr 1932, Hg. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1965, 133—55. 3 Wegweisend für diese Entwicklung ist Rosenbergs eindringliche und differen­ zierte Interpretation des „Antisemitismus im Zeitalter der Industrialisierung“ , in der die Entwicklung des Antisemitismus voll in die Gesamtanalyse von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik Mitteleuropas einbezogen und insbesondere der Zusammen­ hang von konjunkturellen Trendperioden, zyklischen Krisen und Antisemitismus her­ ausgearbeitet worden ist. Zur Forschungsgeschichte s. meine Skizze in: Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft III. 1970, 395—408 (mit umfangreicher Bibliographie). 4 Vgl. Sartre, 186: „Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden, und wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen.“ Diese These be­ stimmt auch die Ausgangsposition der psychoanalytischen Antisemitismusdeutungen: R. M. Loewenstein, Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt 1968; Psyche 12. 1962, 241—317 (Kongreßbericht mit Beiträgen von A. Mitscherlich, B. Grunberger, M. Wangh, W. Hochheimer u. a.); s. auch E. Simmel Hg., Anti-Semitism, Ν. Y. 1946, und die von M. Horkheimer u. S. H. Flowerman herausgegebenen „Studies in Prejudice“ , bes. T. W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, Ν. Y. 1950 (dt. gekürzt Amsterdam 1968) u. N. W. Ackermann u, M. Jahoda, Anti-Semitism and Emotional Disorder, Ν. Y. 1950. 5 Der funktionalistische Interpretationsansatz, der auch in der westlichen For­ schung eine wichtige Rolle spielt (Massing u. a.), ist in der marxistisch-leninistischen Antisemitismusinterpretation verabsolutiert worden. Der Antisemitismus wird aus­ schließlich von seiner Funktion her definiert als „feindliche Einstellung, Hetze gegen die Juden, die der Ablenkung der Volksmassen von den Mißständen der Ausbeuter­ ordnung dient“ (Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1967, 42). Vgl. dazu die Analysen von H. Görschier, Die revolutionäre Arbeiterbewegung u. ihr Verhältnis zum Antisemitismus, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig, Gesell.­ u. sprachwiss. Reihe 14. 1965, 539—51; W. Mohrmann, Antisemitismus. Ideologie u. Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1972; ganz ähnlich im Ansatz schon A. Bebel, Sozialdemokratie u. Antisemitismus, Berlin 1894. 6 So schon Reichmann, 36 ff. 7 Dabei stütze ich mich, ohne künftig hierauf im einzelnen zu verweisen, vor allem in den ersten Abschnitten auf Ergebnisse eigener früherer Studien: Die Ju­ denemanzipation in Baden, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 114. 1966, 241—300; Judenemanzipation u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: Ge­ denkschrift Martin Göhring, Hg. E. Schulin, Wiesbaden 1968, 174—99 (engl. in: Year Book of the Leo Baeck Institute 14. 1969). Anregungen für die weitere Be­ arbeitung der Thematik verdanke ich den Teilnehmern der von mir in Berlin und Berkeley abgehaltenen Seminare zur ,Judenfrage'. 8 Zur älteren Geschichte der Juden s. allg. S. W. Baron, Α Social and Religious History of the Jews, Bd. 1—14, Ν. Y. 1952—19692; für Deutschland I. Elbogen u. Ε. Sterling, Die G eschichte der Juden in Deutschland, Frankfurt 1966. 9 Vgl. die Analyse von A. Leon, Judenfrage u. Kapitalismus, München 1971; dazu auch R. Straus, Die Juden in Wirtschaft u. Gesellschaft, Frankfurt 1964. In diesem Zusammenhang ist auch die von W. Sombart (Die Juden u. das Wirtschafts­ leben, Leipzig 1911) ausgelöste Debatte über die Bedeutung der Juden für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Entwicklung des Kapitalismus zu erwähnen. Dazu auch M. Beard, Anti-Semitism — Product of Economic Myths, in: Graeber/Britt Hg., 362—401. 10 Für Frankreich liegt eine vorzügliche Sammlung der einschlägigen Materialien vor: La Révolution Française et l'émancipation des Juifs, 8 Bde, Paris 1968; da­ zu vor allem Z. Szajkowski, Jews and the French Revolutions of 1789, 1830 and 1848, Ν. Y. 1970; Hertzberg, 314—68. Für Deutschland fehlt eine vergleichbare Sammlung; reichhaltige bibliographische Daten bei V. Eichstädt, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage, I: 1750—1848, Hamburg 1938; preußische Dokumente bei I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, 2 Bde, Berlin 1912; für Öster­ reich s. R. Kestenberg-Gladstein, Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern, I, Tübingen 1969. 11 Vgl. H. Schnee, Die Hoffinanz u. der moderne Staat, 6 Bde, Berlin 1953— 1967; S. Stern, The C ourt Jew, Philadelphia 1950; F. L. C arsten, The C ourt Jews, Year Book of the Leo Baeck Institute 3. 1958, 140—56. 12 Vgl. J . Katz, Exclusiveness and Tolerance, Ν. Y. 1962; Μ. Α. Meyer, The Origins of the Modern Jew, Detroit 1967; Η. Μ. G raupe, Die Entstehung des modernen Judentums, Hamburg 1969. 13 Zu diesem Prozeß s. L. Bergeron u. a., Das Zeitalter der europäischen Revo­ lution 1780—1848, Frankfurt 1969; E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Zürich 1962; R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, Frankfurt 1970; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution, 1786—1848, Stuttgart 1967; W. Abel, Agrarkrisen u. Agrarkonjunktur, Hamburg 19662; H. Mottek, Wirtschafts­ geschichte Deutschlands, 2 Bde, Berlin 1968/692. Zum ,aufgeklärten Absolutismus' s. F. Hartung, Der aufgeklärte Absolutismus, Historische Zeitschrift 180. 1955, 15 —42. 14 Informative Skizze des internationalen Emanzipationsprozesses: S. W. Baron, Jewish Emancipation, Encyclopaedia of the Social Sciences VII. 1932, 394—99; dazu die wichtigsten Dokumente bei R. Mahler, Jewish Emancipation, Ν. Y. 1941; s. auch S. W. Baron, Étapes de l'émancipation juive, Diogène 29. 1960, 69—94, und für die erste Phase R. Mahler, A History of Modern Jewry, 1780—1815, N. Y. 1971; zur Begriffsgeschichte J . Katz, The Term Jewish Emancipation' — Its Origin and Historical Impact, in: A. Altmann Hg., Studies in 19th C entury Jewish Intellectual History, C ambridge/Mass. 1964, 1—16. Für Deutschland jetzt J . Toury, Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, Tel Aviv 1972; R. Weltsch, Aus dem Jahrhundert der Judenemanzipation, in: ders., An der Wende des neuzeitlichen Judentums, Tübingen 1972, 81—93; Rürup (Anm. 7); E. Hamburger, Juden im öf­ fentlichen Leben Deutschlands, Tübingen 1968; S. Wenzel, Jüdische Bürger u. kom­ munale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1808—1848, Berlin 1967; H. Fischer, Judentum, Staat u. Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert, Tübingen 1968; H. Krohn, Die Juden in Hamburg 1800—1850, Frankfurt 1967; H. Strauss, Pre­ Emancipation Prussian Policies Towards the Jews, 1815—1847, Year Book of the Leo Baeck Institute 11. 1967, 107—36; wichtig noch immer S. W. Baron, Die Juden­ frage auf dem Wiener Kongreß, Berlin 1920. Für Polen jetzt Α. Eisenbach, Kwestia rownó-uprawenienia Zydów w Królestwie Polskim, Warschau 1972; für England V, D. Lipman, The Age of Emancipation, in: dies. Hg., Three C enturies of Anglo­ Jewish History, C ambridge 1961, 69—106; s. außerdem die in Anm. 10 genannte Literatur. 15 Zur Politik Napoleons s. Szajkowski, 919—70 (ergänzt durch eine Bibliographie zur Judenfrage' in Frankreich 1801—1815, ebd., 971—1016); R. Anchel, Napoléon et les Juifs, Paris 1928; F. Pietri, Napoléon et les Israélites, Paris 1965. 16 Vgl. S. W. Baron, The Impact of the Revolution of 1848 on Jewish Eman­ cipation, Jewish Social Studies 11. 1949, 195—248; zur politischen Aktivität der Ju© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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den in der Revolution s. J. Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland, Tübingen 1966, 47 ff.; Hamburger, 120 ff., 170 ff. 17 Aufschlußreich hierzu T. W. Perry, Public Opinion, Propaganda, and Politics in 18th C entury England. Α Study of the Jew Bill of 1753, Cambridge/Mass. 1962. 18 N. M. G elber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongreß 1878, in: R. Weltsch Hg., Deutsches Judentum, Stuttgart 1963, 216—52. 19 Vgl. S. W. Baron, The Russian Jews under Tsars and Soviets, N. Y. 1964; L. Greenberg, The Jews in Russia, New Haven 1966. 20 In diesem Sinne argumentierte schon W. ν. Humboldt in einer Denkschrift von 1809: „denn eine allmähliche Aufhebung [der rechtlichen Ungleichheit] bestätigt die Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht aufgehobenen Punkten, ver­ doppelt gerade durch die neue größere Freiheit die Aufmerksamkeit auf die noch bestehende Beschränkung und arbeitet dadurch sich selbst entgegen“ (Ges. Schriften X, Berlin 1903, 100). Er schloß seine Kritik mit dem Satz ab: „Wie man gegen die plötzliche Gleichstellung zu furchtsam ist, so scheint man mir bei der allmäh­ lichen, welche die doppelte Gefahr des alten und des neuen Zustandes zugleich be­ stehen läßt, indem man sie sich beide zu vermindern einbildet, in der Tat zu kühn“ (104). 21 Vgl. Toury, Eintritt, 235 ff.; Rürup, Judenemanzipation, 190 ff. 22 In Frankreich formulierte z.B. P. Leroux: „. . . es ist klar, daß wir, wenn wir von Juden sprechen, den jüdischen Geist meinen, den Geist des Profits, der Gewinnsucht, des Eigennutzes, den Geist des Handels und der Spekulation, mit einem Wort, den Bankgeist“ (zit. nach E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, 45). Leroux diagnostizierte: „Auf den Feudalbaron, diesen Krieger und Zerstörer, ist der Jude gefolgt, der schlaue Ausbeuter: Krieg für Krieg, mit verschiedenen Waffen, ein jeder die seinen“ (48). 1845 erschien in Paris A. Toussenel, Les Juifs, rois de l'époque. In Deutschland schrieb K. Marx 1843 („Zur Juden­ frage“ ) : „Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der welt­ liche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Judentums? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld“ (Marx-Engels-Werke I, 1957, 372). Marx glaubte das so definierte Ju­ dentum mit dem kapitalistischen System identifizieren zu können und forderte da­ her die „Emanzipation der Menschheit vom Judentum“ , d. h. vom Kapitalismus, als Voraussetzung für eine wirkliche Emanzipation der Juden. Auch die bürgerliche Linke, etwa die badischen Demokraten, betrachtete die Juden teilweise als Symbol der von ihnen abgelehnten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. 1850 betonte R. Wagner den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und der Stellung der Juden: „Von der Wendung unserer gesellschaftlichen Entwicklung an, wo, mit immer unumwundener Anerkennung, das Geld zum wirklich Macht geben­ den Adel erhoben wurde, konnte den Juden, denen Geldgewinn ohne Arbeit, d. h. der Wucher, als einziges Gewerbe überlassen worden war, das Adelsdiplom der neueren, nur noch geldbedürftigen Gesellschaft, nicht nur nicht mehr vorenthalten werden, sondern sie brachten es ganz von selbst dahin mit“ (Das Judenthum in der Musik, Neue Zeitschrift für Musik 33. 1850, 104). 23 Die Bedeutung der langfristigen konjunkturellen Trendperioden für die Ent­ wicklung der ,Judenfrage' ist zuerst herausgearbeitet worden von A. Menes, Die Judenfrage im Lichte der Konjunkturentwicklung, Jüdische Wohlfahrtspflege u. So­ zialpolitik, N. F. 4. 1933/34, 5—15; dazu jetzt in erster Linie Rosenberg, 88 ff. 24 Die Bibliographie von V. Eichstädt verzeichnet bis 1848 über 3000 Titel zur ,Judenfrage' im deutschen Sprachraum. Im vormärzlichen Süddeutschland wurde die ,Judenfrage' auf nahezu jedem Landtag ausführlich erörtert; hinzu kamen die zahlreichen Petitionen für und gegen die Emanzipation (organisiert vom katholi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schen Klerus wurden 1850 in Bayern 80 000 und 1861 in Baden 18 000 Unterschrif­ ten gegen die Emanzipation gesammelt; sie kamen überwiegend aus Gemeinden und Landesteilen, in denen keine Juden ansässig waren). Für die Forderung nach Aus­ nahmegesetzen und sozialer Diskriminierung der Juden in den 70er Jahren kann die Tatsache nicht hoch genug veranschlagt werden, daß es eben in den 60er Jahren noch zahlreiche ,Judengesetze' in Deutschland gab. 25 1840 klagte G. Riesser: „Was man Verwerfliches und Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte, — Zerstörendes und Vaterlandsfeindliches im Gebiet der Poli­ tik, Unsittliches in dem der Moral oder der Ästhetik, dem C hristentum und allen Heiligen Feindliches in der Religion — das . . . wurde den Juden oder jüdischem Wesen, jüdischem Hasse, jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit' usw. zuge­ schrieben“ (Ges. Schriften, IV, Frankfurt 1868, 133). 1880 bezeichnete der Abgeord­ nete Dr. Meyer aus Breslau es im preußischen Abgeordnetenhaus als eine „Tatsa­ che, daß man den Namen ,Jude' überhaupt schon als ein Brandmal gebraucht, daß man sagt, man sei mit dem Menschen, den Bestrebungen, den Tendenzen, den Ge­ danken desselben fertig, sobald man behauptet hat, der Mann sei ein Jude, sei ein Semit“ (Stenographische Berichte . . ., Haus der Abgeordneten, Bd. 1, 1881, 255). Zur Entwicklung der antijüdischen Stereotypen in der Literatur s. E. K. Bramstedt, Aristocracy and the Middle-C lasses in Germany. Social Types in German Literature 1830—1900, C hicago 19642, 132—49; G. L. Mosse, The C risis of German Ideology, Ν. Y. 1964, 126—45; ders., Germans and Jews, Ν. Y. 1970, 34—60, 61—76. 26 Schon 1843 wurde von einer „Herrschaft der Juden in der deutschen Tages­ presse“ gesprochen (Toury, Orientierungen, 11); ähnlich auch 1845 im badischen Landtag (Rürup, Baden, 283). In der bayerischen II. Kammer wurde 1846 argumen­ tiert: „Ein Volk, welches so viele Individuen zählt die Fabriken, Bankier-Häuser und Landgüter, ja Rittergüter besitzen, kann unmöglich so unterdrückt sein, denn sonst hätten sie sich solche Reichtümer nicht erwerben können“ (Rürup, Judeneman­ zipation, 195). In Baden wurden 1840 in einem die Emanzipation befürwortenden Kommissionsbericht die Befürchtungen der Bevölkerung formuliert: „Man sieht mit Angst in die Zukunft, wie diese gefürchteten Israeliten nach und nach sich in alle Gemeinde-Ämter und öffentlichen Staatsdienste eindrängen, und wie sie als Bezirks­ beamte und Richter auf eigene Weise funktionieren; ja, man ängstigt sich schon mit dem Gedanken, wie ein solcher verhaßter Israelit dereinst als Finanzminister mit den Staatsgeldern und öffentlichen Fonds schalten und walten werde“ (Rürup, Baden, 281). R. Wagner schließlich behauptete 1850: „Ganz unvermerkt ist der ,Gläubiger der Könige' zum ,König der Gläubigen' geworden, und wir können nun das Nach­ suchen dieses Königs um Emanzipation nicht anders als ungemein naiv finden, da wir uns vielmehr in die Notwendigkeit versetzt sehen, um Emanzipation von den Juden zu kämpfen. Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Weltdinge, wirklich bereits mehr als emanzipiert; er herrscht, und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor der all unser Tun und Treiben seine Kraft verliert“ (102). 27 Dieser häufig übersehene, für die Emanzipationsproblematik in Deutschland außerordentlich wichtige Aspekt bedarf noch der genaueren Untersuchung. 28 Dieser Gesichtspunkt wurde bereits auf dem Wiener Kongreß von 1815, als Österreich und Preußen sich intensiv, aber erfolglos um eine Gesamtlösung der , J u ­ denfrage' im Rahmen des Deutschen Bundes bemühten, klar ausgesprochen (vgl. Rürup, Judenemanzipation, 196 f.). 29 Die Taufe spielte im Rahmen der Emanzipationspolitik eine bemerkenswert geringe Rolle; die verbreiteten Vorstellungen von einer ,Taufepidemie' sind stark übertrieben, allerdings ist der relative Anteil der wirtschaftlichen und kulturellen Oberschicht der Juden an der Gesamtzahl der Übertritte zum C hristentum außer­ ordentlich hoch. Vgl. allgemein N. Samter, Judentaufen im 19. Jahrhundert, Berlin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1906; A. Menes, Die Taufbewegung in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts, Warschau 1929. 30 Die aus diesen Vorstellungen resultierende Intoleranz der Liberalen und Demo­ kraten ist von Sartre für die spätere Zeit nachdrücklich betont worden: der Demo­ krat „will ihn als Juden vernichten, um ihn als Menschen zu erhalten, als allgemeines abstraktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte. Auch der liberalste Demokrat ist nicht frei von Antisemitismus. Er ist dem Juden insoweit feindlich gesinnt, als dieser es wagt, sich als Jude zu fühlen“ (136). 31 Zur Begriffsgeschichte s. T. Nipperdey u, R. Rürup, Antisemitismus, in: Ge­ schichtliche Grundbegriffe, I, Stuttgart 1972, 130 ff. 32 Vgl. allgemein hierzu J . Katz, Α State within a State. The History of an Anti­ Semitic Slogan, Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities IV/ 3, Jerusalem 1969. 33 S. allg. H. Mottek, Die Gründerkrise, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966/I, 51 — 128; Rosenberg; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723; Μ. Nitzsche, Die handelspolitische Reaktion in Deutschland, Stuttgart 1905 (noch immer sehr nützlich); W. Zorn, Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Zusammen­ hänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850—1879), Historische Zeitschrift 197, 1963, 318—342; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966; Κ. Ε. Born, Wirtschaftsentwicklung u. Wirtschaftsstil im ersten Jahrzehnt nach der Reichs­ gründung, in: K.-H. Manegold Hg., Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, München 1965, 173—89; s. außerdem noch H. Bartel u. E. Engelberg Hg., Die großpreußischmilitaristische Reichsgründung 1871, 2 Bde, Berlin 1971/72; T. Schieder u. E. Deuerlein Hg., Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970; M. Stürmer Hg., Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970; G. R. Mork, Bismarck and the ,C apitulation' of German Liberalism, Journal of Modern History 43. 1971, 59—75; R. Μ. Berdahl, Conservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian G ermany, Journal of Modern History 44. 1972, 1—20. 34 Zum Problem der ,verspäteten' Industrialisierung s. allg. A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, C ambridge/Mass. 1962; zu den politisch-sozialen Folgen in Deutschland: T. Veblen, Imperial Germany and the In­ dustrial Revolution, Ann Arbor 1966; Rosenberg, 59 ff.; Wehler, 122 ff. 35 Die antisemitische Umsetzung einer solchen Kritik lag unter den gegebenen Verhältnissen nahe und wurde u. a. von A. Stoecker in seiner Rede vom 19. 9. 1879 vorgenommen: „Die Devise ,billig und schlecht' kommt zum großen Teil auf ihre [der Juden] Rechnung“ (Unsere Forderungen an das moderne Judenthum, als Flug­ blatt gedruckt). Im Reichstag wurde 1879 das modische, polemisch gebrauchte Ad­ jektiv ,semitisch' als „wohlfeil und schlecht“ bezeichnet (Nipperdey u. Rürup, 137). 36 Vgl. allg. C . v. Krockow, Nationalismus als deutsches Problem, München 1970; L. Gall, Die ,deutsche Frage' im 19. Jahrhundert, in: 1871 — Fragen an die deut­ sche Geschichte (Ausstellungskatalog, 1971), 19—52; s. auch W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, Politische Vierteljahresschrift 3. 1962, 159—186; H. Grebing, Nationalismus u. Demokratie in Deutschland. Versuch einer historisch-so­ ziologischen Analyse, in: I. Fetscher Hg., Rechtsradikalismus, Frankfurt 1967, 31— 65; T. Nipperdey, Nationalidee u. Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahr­ hundert, Historische Zeitschrift 206. 1968, 529—585; R. M. Berdahl, New Thoughts on German Nationalism, American Historical Review 77. 1972, 65—80. 37 Nipperdey u. Rürup, 137 ff.; ergänzend zur Begriffsgeschichte, allerdings mit einem abweichenden Interpretationsansatz: J . Toury, ,The Jewish Question'. A Se­ mantic Approach, Year Book of the Leo Baeck Institute 11. 1966, 85—106; s. auch A. Bein: The Jewish Parasite. Notes on the Semantics of the Jewish Problem, ebd., 9. 1964, 3—40. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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38 Zur Geschichte des Antisemitismus im Kaiserreich s. neben den bereits genann­ ten Arbeiten von Rosenberg, Massing, Pulzer und Mohrmann: K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien 1873—1900, Berlin 1927; W. Gurian, Antisemitism in Modern Germany, in: Pinson Hg., 218—65; A. Bein, Der moderne Antisemitismus u. seine Bedeutung für die Judenfrage, Vierteljahreshefte für Zeit­ geschichte 6, 1958, 340—60; H. Schleier u. G. Seeber, Zur Entwicklung u. Rolle des Antisemitismus in Deutschland 1871—1914, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9. 1961, 1592—97; K. Felden, Die Übernahme des antisemitischen Stereotyps als soziale Norm durch die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands (1875—1900), phil. Diss. Hei­ delberg 1963, MS; H.-G. Zmarzlik, Der Antisemitismus im Zweiten Reich, Ge­ schichte in Wissenschaft u. Unterricht 14. 1963, 273—86; H. M. Klinkenberg, Zwi­ schen Nationalismus u. Liberalismus, in: Monumenta Judaica, Köln 1963, 309—84; I. Fetscher, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in: Anti­ semitismus, 9—33; F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963, bes. 88 ff., 174 ff.; D. Fricke, Antisemitische Parteien 1879—1894, in: ders. Hg., Die bür­ gerlichen Parteien in Deutschland, I, Leipzig 1968, 36—40; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich, Hanno­ ver 1966, 111—40; I. Hamel, Völkischer Verband u. nationale Gewerkschaft, Frank­ furt 1967, bes. 14—122; Wehler, 470 ff.; U. Lohalm, Völkischer Radikalismus, Ham­ burg 1970, 27—76; R. Lill, Katholizismus nach 1848, in: Kirche und Synagoge, II, 358—420; E. Zechlin, Die deutsche Politik u. die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttin­ gen 1969, bes. 21—58, 516—67; W. Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Deutsches Judentum in Krieg u. Revolution 1916—1923, Hg. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1971, 409—510. 39 So 7. B. O. Glagau, Der Börsen- u. Gründungsschwindel in Berlin, I, Leipzig 18764, 344; auch die ,Germania' sprach von der „Emanzipation der C hristen von den Juden“ (vgl. Wawrzinek, 13). Ähnliche Formulierungen auch in den Reden Stoeckers oder in der sog. Antisemiten-Petition („die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft“ ) ; in diesem Sinne auch Titel und Inhalt von W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern 1879. 40 Die ,Germania' erklärte am 9./10. 9. 1875 in ihrem Leitartikel: „Der wahre ,Cuhurkampf' nicht gegen die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Juden­ schaft, aber gegen den C hristentum und deutsches Wesen bedrohenden jüdischen Geist und gegen die unserem nationalen Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend notwendig geworden und glücklicherweise auch schon weithin populär.“ 1876 schrieb C . Frantz: „Wer regiert denn nun eigentlich im neuen Reiche? und wo­ zu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind denn die Milliarden erbeutet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer Nationalität reden, wo viel mehr ein rechter Deutscher vor diesem verjudeten Neudeutschtum einen förmlichen Ekel empfinden möchte“ (Literarisch-politische Aufsätze, München 1876, XVII). Die Einschätzung des Antisemitismus als einer postemanzipatorischen Abwehrbewegung fand sogar Eingang in die allgemeinen Lexika: „Die antisemitische Bewegung . . . ist durch den immer mehr wachsenden wirtschaftlichen und politi­ schen Einfluß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevölkerung ver­ anlaßt und strebt danach, diese Schranken wieder aufzurichten und die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben“ (Meyers Konver­ sations-Lexikon I. 1893, 684). Im „Staatslexikon“ der Görres-Gesellschaft hieß es: „Juda ist eine Macht. Der Antisemitismus setzt sich derselben entgegen“ (III. 1894, 530). 41 Die These stand bereits im Mittelpunkt der zeitgenössischen sozialdemokrati­ schen Antisemitismusanalysen. Vgl. auch Sartres Auffassung, „daß der Antisemitismus eine bourgeoise und mystische Darstellung des Klassenkampfes ist, und daß er in

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einer Gesellschaft ohne Klassen nicht bestehen könnte“ (187). F. Stern (Money, Mor­ als, and the Pillars of Bismarck's Society, C entral European History 3, 1970, 64) sprach im Hinblick auf die Krise der 70er Jahre von einer Art ,antisemitischer Dolch­ stoßlegende'. 42 Vgl. Sartre, 127 ff.; M. v. Brentano, Die Endlösung — Ihre Funktion in Theo­ rie u. Praxis des Faschismus, in: Antisemitismus, 49 f. 45 Zur Ausbildung der Rasse-Vorstellungen bis hin zu den 70er Jahren einige Hinweise bei Nipperdey u. Rürup, 133 ff. Vgl. allgemein M. D. Biddis, Racial Ideas and the Politics of Prejudice, 1850—1914, Historical Journal 15. 1972, 570—82; J . Barzun, Race. A Study in Superstition, N. Y. 1965; L. L. Snyder, The Idea of Ra­ cialism, Princeton 1962; E. Voegelin, Rasse u. Staat, Tübingen 1933; ders., Die Rassenidee in der Geistesgeschichte, Berlin 1933; J . Müller, Die Entwicklung des Rassenantisemitismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1940; K. Salier, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft u. Propaganda, Darmstadt 1961. Wichtig hierzu auch: H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expan­ dierenden Industriestaat, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. u. 20. Jahrhun­ derts, Hg. J . Geiss u. B. J . Wendt, Düsseldorf 1973, 133—142; H. W. Koch, Der So­ zialdarwinismus, München 1973; H.-G. Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutsch­ land als geschichtliches Problem, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 11. 1963, 246 —273. 44 Hierzu insbesondere die Ergebnisse von Massing und Pulzer. 45 Politische Breitenwirkung erzielte der Antisemitismus vor allem durch die stark antisemitisch geprägten großen Interessenverbände und Agitationsvereine der 90er Jahre wie den Bund der Landwirte, den Deutschnationalen Handlungsgehilfen­ Verband oder den Alldeutschen Verband. 4e Rosenberg hat im Hinblick auf den Antisemitismus in der Zeit der ,Großen Depression' von „vorfaschistischen Strömungen“ gesprochen; es spricht einiges da­ für, einmal ernsthaft zu prüfen, ob man nicht einen Schritt weiter gehen und den in den 70er Jahren entstehenden Antisemitismus als eine Frühform des Faschismus be­ zeichnen könnte — als eine erste, noch nicht voll ausgebildete und durch die uner­ schütterte Autorität des Obrigkeitsstaates blockierte Erscheinungsform faschistischer Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft.

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21. The Social and Political Function of Late 19th Century Anti-Semitism: The Case of the Small Handicraft Masters B Y SHULAMIT ANGEL-VOLKOV

It is one of today's standard historical 'truths' that among the various social groups and classes in Germany the Mittelstand has always been most suscep­ tible to anti-semitic propaganda, and most active in anti-semitic political organizations. In broad outlines this has been argued, and partially demon­ strated, for the interwar period when Mittelstand voters were among the most persistent supporters of the Nazi Party 1 . Less convincingly the same has been said of the last quarter of the 19th century, when the Mittelstand allegedly nurtured the first political anti-semitic movement in Germany2. But while the sociology of the Nazi party has been under serious investigation for some time, the social composition and the peculiar social character of late 19th century anti-semitism has largely remained a matter for speculation. Most of what has been said about it is couched in general terms and appears to be largely intuitive, although often intelligent and plausible3. Some remarks on the frus­ tration of the middle-class in the face of rapid industrialization and social change are invariably included in all attempted explanations of the intensity of anti-Jewish sentiment. But the transition from wide-spread resentment of Jews to the emergence of an organized political anti-semitic movement has rarely been analyzed. Discussions of the causes and the effects of anti-semitism leave untouched the social and the political functions of the movement, and neglect to examine in depth the unique environment in which it grew. These deficiencies have resulted from the preoccupation of the research into the nature of anti-semitism with the theoretical and ideological aspects of the movement; from its tendency to perceive anti-semitism in general as a chapter in world-wide Jewish history; and from the efforts to reveal the socio-psy­ chological roots of this phenomenon, while avoiding its social and especially its political functions. All three directions of research have by no means been exhausted, but they all seem to have arrived at something of a dead end. Since the end of the Second World War surprisingly little new ground has been gained in the study of modern anti-semitism — so crucial a topic for the understanding of our age and for the self-evaluation of an entire civilization. Recent historiographical trends in the study of mass movements have left the

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subject of anti-semitism virtually untouched. They do, however, suggest the need for a new direction in the treatment of this problem, which will begin to ask new questions and apply new tools and new conceptions to old ones. Thus, even if we accept the thesis that the German Mittelstand constituted the social basis of the anti-semitic parties in Germany, we still ought to seek answers to a host of additional questions: Which elements within the Mittel­ stand were more, and which were less, susceptable to anti-semitism? Was the old Mittelstand of artisans and shop-keepers more anti-Jewish than the new Mittelstand of white-collar employees and managerial staff? Was it the edu­ cated Mittelstand consisting of teachers and bureaucrats, which led the anti­ semitic movement? Was it led perhaps by the small industrial producers, or by the small tradesmen? Where in Germany was anti-semitism among Mittel­ ständler more rampant — in rural or in urban areas? In C atholic or in Prot­ estant regions? In the east or in the west? In industrial Germany or in its traditional regions? Only when answers to these and other questions begin to emerge can we hope to be able to examine anew the motivation for anti­ semitism, its socio-psychological sources, its social meaning and its political function. The following pages attempt to tackle a limited question within this in­ tricate set of problems. We shall attempt to investigate the extent of anti­ semitic sentiment among traditional handicraft masters in Germany during the two distinct waves of political anti-semitism in the last quarter of the 19th century. We shall then proceed to examine the specific social and political role of anti-semitism during each of these waves, and attempt to offer an analysis of their peculiar characteristics. The economic nature of anti-semitism during these years has often been stressed. Recently, Hans Rosenberg has suggested a specific approach to the analysis of the relationship between the anti-semitic movement and the periodic fluctuations of the German economy during the so-called “ Great Depression“ 4. Recognition of the link between the two spheres is indeed essential for studying the emergence of anti-semitism in Germany among certain social elements and at certain points in time. It is also relevant for an explanation of the changing character of the movement. Nevertheless we shall intentionally attempt to keep away from this issue5. We shall instead concentrate on the handicraft-masters' place in the social and the political structure of the German Reich, leaving aside their peculiar economic history. We shall focus on the role which political anti-semitism played in forming the masters' political allegiances and in shap­ ing their character as a group. I. As the anti-liberal campaign got off the ground in 1874/75, anti-semitism immediately became popular. A host of newspaper articles, pamphlets and books argued the connection between the operation of Jewish capitalists and the collapse of the Viennese stock-exchange6. The Jews and the “ Jew-like Ger­ mans“ , ran the argument, were responsible for the economic catastrophe. It 27 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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was at best a result of their irresponsible behaviour, and at worst an outcome of their sinister scheming. In fact anti-semitism was an old ally of anti-liberalism. The two views were often held simultaneously and in conjunction during the pre-March years, and became increasingly intertwined in 1848. Both those who opposed liberalism on political grounds, and those who objected to its economic doctrines revealed intense anti-semitic sentiments. They all objected to the emancipation of the Jews as an attack on traditional privileges and on the old socio-economic order7. Although no open anti-semitic pronouncements were heard in the two major master-artisans congresses in Hamburg and in Frank­ furt a. M. during the eventful summer of 1848, there is enough evidence to show the prevalence of anti-semitic sentiment among master-artisan dur­ ing that time8. Thus, for example, a group of masters from Leipzig sent out a circular letter to all guild-members in Germany, closing a tirade of anti­ liberal rhetoric with an attack on the emancipation of the Jews, the greatest enemies of the honest German Bürgertum, of the working-men and of society at large, the hated “ Fremdlinge, die nirgends heimisch sind und kein Herz für das Volk haben, wo (sic) sie wohnen“9. During the following years of rapid industrialization in Germany some masters continued to associate their material difficulties with the activities of the Jews. In their daily life, however, master craftsmen could have only rarely encountered direct Jewish competition. In the old territories of the German Reich Jews were barred from the practice of most handicrafts10. In Prussia in 1817 only 4.6 % of the Jews were occupied in handicrafts, while over 90 % were employed in various commercial enterprises11. The number of Jewish craftsmen undoubtedly increased considerably during the 19th century, first under the influence of the French occupation and then through the effects of the liberal state legislations. The Jews all over Germany were entering new professions as a sign of their growing emancipation. However, centuries-old customs, both among Jews and among C hristians, slowed down the entry of Jews into the traditional crafts and most new legislations left untouched a host of previous restrictions12. Even by 1895 less than 20 % of the Jewish labour force in the country was occupied in industry and the handicrafts together, as compared with over 35 % of the general population13. Striking is the fact that the ratio of independent handicraftsmen among the Jews was far greater than among C hristians. Thus it was reported that in Berlin only 1.05 % of all the men employed in the various wood crafts were Jews, but that among them 35 % were employers, 19 % self-employed artisans and 45 % wage-earners. Among the Protestant artisans in the same crafts only 9.4 % were independent employers, 6.6 % were self-employed artisans and as many as 84 % were wage-earners14. This picture is confirmed by a study based on the general statistical survey of 1912, in which over 17.000 independent Jewish craftsmen were counted among 40.000 Jewish artisans. The Jews, however, concentrated in a limited number of trades only, and were mostly tailors, shoemakers, bakers and butchers15. Moreover, the great increase in the number of Jewish © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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craftsmen which was noticeable towards the end of the 19th century was a direct result of the growing immigration of Jews from the newly acquired Polish territories of Prussia. These constituted as late as 1880, at the time of the first anti-semitic wave, only 3.9 % of the total Jewish population of the Reich16. Thus, at that time Jewish competition in the handicrafts, although not entirely unknown, certainly was not a widespread phenomenon. Equally unrelated to actual economic circumstances was the association of peddlars, among the alleged competitors of the established small masters, with the Jews. Research has shown here, too, that in 1852 77.5 % of all peddlars in Germany were non-Jews, and that this percentage rose to over 95 % by 189517. Nevertheless, the emancipated Jews were easily noticeable in the growing German towns. The small peasants and agricultural labourers who found their way into these cities usually encountered there a far larger proportion of Jews than in their previous communities18. Jews, intermingling in gentile society and often showing outstanding energy and resourcefulness in enhancing their social and economic position, were an unpleasant novelty for these new ar­ rivals19. With the help of demagogues and rabble-rousers anti-semitism became increasingly popular in the German urban environment, attracting struggling new immigrants as well as a segment of the established community. What gave the anti-semitic sentiment and the emerging anti-semitic move­ ment of mid 70's its unique character was the assertion which was first coined and made public in the notorious, and then endlessly paraphrased, Gartenlaube articles, that “ the social question is the Jewish question“ . Otto Glagau himself, the author of these articles, is an interesting example of the role which his brand of anti-semitism had played in the 1875—1882 years20. Glagau had previously been an economic correspondent of the Nationalzeitung, one of the leading liberal dailies of Berlin. His desertion of liberalism, although partially motivated by his own personal failure, became characteristic of many among his Mittelstand readers. Like him, they too finally broke their former liberal allegiance, and like him they sought a new political home for themselves. It was indicative of the mood among the master-artisans during these years that Glagau, who was a shrewd if not always an original political observer, dedicated one of his popular books to the fate of the small traditional handi­ craft-masters21. His peculiar brand of ideology did indeed appeal to them. His new anti-liberalism was based upon a principled opposition to the economic measures introduced by the liberals at the creation of the German Reich. These were blamed for the alleged misery and the impoverishment of his Mittelstand readers. His anti-semitism helped to explain the 'degeneration of German liberalism', which he, as well as the majority of the small masters, had pre­ viously supported. If it was embarrassing for them to attack their previous allies, the attack became comprehensible as a defense against the progressive Verjudung of the German liberal movement. If it was unpleasant to attack the patriotic German liberals as a whole, it was easy enough to attack the Jews among them. Thus it was not capitalism which was to be blamed but Jewish 27*

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capitalism; not liberalism but Jewish 'Manchester-ism'; not the 'national' government but its Jewish advisers. F. Perrot, an old Kreuzzeitung reactionary could publish his anti-liberal history of the handicrafts without any open anti­ semitic overtones22. Glagau, the former liberal, apparently could not. For him, as for many Mittelständler anti-semitism appeared to serve as a necessary stage of transition between a traditional, though often contradictory, liberalism, and an increasingly entrenched conservatism. The master-artisans' organizations in the early 1870's were clearly liberal in their overall political leanings. They followed the pattern which had evolved among the majority of the handicraft masters after the events of 1848/49, and which combined political liberalism, sometimes of the radical democratic type, with specific economic demands having strong anti-liberal connotations. During the 70's, when both liberals and conservatives fortified their ideologies and made their social alliances more explicit and more binding, the masters' politi­ cal position appeared increasingly untenable, and gradually they resolved their ties with liberalism. But while the alliance with liberalism was slowly deteri­ orating, no clear political alternative was yet available. The leaders of the master-artisans' movement repeatedly attempted to fill the vacuum by estab­ lishing a separate artisans' party. Their desire to avoid a full-scale shift of artisans' votes into the established conservative camp was predominant in all these efforts. Not surprisingly, however, none of these organizations survived the planning stage, and by the time of the election-campaign of 1879 they were all long forgotten23. All the existing parties at the time attempted to appeal to the small handi­ craftsmen. Most vocal among them were the various anti-semitic associations, parading their social-conservatism, their support for state-protection, and above all their ardent opposition to all the manifestations of the liberal political and economic doctrine. The Soziale Reichspartei, led by the “ progressive“ and ex­ liberal Ernst Henrici, the Deutsche Volksverein organized by the conservative Max Liebermann v. Sonnenberg, the Saxonian Deutsche Reformpartei and the various anti-semitic leagues and conferences all wished to appear as allies of the small handicraft masters in their economic struggle against liberal state economic measures, and against the competition of big capital and modern industry. Each in its peculiar style they all supported the master-artisans' limited demands for compulsory guild-membership, for reintroduction of mas­ ters' qualifying examinations, for restriction on prison work-shop production, reorganization of the bidding system and the like24. In spite of these propaganda efforts, one encounters little open anti-semitism in the masters' own pronouncements during the late 1870's. The masters showed little anti-Jewish feelings but seem to have nevertheless joined, in growing numbers, the organized anti-semitic movement. There is no way to assess the number of handicraft-masters who actually voted for anti-semitic candidates in national and local elections. Undoubtedly they accounted for a considerable segment of the 46.000 anti-semitic votes cast in Berlin during the 1881 elec© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tion23. In Dresden, another center of handicraft production, a building-master won the Reichstag seat on the ticket of the anti-semitic Deutsche Reformpartei. But only a detailed analysis of local voting could perhaps overcome some of the difficulties in investigating the voting behaviour of a group whose members were scattered in all German towns and throughout the country. But if, indeed, precise numbers cannot as yet be provided, a general trend can certainly be observed. In May of 1880, the two most prominent leaders of the Berlin master­ artisans' movement took part in a public meeting organized by Adolf Stöcker's Social C onservative Party. The formerly liberal leaders of the masters' national Verein were ceremoniously seated at the platform. They had indeed travelled a long way since their days of political activism on behalf of the Progressive Party in Berlin and their repeated efforts during the 1870's to preserve the general liberal character of the artisans' movement26. The story of Adolf Stöcker has been told many a time27. Early in 1880 he apparently realized that his appeal to the workers of Berlin had been ineffec­ tive. Instead he had inadvertedly achieved great popularity among the Berlin Mittelstand, specifically among small master-artisans and shop-keepers28. In March of 1880 Stöcker was invited to Breslau to deliver a speech on the Hand­ werkerfrage29. His audience apparently consisted of master-artisans, mainly liberals and vacillating ex-liberals, as well as group of hard-core conservatives. The speech was characteristic of the role Stöcker had played in the political evolu­ tion of the master-artisans, and indicative of the function of his political anti­ semitism. Significantly, he found it necessary to open by encouraging the small masters to finally take the decisive step away from Liberalism. They should be able to stand proudly and unequivocally behind their demand for new guilds, he argued, and be able to declare: “ Gewiss das wollen wir! wir wollen die Zunft . . . die Zunft im Geist unseres Jahrhunderts mit allen Mitteln und Kräf­ ten der Gegenwart!“30 Reacting to continuous heckling from the floor, Stöcker was forced to explain that he was not, in fact, objecting to liberalism as such, but only to the liberalism which had become subverted and corrupted. On the other hand, the essence of his own party was not reaction, but action, he exclaimed. Through­ out the speech, which was among the first he had delivered away from his home­ base in Berlin, Stöcker was forced to take a defensive attitude. It was most uncharacteristic of his usual oratory style. But his audience in Breslau was not a crowd of enthusiastic supporters, nor was it a disdainful and hostile Socialist assembly. Stöcker was facing a crowd of disillusioned and confused men, who were seeking a substitute for their political creed. During the years of his political experimentation, primarily but not ex­ clusively in Berlin, Stöcker became aware of the need to supply his potential supporters with an emotional battle-cry, stronger than the negative attitude towards liberalism and the nostalgic view of past society. Anti-semitism, by then already practiced by other social-conservatives, seemed to be the obvious © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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choice, and Stöcker enthusiastically seized upon it. He was operating in the spirit of Liebermann v. Sonnenberg, the Junker among the local anti-semitic social conservatives, who had shocked the young Helmuth v. Gerlach when he casually remarked to him in a street-side café in Berlin: “ First we want to become a political power; then we shall seek the scientific evidence for anti­ semitism.“ 31 In the same way that a militant social-conservative, anti-semitic movement was needed in Prussia and Saxony in order to finally sever the ties of the small master-artisans with the Liberals, so was it also needed in the mixed Protestant­ Catholic areas of Western Germany. The small master-artisans in the Rhein­ land and in Westphalia were the first to demand the repeal of Gewerbefreiheit and a reconstitution of the guild system. It was they who introduced a strong anti-liberal tone into the discussions of the otherwise liberal Verein selbständi­ ger Handwerker. They too, however, needed a transition through militant social-conservatism and vocal anti-semitism, before, they could finally join the established C onservative forces. Freiherr Friedrich C arl v. Fechenbach was a Protestant landowner from Hesse, who started his political career in the National-Liberal Party, and eventually joined the Deutschkonservative Partei in 187832. Towards the end of the 70's he had evolved his own political program and was, for several years, stormily engaged in publicizing it and in attempting to give it an organizational backbone. Living in a mixed C atholic-Protestant area, he visu­ alized a social-conservatism which would be capable of uniting Protestants and C atholics into a mighty political force, jointly withstanding the tide of socialism. Fechenbach's political objectives were the abolition of the Kultur­ kampf, far-reaching social legislation particularly for peasants and artisans, and the institution of strong anti-capitalist and ant-semitic legal measures. Early in 1880 he attempted to reach an agreement with Stöcker, Perrot, and a number of other south-German Protestant social-conservatives. When these efforts failed, he convened in Frankfurt a. M. a joint meeting of Protestant and C atholic celebrities interested in the social question, at which a Verein für konservative Sozialreform was established. The program of the new Verein urged an end to the anti-C atholic campaign, restrictions on the power of Geldkapital, a break with the policy of 'unlauterer Wettbewerb', a return to the joint silver-gold money standard, a 'healthy' colonial policy, an expulsion of all non-C hristians from the German legislative bodies, and the establishment of “ Ein auf Berufsstände gegründetes Repräsentativsystem“ 33. In striking parallelism with the development of Adolf Stöcker's career, v. Fechenbach sought to create, side by side with his organization of conservative notables, a powerful grass-root movement. Operating after Stöcker, and no doubt learning from his mistakes, v. Fechenbach immediately concentrated his efforts on the recruitment of Mittelstand elements, especially master-artisans and peasants. For the former his program included a demand for the estab­ lishment of compulsory guilds with legal corporative rights, and a replacement © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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of taxation on industrial enterprises with taxes on stock profits, inheritance and luxury-articles. Like Stöcker in Berlin, von Fechenbach in the Rhein area combined a strong anti-liberal campaign with fervent anti-semitism and with a conservative nostalgia for the past. It was a mixture specifically designed to appeal to the small ex-liberal master-artisans in the rapidly industrializing regions of western Germany, who were increasingly clinging to the old social­ industrial structure as a remedy for all their present hardships. By 1881, v. Fechenbach had established some 50 branches of his Verein zum Schutze des Handwerks, mainly in south-western Germany, but also as far as Hamburg and Breslau34. In C ologne, von Fechenbach prepared the ground for estab­ lishing a new master-artisans' organization. For several years he managed to run a special two-monthly artisans' journal, Die Innung, subtitled “ Organ der Sozialkonservativen Vereinigung für das deutsche Handwerk“ 35. Fechenbach's movement was short-lived. The tireless Freiherr toyed with the prospects of a national anti-semitic movement for a while, and participated in drafting the program for the Deutsche Reformpartei, established in Dresden in September 1881. By 1885, however, he finally joined the C enter Party. Many of his previous supporters followed the same route. By the middle of the 80's both the Protestant social-conservatives and their C atholic counterparts had joined their respective established conservative parties. Their separate politival exist­ ence was of transitory nature. It had filled a temporary political vacuum during a period of radical shift in the popular pattern of political allegiances. It served to smooth the transfer of a segment of the German Mittelstand population, including numerous small handicraft-masters, from the Liberal to the Conservative camp. II. The early beginnings of the second wave of political anti-semitism among small handicraft masters in Germany can be dated to 1887. By that time the majority of the politically-minded masters had settled for consistent, though often unenthusiastic, support of the established C onservative parties. They probably voted for the Deutschkonservative Partei in the Protestant north, and for the C atholic Zentrum in the south and in much of south-western Germany. The masters' conservatism was rooted in their anti-liberalism and in their growing opposition to all the manifestations of modern industrial society. While the alliance of the C atholic master-artisans with the Zentrum has proven relatively unproblematic and lasting, the Protestant master's support of Junker-conservatism, increasingly in alliance with big business, often re­ mained half-hearted. Anti-liberalism and a romantic nostalgia for the past did not quite suffice to make the small urban master-artisans at ease within the party of aristocratic owners and cultivators of big agricultural estates. The Liberal-C onservative cartel policy, which chrystallized before the 1887 Reichstag election dramatically brought into the open the ambivalence of the masters' position vis a vis the C onservatives. They were suddenly faced with a coalition between those who claimed to be their most loyal supporters and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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those who had been their allies and were therefore all the more objectionable as their present opponents. The organ of the handicraft masters in southern Germany, the mouthpiece of the masters' Bund, mourned the alliance between the C onservatives and the Liberals, and predicted with apprehension the end of the parliamentary cooperation between the C onservative party and the Zentrum on all social and economic matters — a C ooperation which had lasted since the beginning of the decade. It saw in the new political constellation “ Ein trauriges Bild unseres heutigen Parlamentarismus“ , and immediately proceeded to launch a doubly heated campaign against liberalism and the liberal parties36. This was sprinkled with occasional anti-semitism. But with some significant ex­ ceptions, master-artisans' meetings during the late 80's and successive issues of their journals were very restrained in the expression of anti-Jewish sentiments. Open and radical anti-semitism can be detected among them only from around 1892. From that time on it seemed to be on the increase. It reached unprecedent­ ed proportions, and was pursued with previously unknown determination and passion. By then it had developed all the characteristics of racial anti-semitism, and its connection with anti-liberalism, while certainly present, had lost its predominance. The anti-semitic movement of 1892—97 was a new phenome­ non. Whereas it had been a by-product of political re-grouping during the late 1870's, it had become by the 90's an expression of a structural crisis in German society and in its relationship with the state. The late 1870's and early 1880's had been years of reorganization of the social and the political forces in the Reich37. By 1890 a new structure had clearly emerged. Within it the master-artisans had a peculiar position. Regard­ less of their actual material standing, the new industrializing economy always remained basically alien to them. By the end of the 19th century little if anything had been preserved of their old handicraft community. Masters and journeymen were by then aligned in opposite and hostile camps. The craft apprenticeship had lost the last vestiges of its traditional image, and apprentices were often no more than a source of cheap labour. No other community emerged to replace the disintegrating one. The Mittelstand was a conglomera­ tion of elements with objectively conflicting interests and with fierce internal conflicts. During the 19th century it was often no more than a slogan. The bond among retail shop-keepers, master craftsmen, white collar employees, teachers and low-echelon bureaucrats always remained tenuous. The master­ artisans' position inside this heterogeneous social unit was particularly ambiva­ lent. As manual workers they remained outsiders in a group whose members were normally engaged in non-manual occupations, and as small industrial producers they were outsiders in a group whose members were primarily consumers. Their relationships with all the segment of the Mittelstand, with their workers, with larger entrepreneurs and with the bourgeoisie of Besitz and of Bildung, were characterized by envy and estrangement38. The isolation of the small handicraft-masters was not merely a social and cultural phenomenon. By the 1890's it had been extended into the political © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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sphere. Without much enthusiasm, but nevertheless in a consistent fashion, the central Reich government had accepted a great number of the masters' reform de­ mands39. These were passed in the Reichstag throughout the 1880's, supported by the C enter party and the C onservatives, with occasional help from the Free C onservatives and segments of the National-Liberal Party. At a time of relative economic recovery the consistent, though often slow, move of the Reich government towards the social reform demands of the masters, gave the latter reason for optimism and time for consolidating their own interest-group organ­ izations. In 1890 the German economy suffered a renewed cyclical crisis. At the same time, in response to the growth of the Social-Democratic Party and the Socialist Trade-Unions after the repeal of the anti-socialist legislation, the government embarked upon a new reform program for master-artisans. It wished, so it had repeatedly claimed, to give legislative expression to its con­ cern for the needs of the staatserhaltende elements in German society40. The government was ready to meet representatives of the handicraft-masters' na­ tional organizations in order to hear from them directly their specific reform demands. Soon, however, it became clear that the Ministry of the Interior was intent on pursuing its own reform program, and the masters' hopes for finally achieveing their major objectives, above all a compulsory guild-system and an obligatory masters' examination, were once more shattered41. During the fol­ lowing years of government procrastination the masters lost their initial con­ fidence in it, and became bitter and hostile towards it. At the same time, the support of government social legislation by both the Center and the C onservative parties in the Reichstag was increasingly resented by the masters. What had previously been the source of their pressure power, became an obstacle to their further plans. They suddenly remembered that as late as 1890 the Deutschkonservative Partei had no representative of the handi­ craft-masters among its Reichstag members, and that the C atholic C enter included only three master-artisans among its parliamentary fraction of over 100 men. The two most loyal supporters of the master-artisans appeared to have easily accepted government legislation which was vehemently opposed, both for its details and for its general concept, by the organized master­ artisans' movement42. The masters felt increasingly neglected by the govern­ ment and scorned by their former political supporters. Their 1892 national congress gave ample expression to their rage, their feeling of helplessness and their growing defiance. They claimed to have been treated as “ Stiefkinder der Nation“ , and as “ Paria der Gesetzgebung“ 43. Their repeated organizational failures, their political disillusions, and above all their feeling of social and political homelessness created a mood of lonely despair among them which gave their pronouncements a threatening overtone. “ Wir deutsche Handwerker“ — exclaimed the Deutsche Handwerkerzeitung — “ fühlen uns als eine der feste­ sten Stützen eines geordneten Staatswesens; wir deutsche Handwerker fürchten aber Niemanden in der Welt als Gott, den unerbittlichen sicheren Rächer alles Unrechtes auf Erden.“ 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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As in the late 70's, the severing of ties with previous allies again forced the masters to attempt the organization of a separate political patry. Once again, however, they found themselves unable to overcome the opposition and the active sabotage of the existing parties, the numerous organizational and finan­ cial difficulties and their endless internal disputes. At the same time the newly organized anti-semitic parties made strong efforts to turn the masters general hostility and their political isolation into electoral capital. The anti-semitic propaganda during the 1890*s was explicitly directed at the various Mittel­ stand elements in Germany. It emphasized the urgent need for state inter­ vention in the running of the economy, the demands for progressive income tax, inheritance and capital tax, a supervision of the stock-exchange and the protection of agriculture, handicraft and small business. It was essentially anti-liberal and anti-capitalist, reformist and nationalist. The endorsement of the specific reform demands of the master-artisans' interest-organizations by the various anti-semitic parties, however, was initially no more emphatic than the endorsement offered by the Conservatives or by the C atholic C enter Party. In the 1890 Bochum program of the Deutschsoziale Partei, article 13 un­ folded the party*s plan for reform of the handicrafts45. It included a call for the restriction of the Gewerbefreiheit, for the introduction of official examina­ tions for master-employers, for shorter terms of limitations, and for the in­ stitution of Handicraft C hambers with jurisdiction over matters of professional ethics. It further demanded the improvement of tender regulations and the prohibition of all handicraft production in prison work-shops. While these were, indeed, all part of the master-artisans' standard reform demands, the anti-semitic plan did not mention compulsory membership in the guilds, nor was it explicit on the matter of a comprehensive and obligatory masters' examination. The Anti-Semitische Volkspartei was even more allusive on these two essential points. In its 1890 program it demanded assistance for the handi­ crafts by means of putting an end to the “ schrankenlose Gewerbefreiheit“ , and to the competition of state-prison workshops. It then proclaimed the need to expand the rights of, and the support for, handicraft organizations46. Thus, during the early years of the decade, the anti-semitic parties in their intense recruitment efforts preferred to follow a cautious line on the handicraft ques­ tion, in order not to alienate any potential supporters. But in spite of these hesitations and the lukewarm attitudes of the anti-semitic leadership towards the essential demands of the master-artisans' interest-organizations, the latter were showing growing enthusiasm for these parties. This time it was not merely a passing phenomenon, but an expression of a social and political crisis manifested in an outburst of intense anti-Jewish sentiments. At the masters' 1892 national congress, Adolf Stöcker, again on the podium to express the anti-semitism of his audience, was warmly applauded. A string of speakers from all parts of the country voiced their anti-semitism in extreme and often vulgar terms to the general approval of the delegates47. Eventually the anti-semitic parties, forced by the aridity of their own programs, and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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apparently impressed by the masters' enthusiasm, came closer to the position of the master-artisans interest-groups on matters related to the reform of the handicrafts. By 1895 the reconstituted Deutsche Soziale Reformpartei intro­ duced the masters' demand for compulsory guilds and obligatory masters' examinations into its new official program48. The alliance between the small handicraft masters and the anti-semitic political movement was thus fortified and publicly acknowledged. At the artisans' congress in April of 1893, the C atholic master-shoemaker Beutel from Munich was still apologetic, and was far from being unanimously applauded, when he stated that “ ein bißchen anti-semitisch sind wir ja alle, wenn nicht gerade im Ahlwardtschen Sinn“49. But in May of the same year the Bavarian Allgemeine Handwerkerzeitung openly called upon its readers to vote for anti-semitic candidates in all cases where they could not in good conscience continue to vote for C onservative or C enter party representatives50. Early in 1894 the two major artisan newspapers, in Munich and in Berlin, were in­ undated with anti-semitic articles, reprinted public speeches, letters to the editors and even occasional verses. The Jews were made responsible for every­ thing that was objectionable to the craft masters: for liberalism, capitalism, socialism, trade-unionism, industrialism. They were presented as the main ex­ ploiters of the small masters, and the cause of their alleged misery. Issue after issue of these papers was filled with articles providing additional evidence to prove the moral degeneration and the utter ruthlessness of the Jews51. By the 1890's the small independent handicraft-masters had joined the political anti­ semitic movement as “ true believers“ . It has been often noted that anti-semitism served to bring together various ideological positions, unrelated and often openly contradictory. Thus, for the unsophisticated anti-liberalism, anti-capitalism and anti-socialism could all be expressed by opposition to the Jews — as the social element responsible for the corruption and subversion of all three. Likewise, anti-semitism permitted the expression of repressed hostility by disoriented men and channelled it into an acceptable, and in some circles even respectable, direction. For small master­ artisans, however, anti-semitism had an additional function: It provided this isolated and unintegrated group of men with a much needed negative identity. A sense of social isolation was not unique to the small master-artisans in German society of the 1890's. Rainer Lespius has suggested a rough model for understanding the structure of this society from the turn of the cen­ tury until the Nazi seizure of power52. German society, he argues, was divided by the early 1890's into four major social 'milieus', each representing a unique sub-culture, an overall Weltanschauung, and a specific political direc­ tion. Within each of these blocks, culture and life-style, ideology and political organization coincided, overlapped and enforced each other. The four were the Conservative, the Liberal, the Socialist and the C atholic milieus. Each devel­ oped a strong cohesion within itself and evolved a pattern of interaction with the others. In addition, however, a fifth social element in Germany became © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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increasingly discernible. It was composed or the various groups or individuals who, for a variety of reasons, did not succeed in becoming associated with any of the major blocks in the country. This 'left-over' mixture of men from different walks of life normally constituted about 10 % of Germany's voters — a small but flexible and susceptible body. Among them one can easily identify a large segment of the master-artisans population. The C atholic mas­ sters normally managed to be integrated within the general, and increasingly influential, C atholic 'milieu'. It was the traditional masters in the Protestant North and in the mixed areas who were chronically unattached and isolated. It was these men who responded to the lore of demagogues and rabble-rousers; who in the face of their isolation clung to distorted historical memories and cultivated generalized resentment and hostility. Bismarck had correctly appreciated the extent of the centrifugal forces within German society. For years he had practiced tactics for internal cohesion based upon the permanent availability of a national enemy. Anti-semitism can be easily perceived within this context. It provided the necessary internal enemy in the years between the repeal of the anti-socialist legislation and the embarkment of the Reich government upon an aggressive Weltpolitik. In addition the Jews served as an object for contempt and hatred in contrast to whom the belonging of small masters and other isolated social groups to the glorious German nation was indisputable. The European tradition of anti­ semitism made the Jews a perfect target for the hatred of the unattached53. Small master artisans, outside the mainstream of German social and political development, identified themselves negatively as non-Jews and thus hoped to achieve a greater sense of belonging within C hristian society. The existence of a group which was so apparently outside the social fabric of the C hristian German Reich made their belonging to it — both as C hristians and as Ger­ mans — more secure. Positively, extreme nationalism helped these men to identify themselves as members of the proud and indivisible German nation. Anti-semitism thus served a complementary function to nationalism, and it is only within this context that the iffinity between the two becomes compre­ hensible. Our efforts to investigate the social and the political function of the anti­ semitic movement for the small master-artisans in Germany of the late 19th century have brought into sharp focus the distinct nature of the two anti­ semitic waves during these years. In many ways the first wave, between 1875 and 1882, was characteristic of the 19th century, and expressed the major ideological and social conflicts associated with liberalism and the process of industrialization. During these years, master-artisans who had little if any contact with Jews at all, showed sporadic anti-Jewish sentiments, and were only temporarily attracted to the anti-liberal, anti-semitic political organiza­ tions. It was only during the 1890's that anti-semitism became a major and permanent feature of their Weltanschauung. Together with extreme nationalism it served to alleviate a crisis of identity for men who otherwise felt isolated, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rejected and even scorned by all other elements in German society and by the spokesmen of the German state. Political anti-semitism was a phenomenon uni­ que to Germany, drawing its strength from its particular integrative function in aspecific sociopolitical situation. As such it was close to the political anti­ semitism in Germany of the 20th century. On the basis of our analysis it can perhaps be suggested that another crisis of belonging was at the root of the great appeal of anti-semitism during the years of the Weimar Republic. Even by the 1920's the master-artisans in Germany had not succeeded in becoming a part of any of the major social milieus in the country. They still felt out­ siders vis a vis the modern market economy. The Mittelstand was as far from being a social community or a base for a unified political force as it had ever been. The masters had even less confidence in the government of the new republic than they had had in the imperial Reich government. Indeed, the Nazis' initial popular support came from an assorted mixture of declassés and isolated social groups. They all had in common the desire to find a way — indeed any w a y — for escaping their sense of social and political homelessness.

Notes 1 Sec for example R. Heberle, Landsbevölkerung u. Nationalsozialismus. Eine sozio­ logische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918—1932, Stuttgart 1963; H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972; A. Schweitzer, The Nazification of the Lower Middle-C lass and Peasants, in: The Third Reich, UNESC O, London 1955; D. Schoenbaum, Hitler's Social Revolution. C lass and Status in Nazi Germany, N. Y. 1966. 2 The literature on early political anti-semitism is surprisingly limited. The major works are P. Massing, Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany, London 1949; G. J . Pultzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, N. Y. 1964; Still indispensible is the work by K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemiten Parteien 1873 bis 1890, Berlin 1927. Re­ cently much additional information and an interesting analysis has been provided by H. J . Puhle in his Agrarische Interessenpolitik u. Preussischer Konservatismus, Hanno­ ver 1966 (19742). esp. 111—40; 298—302. Insight into the problem of modern anti­ semitism can also be gained from E. Reichmann, Flucht in den Hass, Frankfurt 1956; H. Arendt, The Origins of Totalitarianism, N. Y. 1958; and from a recent contribu­ tion in Hebrew: U. Tal, C hristians and Jews in the 'Second Reich' 1870—1914. A Study in the Rise of German Totalitarianism, Jerusalem 1969. 3 C haracteristic arc the two spirited and inspiring studies of modern anti-semitism, by H. Arendt and E. Reichmann, which are full of interesting but unsupported sug­ gestions. See Arendt, C hap. II and Reichmann, C hap. I and II. 4 H. Rosenberg, Grosse Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967, 88—117. 5 For this and other aspects of the handicraft-masters' history see Winkler 21—64, and the author's, The Emergence of Popular Anti-Modernism. The German Handi­ craft-Masters 1873—1896, Diss. Univ. of C alifornia Berkeley 1972. 6 The anti-semitism of the 'Era-Articles' which opened the anti-liberal campaign in the Kreuzzeitung in July 1875 was strong and apparent. See also C . Franz, Der Nationalliberalismus u. die Juden Herrschaft, München 1874; Ο. G lagau, Der Ban-

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kerott des Nationalliberalismus u. die 'Reaktion', Berlin 6 1878; Die Gartenlaube, Dec. 1874—Dec. 1875; Die Deutsche Wacht, Berlin 1879—80; G. Wilmanns, Die Gol­ dene Internationale u. die Notwendigkeit einer sozialen Reformpartei, Berlin 1876; E. Henrici, Was ist der Kern der Judenfrage, Berlin 1881. 7 For the Pre-March period, by far the best study of anti-semitism is E. Sterling, Judenhass. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland 1815—1850, Frankfurt 1969 (first published in 1956 under the title “ Er ist wie du“ ), esp. 115—130. 8 See the protocols of these meetings: Verhandlungen der ersten Abgeordneten Ver­ sammlung des Norddeutschen Handwerker- u. Gewerbestandes zu Hamburg, 2.—6. Juni 1848, G. Schirges ed., Hamburg 1848; and Verhandlungen des ersten deutschen Handwerker- und Gewerbekongresses zu Frankfurt a. M., 14. Juli—18. August 1848, G. Schirges, ed., Darmstadt 1848. 9 Offener Brief an alle Innungsgenossen Deutschlands so wie zugleich an alle Bürger und Hausväter von Zweiundzwanzig Innungen zu Leipzig, Leipzig 1848, 21—22. 10 See M. Wischnitzer, A History of Jewish C rafts and Guilds, Ν. Y. 1965, 197—205. 11 H. M. Klinkenberg, Zwischen Liberalismus u. Nationalismus im 2. Kaiserreich 1870—1918, in: K. Schilling, ed., Monumenta Judaica, Köln 1963, 366. 12 See J . Toury, Prolegomena to the Entrance of Jews into German C itizenry, Tel Aviv 1972 (in Hebrew), 94—111. 13 Klinkenberg, 368. 14 P. Voigt, Das Tischlergewerbe in Berlin, in: Schriften des Vereins für Sozialpoli­ tik 65, Leipzig 1895, 377. 15 For these data see J . Segall, Die beruflichen u. sozialen Verhältnisse der Juden in Deutschland, Berlin 1912. 16 Klinkenberg, 366. 17 See B. D. Weinryb, The Economic and Social Background of Modern Anti-Semit­ ism, in: Κ. S. Pinson, cd. Essays on Anti-Semitism, Ν. Y. 1946, 29. 18 The rate of urbanization was much more rapid among Jews than among non­ Jews in G ermany. By 1900 48,5 % of the Jews lived in cities classified as large, while only 16,2% of the non-Jewish population lived in them. See Weinryb, 25 and passim. 10 Nowhere is this encounter more vividly described than in Hitler's, Mein Kampf, München 1942, 54—65. 20 On Ο. G lagau see the brief but illuminating comments in H. v. G erlach, Von Rechts nach Links, Zürich 1937, 110. Also Pultzer, 88—90, and Massing, 10—14. 21 Deutsches Handwerk u. Historisches Bürgertum, Osnabrück 18795. 22 Das Handwerk, seine Reorganization u. seine Befreiung von der Übermacht des Grosskapitals, Leipzig 1876. 23 For the source and the bibliography on the handicraft-masters' organizations during the 1870's see the author's Diss. 220—248; 264—273. 24 See Massing, 77—89; and for some of the anti-semitic party programs F. Specht, Die Reichstagswahlen 1867—97, Berlin 1898, 66 ff. 25 Pultzer, 99. 26 See the report in W. Marr's anti-semitic publication, Die Deutsche Wacht, July 1880. 27 The most detailed story is by the official Nazi historian W. Frank, Hofprediger Α. Stöcker u. die C hristlich-Soziale Bewegung, Hamburg 1935. See also the remarks in v. Gerlach, 102 ff., and W. Kampmann, Stöcker u. die Berliner Bewegung, GWU 13. 1962; Wawrzinek, 18—29; Massing 21—47; Pultzer, 88—101. 28 See especially S. Kaehler, Stöckers Versuch, eine C hristlichsoziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen, in: P. Wentzke ed., Deutscher Staat u. Deutsche Parteien, München 1922, 227—65, and v. Gerlach, 104. 29 For the speech see A. Stöcker, C hristlich-Sozial. Reden u. Aufsätze, Bielefeld 1885, 338—53. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Stöcker, 339—40. v. Gerlach, 112. 32 H. J . Schoeps, C DU vor 75 Jahren. Die sozialpolitischen Bestrebungen des Reichs­ freiherrn F. v. Fechenbach 1836—1907, Zeitschrift für Religion u. Geistesgeschichte 9. 1957, 266—77. 33 Die Post, November 13, 1880. See also H. Böttger, Das Programm der Hand­ werker, Braunschweig 1893, 137—38; and E. Jäger, Die Handwerkerfrage. Geschichte der Handwerkerbewegung bis zum Jahre 1884, Berlin 1887, 166 ff. 34 Jäger, 176; and a propaganda pamphlet entitled Die Demokratische Partei u. die Handwerker, München 1883, which describes in detail v. Fechenbach's activities among the small handicraft-masters. 35 On the degree of v. Fechenbach's appeal one can judge from reports on the master-artisans' national congresses. For 1881 see the KZ, August 5; for 1882 and 1883 the protocols of the meetings: Verhandlungen des allgemeinen deutschen Handwerker­ tages zu Magdeburg 1882, 25—36, and the Verhandlungen . . . Hannover 1883, 23—25. The most ardent supporters of v. Fechenbach during these years in the masters' organ­ izations were the master-tailors Fasshauer from C ologne and Möller from Dortmund. Both remained until well into the 1890's among the most militant anti-semitic and radical leaders of the master-artisans in Germany. 36 Die Allgemeine Handwerkerzeitung (AHZ), Jan. 25, 1887, and a barrage of arti­ cles in every issue throughout 1887. 37 The Reichstag election results between 1877 and 1884 offer a glimpse into this period of political instability. Specht, 88—104, provides a series of useful tables com­ bining changes in the relative power of the various parties with the shifts in the polit­ ical allegiance within the various German states and provinces. 38 For a fuller treatment of this problem see the author's Diss. 117—88. 39 Legislation for the reorganization of the handicrafts was passed in 1881, late in 1884, 1886, 1887 and 1889. For a summary see “ Gewerbegesetzgebung“ in: Handwör­ terbuch der Staatswissenschaften, IV, 19103. 40 See, for instance, the speech by the State Secretary of the Interior v. Boetticher in the Reichstag on Nov. 24, 1891. Also K. E. Born, Staat u. Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, 90—112, and H. Rothfels, T. Lohmann u. die Kampfjahre der Staatlichen Sozialpolitik 1871—1905, Berlin 1927, 123—25. 41 See the fierce argument in: Protokoll über die Verhandlungen am 15., 16. und 17. Juni 1891 mit Vertretern des C entralausschusses der Vereinigten Innungsverbände Deutschlands und des Allgemeinen Deutschen Handwerkerbundes zu München (Baye­ risches Hauptstaatsarchiv MH-14661), and in the Reichstag on Nov. 24, 1391. 42 Protokoll über die Verhandlungen des deutschen Innungs- u. allgemeinen Hand­ werkertages zu Berlin 1892, passim. 43 Protokoll 1892, 42, 46. 44 Protokoll über die Verhandlungen des XIII. Allgemeinen Deutschen Handwerker­ tages zu Halle 1895, 4. 45 Specht, 503. 46 Ibid., 504. 47 Protokoll 1892, passim. 48 Specht, 507. 50 Ibid., May 26, 1893. 49 AHZ, April 28, 1893. 51 See for instance the DHZ, Jan. 6 Feb. 24, March 3, June 7, 1894, and AHZ May 5, May 12, 1894. 52 M. R. Lespius, Parteiensystem u. Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisie­ rung der deutschen Gesellschaft, Fs. F. Lütge, Stuttgart 1966, 371—93. 58 From this point of view modern anti-semitism, in spite of its unique character, is nevertheless a chapter within the general history of European anti-semitism 30

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22 Bankenkonzentration und Schwerindustrie 1873-1896 Bemerkungen zum Problem des „Organisierten Kapitalismus“ Von HELMUT BÖHME

Auf ökonomische Begründungen politischer Entwicklungen hinzuweisen, vor einem Dezennium innerhalb der deutschen Geschichtsschreibung noch keines­ wegs eine Selbstverständlichkeit, bedeutet heute, angesichts der politischen „Theorie-Praxis“ Diskussion in der Gesellenstube dieser Zunft, nahezu „Eulen nach Athen“ tragen; so elanvoll und zugleich einheitlich hat die jüngere Gene­ ration in der politisch-ökonomischen Theorie einen hinreichenden Erklärungs­ parameter entdeckt und aufgebaut, von dessen Überlegenheit an „theoretischer Leitkonzeption“ und von dessen „größtmöglicher Erklärungsreichweite“ bei Problemen moderner Staatlichkeit nahezu keine Abstriche gemacht werden. Zu­ gleich aber ist es erstaunlich, daß trotz dieses hohen Engagements, das sicherlich zu lange brachliegende Feld der Theoriebildung innerhalb der Sozialwissen­ schaften zu bebauen, sich erkenntnisgeleitetes Interesse nicht entsprechend auch auf die Erarbeitung historischer Überlieferung als empirischer Information aus­ gedehnt hat. In zunehmendem Maße erscheinen die Bedürfnisse nach theoreti­ schen Koordinationssystemen, Paradigmata neuer Forschungsakzentuierung, be­ friedigt zu sein, ohne daß jedoch „altpositivistische“ Vorstellungen im Verfah­ ren der „kumulativen Gewinnung von sog. Fakten“ (Wehler) außer Kraft ge­ setzt worden wären. Der Prozeß wechselseitiger Kontrolle ist erkennbar ohne zusätzliche empirische Information nicht zu leisten. Dies ist vielleicht die wich­ tigste Erkenntnis aus der neokritischen Wissenschaftsposition, die Hans Rosen­ berg sehr behutsam und bewunderungswürdig stringent dargestellt und die Hans-Ulrich Wehler mit nahezu fanatischem Eifer weiterzuentwickeln bestrebt ist. Gerade an einem Gegenstand wie den Beziehungen zwischen Großbanken und Schwerindustrie, eigentlich einem Kernbereich politisch-ökonomischer In­ terpretationskunst, ist an entsprechender empirischer Information wenig zuge­ wachsen. „Säkulares Wachstum“ , „sozialer Wandel“ und schließlich die „Ver­ schiebung der politischen Kräftekonstellationen unter dem Primat der System­ erhaltung oder -Veränderung“ können als Bezugspunkte historischer Interpre­ tation der Entstehung der modernen Gesellschaft dienen. Ihre wissenschaftliche und definitorische Herausarbeitung hat zu einer kritischen Überprüfung her­ kömmlicher Betrachtungsweisen geführt. Nach wie vor fehlt aber die gleichge-

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wichtete und gleichgewichtige Darstellung wirtschaftshistorischer Fakten. Dem­ entsprechend basieren die Erkenntnisse der neueren Forschung auf diesem Ge­ biet auf theoretisch abgeleiteten Erkenntnissen, also auf ungesicherten Fakten. Banken- und Schwerindustrieentwicklung erscheint heute nach wie vor als Firmengeschichte, und diese selber stellt sich weiterhin weitgehend unkritisch als Auftrags-, Fest-, Gedenk- oder Erinnerungsschrift dar. Während die positivisti­ schen Arbeiten1 wenigstens z. Τ. noch direkten Archivzugang hatten, haben dies neuere Forschungen nur in begrenztem Maße, es sei denn, die Nebenfrüchte journalistischer Tätigkeit haben einen direkten Auftragscharakter2. Nach wie vor wird Firmengeschichte in der BRD nicht als legitime Aufgabe wissenschaft­ licher Forschung betrachtet3. Ausnahmen bestätigen diese Regel4, nur sind die Ansätze der 60er Jahre: den Zweck einer Jubiläumsschrift mit dem wissen­ schaftlicher Forschung zu verbinden, leider wieder verschüttet worden und nicht so, wie es zu hoffen gewesen ist, durch die Theoriediskussion angespornt wor­ den. Übrigens gilt dieses Urteil auch für die Beurteilung der Kartell- und Kon­ zentrationsentwicklung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ent­ wicklung der Banken und der Grundindustrie steht5. Nähert man sich nun unter Prämissen, die ich jüngst an anderer Stelle zur späten Bismarck-Zeit6 und zum deutschen Imperialismus7 formuliert habe, und sieht diese Thesen in Verbindung mit den theoretischen Prämissen, die Hans Rosenberg brillant an verschiedenen Stellen seines Werkes formuliert hat8, um ökonomische Funktion und sozialen Sinn in der preußisch-deutschen Geschichte zu analysieren, so wird sofort erkennbar, daß der Mangel an empirischer Infor­ mation nicht nur auf einem Versessensein auf Theorie und bloßem Verzicht auf Fakten beruht. Die Akten und die Überlieferung der großen deutschen Banken scheinen, was die Zeit vor 1914 angeht, weitgehend verloren zu sein, und dort wo sie erhalten sind, erhält man nur schwierig Zugang — oder aber überhaupt nicht. Es bleibt also nur die industrielle und staatliche Seite und die Überlie­ ferung in den Zeitungen9. Leider gilt das bei den Banken gesagte auch oft für die Industrieunternehmen. Trotzdem möchte ich betonen, daß die hier zugrunde gelegten Überlieferungen ohne die große Mithilfe verschiedener Unternehmen nicht hätten ausgewertet werden können10. Die staatliche Überlieferung ist zu­ dem, was interne Konzernpolitik anbetrifft, karg, aber die Zeitungen bieten manchmal einen materialreichen Überblick. Generell ist festzustellen, daß das Material für diese Fragestellung mehr als dürftig ist. Die Zeitgenossen haben zu den „Verhältnissen“ geheimer Betriebsführung und Geschäftspolitik ge­ schwiegen. Informationen an Dritte gibt es fast nicht, es sei denn, Konfliktfälle beleuchten die Szene exemplarisch. Dementsprechend langwierig und mühsam war und ist es, dem Verhältnis von Banken und Industrieunternehmen im De­ tail nachzugehen, die Beziehungen auf empirischer Basis zu analysieren und die Ergebnisse sowohl auf die Konzentrationsbewegung der deutschen Wirtschaft als auch auf die allgemeine Theorie der Konjunkturzyklen, die Rosenberg für die „Einordnung und Bedeutung gewisser sozialpolitischer und geistiger Epo­ chenmerkmale und Bewegungstendenzen“ herangezogen hat11, zu beziehen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 28 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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I. Die deutschen Universalbanken und die Großunternehmen der Schwer­ industrie sind das Produkt zweier Gründerzeiten12. Die ersten Mutungen fan­ den sämtlich in den Jahren 1845 bis 1854 statt, und der erste Ausbau der Fel­ der — vornehmlich mit belgischem und französischem Kapital finanziert — fiel in die Zeit des ersten umfassenden Aufschwungs, den Industriewerte an den Börsen Europas in den 50er Jahren finden konnten. 20 Jahre spater zwischen 1868 und 1873 wurden dann auf dieser Grundlage die großen, z. Τ. bis in un­ sere Zeit hinein wirkenden Firmen als Aktiengesellschaften gegründet, in denen aber, so wie z. B. — und gleichzeitig exemplarisch — in der GBAG (Gelsen­ kirchner Bergwerks-AG), die Grundelemente der ersten Gründerphase erkenn­ bar blieben. Außer diesen beiden Gründerphasen war eine grundsätzlich ähn­ lich geartete Finanzierung und Organisation für die Bergunternehmen charak­ teristisch und damit auch eine vergleichbare Ausgangsposition für das Einwir­ ken fremder Finanzpolitik. Bei der GBAG — wiederum als Beispiel — hatten in der ersten Gründungs­ welle noch der Landwirt Anton Humann, der Rentmeister Franz Anton Hu­ mann, der Kaufmann Gerhard Schmitz und der Landbesitzer Matthias Walte­ hoff vier Mutungen als Privatpersonen einbringen können, in der Hoffnung, das nach Norden mächtiger werdende Deckgebirge erfolgreich mit Schächten zu durchteufen. Zwanzig Jahre später war dies weder vom finanziellen Auf­ wand her noch unter unternehmerischen Gesichtspunkten mehr möglich. Fried­ rich Grillo13 wollte nämlich „sämtliche in der Essener Mulde gelegenen Zechen, die mit deutschem Kapital arbeiten, zu einem einzigen deutschen Werk zusam­ menfassen“ 14; nur so könnten bergtechnische Schwierigkeiten und Nachfragen bei entsprechendem Profit gedeckt und überwunden werden. Grillos Plan war dementsprechend mit einer reinen Industriekonzentration nicht mehr krisenfest zu finanzieren, und folglich lag nach 20 Jahren „Selbsthilfe“ durch rasche Ze­ chenzusammenlegungen, Um- und Neugründungen mit Hilfe von belgischem, holländischem, englischem und französischem Kapital, vermittelt durch Pri­ vatbanken, nun die Investitionskraft bei der größten mitteleuropäischen in Berlin residierenden Bank, der „Direction der Disconto-Gesellschaft“ . Mit dieser Bank trat ein völlig neues Element in die Schwerindustrieent­ wicklung ein, und diese Bank, eine Gründung David Hansemanns, war auch ein Ergebnis der ersten Gründungsperiode15. Unter der penibel-harten, aber auch risikofreudigen, preußisch-engagierten Geschäftsführung von Hansemann hatte sich die Bank aus lokalen Berliner Anfängen zu einer Handwerkerbank mit sozialpolitischen Zielsetzungen und schließlich zu einer der großen Handels­ und Industriebanken Deutschlands entwickelt. C harakteristisch für ihre Ge­ schäfte — und auch die der anderen AG-Banken — war nicht nur die Vermitt­ lung von Staatspapieren, sondern auch die Übernahme des Kontokorrent­, Depot- und Spareinlagengeschäfts. In Kooperation mit den alteingesessener Privatbankiers hatten diese Banken neuen Stils im Dienste Bismarckscher par force-Politik ebenso reüssiert wie an der Teilhabe im Industriegeschäft. Ein Vielzahl von Um- und Neugründungen vornehmlich nichtdeutscher Unternel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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men, vor allem im Ruhrgebiet16, bildeten den Grundstock für die Entwicklung dieser Banken und mit ihnen der Berliner Börse zum Hauptvermittlungsort für Montanwerte. Aus dieser Position heraus, nämlich der Verbindung zwischen Kontokorrent, Immissions- und Depositengeschäft, entfalteten die Berliner Banken innerhalb von 40 Jahren eine Expansionstätigkeit, die am Vorabend des 1. Weltkriegs Deutschlands industrielles Finanzierungsgeschehen auf sechs Berliner und eine nichtberliner Bank beschränkte; alle deutschen Kreditinstitute waren mit diesen Banken verbunden, die ebenfalls das Auslandgeschäft der deutschen Wirtschaft kontrollierten und mit Hilfe von Aktientausch oder -kauf, mit Gründungen von Tochtergesellschaften oder Filialen immer mehr in die Lage versetzt wurden, den deutschen Kapitalmarkt zu kontrollieren und die Rahmenbedingungen deutscher Auslandspolitik mitzubestimmen. So hatte z. Β. die Deutsche Bank ihr Aktienkapital von 15 Mio. Mark auf 200 Mio. Mark gesteigert und in diesem Zeitraum 31 Privatbanken und 21 Aktienbanken über­ nommen. Dabei war für die Entwicklung der deutschen Banken sowohl unter dem Zeichen liberaler oder schutzzöllnerischer Wirtschaftspolitik als auch unter kon­ tinentaler oder weltumgreifender nationaler Machtpolitik kennzeichnend, daß ihre Organisationsform als Aktiengesellschaft sie in die Lage versetzte, den großen Kapitalbedarf der raschen deutschen Industrialisierung weitgehend aus eigenen Kräften zu beschaffen. Dies war zudem die weitere Voraussetzung, um die sehr risikobehafteten industriellen Fusionsgründungen abzusichern, die sel­ ber wiederum nur durch die Bildung dieser Großbetriebe in der Lage waren, vom großen, neuen deutschen Markt unter den freizügigen Handelsverbindun­ gen zu profitieren. Nur die Aktiengesellschaften als Banken konnten, da sie selber Spekulationsobjekte waren, „der wirtschaftlichen Situation“ 17 genügen. Als z. B. Ende des Jahres 1872 ein Plan F. Grillos den Banken offerierte, die „ausländischen Zechen Dahlbusch, Schamrock, Hibernia, Rhein-Elbe und Alma aufzukaufen“ 18, wurde zu Silvester 1872 dieses neue Unternehmen „gegrün­ det“ . In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, daß bei dieser Neu­ gründung — und ähnlich vollzogen sich die Beteiligungen der Deutschen oder Dresdner Bank — die Leitung und Überwachung der Unternehmen fortab in Berlin lagen19, ja daß diese Überwachung „peinlich“ genau war20. So hatte die Direktion der GBAG wöchentlich in Berlin zu rapportieren. „Einem“ , so hat es ein Direktor berichtet, „der zur Mitarbeit berufen, aber nicht beteiligt war, (haben) es die persönlichen Einflüsse . . . sehr schwer gemacht, zur Geltung zu kommen.“ 21 Im Unterschied allerdings zur unmittelbaren Überwachung der Geschäftsführung ließen die Banken „Unternehmerpersönlichkeiten“ mit „planenden Gaben“ — so Georg v. Siemens von der Deutschen Bank — wie Grillo oder Friedrich Funke weitgehend „Freiheit zur Gestaltung“ . Und dies konnte man umso ungestörter tun, da bereits 1872 der Finanzierungsring für die deutsche Schwerindustrie beschlossen war: Die AG-Banken dominierten als Kreditvermittler. Jede hatte außerdem eine enge Verbindung mit Privat­ banken, so z. B. die Diskonto-Bank mit J . Landau, von Oppenheim, J . Eltz28*

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bacher, L. v. Born, und jede hatte eine „eigenfinanzierte“ Handelsgesellschaft, so in diesem Zusammenhang G. Godeffroy (Hamburg), die wiederum über eine Bankverbindung — hier die Norddeutsche Bank — angeschlossen war. Unbestrittenes Regiment führten in diesem System die Geschäftsinhaber der Bank, bei der Discontobank also Emil Russel, Adolph Salomonsohn und Alfred Lent, bei der Deutschen Bank Georg v. Siemens, bei der Dresdner Bank Emil Gutmann. II. Die durch Gründungswellen erreichte Verzahnung zwischen Industrie­ unternehmen und Banken erhielt nun durch die „Große Depression“ 22 und durch die daran anschließende Niedrigpreisperiode bei sich stark ausweitendem Absatz ihre für die damalige deutsche Wirtschaftsentwicklung charakteristische Ausbildung: Keines der von den Berliner AG-Banken gestützten Unternehmen bankrottierte, aber auch keines der von Berlin abhängigen Industrieunterneh­ men hatte die Macht, eine selber zu verantwortende und eigenorganisierte Un­ ternehmenspolitik zu entwerfen. Die Berliner Banken befahlen, ordneten an oder ließen die Geschäftsbeziehungen in ihrem Sinne und unter Berücksichti­ gung ihres Portefeuilles regeln23. Dabei hatte die „reinigende Kraft“ der De­ pression zur Folge, daß einmal die Vielzahl kleiner und mittlerer Unterneh­ men sowohl auf dem Industrie- als auch auf dem Bausektor zu größeren Ein­ heiten zusammengefaßt wurden und daß zweitens die lange anhaltende De­ pression zum Nährboden für die Weiterentwicklung der Großindustrie und des damit verbundenen deutschen Finanzierungssystems wurde. Das Montan­ geschäft, verbunden mit den Staatsanleihen-Konsortien wurde zum Hebel deutscher Bankpolitik und sicherte die Schlüsselposition der deutschen Banken in dieser Phase. Preisrückgänge um 60 %24 konnten allerdings bei aller „Niedriglohnpolitik“ , Fixkostensenkung und Exportsteigerung nicht langfristig aufgefangen werden, und so wurde von den Banken ein dreifach gegliedertes Aktionsprogramm ent­ wickelt, das gleichzeitig direkt die Unternehmensführung betraf und dement­ sprechend das Verhältnis zwischen Montanunternehmen und Banken so prägte, daß selbst Verbundentwicklungen auf der Industrieseite mehr, als es bislang in der Forschung gesehen wurde25, von den Banken initiiert und befohlen wur­ den. Die Politik der Banken läßt sich folgendermaßen kennzeichnen: 1. Aufbau eines Zollschutzes und Anbindung staatlicher Macht an das „Schicksal der Pro­ duktion“ (Salomonsohn). Das wurde bis 1879 erreicht. 2. Blockbildung in Ge­ stalt von Förderkonventionen, von Preiskartellen durch Absprachen. Das wurde bereits ab 1877 erreicht. 3. Ausbau bestehender Anlagen zu branchenbestim­ menden Großunternehmen. Das wurde bis Mitte der 90er Jahre erreicht. Bei allem Konsens über Punkt 1 erwies sich die Entwicklung zu 2 oder 3 zunehmend als schwierig. Die Entwicklung zur Block- oder Großunternehmens­ bildung entzweite, so zeigt es die Überlieferung, Bank- und herkömmliche In­ dustriepolitik. Nachdem es nämlich 1879 aufgrund der Solidarität von Land­ wirtschaft und Industrie gelungen war, „an die Stelle der verblassenden frei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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händlerischen Interessengemeinschaft“ einen interessengeprägten Wirtschafts­ nationalismus in Form vom Schutzzöllen, Steuerreform und neuen parlamen­ tarischen Mehrheiten zu errichten, waren ökonomische Wettbewerbsbedingun­ gen erreicht, die die Frage nach dem Weg zum besten Preis offenließen: As­ soziierung zur Stabilisierung der Preise oder Monopolentwicklung zur Fest­ setzung der Preise. Die Banken wollten die Assoziierung, doch sie bedurfte des „Friedens am Markt“ . Bereits 1879 aber, der Schutzzoll war noch nicht unter Dach und Fach, begannen das Ruhrgebiet und die oberschlesische Indu­ strie aufzubegehren. Dort, wo die Voraussetzungen für eine direkte indu­ strielle Absatz- und Produktionserweiterung lagen, wollten die Industrieleiter von keiner „Blockbildung“ etwas wissen. Ohne die Unterstützung der Banken konnten diese Intentionen nicht durchgeführt werden. Und für die Banken war es eine Entscheidung über die Eröffnung eines gegenseitigen Machtkampfes auf Berliner Terrain mit den nicht abzusehenden Folgen einer auf die Großbanken selber zurückschlagenden Fusionspolitik. Dementsprechend hart waren die Aus­ einandersetzungen Anfang der 80er Jahre um die weitere Politik auf dem Ge­ biet der Schwerindustrie. Besonders kraß prallten die gegensätzlichen Positionen bei der GBAG und der Disconto-Bank aufeinander. So beschied z. B. der führende Geschäftsinha­ ber E. Russell den Generaldirektor Emil Kirdorf, der auf eigene Faust han­ deln wollte: „Sie sind krank, mindestens krankhaft erregt, und das beeinträch­ tigt Ihren ruhigen und objektiven Blick“ , und befahl ihn zu einer „persönli­ chen, mündlichen und privaten Besprechung“ ; bis zur Drohung ging diese Aus­ einandersetzung: „Ihre Haltung ist Unrecht gegenüber Ihrer Familie.“ 26 Nach 1879 stand bei den Banken und ihrer Industrieklientel eine Politik, „die Solidarität der Interessen“ durch „Konventionen“ abzusichern, einer sol­ chen der rigorosen Expansion des Einzelunternehmens gegenüber; aber bereits 1880 hatte sich — soweit erkennbar — zum erstenmal in der Montanentwick­ lung die Industrieseite durchgesetzt: Man verständigte sich zwischen Ruhrge­ biet, Oberschicsien und Berlin — da „einstweilen . . . auf eine Verwirklichung . . . des großen Gedankens (nämlich eines einheitlichen Verbands) . . . nie zu hoffen ist“ — daß „man zunächst zu einem Mittel greift, das die Erreichung jenes Zieles einerseits vorbereitet und andererseits in der Zwischenzeit wenig­ stens das eigene Unternehmen vor den Wechselfällen . . . schwankender Kon­ junkturen schützen kann“ 27. Die Konsequenz war, daß die einzelnen Grund­ industrieunternehmen in der Depression der 80er Jahre mit härtestem Einsatz und schärfster Konkurrenz bei Ausnutzung aller Markt- und Finanzierungs­ vorteile bestrebt waren, eine „möglichst breite Grundlage zu erwerben, um so zu einem einflußreicheren und schließlich mit ausschlaggebenden Faktor inner­ halb der Kohlenindustrie zu werden“ 28. Der Expansionspolitik auf dem In­ dustriesektor folgte die Expansion auf dem Banksektor, sie wurde hier noch krasser durchgeführt29. Die Schwerindustrie expandierte. Während der 80er Jahre entwickelten sich komplexe Einheiten, von denen nur wenige den Markt beherrschen konn© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ten30. Betrachtet man in dieser Phase die Arrondierungen auf dem Kohle­ sektor, so wird deutlich erkennbar, daß sich zwei große Blöcke abzeichneten: Harpener Bergbau AG und GBAG. Die GBAG z. Β. übernahm binnen sieben Jahren acht Zechen und sicherte sich damit „durch Besitz . . . eine Stellung . . . die zu einer maßgebenden, führenden werden soll und uns die Macht schaffen soll, die . . . wünschenswerte Hebung und Befestigung der Absatzverhältnisse anzustreben“ 31. Gleichzeitig vermochten aber diese Großunternehmen auch, die Konzentrationspolitik mehr und mehr zu bestimmen32. Dabei veränderte sich die Struktur auch innerhalb der Schwerindustrie. Die Politik der „vertikalen Vereinigung“ gegen die der „horizontalen Blockbildung“ , mit den Namen von Emil Kirdorf für die Syndikats- und Kartellidee33 und von August Thyssen für den Trust-Gedanken verbunden, begann in ihrer schroffen Gegensätzlich­ keit die Politik der Banken mitzugestalten34. Aber auch die Bankseite verän­ derte ihre Politik des direkten Einflusses, nachdem die Frage der Verschmel­ zung von Kohle und Eisen zu einem Wirtschaftsorganismus Investitionssum­ men notwendig machte, die eine einzelne Gesellschaft nicht mehr aufbringen konnte. Der daraus resultierende Wechsel in der Geschäftspolitik ist seit 1887 deutlich faßbar. Hatten die Banken zuvor einen starken und direkten Einfluß auf die Ge­ schäftsführung genommen und die „Leitlinien“ der Betriebs- und Buchführung bestimmt und kontrolliert, so ist ziemlich genau ab 1887 eine Veränderung in den gegenseitigen Beziehungen erkennbar. Die Gründergeneration trat in das zweite Glied, die Vertreter des Bankmanagements überließen im Vorstand von Industrieunternehmen die Plätze den Industriellen35. Die direkte Führung der Unternehmen durch die Banken machte einem Verhältnis größerer „Part­ nerschaft“ Platz, der Handlungsspielraum der Industrieunternehmen vergrö­ ßerte sich behutsam. Dieser Entwicklung läuft nun zeitlich parallel — und sie mitbestimmend — das wachsende Engagement im Eisen- und Stahlgeschäft. Das hatte aber zur Folge, daß die Interessen dieser Industrie auch berücksich­ tigt werden mußten, und im gleichen Maße wie deren Kartellbemühungen darauf zielten, dem „lästigen Druck“ , den die Kohlenindustriellen „infolge der Monopolisierung des Marktes auf die Konsumenten“ ausübten, zu begeg­ nen, wurde bei den Großbanken ein Antagonismus relevant. In ihrem Streben nach industrieller Betätigung verloren die Banken, je breiter und tiefer ihr in­ dustrielles Engagement wurde, die Möglichkeit, „eine allgemeine industrielle Gestaltung von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus planvoll anzustre­ ben“ 36. Da sie sowohl „Produzenten“ - als auch „Konsumenten“ -Interessen vertraten, war es das Nächstliegende, den Antagonismus in einer umfassenden Konzentrationspolitik zu suchen, doch diese Politik konnte in den 80er Jahren noch nicht erreicht werden, da die Konzentrationspolitik zugleich eine Stabili­ tätspolitik am Bankenmarkt bei gleichzeitiger Entbindung der Industriein­ teressen aus dem bankpolitischen Kalkül bedeutete. Es zeigte sich nämlich seit 1887, daß der zielbewußten Konzentrationspolitik — schon aus Gründen der eigenen Konzentrationsbemühung und des eigenen Marktvorteils — eine Grö© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ßenordnung des Industriegeschäfts gegenüber stand, die die Industriepolitik der Banken in ihr Gegenteil umschlagen ließ. Denn durch die schrittweise Ver­ wirklichung der Konzentration, die Verdrängung konkurrierender Macht auf der Bankenseite und das Anwachsen der industriellen Investitionssummen wurde für die Berliner Großbanken die Konkurrenz immer mehr gegenstands­ los. Die aufzubringenden Summen konnten in einem einzelnen Institut nicht mehr erbracht werden. Fast jede Fusion auf der Montanseite führte am Ende des Jahrhunderts zu einem Konsortium fast aller damals existierender deut­ schen Banken, die sich wiederum zu Bankengruppen zusammengeschlossen hatten37. Immer weniger vermochte eine Gruppe die industrielle Expansion allein und konzentriert in einem Produktionszweig durchzuführen. Das hieß aber, daß die Industrie immer mehr die Initiative im Konzentrationsprozeß von den Banken übernehmen konnte. Die Banken mußten sich mehr auf die globale Steuerung beschränken. Hinzu kam, daß die fortschreitende Bankenkonzen­ tration mit Hilfe der Angliederung von Provinzbanken auch noch den Effekt einer Dezentralisation hatte, die die Abhängigkeit der Banken von der Indu­ strie noch unterstützte. Unfreiwillig gerieten so die Berliner Banken mit ihrem immer weiteren Vordringen in das Industriegeschäft in den Bannkreis ihrer ehemals vollkommen von ihnen abhängigen Industriebetriebe. Die Konzen­ tration brachte daher den Banken eine verstärkte Bindung an die Industriellen, den Industriellen aber mehr Freiheit in der Wahl ihrer Mittel zur Expansion und zur Durchführung ihrer eigenen Geschäftspolitik38. Wohl waren Ende des Jahrhunderts die großen Konzerne mit ganz bestimmten großen Banken — besonders was die Emissionen anbetraf — bevorzugt verbunden, (z. Β. Thyssen mit der Dresdner Bank; die G BAG mit der Disconto-G esellschaft; Harpen, Phönix, Hörde, Stahlwerk Hoesch usw. mit dem Schaaffhausenschen Bankverein, Haniel, C arl Funke, Gutehoffnungshütte mit der Deutschen Bank; Hibernia mit der Berliner Handelsgesellschaft usw.) — aber je mehr Ende der 90er Jahre „das Eisen die Kohle“ überholte, desto öfter mußten sich die Banken zu gemeinsamen Konsortien zusammentun, um die Kapitalien zu einem wirtschaftlichen Weiterbau aufbringen zu können, die zuvor noch ohne Konsortium in eigener Großbankenregie aufgebracht worden waren. III. Die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie Ende der 80er Jahre und der Versuch der Reichspolitik, mit Hilfe von Handelsverträgen soziale Spannungen in nationale Produktionsentfaltung einmünden zu lassen, unter­ stützten die sich seit 1887 andeutenden Wandlungen im Verhältnis von Ban­ ken und Industrieunternehmungen. Auf der Bankseite dezentralisierte sich das Geschäft erkennbar; die Tagesarbeit wurde von den mit den Berliner Banken verbundenen Provinzbanken durchgeführt, allein die Emissionen und Fusionen waren noch Sache der Zentrale. Gleichzeitig traten aber die Banken in der Ge­ staltung der Industriepolitik erkennbar zurück. Der Antagonismus Eisen— Kohle band die Großbanken, vertikale und horizontale Konzentrationsin­ teressen raagen miteinander in Verbissenheit39 und lähmten die Durchsetzung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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einer konsequent durchkartellierten deutschen Wirtschaft einschließlich des Exports. Die Banken warteten aber, wer sich auf der Industrieseite durch­ setzen würde, Emil Kirdorf oder Thyssen, Stinnes oder Krupp. Erst als es er­ kennbar wurde, daß sich die Kohle- und Koksproduzenten in machtvollen Syndikaten zusammenzuschließen begannen und über 90 % der Produzenten ein Monopol organisiert hatten, waren die Banken, die in der Kohleindustrie engagiert waren, gezwungen, der horizontalen Konzeption ihr Placet zu ge­ ben. Gleichzeitig aber löste diese von der Kohlenseite vorgetragene Politik die Konsortienbindung der Berliner Banken und eröffnete nach 1893 den Ban­ ken die Möglichkeit, die Macht der Verbraucher mit der der Produzenten zu verbinden zu einer neuen gesteigerten Form des Konzerns und des Trusts. Hatte „das Syndikat“ dem Großunternehmen die äußere Machtstellung ge­ geben, den Markt zu beherrschen, die Preise zu stabilisieren und den Absatz zu regeln, so begannen die Großbanken, als Mitte der 90er Jahre die seit 1873 andauernde Stagnation von „einer Periode blühenden Wohlstands“ abgelöst wurde, immer mehr auf die Gefahren der Syndikatspolitik hinzuweisen. Der „Morphiumtod“ der kleinen Zechen brachte keine Lösung, bot keine Alternative zu den Wettbewerbsmöglichkeiten der sich in der Hochkonjunktur ausdehnenden Konzerne, die die Fertigung ebenso beherrschten wie den Ex­ port und denen es aufgrund eines enorm gesteigerten Absatzes immer mehr gelang, durch den Erwerb eigener Zechen die Syndikatsabsichten zu unter­ höhlen. So war bereits Mitte des Jahres 1894 bei den Großbanken der Syn­ dikatsgedanke ad acta gelegt worden. „Die Weiterentwicklung unserer Zechen ist äußerst problematisch“ äußerte der für Industriepolitik verantwortliche Geschäftsinhaber der Disconto-Bank. „Wir haben ein schönes Instrument“ , können aber gegen die Konkurrenz bei Nichterneuerung des Syndikats „nicht bestehen.“ 40 Dementsprechend übernahmen nun im Zeichen der ,Hochkon­ junktur die Großbanken die Akzentsetzung der Industriepolitik. In ihrem Streben nach „größeren Assoziationen“ verstärkte jede Bankengruppe ihre Klientel so, daß „zwischen selbständig bleibenden Unternehmen“ der Markt monopolistisch beeinflußbar wurde, dabei war aber letztlich die alles entschei­ dende Machtstellung in jeder Organisation abhängig von Größe und Einfluß­ fähigkeit des jeweiligen Unternehmens und damit auch indirekt der Banken­ gruppe. Machtentfaltung, die wieder Rückwirkung auf die Stellung im Syndi­ kat hatte, konnte aber nur außerhalb desselben durchgeführt werden; ab 1900 lag also der Schwerpunkt der Industriepolitik auf dem gemischten Betrieb, dem Konzern, oder, so Thyssen: „Wir müssen durch zum Trust“ , die Zeit „der Syndikate ist eigentlich vorbei“ 41, denn die Syndikate könnten — so C. Duisberg — im Rahmen der Weltmarkt- und Weltmachtpolitik nur noch „Voraussetzung für die Unternehmenskonzentration“ sein42. Als sich ab 1907 in ständig zunehmendem Maße der gemischte Betrieb durchsetzte und wenige Schwerindustrieunternehmen „so leistungsfähig, andererseits so unabhängig wie möglich geworden waren“ 43, waren die Ziele der Banken erreicht. Gleich­ zeitig aber setzte sich die 1887 aufgezeigte Tendenz im Verhältnis von Ban© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ken und Industrieunternehmen voll durch. Der Kapitalbedarf der Konzerne war für jede Transaktion einer Großbank zu groß geworden. Neue Banken­ konsortien und neue Kapitalquellen mußten erschlossen werden. Im Augen­ blick des erreichten bankpolitischen Ziels, die eigene Macht mit Hilfe der Kon­ zernbildung im „Gegensatz zu derjenigen anderer Banken zu erweitern“ (A. Lent), waren die Banken gezwungen, das Mittel, das von ihnen als Mittel der Expansion gedacht war, aufzugeben. Die Konzernfusionen erzwangen sowohl die Aufgabe der engen Bindung an ein Unternehmen als auch die Verflechtung mit den Konkurrenten bis hinein in die Aufsichtsräte der neuen Unterneh­ men. Das Syndikat hatte eine erste Loslösung der Industrieunternehmen er­ bracht; die Konzerngründung brachte über den Weg der großen Fremdfinanzie­ rung die Unabhängigkeit von einer Bankengruppe; in den Aufsichtsrat der GBAG z. B. traten neben H. Stinnes, A. Thyssen, E. Kirdorf, C . Klönne, E. v. Rath und E. Kleine, die Deutsche Bank, die Dresdner Bank und der Schaaffhausensche Bankverein44. Zu einem Zeitpunkt also, wo eine Bank­ gruppe den erheblichsten Einfluß auf neugegründete Konzerne ausüben konnte, gelang es erstmals der Industrieseite, Einfluß auch auf die Bankengruppe aus­ zuüben. In gegenseitiger Verflechtung hatte Kapitaleinsatz und -Verwaltung die allgemeine Wirtschaftsentwicklung abhängig von Depression und Hoch­ konjunktur organisiert. Denn eine ähnlich große Expansion wie die Industrieentwicklung45 hatte auch die Bankentwicklung durchgemacht. Nehmen wir als Beispiel die „Direc­ tion der Disconto-Gesellschaft“ . Sie hatte 1851 mit einem Aktienkapital von 39 Mill. Mark begonnen, hatte 1872 ein Aktienkapital von 60 Mill. gehabt und arbeitete 1904 mit einem Aktienkapital von 170 Mill. Mark. Enge Ver­ bindungen u. a. zur Bochumer Bergwerks AG, zur Deutsch-Luxemburger Bergwerks- und Hütten AG, zum Eschweiler Bergwerksverein, zur „Phönix“ AG für Bergbau und Hüttenbetriebe, zur „Union“ AG für Bergbau, Eisen­ und Stahlindustrie kennzeichneten ihr Industriegeschäft, das aber keineswegs im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand. Denn zu einer Vielzahl von Unterneh­ men der Metallverarbeitung, des Maschinen- und Instrumentenbaus (u. a. AEG), der chemischen Industrie usw. hatte die Bank auch weitreichende Be­ ziehungen zur nationalen und internationalen Bankwelt, sowie in der Emis­ sion von Staats- und Kommunalanleihen. Zu ihrem Konzern gehörten u. a. die Norddeutsche Bank, die Allgemeine Deutsche Kreditanstalt, der Barmer Bankverein, die Süddeutsche Disconto-Gesellschaft; Interessengemeinschaften bestanden mit der Bank des Berliner Kassenvereins, der Bank für Thüringen, der Bank für C hile und Deutschland, der Brasilianischen Bank für Deutschland, der Deutschen Afrika-Bank, der Deutsch-Asiatischen Bank, der Banca C om­ merciale Italiana, der Bank de C rédit Sofia, Banca Generala Romana, der Compagnie du chemin de fer du C ongo, der General Mining and Finance C or­ poration Johannesburg. Dieses nationale und internationale Engagement stellt aber nur eine kleine Auswahl ihrer Beziehungen dar. In Rumänien, Rußland, Südamerika, im Fernen Osten — überall wurde die Bank, parallel zur Tätig© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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keit anderer deutscher Großbanken, aktiv. 1896 emittierte sie Industriewerte in Höhe von fast 80 Mill. Mark, 1897 von 20 Mill., 1898 von 50 Mill., 1899 von 90 Milk, 1900 von 100 Milk, 1905 betrug die Gesamtsumme der von ihr an der Berliner Börse allein emittierten Werte 2,1 Mrd. Mark, im Konsortium kamen noch einmal 2 Mrd. hinzu46. Kennzeichnend nun für diese Aktivität — vor allem für das aktive Ge­ schäft — war einerseits die meist sehr enge und oft durch Personalunion ver­ bundene Unternehmensführung, andererseits die Vielfalt der Interessen und des Engagements nicht nur auf industriellem, sondern auch auf dem Gebiet der Staatsanleihenvermittlung. Hieraus resultiert, daß die These von der gegensei­ tigen Verbindung und Bindung, von der wechselseitigen Beeinflussung von Banken und Industrieunternehmen bei der Konzentrationsbewegung dahin zu modifizieren ist, daß doch die Bank meist die alleinige Trägerin der weiter­ führenden Geschäftspolitik für das Industrieunternehmen gewesen ist. Die Rolle der Bank ist weit höher für die Industriekonzentration anzuschlagen als umgekehrt. Denn der Antagonismus der von den Banken wahrzunehmenden Interessen gibt, so zeigt es die Überlieferung, innerhalb des Rahmens kapita­ listischer Ordnung keine andere Lösung als säkulares Wachstum durch immer höhere Konzentration zu garantieren, eine Garantie, die den sozialen Status quo ebenso sichert wie die Voraussetzung eines erneuten Wandels bildet. Auf die ersten Bergarbeiterstreiks und ihre Überwindung und die Begründung der Weltmachtpolitik sei hingewiesen. Auch auf diesem Gebiet entschied „die Machtfrage über den Erfolg“ (Kirdorf). Die Unternehmensdirektion hatte die Aufgabe der Berichterstattung, die Weisungen kamen aus der Bankzentrale, die keineswegs nur das Interesse des einzelnen Unternehmens beachtete. Das mag überraschend sein. Angesichts der Kapitalknappheit in Deutschland — nicht nur Ende des 19. Jahrhunderts — ist es aber folgerichtig. Der industrielle Unternehmer konnte neue Formen der Produktionsorganisation, neue Pro­ duktionsverfahren und neue Produkte projektieren, aber um diese Pläne realisieren zu können, benötigte er in Deutschland den langfristigen, hohen Bankkredit, ganz abgesehen von seinen kurz- und mittelfristigen Bedürfnis­ sen. Nur mit Hilfe des Finanziers war in Deutschland Neues zu schaffen. Während z. B. in England der Unternehmer durch die hohen Profite seiner frühindustriellen Erfolge so gut mit Kapital versorgt war, daß er auch seine langfristigen Investitionen selber durchführen konnte und sich also von den Banken nur mehr oder weniger kurzfristige Umlaufs-Kapitalbedürfnisse dek­ ken ließ, war eine solche „Insider-Finanzierung“ in Deutschland nie möglich gewesen. Das Signum der deutschen Wirtschaftsentwicklung war die chroni­ sche, oft katastrophale Kapitalnot. Deutschland — und voran Preußen — war ein „pays de petite fortune“ . Die deutsche Industrie war und blieb ständig auf ein leistungsfähiges System von Industriebanken angewiesen, die die not­ wendige Fremdfinanzierung durchführen konnten und die die Möglichkeit hatten, nicht nur solche Ersparnisse der Industrie zuzuführen, für die sie auf lange Sicht keine andere Verwendung hatten, sondern die auch fähig waren, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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kurzfristige Mittel des Geldmarktes zur Verwendung in langfristigen Investi­ tionen als industrielles Unternehmenskapital mobilisieren zu können. Aus diesem Grund wurden dann auch in Deutschland die Großbanken nicht nur Quellen des so dringend benötigten Kapitals. Zugleich wurden sie „auch promotors und Gründer“ neuer Anlagen und immer umfassenderer Asso­ ziationen. Reine Gründerprofite traten dabei für die Banken immer mehr in den Hintergrund. Was die Berliner Bankherren anstrebten, war die Erhöhung der industriellen Leistungsfähigkeit, der Stabilität der Produktion und der Preise. Das war ihr Interesse: die Sicherung des dauernden und hohen Ertrages ihrer industriellen Portefeuilles „welche sie nicht nur selbst besitzen, sondern in deren Besitz und Verwaltung sie ihrer dauernden Klientel von kapitalan­ lagesuchenden Kapitalisten zur Seite stehen“ . Das ist denn auch der wichtigste Grund der intensiven Beschäftigung und der lange Zeit unangefochtenen Füh­ rungsstellung der deutschen Großbanken im Industriegeschäft. Sie bestimmten hier die Entwicklung durch Versagen oder Bewilligen der finanziellen oder sonstigen Hilfen. Erst die weiterentwickelte Konzentration der Industrieun­ ternehmen brachte eine „gewisse Entmachtung“ der großen Banken mit sich und ermöglichte — in Grenzen — dem Industrieherrn mit Hilfe der „Strategie starker Verschuldung“ eine gegenläufige Aktivität. Das hatte noch einen wei­ teren Grund. Überblickt man die regelmäßigen Beziehungen der Schwerindu­ strie zu den Banken, also das Kontokorrentgeschäft, so ist festzustellen, daß die Berliner Großbanken bereits nach 1879 in zunehmendem Maße — ent­ gegen der oft betonten These — nicht intensiv, sondern eher nur zurückhal­ tend an diesem regulären täglichen Geschäft beteiligt gewesen sind. Vielmehr wurde dieses Geschäft meist mit den „lokalen“ Banken oder großen Privat­ banken gemacht, die dadurch an die Berliner Bank herangezogen und schließ­ lich aufgesogen wurden. Bei der GBAG z. B. waren dies vornehmlich die Es­ sener C redit-Anstalt, die Norddeutsche Bank, Sal. Oppenheim, Rothschild oder der Schaaffhausensche Bankverein, Erst bei den großen Emissionen, bei geschäftspolitischen Entscheidungen trat die Berliner Bank auf, die dann bis 1914 alle diese Banken aufkaufte. Auch das mag auf den ersten Blick über­ raschend sein. Und doch hatte es seine Gründe, daß sich die Berliner Banken im Kontokorrentgeschäft zurückhielten und vielmehr dem Unternehmen an­ dere, wohl von ihnen kontrollierte Bankverbindungen vorschrieben. Der Ex­ pansionsdrang der Großbanken, die in der Industrie und im lokalen Handel seit den 70er Jahren Wurzel fassen wollten, begegnete dem Wunsch der Pro­ vinzbanken, für ihre Kundschaft eine internationale und überlokale Bankor­ ganisation zu bekommen. Außerdem wünschten die Nicht-Berliner Banken, an die Emissionen des zentralen Geldmarkts heranzukommen. Bei diesen Ko­ operationen hatten aber die Berliner Banken, die nach 1872 die Börse weit­ gehend für jeden weiteren direkten Zugang der Provinzbanken — auch der größten — verriegeln konnten, den längeren Atem. Denn da die Provinzban­ ken eine immer engere Verbindung mit den von Berlin gegründeten und in die Expansion geführten Unternehmen eingingen, ohne jedoch die souveräne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Geschäftsführung bei diesen Unternehmen zu erlangen, wurden sie zum Opfer ihres eigenen Industrieengagements. Denn es gelang den Berliner Banken, sich selber mit Hilfe der Provinzbanken zur „geeignetsten Organisation für den industriellen Kredit“ aufzuschwingen. Dabei konnte sich die Geschäftspolitik der Banken in Einzelheiten und der Taktik durchaus unterscheiden. So be­ gann z. B. die Deutsche Bank, systematisch ein System eigener Filialen aufzu­ bauen. Erst nach 1897 ging sie dazu über, mächtige Provinzbanken anzuglie­ dern; die Disconto-Gesellschaft hatte bis 1901 grundsätzlich eine Abneigung gegen Filialen und breitete ihren Einfluß nur über die Aufsichtsräte der Pro­ vinzbanken aus. Die Berliner Handelsgesellschaft blieb rein zentralistisch. Auch die Formen der Beziehungen zur Industrie unterschieden sich. Die Deut­ sche Bank und die Dresdner Bank intensivierten das reguläre Geschäft, die Disconto-Gesellschaft aktivierte mehr die Emissionspolitik und beteiligte sich lange Jahre sehr direkt an den von ihr gegründeten oder geführten Unter­ nehmungen. Beachtet man die Vielfältigkeit der Beziehungen, so fällt doch neben dem betriebswirtschaftlichen Grundzug aller Operationen — Wettbewerbsverbes­ serung und Ertragssteigerung — in diesen Jahren noch ein zweites, die Ent­ wicklung kennzeichnendes Phänomen auf. Sowohl die Kartell- als auch die mit ihr verbundene Konzentrationsbewegung sind das Resultat neuer Struk­ turverhältnisse und neuer Wirtschaftsmethoden in der Industrie, die durch die langandauernde Depression, die der Krise von 1873 folgte, erzwungen wurden. In dieser Periode stagnierender Produktion waren die Unternehmungen ge­ zwungen, sich an die schwindende Aufnahmefähigkeit der Märkte anzupas­ sen. Dabei zeigt sich, daß für den Historiker bei der Heranziehung von Kon­ junkturzyklen als theoretisches Hilfsmittel zur Analyse historischer und poli­ tischer Vorgänge nicht das errechnete Zusammenklingen konjunkturbedingter Intervalle wichtig ist, sondern gerade die Dissonanz, der Time-lag zwischen den verschiedenen Kurven der Eisen- und Kohleprodukte, des Preises und des Absatzes. Gerade durch die phasenverschobene Wachstumstendenz verschiede­ ner Produkte wurde die Entwicklung ganz unrhythmisch, explosiv, sprung­ haft, wenn man das historische Faktum mit dem errechneten Modell vergleicht. Dementsprechend zurückhaltend muß auch das Bemühen beurteilt werden, durch theoretische Vorüberlegungen die Entwicklung zum Kartell aus dem Trendzyklus als gegeben ableiten zu wollen. Für die GBAG z. B. als ein Un­ ternehmen, das mit hohen fixen Kosten arbeiten und das sein Hauptprodukt weitgehend preisunelastisch anbieten mußte, genügte es nicht mehr, wie ehe­ dem, Depressionsverluste „auf Maschinen-Konto abzuschreiben“ . Die unge­ nügende Ausnutzung wertvoller Anlagen und kostspieliger Investitionen, die weder durch Preisreduktion noch durch Arbeiterentlassungen aufgefangen wer­ den konnten, führten „zur Erfahrung“ , daß mit „dem alten Rezept des Preis­ wettbewerbs allein nicht mehr durchzukommen war“ . So begannen die Unter­ nehmen mit der Expansion. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Das Verhältnis von Banken und Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Absicht darzustellen, Informationen aufgrund aufgearbei­ teter Überlieferung auch im Detail zu liefern, muß an diesem Ort skizzenhaft bleiben. Besonders der Verzicht auf eine Darstellung der Verflechtung mit der allgemeinen Politik mag kritisiert werden. Diese Analyse wurde aber bewußt auf Hinweise auf an anderer Stelle schon geäußerter Thesen beschränkt. Wichtig ist, daß sich das in den verschiedensten politischen Dimensionen erkennbare Element deutscher politischer Entwicklung, die ungelösten Probleme der Eigen­ tums- und Distributionsverhältnisse politisch abzuleiten, wieder einstellt und daß man angesichts des „Organisierten Kapitalismus“ deutscher Prägung die Frage der Wahlmöglichkeiten für eine imperialistische Politik ohne Weltkrieg nicht stellen kann.

Anmerkungen 1 Vor allem O. Jeidels, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur Industrie, Leipzig 1905; mehr auf die Banken konzentriert: P. Wallich, Die Konzentration im deutschen Bankgewerbe, Stuttgart 1905; H. Schumacher, Die Ursachen u. Wirkungen der Konzentration im deutschen Bankwesen, Schmollers Jb. 30. 1906. 1—43; P. Model, Die großen Berliner Effektenbanken, Jena 1896; A. Blumenberg, Die Kon­ zentration im deutschen Bankwesen, Diss. Heidelberg 1905; E. Steinberg, Die Kon­ zentration im Bankgewerbe, Berlin 1906; hier ist auch die materialreiche Arbeit des Direktors der Darmstädter Bank, J . Riesser, zu nennen: Die deutschen Großbanken u. ihre Konzentration, Jena 19103, bes. 460 ff., 497 ff.; vgl. auch die Beilagen; E.Heine­ mann, Die Berliner Großbanken an der Wende des Jahrhunderts, Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik. 3. F. 20, 86 ff.; A. Weber, Depositenbanken u. Spe­ kulationsbanken, Leipzig 1902, München 19384; F. Ehrenberg, Deutsches Bankwesen, Deutsche Rundschau, 29. 1903, 295 ff.; E. Dépitre, Le mouvement de concentration dans les banques allemandes, Paris 1905; A. Lansburgh, Das deutsche Bankwesen, Berlin 1909; S. Buff, Das Kontokorrentgeschäft im deutschen Bankgewerbe, Stutt­ gart 1904; W. C hristians, Die Deutschen Emissionshäuser und ihre Emissionen 1886 —1891, Berlin 1893; M. Schraut, Die Organisation des Kredits, Leipzig 1883; F. Hecht, Die Organisation des langfristigen Kredits, Berlin 1909; W. Lotz, Die Tech­ nik des deutschen Emissionsgeschäfts, Leipzig 1890; L. Metzler, Studien zur Ge­ schichte des Deutschen Effektenbankwesens, Leipzig 1911; M. Joergens, Finanzielle Trustgesellschaften, Stuttgart 1902; F. Wagon, Die finanzielle Entwicklung deutscher Aktiengesellschaften, Jena 1903. Es sei auch auf das Verzeichnis der Fest- und Denk­ schriften verwiesen, s. Anm. 3. 2 So z. B. F. Seidenzahl, Die Gründung der Preußischen C entral-Boden-C redit­ AG, Tradition 1964/4, 176 ff.; ders., Eine Denkschrift D. Hansemanns vom Jahre 1856, ebd., 1960, 83 ff., ders., Bismarck u. die Gründung der Darmstädter Bank, ebd., 6. 1961, 252—9; E. Achterberg, Berliner Hochfinanz, Frankfurt 1965; ders., Berliner Banken im Wandel der Zeit, in: Eine Schrift zum 75jährigen Bestehen des Bank­ hauses Hardy & Co, Darmstadt 1956; W. Däbritz, Gründung u. Anfänge der Dis­ conto-Gesellschaft, Berlin 1931; ders., Denkschrift zum 50jährigen Bestehen der Essener C redit-Anstalt, 1872—1922, Essen 1922, ders., Bochumer Verein für Berg­ bau u. Gußstahlfabrikation, 1934; ders., Die Gewinn- u. Verlustkonten der rheinisch­ westfälischen Provinzial-Großbanken, Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 70. 1914, 479 ff., 1920, 25 ff.; W. Herrmann, W. Däbritz zum Gedächtnis, Tradition

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1958, 233 ff.; W. Strauß, Die Konzentrationsbewegung im deutschen Bankgewerbe, Berlin 1928; H. Jopp, Bedeutung u. Einfluß des Bankkapitals in der industriellen Entwicklung Deutschlands, Diss. Münster 1925. 3 Vgl. die Verzeichnisse der Fest- und Denkschriften: H. C orsten: 100 Jahre deut­ sche Wirtschaft in Fest- u. Denkschriften. Eine Bibliographie, Köln 1936; Verzeich­ nis der Fest- u. Denkschriften von Unternehmungen u. Organisationen der Wirt­ schaft im hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv, 1961; Bibliographie u. Veröffentli­ chungen zur Geschichte der kapitalistischen Unternehmen, die nach 1945 in West­ deutschland und Westberlin erschienen sind, JbW 1960 II, 335 ff.; auch die Zusam­ menstellung bei G. Gebhardt, Ruhrbergbau, Essen 1957, 533 ff. 4 Vgl. u. a. R. C ameron u. a., Banking in the Early Stages of Industrialization, Ν. Y. 1867; R. Cameron, Founding the Bank of Darmstadt, Explorations in Entre­ preneurial History, 8. 1956, 113 ff., dt. Die Gründung der Darmstädter Bank, Tra­ dition 2. 1957, 104—31. Wichtige Ansätze zur Lösung dieses wesentlichen Problems bieten: W. Treue, Die Geschichte der Ilseder Hütte, Peine 1960; ders., Die Feuer ver­ löschen nie, A. Thyssen-Hütte, 1890—1926, Düsseldorf 1966; P. A. Zimmermann, Patentwesen in der C hemie, Ludwigshafen 1965; F. Mariaux, Gedenkwort zum 100jährigen Bestehen der Handelskammer Bochum, Bochum 1956; W. Mosthaf, Die württembergische Handelskammer Stuttgart, Heilbronn, Reutlingen, Ulm, 2 Bde, Ulm 1955, R. E. Lüke, Die Berliner Handelsgesellschaft in einem Jahrhundert deut­ scher Wirtschaft, 1856—1956, Berlin (1956). J . Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969. 5 E. Salin, Soziologische Aspekte der Konzentration, Schriften des Vereins für Sozialpolitik NF XXII, 1961; E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellge­ schichte bis 1914, Dortmund 1964. Wichtig für die Zusammenstellung der Literatur: H. König, Kartelle u. Konzentration, in: Die Konzentration in der Wirtschaft, Hg. H. Arndt, I, 1960; auch: III, 1799—1886; H. Wagenführ, Kartelle in Deutschland, 1931; R. Liefmann, Die Unternehmerverbände, Freiburg 1897; ders., Kartelle, Kon­ zerne u. Trusts, Stuttgart 19308; ders., Schutzzoll u. Kartelle, Jena 1903; L. Kastl Hg,, Kartelle in der Wirklichkeit, 1963; R. C alwer, Kartelle u. Trusts, Berlin, o. J . ; J . Grunzel, Über Kartelle, Leipzig 1902; H. Dörsam, Die Konjunktur in der Hoch­ ofenindustrie u. die Preispolitik des rheinisch-westfälischen Roheisensyndikats, 1879 — 1913, Diss. Frankfurt 1932; A. Klotzbach, Der Roheisenverband, Düsseldorf 1926; G. Prasse, Die Betriebskonzentration in der Schwerindustrie Deutschlands, Diss, Halle 1927; S. Tschicrschky, Die Organisation der industriellen Interessen in Deutsch­ land, Göttingen 1905; H. Völcker, Bericht über das Kartellwesen in der inländi­ schen Eisenindustrie, Berlin 1909; A. Wolfers, Das Kartellproblem im Lichte der deutschen Kartelliteratur, München 1931. Vgl. auch als Grundlage der Argumenta­ tion die verschiedenen Schriften des „Vereins für Sozialpolitik“ , u. a. 116, 188; auch die Denkschrift über das Kartellwesen, Hg. Reichsamt des Inneren, 4 Bde, 1. Supp., Berlin 1906/08; E. Jüngst, Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des Vereins für die Bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund, 1858—1908, Essen 1908; A. Zöllner, Eisenindustrie u. Stahlwerksverband, München 1907; F. Kestner, Die deutschen Eisenzölle 1879—1900, Leipzig 1902; J . Kuczynski, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, I; Monopole u. Unternehmer­ verbände, Berlin 1948; R. Sonnemann, Die Auswirkungen des Schutzzolls auf die Monopolisierung der deutschen Eisen- u. Stahlindustrie, 1872—1892, Berlin 1960; V. Holzschuher, Soziale u. ökonomische Hintergründe der Kartellbewegung, Diss. Erlangen/Nürnberg 1963; Th. F. Marburg, Government and Business in Germany, Business History Review 38. 1934, 81 ff. 6 H. Böhme, Politik u. Ökonomie in der Reichsgründungs- u. späten Bismarckzeit, in: M. Stürmer Hg., Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 26—50. H. Böhme, Thesen zur Beurteilung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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politischen Ursachen des deutschen Imperialismus, in: W. J . Mommsen Hg., Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, 31—59. 8 H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967. 9 Besonders wichtig für unser Problem sind: Kartellrundschau; Die Industrie (Hg. A. Steinmann-Bucher); Die Bank; Bankarchiv; Zeitschrift für das Bank- u. Börsenwesen Hg. Riesser; Berliner Börsencourier; Berliner Börsenzeitung; Stahl u. Eisen; Der Deutsche Ökonomist; Frankfurter Zeitung; Berliner Tageblatt; Kölnische Zeitung; Kölnische Volkszeitung; Vossische Zeitung. 10 Herrn Rechtsanwalt Gebbers von der GBAG habe ich für die freundlich ge­ währte Zulassung zum Archiv der GBAG zu danken, Frau Bibliothekarin Platte für ihre große Hilfe bei der Aufarbeitung der Archivalien. 11 Vgl. N. D. Kondratieff, Die langen Wellen der Konjunktur, Archiv für Sozial­ wissenschaft 56. 1926, 573—609; S. Kuznets, Secular Movements in Production and Prices, Boston 1930, 259—66; A. H. Hansen, Business C ycles and National Income, N. Y. 1951; W. W. Rostow, The Process of Economic Growth, N. Y. 1952; G. Im­ bert, Des mouvements de longue durée Kondratieff, 2 Bde, Aix 1959, 292 ff.; G. Haberler, Prosperity and Depression, Genf 1938, dt. Tübingen 19552; J . Schumpe­ ter, Business C ycles, 2 Bde, N. Y. 1939; ders.: Konjunkturzyklen, 2 Bde, Göttingen 1961; A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wechsellagen, 2 Bde, Tübingen 1955. 12 Zum folgenden vgl. außer den Akten der GBAG besonders das Sammelwerk von Gebhardt, 194 ff.; Geschichte der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktien-Gcsellschaft in Rheinelbe bei Gelsenkirchen, in: O. Stillich, Steinkohlenindustrie, 1906. Allge­ meine Angaben über die GBAG u. die Betriebsverhältnisse der Rheinelbeschächte bei Gelsenkirchen, Essen 1910; B. Simmersbach, Die wirtschaftliche Entwicklung der Gel­ senkirchener Bergwerks-AG 1873—1904, Freiberg 1906, Die GBAG 1873—1901, Bo­ chum 1901; dass., Düsseldorf 1902; dass., Düsseldorf 1905; dass., Festschrift 1913; F. A. Freundt, Kapital u. Arbeit (GBAG) 1873—1927 o. O. o. J . ; W. Bacmeister, E. Kirdorf, o. O. (1936). Zum allg. — auch technischen — Problem der Bergwerks­ gesellschaften vgl. vor allem: Die Steinkohlen des Ruhrgebietes, Köln 1871, 18763; Verzeichnis der im Oberbergamt Dortmund betriebenen Steinkohlenbergwerke u. ihre selbständigen Betriebsabteilungen, Dortmund 1892—1914; Jahrbuch für das Ober­ bergamt Dortmund, 1. Essen 1893 ff.; W. Forschepiepe, Führer durch die rheinisch­ westfälische Bergwerksindustrie, Oberhausen 1880; H. Böhme, Gründung u. Anfänge des Schaaffhausenschen Bankvereins, der Bank des Berliner Kassenvereins, der Direc­ tion der Discontogesellschaft und der (Darmstädter) Bank für Handel u. Industrie, Tradition 10. 1965, 193 ff.; 11. 1966, 39 ff.; auch als: Preussische Bankpolitik 1848— 53, in: ders. Hg., Probleme der Reichsgründungszeit, Köln 1968 (19732), 117—58. 13 W. Däbritz, F. Grillo, Essen 1926; T. Kellen, F. Grillo, Essen 1913; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit, 1848—1881, Köln 1966 (19722), S. 335 f. 14 Gebhardt, 197. 15 Dazu Böhme, Gründung. 16 Riesser, 149 ff., 322 ff., 484 ff., 564 ff.; Jeidels, 65 ff., 162 ff., 185 ff., 212; Böhme, Weg, 332 ff. 17 Aufzeichnung Grillos, in Privatbesitz; Däbritz, Grillo, 81. 18 Archiv GBAG 10 600/1, 11. I. 1873; Jeidels, 213. 19 Ebd., Nr. 200.03, 5. III. 1873. 20 Ebd., Nr. 124.01; Einzelnachweis s. u. 120.00. 21 Ebd., Nr. 200.03. 22 M. Wirth, Geschichte der Handelskrisen, Frankfurt 18904, 518, 540 ff.; H. Rosenberg, Political and Social C onsequences of the Great Depression 1873—1896 in Europe, Economic History Review 13. 1943, 58—73; ders., Depression, Böhme, Weg, 341 ff. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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23 Zum Wechsel in Aufsichtsrats-Ämter vgl. GBAG-Archiv, 120.00. 1877 traten für die ausgeschiedenen Rauendahl, Movius und Eltzbacher Ludwig Busch, Moritz Wölfle und F. Schumann ein. 1880 wurde Jakob Landau durch Wilhelm C olsmann ersetzt, 1881 trat Dr. H. Schultz für den verstorbenen Busch in den Aufsichtsrat (AR) ein. Seit dieser Zeit herrschte — Grillo schied 1888 und Funke 1885 aus — die Disconto-Gesellschaft im AR in dem u. a. A. Lent, 1889 F. Vowinkel und 1894 Max v. Schinckel von der Norddeutschen Bank eintraten. Das Jahr 1904 kann dann áls der große Einschnitt der Geschäftsentwicklung vor dem Jahre 1918 gelten. Die GBAG tat den Schritt vom reinen Steinkohlenbergbau zum Verbundbetrieb. In den AR tra­ ten nun die Deutsche und Dresdener Bank und der Schaaffhausensche Bankverein ein, gleichzeitig wurde die Verbindung zu Stinnes und Thyssen geschlagen: aufge­ nommen wurden Eduard Kleine, Alexander Schoeller, Hugo Stinnes, August Thyssen, K. Klönne, Emil v. Rath, Franz Brugers, Eugen Gutmann, Adolf Kirdorf u. Jules Mager. Ebd., Nr. 124.01, AR-Protokoll, 8. IV. 1873; 26. IX. 1873; Briefwechsel F. Grillo u. A. Hansemann, in Privatbesitz; Riesser, 362 f. 24 G. Bry, Wages in Germany, Princeton 1960, 165 f., 176 f.; W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft, Heidelberg 1965, 459 ff., 536 f., 571 f., 605 f. 25 F. Zunkel, Der Rheinisch-westfälische Unternehmer, 1834—1879, Köln 1962; W. Fischer, Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, Kyklos 14. 1961, 356 ff., jetzt in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972; U. P. Ritter, Die Rolle des Staa­ tes in den Frühstadien der Industrialisierung, Berlin 1961; K. Wiedenfeld, Das rheinisch-westfälische Kohlesyndikat, Bonn 1912, 18 ff.; F. Schunder, Tradition u. Fortschritt. 1C 0 Jahre Gemeinschaftsarbeit im Ruhrbergbau, 1959, 33 ff., 214 ff.; Jüngst, 88 ff.; V. Muthesius, Ruhrkohle, 1893—1943, 1943, 27, 34 ff.; W. Serlo, Bergmannsfamilien in Rheinland und Westfalen, Rheinisch-Westfälische Wirtschafts­ biographien, 3. 1936, 84 f.; vgl. auch ders., Westdeutsche Berg- u. Hüttenleute u. ihre Familien, 1938; A. Bein, F. Hammacher, 1824—1904, Berlin 1932, 98 f.; Maschke, Grundzüge, 10 ff.; K. Bloemers, W. T. Mulvany, 1806—1885, Essen 1922, 70 ff., Däbritz, Grillo, 68 ff.; P. Neubaur, Stinnes u. sein Haus, o. J . , 230 ff.; F. Büchner, 125 Jahre Gutehoffnungshütte, 1935, 10 f. Vgl. hier auch die Festschriften der Hi­ bernia, von Harpen, Bochumer Verein u. a. Zum Fragenkomplex von Schutzzoll und Industrieentwicklung: Rosenberg, Depression, 178 ff.; N. Lambi, Free-Trade and Protection in Germany 1868—79, Wiesbaden 1963, 78 ff.; Böhme, Weg, 349 ff., bes. 359 ff., 387 ff. 26 Archiv GBAG, Nr. 240.70, Russell an Kirdorf, 5. I. 1880. 27 Archiv GBAG, nicht katalogisierte Nummer. 28 Das Jahr 1879 brachte wiederum einen Reingewinn von 1,1 Mill. Mark. Kir­ dorf konnte betonen, daß „der Durchschnittspreis unserer Zeche . . . über dem Ge­ samt-Durchschnitt des hiesigen Reviers . . . steht“ . Vgl. Geschäftsbericht vom 4. III. 1880. 29 Dominierend im deutschen Kreditgeschäft waren „Berliner“ Banken. Teils äl­ tere Gründungen — so der Schaaffhausensche Bankverein, die Disconto-Gesellschaft, die Berliner Handelsgesellschaft, die Darmstädter Bank —, teils Gründungen der jüngsten Gründerzeit, so die Deutsche und die Dresdner Bank, die C ommerzbank. In verhältnismäßig kurzer Zeit gelang es jenen Banken, eine „Kapital- und Macht­ konzentration“ in Berlin zu etablieren, die ihren eindrucksvollen Beleg vor allem in Steigerungen des Aktienkapitals erhielt: So erhöhte die Darmstädter Bank — nach Riesser, 498 ff. — ihr Gründungskapital von 17,1 auf 154 Mill. (1908), die Disconto­ Gesellschaft von 15,6 auf 145 Mill., die Berliner Handelsgesellschaft von 16,8 auf 110 Mill., der Schaaffhausensche Bankverein, die einzige nicht in Berlin residierende Großbank, von 15,6 auf 145 Mill., die Dresdner Bank von 9,6 Mill. auf 180 Mill.

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und die Deutsche Bank schließlich von 15 auf 200 Mill. Mark. Durch Fusion von Banken, z. B. hatte die Deutsche Bank bis Ende 1908 31 Privatbanken und 21 AG­ Banken übernommen, durch Schaffung von Interessengemeinschaften (Deutsche Bank: 6, mit einer Unterinteressengemeinschaft, darunter z. Β. die Bergisch-Märkische Bank mit 19 Filialen und einem Aktienkapital von 75 Mill. Mark), durch Gründung von Tochtergesellschaften, durch Aktienerwerb und Tausch, durch Gründungen von Kom­ manditen, Filialen und Depositenkassen gelang es den Universalbanken und den ihr angeschlossenen Banken schließlich mehr oder weniger, den deutschen Kapitalmarkt zu kontrollieren (Jeidels, 99 ff., Riesser, 483 ff.). Welche Bedeutung und Kapital­ macht diese Gruppen hatten, zeigt ein Blick auf deren Aktienkapital am 31. Dezem­ ber 1908: So hatte die Deutsche Bank zusammen mit der Bergisch-Märkischen Bank, dem Schlesischen Bankverein, der Hannoverschen Bank, der Duisburg-Ruhrort-Bank, der Essener Kreditbank, dem Westfälischen Bankverein, der Siegener Bank für Han­ del und Gewerbe, der Sächsischen Bank in Dresden, der Oldenburgischen Spar- u. Leihbank, der Privatbank zu Gotha, der Mecklenburger Hypotheken- u. Wechselbank und schließlich der Rheinischen Kreditbank fast 600 Mill. Mark Aktienkapital, mit den Reserven fast 800 Mill. Mark. Etwas kleiner war die Disconto-Gesellschaft mit fast 600 Mill. und Verbindungen mit der Norddeutschen Bank, der Allgemeinen Deutschen C reditanstalt-Leipzig, dem Barmer Bankverein, der Süddeutschen Dis­ conto-Gesellschaft, der Bayrischen Disconto- u. Wechselbank und schließlich der Bank für Thüringen/Meiningen. Die Dresdner Bank, der Schaaffhausensche Bankverein und die Darmstädter Bank konnten 300 Mill. Mark kontrollieren. Die Gesamtkapi­ talmacht der großen Banken, soweit sie sich im Aktienkapital niederschlug, betrug also 2,5 Mrd. Mark. Der Gesamtwert aller deutschen Bergwerksprodukte z. Β. hatte sich von 1870 bis 1907 von 314 Mill. Mark auf 1,75 Mrd. Mark gehoben (Jüngst, 60; Rießer, 355 ff., 487 ff.; Jeidels, 91 ff., Wallich, 138 ff.; Wagon; Miscellaneous Articles on German Banking, Hg. National Monetary C ommission, Washington 1910. 30 Archiv GBAG Nr. 124.01; Briefwechsel Lent/Kirdorf u. Russell/Kirdorf. 31 Ebd., Aufzeichnung Kirdorfs, 4. X. 1887. Ebd. Nr. 162, 12: Grillo an Hanse­ mann, 25. X. 1887. GBAG an Disconto-Gesellschaft 29. X./10. XI./17. XI. 1887. Hansemann an GBAG 11. XI. 1887. Der Aufkauf der Gewerkschaft Erin z. B. voll­ zog sich nach einem Protokoll von Kirdorf (ebd., 1. XL 1887) durch die Abgabe des Gesamtbesitzes von 1000 Kuxe an die GBAG. Hiervon hatten: die Disconto-Ge­ sellschaft 529 Kuxe (1 Kux v. d. Heydt, 111 Kuxe Schaaffhausenscher Bankverein, 100 Kuxe Deutsche Bank, 22 Kuxe J . F. Eltzbacher, 33 die Gebrüder C olsmann, 10 v. Hansemann, je 5 Russell, Salomonsohn, Schuchtermann und Lent), Grillo hatte 230 Kuxe und Oppenheim Jr. & Cie. 241. Diese Verteilung vermittelt einen sehr charakteristischen Einblick in die Geschäftspolitik der Berliner Großbanken gegen­ über dem Revier. 32 Seit 1888 entstanden eine ganze Reihe von Kartellen der Eisenindustrie, z. B. die „Rheinisch-Westfälische Verkaufsstelle für Qualitäts Puddel-Roheisen“ , die mit einigem Erfolg nicht nur die Händler ausschalten, sondern auch ihren Zulieferern die Preise bestimmen konnte, wie es das Ziel des 1886 in Düsseldorf gegründeten Rhei­ nisch-westfälischen Roheisenverbandes gewesen war. (Sonnemann, 104 f., 107). Auf der Gegenseite der Kohle und des Roheisens hatte sich daraufhin (oder auch schon vorher) eine Vielzahl von kurzlebigen Zusammenschlüssen organisiert, u. a. die Gaskohlenvereinigung (1878—1897), Kohlenklub in Essen (1880—1897, hier war Kir­ dorf seit 1882 Vorsitzender), die Gasflamm-Kohlen-Vereinigung (1881—1893), die Koksvereinigung (1881 — 1884), der Dortmunder Kohlenklub (1885—1893), die Koks­ Kohlen-Vereinigung des Dortmunder Bezirks (1887—1888), die Fettkohlen-Vereini­ gung des Dortmunder Bezirks (1888—1893), der Dortmunder Kohlen-Verkaufsver­ ein (1890—1893), das Westfälische Kokssyndikat (1890—1893), der Gelsenkirchener 29 Sozi algeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Zechenklub (1891—1892), der Essener Kohlen-Verkaufsverein (1891 — 1893), das Kartell des Kohlen-Verkaufs-Vereins (1891—1892) usw. Alle diese Verbindungen mündeten dann am 16./19. Februar 1893 in das „Rheinisch-Westfälische Kohlen­ Syndikat“ und lösten bei den Hüttenzechen eine neue Kartellbewegung aus (Geb­ hardt, 27 ff.). Will man die Zahl der Kartelle dieser Zeit angeben, dann findet man sehr unterschiedliche Angaben vor. So gibt z. B. Liefmann für das Jahr 1890 210 Kartelle an; zur gleichen Zeit zählt Steinmann-Bucher 137 Kartelle. Die Angaben für die Eisenindustrie schwanken zwischen 30, 34 und 80. (Kuczynski, I, 85 f., Schriften des Vereins für Sozialpolitik 61, 143 f., Sonnemann, 58 f.). Auf alle Fälle wurden die Abmachungen als Kampfmaßnahme geheim gehalten. Selbst Staatssekretär Boet­ ticher erfuhr vom Generalsekretär des C entralverbandes deutscher Industrieller Bueck nur, daß diese Materialien „für weitere Kreise nicht bestimmt sind“ (DZA Merse­ burg R 120 C VIII, 1 Nr. 65 vol. 1). 33 Archiv GBAG, Kirdorf an Lent, 30. I. 1887. Wiedenfeld, 22 f., 57 f.; Muthesius, 50; Maschke, 34 f. 34 Archiv GBAG, 11. XI. 1886; Nr. 162.12: Kirdorf an Lent, 11. XII. 1886; Lent an Kirdorf 13. XII. 1886;Lindenbcrg an Kirdorf 16. XII. 1886; Kirdorf an Lent; Lent an Kirdorf 17. XII. 1886; Lent an Kirdorf 22. XII. 1886/19. I. 1887; A. Thyssen an Kirdorf 24. I. 1887; Treue, Thyssen, 16 ff. 35 So überließen nach der Fusion der Zeche „Triu“ mit der GBAG Russell, Lent, Oppenheim und v. d. Heydt ihre Plätze an Kirdorf, Hoffmann, Lindenberg, Bringel und Reuscher. 36 Jeidels, 268 ff. 37 Also der Deutschen Bank, der Dresdner Bank, der Disconto-Gesellschaft, des Schaaffhausenschen Bankvereins und (mit Abstand) der C ommerz- und National­ bank. Vgl. Riesser, 355 ff. 38 Riesser, 483 ff., hier vor allem wichtiges Material. DZA Merseburg Rep. 120 C VIII, 1 Nr. 25 vol. 17: Bericht der Regierung Düsseldorf o. D. (1889). Vgl. hierzu die Geschäftsberichte der Deutschen Bank (1886—1896), der Dresdner Bank (1891 — 1898), der Disconto-Gesellschaft (1881 — 1898), der Darmstädter Bank (1884—1893), der Berliner Handelsgesellschaft (1890—1895), des Schaaffhausenschen Bankvereins (1890—1893). Wichtig neben den schon angeführten Arbeiten von Jeidels, Riesser, Wallich, Schumacher u. a. A. M. Prym, Staatswirtschaft u. Privatunternehmung in der Geschichte des Ruhrkohlenbergbaus, Essen 1950; Däbritz, Bochumer Verein; ders., Hundert Jahre C oncordia 1850—1950, Oberhausen 1950, vgl. auch den Ge­ schäftsbericht 1889—1895; W. Kesten, Geschichte der Bergwerks-Gesellschaft Dahl­ busch, Essen 1952; F. Buchner, 125 Jahre Geschichte der Gutehoffnungshütte, 1810 —1935, Oberhausen 1935; Mariaux, F. Lichtenberg, Hibernia, ein Beispiel für die Betätigung des Staates im Steinkohlenbergbau, Diss. Köln 1948; Geschichtliche Ent­ wicklung u. gegenwärtiger Stand der Phönix AG für Bergbau u. Hüttenbetriebe in Hörde, 1852—1912, Dortmund 1912; Thyssen Bergbau am Niederrhein 1871 — 1921, Hamborn 1922; Treue, 51 ff. Wichtig sind auch die Stenographischen Berichte der ordentlichen Generalversammlung des Vereins für die bergbaulichen Interessen, 20 ff. Essen 1879 ff., ebd. Jahresberichte, Essen 1867 ff. 39 Muthesius, 57 ff., Serlo, 189 ff.; Maschke, 33 f.; R. Effertz, Die Kohlenverkaufs­ vereine u. ihre wirtschaftliche Notwendigkeit, Essen 1891; Kohlenringe, 1891; F. Sarter, Die Syndikatsbestrebungen im niederrheinisch-westfälischen Steinkohlenbezirk, Jena 1894; Th. Reismann-Grone, Die Kohlenkartelle u. die Eisenindustrie, Essen 1891; Der geplante Kohlenring, Köln 1892; Die Kartelle in der Kohlenindustrie, Hg. vom Reichsamt des Innern, Berlin 1907. 40 Archiv GBAG. Aufzeichnung o. D. vertraulich für Lent; Archiv Dresdner Bank: Lent an Gutmann, o. D. 1904 betrifft Schalke. 41 DZA Potsdam, Reichsamt des Innern Nr. 7157—7160; 7218—7224; Kondra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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diktorische Verhandlung, IV, 1905, 269; Treue, 68 ff., 245 ff.; H. Schacht, Der Stahl­ werksverband u. die jüngste Kartellentwicklung in Deutschland, Fs. F. Hammacher, Berlin 1904, 273 ff.; G. Tischen, Männer u. Werke, Berlin 1914, 65 ff.; C . Matschoss, A. Thyssen u. sein Werk, Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 1921, 333 ff.; Däbritz, A. Thyssen, Stahl u. Eisen 62, 665 ff.; P. Arnst, A. Thyssen u. sein Werk, Ergänzungsheft Zeitschrift für Handelswissenschaftliche Forschung, 7, 60 f. 42 C . Duisburg, Abhandlungen, Vorträge u. Reden aus den Jahren 1882 bis 1921, 344 ff. Vgl. auch Maschke, 32 f. 43 Um bei unserem Beispiel zu bleiben: die GBAG erweiterte sich um den Aache­ ner Hütten Aktien-Verein, den Schalker Gruben- und Hütten-Verein und das Ree­ derei- und Kohlehandelsunternchmen Raab, Karcher & Co.; das Aktienkapital wurde auf 130 Millionen Mark aufgestockt. 44 Eine vertrauliche Aufzeichnung der Beteiligungskonten aus dem Jahre 1907 vermittelt einen sehr guten Einblick in die weitgespannten Interessen der GBAG. So war die Abteilung Gelsenkirchen der GBAG beteiligt beim Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat, bei der Deutschen Ammoniak-Verkaufs-Vereinigung, der Westdeut­ schen Benzol-Vereinigung, der Deutschen Benzol-Vereinigung, beim Märkischen und Dortmunder Verkaufsverein für Ziegeleifabrikate, beim Rheinisch-Westfälischen Koh­ len- und Kokslager Bahnhof Sternschanze Hamburg, bei der Gesellschaft für Teer­ verwertung, bei der Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft mit 146 388 Mark, bei der Schantung-Bergbau Gesellschaft, bei Raab-Karcher & C o, Straßburg mit 4,1 Mill. Mark (Stammkapital 5 Mill.), bei der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk AG, der Rheinisch-Westfälischen Bergwerks Gesellschaft, der Société C iviles des Mines de Saint-Pierremont mit 4,9 Mill. (oder 9,3 Mill. frcs, Stammkapital 16 Mill. frcs), der Steinkohlenbohrgesellschaft Herzog Heinrich und Bohrungen in Holland; beim Roheisenverband, Stahlwerksverband, Rheinisch-Westfälischen Kalksteinwerk, bei den Sandurminen mit 840 574 Mark (Stammkapital 320 000 Pfund), bei der Société d'Etudes de l'Ouenzo (Paris), bei der Union des Mines Marcocames, beim Deutschen Gußröhren-Syndikat. Die Abt. Aachen war beteiligt beim Verband Deutscher Draht­ walzwerke, beim Lothringisch-Luxemburgischen Kontor für Verkauf von Roheisen, bei der Klemmplatten-Gesellschaft, bei den Schienen-, Schwellen- u. Laschen-Ge­ meinschaften. Die Abt. Schalke schließlich war beteiligt bei der Gewerkschaft Victor mit 5,9 Mill. Mark, dem Westdeutschen Eisenwerk, Kray mit 1,2 Mill. und dem Stahlwerk Mannheim. 45 Die GBAG, 1873 mit zwei Zechen und einem Aktienkapital von 13,5 Mill. Mark gegründet, hatte 1906 ein Aktienkapital von 130 Mill. Mark erreicht; die För­ derung, bei Betriebsbeginn 156 666 t, erreichte 1904 die Höhe von 6 559 910 t; aus den 665 Mann Belegschaft waren unter der Führung von drei Bankiers und einem „angestellten Arbeiter“ 24 852 geworden. 46 Vgl. Geschäftsberichte 1872—1905; Diouritch, 684 ff., u. Riesser allg., vor allem 613 ff., 638 ff.

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23. Businessmen, Bureaucrats, and Social Control in the Ruhr, 1896-1914 B Y ELAINE GLOVKA SPENC ER

The relationship between business and government is a question of key concern to the historian interested in understanding the development of the modern industrial state. As far as the historical literature on Imperial Germany is con­ cerned, the most common approaches to this problem have been to study the genesis of legislation which was intended either to foster or to regulate com­ merce and industry and, especially in recent years, to study the activities and influence of economic pressure groups1. In either case, the focus has been primarily on the formation of national policy relevant to economic interests, and the chief actors have been a mere handful of ministers and nationally prominent business spokesmen. But the relationship of government to business involves more than just the passage of legislation or the activities of ministers and national interest groups. It also involves the day-to-day interaction of individual businessmen and their representatives with government officials of all types and at all levels — communal, county, district and provincial, as well as state and national. The purpose of this essay is to discuss, as it relates to problems of social control, the relationship between one especially powerful and prominent seg­ ment of the economic elite of Imperial Germany — namely, the coal, iron and steel industrialists of the Ruhr — and government administrators having jurisdiction in that region. The period chosen for investigation is the prosperous and expansive era from the mid-1890's to the First World War, a period of rapid social and political change in the Ruhr2. Of greatest concern to the entrepreneurial elite during those years was the impetus given by prosperity and labor shortages to the independent economic and political organization of workers in heavy industry. The industrialists felt that the organizational suc­ cesses registered by the unions and the Social Democratic Party in the last two pre-war decades gave added legitimacy and urgency to their own claims to unqualified government support. The leaders of Ruhr heavy industry complained frequently and bitterly that the government was less ready than it had been under Bismarck to defend con­ sistently and without reservation the employers' authoritarian rule3. Most of management's complaints, sparked by increased state intervention in the af-

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fairs of private industry and spasmodic efforts to extend the range of factory legislation during the Wilhelmian period, were directed against officials in Berlin. For instance, clashes between Ruhr industrialists and members of the central bureaucracy were occasioned by the Hibernia Affair in 1904, by government intervention in the Ruhr coal strike of 1905, and by even the most modest of the social reform proposals discussed in the capital during the first decade of the twentieth century4. To the entrepreneurial elite, the higher civil servants in Berlin in the years after Bismarck often seemed to be proposing arbitrary regulations for complex industrial phenomena of which they had little or no practical knowledge, thereby becoming unwitting allies of the state's internal enemies. Business leaders felt that many high officials, with their legalistic training, were inclined to be too theoretical, too ready to cater to popular demands without due regard for the economic and technical realities of industrial production5. By contrast, high-level public officials in Prussia's industrial West, who were more exposed to the direct influence of the coal, iron and steel magnates than were their colleagues in Berlin (industrial lob­ byists and interest group representatives in the capital notwithstanding) and who were also keenly aware of the contribution of industrial expansion to the general prosperity and stability of the areas under their administration, emerged as increasingly valued allies of the Ruhr industrialists in their efforts to sustain their autocratic control over their workers. In the first three sections of this essay, three key groups of public officials — namely, provincial and district governors, Landräte, and city mayors — are briefly examined in terms of their administrative role in the Ruhr and their relationship to the industrial leaders of that region. The fourth and final section discusses the continued general agreement in the approach of the govern­ mental and entrepreneurial elites of the industrial West to the problems of social control, in spite of the substantial change in the social and political context of their actions. I. In the provinces, the most prestigious bureaucratic appointment was that of provincial governor; the most important, in administrative terms, was that of district governor. The former was the personal representative of the C rown; the latter had primary responsibility for the supervision of county and com­ munal government6. Administrative jurisdiction over the Ruhr was divided between the provincial governors of the Rhineland and Westphalia in Koblenz and Münster, respectively, and among the district governors in Düsseldorf, Arnsberg, and to a lesser extent, Münster. None of these centers of administra­ tion was located in the Ruhr. Unlike the largely indigenous top leadership of Ruhr industry, the provincial and district governors were commonly recruited from outside the Rhineland and Westphalia7. Unlike the bourgeois entrepreneurs, the provincial and dis­ trict governors were, or at least aspired to become, members of the nobility8. Unlike the technically or commercially trained entrepreneurial elite, the top state officials in the provinces had the legalistic education of the Prussian high © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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civil servant. C lose family ties or crossover of personnel between the adminis­ trative elites of government and industry in the Rhineland and Westphalia were rare9. There existed no such network of primary links as that which so closely bound the bureaucracies of state and private coal mining in Prussia10. Ruhr corporations, especially armaments concerns, did seek contacts with the government by recruiting retired civil servants or close relatives of active officials for either managerial posts or, more commonly, for their supervisory boards (Aufsichtsräte), but they usually turned to members of the central bureaucracies for this purpose11. The offspring of wealthy industrial families not destined for business careers might find state service an attractive alterna­ tive, but they were more likely to aspire to diplomatic than to administrative posts12. Because the salaries of the provincial and district governors, especially the latter, were inadequate to meet the social obligations of their offices, wealthy candidates were preferred13. The industrialists as a group were, of course, even richer. Top bureaucrats of aristocratic family still held an advantage over Ruhr entrepreneurs in terms of status, but the time when high civil servants could look with disdain upon successful businessmen was long past14. Together, the two groups constituted the social elite of the Rhineland and Westphalia. They also shared a common religion, both groups being predominantly Prot­ estant, whereas the populations of the Rhineland and Westphalia were pre­ dominantly C atholic. C lose contacts, both professional and social, were main­ tained between the two elites15. It was through such direct, personal contacts, rather than through their sizable representation in the relatively unimportant provincial Landtage, that the entrepreneurial elite exercised their most telling influence on provincial affairs16. Top state officials in the Rhineland and Westphalia respected the wealth and power of the entrepreneurial elite of the Ruhr, and they saw much to commend in the use to which the employers put their resources. They were willing, on the whole, to accept the image which the major industrialists wished to project of themselves as responsible, hard-working individuals, with a con­ cern for the welfare not only of their shareholders but also of their workers and of the nation17. Subordinate officials who were bold enough to express a dissenting opinion about the motives of the industrial elite were sharply re­ primanded18. In particular, the provincial and district governors had warm praise for industrial contributions to nationalist organizations and for their support of a wide range of worker welfare programs, such as company housing, health, educational and recreational services, and pension plans. They were untroubled by the argument of union leaders and some bourgeois social reformers that such factory welfare programs represented, not humanitarian concern, but repres­ sive measures of social control19. Indeed, the utility of paternalistic endow­ ments for keeping the social peace was as attractive to state officials as it was to Ruhr industrialists. Freiherr v. Rheinbaben, as district governor in Düssel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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dorf, lauded all that Karl Lueg of the Gutehoffnungshütte had done for the employees of that concern and concluded that as a consequence, “ no unrest or strikes had materialized among the numerous workers of the Gutehoffnungs­ hütte“20. The strongest bonds in the relationship of the provincial and district governors and the heavy industrialists were their nationalism and their com­ mon determination to block democratic reform. The fact that the high civil servants commonly identified themselves as C onservatives, while most entre­ preneurs were National Liberals, was indicative not of basic differences in political outlook but merely of differences in family tradition and geographic origins. Together they sought to defend the existing order, locally as well as nationally, by a repressive campaign against the independent labor unions, the Social Democratic Party, and the popular forces within the C atholic Center Party. The provincial and district governors were, of course, appointed by and responsible to Berlin. And it was there that their careers were made, especially if they had ministerial ambitions. As political officials, i. e. officials having direct responsibility for the implementation of policy decisions reached by the central government, they were without security of tenure21. Particularly in the case of major industrial conflicts in the Ruhr, which were considered mat­ ters of national security, their actions were carefully monitored from the capital. This had been made most apparent at the time of the 1889 Ruhr coal strike. The course pursued by the provincial governor of Westphalia and the district governor in Arnsberg pleased neither the social reformers nor the hard-liners in Berlin and resulted in the dismissal of both men22. Nevertheless, the top state officials in the provinces were in a position to be most useful to the entrepreneurial elite. The men who held the key posts of provincial and district governors in the Rhineland and Westphalia were especially suited to mediate between Berlin and the industrial interests of the Ruhr because they themselves often came from or moved into the ministerial bureaucracy in the capital23. Most note­ worthy in this regard was Freiherr von Rheinbaben, who occupied succes­ sively the posts of district governor in Düsseldorf, Prussian minister of the interior, Prussian minister of finance, and provincial governor of the Rhine­ land24. In the opinion of Francis Kruse, district governor in Düsseldorf from 1909 to 1919, the Prussian monarchy was not a circle but rather an elipse with two foci: Berlin and the cities of the Rhineland and Westphalia. To guarantee a more equitable voice for the industrial West in the councils of the state, he recommended the appointment of more Ruhr industrialists to the Prussian House of Lords25. Through the provincial and district governors passed most of the requests from Berlin for industrial money to support a variety of conservative and nationalist causes. District and provincial officials in turn directed to Berlin recommendations for honors and titles for the entrepreneurial elite26. More © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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significantly, they communicated by means of their reports to Berlin much information about local economic, social and political conditions — informa­ tion which was strongly colored by their association with the industrial leader­ ship of the Ruhr and their conviction that the economic well-being of Ger­ many's greatest employers was crucial to the security and stability of the nation. For example, during the coal strike of 1912, District Governor Kruse gathered his information about the strike not only from police reports but also from a confidential correspondence with wealthy mine owner Karl Funke27. Needless to say, information provided by the unions or the Social Democrats was discounted as unreliable. Most importantly, the discretionary powers of the provincial and district governors could be used to protect the employers in the Ruhr from the full impact of new factory regulations. For example, the Bundesrat order of 1908 which regulated pauses in the iron and steel industry was reduced to a mockery by the exceptions granted by the district governors. In this instance, the Association of German Iron and Steel Industrialists decided to keep the grant­ ing of these “ sensible concessions“ secret so as not to expose the state officials involved to attack by the Social Democrats, and incidentally not to contradict their own constant complaints about governmental neglect28. II. The highest state administrative officials who actually resided in the Ruhr at the beginning of the twentieth century were the Landräte. The final link in the chain of command of the Prussian state bureaucracy, they shared the conservative outlook of their superiors. For instance, Dr. v. Wülfing, Duis­ burg Landrat, indicated to Managing Director Reusch of the Gutehoffnungs­ hütte that he was a member of the anti-democratic Deutsche Vereinigung (founded in 1908 by Westphalian provincial governor Schorlemer-Lieser), even though the political composition of the county he administered made it seem prudent to keep the fact secret29. The Landräte of the Ruhr were not as closely bound by tradition or family to local interests as were their counterparts in agrarian areas30. The Ruhr Landräte were professional bureaucrats, selected for their administrative ex­ pertise as well as their political reliability. They were usually of bourgeois origin and were often anxious for advancement, in part because of the inade­ quate salaries of their post31. To establish a successful record of meeting the most pressing technical problems of the industrialized counties under their supervision was inconceivable without reasonably good working relations with the leaders of heavy industry. Industrialists dominated the elected councils of the industrial communities still under county jurisdiction and through them were delegated to the county council. C ommon membership in a multitude of committees and commissions having to do with such local and regional prob­ lems as transportation, sanitation, and utilities brought the Landräte and company directors into frequent contact and helped generate mutual esteem between two such achievement-oriented groups. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Enterprising Landräte, such as Karl Gerstein, Bochum Landrat from 1900 to 1914 and founder of the mixed public-private Elektrizitätswerk Westfalen AG, proved quite innovative in meeting the demands of the heavily industrialized and densely populated Ruhr. Nevertheless, their position was being encroached upon by the expansion of self-governing cities. Indeed, Gerstein's entrepre­ neurial activities were motivated in large part by the desire to prevent un­ incorporated areas from becoming dependent upon city services32. The period from 1896 to 1914 was one of high fluidity in jurisdictional boundaries in the Ruhr. Belatedly and, prior to World War I, still only par­ tially, local government units were being altered to reflect the massive popula­ tion movements of the past generation. More and more people were being transferred from the administrative domain of the Landräte to that of city government. Increasingly, it was the city mayors, rather than the Landräte, who were the key local officials of the Ruhr33. This was a matter of concern not only to the Landräte, who naturally combatted such an immediate threat to their own office, but also to the provincial and district governors. For state officials in the Rhineland and Westphalia, the question of the expansion of urban self-government was not just an administrative but also a political issue. In spite of the contention of conservative officialdom that party politics had no place in urban affairs, democratic forces, predominantly C atho­ lic but also Social Democratic, were beginning to contest National Liberal control of the cities. The threat was not primarily in the older, long-incorpo­ rated urban centers, where the plutocratic franchise continued to insure control to the large numbers of well-to-do citizens. Rather, the threat was posed in the burgeoning, but as yet unincorporated industrial suburbs and in the mining communities in the countryside, where the population was often almost ex­ clusively working class. Here the C atholics and Socialists registered their first successes in communal elections34. To conservative civil servants in sedate administrative cities, it seemed foolhardy to be overeager to recommend self­ government for such raw, proletarian settlements as Hamborn or Sterkrade. But settlements of forty or sixty or eighty thousand inhabitants could not be administered forever as rural communes. After 1896 there was a wave of urban incorporations and annexations in the Ruhr. In 1909, to counteract the loosening of state control over local affairs in the Ruhr resulting from the extension of urban self-government, state police were established in Essen, Bochum and Gelsenkirchen. Significantly, the new royal district police directors were the incumbent Landräte of the counties involved. In their new dual offices as state police director-Landrat, they considered the police function to be the more important one. In the major industrial cities of the Ruhr, the police were intended to be the eyes and cars of the state, bypassing the institutions of municipal self-government35. Industrial spokesmen supported the introduction of state police. They would have liked a permanent military garrison in the Ruhr even better. Ruhr heavy industrialists had been very upset by the government's failure to send in the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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army during the 1905 coal strike36. The entrepreneurial elite favored a strong, highly-visible state presence to remind the working-class population that all the power of the Prussian monarchy stood ready to defend existing social and economic relations. However, where it would enhance their own role in local affairs, industrial leaders were advocates of urban self-government. This was especially the case in the Rhineland, where the local government regulations (Gemeindeordnung) did not enfranchise juridical persons (i. e. industrial corporations) as in West­ phalia, and local landed interests were insured disproportionate representation. By comparison, city elections, with their plutocratic franchise and open ballot­ ing, were ideal for turning economic dominance into political clout. This was particularly true of the homogeneous, medium-sized urban settlements typical of much of the Ruhr. In many a single-industry town, the entrepreneurial elite would vote in splendid isolation in the first class, middle management would have a strong voice in the second, and the mass of workers, duly instructed and supervised for the occasion, would cast their ballots for company candi­ dates in the third. The prime argument used by the industrialists with district and provincial governors on behalf of granting self-government to industrial cities was the essentially conservative nature of the heavy-industrial concern and the need to enhance its role as principal guardian of the local social order37. III. The city councils, on which major industrialists or their representatives and allies sat in such numbers and in which they exercised a disproportionate influence, elected the mayor for a twelve-year term, subject to state confirma­ tion. The mayor had a dual role. He was, on the one hand, the elected re­ presentative of local vested interests. On the other hand, the mayor was a representative of the state. The leaders of big business, the most influential local citizens in the Ruhr, expected the mayors to use the authority vested in them by the state to maintain order within the city and to act as spokesmen for local interests with state officials. City mayors, more than any other kind of public official, were confronted with the problem of reconciling special interest with the common good, or at least what they conceived to be the common good. C ontemporary commen­ tators, conservative as well as socialist, felt that the danger was very great that they might err on the side of favoritism to special interest38. This was particularly true where a single company dominated the local economy, as for example, the Bochumer Verein in Bochum or the Gutehoffnungshütte in Oberhausen39. A special temptation existed where economic or family ties linked the city's chief executive to local industry. For example, in 1907 Mayor Lehr of Duis­ burg was appointed to the supervisory board of the Duisburger Maschinenbau AG in recognition of the “ trustworthy counsel he had long provided the firm“ 40. Most noteworthy in this regard was Wilhelm Schmieding, mayor of Dortmund from 1886 to 1910. He was a member of the supervisory board of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the Harpener Bergbau AG, and his daughter was married to Heinrich Janssen of the Bergwerksgesellschaft Trier in Hamm. Schmieding's brother, Theodor, was father-in-law of Ruhr industrialist Eugen Kleine and belonged to the boards of such giant concerns as the Bochumer Verein, the Gelsenkirchener Bergwerks AG, and the Dortmunder Union. Theodor Schmieding was also one of the principal spokesmen for heavy industrial interests in the Prussian House of Deputies. Mayor Schmieding was particularly noted for his ruthless use of the police to repress socialist activities41. Accusations of conflict of interests at the time of the Ruhr coal strike of 1905 were, however, dismissed by the Dortmund city council. They decided that the mayor might keep both his municipal and his industrial posts42. Most city mayors, however, did not have such an obvious personal interest in the fate of heavy industry. Essen Mayor Erich Zweigert, a man well aware of the inherently awkward position of the elected head of an industry­ dominated city, claimed in his testimony on the reform of the mining laws before the Prussian House of Lords in 1905: “ I am completely independent, possess no mining shares of any kind, and am dependent in my office upon neither workers nor mine owners. My judgment is influenced by no personal considerations.“ 43 But even those mayors who were too scrupulous to invest personally in local concerns did not hesitate to invest municipal funds in joint ventures with the leaders of Ruhr heavy industry. The prosperous years before the War saw the proliferation in the Ruhr of mixed public-private enterprises, beginning with the Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk in 1898. Landräte as well as mayors were involved in such undertakings, and they had the sanction of top provincial officials44. City administrators were brought even more directly into the employers' camp as they themselves became employers of ever larger numbers of workers. For instance, the city of Essen in 1908 employed 1034 workers, just over half of them in the gas and water works45. Working-class spokesmen found munici­ pal administrators as employers no more enlightened than concern bosses. Firemen at the gasworks in Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Oberhausen, Mülheim and Bochum were reported to be working twelve-hour shifts, with a twenty-four hour shift every two weeks, the same as blast-furnace workers in the iron and steel industry46. One factor limiting magnanimity to city employees was the conviction that municipal enterprises should show a profit. Profits from essential services paid for by the majority of the population helped subsidize city government, thus relieving the tax burden on the wealthy47. Even more important, private employers used their influence with city government to block concessions to city workers on the grounds that such concessions would raise the expectations of workers in private industry48. Partially offsetting the influence of industry upon city mayors in the Ruhr in the decades just prior to World War I was the increasing professionalism of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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city administrators as a group. The development of the largest Ruhr cities to major importance, especially with the wave of annexations after the turn of the century, meant that the mayor's office was one which had to be filled by a capable and experienced individual. C ity mayors were recruited for their administrative expertise, often from outside the Ruhr, and often on the re­ commendation of state officials. C ity administration was becoming a distinct profession with its own career pattern49. And within the developing profession of city administrator, the post of mayor of a large Ruhr city was becoming a prized goal rather than a mere stepping stone to better things50. Helping to reinforce the professional independence of the mayors was the relative security of their tenure. Even as the importance of the mayor's office was being elevated, the social and physical distance between city administrators and the entrepreneurial elite in the Ruhr was increasing. One obvious gap was that of income. Although the mayors of large cities, unlike the Landräte, were relatively well-paid, a chasm existed between their income and that of leading industrialists — not just that of the owners but also of top managers, who through profit-sharing incentive plans benefitted greatly from the prosperity of the last two pre-war decades51. Whereas the entrepreneurial elite dominated the first class in munic­ ipal elections, mayors often voted in the third. They did not, however, thereby become advocates of a democratic franchise52. The concentration movement in heavy industry prior to World War I meant that top management of a mine or blast furnace in one city was often located in another. The increasing national and international involvement of big business meant that the local community gradually ceased to be a primary frame of reference for the entrepreneurial elite. Increasingly, it was middle management and the spokesmen for industrial interest groups, rather than members of the entrepreneurial elite, who maintained contacts with communal government. Those concern bosses who showed little or no personal interest in local affairs could scarcely expect the whole-hearted sympathy of city execu­ tives. For example, the mayor of Duisburg complained that wealthy indus­ trialist Peter Klöckner could not be persuaded to make contributions to local causes or accept honorary office in local organizations. He dismissed Klöckner as one of “ those industrialists who only work for the increase of their own wealth and cannot be persuaded to use their money for public purposes and for the accomplishment of great social tasks“ 53. At the same time that the frequency of personal contact between top management and local administrators was declining, the number of competing interests clamouring for the mayor's attention was increasing. After the turn of the century, the increasing size of industrial and municipal units, the greater pluralism of urban society, and the political and economic organization of labor made it more and more difficult to carry on city government within the rigid social and political patterns of the past. To be sure, the continuance of the three-class system of voting insured that, in spite of C enter or even Social © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Democratic inroads in municipal elections, city government remained very largely the preserve of the wealthy. But increasing professionalism, the practi­ cal demands of modern urban administration, and the desire to forestall further politization of urban government motivated leading mayors to adopt as much as possible a position above party and above interest, a position enabling them to mediate among local interests. Workers in many instances responded to the promise or a fair hearing by appealing to mayors to mediate in local labor disputes. In the last pre-war years, Arbeitsnordwest, the employers' association of the metal industry in the Rhineland and Westphalia, expressed dismay that so many city officials were encouraging the unions in the latter's efforts to gain collective bargaining agreements. They applauded those mayors who refused to become involved in industrial conflicts and encouraged their members to reject all offers of media­ tion coming from city hall54. The most dramatic intervention by city officials in a labor dispute was in the building trades conflicts in the Ruhr from 1905 to 1908. A lockout of con­ struction workers in Ruhr cities in 1905, in spite of the existence of local col­ lective bargaining agreements and in spite of efforts at conciliation by Freiherr v. C oels, district governor in Arnsberg, roused the ire of Essen Mayor Zwei­ gert. He warned the employers that the city would take its own construction projects in hand, charging the contractors for the extra costs incurred, and in addition would provide 20 000 Marks to support the workers55. Zweigert proclaimed that as far as he was concerned, “ the German worker should recognize that he could receive just treatment from a Prussian official“ 56. The 1905 lockout was ended by a regional agreement negotiated under the auspices of Otto Wiedfeldt, an Essen city official. However, the building contractors, with the backing of Ruhr heavy industry, continued their drive to free them­ selves of collective bargaining agreements, precipitating a crisis which led to a national agreement in 1908. The national settlement was negotiated by city arbitrators from Essen, Munich and Berlin57. IV. The efforts of officials in some of the larger Ruhr cities to increase social justice and social stability by mediating between labor and management were, however, seriously hampered by their unwillingness to recognize the legitimacy of independent labor organizations and their democratic goals. Opposed on general principles to the intrusion of party politics into their domain, they were least of all prepared to tolerate the rise of the Social Democratic Party, which was regarded as a subversive organization rather than as a party like other parties. In this matter, the mayors were in complete agreement with the otherwise more conservative provincial and district gover­ nors and Landräte and with the entrepreneurial elite. Prior to World War I, local as well as provincial officials felt called upon to harrass independent working-class organizations. Socialist organizations were routinely denied equal access to public facilities, such as the right to rent city meeting halls or even to sponsor performances by the municipal theater58. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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More serious was the systematic harrassment of labor organizations by local and, after 1909, state police. While mayors, Landräte, and district and pro­ vincial governors were frequent and honored guests at the meetings of em­ ployer's associations, the police under their supervision were uninvited guests at working-class gatherings. Frequently, police reports of such meetings found their way into the possession of the employers of the workers involved, and innkeepers who rented rooms to the socialists reported difficulty in keeping their licenses59. As an anti-strike measure, the police in the Ruhr encouraged the arming of dependable foremen in the mines60. The employers, for their part, encouraged the anti-labor bias of the police by providing special bonuses for service during strikes61. When government administrators in the industrial region did criticize the employers' position in a labor dispute, most notably in the coal strike of 1905, it was invariably with the argument that the excessive rigidity of the indus­ trialists' position was driving uncommitted workers into the arms of the social­ ists. The employers themselves were not totally insensitive to the logic of this argument, and after 1905, they cautiously began to modify some of the harshest aspects of their labor-relations policies62. Local and provincial offi­ cials gave their wholehearted support to every scheme the employers had for winning back the loyalty of their workers. They especially welcomed the formation of company unions by heavy-industrial concerns in the last pre-war years. The nationalism of the “ yellow“ unions and their ideology of class collaboration rather than class conflict had a special appeal for government bureaucrats. At a festive gathering of “ national“ unions in Essen in 1912, a full array of local and provincial officials was present with warm words of encouragement63. But in spite of their sincere wish for some kind of rapprochement with the workers, the tactics used by government officials in the Ruhr to combat the independent political and economic organizations of labor were too often petty, vindictive, and unrealistic. Their tactics were dictated not only by directives from Berlin but also by their own visceral reactions to the rising volume of demands for democratic reform within their own domain. Local and provincial civil servants, especially through their direction of the police, represented the government to the workers in a more direct and immediate way than did the ministers and privy councillors in Berlin. In the Ruhr, public officials failed to convince labor that their committment to impartial treatment for all citizens was anything more than a pious sentiment. It was only too obvious that the preeminent social and economic position of the industrial leaders gave them special entrée to high-level government officials and that they had been by and large successful in convincing these officials that their private business interests were synonymous with the long-term best interests of the total population of the Ruhr and of the German Empire. Throughout the entire pre-war period, the entrepreneurial elite continued to rely heavily upon top local and provincial bureaucrats to act as intermediaries © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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between themselves and Berlin and to mitigate the impact of social policy changes in the capital. Of course, not even the most conservative and sympa­ thetic officials in the industrial region were a l w a y s willing or able to meet the insatiable demands of the employers for protection of their interests. Neverthe­ less, in spite of occasional misunderstandings, the anti-democratic alliance of public administrators and private employers in the Ruhr was as strong and unshaken in 1914 as it had been in the 1870's and 1880's.

Notes 1 The area of government regulation of industry which has attracted the most atten­ tion has been factory legislation. See K. E. Born, Staat u. Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, 1890—1914, Wiesbaden 1957; Η. J . Teuteberg, G eschichte der Industriellen Mit­ bestimmung in Deutschland, Tübingen 1961; and H. G. Kirchhoff, Die Staatliche Sozialpolitik im Ruhrbergbau, 1871—1914, C ologne 1958. Important recent works studying business influence on national policy are: H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht, 1848—1881, Cologne 1966, 19722. D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Par­ teien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungs­ politik 1897 bis 1918, C ologne 1970; and H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialis­ mus, C ologne 1969, 19723. 2 For the reasoning behind using long economic cycles such as that from 1896 to 1914 as a basis for periodization in social history see H. Rosenberg, Grosse Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, 1—25. 3 The most bitter complaints came from older members of the entrepreneurial elite, men such as Emil Kirdorf, Emil Krabler, and Eduard Kleine, who had already estab­ lished themselves as leading figures in Ruhr mining during Bismarck's diancellorship. See H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminisdien Gesellschaft. C en­ tralverband Deutscher Industrieller 1895—1914, Berlin 1967, 78 f. (Kirdorf); Glück­ auf. Berg- u. Hüttenmännische Zeitung 41. 1905, 749 (Krabler); and Stenogramme der Kommissionsverhandlung in Dortmund betreffend Stillegung von Ruhrzechen, 28 April 1904, StA Münster, Oberbergamt Dortmund B, Group 119, No. 280, 416 (Kleine). 4 M. J . Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet zur Zeit Wilhelms II., 1889 bis 1914, Düsseldorf 1954, 83—108; Born, 184—88; Kirchhoff, 135—156. On the Hibernia Affair, see Η. Nussbaum, Ein neuer Hintergrund der Hibernia-Affäre, JbW 1963, 226—43. 5 For example, see the complaints of Managing Director Wilhelm Beukenberg of Phoenix, in: Die Entwicklung der Schwerindustrie in der Regierungszeit Wilhelms II, Nord u. Süd 145. June 1913, 395. On the legalistic training of the higher civil servants in the central offices in Berlin see J . C . G. Röhl, Higher C ivil Servants in Germany 1890—1900, Journal of C ontemporary History 2. 1967, 104 f. 8 H. Jacob, German Administration Since Bismarck, New Haven 1963, 14. 7 For biographical information about the entrepreneurial elite, see C hapter I of the author's dissertation, West German C oal, Iron and Steel Industrialists as Employers 1896—1914, Ph. D. University of C alifornia, Berkeley 1969. For comparable informa­ tion on the provincial and district governors, see D. Wegmann, Die leitenden staat­ lichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815—1918, Münster 1969, 31—40, 109—13. 8 Patents of nobility were more likely to go to the descendants of entrepreneurial families, living as rentiers, than to men in top positions of industrial leadership. Power-

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ful Ruhr industrialists such as Kirdorf, Stinnes, Krupp and Thyssen actually turned down noble titles. On the granting of titles and honors to businessmen in Imperial Germany see R. Lewinsohn, Das Geld in der Politik, Berlin 1930, 20—29, and L. Cecil, The C reation of Nobles in Prussia 1871—1918, AHR 75. 1970, 757—95. 9 F. A. Krupp and his second daughter were both married to offspring of provincial governors, but not ones who had served in either of the two Western provinces. 10 The multitude of interrelationships among the leaders of state and private mining in Prussia can be traced in the biographical collections of W. Serlo, Bergmannsfamilien in Rheinland u. Westfalen, RWB III, 1936, and Westdeutsche Berg- u. Hüttenleute u. ihre Familien, Essen 1938. Bergassessoren, that is, men who had gone through the years of academic training, examinations, and apprenticeship necessary to become a state mining official, held a near monopoly of positions as top directors of Ruhr mining concerns and of the coal producing divisions of large heavy industrial com­ bines. 11 H. Jaeger, Unternehmer in der deutschen Politik, 1890—1918, Bonn 1967, 169. 12 For one thing, formal requirements for entry into the diplomatic service were less exacting. See Röhl, 105—07. 13 O. Most, Zur Wirtschafts- u. Sozialstatistik der höheren Beamten in Preussen, Sch. Jb. 39. 1915, and E. Hoffmann, Francis Kruse, RWB II. 1937, 369 f. See also footnote 51. 14 For the mid-nineteenth century, see F. Zunkel, Beamtenschaft u. Unternehmertum beim Aufbau der Ruhrindustrie 1849—1880, Tradition 9. 1964, 261—76, and J . R. Gillis, The Prussian Bureaucracy in C risis 1840—1860, Stanford 1971, 64, 189. 15 Ε. Hoffmann, Dr. Francis Kruse. Königlich Preussischer Regierungspräsident. Ein Lebensbild, Leipzig 1937, 87; Stegmann, 133; W. Boelcke, ed., Krupp u. die Hohen­ zollern, 1850—1916, Berlin 1956, 84—86. 16 W. Henning, Geschichte der Stadtverordnetenversammlung von Essen 1890—1914, Essen 1965, 46; H. C roon, Die Einwirkungen der Industrialisierung auf die gesell­ schaftliche Schichtung der Bevölkerung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Rhei­ nische Vierteljahrsblätter 20. 1955, 316. 17 Hoffmann, Kruse, 87—88. See also the reports submitted in connection with the conferring of titles on members of the entrepreneurial elite. StA Koblenz, Oberpräs. für die Rheinprovinz, 403/9881—9898, and StA Münster, Oberpräs, für die Provinz Westfalen, 1514. 18 Reg. Präs. Düsseldorf to Bezirks-Polizei-Kommissar Essen, 18. 2. 1904, StA Düs­ seldorf, 15915. 19 One of the best contemporary studies of both positive and negative aspects of employer welfare programs is A. Günther and R. Prevôt, Die Wohlfahrtscinrichtun­ gen der Arbeitgeber in Deutschland u. Frankreich, Schriften des Vereins für Sozialpoli­ tik, vol. 114, Leipzig 1905, 111, 125, 140 f., 186. 20 Proposal for Award of Geheimer Kommerzienrat title to Karl Lueg, 12 Nov. 1896, StA Koblenz, Oberpräs, für die Rheinprovinz, 403/9881. 21 One official particularly aware of this fact was Freiherr von der Recke, provincial governor in Westphalia from 1899 to 1911, who in 1899, as Prussian minister of the interior, had to remove from office the eighteen Landräte and two district governors who voted against the government's Mittellandkanal proposal in the House of Dep­ uties. Wegmann, 103. 22 Wegmann, 98—101; Α. Bein u. Η. G oldschmidt, F. Hammacher, 1824—1904, Berlin 1932, 104. 23 Wegmann, 42 f.; Röhl, 120. 24 Stegmann, 84, 133, 206. 25 Hoffmann, 370. 26 It should be noted, however, that Ruhr entrepreneurs, in spite of their wealth and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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their unquestioned service to the growth of G erman power, were still not favored with orders and titles to the same degree as members of the older ruling strata. The Kronenorden and the Rote Adlerorden third or forth class which were offered to leading industrialists were also offered to junior army officers and middle-rank bureau­ crats after a few years of service. See Lewinsohn, 27. 27 Hoffmann, 79, 94. 28 Meeting, 1 April 1909, Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, ΒΑ R 13 I/139, 49—56. 29

Wülfing to Reusch, 5 March 1909, HA/GHH 300 193 26/25.

H. C roon et al., Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1971, 104—06. 31 Wegmann, 158, 177 f.; Most, 206. See also footnote 51. 32 Α. zur Nieden, Karl G erstein, RWB I. 1932, 487—518. 33 E. McCreary, Essen 1860—1914. A Case Study of the Impact of Industrializa­ tion on G erman Community Life, Ph. D. Diss., Yale University 1964, 235. 34 Henning, 28, 87 f., 102—03, 196, 198; Croon, Kommunale Selbstverwaltung, 41, 52; Hoffmann, Kruse, 73—74; Μ. König, Über den wirtschaftlichen u. politischen Ein­ fluß der Großindustrie auf die Gemeinde-Vertretung u. -Verwaltung im Ruhrgebiet, Kommunale Praxis 1904, 921. 35 A. Wilke, Probleme der Verwaltung im Industriebezirk mit besonderer Berück­ sichtigung des rheinisch-westfälischen Kohlendistriks, Berlin 1911, 21, 35; Hoffmann, Kruse, 77—79; Kölnische Volkszeitung, 11. 2. 1909; Arbeiterzeitung (Essen), 20. 2. 1909. 36 Bergwerksdirektor Kleine to the Gelsenkirchener Bergwerks AG, quoted in Glück­ auf 41. 1905, 228. 37 Meeting, 19 April 1909, Vereinigung von Handelskammern des niederrheinisch­ westfälischen Industriegebietes, HA/GHH 300 193 3/12; Reusch to Bürgermeister Dr. zur Nieden, Sterkrade, 29 June 1911 and 6 Aug. 1912, HA/GHH 300 193 7/17. 38 Wilke, 3; König, 921. 39 C roon, Kommunale Selbstverwaltung, 89; C orrespondence of Reusch and Ober­ bürgermeister Havenstein, HA/GHH 300 193 7/0 Kommunale Angelegenheiten Stadt Oberhausen 1908—1916. 40 I. Reichert, Theodor Keetmann, Dortmund 1912, 48. 41 F. Horstmann, W. Schmieding. Oberbürgermeister der Stadt Dortmund 1886 bis 1910, Beiträge zur Geschichte Dortmunds u. der Grafschaft Mark 58. 1962, 305—24. 42 König, 918. 43 P. Brandi, Erich Zweigert 1849—1906, RWB IV, 1941, 197. 44 Hoffmann, 371. 45 Report of Oberbürgermeister Holle, 1. Feb. 1908, Stadtarchiv Essen I 143. 46 König, 920. 47 Henning, 55. 48 Vielhaber (Krupp Director) to Oberbürgermeister Holle, 5 Feb. 1909, and to Beigeordneten Rath, 23 Feb. 1909, Stadtarchiv Essen I 143. Croon, Kommunale Selbstverwaltung, 86. 50 Horstmann, 309. 51 Prior to the War, the mayor of Essen had a salary of 25 000 Marks. By compari­ son, the provincial governor was paid only 21 000, the district governor only 13 000, and Landräte less than 8 000. Most, 185, 198, 202 f. C ompany directors in this period commonly earned 100 000 Marks or more. G. Merbach, Die leitende Angestellten­ schicht in der Eisen- u. Stahlindustrie des Ruhrgebietes bis 1931, Staatsexamensarbeit, Univ. Bonn, 1968, 44. 52 Henning, 39. 58 Mayor of Duisburg to Reg. Präs. Düsseldorf, 11 Dec. 1905, StA Koblenz, Ober­ präs, für die Rheinprovinz, 403/9890. 30

30 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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54 Geschäfts-Bericht des Arbeitgeber-Verbandes NW Gruppe VdESI, VII. 1910 bis 1911, 9—10; Arbeitgeber-Verband NW, Rundschreiben 19/12, 13 Sept. 1912, Mannes­ mann Archiv R 8 26. 52. 55 E. Schröder, O. Wiedfeldt, Beiträge zur Geschichte von Stadt u. Stift Essen, vol. 80, Essen 1964, 50. 56 Henning, 125. 57 Schröder, 51—57. 58 Henning, 139; König, 913. 59 König, 918—919; Öffentliche Arbeiterversammlungen (Polizeiliche Protokolle) 1905—1910, HA/GHH 300 143/0. 60 Polizei-Präsident, Essen, to Bergassessor Krawehl, 6 Jan. 1911, Bergbau Archiv 20/312; Deutsche Bergwerks-Zeitung 13, 2 (14 March 1912). 61 C orrespondence between officials of the Helene und Amalie Mine and various police officers, March 1912, Bergbau Archiv 20/312; Rheinisch-westfälische Zeitung, 18 Sept. 1912. 62 See C hapter IV of the author's dissertation. 63 Stegmann, 338; Hoffmann, 90; Rheinisch-westfälische Zeitung, 1 July 1912.

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24. Modernization, Bureaucratization, and the Study of Labor History: Lessons from Upper Silesia, 1865-1914 B Y LAWRENC E SC HOFER

What is modernization? — by now a familiar but unresolved question. Stu­ dents of developing areas have made clear the cultural bias inherent in much of the writing on this topic, but many still use the term to refer to the emer­ gence of a complex of institutions, values, and processes characteristic of Western Europe and the United States in the industrial age. Such holistic definitions tend to suggest the inevitability of Western patterns of develop­ ment, even when sensitive writers avoid a strict dichotomy of all of man's experience into “ traditional“ and “ modern“ societies. For example, Barrington Moore's widely circulated study implicitly emphasizes the political, but his treatment indicates the inherent difficulty in using “ modern“ to denote so many diverse phenomena1. Thus for Moore seventeenth century England and twentieth century Japan fall into the same rubric — a tenuous proposition. Modern in this usage tends to mean “ present-day“ , or at least those patterns, like the English political system, that have led to the present-day social order. But was Japanese “ fascism“ any more or less modern than post-World War II Japanese democ­ racy? Which German system was most modern: Bismarck's Empire, the Weimar Republic, the Nazi regime, the German Federal Republic, or the German Democratic Republic? If politics fail us, what of economics? Perhaps it is more convenient to talk of technological and intellectual epochs characterized by certain identifiable trends not characteristic of any one society or culture area. The modern period can then be defined as the scientific epoch, distinguished by “ the extended application of science to problems of economic production“2. C onsequently, one meaningful way of comprehending “ modernization“ and “ industrializa­ tion“ is to disaggregate the major social changes resulting from power-driven machinery and large-scale production, and one of the most impressive of those basic changes is the formation of a large industrial labor force. Most students of labor history of various political and social outlooks have proceeded from the observation that the outstanding social characteristic of an industrial system is the emergence of some sort of work discipline, and to study labor problems in a period of early industrialization is to begin with a notion

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of workers' “ discipline“ or “ commitment“ or some other term signifying a new relationship to work in a new social setting3. The newcomers to industry must give up old life-habits and adjust to the new; they must stop working at an irregular pace; they must give up control over production; they must submit to the needs of the firm as dictated by economies of scale, the increasing divi­ sion of labor, etc. Even those who sympathize with the workers — like E. P. Thompson — accept a disruptive role for the workers in a relatively long transition period. Thompson, in one of the most insightful articles written in recent years, does not deny the workers' supposedly disruptive behavior; he simply denies the moral superiority of the new arrangements. In the main, recent spokesmen for the sufferers still imply the relentless forward march of an entrepreneurial program for the growth of industry4. The assumption of the inevitable or most likely direction of industrial organization also emerges in what for a long time was and in some areas continues to be the predominant trend in labor history: emphasis on conditions of the workers and on the activities of labor unions and socialist parties. Often sympathetic to the workers and appalled by their conditions of employment, many students have felt it obvious that the oppressed will turn to labor unions and socialist parties as means of bettering their conditions within a framework established by entrepreneurs and corporate managers. Although the availability of written records has led historians to study these worker groups intensively, it is dangerous to assume that such activities are characteristic of the entire work force. After all, the vast majority of the workers traditionally remain non-union5. Moreover, worker behavior is also in large part a function of contact with representatives of owners. Management as such has not been ignored by his­ torians and other social scientists, but most often decision-makers are observed in a system of their own6. Recently, American and British labor historians have begun to investigate a wide spectrum of worker behavior not centered on traditional areas of interest, but we still need a theoretical framework that accounts for labor-management interrelationships, even while the members of the labor force remain the primary object of attention. I suggest that the basis for such a framework lies in “ bureaucratization“ , a formalized way of de­ scribing the shifts in the way authority is distributed and exercised in the industrial world. By focusing on the kind of conflict accompanying an in­ creasingly pronounced division of labor and the change in character of the rules of the work place, the historian can see through the processes of bureaucratiza­ tion the coming into being of a labor force that might well be labeled modern. Ordinarily, management is understood to perceive its interests in formally defined duties and obligations and the division of tasks, all accomplished through a bureaucratic structure7. Workers are correspondingly disruptive, restive, dissatisfied, and generally unwilling to internalize the restraints being forced on them from above. The explicit use of this bureaucratic standard promises to test these assumptions and to suggest certain revisions in our image © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Labor History: Upper Silesia

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of industrial relations in a period of the formation of still-current modes of action. It is a way of dealing with the labor force as a whole, not just with its most vocal elements, and of indicating how managers must be included if one is to understand this labor force. Ideal-typically 8 , a pre-bureaucratic labor force is characterized by firms of relatively small administrative apparatuses; wages paid in kind as well as in cash; wages unsure because of arbitrary fines and sporadic wage supplements (e. g., in times of food shortage); forced overtime; no clearly formulated rational work rules; and no mechanism for any kind of worker protest against the authoritarian social order of the workplace. In contrast, the bureaucratized labor force no longer functions with such vague contractual obligations and unwritten expectations. Besides schedules of wages and hours and the elimina­ tion of most non-monetary payments, explicit work rules dictated solely or primarily by the needs of production frame the conditions of work. Of course, other expectations of both bosses and workers survive, but increasingly these become part of more formal demands relating to quantifiable elements like wages and hours. Western experience has been that the crucial shifts in labor management relations come not simply in the area of wages and hours, the traditional area of interest for those investigating conditions of work; these shifts also occur in the distribution of authority between managers and managed. A way of understanding such changes lies in Alvin Gouldner's notion of punishment­ centered bureaucracies, where rules are promulgated from on high, and rep­ resentative bureaucracies, where rules are evolved in some kind of democratic bargaining process9. Stress on patterns of industrial bureaucracy promises to reorient our thinking about some aspects of labor history, and I propose to show the utility of this notion by turning to the industrial history of Upper Silesia in the era of large-scale free enterprise. A center of mining and metallurgy, Upper Silesia was second only to the Ruhr as the largest industrial complex in Imperial Germany. The Prussian government had withdrawn from all effective control over personnel policies in mining by 1865; from then until 1914, when manpower requirements dras­ tically shifted owing to the war, the government played no direct role in personnel management. Of course, the German government displayed concern for workers, manifested in such items as safety legislation and special protec­ tion of women and children; Prussia even retained its pre-capitalist Higher Mining Office (Oberbergamt) in Breslau (all place names given in pre-1914 form), but that only in the truncated form of a sort of safety inspection. On the other hand, Prussian government agencies functioned as quasi-independent entrepreneurs in the administration of government owned mines and mills in Zabrze, Königshütte, Friedrichshütte, and Gleiwitz. Records of these plants indicate clearly that in their role as entrepreneurs, government bureaucrats could not be differentiated from private businessmen10. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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It is not too difficult to assert that the labor force in mining and metallurgy formed a sort of group with a common relationship to the market and subject to the same changes in technology and society. Entrepreneurs and top managers were so few that one can generalize about them without difficulty. Local enterprises in the 1870's and 1880's numbered only a few hundred workers at each plant; by 1913 fewer than 25 firms each employing over 1000 people accounted for the vast majority of the workers. Thus before 1890 mines and factories with over 100 employees might be considered large; but from then on one finds records of ever growing installations, leading to such 1913 giants as Bismarckhütte with 7500 employed and the Vereinigte Königs- und Laura­ hütte with 24 000. The point is that at any point in time through this period the scale of labor and management did not vary greatly from company to com­ pany. When holdings were small and ownership centered in a few families, mostly local landed magnates, both workers and owners in Upper Silesian mining and smelting faced market situations similar to those of most of their peers. With economies of scale, new technologies of metal production, incor­ poration because of need for capital, price-fixing, elaborate managerial hier­ archies, and the like, the whole picture changed. Even where individual units remained small — such as 59 coal miners at the Pless Heinrichsfreude mine in 1913 — they lay so close to larger sections of the same company that lines of authority and rule-making could be closely supervised from the central office'1. One is justified, then, in speaking of the workers and entrepreneurs-decision makers-top managers as rudimentary groups which can be lumped together for purposes of historical analysis. The behavior of workers as well as that of owners and managers obviously is in large part a function of the market. It is well known that in most indus­ trial areas, including late nineteenth century Upper Silesia, strikes tend to occur in periods of rising output and full employment, while decreases in wages and tightening of work rules appear when demand for products declines. However, the particular way these two groups act in fluctuating economic situations changes over time as a result of their experience in earlier con­ frontations. The most dramatic type of conflict is the strike. C lose examination of the issues raised in Upper Silesia illustrate a definite shift in workers' demands. The largest pre-1889 strike, at the König mine at Königshütte in 1871, started when a more efficient system of checking daily attendance at work was in­ troduced. Not wages, not hours, but the curtailment of presumably flexible work rules was the issue, one which might be characterized as a move away from the “ indulgency pattern“ , the practice of condoning unwritten per­ quisites of employment and laxity work. The subsequent two decades, marked by generally slack demand, witnessed increasing pressure from above as em­ ployers began to rationalize the older non-profit-oriented work rules and to consolidate their control over the workers. It is difficult to differentiate clashes based on further restrictions of the indulgency pattern and those based on the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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call for higher wages, but the general state of the economy and the mention in archives of only some 13 small strikes plus hints of a few others indicate that workers were on the defensive and that wages were not the prime issue12. All this does not mean that management was modern, bureaucratic, and rational. A number of work rules — normally unpublished until required by an 1892 law — delineated offenses not easily linked to labor productivity. For instance, the requirement of morning prayer (abandoned around 1890) and the fine of half a day's pay for failure to appear at a comrade's funeral13 hardly seem appropriate concerns for men who are sometimes assumed to personify economic man par excellence. The great miners' strike of 1889 marked the end of the earlier period of uncontested employer dominance14. The miners in 1889 and in the scattered strikes of the 1890's presented demands characteristic of highly industrialized states — higher wages, shorter working hours, improved fringe benefits. On the other hand, many complaints were attributable to the unilateral imposition of work rules by management. Strikers spoke of reductions in shift-pay when an unspecified piecework rate was not attained; they fiercely resented forced overtime and punishment in the form of temporary demotion to lower paying positions; free coal and cheap food, clearly vestiges of an older in­ dulgency pattern, lost much of their value because of the delivery of shoddy goods. General economic prosperity, the emergence of a significant metallurgical industry in Upper Silesia, and the intervention of the state (safety inspections, required publication of work rules, restriction of women and children in mining and industry, labor courts) contributed to a shifting emphasis in the demands presented in the other pre-war strike periods, those of 1905—07 and 1913. Instead of complaints about poor housing and useless payments in kind, calls for higher wages, shorter work days, and a clear delimiting of the author­ ity of supervisors came to dominate grievances. The shifting demands implied that the workers had gained a good deal of knowledge on how to act in a novel economic and social situation; they were moving toward a bureaucratized labor force, one in which employees recognized employer control over a wide area of decision-making, even while putting forth certain claims to influence over other areas. Perhaps the culmination of such trends is apparent in the formation of the first large, long-lived union among the Upper Silesian miners, the Polish Professional Union in 190815. For present purposes, the union serves as a benchmark for the recognition by workers of the boundaries of their demands for authority. Unless under anarchist or syndicalist influence, a union tends to recognize employers as supreme over a broad range of issues; the job of the union is to gain concessions within that limited context. The strike of 1913 convincingly illustrates the way in which workers had learned to channel their demands into what even now could be called modern. The cooperating unions (led by the Polish Professional Union) wanted a pay raise, the introduction of the 8-hour day (already common in Ruhr mining), © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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and, though clearly unattainable at that time, recognition of the union as bargaining agent. In marked contrast to previous strikes, the skilled hewers led the protest, while the unskilled and the semi-skilled tended to report to work. Such strike activity — the coordinated union action, the basically economic demands, and the leadership of the skilled workers — point to the changing nature of labor protest. Miners now had adjusted to a position in society which they earlier had been reluctant to accept. C onflict revolved around wages and hours, not the definition of the rules of daily work. The workers now more or less accepted a common pattern of rules of labor discipline, in the main drafted by management, accepted even though it was more a punishment-centered than a representative bureaucracy. Employers and managers present an interesting contrast. At no time, it seems, did they recognize as even quasi — permanent any infringements on their rule — making power except for those mandated by law, and even here they went to great lengths to avoid implementing the ban on women underground. Employers in the Ruhr acquiesced on this last point in the 1890's, but the Upper Silesians held off implementation of the law until the 1920's. Most astonishing was the charge of Polish nationalism against the 1913 strikers; in addition to the usual cant about adequate wages, good hours and fine work­ ing conditions, industrial managers claimed the chief purpose of the strike lay in “ the weakening of Germandom in Upper Silesia“ . The charge was obviously a propaganda ploy, for the mine inspectors' reports of the strike did not even mention Polish nationalism16. This kind of employer recalcitrance may not seem exceptional; standing alone, the evidence does not conclusively show that the top managers refused to enter a bureaucratic bargaining relationship with the workers. However, by going beyond these sensational labor conflicts of the pre-war period, one can survey a whole host of developments to buttress this assertion that mana­ gers needed to be “ modernized“ fully as much as workers did. One way of looking at the relations between management and labor is to observe how the behavior of each group affected the behavior of the other in situations less dramatic than that of strikes. The changes here too can be per­ ceived in what I have termed elsewhere a mutual learning process17. All through the 1865—1914 period, for example, instances are recorded of at­ tempts by employers to curtail the indulgency pattern. So Johann Slawik complained to his employer (the Hohenlohe firm) that he had received pay for only two and one-half shifts for February, 1894, even though he had worked five. In response, the Hohenlohe administration pointed to absenteeism and to the “ laziness of the local crew“ in producing only half the required output; therefore, all hewers had been fined half their pay. Here then were the rules — satisfactory work to be defined after the fact by the manager. And to cite only one more example — miners some time after the early 1870's © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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lost the right to carry home some coal with them each day18. Some of these changes may be denoted as rational; others, however, as more arbitrary. Once again such practices are familiar; they emerge here as useful in looking at conditions at the workplace in a new way. A whole range of actions by workers point to their turning increasingly away from individualistic kinds of pressure to a more rationalized, more bureaucratized form, especially after the turn of the century. The early years of free-enterprise mining show a labor force with strong attachments to rural occupations. Such a situation is familiar to students of industrializing areas, but it should be pointed out that the re­ course to agricultural activity was not simply a cultural preference for an older life style; there was clearly an element of dissatisfaction with one's job involved. Thus after 1890 most instances of swings between industry and agriculture occured in Pless and Rybnik counties, which not only housed large agricultural populations but also were marked by the lowest industrial wages in the whole region19. One can only conclude that a good deal of worker behavior constituted a very rational response to market pressures; the less developed the area, however, the more likely was protest to take the form of returning to earlier patterns of work. An even more widespread method of bargaining before unions and govern­ ment came onto the scene can be found in absenteeism and turnover. By the early 1870's the old miner brotherhoods (Knappschaften) had become mere administrators of social insurance and could be easily manipulated by em­ ployers. Workers then resorted to a variant of Hobsbawm's “ collective bar­ gaining by riot“ , which here took the form of collective bargaining by the sporadic withdrawal of labor. Absenteeism and high rates of job turnover always plagued employers, who tended to regard these phenomena as evidence of laziness and lack of initiative, what some have termed a “ backward bending supply curve of labor“ (i. e., the supply of labor quickly diminishes when wages rise because workers are satisfied with minimal wages). So the directors of the government mine at Königshütte commented that unskilled workers complained about their wages because they were lazy and led a disorderly life; furthermore, the local working population went for “ luxuriousness in clothing“ and “ irresponsibly contracted marriages“ 20. However, one need not assume that high rates of turnover and absenteeism are anti-industrial or the result of incomplete adaptation to industrial life. Traditionally employers and their spokesmen have been taken at their word in describing the problem, and these people would be the last to admit the exist­ ence of any kind of informal bargaining apparatus. The persistence of such patterns of action long after the 1860's and 1870's, years when the work force consisted primarily of people just off the farm, can be explained in two ways: workers retained habits formed in an earlier period, or they used such means as pressure on employers for improvements in their position. Now it is true that miners in many cases seem to retain old value systems longer than other industrial groups, but extant work records from Upper Silesia indicate that one © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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should not be so ready to concede the so-called unmodern aspects of worker life without closer investigation21. Just how much turnover or absenteeism is to be construed as “ high“ ? Un­ doubtedly many quit, but they were concentrated in those most recently hired; in addition, older industries like foodstuffs and leather experienced the same phenomena, suggesting that the newness of industrial work was not the prime motivating factor. Actually, complaints about contract violation in mining and smelting (quitting without two-weeks notice) increased markedly whenever industry picked up. Employers did not hesitate to hire such contract violators when the labor market was tight. This whole problem, especially quitting without notice, should be viewed not purely as a question of the psychology of workers but as the result of a lively demand for labor. Even today relatively high rates of turnover are common in the years of growth of particular indus­ tries (e. g., the electronics industry in the U.S.A., and varying rates of turnover are compatible with a completely urbanized labor force. The charge of extensive irrational absenteeism is even less well founded. A mere glance at the average number of annual shifts worked in coal-mining 1886 to 1913 (none earlier available) reveals a steady rate without violent fluctuation22. Contrast these moods with those of employers. Hours worked in Upper Silesia far exceeded those in the Ruhr, where the 8-hour day in mining was common by the twentieth century. In 191Ü 70 % of Upper Silesian haulers still worked the 10-hour day. Wages were sticky, average wages per shift in the 1889—1914 period being lower than the average in every other bituminous mining area of Germany except for Lower Silesia. Until the turn of the twentieth century even the Ruhr surface workers, lowest paid in the hierarchy of adult mine workers, earned a shift wage higher than the hewer-hauler average in Upper Silesia; and even after 1900 they earned almost as much while iron and steel wages remained at the bottom of the all-German scale. The primitive capitalism practiced by employers also emerged in extensive reliance on wages in kind embodied in the wage supplements offered during periods of rising prices. The local employers' association reacted indig­ nantly when the Friedrich smelter managers granted cost-of-living bonuses in cash in 1905; cheap meat was proposed as the answer, not money wages23. In a sense, then, the movement toward recognizing specific spheres of authority stemmed primarily from workers; employers and managers preferred to remain with the old order of things. The clearest case of employers' reluctance to alter their attitudes lay in the employment of highly docile workers. Government acquiescence allowed Upper Silesian mines to use women underground after the 1890's; minors also were numerous despite increasing state regulation. In 1912 the two groups together represented about 10 % of the local mining force. Add to this another 10 to 15 % represented by foreign seasonal laborers after 190524, and one sees that one-fifth to one-quarter of the labor force had been removed from the ordinary give-and-take of labor relations. Such was the reply to worker pressure — not © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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increased bargaining, but a shift in the hiring preference function. In the short run this policy seemed quite rational, but in the long run it provoked more of that dissident behavior that employers so deplored. Other instances of informal bargaining can be cited: employer paternalism, pressure on the government, emigration from the region by dissatisfied workers or potential workers, works councils, labor courts. However, enough has been said to indicate that any discussion of a modern labor force needs to take account of both partners in the bargaining process. Not that employers can automatically be castigated for pursuing their economic interests, but one simply must not assume that their tactics were the only ones by which to judge the modernization of industry. In fact, workers over time changed their behavior as a result of what they learned in the informal bargaining process — e. g., high rates of turnover occurred during peak demand; unions eventually grew up as a means of expressing grievances. By 1913 Upper Silesian miners and smelter workers had recognized employer authority in a number of areas and generally confined their complaints to a more restricted range (wages, hours, certain working conditions) than previously. Employers, on the other hand, were highly reluctant to give up any of the powers they had held earlier; their bitterness in the face of worker demands suggests that they were far less apt pupils than the workers. In this sense, one might say that employers needed to be modernized more than the workers. To date, modernization has tended to take the form of what I have labeled here as bureaucratization — formal work rules, clear-cut lines of authority, impersonal but more or less impartial relations between workers and bosses, all dominated by management. Where employers have updated their pater­ nalistic policies (control over the extramural activities of workers), bargaining has remained in the main on the individual level; where employers have been less paternal but still recalcitrant in ceding any of their traditional rule­ making power, labor strife and trade unions have emerged; and where em­ ployers have combined with governments in order to fight against any com­ promise with workers, revolutionary parties usually have appeared. These trends of bureaucratization seem to characterize the paths followed by labor forces in capitalistic industrial societies, a process accompanied by the gradual shedding of paternalism in industry. Thus “ modern“ would come to mean, at least for workers, the kind of bureaucratized structure sketched here. This is not necessarily a value judgment suggesting inevitable growth of a particular socio-economic system. Although modern western industry has in the main developed with a punishment-centered bureaucracy, one with the work rules and conditions handed down from on high, there is no necessity for this pattern to triumph everywhere. This notion can accommodate other hierarchies of authority in industry — perhaps one with a stronger political bent, or perhaps one with worker control of industry, or perhaps one with the return to or restructuring of paternalistic forms. All of these have their precedents — the political aspect of industrial development in the Soviet Union; various © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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forms of worker control in Yugoslavia and elsewhere, including Mitbestim­ mung in Germany; paternalism in Japanese industry. All deviate from the employer-dominated bureaucratic trend, though they do not invalidate it as one possible avenue to modernity. Certainly Upper Silesia shows that this particu­ lar formation was not granted without struggle, and recurring demands in the contemporary world for “ industrial democracy“ suggest that the battle is not over. In addition, modern developing countries may generate new patterns of labor-management relations. I am not capable of saying what these might be, but the as yet incoherent reports from China underline the suggestion that there is no inevitability in current modes perceptible in Western Europe and the United States. It is hard to say what the relevant cultural variables are, but it is not self-evident that a universe bounded by workplace intems will necessarily look like a European mine or factory even though attitudes and values of workers may tend to converge in all industrial systems25. The task remains for comparative historical studies to focus on the hypothetical in­ exorability of a certain pattern of labor-management relations and to suggest how cultural and social values differentiate one industrial order from another. It is precisely this kind of comparative social history that Hans Rosenberg has so brilliantly elucidated in his teaching and writing.

Notes 1 B. Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy: Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966. See also C. Black, The Dynamics of Modernization, N. Y., 1967, who aims at a holistic approach but ends up underlining political change. For an encompassing view of some non-Western developments: M. Singer, When a Great Tradition Modernizes, N. Y., 1972. — My thanks to the fol­ lowing for critiques of an earlier draft of this essay: Michael Zuckerman, Alfred Rie­ ber, and Michael Pearson. 3 S. K uznets, Modern Economic Growth: Rate, Structure and Spread, New Haven, 1967, 19. For a general discussion: 2—16. 3 Discipline: M. Weber, The Theory of Social and Economic Organization, Glencoe, 1964, 152; M. D. Morris, The Emergence of an Industrial Labor Force in India, Ber­ keley, 1965, chapter 1. Commitment: C. K err et al., Industrialism and Industrial Man, Cambridge/Mass., 1960, 3—13, 140—65. 4 E. P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, Past & Pres­ ent 38. 1967, 56—97. See also E. J . Hobsbawm, Labouring Men, Garden City, 1967, 5 The union-party-conditions of the workers approach in Upper Silesia: K . Jonca, Pofozenic robotników w przemyśle górniczo-hutniczm na Sląsku, 1889—1914 (The position of the workers in the mining and smelting industry in Silesia), K atowice, 1966. An attempt to move elsewhere, but lacking focus; R. Trempé, Les Mineurs de Carmaux, 1848—1914, Paris, 1970. An excellent example of new possibilities; P. Stearns, Adaptation to Industrialization: German Workers as a Test Case, Central European History 3. 1970, 303—31. β G eneral approach: F. Harbison and C. A. Myers, Management in the Industrial World, N. Y., 1959. Example of empirical studies: E. J . Hobsbawm, The Machine

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Breakers, and: C ustom, Wages and Work-Load in Nineteenth-C entury Industry, 7—26 and 405—35 in his Labouring Men. 7 A splendid case study of this process: J . Kocka, Unternehmensverwaltung und An­ gcstelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart, 1969. 8 This formulation is adapted from my manuscript, The Formation of a Modern Labor Force: Upper Silesia, 1865—1914, chapter 9, Berkeley, forthcoming. 9 A. Gouldner, Patterns of Industrial Bureaucracy, N. Y., 1954. 10 Examples of such records: PAP (country archive) Bytom, Berginspektion Königs­ hütte (= BIKH), passim. 11 1885: Zeitschrift des oberschlesischen Berg- u. Hüttenmännischen Vereins (= ZOBH) 24. 1885, 80—86. 1913: ZOBH 52. 1913, 189—97. Technology and econ­ omies of scale: Ν. J . G . Pounds, The Upper Silesian Industrial Region, Bloomington, 1958. 12 Information on the 1871 strike from J . Jończyk, Strajk górników w 1871 r. w Królewskiej Hucie na tie sytuacji klasy robotmczej na Górnym Sląsku (1869—1878) (The miners' strike in 1871 in K önigshütte on the background of the situation of the working class in Upper Silesia), Przegląd Zachodni 7. 1952, special issue: Studia Slą­ skie, 310—68. 13 Prayer: Work rules from the 1880'S, WAP (provincial archive) K atowice, Land­ ratsamt Tarnowitz 525, 99. Funerals: PAP Bytom, BIK H, Arbeitseinstellungen und Arbeiterunruhen, 1889—1890, 175—200, reproduced in Ν. Gąsiorowska-Grabowska, ed. Zródia do dziejów klasy robotniezej na ziemiach polskich (Sources on the history of the working class in the Polish territories), vol. 2, Warsaw, 1962, 260—74. 14 General survey of the strike: K . Jonca, Strajk na Gąrnym Sląsku w roku 1889 (The strike in Upper Silesia), Przegląd Zachodni 8. 1952, special issue: Studia Sląskie, 369—402. On the actual complaints, see the extensive list in PAP Bytom, BIK H, Ar­ beitseinstellungen und Arbeiterunruhen, 1889—1890, 175—200, reproduced in Gąsio­ rowska-Grabowska, 260—68. 15 A short summary of unionism in Upper Silesia: L. Schofer, Patterns of Worker Protest: Upper Silesia, 1865—1914, Journal of Social History 5. 1972, 453—58. Longer discussion: F. Figowa, Związkí robotników polskich w bylej rejencji opol­ skiej w przededniu pierwszej wojny światowej (Polish labor unions in the former Re­ gierungsbezirk Oppeln on the eve of the First World War), Opole, 1966. 16 Mine inspectors: Jahresberichte der königlichen Regierungs- und Gewerberäte und Bergbehörden (henceforth JRGB), 1913, 631. 17 For my notions on this “ mutual learning process“ between workers and em­ ployers, see Schofer, Patterns, 447—63. 18 Laziness: WAP K atowice, Hohenlohe 212, 47—48. Taking coal: PAP Bytom, BIKH, Arbeitseinstellungen und Arbeiterunruhen, 1871—1875, 18—27, reproduced in Gąsiorowska-Grabowska, 93—98. 19 WΑΡ Wroclaw, Schlesisches Oberpräsidium 2615, cited by K . Jonca, Imigracja robotników polskich na Sląsk w końcu XIX i w początkach XX wieku, (The immi­ gration of Polish workers to Silesia at the end of the 19th century and the beginning of the 20th century), Studia Sląkie 1. 1958, 141. 20 Hobsbawm, Labouring Men. Backward bending supply curve: E. J . Berg, Back­ ward-sloping Labor Supply Functions in Dual Economies — the Africa Case, Quar­ terly Journal of Economics 75. 1961, 468—92. K önigshütte directors: PAP Bytom, BIKH, Arbeitseinstellungen und Arbeiterunruhen, 1889—1890, 140—51, reproduced in Gąsiorowska-Grabowska, 249—53. 21 Value systems of miners: H. R. Lantz, with the assistance of J . S. McCrary, People of Coal Town, N. Y., 1958; and in modern Poland: J . Piotrowski, Attitudes Toward Work by Women, International Social Science Journal 14. 1962, 80—91. Ex­ tant records: I used archives from a series of mines and metal works in Upper Silesia. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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These are listed in the bibliography of my Ph. D. Diss. University of C alifornia, Ber­ keley, 1970. 22 Turnover in 1905; JRGB, 1905, 162—63. Shifts worked: Zeitschrift für das Berg­, Hütten- u. Salinenwesen (= ZBHS), statistical section, 1885—1914. 23 Average mining wages: ZBHS, statistical section, 1875—1914. Iron and steel wages: F. Grumbach and H. König, Beschäftigung u. Löhne der deutschen Industrie­ Wirtschaft, 1888—1914, Weltwirtschaftliches Archiv, 79. 1957, 125—55. C heap meat: WAP Katowice, Friedrichshütte 658, 7 and 11 November, 1905 (not paginated). 24 Women and children in 1913: Statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat 11. 1914, p. 156 ff. 25 Emergence of an industrial man: A. Inkeles, Making Men Modern: On the C auses and C onsequences of Individual C hange in Six Developing C ountries, American Journal of Sociology 75. 1969, 208—25.

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25. Staatsintervention und Arbeitskampf im Wilhelminischen Reich, 1904-1914 Von KLAUS SAUL

Als sich im Frühjahr 1904 die neugegründete Hauptstelle deutscher Arbeit­ geberverbände den Bundesregierungen als „Zusammenschluß der weitesten Kreise der deutschen Industrieellen gegen die friedensstörende Agitation der Sozialdemokratie“ vorstellte1, empfahl der Staatssekretär des Innern, Graf Posadowsky, dem Kaiser, jede Kundgebung zugunsten dieser Schöpfung des Centralverbandes Deutscher Industrieller zu vermeiden. Zwar könnten starke Arbeitgeberverbände als „festes Bollwerk zur Abwehr maßloser Forderungen der sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich verhetzten Arbeiterschaft“ für die Gesamtinteressen der Industrie und des Staates nützlich sein, zugleich aber drohe die Gefahr, daß sie „ein übermäßiges Schwergewicht“ erlangten, da­ durch alle Selbsthilfebestrebungen der Arbeiter blockierten und ihre Macht mißbrauchten, um den Arbeitnehmern die Ausübung des Koalitionsrechts in­ nerhalb berechtigter Grenzen zu unterbinden. Vor allem fürchtete Posadows­ ky die Rückwirkungen der Machtkonzentration der Unternehmer auf die Ge­ werkschaften, das Verwischen der Unterschiede zwischen den ,nichtsozialde­ mokratischen* und den ,sozialdemokratischen' Organisationen und das Ent­ stehen starker Industrieverbände. Mit dem Fortfallen der beruflichen Diffe­ renzierung werde die Arbeiterbewegung „einen immer stärker ausgeprägten antikapitalistischen C harakter“ erhalten. Die Kämpfe würden dann eine Aus­ dehnung und Bedeutung gewinnen, die unter Umständen „ernstliche Erschüt­ terungen des ganzen nationalen Wirtschaftslebens“ befürchten ließen2. Angesichts dieser beunruhigenden Perspektive und der gleichzeitigen kon­ junkturbedingten Expansion der Arbeitskämpfe seit Herbst 1903 gewann das Problem der ,Streikverhütung' zunehmend an Bedeutung. Repressivgesetze ge­ gen die Gewerkschaften, die wie das Verbot des Streikpostenstchens von den Verbänden des alten Mittelstandes und ab 1910 auch der Schwerindustrie und des Großgrundbesitzes gefordert wurden, lehnten die preußische Staatsregierung und die Reichsleitung als ungeeignet und als politisch gefährlich wegen der er­ warteten Radikalisierung der Arbeiter ab. Solche Ausnahmegesetze waren zu­ dem bei den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen weder im Reichstag noch im preußischen Abgeordnetenhaus durchzusetzen3. Allenfalls bestand die Hoff­ nung, im Rahmen einer allgemeinen Strafrechtsreform die Werbe- und Kampf-

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tätigkeit der Gewerkschaften durch eine dehnbare Fassung einzelner Paragra­ phen zu beschränken und ein Streikverbot für ,gemeinnötige' Betriebe — Eisen­ bahn, Post, Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke — zu erreichen. Obwohl die­ ser Plan seit 1902 verfolgt wurde, lag erst im Herbst 1914 ein amtlicher Ent­ wurf wor, auf dessen Weiterberatungn die Reichsleitung aus Rücksicht auf den ,Burgfrieden' verzichtete4. Ein Staatsstreich dagegen — darüber waren sich im Mai 1904 der preußische Innenminister und der Reichskanzler einig — setzte bei dem föderativen C harakter des Reiches „größte Notwendigkeit“ voraus und galt nur als gerechtfertigt bei einem Angriff der Arbeiter auf die „Grund­ lagen des heutigen Staates: Monarchie, Wirtschaftsordnung und Religion“ 5. Als einziger Weg zur Entschärfung der sozialen Konflikte blieb nach Posa­ dowskys Überzeugung der Versuch, die Gewerkschaftsbewegung durch Er­ ziehung der Arbeiter zu ,ruhiger' und ,sachlicher' Vertretung ihrer Berufsin­ teressen zu entpolitisieren6 und die christlichen Gewerkschaften als Gegenge­ wicht gegen die sozialistische Arbeiterbewegung zu stärken7. Beide Ziele soll­ ten durch die Verleihung der Rechtsfähigkeit an die ,staatstreuen' Berufsver­ eine erreicht werden. Nachdem noch 1896 die Reichsleitung bereit gewesen war, an dieser Frage das Zustandekommen des Bürgerlichen Gesetzbuches scheitern zu lassen8, hatten im Januar 1904 der Bundesrat und das preußische Staatsministerium die Ankündigung einer Gesetzesvorlage widerstrebend ge­ billigt, um eine Konfrontation mit dem Reichstag zu verhindern und die ,na­ tionalen' Arbeiter nicht durch Verweigerung jeden Entgegenkommens in das Lager der Sozialdemokratie zu treiben9. Als das Gesetz schließlich nach langen Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsamt des Innern und den preußi­ schen Ressorts im November 1906 im Reichstag eingebracht wurde, erschien es durch seine Bestimmungen über die Haftung der Gewerkschaften und die Kontroll- und Eingriffsrechte der Verwaltungsbehörden den bundesstaatlichen Regierungen als willkommener „Schutz gegen gemeingefährliche Streikbewe­ gungen“ 10. Dagegen protestierten die Gewerkschaften aller Richtungen gegen die beabsichtigte gesetzliche Regelung. Neben der strittigen Frage der Haftung erklärten sie die enge Begrenzung der gewerkschaftlichen Aufgaben auf Un­ terstützung der Mitglieder und Vertretung der unmittelbaren Berufsinteres­ sen, das Verbot der bei größeren Arbeitskämpfen unerläßlichen gegenseitigen Finanzhilfe der Verbände, die Auflagen über das Führen der Mitgliederlisten und die Vorschriften zum Schutz der Verbandsminderheiten für unannehmbar, da sie bei der Größe der Gewerkschaften technisch nicht durchzuführen seien und die Organisationen der Willkür der Verwaltung auslieferten11. Angesichts der unüberbrückbaren Differenzen zwischen Bundesrat und preu­ ßischem Staatsministerium einerseits, den Gewerkschaften und der Mehrheit des Reichstags andererseits verzichtete die Reichsleitung nach der Reichstags­ auflösung vom Dezember 1906 auf eine Wiedervorlage des Gesetzes12. Damit war der Versuch zur staatlichen Reglementierung der Gewerkschaften, ihrer Fixierung auf der Stufe mitgliederschwacher, wenig kampfkräftiger und un­ politischer ,Berufsvereine' gescheitert — nicht zuletzt wegen der Besorgnis der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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preußischen Ministerien, durch die Gewährung der Rechtsfähigkeit die freien Gewerkschaften zu stärken. Als Folge dieses Mißtrauens seien, bedauerte im Sommer 1912 der damalige Staatssekretär des Innern C lemens v. Delbrück, „große politische Gebilde“ entstanden, die sich jeder staatlichen Kontrolle ent­ zögen13. In Preußen und im Königreich Sachsen konzentrierten sich die Staatsbehör­ den auch im letzten Friedensjahrzehnt des Kaiserreichs vornehmlich darauf, bei Arbeitskämpfen den Streikbrechern durch einen ausgiebigen polizeilichen Schutz den Entschluß zum Weiterarbeiten zu erleichtern, die Ausbreitung der freien Gewerkschaften durch eine Vielzahl von Verwaltungsschikanen zu hem­ men, ihre Kampfkraft bei Streiks möglichst zu lähmen und die noch ,königs­ treuen' Arbeiter vom Anschluß an die sozialistische Arbeiterbewegung abzu­ schrecken. Im deutschen Volke, so klagte 1904 der ehemalige preußische Han­ delsminister v. Berlepsch, sei immer noch mehr als in jeder anderen Industriena­ tion die Anschauung verbreitet, „daß der Ausstand eine revolutionäre Bewe­ gung sei, gerichtet gegen das natürliche Herrenrecht desjenigen, der den Lohn zahlt, daß derjenige, der den Lohn empfängt, dankbar sein müsse dafür, daß ihm und seiner Familie die Existenz durch Gewährung von Arbeit gegeben wird, daß es frivol sei, bei günstiger Gelegenheit auf Erhöhung des Lohns oder auf Verkürzung der Arbeitszeit zu dringen, ja, sogar zu versuchen, sie zu er­ zwingen, daß nur Begehrlichkeit und die revolutionäre Strömung der Zeit den Arbeitern das Verlangen nach der Koalition und dem Berufsverein ein­ flöße“ 14. Diese besonders von der konservativen und rechtsnationalliberalen Presse geflissentlich aufgegriffene Vorstellung von der ,Staatsgefährüchkeit' der Arbeiterbewegung fand in der preußischen Verwaltung im Unterschied zu der vom Kathedersozialismus geprägten Ministerialbürokratie der Reichtsäm­ ter zahlreiche Anhänger15. So mußte Posadowsky noch 1905, mehr als dreißig Jahre nach der Aufhe­ bung der Streik- und Koalitionsverbote für gewerbliche Arbeiter, bei den Be­ ratungen des preußischen Staatsministeriums daran erinnern, daß nicht jeder Streik „unrechtmäßig und unerlaubt“ sei. Zuvor hatte der Finanzminister es für bedenklich erklärt, „die Arbeiter auf ein so gefährliches Mittel wie die Streikbefugnis als ein gesetzlich erlaubtes ausdrücklich hinzuweisen“ 16. Als vier Jahre später die Mansfelder Bergwerksgesellschaft durch Maßregelungen die Ansätze einer gewerkschaftlichen Organisation zu zerschlagen suchte und die Belegschaft für die Wiedereinstellung der Entlassenen in den Streik trat, lehnten alle staatlichen Instanzen bis hin zum preußischen Handelsminister eine Vermittlung wegen der „prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten der Parteien“ ab17. An dem Sieg des Arbeitgebers, so verteidigte damals der Oberpräsident der Provinz Sachsen den Einsatz des Militärs gegen die Strei­ kenden, habe der Staat „ein hohes politisches Interesse“ , da mit seiner Nieder­ lage „ein wichtiges Stück staatserhaltender Kraft“ zugrunde gehe18. Und noch 1913 waren für den preußischen Landwirtschaftsminister die Arbeitnehmer bei Lohnkämpfen regelmäßig die Angreifer. Ihre Angriffe bezweckten seiner 31 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ansicht nach „keineswegs ausschließlich wirtschaftliche Besserstellung“ , sondern seien „nur zu oft, als Kraftproben und Agitationsmittel, letzten Endes gegen die herrschende Gesellschaftsverfassung als solche gerichtet“ . Dagegen handele es sich bei Aussperrungen um „lediglich taktische Offensivstöße bei strategi­ scher Defensive“ 19. Vor dem Hintergrund solcher Anschauungen erschien es nicht als einseitige Parteinahme für die Arbeitgeber, sondern als Akt des Staatsschutzes, ja der Staatsnotwehr, wenn die Polizeibehörden durch Schikanierung der Wirte den Gewerkschaften die Versammlungsräume ,abtrieben', der Verteilung von Flug­ blättern und dem Anschlag von Plakaten unter Berufung auf die sonst nicht mehr angewandten Bestimmungen des preußischen Pressegesetzes von 1851 entgegentraten, Gewerkschaftsfestzüge im Unterschied zu den Aufmärschen der ,nationalen' Vereine verboten, den Unternehmern zur Maßregelung von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern die Mitgliederlisten der örtlichen Zahlstellen aushändigten und nichtdeutsche Streikende als ,lästige Ausländer' auswiesen20. Selbst auf menschenleeren Straßen und Plätzen wurden Streik­ posten bis 1914 vielfach als angebliches Verkehrshindernis vertrieben und bei Widerstand vorübergehend festgenommen. Diesen Mißbrauch der Straßenpo­ lizeiverordnungen hatte das preußische Innenministerium 1900 empfohlen, obwohl das Verfahren voraussetzte, daß bei einer eventuellen Gerichtsver­ handlung der Polizeibeamte einen Meineid schwor, er habe nach eigener Be­ urteilung der Sachlage lediglich aus verkehrspolizeilichen Gründen seine Ent­ scheidung getroffen und nicht etwa aufgrund der Instruktionen seiner Vorge­ setzten oder nach Aufforderung durch den bestreikten Arbeitgeber das recht­ lich zulässige Streikpostenstehen verhindern wollen21. Die bei Arbeitskämpfen eingesetzten Gendarmen sahen ihre Hauptaufgabe ebenfalls in der ,Unter­ drückung' der Streiks22, und auch der preußische Innenminister wertete im Frühjahr 1912 die kurze Dauer des Ruhrbergarbeiterstreiks als Erfolg der „schnellen und umfassenden polizeilichen und militärischen Sicherheitsmaß­ nahmen“ und des „energischen Vorgehens der Polizei zum Schutze der Arbeits­ willigen“23. Damit gab er zu, daß sich die Staatsintervention allein zugunsten der Zechenbesitzer ausgewirkt hatte. Die Gleichsetzung von Schutz der Streik­ brecher und Schutz der öffentlichen Ordnung zeigte sich besonders kraß dar­ an, daß die preußische Verwaltung seit 1908 die Bildung privater Zechenweh­ ren förderte, die Ausrüstung ihrer Mitglieder mit Seitengewehr und Revolver billigte und sie nach Ausbruch eines Streiks als Hilfspolizisten vereidigen ließ, um sie vor Anklagen wegen Überschreitung der Notwehr ,tunlichst' zu schüt­ zen24, dagegen die unbewaffneten, nur durch eine Armbinde gekennzeichneten Streikordner der Gewerkschaften verbot25. Wie die Verwaltungsbehörden hielten es auch die Richter des kaiserlichen Deutschlands „im Interesse der Er­ haltung der Staatsautorität“ für dringend geboten, bei Streikdelikten die vor­ handenen gesetzlichen Möglichkeiten bis an die Grenze der Rechtsbeugung aus­ zuschöpfen und durch die Beschleunigung des Strafverfahrens und exempla© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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risch harte Urteile den Streikenden das Risiko jeder Beeinflussung eines ,Ar­ beitswilligen' zu demonstrieren26. Nicht nur die SPD, sondern auch die Führer der C hristlichen und Hirsch­ Dunckerschen Gewerkschaften, die bürgerlichen Sozialreformer und die links­ liberalen Kritiker des wilhelminischen Systems griffen die Parteilichkeit der Verwaltung und die Klassenjustiz der Gerichte vehement an. Den Revisionisten galt die „offene Parteinahme für die Gegner der Arbeiterklasse in jedem wirt­ schaftlichen Streite“ als eine der wichtigsten Ursachen für die Stärke des , r a ­ dikalen' Flügels in der Sozialdemokratie27. Ebenso sahen die Sozialreformer in der Verletzung der Rechtsgleichheit, der Kapitulation des Rechtsstaats vor dem Polizeistaat, das Haupthindernis für die von ihnen angestrebte Integra­ tion der Arbeiter28. Die Verwaltungs- und Gerichtspraxis — zu schwach, um die Gewerkschaften zu zerschlagen und ihre Entwicklung in den Industriebe­ zirken aufzuhalten, intensiv und gehässig genug, um Verbitterung und Em­ pörung auszulösen — erwies sich als starker Antrieb zum Ausbau der Arbeiter­ organisationen und überzeugte die noch indifferenten Arbeiter besser als jede sozialdemokratische Propaganda von der Notwendigkeit einer politischen Ar­ beiterbewegung, die langfristig die Grundlagen des bestehenden Systems zu beseitigen versprach. Obwohl die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung bei der Be­ kämpfung und Eindämmung der sozialistischen Arbeiterbewegung durch die gemeinsame Förderung der Kriegervereine, des Reichsverbandes gegen die So­ zialdemokratie und der ,wirtschaftsfriedlichen nationalen Arbeiterbewegung' eng mit den Unternehmern zusammenarbeiteten29, blieb dem Reichsamt des Innern und dem preußischen Innenministerium, weniger jedoch den unterge­ ordneten Behörden bewußt, daß eine vorbehaltslose Identifizierung mit den Arbeitgebern zu einem Konflikt mit den C hristlichen und Hirsch-Duncker­ schen Gewerkschaften, der Reichstagsmehrheit und dem liberalen Bildungs­ bürgertum führen mußte und die Abwendung der Arbeiter von den ,staats­ erhaltenden' Parteien beschleunigen würde. Außerdem entsprach es nicht dem staatlichen Interesse an einem ungestörten Fortgang der Produktion, den Arbeitgebern die Anwendung aller staatlichen Machtmittel bis hin zum Ein­ greifen der Armee zu garantieren und sie dadurch zu Kraftproben zu ermun­ tern, die, ohne das Ziel einer Zerschlagung der Gewerkschaften zu erreichen, das gesamte Wirtschaftsleben schädigten. Das Ergebnis dieser Überlegungen war ein vorsichtiges, oft halbherziges Bekenntnis zur staatlichen Neutralität im Arbeitskampf. Es spiegelte sich wider in der Ablehnung der Streikklausel bei Staatsaufträgen, dem Verbot, Prämien von Arbeitgebern für Polizei­ beamte zu genehmigen, der Abneigung gegen den Einsatz des Militärs bei Streiks und den Versuchen einer staatlichen Schlichtung. Seit der Jahrhundertwende bemühte sich der Deutsche Arbeitgeberbund für das Baugewerbe, die Staatsbehörden zu bewegen, bei Streiks und Aus­ sperrungen die Lieferfristen automatisch zu verlängern und auf die Zahlung fälliger Konventionalstrafen zu verzichten30. Im Februar 1900 begründete 31*

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der Verband der Baugeschäfte von Berlin und Umgebung diese Forderung damit, die Streiks seien in den meisten Fällen nicht mehr Lohnkämpfe, son­ dern sozialdemokratische Machtproben, und es sei „eine nationale Pflicht der Arbeitgeber und jedes gutgesinnten Bürgers, mit allen Kräften für die Be­ freiung der Arbeiterschaft von dem schädigenden Einfluß der sozialdemokrati­ schen Führer einzutreten“ . Trotz dieses Appells an die ,nationale Solidarität' erklärten sich die preußischen Ministerien und die Reichsämter nur bereit, bei unverschuldeten Arbeitskämpfen den Verhältnissen von Fall zu Fall wie bis­ her in ,wohlwollender Weise' Rechnung zu tragen. Damals begründete der Minister der öffentlichen Arbeiten die Ablehnung ausschließlich mit dem fis­ kalischen Interesse an der rechtzeitigen Fertigstellung der Bauten. Im Februar 1914 erklärten dagegen die zuständigen preußischen Ministerien gegenüber einer Eingabe des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages eine Änderung hauptsächlich deshalb für unmöglich, weil das Einfügen einer Streik­ und Sperrklausel „einen Eingriff in die zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern auszutragenden Lohnstreitigkeiten lediglich zu Gunsten der Unter­ nehmer bedeuten und mit der von den staatlichen Verwaltungen zu beobach­ tenden Unparteilichkeit nicht vereinbar sein“ würde31. In der Praxis aller­ dings besannen sich die Ressorts zumeist dann auf die Pflicht strengster Neu­ tralität, wenn sie zugunsten der Arbeiter intervenieren sollten32. Dagegen weigerte sich das Reichsamt des Innern noch 1913, nach einem Beschluß des Reichstages staatliche Aufträge nur an solche Firmen zu vergeben, die den Ar­ beitern das Koalitionsrecht ,unangetastet' ließen. Der Staat, begründete der zuständige Referent den Verzicht auf einen Schutz der Koalitionsfreiheit mit Hilfe der Submissionsbedingungen, könne nicht die Unternehmer zwingen, „einen anderen Maßstab der guten Sitten zu beachten, als ihn die Gesetze und Gerichte vorschreiben“33. Zuwendungen von Privatpersonen an Beamte waren in Preußen allein nach vorhergehender Genehmigung der vorgesetzten Dienstbehörde zulässig. Dieses Genehmigungsrecht hatte der Minister des Innern für den Bereich der Polizei­ verwaltung 1909 den Regierungspräsidenten und dem Berliner Polizeipräsi­ denten übertragen34. Solche ,Belohnungen' waren zwar nach einem Erlaß vom November 1901 keineswegs verboten, nur sollten sie niemals an den Beamten direkt, sondern nur durch die vorgesetzte Polizeibehörde erfolgen, um keinen Anlaß zu ,Mißdeutungen' zu geben35. Um die „Aktionsfreiheit der Polizeibehörden“ zu wahren und den Vorwurf zu vermeiden, die Behörden handelten im Arbeitskampf parteiisch zugunsten der Arbeitgeber, lehnte es das preußische Innenministerium im Herbst 1911 ab, die Mehrkosten bei Streiks ganz oder teilweise von den Arbeitgebern einzuziehen36. Wenige Mo­ nate später erfuhr es durch Pressemeldungen, daß bei dem Ruhrbergarbeiter­ streik im Frühjahr 1912 die Zechenverwaltungen den abkommandierten Schutzleuten und Gendarmen mit Billigung der Regierungspräsidenten erheb­ liche Zuwendungen — freie Unterkunft, Verpflegung und Bargeld — gemacht hatten. Die Verwaltungsbehörden sahen hierin nur einen begrüßenswerten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ausgleich für die im Ruhrrevier herrschende Teuerung, und der Berliner Re­ gierungspräsident hielt es sogar für eine „große Härte“ , wenn die noch nicht bedachten Berliner Schutzleute ihren Anteil nicht ausbezahlt erhielten37. An­ gesichts dieser anscheinend weitverbreiteten Praxis ermahnte der Innenmini­ ster in einem Erlaß vom August 1912 die Regierungspräsidenten dringend, dafür zu sorgen, daß die „Integrität und das Ansehen der Beamtenschaft durch die Handhabung des Genehmigungsrechts in keiner Weise beeinträchtigt“ werde. Zuwendungen an Polizeibeamte für ihren Dienst bei Streiks seien unter keinen Umständen zu genehmigen. Zugleich aber verwies der Minister auf die Möglichkeit, diese ,Geschenke' den für die Gesamtheit der Beamten bestimmten Wohlfahrtseinrichtungen zu überweisen38. Zumindest Sozialde­ mokraten galt auch diese Bestimmung als durchaus geeignet, um die Polizei zu ,besonderer Schneidigkek' gegen Streikende anzuspornen39. Kompromißlos hielt dagegen der preußische Innenminister in Übereinstim­ mung mit dem Kriegsminister an dem „unverrückbaren Grundsatz“ fest, bei Streikunruhen nur Polizeikräfte einzusetzen. Die Verwaltungsbehörden for­ derte er auf, „dem auf der Unternehmerseite regelmäßig hervortretenden Drängen nach Heranziehung des Militärs“ nicht voreilig nachzugeben. Trup­ pen seien erst bei völligem Versagen der Polizei zu requirieren40. Um ein mi­ litärisches Eingreifen möglichst zu vermeiden, sorgten z. Β. die Verwaltungs­ behörden des Ruhrreviers für die verstärkte Ausrüstung der kommunalen Po­ lizei mit Karabinern und einigten sich auf umfangreiche Sicherheitsvorkehrun­ gen, für die jeweils eine ,Art Mobilmachungskalender' aufgestellt wurde41. Außerdem waren nach dem Bergarbeiterstreik von 1889 detaillierte Pläne ausgearbeitet worden, um bei Streiks im rheinisch-westfälischen Industriege­ biet alle entbehrlichen Gendarmen der ,streikfreien' Provinzen schnellstens heranzuziehen42. Die Durchführung dieser Hilfsmaßnahmen wurde allerdings bis 1914 immer schwieriger. In Rheinland-Westfalen expandierte die Zahl der Arbeiter ungewöhnlich rasch, ebenso beschleunigte sich die Industrialisierung der anderen Provinzen. Dazu gerate, wie der Innenminister im Juli 1910 klagte, „die Arbeiterschaft auch solcher Bezirke, die bisher der sozialdemokra­ tischen Agitation unzugänglich erschienen, mehr und mehr unter die Herr­ schaft der Gewerkschaften und damit der sozialdemokratischen Parteiorgani­ sation“ , während die ungünstige Lage der Staatsfinanzen keine ausreichende Vermehrung der Gendarmerie zulasse43. Gegen den Einsatz des Militärs bestand eine Reihe schwerwiegender Be­ denken. Stärker noch als ein Polizeiaufgebot wirkte er auf die Arbeiter als bewußte Parteinahme des Staates für die Unternehmer, steigerte dadurch die Erregung der Streikenden und trug erheblich zur Verschärfung der Lage bei. Komme es dann zu Zusammenstößen, so sei auch aus geringen Anlässen ein Blutvergießen kaum zu vermeiden, warnte im Januar 1905 der preußische In­ nenminister, denn das Militär dürfe selbst an sich geringfügige Beleidigungen nicht dulden. Dies deckte sich mit der Auffassung des Kaisers, der ein Vorge­ hen der Armee nur „unter nachdrücklicher Anwendung der Feuerwaffen“ für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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möglich hielt44. Als Ausweg galt die Demonstration absoluter militärischer Überlegenheit bis hin zum Auffahren der Maschinengewehre, wie es 1909 in Mansfeld und 1912 im Ruhrrevier geschah45. Die hieraus entstehende nach­ haltige Erbitterung der Streikenden aber erschien selbst dem Innenminister als wirksames Werbemittel für die SPD46. Dazu konnte die Abschreckungs­ taktik bei allzu häufiger Anwendung nicht nur leicht ihre Wirkung einbüßen und dann zu einem Blutbad führen, sondern sie bedeutete auch eine schwere Belastung für die Loyalität der Armee. Als der preußische Kriegsminister im Februar 1913 Richtlinien über die „Verwendung von Truppen zur Unter­ drückung innerer Unruhen“ erließ, ging er davon aus, daß vielfach Lohn­ kämpfe die Ursache der Unruhen sein würden. In diesem Falle sei zwar ein „tatkräftiges Eingreifen“ gerechtfertigt, zugleich aber für die „baldmöglichste Zurückziehung“ der Truppen zu sorgen, denn die Aufgabe der Armee sei die „Vorbereitung der Vaterlandsverteidigung gegen einen äußeren Feind“ . Das Unbehagen über den Einsatz gegen Streikende und die Sorge, die Armee könnte sich als Instrument zum Schutz der Arbeitgeberinteressen diskreditie­ ren, spiegelten sich in der Forderung, den „Eindruck der Parteilichkeit“ pein­ lich zu vermeiden. Deshalb sei Vorsicht geboten „bei der Auswahl der Offi­ zierquartiere (z. B. nicht bei den Leitern der beteiligten Betriebe), Zurück­ haltung bei Gesprächen und Vermeidung aller Bemerkungen, die als politische Bekehrungsversuche ausgelegt werden könnten“ 47. Weit deutlicher hatte ein Jahr zuvor der Gelsenkirchener Polizeipräsident im Rückblick auf den Ruhr­ bergarbeiterstreik die innenpolitischen Gefahren eines häufigen Einsatzes des Militärs beschrieben. Mehr oder weniger stehe bei einem Streik der Arbeiter in Uniform dem Arbeiter in Zivil gegenüber und zwar künftig in steigendem Maße. „Das würde ein sehr unerwünschtes Moment der Unsicherheit unseres innerstaatlichen Lebens bilden. Das Militär muß unter allen Umständen wirk­ lich die ultima ratio bleiben.“ 48 Mit der fortschreitenden Organisierung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der wachsenden Finanzkraft der Verbände, dem Ausbau der Streik- und Aussperrungstaktik veränderte sich seit den 90er Jahren und verstärkt im Ge­ folge der Hochkonjunktur ab 1903/04 der C harakter der Arbeitskämpfe. Streiks und Aussperrungen nahmen zu an Häufigkeit, Umfang und Dauer. Aus lokalen Arbeitsstreitigkeiten entwickelten sich regionale Lohnbewegungen und schließlich im Bau-, Holz- und Malergewerbe Tarifkämpfe, die das ge­ samte Reichsgebiet umfaßten. Der Arbeitskampf konnte nicht mehr als pri­ vate Auseinandersetzung eines Arbeitgebers und seiner Arbeiter allein unter dem Aspekt polizeilicher Sicherung gesehen werden. Die großen Streiks seien eine „öffentliche Kalamität“ , stellte im Januar 1901 der sozialpolitische Spre­ cher des Zentrums, Karl Trimborn, im Reichstag fest. Es sei nicht einsichtig, weshalb das Interventionsrecht des Staates ihnen gegenüber versagen sollte49. Bereits im Frühjahr 1899 hatte eine Koalition aus Sozialdemokraten, Zen­ trum, dem sozialreformerischen Flügel der Nationalliberalen und einem Teil der Konservativen sich verständigt, die einigungsamtlichen Funktionen der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1890 fakultativ eingeführten Gewerbegerichte zu erweitern und diese Ge­ richte für alle Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern obligatorisch zu machen. Bisher war der Vorsitzende eines Gewerbegerichts zu einem Eini­ gungsversuch nur verpflichtet gewesen, wenn beide Parteien ihn dazu aufge­ fordert hatten. Künftig sollte es auch bei Anrufung durch nur eine Partei oder auf eigene Initiative tätig werden. Diese Bestimmung konnte noch als authen­ tische Auslegung des Gesetzes von 1890 gelten. Außerdem aber wurde der Vorsitzende ermächtigt, die Beteiligten vorzuladen und zu vernehmen, wobei er das Nichterscheinen mit einer Geldstrafe bis zu 100 Mark ahnden konnte50. Von dieser Aktivierung der Gewerbegerichte, die 1899 nur in 50 Fällen als Einigungsamt angerufen wurden, erhoffte sich auch Posadowsky „Vortheile für die ungestörte Erwerbsthätigkeit und den sozialen Frieden“ . Wie die Mehr­ heit des Reichstages hielt er bei der Zunahme der Streiks den Staat für ver­ pflichtet, „mit Hülfe eines weiteren Ausbaus der Gesetzgebung drohenden Ar­ beitskämpfen soweit als möglich vorzubeugen oder sie doch thunlichst im Keime zu ersticken“ 51. Als der Reichstag am 13. Mai 1901 gegen eine geringe Minderheit der Rech­ ten das Gesetz verabschiedete, bestürmten der Deutsche Handelstag, der C en­ tralverband Deutscher Industrieller, die Vertretungen der rheinisch-westfäli­ schen Schwerindustrie und der ostdeutschen Industriellen sowie einzelne Han­ delskammern und Verbände des alten Mittelstandes den Bundesrat, seine ver­ fassungsmäßige Zustimmung zu versagen52. Der C entralverband, der bereits den ,sozialistischen Zwangsstaat' heraufsteigen sah, kündigte an, die Arbeit­ geber würden sich diesem Eingriff in die Vertragsfreiheit niemals unterwerfen. Das Gesetz sei nur ein weiterer Beweis für das „Wettkriechen vor der Arbei­ termasse“ . Es handle sich um die „Erhaltung eines wesentlichen Stückes der Autorität in Staat und Gesellschaft“ , denn dem Arbeitgeber müsse sein gutes Recht gewahrt bleiben, mit streikenden Arbeitern nicht verhandeln zu wol­ len53. Dennoch verzichtete der Bundesrat am 25. Juni auf jeden Widerspruch gegen den Reichstagsentwurf, da die allgemeine politische Lage, die bevor­ stehenden Verhandlungen über die Handelsverträge, ein Entgegenkommen zwingend gebot54. Triumphierend registrierten damals die Sozialreformer die schwere Niederlage des ,Fabrikfeudalismus'55 und begrüßten die Novelle als Fortschritt auf dem Weg zur „C ivilisirung und Veredelung“ der Arbeits­ kämpfe56. Die einigungsamtliche Tätigkeit der Gewerbegerichte blieb jedoch bis 1914 gering57, und bereits der 1905 ausbrechende zweite große Ruhrberg­ arbeiterstreik des Kaiserreiches enthüllte die Ohnmacht der staatlichen Schlich­ tungsinstanzen. Der Streik hatte am 6. Januar 1905 mit spontanen, sich rasch ausbreiten­ den Arbeitsniederlegungen begonnen und umfaßte von der Proklamierung des Generalstreiks durch die vier Bergarbeiterverbände am 16. Januar bis zum Streikabbruch am 9. Februar über drei Viertel der 267 798 Mann starken Ge­ samtbelegschaft58. Während in den Lohnkämpfen sonst „Regierung, Polizei, Staatsanwälte, Gerichte mit schärfster Anspannung aller Mittel zu Gunsten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Unternehmer wirkten“ , ergriff die Regierung 1905 erstmals die „Partei der Arbeiter“ — nach der treffenden Analyse Hans Delbrücks halb freiwillig, halb gezwungen durch den „Starrsinn und Hochmut der Bergherren“ 59. Als Anfang Januar 1905 die Verwaltungsbehörden einen Generalstreik zwar nicht für wahrscheinlich, wohl aber bei den angehäuften ,Zündstoffen' für möglich hielten60, forderte Bülow am 5. Januar den preußischen Handelsmi­ nister auf, einem Streik möglichst vorzubeugen. Der Handelsminister wandte sich jedoch gegen eine „unberufene Einmischung“ , widerriet dem Empfang einer Bergarbeiterdeputation und beschränkte sich auf eine Anweisung an die Vorsitzenden der Berggewerbegerichte, sich für Einigungsverhandlungen zur Verfügung zu halten61. Am folgenden Tag rief die Belegschaft der Zeche Bruchstraße, die als erste in den Streik trat, das zuständige Berggewerbege­ richt als Einigungsamt an. Der Besitzer der Zeche, Hugo Stinnes, zögerte da­ gegen die Antwort auf die Anfrage des Gewerbegerichts hinaus und lehnte am 11. Januar einen Einigungsversuch ab, da es sich wegen der Ausbreitung des Streiks inzwischen um allgemeine Interessen des gesamten rheinisch-west­ fälischen Bergbaus handele. Dagegen war er zu einer mündlichen Erörterung der Streitfragen unter dem Vorsitz des Berghauptmanns bereit, wenn neben den beiden Vertrauensleuten der Arbeiter auch der Generaldirektor der GBAG Emil Kirdorf und der Leiter der Bergbauabteilung im preußischen Handels­ ministerium Oberberghauptmann Gustav v. Velsen daran teilnähmen62. Hier­ zu sollte es nicht mehr kommen. Am 12. Januar einigten sich die Bergarbeiter­ verbände auf einen Katalog von Forderungen, der alle seit 1889 wiederholt vorgebrachten Beschwerden enthielt, und ersuchten zugleich die Reichs- und Staatsbehörden, Vermittlungen anzubahnen. Offenbar noch ohne Kenntnis des Stinnes-Angebots warnte Bülow an die­ sem Tag den Handelsminister, er halte einen großen Streik angesichts des sehr willkürlichen Verhaltens der Grubenbesitzer selbst bei einer Niederlage der Arbeiter nicht förderlich für die staatlichen und monarchischen Interessen63. Bei dieser Stellungnahme mag die Rücksicht auf die gespannte außenpoliti­ sche Lage ebenso mitgesprochen haben wie die Sorge vor einem Übergreifen der revolutionären Unruhen von Rußland auf die preußischen Ostprovinzen. Wichtiger aber waren für Bülow und das preußische Staatsministerium die Rückwirkungen eines längeren Bergarbeiterstreiks auf das gesamte Wirtschafts­ leben und durch die Mindereinnahmen der staatlichen Eisenbahnen auf die preußischen Staatsfinanzen sowie die Befürchtung, durch die Abweisung aller Streikforderungen die Position der SPD im Ruhrrevier zu stärken64. Im Auf­ trage des Reichskanzlers und des preußischen Handelsministers suchte deshalb Velsen am Abend des 14. Januar den Vorstand des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund für Verhandlungen mit der Streikleitung zu gewinnen. Damals hatte sich der Vorstand jedoch schon auf eine kompromißlose Ablehnung aller Verhandlungen mit den ,kontraktbrü­ chigen' Arbeitern festgelegt und den Arbeiterdelegierten das Recht abgespro­ chen, sich als Vertreter der Gesamtbelegschaft auszugeben. Da allgemeine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mißstände angeblich nicht vorhanden waren, konnte der Streik nach der De­ duktion des Bergbau-Vereins nur das Werk einer ungerechtfertigten partei­ politischen Hetze sein. Seine Vorstandsmitglieder empfanden sich deshalb als Vorkämpfer der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Sozialdemokratie „mit ihrem auf die Vernichtung unserer Staatsordnung gerichteten Endziel“ 65. Dem Staat war in diesem Konzept, das gleichermaßen taktischem Kalkül wie ideologischer Befangenheit entsprang, nur die Aufgabe zugedacht, durch „eine rücksichtslose Verurteilung dieses Kontrakt- und Rechtsbruches im In­ teresse der Aufrechterhaltung unserer Rechts- und Staatsordnung“ und durch „ein machtvolles und unerbittliches Feststehen im Interesse der Zurückdäm­ mung einer politischen Hetze gefährlichster Art“ die Position der Zechenbe­ sitzer zu stärken66. Eine sofortige militärische Besetzung des ganzen Reviers galt dabei als wirksamstes Mittel, um einen raschen Zusammenbruch des Streiks herbeizuführen67. Als jedoch am 16. Januar das preußische Staatsministerium über die Lage nach Velsens fehlgeschlagener Mission beriet, herrschte Einigkeit, daß die Re­ gierung sich nicht mehr wie bisher auf polizeiliche Funktionen beschränken und auf jedes Eingreifen in den wirtschaftlichen Kampf verzichten könne, sondern für eine möglichste Abkürzung des Streiks sorgen müsse. Noch glaubte das Staatsministerium allerdings, daß der Bergbau-Verein sich zu Verhand­ lungen mit den Streikenden bereit finden würde. Neben den obligatorischen Maßnahmen zum Schutz der ,Arbeitswilligen' ordnete es deshalb nur eine staatliche Untersuchung der Mißstände im Ruhrbergbau an, um einer parla­ mentarischen Enquete zuvorzukommen68. Am selben Tag wies der Bergbau­ Verein die ihm angebotene Vermittlung des Oberbergamtes zurück, und am 18. Januar scheiterte an seinem Widerstand auch Velsens zweiter Vermittlungs­ versuch69. Diese Demonstration des absoluten Herrenstandpunkts veranlaßte fast die gesamte öffentliche Meinung, für die Streikenden Partei zu nehmen und ein Eingreifen des Staates und der Gesetzgebung zu fordern, „um den Trotz der kriegslustigen Zechengewaltigen zu brechen“ 70. Angesichts der musterhaften Ruhe und Ordnung im Streikgebiet fanden die von den Zechen verbreiteten Greuelmeldungen über Mißhandlungen von Weiterarbeitenden keinen Glauben. Dagegen warnte die Regierung den Bergbau-Verein dringend vor „scharfen provokatorischen Maßnahmen“ 71. Der Innenminister drohte, gegen die An­ werbung ausländischer Streikbrecher mit Ausweisungen vorzugehen, und ver­ weigerte die polizeiliche Unterstützung für die Zwangsräumung von Zechen­ wohnungen72. Vergeblich bemühte sich Kirdorf am 23. Januar, den Kanzler davon zu überzeugen, daß die Bergwerksverwaltungen keine Verhandlungen zulassen könnten, „wenn sie sich nicht des letzten Restes ihres Ansehens unter den noch nicht verführten und verdorbenen Elementen ihrer Belegschaften be­ rauben“ wollten. Am 24. Januar teilte ihm Bülow in ungewöhnlich scharfer Form mit, die Ablehnung der staatlichen Vermittlung sei nicht zu rechtferti­ gen und verstoße gegen die Interessen der ,Nationalwirtschaft' und des ,Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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meinwohls', die er als Reichskanzler zu vertreten habe. An diesem 24. Januar legte der Handelsminister den Entwurf einer Berggesetznovelle vor, um jene Streikforderungen zu erfüllen, deren gesetzliche Regelung bereits 1892 vorge­ sehen gewesen war. Die Bergbauabteilung seines Ministeriums hatte sich hierzu nur widerstrebend bereit gefunden, sah jedoch keinen anderen Weg mehr, nachdem die Zechenbesitzer jede Beschränkung ihrer ,Selbstherrlichkeit' ab­ gelehnt hatten. Um eine gesetzgeberische Aktion des Reichstags zu verhindern, beschloß das Staatsministerium am 26. Januar, die Novelle sofort anzukün­ digen. „Zum Zusammengehen mit den Arbeitgebern gegen die Arbeiter und zur Aufnahme eines Kampfes gegen die Sozialdemokratie sei die gegenwärtige Sachlage nicht geeignet“ , warnte Bülow. „Bei dem ungeschickten und unpoli­ tischen Verhalten der Zechenbesitzer herrsche fast durchweg Sympathie für die Arbeiter.“ 73 Einen Tag, nachdem die Reformpläne der Regierung öffentlich angekündigt worden waren, billigte auch der Kaiser am 28. Januar die Taktik des Staats­ ministeriums74. Zwar erfüllten sich Bülows Hoffnungen nicht, daß die Strei­ kenden die Arbeit sofort wieder aufnehmen würden. Als sich die Bergarbei­ terverbände jedoch aus Geldmangel am 9. Februar gezwungen sahen, den Streik abzubrechen, boten ihnen die Regierungsversprechungen die Möglich­ keit, die Niederlage als Waffenstillstand und halben Sieg zu kaschieren, wäh­ rend sie zunächst gefürchtet hatten, der Streik könnte mit der Zertrümmerung der Organisationen enden75. Bitter klagte dann auch der Generalsekretär des C VDI, H. A. Bueck, der Eingriff der Staatsregierung habe die Sozialdemokratie vor einer der schwer­ sten Niederlagen ihrer Geschichte gerettet70. Als am 22. Februar 1905 der Vorstand des Bergbau-Vereins erneut jedes Verhandeln mit den Bergarbeiter­ verbänden verweigerte, begründete er diese Entscheidung gegenüber dem preußischen Handelsminister damit, daß die Vorstandsmitglieder als königs­ treue Bürger es nicht über sich gewinnen könnten, einer Partei Vorschub zu lei­ sten, deren Endziel die Vernichtung der bestehenden Staatsordnung sei77. Die Intervention von 1905 führte keineswegs zu der von der Schwerindu­ strie befürchteten Umorientierung der Regierungspolitik gegenüber der so­ zialistischen Arbeiterbewegung. Beim nächsten Streik — das ließ Bülow im November 1905 den Ruhrindustriellen mitteilen — müsse das Bürgertum den Eindruck gewinnen, daß es die Arbeiter seien, die verhetzt von der Sozial­ demokratie den Bogen überspannt hätten. Deshalb dürften die Zechenbesit­ zer künftig nicht von vornherein durch Schroffheit oder Sophistik die öffent­ liche Meinung gegen sich aufbringen78. Während der Ruhrbergarbeiterstreik den bürgerlichen Sozialreformern als „gewaltige Predigt für die Schaffung vorbeugender Verständigungsinstitutionen“ erschien79, suchte der preußische Handelsminister Ende 1906 durch einheitliche Richtlinien die vermittelnde Tätigkeit des Staates auf wenige Ausnahmefälle einzuengen und wegen der angeblichen Gefahr einer Begünstigung der Sozialdemokratie bei den Streiks © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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auszuschließen, die von den freien Gewerkschaften organisiert worden wa­ ren80. Bis 1914 beschränkten sich die staatlichen Einigungsversuche im wesentli­ chen auf die vom Reichsamt des Innern mit Zustimmung beider Tarifparteien 1910 eingeleitete Schlichtung der großen nationalen Tarifbewegung im Bau­ gewerbe und die Sorge für eine Verlängerung dieses Reichstarifvertrages 191381, die Mithilfe bei der Beendigung eines Streiks in der Herrenmaß­ schneiderei Anfang 1912 und die erfolglose Vermittlung bei einer Aussper­ rung im Malergewerbe im Frühjahr 1913. Daneben bemühte sich das Reichs­ amt, „der Entstehung von Arbeitsstreitigkeiten vorzubeugen, indem es den Abschluß von Tarifverträgen begünstigte oder vermittelte oder sonst zu Eini­ gungsverhandlungen Anregung gab“ 82. Die rasche Ausbreitung der Tarifver­ träge im Handwerk und in der verarbeitenden Industrie wurde von der Reichsleitung in der Hoffnung auf eine Verminderung der Arbeitskämpfe be­ grüßt83. Wegen der umstrittenen Frage der Haftung verzichtete sie jedoch auf die vom Zentrum und den liberalen Parteien gewünschte gesetzliche Regelung des Tarifvertragswesens84 und folgte 1908 auch nicht dem Beschluß des Reichs­ tags, durch Auflagen bei der Vergabe der Staatsaufträge den Widerstand der Werften und der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie gegen Tarifverträge zu brechen85. Unter dem Eindruck der heftigen Proteste der Arbeitgeberver­ bände reagierte sie ebenso zurückhaltend auf den Plan eines Reichseinigungs­ amtes, für den die „Gesellschaft für Soziale Reform“ seit 1910 warb und den im Mai 1913 alle Parteien des Reichstags billigten. Als zentrale staatliche Schlichtungsinstanz sollte das Reichseinigungsamt die organisatorischen Vor­ aussetzungen für ein Eingreifen bei umfangreichen Arbeitskämpfen schaffen und unter Verzicht auf jeden Öffentlich-rechtlichen Zwang durch Publizierung seiner Schiedssprüche die öffentliche Meinung zugunsten einer Beilegung der Differenzen mobilisieren80. Diese Blockierung aller Reformansätze entsprach der allgemeinen Situation der letzten Vorkriegsjahre, in denen sich die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung durch Verschärfung der Verwaltungspraxis und Vertrösten auf die künftige Strafrechtsreform der Forderung der Interessenverbände der Schwerindustrie, des Großgrundbesitzes und des alten Mittelstandes nach Aus­ nahmegesetzen zum ,Schutz der Arbeitswilligen' zu entziehen suchten. Zehn Jahre nach Posadowskys Warnungen hatte sich die von ihm gefürchtete Ent­ wicklung weithin vollzogen. Das Instrumentarium des Staates im Arbeits­ kampf aber war im wesentlichen das gleiche geblieben: Repression der Ge­ werkschaften durch Verwaltung und Justiz.

Anmerkungen 1 2

Rundschr., 18. 4. 1904; StadtA Lübeck, Neues SenatsA IVB 5. 12. Immediatber., 17. 5. 1904; DZA II, Rep. 89 Η XIII G en. 47 Bd. 2. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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3 Vgl. besonders als Ergebnis der sorgfältigen Beobachtung der Parteien DZA I, RdI 6798—6805. 4 Vgl. K. Saul, Staat, Industrie u. Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, 1903—1914, phil. Diss. Hamburg 1971, MS, 439 ff., 577 ff. 5 Aufz. Hammersteins, 30. 5. 1904; HStA Hannover, Dep. 52 Abt. IVg Nr. 81. 8 In einer RT-Kommission, 12. 2. 1904, nach: Dt. Industrie-Ztg. 23. 1904, 68. 7 StM, 13. 4. 1905 (DZA I, RK 533) u. 8. 1. 1906 (RK 545). Das Mißtrauen der Verwaltungsbehörden u. der preuß. Bergwerks- u. Eisenbahnverwaltung gegen diese kampfkräftigen Verbände erschwerte die Förderung der C hristi. Gewerkschaften, zu deren Gunsten die Reichsleitung ab 1909 wiederholt beim Vatikan intervenierte. PA, Päpstl. Stuhl 26 secr. Bd. 1—4. 8 Vgl. A. Thorndike, Zur Rechtsfähigkeit der deutschen Arbeiterberufsvereine, Tübingen 1908, 174. 9 Bundesrat, 5./21. 1. 1904; P. Rassow/K. E. Born Hg., Akten zur staatlichen So­ zialpolitik in Deutschland, Wiesbaden 1959, 167 ff. — StM, 26. 1. 1904; GStA Berlin, Rep. 84a/184. 10 Zur Entstehungsgeschichte: DZA I, RK 532 u. 533 u. RdI 13866; DZA II, Rep. 77 Tit. 662 Nr. 89 Bd. 2 u. 3 u. Rep. 120 BB Abt. VII. 1 Nr. 14 adh. 2 Bd. 3 u. 4; GLA Karlsruhe, Abt. 233/11631. 11 C orrespondenzbl. der Generalkommission 16. 1906, 801 ff.; Zentralbl. der christl. Gewerkschaften 6. 1906. 365 ff.; Der Gewerkverein 38. 1906, 369 ff. 12 Aufz. Siefarts, 30. 1. 1915; DZA I, RWM 2021. 13 StM, 14. 6. 1912; DZA II, Rep. 90a Abt. Β Tit. III. 2 b Nr. 6 Bd. 161. 14 Soziale Praxis (SP) 13. 1903/04, 750 f. 15 Vgl. Schmoller an Brentano, 10. 10. 1912; ΒΑ, Ν1. Brentano 58, sowie für das RdI den Ber. des bad. Gesandten, 9. 1. 1897; GLA Karlsruhe, Abt. 233/34803. 16 StM, 13. 4. 1905; DZA I, RK 533. 17 Vgl. Verband der Bergarbeiter Deutschlands, Jber. 1909 u. 1910, Bochum 1911, 115 ff. 18 Ber. an MdI, 24. 10. 1909 (Abschr.); DZA I, RdI 7005. 19 Votum, 14. 3. 1913; DZA I, RK 547. 20 Nach den Jber. der Zentralverbände, Gewerkschaftskartelle u. Arbeitersekre­ tariate u. den Berichten der Verwaltungsbehörden in StA Münster, HStA Hannover, StA Stade, LA Schleswig, StAL Göttingen, StA Potsdam u. GStA Berlin. 21 Vgl. Saul, 343 ff. 22 Abdruck einer Dienstanweisung v. 4. 9. 1912 in Jb. 1912 des Dt. Holzarbei­ terverbandes, Berlin 1913, 253. Vgl. auch den Erfahrungsber. einer beim Ruhrberg­ arbeiterstreik 1905 eingesetzten Gendarmerieeinheit aus Hannover, 20. 4. 1905; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 10. 23 Immediatber., 28. 3. 1912; DZA II, Rep. 77 Tit. 2523 Nr. 1 Bd. 18. 24 Komm. Beratungen, 18. 6. 1908, u. Runderlaß MfHG, 16. 11. 1908; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 4. S. auch Anm. 41. 25 Aufz. Roedenbecks, 18. 3. 1912; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 28. 26 Vgl. Saul, 110 ff., 140 ff., 218 ff. 27 W. Heine, Der Magdeburger Parteitag, März 1910/IV, 105. 28 Vgl. außer der fortlaufenden Kritik in der „Sozialen Praxis“ z. B. H. Del­ brück, PJ 113. 1903, 376 ff.; C . Haußmann, Das Arbeitsprogramm der Fortschritt­ lichen Volkspartei, Berlin 19112, 27. 29 Vgl. Saul, 264 ff. 30 Vgl. sein Rundschr., 5. 9. 1900, Der Zimmerer Nr. 37. 1900. 31 Eingaben, Votenwechsel u. Erlasse in DZA I, RdI 7046. 32 Vgl. z. B. preuß. Kriegsministerium an RdI, 7. 2. 1913; DZA I, RdI 7050; ferner Anm. 33 u. 85.

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33 Undat. Aufz. zur Protesteingabe der Vereinigung der Dt. Arbeitgeberverbände (VgDA), 20. 6. 1913; DZA I, RdI 6804. 34 Vgl. A. Brand, Das Beamtenrecht, Berlin 1914, 562 f. 35 Ministerial-Bl. f. d. ges. innere Verwaltung 1901, 255. 36 Aufz. Eckhardts, 27. 9. 1911; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 13. 37 Schriftwechsel: DZA II, Rep. 77 Tit. 2523 Nr. 1 Bd. 18. 38 Min.Bl. 1912, 276 f. Anläßlich eines Kölner Korruptionsprozesses ermahnte das MdI am 11. 2. 1914 die Verwaltungsbehörden, das Verhalten der Polizeibeamten in und außer Dienst häufiger und strenger als bisher zu prüfen. StA Stade, Rep. 174 LRA Blumenthal Fach 8 Nr. 17. 39 Leipziger Volks-Ztg. 20. 9. 1912. 40 MdI an ObPräs. Magdeburg, 30. 10. 1909 (Abschr.); DZA I, RdI 7005. Dies hatte bereits die grundlegende Ministerialverfügung v. 26. 11. 1899 angeordnet. LA Schleswig, Abt. 301/1610. 41 Besprechung am 21. 12. 1910, wie Anm. 36. 42 Runderlasse in LA Schleswig, Rep. 320 LRA Schleswig 45 u. 46. 43 MdI an preuß. Krieesministerium, 5. 7. 1910; wie Anm. 36. 44 StM, 26. 1. 1905 u. Kronrat, 28. 1. 1905; GStA Berlin, Rep. 84 a/11104; Im­ mediatber., 27. 1. 1905; abgedr.: Archival. Forschungen z. Gesch. d. dt. Arbeiterbe­ wegung (AF) 2/I, Berlin 1955, 25 ff. 45 Kriegsministerium an Generalkommandos, 24. 4. 1890; LA Schleswig Abt. 301/2249; für die Durchführung MdI an Bülow, 30. 5. 1908; DZA I, RK 545. 46 S. Anm. 40. 47 Geheimerlaß an die Generalkommandos, 8. 2. 1913; LA Schleswig, Abt. 301/ 1610. 48 Bericht an RegPräs. Arnsberg, 20. 4. 1912; DZA II, Rep. 77 Tit. 2523 Nr. 1 Bd. 20. 49 RT 11. 1. 1901, Bd. 179, 625. 50 RT-Drucks. Bd. 174, 2011 ff.: Kommissionsbcr. v. 10. 5. 1899. 51 Rundschr. an Bundesregierungen, 5. 1. 1901; StA Hamburg, Senatsakten C l. I Lit. J Nr. 7 Vol. 22 c. 52 Eingaben ebd. Vgl. auch Handel u. Gewerbe 8. 1900/01, 493 ff. (Langnamver­ ein u. Nordwestl. Gr. VDEStI), 502 ff. (Dt. Handelstag), 519 (HK C hemnitz), 539 (HK Dresden). 53 Dt. Volkswirtschaftl. C orr. 1901, Nr. 27, 36, 49. 54 Berichte des Hans. Ges. Berlin, 25729. 6. 1901, wie Anm. 51. 55 SP Nr. 40, 4. 7. 1901, 1010 (E. Francke). 58 SP Nr. 34, 23. 5. 1901, 852 (E. Francke). 57 Vgl. E. Bielschowsky, Die sozialen u. ökonomischen Grundlagen des modernen gewerblichen Schlichtungswesens, Berlin 1921, 208. 58 Zum Streikverlauf vgl. M. Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet zur Zeit Wilhelms IL, Düsseldorf 1954, 85 ff.; D. Fricke, Der Ruhrbergarbeiterstreik von 1905, Berlin 1955. 59 PJ 119. 1905, 563 (19. 2. 1905). 60 ObPräs. Koblenz an MdI, 5. 1. 1905; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 9. 61 Notiz Bülows u. Aufz. Loebells, 5. 1. 1905; DZA I, RK 543. 82 Abdruck des Schriftwechsels: Glückauf 41. 1905, 217 f. 63 Notiz Bülows, 12. 1. 1905; DZA I, RK 543. 64 Vgl. die zu einseitige Analyse bei Fricke, 114 ff. 65 Glückauf 41. 1905, 219 ff. Vgl. auch H. Böhme, E. Kirdorf, Tradition 14. 1969, 29 ff. 68 Glückauf 42/I. 1906, 81 (Jber. HK Essen). 67 Vgl. Glückauf 41. 1905, 228 — Bergbau-Verein an MdI, 18. 1. 1905 bei Fricke,

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175 — ObPräs. Koblenz an Komm. General Münster, 18. 1. 1905 u. RegPräs, Düs­ seldorf an MdI, 22. 1. 1905; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 10. e8 DZA II, Rep. 90 a Abt. Β Tit. III. 2 b Nr. 6 Bd. 150. 69 Glückauf 41. 1905, 225. 70 Die Nation Nr. 18, 28. 1. 1905, 279 (H. v. Gerlach); vgl. PJ 119. 1905, 372 ff. (H. Delbrück 22. 1.); Augustinus-Bl. 9. 1905, 2 (Festlegung der Zentrumspressc am 22. 1.). Pressestimmen in StA Münster, ObPräs. 2849a Bd. 1 u. 2. 71 Immediatber., 19. 1. 1905; DZA I, RK 543. 72 Vel. AF 2/I, 25 ff. u. Fricke. 109 ff., 174. 73 Schriftwechsel Kirdorf-Bülow; DZA I, RK 543 — Votum MfHG, 24. 1. 1905 u. StM, 26. 1. 1905; GStA Berlin, Rep. 84 a/11104. 74 Kronrat, 28. 1. 1905: DZA I, RK 543. 75 O. Hue, Über den Generalstreik im Ruhrgebiet, Sozialistische Monatshefte 1905, 205 f. 76 Auf der Generalvers, des VDEStI, 4. 11. 1905; HA/GHH Oberhausen 300 1241/0 u. der Delegiertenvers, des CVDI, 5. 5. 1905; VMB 100, 45. 77 DZA I, RK 544. 78 Notiz, 19. 11. 1905; ebd. 79 Dt. Wirtschafts-Ztg. 2. 1906, 224 (W. Zimmermann); für die Ablehnung der Schwerindustrie vgl. Schriften des Vereins für Sozialpolitik 116, Leipzig 1906, 151 (E. Leidig). 80 Geheimvotum, 3. 11. 1906 in AF 2/II, Berlin 1956, 247 ff. Zur skeptisch-ab­ wartenden Haltung der meisten Ressorts vgl. DZA I, RdI 6801; DZA II, Rep. 77 Tit. 2513 Nr. 1 Beih. 1 u. GStA Berlin, Rep. 84 a/1252. 81 DZA I, RdI 7053—7056: Vgl. A. Tischer, Der Kampf im deutschen Baugewerbe 1910, Leipzig 1912. — Angesichts der scharfen Proteste der Arbeitgeber verzichte das RdI 1910 auf eine Vermittlung bei der Werftarbeiteraussperrung (DZA I, RdI 7074) und 1912 beim Ruhrbergarbeiterstreik (DZA I, RdI 7003 u. RK 546). 82 Aufz. Siefarts, Juli 1916; DZA I, RK 478. 83 Bülow an E. Francke, 11. 3. 1907; DZA I, RK 478. 84 Ein erster Ansatz 1908/09 scheiterte (DZA I, RJA 2232 u. RdI 6800). Vgl. auch C . v. Delbrück, Reden 1906—1916, Berlin 1917, 177 ff., 277 f. 85 DZA I, Rep. 120 BB Abt. VII Fach 1 Nr. 14 adh. 3 b Bd. 1. 86 Stellung der Regierung: DZA I, RK 478 u. 547 u. RdI 6857 u. 7049—7051 — Pressediskussion: DZA I, RdI 7052 u. StA Hamburg, Politische Polizei S 2505—24 — Sozialreformer: SP 19. 1909/10, 1009 ff. (E. Francke); 20. 1910/11, 738 ff., 770 ff., 802 ff. (v. Berlepsch); Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform H. 45—48, Jena 1914 — Unternehmer: Der Arbeitgeber 1912, 189 f. (F. Tänzler) u. Protesteingabe der VgDA, 8. 7. 1916; DZA I, RdI 7051.

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26. Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus vor 1914 Von GILBERT ZIEBURA

1. Einige offene Fragen der Theoriebildung. Je intensiver, auf breiter inter­ nationaler Front, die Erforschung der Epoche des Hochimperialismus voran­ schreitet1, um so deutlicher schalen sich die Probleme heraus, vor die sie sich nun zunehmend gestellt sieht. Als erstes fällt die wachsende Diskrepanz zwi­ chen Empirie und Theorie ins Auge2: in der Sturzflut neuer Daten und Kennt­ nisse scheinen überkommene Deutungsversuche unterzugehen, wobei die von der „bürgerlichen“ Forschung dominierte Empirie zu einem wahren Sturmlauf ge­ gen die auch heute noch von Neomarxisten beherrschte Theorie angesetzt und recht pauschal „die historische Wahrheit dieser modernen Imperialismustheo­ rien“ in Frage gestellt hat3. In der Tat ist das Theorie-Empirie-Dilemma, an sich heilsam und für den Fortschritt jeder Erkenntnis unerläßlich, für die Impe­ rialismusproblematik besonders schwierig zu lösen, da es aus der Natur der Sache selber resultiert. Denn die Theorie (welche es immer sein mag) verlangt ja geradezu nach dem Herausarbeiten der spezifischen Eigenarten der ver­ schiedenen nationalen Imperialismen, um so das in ihnen steckende Konflikt­ potential bestimmen zu können, während damit doch zugleich das Risiko ein­ gegangen wird, daß die übergreifenden strukturellen Gemeinsamkeiten der Epoche verschwimmen, daß ihre fundamentale Einheit im Nebel der Einzel­ erscheinungen verschwindet. Einerseits sollen gesellschaftliche Kräftekonstella­ tionen und nationale Klassenstrukturen untersucht werden, was aber anderer­ seits nicht dazu führen darf, das historische Individualitätsprinzip „zu dogma­ tisieren“ , da dies „eine komparative Analyse, die an den strukturellen Ge­ meinsamkeiten ihre Erklärungskraft beweisen kann, erschwert, wenn nicht gar verhindert“ 4. Das ist goldrichtig, aber viel leichter gesagt als getan. In Wahrheit sind die damit angedeuteten theoretischen und methodologischen Schwierigkeiten so groß, daß sowohl „Bürgerliche“ wie Marxisten ihnen glei­ chermaßen hilflos gegenüberstehen. Die Unsicherheit der ersten wird deutlich, wenn sie sich in die bequeme, freilich schon fast leerformelhafte deus-ex­ machina-Feststellung flüchten, daß in jedem einzelnen Fall ein „Mischungsver­ hältnis der Motive“ vorgelegen habe, das je nach der „besonderen nationalen Lage“ „außerordentlich divergierte“ und somit einen bestimmten Typus von Expansion hervorbrachte5. Da kaum etwas über den Bestimmungsgrund der-

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artiger „Mischungsverhältnisse der Motive“ ausgesagt wird, weiß man auch nicht, woher die Motive kommen, auf welche Weise sie sich mischen und was das Amalgamat schließlich ergibt. Auf der anderen Seite sucht man aber doch nach einem bewegenden Prinzip als einer Orientierungshilfe, mit der der pro­ klamierte Eklektizismus der Motivationsstruktur dann wieder transzendiert wird. So erfolgt der Rückgriff auf den „Primat der Politik“ oder zumindest auf die Dominanz „politischer Tendenzen“ , die durch andere Faktoren, besonders ökonomische, höchstens „potenziert“ werden, oder auf den Nationalismus6 oder den „Sozialdarwinismus“ , ohne daß auch hier der offensichtliche Widerspruch zwischen der internationalen Erscheinung dieser Ideologien und ihrer national­ spezifischen Ausprägung gelöst würde7. Inhalt, Intensität und Funktion der­ artiger Ideologien lassen sich, wie jedermann weiß, nur im gesamtgesellschaft­ lichen Kontext begreifen, der oft nicht einmal in den gröbsten Umrissen präsent ist. Marxistische, aber auch (in der Nachfolge E. Kehrs) „kritisch-bürgerliche“ Autoren haben ihrerseits bis heute ihren zentralen Begriff, den der ungleichen und ungleichmäßigen Entwicklung der Produktivkräfte (oder der kapitalisti­ schen Produktionsweise) und der daraus sich ergebenen innergesellschaftlichen und internationalen Widersprüche und Konflikte, nicht wirklich bewältigt8. Das liegt vornehmlich daran, daß es kaum gelungen ist, den für das Verständnis des Imperialismus-Phänomens unerläßlichen Zusammenhang zwischen interner (Sektoren und Branchen innerhalb einer nationalen Wirtschaft) und externer (zwischen unterschiedlich entwickelten Wirtschaften) ungleichmäßiger und un­ gleichgewichtiger Entwicklung herzustellen9. Denn wenn schon ein Kausalnexus zwischen dem Grad der Monopolisierung einer kapitalistischen Wirtschaft und der Intensität des von ihr praktizierten Imperialismus bestehen soll, dann steht und fällt diese Feststellung mit ihrer Verifizierung sowohl im innernationalen wie im internationalen Raum. Lenin (wie viele Vertreter der klassischen Ökono­ mischen Imperialismustheorie, Hilferding vielleicht ausgenommen) aber hat, von wenigen, sehr allgemeinen Bemerkungen abgesehen, den Entwicklungsstand und die Wirtschaftsstruktur aller führenden kapitalistischen Länder als im wesentlichen vergleichbar angesehen und sich daher über die Gültigkeit des Wertgesetzes im internationalen Bereich keine Gedanken gemacht10. So ver­ wundert es nicht, wenn das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz auf bei­ den Ebenen unklar und damit zwangsläufig die Frage nach der imperialisti­ schen Natur des Konkurrenz- bzw. Monopolkapitalismus unbeantwortet bleibt, obwohl etwa Eugen Varga in seinen frühen Schriften durchaus anerkannt hat, daß die Grenzen der internationalen Monopolbildung eben gerade in der un­ gleichmäßigen Entwicklung zu suchen sind11. Die völlig berechtigte Forderung nach Berücksichtigung der ungleichen Entwicklung bleibt solange deklamatori­ sches Lippenbekenntnis, wie man sich nicht der Mühe unterzieht, ihre konkreten Erscheinungsformen im Verlauf der Industrialisierungswellen zu erfassen und nach ihren Auswirkungen nicht nur im innergesellschaftlichen, sondern ebenso im internationalen Bereich zu fragen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Weltwirtschaft in Gestalt der inter­ nationalen Arbeitsteilung als unabhängige Variable in die Analyse einbezogen wird, was eigentlich angesichts der wachsenden Interdependenz der nationalen Volkswirtschaften auf der Grundlage der Herausbildung eines einheitlichen, von der kapitalistischen Produktionsweise beherrschten Weltmarktes als wich­ tigstem Merkmal der hochimperialistischen Epoche selbstverständlich sein sollte. Denn diese gegenseitige, zugleich streng hierarchisierte ökonomische Abhängig­ keit schafft eine neue, weltgesellschaftliche Dimension, die „über die bloße Summe einzelner Marktverhältnisse“ hinausgeht12 und damit das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Vergleich zur vorangegangenen Zeit qualitativ auf eine neue Ebene hebt. Dieser Hinweis bleibt solange keine Binsenweisheit, wie die sich daraus ergebenen Schlußfolgerungen für die Theoriebildung nicht gezogen werden. Dazu gehört in erster Linie die an der Wirklichkeit vorbei­ gehende Diskussion um den Primat der Innen- oder Außenpolitik13. Denn In­ nen- und Außenverhalten einer bestimmten Gesellschaftsformation mit ihrem spezifischen, historisch entstandenen Neben- und Gegeneinander unterschied­ licher Produktionsweisen und den davon mit geformten sozialen und politi­ schen Interessenstrukturen sind nicht nur zwei Seiten derselben Medaille, son­ dern von der Position dieser Gesellschaftsformation innerhalb der Weltmarkt­ verflechtung nicht zu trennen. Innergesellschaftliche Macht- und Konfliktsitua­ tionen als Determinanten expansionistischer Politik sind sicherlich weitgehend Folge eines ungleichmäßigen innerökonomischen Wachstums im Zusammenhang der Industrialisierung, aber dieses selbst ist nicht zu trennen vom Kampf um die neue Weltarbeitsteilung, die als existentielles Gebot weit über die politisch­ diplomatischen Augenblickskonstellationen hinausgeht. Die weitverbreitete Vorstellung, wonach der Imperialismus darin bestand das System der Weltwirtschaft der „nationalstaatlichen Struktur anzupassen“ durch die Schaffung von Einflußzonen14, unterschlägt die Frage nach den Machtverhältnissen, d. h. nach der den Weltmarkt dominierenden Wirtschaft mit allen damit verbundenen Auswirkungen auf die anderen Wirtschaften15. Die Mo­ nopolstellung, die Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingenom­ men hatte und die zunächst nur eine bestimmte Form der Industrialisierung auf dem Kontinent gestattete16, mußte in dem Augenblick in Frage gestellt werden, da mehrere okzidentale Gesellschaften, die amerikanische an ihrer Spitze, ihren eigenen Industrialisierungsprozeß begannen, aus welchen endogenen Motiven und mit welchem Tempo auch immer. Der Abstieg der britischen Industrie­ macht etwa seit 1870/75, akzentuiert seit den 80er Jahren, resultierte para­ doxerweise ja gerade aus seiner imperialen Stellung, da der wachsende Kapital­ export in die Kolonien und mehr noch in die informellen Einflußgebiete17 sich auf Kosten der Inlandsinvestitionen und damit einer Steigerung der Produk­ tivität vollzog, während die schärfsten Konkurrenten, die USA und das Deut­ sche Reich, genau den umgekehrten Weg gingen18. Großbritannien zahlte nun den Preis dafür, daß es seine Monopolstellung im Verlauf der „ersten Indu­ striellen Revolution“ erreicht hatte, als es seine technologische Überlegenheit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 32 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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auf Kohle, Textil, Dampfkraft und Eisenbahnbau auf der Grundlage des indi­ viduellen Privatbetriebs gründete19. Das waren zugleich jene Industrien, die zwischen einem Viertel und drei Vierteln ihrer Gesamtproduktion exportierten, so daß die künftige Entwicklung der britischen Industrie als Ganzes Schaden nehmen mußte, wenn sich die Absatzchancen aufgrund wachsender Konkurrenz verschlechterten. In dem Augenblick, da sich ab 1880 die „zweite Industrielle Revolution“ , nun auf der Basis der schwerindustriellen Produktion, der Elek­ trizität und C hemie durchsetzte, mußten jene Konkurrenten am meisten davon profitieren, die diese Sektoren entwickelten, was nur über ein hohes technolo­ gisch-wissenschaftliches Niveau, eine wachsende Konzentration und Zentrali­ sierung der Wirtschaft sowie eine Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital möglich war. Und indem sie es taten, nutzten sie zugleich die sich abzeichnenden Strukturdefekte der britischen Ökonomie und begannen, sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914 einzuholen und sogar, was den Anteil an der Weltproduktion betraf, zu überholen. Die weithin überragende monetäre Stellung Londons als Weltbankier20 und Regulator des Weltwäh­ rungssystems sowie die Einkünfte aus Dienstleistungen aller Art erlaubten zwar ein Festhalten am Freihandel, vermochten aber den Niedergang Großbritan­ niens als industrielle Führungsmacht höchstens zu kaschieren, jedoch nicht zu verhindern. Dem Freihandel aber wurde der Todesstoß versetzt, als die USA zum Protektionismus übergingen, auf den die kontinentale Agrarschutzpolitik dann reagieren mußte21. Aufstieg und Niedergang Großbritanniens als weltmarktbeherrschende Mo­ nopolmacht aber sind ohne die Funktion des formellen bzw. informellen Impe­ rialismus als unterschiedliche Strategien metropolitanischer Expansion nicht zu verstehen. Auf dem Höhepunkt der weltwirtschaftlichen Monopolstellung zwi­ schen 1815 und 1875, insbesondere aber zwischen 1850 und 1875, die zugleich durch Theorie und Praxis des Freihandels abgesichert und untermauert wurde, war die weltweite ökonomische Penetration erheblich lukrativer als die Erobe­ rung kolonialer Gebiete: Ein Land, dessen Industrie billiger als jede Konkur­ renz verkaufen konnte, war geradezu prädestiniert, die universale Anwendung des Freihandels zu predigen — natürlich auf Kosten der Schwächeren22. In die­ ser Zeit versuchte Großbritannien, nicht zuletzt mit dem Mittel der Gleich­ gewichtspolitik, sich als Zentrum eines internationalen, auf privilegierten Be­ ziehungen zu Europa und der Westlichen Hemisphäre beruhenden Netzes zu etablieren. Der informelle fast mehr noch als der formelle Imperialismus wurde nicht nur zur Quelle des britischen Reichtums, sondern ermöglichte auch den Ausgleich einer permanent defizitären Handelsbilanz, während der Kapital­ export als „Konjunkturglätter“ (nach C airncross) fungierte und der Metropole noch bis 1914 aus manchen Krisen heraushalf. Der erneute Rückgriff auf eine Politik der kolonialen Eroberung nach 1880 war bereits ein Ausdruck des nun beginnenden Niedergangs des informellen Imperialismus angesichts der wach­ senden Konkurrenz. Der fortschreitende Verlust der britischen Konkurrenz­ fähigkeit auf den kapitalistischen und halbkapitalistischen Märkten in Europa © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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und Übersee wurde durch eine systematische Revalorisierung der Kolonien als Absatzmärkte für die Produkte der „alten“ Industrie zu kompensieren ver­ sucht, obwohl eine Rettung des Handelsmonopols in den Kolonien auch nicht voll erreicht wurde. Großbritannien mußte nun auf diesem Markt jenen Über­ schuß herauswirtschaften, mit dessen Hilfe es sein Defizit gegenüber anderen Ländern bezahlen konnte23. Aber der Freihandelsimperialismus hatte Großbritannien schlecht auf die neue Situation vorbereitet. Gerade die Prosperität der „alten“ Industrie und die Kapazität des Kredits führten dazu, daß der Kapitalmarkt nicht erhöht wurde, daß die Trennung der Industrie vom Bankkapital beibehalten, daß weder die horizontale noch die vertikale Konzentration der Produktion ent­ scheidende Fortschritte machten: Die Kolonien, die für die Abnahme der Pro­ dukte sorgten, reproduzierten die „alte“ Industrie und hemmten damit die Entwicklung der Produktivkräfte24. Der formelle, aber mit viel durchschlagen­ derem Erfolg der informelle Imperialismus seiner schärfsten Konkurrenten, der USA und Deutschlands, verfolgte den Zweck, die durch die Industrialisierung gewonnene Ausgangsposition für die Schaffung einer neuen, nicht mehr von Großbritannien kontrollierten Weltarbeitsteilung zu verbessern und abzu­ sichern25, was auch manche interimperialistische Kooperation mit antibritischer Spitze erklärt. Der Teufel des britischen wurde durch den Beelzebub des ge­ samtokzidentalcn Imperialismus ausgetrieben. Schon diese allzu grobschlächtige Skizzierung zeigt, daß eine Weiterentwick­ lung der Theoriebildung nur denkbar ist, wenn viel strenger als in der Ver­ gangenheit zwischen formellem und informellem Imperialismus unterschieden wird26. Die neuen Forschungsergebnisse scheinen sogar darauf hinzuweisen, daß hier ein wahrer Königsweg der Theoriebildung liegt. Sie zeigen, daß hinter beiden, selbst wenn sie von derselben politisch-ökonomischen Einheit prakti­ ziert werden, völlig unterschiedliche sozialökonomische und politisch-strate­ gische Motivationsstrukturen liegen, die sogar miteinander in Konflikt geraten können, eben weil sie den unterschiedlichen Entwicklungsstand innerhalb einer Ökonomie widerspiegeln. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist eine optimale Präzisierung des Begriffs „informeller Imperialismus“ . Nicht jede Ausweitung des Anteils am Welthandel ist Imperialismus. Damit es dazu kommt, muß eine „Ausbeutung“ oder zumindest eine Abhängigkeit dergestalt stattfinden, daß sich die ökonomische Durchdringung durch die kapitalistischen Metropolen auf Kosten des einheimischen Reichtums und damit der autochthonen Entwicklung vollzieht. Daraus können sich sehr verschiedene Grade und Stufen ökonomischer Fremdbestimmung ergeben, die keineswegs die politische Entscheidungsfreiheit der betroffenen Staatsmacht völlig oder auch nur partiell auszuschalten braucht, weil sie sich auf eigene Ressourcen stützt oder den Konkurrenzkampf mehrerer Imperialismen auszuschlachten versteht. Die schematische Aufteilung in Kolo­ nien und „Halbkolonien“ genügt vor allem dann nicht, wenn es den Zusam­ menhang von Ökonomie und Politik zu fassen gilt27. Schließlich ist die schär­ fere Unterscheidung von formellem und informellem Imperialismus auch aus 32*

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der Sicht der Opfer nicht unwichtig, da die größere Ökonomische Effizienz des zweiteren nicht nur aus der Exportkapazität bestimmter Metropolen zu er­ klären ist, sondern die Kollaboration, ja Satellisierung einheimischer Bour­ geoisien und Staatsapparate geradezu voraussetzte, was freilich nicht ohne eine gewisse Entwicklungsstufe für eben diese Schichten möglich gewesen wäre — Faktoren, die in der Regel beim formellen Imperialismus nicht die Haupt­ rolle spielten, ganz zu schweigen von den verheerenden Auswirkungen der marktbeherrschenden Position einer Metropole. Für eine solche schärfere begriffliche Unterscheidung aber spricht vor allem, daß sich unter dem Eindruck der relativ rasch verlaufenen Entkolonisierung die These durchsetzt, daß der Kolonialismus in letzter Instanz eine Art „Denatu­ rierung“ des Imperialismus darstellte, ihm sogar in mancher Hinsicht regelrecht widersprach28. Tatsächlich müßte sich diese Auffassung insbesondere jenen auf­ drängen, die den Imperialismus vornehmlich als inhärenten Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise ansehen, aber auch jenen, die die sozialökono­ mischen Bestimmungsfaktoren im umfassendsten Sinn als determinierend be­ trachten. Gerade die Geschichte der Aufteilung Afrikas, an der Deutschland beteiligt war, zeigt, daß seit den 80er Jahren bei dieser Form des Kolonialismus eindeutig politische, psychologische und ideologische Faktoren vorherrschten, da sonst der weit verbreitete Ökonomische Irrationalismus28 unerklärlich bliebe. Nicht das Privatkapital, sondern der Staat mußte hier die Entwicklung der Infrastrukturen finanzieren, da die Hoffnung auf kurzfristige Rendite immer gering blieb. Schon Hobson war der Ansicht, daß sich die Metropolen mit dem Kolonialismus auf dem falschen Weg befanden30. Die Vorstellung, daß der „Handel der Flagge“ folge, gehörte von Anfang an in das Arsenal der Pro­ pagandamärchen verworrener Kolonialenthusiasten, die nur wenig Kontakt mit der Ökonomischen Wirklichkeit besaßen. Die „Rationalität“ der kapitalistischen Expansion lag dort, wo sie von einer hochmonopolisierten Ökonomie und einem sich fortschreitend internationalisierenden Kapital getragen wurde, das die Ein­ schränkung durch politische Zwänge und Grenzen schon immer zu sprengen versucht hat. In diesem Sinne war der Kolonialismus in der Tat Ausdruck einer Krise des Imperialismus, indem er dessen Entwicklung eher hinderte als för­ derte. Aber auch damit sind nicht alle theoretischen Probleme gelöst, da der Prozeß der Schaffung einer neuen Weltarbeitsteilung keineswegs mit den machtpoliti­ schen Konflikten parallel lief. Die Frage der Vermittlung von Ökonomie und Politik bleibt so offen wie eh und je. Nicht nur daß sich ein grundlegendes öko­ nomisches Konkurrenz- und Konfliktverhältnis mit zumindest punktueller und zeitlich befristeter Kooperation auf der Grundlage komplementärer Profit­ maximierung vereinbaren ließ; wichtiger war, daß ökonomische Interessen und staatliche Machtpolitik bisweilen nicht nur nicht harmonisierten, sondern in offenen Gegensatz gerieten. Es ist bemerkenswert, daß eine weitgehende Gleich­ schaltung Ökonomisch-imperialistischer mit diplomatisch-militärischen Interes­ sen sich erst ab 1911, während und nach der Agadir-Krise, herausbildete und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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nun freilich entscheidend zur Vorbereitung einer als unvermeidlich perzipierten kriegerischen Konfrontation der Metropolen beigetragen hat. 2. Der deutsche Fall: der Konflikt von „Solidarprotektionismus“ und Welt­ marktorientierung. Innerhalb der jüngeren, so überaus fruchtbaren westdeut­ schen Historiographie zum Kaiserreich 1871 bis 1914 scheint sich in Nachfolge der von T. Veblen, E. Kehr31, H. Rosenberg und A. Vagts entwickelten Frage­ stellungen und Forschungsansätzen ein weitgehender Konsensus über Ursprünge und Funktion des deutschen Imperialismus herauszubilden, der in der von H.-U. Wehler am schärfsten formulierten Sozialimperialismus-These gipfelt32. In ihr scheint sich das Theorie-Empirie-Dilemma endlich aufgelöst zu haben. Nichtsdestoweniger ergibt eine Analyse des Sozialimperialismus-Theorems, daß es aus heterogenen, also letztlich unvermittelten Elementen besteht, daß es mehr Fragen stellt als beantwortet und vielleicht sogar die wahre Natur des deut­ schen Imperialismus eher verschleiert als offenlegt. Mindestens drei solcher Ele­ mente lassen sich unterscheiden. So war die Expansion (wobei zwischen formel­ lem und informellem Imperialismus nicht getrennt wird) zunächst das wich­ tigste Mittel Bismarcks und der herrschenden Klassen unter und nach ihm, die von der Industrialisierung bedrohte, noch aus der vorindustriellen Zeit stam­ mende und zunehmend anachronistisch werdende Herrschaftssynthese aus Grundbesitz, Militär, Kirche und Bürokratie durch die Ableitung der Kon­ flikte nach außen zu konservieren und zu stabilisieren (die „konservative Uto­ pie“ ). Je mehr die Widersprüche und „Gegensätze zwischen industriellem Wachstum und agrarstaatlicher Restaurationspolitik, zwischen Regierung und Parlament, zwischen Agrariern, Groß- und Bildungsbürgern und der Indu­ striearbeitcrschaft in immer schärferer Form aufbrachen, sah man in einer aggressiven Macht- und Expansionspolitik die einzige Möglichkeit, den politi­ schen und gesellschaftlichen Status quo innerhalb des Staates zu zementieren“ 33. Hier fungiert der Sozialimperialismus als Allheilmittel gegen sich potenzie­ rende innenpolitische Krisen, eine Art Super-C risis-Management, das freilich in dem Maße, wie es nicht zum Ziele führt, in nun ständig bis 1914 sich ver­ schärfender Form weiter angewendet wird, um gleich einer selbstmörderischen Spirale schließlich in der ultima ratio des Krieges zu enden. Das zweite Element des Sozialimperialismus-Theorems betrifft das „Solidar­ kartell“ aus Schwerindustrie und Großagrariern, jene entscheidende staatstra­ gende gesellschaftliche Formation, die die „konservative Utopie“ garantierte. Hier fungiert der Sozialimperialismus eher als Integrationsideologie und öko­ nomisches Kompensationsgeschäft, indem die im Grunde divergierenden, ja antagonistischen ökonomischen Interessen der beiden Gruppen in einem über­ greifenden Kompromiß transzendiert werden („Sammlungsbewegung“ , „Kar­ tell der schaffenden Stände“ ), wobei hier der Imperialismus weniger als kon­ krete Expansion denn als aggressive „Weltpolitik“ über den Flottenbau das Bündnis ideologisch festigt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schließlich fungiert die Kolonialpolitik, insbesondere unter Bismarck, als staatsinterventionistische antizyklische Konjunkturpolitik, um Wachstumsstö­ rungen zu überwinden. In der Zeit der Depression sollen koloniale Märkte die Überproduktion aufnehmen, wie es die Zeitgenossen immer wieder mit Nach­ druck verlangen. Hier haben wir es also mit einem staatlichen Instrument der Konjunkturlenkung zu tun, das natürlich, sofern es seinen Zweck erfüllt, eben­ falls soziale Konflikte mildert und damit zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung beiträgt. Hier wird allerdings die Frage nicht beantwortet, wie ein gesamtökonomisch völlig irrelevanter Faktor in Gestalt der Kolonialmärkte ein so ambitiöses Ziel, die Überwindung der Konjunkturschwankungen, über­ haupt zu erreichen vermag, ganz davon abgesehen, daß Bismarck, wie Wehler an zahlreichen Stellen betont, in letzter Instanz immer ein überzeugter An­ hänger eines pragmatischen, also informellen Imperialismus gewesen ist. Die grundlegende Schwäche der Sozialimperialismus-These aber liegt darin, daß sie die subjektiven Wunschvorstellungen der herrschenden Klassen über die Perpetuierung ihrer eigenen Herrschaft und die daraus abgeleitete Politik mit den objektiven Bewegungsgesetzen von Wirtschaft und Gesellschaft gleichsetzt. Das geht schon daraus hervor, daß die entwickelten Herrschaftsinstrumente versagen, daß sie die Konflikte nicht lösen, sondern zunehmend verschärfen. Kein Wunder, wenn die doch tief in die Ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Reiches einschneidenden Transformationen vom eher binnen­ orientierten Agrar- zum Industriestaat mit wachsender Weltmarktverflechtung und außenwirtschaftlicher Abhängigkeit und dem daraus resultierenden struk­ turellen Widerspruch von Exportindustrie und „Solidarprotektionismus“ unbe­ rücksichtigt bleibt. Niemand zweifelt an der Funktion des Sozialimperialismus als einer herrschaftsmanipulatorischen Ideologie; aber er sagt nichts aus über Natur, Inhalt, Richtung und Intensität des für die Reproduktion des deutschen kapitalistischen Systems lebensnotwendigen informellen Imperialismus und seine interne sozialökonomische Grundlage. In dieser Hinsicht kann man gegen Wehler, der die Kontinuität des Sozial­ imperialismus betont und ausdrücklich eine Unterscheidung zwischen Depres­ sion- und Konjunkturimperialismus ablehnt34, nicht genug zwischen der Bis­ marck- und der Nachbismarckzeit unterscheiden. Tatsächlich bot der labile, kri­ senhafte und sich insgesamt verlangsamende Industrialisierungsprozeß während der Depression keine optimalen Voraussetzungen für eine Politik der imperiali­ stischen Expansion. Ganz im Gegenteil: Der unerläßlichen Konzentration, ja „der Militanz im Innern (entsprach) die Konzilianz im Äußeren“35. Eine syste­ matische Politik überseeischer Expansion hätte nicht nur keine ökonomische Basis im Innern besessen, sondern Bismarcks Strategie als „guter Makler“ auf der Grundlage einer halbhegemonialen Position in Europa im Keime erstickt. Das Interesse der Industriellen und Bankiers an der Kolonialpolitik war gleich Null36. Tatsächlich zielte die Ende der 70er, besonders aber Mitte der 80er Jahre in Reaktion auf die Depression beginnende Bewegung der Rationalisie­ rung und Kartellisierung damals primär noch eher auf die Beherrschung des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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inneren Marktes ab, als daß sich die Ambitionen nach außen gerichtet hätten37. Der Außenhandel machte, insbesondere nach Übersee, nur langsam und zögernd Fortschritte38. Insofern erwies sich die Schutzzollpolitik seit 1879 als zwei­ schneidiges Schwert, da die Absicherung des inneren Marktes durch die Dros­ selung des Imports mit einer weiteren Verschärfung der internationalen Kon­ kurrenz und einem absoluten Rückgang der Außenhandelsintensität bezahlt wurde. Der Wirtschaftskrieg mit Rußland39 wie auch die Erhöhung der Öster­ reichisch-ungarischen Zölle auf deutsche Industriegüter versperrten der deut­ schen Exportindustrie in einer Weise die Märkte, daß daran selbst der sakro­ sankte „Solidarprotektionismus“ zerbrach. Mit dem sicherlich nur taktisch ge­ dachten Eingehen Bismarcks auf die die öffentliche Meinung bestürmenden „Kolonialenthusiasten“ konnte zwar die Wahl vom Oktober 1884 im Sinne der Erhaltung des antiliberalen Besitzblocks gewonnen werden40. Aber es war ge­ rade dieses von Bismarck praktizierte System der Herrschaftsstabilisierung und staatlicher Subventionspolitik, das sich in dem Augenblick als völlig inadäquat erweisen mußte, als Deutschland um die 90er Jahre endgültig den Übergang vom Agrar- zum Industriestaat vollzog41 und diese Politik nun den Industria­ lisierungsprozeß als solchen zu hindern begann und damit die ökonomischen und gesellschaftlichen Widersprüche auf unerträgliche Weise verschärfte. Nicht unter Bismarck, sondern in der kurzen, aber folgenreichen Ära des „aufgeklärten Konservativismus“ C aprivis wurden die Grundlagen für den informellen deutschen Imperialismus geschaffen. Dafür waren endogene Gründe ebenso maßgebend wie exogene. Bismarcks Absperrungspolitik bedrohte ja nicht nur die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie, sie führte auch, über die hohen Nahrungsmittelpreise (ihrerseits eine Folge ge­ stiegener Schutzzölle), zu einem Ansteigen der Lebenshaltungskosten insgesamt. Die Auswanderungsquoten stiegen gerade im letzten Jahrzehnt der Herrschaft Bismarcks erschreckend an42, wobei im übrigen nur sehr wenige in die deutschen Kolonien gingen. Ohne Zweifel bestand zwischen Auswanderung und Export­ stagnation ein unmittelbarer Zusammenhang, wie die spätere Entwicklung im umgekehrten Sinne bestätigte. Gegen die allgemeine Stagnation der dritten konjunkturellen Abschwungphase zwischen 1890 und 1895 gingen die beson­ ders betroffenen Industrien vom Kartell zum Syndikat über. Aber die daraus sich ergebende Beherrschung des inneren Marktes durch hohe Preise schuf gün­ stige Voraussetzungen für billige Exporte auf dem Weltmarkt, der nun aber durch die Verstärkung des Hochschutzzolls (USA, Frankreich, Rußland) das Halten der bisherigen und die Eroberung neuer Absatzmärkte erschwerte. Hinzu kam, daß das in Europa seit den 80er Jahren bestehende allgemeine Konventionaltarifsystem mit Frankreich als Mittelpunkt, zu dem das Deutsche Reich wegen seiner autonomen Handelspolitik nicht gehörte, 1892 zu Ende ging, weil Frankreich die Verträge nicht erneuern wollte, um seinerseits zu einer autonomen Handelspolitik überzugehen. In einem Augenblick also, da im Bereich der Weltwirtschaft ein hobbesianischer Kampf aller gegen alle drohte, mußte der Öffnung nach außen und damit der Exportindustrie klare Priorität © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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zukommen43, welche Belastungsprobe dies immer für den „Solidarprotektionis­ mus“ bedeutete. Tatsächlich öffnete das von C aprivi installierte Handelsvertragssystem, ins­ besondere seit dem Einschluß Rußlands 1894, der deutschen Industrie auf Ko­ sten der Landwirtschaft den mittel-, ost- und südosteuropäischen Markt, und für viele lag hier in der Tat die quasi „natürliche“ Hauptstoßrichtung der deut­ schen ökonomischen Expansion, was sich auch darin äußerte, daß die alte Idee eines mitteleuropäischen Zollbundes, vornehmlich im Lager der Nationallibera­ len, neuen Auftrieb erhielt44. Die nun einsetzende kontinuierliche Ausweitung des Außenhandelsvolumens wurde durch Konjunkturkrisen kaum beeinträch­ tigt. In den 90er Jahren begann aber auch eine zügig voranschreitende Pene­ tration der Überseegebiete durch deutsche Fertigwaren mit Schwerpunkten in China, der Türkei, Teilen Afrikas sowie in Mittel- und Südamerika. Auch nach innen bewirkte die Handelsvertragspolitik eine Beschleunigung des In­ dustrialisierungsprozesses: Sie förderte die 1896 beginnende Hochkonjunktur mit ihren eindrucksvollen Wachstumsraten auf der Grundlage gesteigerter Kauf­ kraft breiter Massen, von der auch Gewerbe sowie kleine und mittlere bäuer­ liche Betriebe profitierten. Dadurch wiederum wurde Kapital freigesetzt, sei es für Auslandsanlagen, sei es zur weiteren Forcierung des Außenhandels. Von Anfang an offenbarte sich aber auch der innere Widerspruch der von Caprivi inaugurierten Weltmarktorientierung der deutschen Wirtschaft. Die Ökonomische Expansion als Folge ständig wachsender Produktivität und ihre außenpolitische Absicherung hätten innenpolitisch von einem dauerhaften Bünd­ nis liberaler und sozialer Kräfte getragen werden müssen, was die ökonomische und politische Entmachtung des „Solidarkartells“ , vor allem seiner großagrari­ schen Komponente, bedeutet hätte. Gerade diese echte oder vermeintliche Ge­ fahr bewirkte genau das Gegenteil: Sie trieb Großagrarier und Schwerindustrie in ein neues Bündnis und isolierte damit die verarbeitende Industrie als der wichtigsten Stütze der C aprivischen Öffnungspolitik. Hier liegt der Haupt­ grund für den fundamentalen Strukturdefekt des informellen deutschen Im­ perialismus, der darin bestand, daß die ökonomische Expansion, was ihre Dyna­ mik und Methodik anlangte, der nun beginnenden „Weltpolitik“ überlegen war und damit die Diskrepanz zwischen ökonomischen und politischen Erfol­ gen bis zum Ausbruch des Weltkriegs so vergrößerte, daß sie breiten Schichten bewußt wurde. Es war nicht nur, wie Wehler meint45, der Unterschied über die Wahl der Mittel, mit deren Hilfe der Außenmarkt vergrößert werden sollte, der die Protagonisten des „Solidarprotektionismus“ von den Verfechtern einer mehr oder weniger freihändlerisch eingestellten Weltmarktorientierung trennte und sie unter dem Druck der Konkurrenz dann doch immer wieder ins selbe Lager trieb. Was sie trennte, war mehr und grundsätzlicher: ihre sozialökono­ mische Basis, ihre Zielvorstellungen im Hinblick auf den Typ der anzustreben­ den Expansion und schließlich ihre privilegierte bzw. unterprivilegierte Stel­ lung im politischen Entscheidungsprozeß eines halbfeudalen Staats- und Gesell­ schaftssystems. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Jedenfalls vermochte die Ende der 90er Jahre proklamierte „Weltpolitik“ , obwohl sie sich im Innern auf eine erneuerte Sammlungsbewegung und die dop­ pelte Integrationskraft von Flottenbaumystik und wilder Expansionspropa­ ganda der Agitationsverbände stützen konnte, diese widersprüchliche sozial­ ökonomische Ausgangsbasis niemals zu überwinden. Zunächst war sie kaum mehr als die politische Akzentuierung und Artikulierung einer faktisch bereits in voller Bewegung befindlichen ökonomischen Expansion. Die Flotte, so lautete das Argument an die Adresse der Exportindustrie und des Großhandels, sollte diesen deutschen Welthandel stützen und fördern. C aprivi, ein erklärter Gegner der Kolonialpolitik, hatte den „Primat der exportorientierten Weltmarkts­ politik“ 46 verkündet, ohne damit eine gezielte imperiale oder auch nur hege­ moniale Außen- und Überseepolitik zu verbinden. Die Verfechter der „Welt­ politik“ dagegen versuchten, unter dem doppelten, sich keineswegs neutra­ lisierenden Druck von innerer Krisenverschärfung und wachsendem imperiali­ stischen Erwartungshorizont breiter Schichten der Bevölkerung, aus der Export­ offensive auf dem Weltmarkt politisches Kapital zu schlagen. In vielen Fällen — „Mitteleuropa“ , Balkan47, Türkei, Marokko — folgte die Weltpolitik einer entweder gerade beginnenden oder sich bereits intensivierenden Ökonomischen Penetration durch Waren und Kapital und versuchte, sie politisch abzusichern oder aber, was meistens genauso fehlschlug, sie wenigstens als Trumpfkarte in einem Spiel zu gewinnen, das sich vornehmlich an politischen Statusrivalitäten zwischen den europäischen Großmächten orientierte48. Das Hauptziel dieser Politik war also nicht nur, wie es H. Böhme formuliert49, „eine emotional gesteigerte Ersatzbefriedigung sozialer und wirtschaftlicher Forderungen, nicht aber die Durchsetzung einer Überseepolitik aufgrund vorgegebener Wirtschafts­ expansion“ . Die deutsche herrschende Klasse stand unter Erfolgszwang, nicht nur wegen ihrer wankenden inneren Legitimationsbasis, sondern auch aus Furcht, die informelle Expansion, die sich allein auf die Dynamik und Durch­ schlagskraft einer modernen Industrie verläßt, könne für die Durchsetzung der Großmachtposition auf die Dauer nicht ausreichen. Die gesamte imperialistische und kolonialistische Propaganda der Agitationsverbände schöpfte aus diesem Zusammenhang ihre Argumente und war durchaus imstande, damit die Massen wirkungsvoll zu indoktrinieren50. Das Ziel der Erhaltung des gesellschaftlichen Status quo verlangte den Rückgriff auf die Sammlungsbewegung und damit auf das ihr inhärente Pro­ gramm vom Vorrang des inneren vor dem äußeren Markt, da nur so die objek­ tiv divergierenden Interessen von industrieller Expansion und agrarwirtschaft­ lichem Protektionismus unter einen Hut gebracht werden konnten; andererseits verschärfte sich gerade dadurch der Konflikt zwischen Schwer- und Verarbei­ tungsindustrie, wobei sich letztere immer stärker auf eigene Interessenverbände stützte, um ihre Ziele gegen den Machtblock des „Solidarprotektionismus“ bes­ ser durchsetzen zu können. Dieser doppelte Widerspruch war politisch nicht zu kanalisieren und nahm sowohl der „Weltpolitik“ wie der Sammlungsbewegung ihre gesellschaftspolitische Integrationsfähigkeit. Vielleicht erklärt er die Ag© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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gressivität, Konzeptionslosigkeit, Sprunghaftigkeit und Theatralik einer Poli­ tik, die damit nur ihre tiefe innere Unsicherheit und die Unbestimmtheit ihrer Ziele zu kompensieren suchte. 3, Ökonomische Grundlagen des informellen deutschen Imperialismus. Freilich:

auch an der Ökonomischen Medaille war nicht alles Gold, was glänzte. Als Folge des kapitalverschlingenden Wachstums gerade auch der kapitalintensiven technologischen Spitzenindustrien der „zweiten Industriellen Revolution“ blieb die Kapitaldecke zur Absicherung der äußeren Expansion immer dünn und brüchig. Im Vergleich zum britischen und französischen Imperialismus vor 1914 fiel dem deutschen Kapitalexport eine nur untergeordnete Rolle zu51. Den Zeitgenossen war klar, daß die Aufnahmefähigkeit des deutschen Finanzmark­ tes insbesondere für auswärtige Staatsanleihen angesichts der angespannten Kreditlage im Innern im Laufe der Jahre ständig zurückging52. Die ausländi­ schen Werte stellten selten mehr als 20 % des Gesamts der Emissionen dar (in Frankreich oft mehr als 70 % ) 5 3 . Man kann sich also sehr wohl fragen, ob die deutschen weltpolitischen Ambitionen überhaupt auf einer adäquaten Kapital­ basis beruhten, und in der Tat resultierten hieraus Schwierigkeiten, die sich in dem Maße verschärften, wie die internationalen Spannungen zunahmen und sich ökonomischer und politischer Nationalismus immer mehr deckten. In Zei­ ten der Krise schränkte die Schwache der monetären Disponibilitäten sogar den Aktionsspielraum der Regierung ein. Immerhin verstand es das deutsche Finanzkapital lange Zeit hindurch, aus der Not seiner quantitativen Schwäche eine Tugend zu machen, obwohl so manche Unternehmung jenseits der Grenzen wegen Kapitalmangel fallengelas­ sen werden mußte. Im Gegensatz zu Frankreich stellte sich das deutsche Bank­ kapital energisch in den Dienst von Außenhandel und industrieller Investition. Wenn es schon nicht in der Lage war, in zahlreichen Regionen der Welt die Führung bei der imperialistischen Durchdringung zu übernehmen (wie es eigent­ lich nur in Österreich-Ungarn und Rumänien der Fall war), so liierte es sich um so leichter mit dem auswärtigen Kapital, insbesondere dem französischen54. Zwischen 1908 und 1911 etwa, auf dem Höhepunkt der deutsch-französischen Kapitalkooperation, floß jährlich kurzfristiges französisches Kapital in Höhe von einer Milliarde Franken nach Deutschland, was dazu beitrug, Währungs­ spannungen zu mildern und die deutschen Bankoperationen in der Welt zu entwickeln. Da es von Anfang an ausgeschlossen war, das Hauptunternehmen des deutschen informellen Imperialismus, den Bau der Bagdadbahn, ausschließ­ lich mit deutschem Kapital zu finanzieren, griff man (nach einer Ablehnung durch Großbritannien und Rußland) auf französisches Kapital zurück, das auch bereitwillig in diese Kooperation einstieg, und zwar trotz des Widerstan­ des von Delcassé, der aber auch nur die Parität der deutschen und französischen Anteile durchgesetzt wissen wollte, also nicht grundsätzlich gegen diese Koope­ ration war55. In der Türkei kam es trotz mancher Spannungen und Rückschläge (1902—05) zu einer Art deutsch-französischen Arbeitsteilung: Während Frank© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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reich sein finanzielles Engagement verstärkte, baute Deutschland seinen kom­ merziellen und politischen Einfluß aus56. Auch in Mittel- und Südamerika arbei­ teten Pariser und Hamburger Banken zusammen. Gemeinsam wurden aus­ ländische Staatsanleihen übernommen (Türkei, Balkan, Amerika). Das ging so weit, daß die Türkei, aber auch Rußland und die Balkanstaaten mit fran­ zösischem Kapital deutsche Industriegüter und Waffen kauften. Als diese freilich immer partiell und punktuell bleibende deutsch-französische finanzielle Kooperation während der Agadir-Krise zusammenbrach (abgesehen von der gemeinsamen Konsolidierung der türkischen Staatsschuld 1914) und es zu einem Rückzug des kurzfristigen französischen Kapitals aus Deutschland kam, führte dies in Berlin zu einer schweren Finanzkrise, die nur mühsam mit Hilfe amerikanischen Kapitals überwunden werden konnte und die Zerbrech­ lichkeit der finanziellen Grundlage der „Weltpolitik“ wie auch die mangelhafte Vorbereitung des deutschen Kapitals auf den Krieg offenbarte57. Hier zeigte sich ein aus der Natur des „Solidarkartells“ resultierendes, die informelle Ex­ pansion hemmendes Element: Großagrarier und Schwerindustrie glaubten, auf die Hineinnahme größerer Mengen ausländischen Kapitals verzichten und sich auf eine weitgehend nationale Kapitalbildung stützen zu können (wobei im übrigen der Antisemitismus keine geringe Rolle spielte). So wurde Berlin kein wichtiger internationaler Finanzmarkt; die an der Effektenbörse notierten Werte gehörten selten zur internationalen Spitzenklasse. Seit 1911 isolierte sich das deutsche Banksystem zunehmend vom internationalen Kapital58. Nach den Balkankriegen geriet die deutsche Anleihepolitik in Südosteuropa und in der Türkei unter wachsenden britischen und französischen Konkurrenzdruck, dem sie sich kaum zu erwehren wußte und der langfristig auch die Bedeutung dieser Länder als Absatzmärkte bedrohen mußte59. In dieser manifesten Schwäche des deutschen Finanzkapitals lag wohl einer der Hauptgründe für den nun wieder stärker forcierten Übergang vom informellen zum formellen Imperialismus, was sich in verschiedenen Abkommen vor Ausbruch des Krieges über die Auf­ teilung von Interessensphären (Afrika, Türkei) widerspiegelte. Selbst der „Hansabund“ plädierte im Februar 1914 für eine Aufgabe der „Politik der offenen Tür“ und für den Erwerb von Kolonien als gesicherten Rohstoff- und Absatzgebieten60. Kennzeichnend für eine andere Strategie des deutschen Kapitalexports ist die Art, wie deutsche Bankiers das amerikanische Kapital unterstützten, ge­ wissermaßen als „Unterimperialismus“ fungierten und im Fall Mexikos (nach der Revolution) gegen die Politik des Auswärtigen Amtes die Interessen der USA, einschließlich einer möglichen Intervention gegen den Präsidenten Huer­ ta, befürworteten81. Man glaubte, auf diese Weise am besten einträgliche Ge­ schäfte zu machen, indem die Monroe-Doktrin auch in dieser Hinsicht akzep­ tiert wurde und man dafür als Gegenleistung den Schutz der USA, die ihrer­ seits ja auf fremdes Kapital angewiesen waren, erhielt62. „Am schwächsten blieb unter allen Sektoren des (deutschen) Kapitalismus in den Ansprüchen auf imperialistische Mittel für seine spezifischen Zwecke das Finanzkapital.“ 63 Es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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scheint, als ob dieses Urteil von Alfred Vagts nicht nur auf die deutsch-ameri­ kanischen Kapitalbeziehungen zugetroffen hat. Jedenfalls hat sich das deutsche Kapital, um aus seiner Isolierung herauszukommen, mit dem amerikanischen auch in Marokko und vor allem in C hina verbunden64. Die Beziehungen der deutschen Hochfinanz zum britischen Kapital, mit dem es zu einer Zusammen­ arbeit mit dem Ziel der Durchdringung der portugiesischen Kolonien kam65, waren bekanntermaßen sehr eng: ein Bankier wie Paul v. Schwabach besaß enge Kontakte zu britischen Kollegen (Rothschild) und Politikern (Sir C rowe) und bemühte sich zeit seines Lebens um eine deutsch-britische Annäherung. Sein Versuch, dem Bagdadbahn-Unternehmen durch die Beteiligung britischen und französischen Kapitals einen „internationalen Stempel“ aufzudrücken, scheiterte nicht am Widerstand der Londoner Finanzwelt, sondern am Veto der britischen Regierung66. Das alles hat wenig mit der vermeintlichen „Frie­ densliebe“ der deutschen Hochfinanz zu tun; unbestreitbar ist jedoch, daß er­ hebliche Teile aus dieser Gruppe mit der auf einem ambitiösen Flottenbau­ programm basierenden „Weltpolitik“ nur wenig sympathisierten und sie sogar offen ablehnten, nicht nur wegen der hohen Kosten, sondern eben wegen ihrer Abhängigkeit vom Londoner Finanzmarkt67. Eine weitere Schwäche des deutschen Kapitalexports im Gegensatz zum britischen und französischen ergab sich aus der ungünstigen Verteilung der Schuldnerländer, die die Instrumentalisierung des informellen Imperialismus für die Ziele der unmittelbaren Außenpolitik zumindest erschwerte (vgl. die Tabelle auf der nächsten Seite). Erst nach der Jahrhundertwende, akzentuiert dann nach 1911, wurden Kapitalexport und außenpolitisches Kalkül stärker koordiniert. Wegen der engen Symbiose mit der Exportindustrie entsprach die geographische Verteilung des Kapitalexports in großen Zügen der Absatzglie­ derung des Außenhandels, wobei für beide das eindeutige Übergewicht Europas bemerkenswert ist. 18 von 23 Mrd. Μ blieben in Europa, wenn man die Türkei hinzuzählt (andere Schwerpunkte: Österreich-Ungarn, Rußland, Rumänien)68; 1913 gingen 75,1 % der deutschen Kapitalausfuhr ( = 7,6 Mrd. M) ebenfalls nach Europa, und zwar 47,7 % ( = 4,8 Mrd. M) in die europäischen Industrie­ länder und 27,4 % ( = 2,8 Mrd. M) in die Agrarländer. Der Rest der Auslands­ anleihen verteilte sich in Übersee auf die USA, Mittel- und Lateinamerika, die britischen Kolonien und Dominien, Japan und C hina. Ähnlich die Ausfuhr (1913): Westliche Hemisphäre 15,3 % ( = 1,55 Mrd. M), Asien 6,4 % ( = 0,6 Mrd. M), Während sich der Anteil der Ausfuhr nach Übersee nur leicht erhöhte (1889 = 23 %; 1913 = 24 % ) , stieg der Anteil der Einfuhr aus Übersee von 21 % = 1889 auf 46 % = 1913. Insgesamt stieg die Einfuhr aus Europa in den letzten 25 Jahren vor Kriegsausbruch nur um 80 %, die Einfuhr aus Über­ see aber um 480 %. mit anderen Worten: Der Absatz vornehmlich von Fertig­ produkten in Europa beruhte je länger desto stärker auf außereuropäischer Ein­ fuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. An der Spitze der europäischen Ab­ satzmärkte aber standen, von Österreich-Ungarn abgesehen, sämtliche künftigen Feindländer: Rußland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ausländische Emissionen in Deutschland nach Schuldnerländern (in Mill. Mk.) a) bei Kriegsausbruch feindliche Länder

Großbritannen Kanada Rhodesien Rußland Finnland Japan Marokko Serbien Belgien zusammen

1897 bis 1906

1907 bis 1914

zusammen

6 153 — 3231 33 1290 — 152 2

60 666 61 1042 141 444 82 30 58

66 819 61 4273 174 1734 82 182 60 7451

b) verbündete Lander

Österreich Ungarn Bosnien Bulgarien Türkei zusammen

1897 bis 19C6

1907 bis 1914

zusammen

797 582 85 91 353

1090 1474 51 81 296

1887 2056 136 172 649 4900

c) bei Kriegsausbruch neutrale Länder

Niederlande Luxemburg Schweiz Dänemark Norwegen Schweden Spanien Portugal Italien Rumänien Vereinigte Staaten Kuba Domingo Süd- und Mittelamerika China Siam Liberia zusammen

1897 bis 1906

1907 bis 1914

zusammen

67 23 158 523 61 318 11 15 131 475 3842 147 — 789 366 — —

3 — 138 464 11 23 3 — 40 513 476 23 84 1278 348 61 7

70 23 296 987 72 341 14 15 171 988 4318 170 84 2067 714 61 7

Quelle: David, 38. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Italien. 1913 gingen 60 % des Exports in die Länder der Entente; 68,1 % des Imports kam aus ihnen. Nur 8,4 % des Imports kam aus den Ländern der Verbündeten, und nur 12,2 % des Exports gingen dorthin. Für den Entwick­ lungsstand der deutschen Industrie war entscheidend, daß sie sich in ihrer Außenhandelsverflechtung ebenfalls nach dem Grad der Industrialisierung ihrer Partner richten mußte, und gerade in dieser Hinsicht beruhte das deutsche Bündnissystem auf schwachen Füßen. Diese eindeutige Dominanz der europäischen Industrieländer und des sich im Industrialisierungsprozeß befindlichen Rußlands darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Wachstumsraten des deutschen Exports gerade auch nach Übersee insbesondere seit der Jahrhundertwende z. Τ. erheblich höher lagen als diejenigen des britischen Exports, vom französischen ganz zu schwei­ gen. Auf vielen Märkten verschärfte sich der Konkurrenzdruck der deutschen Waren, einschließlich innerhalb der britischen und französischen Kolonien. Anteil an der Wareneinfuhr der Türkei70 1887

1910

1887 in Mill. Pfd. England Deutschland Österreich-Ungarn Frankreich Italien insgesamt

in 8,8 5,2 5,3 2,9 2,9 25,1

6,2 0,6 1,3 1,9 0,3 10,3

1910

%

60 6 13 18 3

35 21 21 11,5 11,5 100

100

Deutsche Exporte in die afrikanischen Kolonien7 1910

1900

1900/10 in % 261 337 200 274

in Mill. M Deutsche Kolonien Britische Kolonien Französische Kolonien Portugiesische Kolonien

43,8 72,1 4,8 13,8

16,8 21,4 2,4 4,9

Außenhandel mit nichtkapitalistischen Ländern (in Mill. Μ.; Preise von 1900) Einfuhr Stand Großbritannien Deutschland USA Frankreich insgesamt

1900

1913

2180 600 500 1800 5080

3400 1460 950 2680 8490

Ausfuhr

Zunahme % 56 143,3 90 48,7 1'29

Stand 1900

1913

Zunahme %

2100 225 250 950 3525

3660 725 600 1520 6505

74,5 222,2 140 60 84,5

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Insbesondere zwischen Deutschland und Großbritannien entbrannte ein hei­ ßer Kampf um die nichtkapitalistischen Länder72: Von den vier Welthandelsnationen gelang es allein Deutschland, seinen Ex­ portanteil am Weltmarkt zu vergrößern. Eine genauere Untersuchung73 ergibt, daß der deutsche Export74 den britischen insbesondere zwischen 1908 und 1910 in Europa auf folgenden Märkten zu überholen begann: Rußland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Belgien, Holland, Italien; in Spanien, Portugal, der Türkei blieb der britische Export stärker, aber auch hier holte Deutschland ab 1910 auf: auf 9 von 13 Märkten (1890 = 4 von 13) erhielt der deutsche Export eine klare Präferenzstellung. Der Zeitpunkt war abzusehen, da Europa mehr in Deutschland als in England kaufen würde, wenn sich diese Entwicklung ungehemmt weiter vollziehen sollte. Seit Beginn des Jahrhunderts hatte sich Deutschland ein Quasi-Monopol für den Export von chemischen Produkten, elektrischen Maschinen und Präzisionsinstrumenten erkämpft: die moderne In­ dustriestruktur begann sich voll auszuwirken75. In dem Maße jedoch, wie sich das Gewicht der verarbeitenden, der C hemie- und Elektroindustrie und des sie stützenden Bankkapitals, d. h. der Branchen mit der höchsten Arbeitsproduk­ tivität, für die Weltmarktposition Deutschlands erhöhte, in dem Maße aber auch, wie diese Weltmarktposition selbst für die Entwicklung, ja vielleicht so­ gar das Überleben der deutschen Wirtschaft insgesamt von zentraler Bedeutung wurde, mußte der Konflikt mit der Wirtschafts- und Schutzzollpolitik des „Solidarkartells“ sich verschärfen. Er mußte sich schon an einem einfachen Punkt entzünden: an der Frage der Zölle auf Roheisen und Halbfertigwaren, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit der eisenverarbeitenden Industrie je länger desto empfindlicher schwächen mußten. Gleichzeitig verschärften sich die Bedingungen nach innen wie nach außen: Die Überlastung des Binnen­ marktes, die sinkende Tendenz der Reallöhne seit 1911/12 und das gleich­ zeitige Ansteigen der Lebenshaltungskosten zwangen zur weiteren Steigerung des Exports. Aber das erneute Anschwellen protektionistischer Bestrebungen im Ausland, die sich langsam durchsetzende einseitige Zollbegünstigung für ameri­ kanische Waren in Lateinamerika, die Verschärfung des ökonomischen Natio­ nalismus generell deuteten an, daß auf die Dauer der Exportexpansion Gren­ zen gesetzt sein würden76. Schwere Kämpfe um die handelspolitische Orientie­ rung und damit um die Funktion des informellen Imperialismus, ja letztlich um das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überhaupt wurden unvermeidbar und nur durch den Kriegsausbruch abgefangen, der, wie 193977, eine Flucht nach vorn aus einer Akkumulation unlösbarer Widersprüche gewesen ist. 4. „Mitteleuropa“ und/oder „Weltpolitik“ ? Die Natur dieser Widersprüche

und Interessengegensätze zwischen den einzelnen unterschiedlich entwickelten Sektoren der Gesamtwirtschaft, vor allem aber zwischen den einzelnen Bran­ chen der Industrie sowie deren Rückwirkung auf die Grundrichtung der impe­ rialistischen Expansionspolitik ist theoretisch nicht bewältigt und empirisch weitgehend unerforscht. Schon die „Zwei-Lager-Theorie“ — monopolisierte, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schutzzöllnerische Schwerindustrie hier, nichtmonopolisierte, freihändlerische Fertigindustrie78 dort — ist, wie selbst die neuere marxistische Forschung zu­ gibt79, in idealtypischer Form sicherlich nicht aufrechtzuerhalten, obwohl der Grundwiderspruch evident ist. Denn die Monopolisierung im Kohlenbergbau und das Dumping der Eisenkartelle wie auch alle anderen Formen des Ab­ walzens von Krisenverlusten gingen ohne Zweifel zu Lasten der auf den Export angewiesenen Fertigindustrie. Ebensowenig kann bezweifelt werden, daß nach der Jahrhundertwende, vor allem aber seit der Konjunkturkrise von 1907/08, im Kontext zunächst des Kampfes um den Bülowschen Zolltarif, dann der Neubildung der Sammlungsbewegung („Kartell der schaffenden Stände“ ) sich die Gegensätze verschärften. Die Gründung des „Handelsvertragsvereins“ 1900 und des „Hansabundes“ 1909 zeigten, daß die Gegner der Schwerindustrie nicht mehr bereit waren, sich der enormen organisatorischen, wirtschaftspoliti­ schen und schließlich gesamtgesellschaftlichen Macht des „Centralverbandes deut­ scher Industrieller“ (C dI) ohne weiteres zu beugen. C hemie und Elektroindu­ strie schienen nun klarer als früher ein Bündnis mit den Fertigfabrikanten einzugehen. Dennoch waren die Fronten nie fest abgesteckt; die Grenzen zwischen beiden Gruppen blieben verschwommen, was wohl nicht zuletzt daran lag, daß, wie Helga Nußbaum richtig sieht, die Fertigindustrie weniger geschlossen und kom­ pakt strukturiert war als die Schwerindustrie. Andererseits wuchs die wirt­ schaftliche Bedeutung der „leichten“ Industrie in dem Maße, wie sich der Export auf Qualitätswaren stützte. So sehr sich der C dI von der Masse der Fertig­ industrien isolierte angesichts der den Export behindernden Schwerindustrie­ monopole, so wenig vermochte der „Bund der Industriellen“ jene Machtstel­ lung zu erreichen, die der C dI innerhatte, nicht zuletzt aus außerökonomischen Gründen. Jedenfalls triumphierte der „Handelsvertragsverein“ (HVV) zu früh, wenn er im Januar 1914 erklärte, daß „durch die Entwicklung unserer Weltmarktbeziehungen die agrarische Wirtschaftspolitik immer stärker desa­ vouiert und auch im Reichstag die Vertretung der wirtschaftlich reaktionären Tendenzen noch weiter geschwächt wird, so daß in absehbarer Zeit die han­ delspolitischen Rückschrittler endgültig und gründlich zu Boden geworfen wer­ den können“80. Denn der HVV berücksichtigte in seiner Rechnung nicht das typisch deutsche Dilemma: daß das neue „Solidarkartell“ seine ökonomische Schwäche und reaktionäre Wirtschaftspolitik durch die immer enger werdende Symbiose mit den die klein- und mittelbürgerlichen Massen mobilisierenden nationalistischen und militaristischen Agitationsverbänden81 zu kompensieren verstand. Hier lag ja zugleich die neue Qualität des „Kartells“ im Vergleich zu seinen Vorgängern unter Bismarck und Miquel. Und schließlich unterschätzte der HVV die Geschlossenheit einer Gruppierung, die zwar seit dem Ende der 90er Jahre über eine Flut von eigenen Organisationen verfügte — vom „Schutzverband gegen agrarische Übergriffe“ (1896) über den „Bund der In­ dustriellen“ (1895), den „Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein“ (1904), den „Hansabund“ , den schon älteren „Deutschen Handelstag“ , dem „Verband der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Exporteure“ bis zu den zahllosen Vereinigungen zur Förderung bilateraler Handelsbeziehungen mit ihren Verbindungen zu mächtigen Banken —, aber niemals eine Einheitsfront darstellte, weder im Hinblick auf ihre zoll- und wirtschaftspolitischen, noch ihre allgemeinpolitischen Vorstellungen. Dennoch vertiefte sich der Grundwiderspruch bis zu einer regelrechten Polarisierung82. Hat diese sozialökonomische Konfliktssituation die spezifische Form des deut­ schen Imperialismus geprägt oder zumindest mitgeprägt83? Hatte die auffal­ lende Diskrepanz zwischen der Dynamik der informellen Expansion einerseits und der sichtbaren Unfähigkeit der Regierenden andererseits, sie in politische Erfolge umzumünzen, in diesem sozialökonomischen, aus dem unterschiedlichen Niveau der Entwicklung wie zugleich der halbfeudalen Gesellschaftsstruktur resultierenden Konflikt ihre Ursache? Verhinderte er überhaupt die Heraus­ kristallisierung klarer politischer und ökonomischer Zielvorstellungen? Begnügte sich die herrschende Klasse damit, die Expansion ausschließlich in ihrer innen­ politischen Funktion als Instrument zur gesellschaftlichen Stabilisierung zu se­ hen, eine Funktion, die der Grundwiderspruch innerhalb der herrschenden Klasse selber zunichte zu machen drohte? Aber schon die Vorfrage, ob dieser Imperialismus eher eine kontinentaleuropäische oder eine überseeische Stoß­ richtung erhalten sollte, blieb unbeantwortet84. Wer stützte und wem nützte die immer wieder mit großer publizistischer Verve vorgetragene Idee eines engeren zollpolitischen Zusammenschlusses Mitteleuropas als spezifisch deutschem Weg zur Erringung eines Weltreichs gegen die bereits bestehenden Großräume USA, britisches Empire und Rußland („Drei-Weltreiche-Theorie“ ) 8 5 — geradezu ein Topos deutschen imperialistischen Denkens bei Wirtschaftsführern, Politikern wie innerhalb der Ministerialbürokratie? War die Mitteleuropaideologie nur ein Surrogat für die Sackgassen, in die die „Weltpolitik“ zunehmend geriet? Der Umstand, daß sie in den unterschiedlichsten Variationen auftauchte (vom Zollbund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn über einen umfassen­ deren Zollverein zu mehr als Einflußzonen gedachten Ökonomischen Großräu­ men mit politischer Hegemonialstellung à la „Helgoland bis Persischer Golf“ oder „Berlin—Bagdad“ usw.), scheint diese Vermutung zu bestätigen. Immerhin sah es so aus, als würde ganz konsequenterweise die C aprivische Handelsvertragspolitik und die sie tragenden, eher freihändlerisch eingestellten Gruppen (BdI), zu denen freilich auch Teile der Schwerindustrie stießen, für den Vorrang einer mittel- und südosteuropäischen Orientierung des deutschen informellen Imperialismus optieren86. Die Tatsache, daß der russische Markt für die Schwerindustrie wichtiger war87, stand dem zunächst ja nicht entgegen. Tatsächlich war bei der Gründung des „Deutsch-Österreich-Ungarischen Wirt­ schaftsverbandes“ (September 1913) die Schwerindustrie kaum vertreten; in diesem Verband dominierten BdI, „Hansabund“ , Bankinteressen und HVV. Dafür war der „Mitteleuropäische Wirtschaftsverein“ , der auch enge personelle Bindungen zum „Alldeutschen Verband“ besaß, eine Domäne der Schwerindu­ strie. Mit der Zeit scheinen sich die Schwerpunkte verlagert zu haben: In dem Maße, wie die Weltmarktorientierung voranschritt, liebäugelten die Schwer33 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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industriellen mit der Mitteleuropaidee. Ganz sicher hat sie auch, nachdem der „Alldeutsche Verband“ sie, nun massiv mit völkischen, rassischen, darwinisti­ schen und annexionistischen Elementen aufgeladen, in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch stärker als die überseeisch orientierte Weltpolitik in ihrer Pro­ paganda herausstellte88, als Integrationsklammer für das nicht gerade auf fe­ stem Boden stehende „Kartell der schaffenden Stande“ herhalten müssen. Ohne Frage lag diese Position dann einem bereits wieder zum formellen Imperialis­ mus mit klar autarkistischen und neomerkantilistischen Tendenzen umschlagen­ den Expansionismus naher, der über die Kriegszieldiskussion in die 30er Jahre hineinführt. Einer solchen, bereits intensiv in der Öffentlichkeit diskutierten Vorstellung aber mußten sich erhebliche Teile der Fertig-, C hemie- und Elektroindustrie zwangsläufig widersetzen, schon weil sie für ihre Produkte auf die Absatz­ märkte der Industriestaaten angewiesen waren und weil, wie es Gwinner 1915 formulierte89, mit der Einräumung von Vorzugszöllen an die nächsten Ver­ bündeten (oder Satelliten), erst recht mit der Schaffung eines geschlossenen Zoll­ gebiets das Risiko verbunden war, den Weltmarkt zu verlieren durch negative Auswirkungen auf künftige Zollverhandlungen. Der Gedanke, „Mitteleuropa“ , in welcher Form immer, könnte eines Tages den Weltmarkt ersetzen, war für sie inakzeptabel. Dieser alte Grundwiderspruch in neuem Gewande wurde dadurch verschleiert, daß die Mitteleuropaideologie in ihrer zunächst noch am­ bivalenten, vagen und fast unverbindlichen Form (erst während des Krieges erhielt sie klarere Umrisse) den in so vielfacher Hinsicht außenpolitisch fru­ strierten Deutschen, wo immer sie politisch standen, eine Ersatzbefriedigung lieferte: den reaktionären Nationalisten, die vom „größeren Deutschland“ träumten, ebenso wie den liberalen Internationalisten, die an die Vereinigten Staaten von Europa dachten — eine diffuse Ideologie90, die vornehmlich zur Indoktrinierung der Mittelklassen bestimmt war und ihnen, ähnlich der fran­ zösischen Bourgeoisie mit Hilfe des immensen Kolonialreichs, über den be­ herrschten Großraum ein Gefühl der Sicherheit vermitteln sollte. Es war klar, daß über „Mitteleuropa“ (einschließlich der Ukraine) das deutsche Gesellschafts­ und Herrschaftssystem am besten zu konservieren war. Damit tauchte sofort ein neues Dilemma auf, das die sog. „liberalen“ Impe­ rialisten (Rohrbach, Jäckh, Max Weber, Friedrich Naumann u. a.) auch klar durchschauten: Der informelle, ökonomische Imperialismus, der dem Entwick­ lungsstand der deutschen Wirtschaft auf die Dauer allein adäquat erschien, war auf der Grundlage eines halbfeudalen Gesellschaftssystems nicht durchzuhal­ ten. So war der Imperialismus für sie ein Mittel, die verkrusteten und anachro­ nistischen gesellschaftlichen und politischen Strukturen aufzubrechen im Sinne einer Parlamentarisierung, von der naturgemäß die ökonomisch „fortschritt­ lichen“ Fraktionen der Bourgeoisie profitieren mußten. Sie plädierten dem­ entsprechend für eine Öffnung nach „links“ , sogar unter Einschluß einer für einen „gesunden“ , d. h. informellen Imperialismus gewonnenen Sozialdemokra­ tie91. Dies war, nur in perfektionierter Form und unter ökonomisch günstigeren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Voraussetzungen, die zu Ende gedachte C aprivische Alternative, die aber 1914 ebenso wie 1890 mit systemimmanenten Mitteln nicht zu erreichen war. Natürlich war die „Weltpolitik“ „der Versuch, die überkommenen Gegen­ sätze des Bismarckreiches zwischen den Vertretern einer weltweiten, imperiali­ stischen Überseepolitik und denen einer Beschränkung auf die Sicherung und den Ausbau der Stellung Deutschlands auf dem Kontinent zu versöhnen“ 92. Aber ihre widersprüchliche sozialökonomische Basis trug nur dazu bei, die in ihr ohnehin schon angelegten politischen Zielkonflikte noch zu vervielfältigen. Flottenbau, Sammlungs- und „Weltpolitik“ erwiesen sich nicht als integrierende, sondern als desintegrierende Instrumente einer herrschenden Klasse, die weder in der Lage war, das unter Bülow noch das unter Bethmann Hollweg prakti­ zierte Modell von „Weltpolitik“ zu realisieren. Bülow versuchte, imperiali­ stische Machtausdehnung und den Flottenbau als deren Voraussetzung auf dem Wege über eine Annäherung an Rußland bei gleichzeitiger Beibehaltung des Gegensatzes zu Großbritannien zu erreichen93. Es ging also um eine Verbreite­ rung der kontinentaleuropäischen Ausgangsbasis, was während der sog. „Ge­ fahrenzone“ im Verlauf der Durchführung des Flottenbauprogramms auch ganz naheliegend war. Diese Politik scheiterte bezeichnenderweise einmal dar­ an, daß Rußland nach dem Krieg mit Japan und dem in seinem Gefolge abge­ schlossenen Handelsvertrag mit Deutschland zunehmend die ökonomische Durchdringung des Balkans wie seines eigenen Marktes durch deutsche Indu­ strieprodukte als Bedrohung seiner Unabhängigkeit empfand und daher als Gegengewicht nicht nur ein Bündnis mit Berlin ablehnte, sondern sich stärker an Frankreich und später sogar Großbritannien band94. Trotz oder besser: Gerade wegen der deutschen ökonomischen Machtstellung konnte es weder damals noch später gelingen, das Gewicht und die Rolle Rußlands in diesem Konzept von „Weltpolitik“ zu definieren95. Informeller Imperialismus und politische An­ näherung an Rußland schlossen sich aus. Bülow scheiterte aber auch an den widersprüchlichen innenpolitischen Kräf­ ten. Waren die Interessengegensätze zwischen Schwerindustrie und Großagra­ riern mit Hilfe eines Zollkompromisses auch mühsam (und nicht auf Dauer) überwunden worden, so opponierten alle jene Kräfte, die auf den Flottenbau als Ausgangspunkt der „Weltpolitik“ setzten (Marineführung), gegen eine An­ näherung an Rußland, weil sie damit eine Abwertung ihrer Weltgeltungs­ strategie befürchteten. Diese Kräfte waren so stark, daß der nach Ausbruch des russisch-japanischen Krieges stattfindende Machtkampf zwischen Kontinental­ und Weltpolitikern zugunsten der letzteren entschieden wurde, ohne daß frei­ lich zugleich ein Durchhalten der Flottenrivalität mit Großbritannien zu er­ reichen war, wie ab 1908/09 nicht nur der „Dreadnought-Sprung“ , sondern auch die mangelnde Finanzkraft lehrte, die ihrerseits nur hätte erhöht werden können mit Hilfe einer Steuerreform, die nun wiederum durch eine damit ver­ bundene Neuverteilung des Volkseinkommens den Großgrundbesitz belasten und damit die wirtschaftliche und soziale Stellung der Großagrarier bedrohen mußte. Schließlich wandten sich weite Teile der vom Freisinn vertretenen Elek33*

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tro-, Maschinenbau- und C hemieindustrie, des Großhandels (insbesondere die Kaufmannschaften von Hamburg und Bremen mit ihren grundsätzlich anglo­ philen Einstellungen) sowie Teile des Bankkapitals vom Flottenbau, den sie zunächst begrüßt hatten, ab, als sich zeigte, daß er weder ein Mittel zur Erobe­ rung der Weltmärkte (die Flotte sollte ja im Nordseeraum konzentriert sein) noch zur Bekämpfung des preußischen Agrarismus darstellte96. Ganz im Gegen­ teil: Als Ergebnis der Sammlung kam nur wieder eine neue Schutzzollpolitik heraus97; insbesondere der Großhandel hatte den Eindruck, die Zeche zu be­ zahlen. Mit wachsender Enttäuschung registrierte man, daß Tirpitz ausschließ­ lich in machtpolitischen und neomerkantilistischen Kategorien dachte, die mit wirtschaftlichen Argumenten nur verbrämt wurden98. Obwohl vielen der ir­ rationale C harakter der Flottenbaupolitik klar war, kam es zu keiner grund­ sätzlichen Revision vornehmlich aus innenpolitischen Gründen, so daß der Ver­ such Bethmann Hollwegs, über eine wenigstens punktuelle Annäherung an Großbritannien (Abkommen über Afrika und die Türkei) die Widersprüche der „Weltpolitik“ etwas zu mildern, scheitern mußte. Ein Vergleich mit Frankreich zeigt hinsichtlich sowohl der sozialökonomi­ schen Prämissen wie der politischen Resultate zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Imperialismus. Aufgrund seiner schwachen Ökonomischen Ausgangs­ lage, die Frankreichs Anteil am Weltmarkt ständig zugunsten der drei ökono­ mischen Großmächte Deutschland, USA und Großbritannien zurückgehen ließ, praktizierte man unter dem Primat des Politischen einen formellen Imperialis­ mus99. Das immense Kolonialreich besaß für die Metropole einen nur margina­ len Ökonomischen Wert im Hinblick auf die Handelsbeziehungen. Dafür fiel ihm eine prophylaktische Funktion zu als territoriales (und in der Zukunft vielleicht auch ökonomisch relevantes) „Sicherheitspolster“ für eine stagnierende Bevölkerung ohne wirkliches imperialistisches Bewußtsein. Dies traf nicht für Frankreichs starke Seite zu: den Kapitalexport, der aber in einem größeren Umfang als in Deutschland den außenpolitischen Interessen untergeordnet wer­ den konnte. Von diesem Kapitalexport, der auch quantitativ dem deutschen überlegen war, profitierten breite Schichten der Klein- und Mittelbourgeoisie, die zugleich das politische System trugen. Sicherheit und Profit (allerdings im Sinne eines Rentnerdaseins) trugen mithin zur kurzfristigen Stabilisierung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung bei, was freilich mit einer Perpetuie­ rung des ökonomischen Rückstandes bezahlt werden mußte. Da die daraus sich eines Tages mit Gewißheit ergebenen Nachteile unmittelbar nicht wirksam wurden und auch nicht ins Bewußtsein traten, förderte der Imperialismus zu­ nächst die Kongruenz von gesellschaftlichem und politischem System und legte damit die Grundlagen einer kontinuierlichen, auf klaren Zielvorstellungen und in Anwendung adäquater Mittel beruhenden Politik, vornehmlich in Europa. Ganz anders Deutschland: Für einen informellen Imperialismus, wie er allein der ökonomischen Entwicklung angepaßt war, gab es keine homogene sozial­ ökonomische Ausgangsposition, gleichgültig ob es sich um eine eher kontinental­ europäische Hegemonie in einem zollmäßig irgendwie „gesonderten“ Raum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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handelte oder um eine weltweite, wesentlich ökonomisch motivierte Expansion, die sich auf die Eroberung des Weltmarktes konzentrierte. Die Widersprüche siedelten sich dabei auf mehreren, sich verschränkenden Ebenen an, wobei der Hauptwiderspruch aufbrach zwischen den am meisten entwickelten Sektoren der Wirtschaft mit einem geringen gesamtgesellschaftlichen und innenpolitischen Gewicht einerseits und den weniger entwickelten, aber gesamtgesellschaftlich und innenpolitisch dominierenden Sektoren andererseits. Der Versuch, alle „Besitzen­ den“ in einer Einheitsfront gegen die bei den Reichstagswahlen immer erfolgrei­ cheren Sozialdemokraten zusammenzuschweißen und die lebensbedrohenden Wi­ dersprüche innerhalb dieser Klasse der „Besitzenden“ durch Imperialismus, Flot­ tenbau, Militarismus sowie eine massive Indoktrination der Mittelklassen mit Hilfe einer chauvinistischen Ideologie zu überbrücken, vermochte die objektiven ökonomischen Widersprüche nicht nur nicht zu überwinden, sondern verschärfte sie noch, weil gerade die Aufrechterhaltung einer halbfeudalen Ordnung à tout prix den Widerstand der dynamischen Sektoren verstärken mußte, was die Annäherungsversuche einiger Gruppen aus diesem Sektor (besonders in Süd­ westdeutschland) an die SPD anläßlich der Wahlen von 1912 erklären hilft. Gerade die imperialistische Politik offenbarte diese Strukturdefekte mit über­ großer Deutlichkeit, weil sich die Unvereinbarkeiten divergierender Zielvor­ stellungen aufgrund der inneren Gegensätze durch den Zusammenstoß mit der internationalen Realität noch potenzierten. Diese Politik blieb ein Torso, indem sie ein Höchstmaß an Konflikten verband mit einem Minimum an Erfolgen100. Diese Diskrepanz zwischen ökonomischen Erfolgen, die allerdings, wie die Kon­ junkturkrise von 1912/13 und die wachsenden Schwierigkeiten auf dem Welt­ markt zeigten, bereits von schweren Schatten überlagert waren und in der Öffentlichkeit düstere Prophezeiungen für die Zukunft provozierten, und eines aus dem „Versagen“ der politischen Führung abgeleiteten Gefühls weltpoliti­ scher „Benachteiligung“ bildeten genau den Humus, auf dem die ideologische Indoktrination ihre wildesten Blüten treiben konnte101. So bestätigt sich das Urteil Hallgartens: „Indem der deutsche Kapitalismus und Imperialismus die Erde ausbeutete, verlor er langsam aber sicher zu Hause den Boden unter den Füßen.“ 102

Anmerkungen 1 Vgl. die freilich schon überholte Bibliographie in H.-U. Wehler Hg., Imperialis­ mus, Köln 1970, 443—59. 2 C . C oquery-Vidrovitch, De l'impérialisme ancien à l'impérialisme moderne. L'ava tar colonial, in: A. Abdel-Malek Hg., Sociologie de l'impérialisme, Paris 1971, 73 f. 3 Für viele Autoren bes. kraß R. Robinson u. J . Gallagher, Africa and the Victo­ rians. The Official Mind of Imperialism, London 1961, Einleitung. 4 H.-U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918, Göttinnen 1973, 171 f. 5 So u. v. a. T. Schieder, in: ders. Hg., Handbuch der europäischen Geschichte, 6, Stuttgart 1968, 80—85. 8 Vgl. etwa W. J . Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt 1969.

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7 H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: I. Geiss u. B. J . Wendt Hg., Deutschland in der Weltpolitik des 19. u. 20. Jahrhunderts, Düs­ seldorf 1973, 133—42 (mit einer Unterschätzung der darwinistischen Elemente im deutschen Imperialismus vor 1914). 8 So die Marxistin S. de Brunhoff in ihrer Antwort auf A. Emmanuel, Le colonia­ lisme des „poor-whites“ et le mythe de l'impérialisme d'investissement?, L'Homme et la Société, 22. Okt.—Dez. 1971, 93. 9 Nicht zufällig steht im Mittelpunkt der gegenwärtigen neomarxistischen Ausein­ andersetzung die Frage nach der Wirksamkeit des Wertgesetzes, d. h. der Existenz einer durchschnittlichen Profitrate, im internationalen Bereich — eine Frage, die völlig kon­ trovers beantwortet wird. Auf die theoretischen Implikationen kann in diesem Zusam­ menhang nicht eingegangen werden. Für die unterschiedlichen Positionen vgl. C . Neu­ süss, Imperialismus u. Weltmarktbewegung des Kapitals, Erlangen 1972; V. Brandes, Die Krise des Imperialismus, Frankfurt 1973. 10 Diese Kritik findet sich auch bei Neomarxisten, vgl. C . Palloix, Die Imperialis­ musfrage bei Lenin u. R. Luxemburg, in: S. Amin u. C . Palloix, Neuere Beiträge zur Imperialismustheorie, 1, München 1971, 73. 11 E. Varga, Die Krise des Kapitalismus u. ihre politischen Folgen, Hg. E. Altvater, Frankfurt 1969, 24 f. 12 C . Brinkmann, Weltpolitik u. Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert, Weltwirtschaft­ liches Archiv 16. 1920/21, 191. 13 Richtig gesehen von H. Pogge—v. Strandmann, Rathenau, die Gebrüder Mannes­ mann u. die Vorgeschichte der Zweiten Marokkokrise, in: Geiss/Wendt, 252. 14 Schieder, 83 f. Ebenso J . Gumpert, Erscheinungsformen u. Wesen des Imperialis­ mus, Schmollers Jahrbuch 74. 1954. 15 Vgl. F. Perroux, Entwurf einer Theorie der dominierenden Wirtschaft, Zeitschrift für Nationalökonomie 13. 1952; ders., ,Indépendance' de l'économie nationale et in­ terdépendance des nations, Paris 1969; L. Köllner, Stand u. Zukunft der Imperialis­ mustheorie, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 11. 1960, 117 f. 16 Über die hemmenden Auswirkungen des britischen Freihandels zwischen 1860 und 1880 auf den Industrialisierungsprozeß in Frankreich vgl. sehr aufschlußreich P. Bai­ roch, C ommerce extérieur et développement économique. Quelques enseignements de l'expérience libre-échangiste de la France au XIXe siècle, Revue économique, Jan. 1970. 17 Die britischen Kapitalanlagen im Ausland vor 1914 wuchsen am meisten in Län­ dern mit folgender Reihenfolge an: 1. Lateinamerika, 2. China, 3. Indien, 4. Südafrika, afrikanische Kronkolonien, Ägypten, Sudan, 5. Ostindien, 6. Australien, 7. Mexiko, 8. USA, 9. Europa, 10. Japan, 11. Philippinen, 12. Kanada. Vgl. P. Price, Die euro­ päischen Wirtschaftsprobleme vor u. nach dem Kriege, Berlin 1929, 58 f. Genaues Ma­ terial in G. S. Graham, Imperial Finance. Trade and C ommunications, 1895—1914, in: The C ambridge History of the British Empire, III, 1967; Μ. Simon, The Pattern of New British Portfolio Investment, 1865—1914, in: J . H. Adler Hg., Capital Move­ ments and Economic Development, London 1967. 18 Da die deutsche Forschung die politische Ökonomie des Imperialismus vor 1914 unter besonderer Berücksichtigung der Weltmarktproblematik (detaillierte Analyse der Auslandsanlagen; Entwicklung, Struktur, geographische Verteilung des Außenhandels usw.) völlig vernachlässigt hat, seien hier die neueren Arbeiten der internationalen Forschung zu diesem Thema (unter besonderer Berücksichtigung des britischen Imperia­ lismus) eingehender zitiert, als es der Aufsatz verlangt: M. de C ecco, Economia e finanza internationale dal 1890 al 1914, Bari 1971; Auszüge in: E. Krippendorff Hg., Internationale Beziehungen, Köln 1973, 56—76; A. L. Levine, Industrial Retardation in Britain, 1880—1914, Ν. Y. 1967; S. Β. Saul, The Myth of the G reat Depression, London 1969; A. Maizels, Industrial G rowth and World Trade, Cambridge 1963; W.

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Schlote, British Overseas Trade from 1700 to the 1930's, Oxford 1952; D. H. Ald­ croft Hg., The Development of British Industry and Foreign C ompetition 1875—1914, London 1968; A. K. C airncross, Home and Foreign Investment, 1870—1913, C am­ bridge 1953; F. C rouzet, C ommerce et Empire: l'expérience britannique du libre­ échange à la première guerre mondiale, Annales Ε. S. C., März—April 1964, 281—310; A. H. Imlath, Economic Elements in the Pax Britannica, C ambridge/Mass. 1958; ders., British Balance of Payments and Export of C apital 1816—1913, Economic History Review 5. 1952, 237—39; S. B. Saul, Studies in British Overseas Trade, 1870—1914, Liverpool 1960; J . Strachy, End of Empire, London 1961. 19 C oquery-Vidrovitch, 100. 20 A. D. Gayer, Monetary Policy and Stabilisation, London 1935, 29 f. A. Emmanuel hat in seinem Artikel (Anm. 8) freilich nachzuweisen versucht, daß es sich bei den britischen Auslandsinvestitionen im wesentlichen nicht um neu gebildetes, „frisches“ Kapital, sondern um Reinvestitionen auf der Grundlage realisierter Profite gehandelt hat. Das würde zwar Lenins These vom „Rentnerkapitalismus“ z. T. auch für Groß­ britannien bestätigen, aber seine Auffassung vom „Primat“ des Kapitalexports als Kennzeichen des Hochimperialismus erschüttern, was Emmanual mit seinem Aufsatz auch ausdrücklich anstrebt. 21 Vgl. F. Somary, Wandlungen der Weltwirtschaft seit dem Weltkriege, Tübingen 1919, 10. 22 Vgl. dazu die sonst entäuschende Arbeit von G. Lichtheim, Imperialism, London 1971, Kap. IV u. V. Bezeichnenderweise haben die USA, sobald sie die industrielle und technologische Führungsstellung in der Weltwirtschaft erreicht hatten, genau die gleiche Position bezogen. 23 De C ecco, 65, 74. 24 M. Nachimson, Imperialismus u. Handelskriege, Bern 1917, 68. 25 C oquery-Vidrovitch, 109. 26 Ansatzweise bei G. H. Nadel u. P. C urtis Hg., Imperialism and C olonialism, Ν. Y. 1964. 27 Eine differenzierte Aufteilung der „Halbkolonien“ nach ökonomischen Gesichts­ punkten versucht z. B. Price (51). Neben den „alten“ (England, Holland) und „neuen“ (USA, Frankreich, Deutschland, Belgien) Gebieten der Kapitalansammlung unterschei­ det er: „C ) Gebiete mit heimischer Kapitalansammlung in der Industrie, mit großen unentwickelten landwirtschaftlichen Gebieten; fremdes Kapital ist entweder in Staats­ anleihen oder in Industrickonzessionen angelegt: Kanada, Argentinien, C hile, Teile Brasiliens, Australiens, Südafrika, Japan, Spanien, Italien, Griechenland. D) Gebiete heimischer Kapitalansammlung im lokalen Handel und in der Landwirtschaft; große unentwickelte landwirtschaftliche Gebiete. Industrien und Staatsanleihen hauptsächlich in Händen von Ausländern: Balkan, Rußland, Indien, Ostindien, Malaya, C hina (Ver­ tragshäfen und Konzessionsgebiete), Mexiko, Ostafrika, Ägypten. E) Keine heimischen Kapitalansammlungen, lokale Industrien ausschließlich mit Handarbeit; primitiver Ak­ kerbau, zumeist keine größeren Industrien und Eisenbahnen; verschuldete Regierungen: Türkei, Zentralasien, Persien, C hina (Hinterland), Teile Brasiliens, Zentral- und West­ afrika, Syrien, Mesopotamien, Indochina.“ Die hier angeführten Kriterien für Unter­ entwicklung sind sicherlich anfechtbar, ebenso die daraus gewonnene Systematisierung. Aber die Richtung stimmt: die Erstellung einer gestuften Hierarchie der Weltwirt­ schaft, um auf diese Weise Grade und Intensitäten der Abhängigkeit zu ermitteln. 28 Das ist die Hauptthese in dem Aufsatz von C oquery-Vidrovitch. Die Autorin gehört zu den besten Kennern des französischen Kolonialismus. Vgl. ihre grundlegende These: Le C ongo français au temps des grandes C ompagnies concessionnaires, 1898 bis 1930. Paris 1973. Ihre Argumentation läuft ähnlich wie die von mir entwickelte, vgl. G. Ziebura, Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus vor 1914. Ver­ such einer gesamtgesellschaftlichen Analyse, in: W. J . Mommsen Hg., Der moderne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Imperialismus, Stuttgart 1971, 85—139. Ähnlich auch Emmanuel. Dies führt zu gewis­ sen Thesen von J . Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen, Archiv für Sozial­ wissenschaft, 46. 1920, 1—39, 275—310, der den Imperialismus (allerdings nicht unter­ schieden vom Kolonialismus) als eine Art atavistisch-militärisch-feudalistische Störung der im Grunde rationalen und damit friedfertigen kapitalistischen Entwicklung sei. Der Irrtum Schumpeters liegt in der Idealisierung der kapitalistischen Produktions­ weise, die alles andere als rational verläuft. Im Hinblick auf den Kolonialismus aber enthalten die Auffassungen Schumpeters ein Korn Wahrheit. 29 Ausgenommen Belgisch-Kongo, Rhodesien und Südafrika wegen der dortigen Bo­ denschätze. 30 Hobson (Imperialism, 1902) hat bereits auf den grundlegenden Unterschied zwi­ schen Kolonialismus und Imperialismus hingewiesen. 31 Der enorme Einfluß E. Kehrs, der völlig zu Recht besteht, darf jedoch nicht über die auch bei diesem genialen Wissenschaftler bestehenden theoretischen Grenzen hin­ wegtäuschen. Erste Kritik bei H.-U. Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1870—1918, Göttingen 1970, 261 f., 277 ff.; E. Böhm, Überseehandel u. Flottenbau. Hanseatische Kaufmannschaft u. deutsche Seerüstung 1879—1902, Düsseldorf 1972, 10. Auch dieser Aufsatz ist ein Versuch, über Kehr hinauszukommen. 82 H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723, 115—26. Ähnliche Standpunkte bei F. Fischer, D. Stegmann, K. Wernicke, J . C . G. Röhl, H. Böhme, P. C . Witt, D. Groh, H. Kaelble, H.-J. Puhle, M. Stürmer, H.-C . Schröder, V. R. Berghahn. 33 H. Böhme, Thesen zur Beurteilung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen u. poli­ tischen Ursachen des deutschen Imperialismus, in: Mommsen Hg., 49. 54 Wehler, Das deutsche Kaiserreich, 172. 35 H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967, 261. 38 Neben vielen Belegen vgl. Böhme, 40—44. 37 Vgl. E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964. 38 Die durchschnittliche Steigerung des Exports betrug zwischen 1872 und 1879 = 107 Mill. Μ jährlich; zwischen 1880 und 1891 = 86 Mill. Μ. Durchschnittliche Stei­ gerung des Imports: 1872 und 1879 = 61 Mill. Μ jährlich; 1880 und 1891 = 43 Mill. Μ. Β. Harms, Die Zukunft der deutschen Handelspolitik im Rahmen des Neuaufbaus der deutschen Volkswirtschaft u. ihrer weltwirtschaftlichen Beziehungen, Jena 1925, 8 f. Im Fall Marokkos etwa hat P. G uillen, L'Allemagne et le Maroc de 1870 à 1905, Paris 1967, sehr detailliert nachgewiesen, daß der deutsche Export dorthin erst Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre stattgefunden hat, dann sehr zügig voranschritt, so daß die deutschen Handelsinteressen um die Jahrhundertwende etwa denen Frankreichs und Großbritanniens gleichkamen. 39 Ausführlich dazu H.-U. Wehler, Bismarcks Imperialismus u. späte Rußlandpolitik unter dem Primat der Innenpolitik, in: M. Stürmer Hg., Das kaiserliche Deutsch­ land. Politik u. Gesellschaft 1870—1918, Düsseldorf 1970, 235—64. 40 D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897—1918, Köln 1970, 106. Vgl. auch G. W. F. Hallgarten, War Bismarck ein Imperialist? Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5. 1971, 261, der Wehler freilich völlig mißverstanden hat. 41 Nach der Entwicklung des Nettoinlandprodukts (Preise von 1913) überholten Industrie und Handwerk die Landwirtschaft 1890/94. Zahlen bei W. G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jhdts, Berlin 1965, S. 33. 42 Jährlicher Durchschnitt zwischen 1872 und 1879 = 54 081; zwischen 1880 und 1891 = 131 623. Vgl. Harms, 14. 43 Vgl. den häufig zitierten Satz aus der Reichstagsrede C aprivis vom 10. Dez. 1891: „Entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben.“ 44 Zum folgenden D. Stegmann, Wirtschaft u. Politik nach Bismarcks Sturz. Zur Genesis der Miquelschen Sammlungsbewegung 1890—1897, in: Geiss/Wendt, 163 ff.; vgl. auch Harms, 9—20; R. Ibbeken, Das außenpolitische Problem Staat u. Wirtschaft in der deutschen Reichspolitik 1880—1914, Schleswig 1928; W. Lotz, Die Handels­ politik des Deutschen Reiches unter C aprivi u. Fürst Hohenlohe 1890—1900, Leipzig 1901. 45 Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, 124 ff. Aber Wehler sieht deutlich die Problematik, wenn er schreibt: „In diesem Sinn ist der hier skizzierte Dissensus ganz unstreitig von grundlegender Bedeutung.“ Sie wird jedoch nicht weiter verfolgt. 46 Böhme, in: Mommsen Hg., 50. 47 Gut gesehen von A. Hillgruber, Zwischen Hegemonie u. Weltpolitik. Das Problem der Kontinuität von Bismarck bis Bethmann Hollweg, in: Stürmer Hg., 199. 48 Das ist die Hauptthese von Guillen. 49 Böhme, in: Mommsen Hg., 51. 50 Vgl. neben zahllosen anderen Äußerungen E. Hasse, Weltpolitik, Imperialismus u. Kolonialpolitik, Berlin 1908, 46—67. Als Schlußfolgerung wird dann auf die Not­ wendigkeit eines „geschlossenen Weltwirtschaftsraums“ unter deutscher Führung ver­ wiesen. 51 Mangels einer modernen sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügenden Ar­ beit sei verwiesen auf K. Helfferich, Deutschlands Volkswohlstand 1888—1917, Berlin (1913) 19172; H. David, Das deutsche Auslandskapital u. seine Wiederherstellung nach dem Kriege, Weltwirtschaftliches Archiv 14. 1919, 31—70; F. Lenz, Wesen u. Struktur des deutschen Kapitalexports vor 1914, ebd., 18. 1922, 42—54; H. Feis, Europe, The World's Banker 1870—1914, New Haven (1930) 1961 2 ; R. Poidevin, Finances et rela­ tions internationales 1887—1914, Paris 1970; C airncross; A. Raffalovitch, Les place­ ments des capitalistes allemandcs à l'étrangère, Economiste européen 1911/2, 43, 75; A. Sartorius v. Waltershausen, Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande, Berlin 1907; zu einem Teilaspekt sehr gut J . Mai, Das deutsche Kapital in Rußland 1850—1894, Berlin 1970. 52 Vgl. die Zitate bei Poidevin, 27—30; G. Ziebura, Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs 1911—1914, Berlin 1955, 83 f. 53 R. Poidevin, Weltpolitik allemande et capitaux français (1898—1914), in: Geiss/ Wendt, 237. 54 Vgl. zum folgenden die grundlegende Arbeit von R. Poidevin, Les relations éco­ nomiques et financières entre la France et l'Allemagne de 1898 à 1914, Paris 1969, sowie den zit. (Anm. 53) Aufsatz. Ebenso wichtig J . Thobie, Les intérêts économiques, financiers et politiques français dans la partie asiatique de l'Empire ottoman de 1895 à 1914, 3 Bde, Thèse Paris 1973. 55 Nach der Übereinkunft zwischen den deutschen und französischen Bankgruppen vom 14. Juni 1903 verteilten sich die Anteile wie folgt: 40% für die Franzosen; 40 % d. Deutschen; 10 % Österreich-Ungarn; 5 % Schweiz; 3 % Banken in Konstan­ tinopel; 2 % Italien, Thobie, 1259. 56 Bis zum Juli 1914 hatte die französische Bankgruppe 38,6 Mill. Frcs in die Bag­ dadbahn investiert. Thobie, III, Tabelle XXXVI, u. I, 668. Zur Verteilung der Aktien ebd., 657. 57 Dazu J . Lescure, Les marchés financiers de Berlin et de Paris et la crise franco­ allemande de juillet-octobre 1911, Revue économique internationale 1912/3, 466 ff.; M. Ajam, Le problème économique franco-allemand, Paris 1914; M. Lair, Les capi­ taux français en Allemagne, Revue financière universelle, März 1912; zur Frage der finanziellen Vorbereitung auf den Krieg neben den Arbeiten von F. Fischer auch F. Neubürger, Die Kriegsbereitschaft des deutschen Geld- und Kapitalmarktes, Berlin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1913; J . Riesser, Finanzielle Kriegsbereitschaft u. Kriegführung, Jena 1913; R. An­ dexel, Imperialismus, Staatsfinanzen, Rüstung, Krieg. Probleme der Rüstungsfinanzie­ rung des deutschen Imperialismus, Berlin 1968. 58 Vgl. Price, 74. „Das wirtschaftliche System der alldeutschen Junker und Schwer­ industrie zeigte klaffende Sprünge, welche nicht in aller Eile übertüncht werden konn­ ten“ (68). 59 F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 19643, 293 ff., 343; ders., Krieg der Illusionen, Düsseldorf 1969, 439—43; W. Zorn, Wirtschaft u. Politik im deut­ schen Imperialismus, in: Fs. F. Lütge, Stuttgart 1966, 344. Seit 1910 stagnierte das Volumen der deutschen Kapitalanlagen im Ausland, vgl. Hoffmann, 262 (Tabelle 43). 60 Fischer, Krieg, 649. 61 T. Baecker, Die deutsche Mexikopolitik 1913/14, Berlin 1971; in vielen Punkten gegen F. Katz, Deutschland, Diaz u. die mexikanische Revolution, Berlin 1964. 62 A. Vagts, M. M. Warburg u. C o. Ein Bankhaus in der Weltpolitik 1905—1933, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 45. 1958, 293 ff. 63 Ders., Deutschland u. die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, Ν. Y. 1935, 2018. 64 Ders., Warburg, 294, 332. 65 Noch im Juni 1914 kam es zur Gründung einer deutsch-englischen Bank. Vgl. Vagts, Warburg, 341 ff. 66 F. Thimme, Auswärtige Politik u. Hochfinanz. Aus den Papieren P. H. v. Schwa­ bach's, Europäische Gespräche 7. 1929, 288—320. Über den Bankier v. Schwabach ist eine Biographie überfällig. Über den ambivalenten C harakter des deutsch-englischen Verhältnisses aufgrund der finanziellen und ökonomischen Interessenlage vgl. G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914, München 1963, II, 26 ff. 67 So hat P. v. Schwabach den Eintritt in den Flottenverein abgelehnt, weil er des­ sen „bloßes Dasein für verderblich“ hielt. Thimme, 309; Zorn, 353; Hallgarten, I, 299. Schon 1887 hat Bleichröder gegen die Sperrung des Berliner Finanzmarktes für russische Wertpapiere protestiert; er sah voraus, daß dann andere Mächte an die Stelle Deutsch­ lands treten würden. Vgl. F. Stern, Gold and Iron: The C ollaboration and Friendship of G. Bleichröder and O. v. Bismarck, American Historical Review, Okt. 1969, 40. 68 Zorn, 343. Der Gesamtbetrag der deutschen Auslandsanlagcn vor 1914 wird un­ terschiedlich angegeben. Am zutreffendsten wohl 23,5 Mrd. Μ (Poidevin) oder 24—25 Mrd. Μ bei J . Riesser, Die deutschen Großbanken u. ihre Konzentration im Zusam­ menhange mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland, Jena 19103. Riesser gibt Jahreserträge in Höhe von 1,352 Mrd. Μ an. G eographische Verteilung des Kapitalexports (nach Feis; in Mill. Pfd) 1914:

Europa Afrika Asien Nordam. Lateinam. Ozeanien Nicht iden­ tifiziert

Großbritannien 242.6 452.4 521.7 1.269.5 756.6 416.4

Frankreich 1.100 132 88 80 240 ?

Deutschland 625 100 50 185 190 25

104.1 3.763.3

160 1.800

— 1.175

David, 49. Aus: W. Hoffmann, Deutsche Banken in der Türkei, Weltwirtschaftliches Archiv 6. 1915/2, 421. 69

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71 Aus: Reconstruction économique internationale (C omité mixte. Dotation C arne­ gie. C hambre de commerce internationale) Paris 1936, 150; vgl. auch Nachimson, 67. 72 Zum folgenden (mangels besserer Arbeiten) vgl. J . Borchardt, Weltkapital u. Weltpolitik, Berlin 1927, 126—42. Hier auch die folgende Tabelle: 131. Zu den kapi­ talistischen Ländern zählt Borchardt; USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Rußland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Niederlande, Belgien, Schweiz, Österreich­ Ungarn, Spanien, Portugal, Japan; halbkoloniale Länder: Balkan, Süd- und Mittel­ amerika, Türkei, C hina, Persien, Kanada, Südafrika, Australien. Unter „nichtkapitali­ stische Länder“ werden halbkoloniale und koloniale Länder zusammengefaßt. 73 R. J . S. Hoffmann, Great Britain and the German Trade Rivalry, 1875—1914, Philadelphia 1933; P. Bastin, La rivalité commerciale anglo-allemande et les origines de la première guerre mondiale 1871—1914, Brüssel 1958. Beide Arbeiten erschöpfen das Thema nicht. 74 Ab 1909 verzeichnete der deutsche Export eine geradezu rasante Zunahme:

1903 1909 1910 1911 1912 1913

Index (1913 = 100) 52,8 68,7 77,4 83,5 89,7 100

Mrd. DM 5,0 6,6 7,5 8,1 9,0 10,1

aus: Hoffmann, 520, Tab. 125. De C ecco, 61 ff. Vgl. Schon E. Tonnelat, L'expansion allemande hors d'Europe. Etats-Unis, Brésil, Chantoung, Afrique du Sud, Paris 1918, 148—51; Harms, 56 ff. 77 So für 1914: Fischer, Krieg, 34 ff.; für 1939: T. Mason, Zur Funktion des An­ griffskrieges 1939, in: G. Ziebura Hg., Grundfragen der deutschen Außenpolitik seit 1871, Darmstadt 1974. W. J . Mommsen, Die latente Krise des Deutschen Reiches 1909—14, in; Handbuch der deutschen Geschichte, IV/1, Frankfurt 1972. 78 Der Terminus „Fertigindustrie“ steht hier verkürzt für alle Verarbeitungs- und Verfeinerungsindustrien, Schiffbau, kleine und mittlere Industrien (vor allem in Sach­ sen und Thüringen); dazu eine Reihe führender (Privat-)Banken, besonders aus Berlin. Der Großhandel (Hamburg, Bremen) hat wohl meistens wirtschaftspolitisch ähnlich optiert. 70 H. Nußbaum, Unternehmen gegen Monopole. Über Struktur u. Aktionen anti­ monopolistischer bürgerlicher Gruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1966. 80 Fischer, Krieg, 530 f. Hier auch das folgende Zitat. 81 Bekanntlich schlossen der „Bund der Landwirte“ und der „Alldeutsche Verband“ 1913 ein Bündnis ab. 82 Ausführlich dazu Stegmann, Erben Bismarcks, 388—97, sowie P.-C . Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1903—13, Lübeck 1970. 83 B. Vogel, Deutsche Rußlandpolitik. Das Scheitern der deutschen Weltpolitik unter Bülow 1900—1906, Düsseldorf 1973, 10. 84 Die marxistische Literatur (etwa E. C zichon, Der Bankier u. die Macht. H. J . Abs in der deutschen Politik, Köln 1970, 23 ff.) hat der Schwerindustrie und den Groß­ agrariern eher die Neigung zum formellen Imperialismus (Kolonien und „Mittel­ europa“ ), der C hemie, Elektroindustrie dagegen zum informellen Imperialismus (unter­ stützt von den „liberalen“ Imperialisten) zugeschrieben. So schematisch verlief die sozialökonomische Zuordnung zweier, im übrigen nicht immer scharf voneinander un­ terschiedener Formen von Imperialismus sicherlich nicht. Der „Alldeutsche Verband“ 75

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neigte keineswegs ausschließlich zur ersten Gruppe, sondern besaß anscheinend eher eine Verschleierungsfunktion, um das Ziel der Integration und Indoktrination besser erreichen zu können. Dennoch wissen wir zu wenig über die „Zwei-Lager-Theorie“ , um Aussagen über ihre Brauchbarkeit machen zu können. Aufschlußreich ist in diesem Zu­ sammenhang die erregte Diskussion um das 1913 anonym erschienene Buch „Deutsche Weltpolitik und kein Krieg“ , in dem für einen Verzicht Deutschlands auf ein weiter­ gehendes Engagement in Kleinasien zugunsten einer vorwiegend ökonomisch orientier­ ten Penetration Zentralafrikas plädiert wurde. Es war dies das Programm einer beson­ deren (anglophilen) Spielart des informellen Imperialismus. Die Alldeutschen waren scharf dagegen, die „liberalen“ Imperialisten ziemlich gespalten. Erstaunlich ist, wie ernst ein doch recht konfuses Buch genommen wurde. Vgl. dazu ausführlich K. Wer­ necke, Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik u. Öffentlichkeit im Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1970, 296—301. Über die Verbreitung der „Mitteleuropa“ -Idee: 291—95. 85 Zu diesem Thema gab es eine Flut zeitgenössischer Schriften, z. B.: H. Dietzel, Die Theorie von den drei Weltreichen, Berlin 1900; G. Schmoller, Die Wandlungen der europäischen Handelspolitik des 19. Jhdts, Schmollers Jahrbuch 24. 1890, 373 ff.; dazu H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirt­ schaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881, Köln 1966, 603 f. Zur „Mitteleuropa“ -Ideologie und ihrer sozialökonomischen Basis gibt es keine gute Arbeit. Rein geistesgeschichtlich orientiert sind J . Droz, L'Europe centrale. Evolution historique de l'idée de „Mitteleuropa“ , Paris 1960; H. C . Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815—1945, Den Haag 1955. 86 Zum folgenden vgl. Fischer, Krieg 24—37, 71—77, 201—4, 325—53, 373—77, 386 f., 398, 439—42. Fischer sammelt zwar viel Material, das aber rein deskriptiv und phänomenologisch, nur von einer These, aber nicht einer Theorie zusammengehalten, ausgebreitet wird. Die Vermittlung von Politik, Ökonomie und Gesellschaft findet nicht statt. Im Lichte der Forschungsergebnisse läßt sich im übrigen auch die These von der planmäßigen Vorbereitung des Krieges durch die führenden Schichten nicht halten. Zutreffend D. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deut­ sche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt 1973, 617. 87 Vgl. Stegmann, Erben Bismarcks, 97. 88 Ebd., 56. 89 A. v. Gwinner, Neue Freie Presse, 25. Dez. 1915, zit. in Nachimson, 106; auch 114 f. 90 H. Lichtenberger u. P. Petit, L'impérialisme économique allemand, Paris 1918, 105 f., 129, 166. 91 Fischer, Krieg 330—34, 376 f.; Stegmann, Erben Bismarcks, 112. 92 Vogel, 9. 93 Zum folgenden sehr überzeugend die Analyse von Vogel. 94 Aufgrund des deutsch-russischen Handelsvertrags stieg der deutsche Anteil an der russischen Einfuhr von ein Drittel 1904 auf die Hälfte 1913. „Die deutsche Export­ industrie partizipierte z. Τ. überproportional an dem ständig steigendem Bedarf Ruß­ lands.“ Vogel, 188. 85 Hillgruber, in: Stürmer Hg., 200. 96 Dazu Stegmann, in: Geiss/Wendt Hg., 176 f.; sowie ausführlich E. Böhme, Über­ seehandel. 67 Hallgarten, II, 39 ff. 98 E. Böhme, 128 ff. 99 Dazu ausführlich Ziebura, Interne Faktoren. 100 So, anläßlich der Marokkopolitik, auch J . Kuczynski, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, II; Propagandaorganisationen des Monopolkapitals, Berlin 1950, 52, 193 ff. 101 Ähnlich Fischer, Krieg 642. 102 Hallgarten, II, 504. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

27. Sozialer Aufstieg in den USA und Deutschland, 1900-1960 Ein vergleichender Forschungsbericht Von HARTMUT KAELBLE

Seit Alexis de Tocqueville und Werner Sombart haben sich amerikanische und europäische Sozialwissenschaftler immer wieder die Frage gestellt, ob und warum die amerikanische Gesellschaft offener als die europäische war und noch ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich diese Diskussion vor allem auf einen Aspekt „offener“ Gesellschaft, auf Aufstiegschancen und Aufstiegsmobilität, konzentriert. Auf der einen Seite kamen in der bekanntesten Bilanz bisheriger Mobilitätsforschung Seymour Μ. Lipset und Reinhard Bendix Ende der 50er Jahre zu dem Schluß, daß die Aufstiegsmobilität in den USA nicht eindeutig häufiger ist als in den industrialisierten europäischen Ländern. Sie sahen in der Industrialisierung den wirksamen Faktor sozialer Mobilität. Sobald die In­ dustrialisierung einen bestimmten Grad erreicht hatte, schien sie diesen bei­ den Soziologen überall zum ungefähr gleichen Ausmaß von Auf- und Ab­ stiegsmobilität zu führen. Auf der anderen Seite unterstrichen vor allem euro­ päische Soziologen die Unterschiede der Auf- und Abstiegsmobilität zwischen den USA und zumindest einigen industrialisierten europäischen Ländern. So hat Ralf Dahrendorf Anfang der 60er Jahre der These Lipsets und Bendix' heftig widersprochen und auf der Meinung beharrt, daß es in den USA immer noch mehr Aufstiegsmobilität gäbe als in der Bundesrepublik. Bei ihm dürfte die Überlegung dahinterstehen, daß trotz eines ähnlichen Grades von Indu­ strialisierung Gesellschaft und Politik in Deutschland während des 20. Jahr­ hunderts vom amerikanischen Muster abwich und daß das Ausbleiben einer politischen und sozialen Revolution und das Weiterbestehen feudaler und büro­ kratischer Traditionen in Deutschland selbst noch in der Bundesrepublik zu Barrieren sozialen Aufstiegs führten, die in den USA verschwunden waren oder nie bestanden hatten1. Neu an der Diskussion über soziale Mobilität sind nach dem Zweiten Welt­ krieg nicht nur diese unterschiedlichen Standpunkte, sondern ist vor allem auch die Bedeutung, die die historische Dimension in diesem Forschungsgebiet ge­ wonnen hat. In zahlreichen quantitativen Untersuchungen wurde begonnen, den historischen Trend der sozialen Mobilität in den USA und Westeuropa, darunter auch der Bundesrepublik, zu verfolgen. Die historische Frage, ob die

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Gesellschaft heutiger Industrieländer mehr Aufstiegschancen bietet als frühere wirtschaftliche Entwicklungsstadien, ob zumindest in dieser sozialen Dimen­ sion mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit existiert als zuvor, scheint an Faszinationskraft gewonnen zu haben. So sind in wenigen anderen For­ schungsgebieten die Übergänge zwischen Sozialgeschichte und Soziologie, zwi­ schen Studien von Historikern und Soziologen fließender. Beide Entwicklun­ gen der Nachkriegszeit, internationaler Vergleich und historische Trendana­ lyse, standen allerdings unverbunden nebeneinander. Vergleiche wurden fast nur für die Gegenwart gezogen; die historische Entwicklung wurde meist iso­ liert in je einem Land verfolgt. Historische Vergleiche zwischen industriali­ sierten Ländern im 20. Jahrhundert gab es kaum. Angeregt vor allem durch die amerikanische sozialhistorische Forschung, konzentriert sich dieser Essay daher auf einen solchen Vergleich der historischen Entwicklung der Aufstiegs­ mobilität in den USA und im Deutschen Reich bzw. der BRD. Er stellt sich die Frage, ob sich die soziale Aufstiegsmobilität in diesen beiden Ländern seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der gleichen Richtung entwickelt hat oder ob sich — was die nächstliegende Vermutung ist — am Anfang des Jahrhun­ derts bestehende Unterschiede zwischen beiden Ländern abgebaut haben. Dar­ über hinaus wird abzuklären versucht, ob sich aus der bisherigen Forschung empirisch fundierte Erklärungen für die Unterschiede zwischen beiden Län­ dern im 20. Jahrhundert entnehmen lassen und ob sich schon beantworten läßt, wie weit soziale Aufstiegsmobilität im 20. Jahrhundert durch die öko­ nomische Entwicklung oder wie weitgehend sie durch politische Entscheidun­ gen bestimmt wurde. Ein Vergleich der sozialen Mobilität zwischen den USA und dem deut­ schen Reich bzw. der BRD erscheint möglich, da zumindest eine zentrale Be­ dingung sozialer Mobilität, die ökonomische Entwicklung, in beiden Ländern einen ähnlichen Entwicklungsstand erreichte und da in beiden Ländern im 20. Jahrhundert über längere Zeiträume hinweg prinzipiell ähnliche politische Systeme bestanden. Unterschiedliche Bedingungen sozialer Mobilität, die einen solchen Vergleich im 19. Jahrhundert erheblich erschwerten, wie die Immigra­ tion und die räumliche Expansion der USA, entfielen oder schwächten sich im 20. Jahrhundert ab. Die Frage der C hancengleichheit für ethnische Gruppen soll hier ausgeklammert bleiben, da zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der europäischen Gesellschaft die C hancenungleichheit zwi­ schen sozialen Klassen das vorrangige Problem war und dieser Aufsatz primär aus der europäischen Perspektive geschrieben ist. Selbst wenn jedoch — in Vor­ wegnahme eventuell zukünftiger europäischer Probleme — ein Vergleich eth­ nischer C hancengleichheit beabsichtigt worden wäre, wäre dies aus Mangel an historischen Untersuchungen zur deutschen Geschichte gescheitert. Offensicht­ lich war auf der anderen Seite das Interesse zumindest amerikanischer Sozial­ wissenschaftler an C hancenungleichheit zwischen sozialen Klassen so stark, daß die historische Mobilitätsforschung gerade zu diesem Problem in den USA weit stärker entwickelt ist als in anderen Ländern. Eine weitere thematische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Einschränkung dieses Aufsatzes besteht darin, daß nur intergenerationale Auf­ stiegsmobilität behandelt wird, da die historische Forschung zur intragenera­ tionalen Mobilität international noch zu wenig entwickelt ist und deshalb hi­ storische Vergleiche für das gesamte 20. Jahrhundert nicht durchführbar er­ scheinen. Weiterhin wird sich dieser Vergleich auf berufliche Mobilität be­ schränken müssen; die Verwendung anderer Indikatoren für die Mobilitäts­ forschung wie Einkommen, Vermögen, Ausbildungsgrad, Macht, Prestige wur­ de zwar auch für historische Untersuchungen immer wieder gefordert, aber bisher kaum praktiziert2. Der Trend der Aufstiegsmobilität. Die Debatte um den Trend der Auf­ stiegsmobilität in den USA während des 20. Jahrhunderts nahm nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Ausgang von der Befürchtung, daß in den USA we­ gen des Endes der räumlichen Expansion, wegen des starken Rückgangs der Einwanderung und wegen der ökonomischen Konzentration die Aufstiegs­ mobilität stagniere, wenn nicht gar zurückginge. Aus diesem Anlaß entstanden in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe von quantitativen Studien zur hi­ storischen Entwicklung der Aufstiegsmobilität in den USA. Die erste unter den für das ganze Land repräsentativen Studien war die von Gerhard E. Lenski, die auf Daten einer Umfrage von 1952 unter amerikanischen Männern basierte. Lenski verwandte die sog. Kohortenanalyse, d. h. er unterteilte die Befragten in verschiedene Altersgruppen und nahm an, daß die Entwicklung von den älteren zu den jüngeren Altersgruppen ungefähr die Entwicklung seit dem Beginn des Jahrhunderts wiedergab. Er beschränkte sich zudem dar­ auf, intergenerationale Mobilität zwischen nur drei Sozialgruppen, manuellen Berufen, nichtmanuellen Berufen und Landwirten, zu verfolgen. Das Ergeb­ nis seiner Untersuchung stützte die genannten Befürchtungen von einem Rück­ gang des sozialen Aufstiegs in den USA nicht. Sein Schluß war, daß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialer Aufstieg in nichtmanuelle Berufe häufiger wurde, während sozialer Abstieg um die Jahrhundertmitte ungefähr ähnlich häufig war wie zu Beginn des Jahrhunderts. Elten F. Jackson und Harry J . Crockett versuchten 1964 zwei Schwächen der Untersuchung Lenskis, die schwer kalkulierbare Ungenauigkeit der Kohortenanalyse und die sehr grobe Einteilung in drei Sozialgruppen, zu vermeiden. Statt Kohorten ver­ wandten sie vier zeitlich unterschiedliche, für die ganzen USA repräsentative Untersuchungen zur sozialen Herkunft von Männern. Zudem gliederten sie so­ wohl manuelle als auch nichtmanuelle Berufe sehr viel starker auf. Der Nach­ teil dieser Untersuchung war freilich, daß sie sich auf den Vergleich zwischen vier Zeitpunkten, 1945, 1947, 1952 und 1957, beschränken mußte, da es für frühere Zeitpunkte keine entsprechenden Daten gibt. Auch Jackson und Crockett fanden für die Befürchtung von der abnehmenden Aufstiegsmöglich­ keit keinen Hinweis, unterstützten freilich auch Lenski nicht voll. Ihre Daten ließen es offen, ob die intergenerationale Aufstiegsmobilität in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg leicht zunahm oder stagnierte. Schließlich haben 1967 Peter M. Blau und Otis D. Duncan beide Wege, die Kohortenanalyse und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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den Vergleich historischer Daten, mit verfeinerten Berechnungsmethoden und jüngeren Daten nochmals beschritten. Das Resultat ihrer Studie war, daß so­ zialer Aufstieg seit dem Beginn des Jahrhunderts zumindest nicht abnahm und es manche Anzeichen für eine leichte Zunahme gab. Sozialer Abstieg wurde nicht erkennbar häufiger. Auch diese Studie bestätigte also nicht die Vermutungen, daß sich soziale Barrieren in der amerikanischen Gesellschaft verstärkt und die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten verschlechtert hatten. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Stadtstudien, mit denen die quantitative historische Mobilitätsforschung in den USA einsetzte. Eine Pionierleistung ist die Studie von Natalie Rogoff, die in einem stark urbanisierten Bereich im Bundesstaat Indiana die soziale Herkunft der männlichen Weißen für 1910 und 1940 untersuchte. Ihre Resultate zeigen, daß trotz vieler Unterschiede im Detail sich zwischen diesen beiden Zeitpunkten intergenerationale Auf­ stiegs- und Abstiegsmobilität nicht erkennbar veränderte. 1973 hat Stephan Thernstrom mit der ganzen Palette erprobter historischer Erhebungstechni­ ken und Trendberechnungen die Entwicklung der intra- und intergenerationa­ len Mobilität in Boston zwischen 1880 und 1970 untersucht. Er kam ähnlich wie Frau Rogoff zu dem Schluß, daß die intergenerationale Aufstiegsmobili­ tät in Boston nur wenig oder gar nicht zunahm, daß sich aber auch die Ab­ stiegsmobilität — abgesehen von einer sprunghaften Zunahme während der Weltwirtschaftskrise — kaum veränderte. Auch diese Stadtstudien stützen das Argument, daß zumindest intergenerational soziale Mobilität in den USA während des 20. Jahrhunderts auf relativ hohem Niveau stagnierte oder höchstens leicht zunahm3. Die historische Mobilitätsforschung in der Bundesrepublik erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg ihre wichtigsten Anstöße aus den USA und aus Großbri­ tannien, nachdem Forschung und Statistik in diesem Gebiet durch den Natio­ nalsozialismus fast ganz unterbrochen und aus Deutschland verdrängt worden waren. Die erste, für die BRD repräsentative, historische Untersuchung stammt von Hansjürgen Daheim. Er nahm eine Art von Kohortenanalyse vor, indem er Befragte einer Umfrage von 1959 in „Ältere“ und „Jüngere“ einteilte. Eine Verstärkung der vertikalen Mobilität zwischen diesen beiden Genera­ tionen, die nach Ansicht Daheims ungefähr den Zeitraum zwischen Jahrhun­ dertbeginn und den 50er Jahren deckten, ließ sich trotz einer relativ starken Aufgliederung der Sozialgruppen nicht erkennen. In der Bundesrepublik war nach diesen Daten sozialer Aufstieg nicht häufiger als im späten Kaiserreich. Untersuchungen der Auf- und Abstiegsmobilität in Köln 1906/13 und 1949/ 56 durch Daheim und in Schleswig-Holstein in den 30er und 50er Jahren durch Karl Martin Bolte kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Karl Ulrich Mayer und Walter Müller versuchten 1971 in einer für die BRD repräsentativen Studie die Nachteile von Kohortenanalysen zu vermeiden und verglichen Er­ hebungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten durchgeführt worden waren. Ähnlich wie bei amerikanischen Untersuchungen war auch hier der Nachteil, daß sie nur den Nachkriegstrend untersuchen konnten, da es derartige Erhe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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bungen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auch in Deutschland nicht gab. Mayer und Müller kamen zu dem Ergebnis, daß zwischen 1955 und 1969 die intergenerationale, vertikale Mobilität wahrscheinlich zunahm, daß die Gesellschaft in der kurzen Geschichte der BRD wahrscheinlich vertikal mobiler geworden ist. Ob freilich auch die Aufstiegsmobilität zunahm, ließen sie offen. Zur gleichen Zeit legte Gerhard Kleining die ersten Resultate einer eigenen, für die BRD repräsentativen Erhebung von 1969/70 vor, die zu den umfangreichsten Projekten in der europäischen Mobilitätsforschung gehört. Kleining konnte darin eine zeitlich erheblich differenziertere Kohortenanalyse anstellen als Daheim. Er zog daraus ursprünglich den Schluß, daß nach der Industriellen Revolution sich Mobilitätsraten und -chancen für „Arbeitende“ , d. h. für Angehörige der unteren Mittel- und Unterschicht, im 20. Jahrhundert nicht verbesserten. Eine von ihm selber vorgenommene Überarbeitung seiner Datenaufbereitung zeigte allerdings, daß bis zu der Kohorte, die er aus den Geburtsjahrgängen 1916—25 bildete, die Zahl der sozialen Aufsteiger zunahm. Erst unter den späteren Geburtsjahrgängen stagnierte die soziale Aufstiegsmo­ bilität. Das würde bedeuten, daß unter denjenigen, die mehrheitlich im Kai­ serreich und in der Weimarer Republik ins Berufsleben eintraten, soziale Auf­ stiegsmobilität noch zunahm. Sie stagnierte ab den Jahrgängen, die mehr­ heitlich in der Weltwirtschaftskrise und in der nationalsozialistischen Zeit mit ihrer Berufskarriere begannen. Diese Umarbeitung Kleinings geht teilweise auf eine veröffentlichte Diskussion mit Karl Ulrich Mayer und Walter Müller zurück, die andere Mobilitätsindikatoren auf die Kleiningschen Daten an­ wandten und zu dem Schluß kamen, daß die Kleiningschen Daten auch anders interpretiert werden können und daß Stagnation und Verstärkung der sozialen Mobilität auch in den letzten Jahrzehnten gleichermaßen im Bereich der Möglichkeiten liegen. Vor allem für den Vergleich zwischen BRD und Wei­ marer Republik bzw. nationalsozialistischer Zeit gibt es damit unterschied­ liche Interpretationen4. Ein Weg, der bisher bei der Untersuchung des historischen Trends sozialer Mobilität noch nicht beschritten wurde, ist die Auswertung älterer sozialwis­ senschaftlicher Erhebungen oder historischer Einzeluntersuchungen. Höchst­ wahrscheinlich ist dafür Deutschland ein ungewöhnlich günstiger Fall, da in diesem Land in den wenigen Jahrzehnten der ersten Blüte der Sozialwissen­ schaften vor der nationalsozialistischen Periode besonders viele Teilstudien zur sozialen Mobilität veröffentlicht wurden. Mit diesen Daten lassen sich für zwei Zeiträume des 20. Jahrhunderts, für das letzte Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und für das Jahrfünft vor der Weltwirtschaftskrise, leider nicht für die nationalsozialistische Periode, Schätzungen anstellen und mit Erhe­ bungen der Nachkriegszeit vergleichen (Tabelle 1). Diese Schätzungen sind für die Auf- und Abstiegsmobilität zwischen drei Sozialgruppen der deut­ schen Gesellschaft, für die Unterschicht, die untere Mittelschicht und die obere Mittelschicht möglich, schließen aber den Agrarsektor nicht mit ein5. Sie las­ sen den Schluß zu, daß sich das Verhältnis von sozialem Aufstieg und sozialem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 34 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Abstieg verschob. Soziale Aufstiegsmobilität wurde seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eventuell von der unteren Mittelschicht in die obere Mittel­ schicht, recht sicher von der Unterschicht in die untere Mittelschicht häufiger. Der soziale Abstieg entwickelte sich entsprechend. Der Abstieg aus der oberen Mittelschicht in die untere Mittelschicht wurde ebenso seltener wie der Abstieg von der unteren Mittelschicht in die Unterschicht. Diese Entwicklungen lassen sich meist beim Vergleich zwischen Weimarer Republik und spätem Kaiserreich fast immer beim Vergleich zwischen BRD und Weimarer Republik erkennen, gleichgültig ob man die noch stark unter Nachkriegseinwirkungen stehenden 50er Jahre oder die 60er Jahre als Vergleichspunkt wählt. Die bisher verfüg­ baren Daten zur nationalsozialistischen Periode sprechen allerdings dafür, daß dieser Trend zunehmender Aufstiegsmobilität während dieses Zeitabschnitts schwächer wurde oder ganz entfiel und das nationalsozialistische Regime auch in dieser Hinsicht soziale Ungleichheit konservierte, wenn nicht verschärfte6. Als zusammenfassende, pointierte Arbeitshypothese kann man formulieren, daß Deutschland bzw. die BRD in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz wahrscheinlicher Unterbrechungen auf dem Weg von einer Gesellschaft zahlrei­ cher sozialer Absteiger, deren politisches Verhalten bisher historisch kaum er­ forscht ist, zu einer Gesellschaft ausbalancierteren Auf- und Abstiegs war. Frei­ lich ist auch deutlich, daß sich die Aufstiegschancen der Angehörigen der Unter­ schich: zwar verbesserten, daß sie jedoch weiterhin benachteiligt waren. Vor allem blieben ihre Chancen, in die obere Mittelschicht aufzusteigen, gering. Die soziale Aufstiegsmobilität scheint sich also im 20. Jahrhundert in den USA und in Deutschland bzw. der BRD unterschiedlich entwickelt zu haben. Die bisherige Forschung läßt es am wahrscheinlichsten erscheinen, daß in den USA die Aufstiegsmobilität seit ungefähr dem Beginn des Jahrhunderts lang­ fristig stagnierte oder höchstens leicht zunahm; in Deutschland bzw. der BRD ist sie dagegen wahrscheinlich deutlich angewachsen. Dafür spricht beim gegen­ wärtigen Stand der Forschung, daß die großangelegte Erhebung Kleinings keine eindeutigen Resultate darüber erbracht hat, ob die Aufstiegsmobilität seit Bestehen der BRD und im Vergleich zu früheren Perioden deutscher So­ zialgeschichte stagnierte oder anstieg. In dieser offenen Situation weist der Vergleich von Erhebungen in der BRD mit Schätzungen für die Weimarer Republik und das späte Kaiserreich auf ein Anwachsen der Aufstiegsmobilität hin. Um die unterschiedliche Dynamik in Deutschland und den USA zu illu­ strieren, sind in Tabelle 2 zwar nicht die besten, aber immerhin die am besten vergleichbaren Daten für den Trend der Auf- und Abstiegsmobilität in bei­ den Ländern zusammengestellt. Diese Tabelle macht deutlich, daß der Effekt dieser unterschiedlichen Dynamik in der Annäherung der Aufstiegsmobilität in Deutschland bzw. der BRD an das Niveau der USA besteht. Diese Ent­ wicklung hat allerdings klare Grenzen. In den USA und in einigen west­ europäischen Ländern gab es zumindest um die Jahrhundertmitte weiterhin mehr sozialen Aufstieg als in der BRD7. Es läßt sich gegenwärtig nicht ent­ scheiden, ob sich darüber hinaus die Dynamik der Aufstiegsmobilität in den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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60er Jahren in der BRD abgeschwächt hat und in Stagnation überging oder ob ein Trend langfristiger Zunahme der Aufstiegsmobilität durch eine kurz­ fristige Abnahme überlagert wurde, die auf eine Periode ungewöhnlich star­ ker Auf- und Abstiegsmobilität in der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte und zurückging. Hier liegt ohne Zweifel eine wichtige Aufgabe einer noch kaum bestehenden Forschung zur Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Tabelle 1 Sozialer Auf- und Abstieg in Deutschland, 1904—19698 Status Väter/Status Söhne

Deutsches Reich Deutsches Reich BRD 1904/1913 1925/1929 1955 (2) (3) (1)

BRD 1969 (4)

46 % (1,29) 18 % (0,29) 1% (0,02)

52 % (1,80) 37 % (071) 15 % (0,34)

38 % (1,49) 32 % (0,62) 22 % (0,48)

3% (0,96) 20 % (0,61)

20 % (1,56) 20 % (0,72)

Aufstieg: (1) Von unterer Mittelschicht in obere Mittelschicht (2) Von Unterschicht in untere Mittelschicht (3) Von Unterschicht in obere Mittelschicht

44 % (1.27) 23 % (0,37) 2 %

(0,04)

Abstieg: (4) Von oberer Mittelschicht 8% in untere Mittelschicht (3,64) (5) Von Unterer Mittelschicht 28 % (0.78) in Unterschicht

5% (2,11)

Tabelle 2 Sozialer Auf- und Abstieg in den USA und Deutschland im 20. Jahrhundert9 Dt. Reich 1904/ 1913 (1)

Status Väter/ Status Söhne

Aufstieg: Von Blue C ollar zu White C ollar Von Unterschicht in unt. Mittelschicht Abstieg: Von White C ollar zu Blue C ollar Von unt. Mittelschicht in Unterschicht

USA 1853/ 1893* (2)

Dt. Reich 1925/ 1929 (3)

0,73 0,36

BRD

USA

BRD

1893/ 1903* (4)

1955 (5)

1957 (6)

1969 (7)

0,73 0,41

0.54 0,81

USA

0,69 (0,86)

0,41

0.56 (0,55)

* Geburtsjahrgänge 34*

(0,57)

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Schlüsselbereiche der Aufstiegsmobilität. Während sich der historische Trend der Aufstiegsmobilität in den USA und in Deutschland bzw. der BRD bis zu einem gewissen Grad schon vergleichen läßt, stößt eine vergleichende Unter­ suchung der Bedingungen und Gründe für die unterschiedliche Dynamik der Aufstiegsmobilität auf erheblich größere Schwierigkeiten. Die Mobilitätsfor­ schung steht hier nicht nur in ihrer historischen Dimension noch ganz am An­ fang, obwohl erst damit das Kernproblem berührt wird, die Frage, wieweit Industrialisierung und Modernisierung soziale Ungleichheit zumindest in der Dimension der Startchancen abbauten oder wieweit hier vor allem politische Entscheidungen und Reformen Verbesserungen herbeiführen konnten und ge­ konnt hätten. Abgesehen von einigen Arbeiten zum Zusammenhang vor Erzie­ hungssystem und vertikaler Mobilität fehlen genügend komplexe, gesamtgesell­ schaftliche Untersuchungen etwa zum Zusammenhang einerseits von vertikaler Mobilität und andererseits von Industrialisierung, Veränderungen der Berufs­ struktur, Expansion der Staatsverwaltung, Urbanisierung und räumlicher Mobi­ lität, wirtschaftlicher Konzentration und Bürokratisierung wirtschaftlicher Unter­ nehmen, Veränderungen des politischen Entscheidungsprozesses und der politi­ schen Rekrutierung. Ebenso fehlt es an Untersuchungen zur Auswirkung von politischen Entscheidungen und Reformen auf soziale Aufstiegsmobilität und Chancengleichheit, wenn man von einigen Ansätzen in der amerikanischen Bildungsforschung absieht. Neben solchen gesamtgesellschaftlichen Untersu­ chungen wäre es nötig, Schlüsselbereiche und Kanäle der Aufstiegsmobilität zu untersuchen. Auch hier sind kaum systematische Ansätze erkennbar. In der historischen Mobilitätsforschung sind diese Forschungslücken sowohl in den USA als auch in der BRD besonders groß, obwohl historische Forschung diese Fragen teilweise besonders gut beantworten konnte. Aus diesem Grund lassen sich Bedingungen und Gründe für den Unterschied in der Dynamik der Aufstiegsmobilität in Deutschland und den USA noch nicht systematisch un­ tersuchen. Ein historischer Vergleich ist gegenwärtig nur für zwei Schlüsselbe­ reiche möglich. Man kann in beiden Ländern die Entwicklung des sozialen Aufstiegs in die Spitzenstellungen und mittleren Positionen der Wirtschaft während des 20. Jahrhunderts verfolgen. Daraus lassen sich gewisse Rück­ schlüsse auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Industrialisierung in den USA und in Deutschland bzw. der BRD ziehen. Daneben läßt sich mit erheb­ lichen Vorbehalten die unterschiedliche Entwicklung des deutschen und ame­ rikanischen Ausbildungssystems beobachten. Damit kann in beiden Ländern vergleichend verfolgt werden, wie weit politische Entscheidungen und Refor­ men in diesem meist in die obere Mittelschicht führenden Aufstiegskanal durch­ geführt und wie weit sie wirksam wurden. Unter den verschiedenen Gruppen der „Machtelite“ der USA beschäftigten sich die amerikanischen Sozialwissenschaftler historisch am intensivsten mit der Business Elite. Zur Entwicklung des sozialen Aufstiegs in die Spitzenpo­ sitionen der amerikanischen Wirtschaft während des 20. Jahrhunderts gibt es mehrere quantitative Untersuchungen mit unterschiedlichen Methoden. Dieses © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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starke Interesse entstand vor allem aus den Fragen, wie weit sich wirtschaft­ liche Konzentration und die Entstehung von Großunternehmen, wie weit sich das Zurückdrängen des Eigentümerunternehmers durch den Manager und schließlich wie weit sich die Akademisierung des amerikanischen Unterneh­ mers auf die Aufstiegsmobilität in diese Positionen auswirkte. Es zeigten sich deutlich zwei unterschiedliche Trends. Unter den rund hundert vermögendsten Amerikanern wurden soziale Aufsteiger zwischen 1900 und 1950 deutlich sel­ tener, da es Angehörigen der Unterschicht seltener gelang, in diese exklusive Gruppe vorzustoßen. Sehr viel breiter angelegte Untersuchungen von Inha­ bern der Spitzenpositionen in amerikanischen Unternehmen kamen dagegen zu dem Ergebnis, daß sich die Aufstiegsmobilität in diese Positionen nicht ab­ schwächte, wahrscheinlich sogar verstärkte. Unter mehreren tausend Managern und Eigentümerunternehmern, die Taussig/Joslyn und Warner/Abegglen 1928 und 1952 untersuchten, nahmen die Arbeitersöhne von 11 % auf 15 %, die Angestelltensöhne von 12 % auf 19 % zu. Unter einer kleineren und daher exklusiveren Gruppe von einigen hundert Spitzenmanagern beobachtete New­ comer zwischen 1900 und 1964 ein Anwachsen der Arbeitersöhne von 4 % auf 9 %, der Angestelltensöhne von 1 % auf 16 %, Übereinstimmung herrscht frei­ lich auch darüber, daß starke C hancenungleichheiten bestehen blieben, daß Unternehmersöhne weiterhin stark privilegiert und Arbeiter-, Angestellten­ und Farmersöhne stark diskriminiert waren10. Die Informationen über die Entwicklung des Aufstiegs in die Spitzenpo­ sitionen der deutschen Wirtschaft während des 20. Jahrhunderts erreichen bei weitem nicht diese Qualität. Mit einem geringeren Grad an Sicherheit kann man vermuten, daß in Deutschland bzw. der BRD eine ähnliche Entwicklung startfand wie in den USA. Zumindest scheinen Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht unter den Unternehmern deutlich häufiger geworden zu sein. Nach Untersuchungen von Unternehmern bzw. nur Managern des Kaiser­ reichs und der Weimarer Republik stammten zwischen 10 % und 35 % aus dieser Schicht. In den Erhebungen von Benno Biermann (1966/67) und Helge Pross (1965/68) war der Anteil der Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht zumin­ dest unter westdeutschen Managern auf fast die Hälfte angestiegen. Bauern-und Arbeitersöhne scheinen dagegen unter den Unternehmern der Bundesrepublik weiterhin fast ebenso selten zu sein wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik11. Mit allen Vorbehalten dieser noch unbefriedigenden Informationssituation gibt es bisher keine Hinweise darauf, daß der soziale Aufstieg in die Spitzenpo­ sitionen der Wirtschaft sich in Deutschland bzw. der BRD in Entwicklungsrich­ tung und Grundmuster während und seit der Industriellen Revolution grund­ sätzlich von der USA unterschieden hat. Graduelle Unterschiede in den Aufstiegs­ möglichkeiten von Bauern- und Arbeitersöhnen bestanden seit der Industriellen Revolution. Die Industrialisierung scheint im 20. Jahrhundert in beiden Län­ dern zu einer leichten Verbesserung der Aufstiegschancen von unterer Mittel­ und/oder Unterschicht geführt zu haben, ohne freilich die Diskriminierung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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dieser Schichten zu beenden. Ob die Zurückdrängung des Eigentümerunter­ nehmers oder veränderte Ausbildungs- und Auslesekriterien der Grund dafür sind, läßt sich bislang in beiden Ländern nicht beantworten. Wichtiger für die Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Aufstiegsmobili­ tät war ohne Zweifel die Mobilität von der Unterschicht in die untere Mittel­ schicht. Während des 20. Jahrhunderts gewann dabei das Problem des sozialen Aufstiegs aus der Arbeiterschaft in die mittleren Positionen der wirtschaft­ lichen und öffentlichen Verwaltung, in Angestellten- und Beamtenpositionen, zunehmend an Bedeutung, während die mittleren selbständigen Positionen der Kleinunternehmer relativ seltener wurden und damit der soziale Aufstieg in diese Positionen an Bedeutung verlor. Zumindest für die Entwicklung des sozialen Aufstiegs in die Angestelltenpositionen lassen sich für das 20. Jahr­ hundert einige vergleichende Schlüsse ziehen (vgl. Tabelle 3). Betrachtet man nur die Entwicklung in Städten, so ist in den bisher bekannten Fällen weder in den USA noch in Deutschland bzw. der BRD der Anteil von Arbeitersöh­ nen und -töchtern unter den mittleren Angestellten und Beamten häufiger ge­ worden. Allerdings stagnierte wohl die Aufstiegsmobilität in amerikanischen Städten auf höherem Niveau. Deutlich verschieden entwickelte sich dagegen wahrscheinlich die Rekrutierung sämtlicher Angestellter, also auch außerhalb urbanisierter Regionen. Es gibt Anzeichen dafür, daß sich die Rekrutierung der Lower White C ollars in den USA seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in den Städten nicht wesentlich veränderte12. Dagegen kann man aus den bisherigen Untersuchungen deutscher Ange­ stellter den Schluß ziehen, daß die Angestellten der Weimarer Republik stärker als im späten Kaiserreich und die Angestellten der BRD wiederum stärker aus der Arbeiterschaft rekrutiert wurden. Deshalb läßt sich das Argument vertre­ ten, daß es zum guten Teil die Veränderung der Rekrutierung der deutschen mittleren Angestellten und Beamten war, die zu einer Annäherung der gesamt­ gesellschaftlichen Aufstiegsmobilität in Deutschland bzw. der BRD an das Niveau der USA führte. Ob für die Veränderung dieser Rekrutierungsmuster der Wandel der Berufsstruktur entscheidend war, sei es daß sich die zahlen­ mäßige Relation zwischen Arbeitern und Angestellten verschob, sei es daß „offenere“ Angestelltenberufe wie kaufmännische Angestellte oder Verkäufer stärker zunahmen als „exklusivere“ Angestelltenberufe wie Techniker, oder ob Selektionskriterien, andere Berufsbildungschancen, andere Ausbildungs- und Berufspräferenzen von Arbeiterkindern ausschlaggebend waren, läßt sich bis­ her weder für Deutschland noch im Vergleich mit den USA beantworten. Während hier die Frage bleibt, welche ökonomischen und soziokulturellen Konsequenzen der Industrialisierung auf die soziale Aufstiegsmobilität in den USA und Deutschland bzw. der BRD ähnlich wirkten oder während des 20. Jahrhunderts zu zunehmender Ähnlichkeit führten, scheinen politische Ent­ scheidungen und Reformen zumindest in einem Bereich, der für die Aufstiegs­ mobilität im 20. Jahrhundert zunehmend zentral wurde, dem Ausbildungs­ sektor, in diesen beiden Ländern eher konträre Entwicklungen erzeugt zu ha© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ben. In Deutschland veränderte sich die soziale Herkunft der Schüler an hö­ heren Schulen und der Studenten seit dem späten Kaiserreich bis in die 60er Jahre der BRD nicht wesentlich, wenn man von den Auswirkungen veränder­ ter Berufsstrukturen absieht. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammten die deutschen Studenten überwiegend aus der unteren Mittelschicht, vor allem aus Familien von Handwerkern, mittleren Beamten und Volksschullehrern. Die Diskriminierung der Landwirt- und vor allem der Arbeiterkinder war noch während der 60er Jahre in der BRD weder beseitigt noch wesentlich ge­ mildert. Die deutschen Studenten stammten 1913 zu 3 %, die Studenten der BRD 1959/60 zu 5 % aus der Arbeiterschicht; die Abiturienten stammten 1931 in Deutschland zu 5 %, 1965 in der BRD zu 6 % aus dieser Schicht. In den USA hat sich dagegen - soweit sich dies aus den sehr viel schlechteren Statistiken schließen läßt — die Sozialstruktur der Studentenschaft seit dem Beginn des Jahrhunderts deutlich verschoben. Jencks und Riesman vermuten, daß vor 1925 die amerikanischen Universitäten überwiegend von Söhnen und Töch­ tern der amerikanischen Ober- und oberen Mittelschicht besucht wurden. Die umfangreichste Vorkriegsuntersuchung zeigt, daß noch 1923/24 nur 8 % ame­ rikanischer Studenten aus Arbeiterfamilien kamen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte drängte nicht nur die untere Mittelschicht, sondern in viel stärke­ rem Maß als in Deutschland die Unterschicht an die Universitäten. So waren nach 1945 nach einer Schätzung 31 % amerikanischer C ollegegraduierter Arbei­ terkinder. Auch wenn die Sozialstruktur amerikanischer Studenten deutliche Züge so­ zialer Ungleichheit vor allem für ethnische Gruppen trägt, so ist das ameri­ kanische Erziehungssystem während des 20. Jahrhunderts doch erheblich of­ fener geworden als das deutsche bzw. westdeutsche. Neben Unterschieden in der Berufsstruktur und Aufstiegsmotivation dürften Unterschiede der histori­ schen Bildungspolitik ausschlaggebend dafür sein. Im Unterschied zum Deut­ schen Reich bzw. der BRD nahmen die Bildungsausgaben der USA langfristig in Relation zum wirtschaftlichen Wachstum schneller zu. Die Entwicklung der Bildungsausgaben in Deutschland war zudem sehr viel stärkeren Störungen aus­ gesetzt. Nach institutionellen Reformen und einer Ausweitung der Bildungsaus­ gaben während der Weimarer Republik führte die Weltwirtschaftskrise und vor allem die nationalsozialistische Bildungspolitik zu einer Stagnation bzw. sogar Schrumpfung der staatlichen Bildungsausgaben. Bis in die 60er Jahre hat sich die Bildungspolitik in der BRD zudem nicht darum bemüht, die Raten amerikani­ scher Bildungsinvestitionen zu erreichen, geschweige denn die nationalsoziali­ stische Investitionslücke zu schließen. Es kommt hinzu, daß zumindest in der Zwischenzeit die Möglichkeit für expansive Bildungsinvestitionen in den USA größer waren, da die amerikanische Wirtschaft erheblich schneller wuchs als die deutsche. Auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen Bildungsaus­ gaben und sozialem Aufstieg über den Erziehungssektor unwahrscheinlich ist, dürfte doch ein so langfristig stetiges Wachstum der Bildungsausgaben ein entscheidender Faktor neben der stärkeren Durchlässigkeit des amerikanischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Hartmut Kaelble Tabelle 3

Arbeitersöhne und -töchter unter Angestellten in den USA und Deutschland/BRD 1908—196913 USA

%

a) Studien für das gesamte Land:

%

Deutschland/BRD

19

Deutsches Reich, kaufmännische Angestellte, 1908 Deutsches Reich, technische Ange­ stellte, 1912 Deutsches Reich, Angestellte, 1929

15 39

25

43

30 33

BRD, Angestellte, ca. 1959 BRD, männl. Industrieangestellte, 1960

29 (16)

Köln, einfache und mittlere (in Klammern: nur mittlere) Angestellte und Beamte, 1906—13

59

44 (41)

Indianapolis, clerical and sales, 1940

40

Norristown, clerical, 1952

65

29 (23) 30 (16) 40

Euskirchen, einfache und mittlere (in Klammern: nur mittlere) Angestellte und Beamte, 1906—13 Köln, wie oben, 1949—56

Various firms, employed white collar, 1962/63

64

USA, white collar ohne profes­ sionals and businessmen, 1945 USA, clerical and sales, 1956

b) Regional- und Stadtstudien: San Jose, clerks and kindred workers, ca. 1900 Indianapolis, clerical and sales, 1900 Jonesville, lower middle class, 1920er San Jose, clerks and kindred workers, 1933—34 Boston, low white collar, 1840—89 (Geburtsjahrgänge)

29 36 35 29

24

Euskirchen, wie oben, 1946—53 Schleswig-Holstein, untere und mittlere administrative Tätigkeit, 1953 Konstanz, Lower-Middle, 1969

Schulsystems für den wachsenden Abstand in der „Offenheit“ des amerikani­ schen gegenüber dem deutschen bzw. westdeutschen Bildungssektor sein14. Diese unterschiedliche Entwicklung des Ausbildungssektors hatte wahrschein­ lich zur Folge, daß sich während des 20. Jahrhunderts die Aufstiegsmobilität in die zunehmend akademisierte obere Mittelschicht beider Länder nicht an­ näherte und daß zumindest in einigen Berufsgruppen der oberen Mittelschicht die Gesellschaft in Deutschland bzw. der BRD im Vergleich zu den USA so­ gar zunehmend geschlossener erschien, auch wenn das Ausbildungssystem in beiden Ländern nicht dieselbe Funktion als Aufstiegskanal besaß. Bisher läßt sich allerdings die Auswirkung dieser historischen Entwicklung empirisch fast nur in der Nachkriegszeit aufzeigen. Vergleiche der Rekrutierung der oberen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mittelschicht in den USA und in der BRD kamen meist zu dem Schluß, daß die Zugangsmöglichkeiten für soziale Aufsteiger in den USA besser waren. Auch Nachkriegsuntersuchungen zu einzelnen Berufsgruppen der oberen Mit­ telschicht wie zu Unternehmern, höheren Beamten, Professoren, Lehrern an höheren Schulen, Ärzten, Ingenieuren, Rechtsanwälten lassen trotz aller Schwierigkeiten solcher Vergleiche vermuten, daß diese Berufsgruppen in der Nachkriegszeit in den USA starker aus der Unterschicht rekrutiert wurden als in der BRD. Da es in beiden Ländern zur historischen Entwicklung dieser Be­ rufsgruppen kaum oder zumindest kaum vergleichbare Untersuchungen gibt, wissen wir bisher nicht, ab wann und wie stark die unterschiedliche Bildungs­ geschichte und -politik beider Länder die unterschiedliche Aufstiegsmobilität in die obere Mittelschicht bestimmt hat15. Ergebnis, Dieser Durchgang durch die Forschung zum historischen Vergleich der sozialen Aufstiegsmobilität in den USA und in Deutschland bzw. der BRD führte für das 20. Jahrhundert zu einigen Arbeitsthesen und vielen For­ schungsdesiderata. Die Ergebnisse der bisherigen Forschung lassen es am wahr­ scheinlichsten erscheinen, daß die soziale Aufstiegsmobilität seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland bzw. der BRD deutlich zunahm und sich der seit dem Jahrhundertbeginn kaum verändernden Aufstiegsmobilität in den USA annäherte, wenn auch wohl nicht anglich. Auf politische Struk­ turveränderungen dürfte diese Annäherung kaum, auf den Industrialisierungs­ prozeß nur in sehr spezifischer Weise zurückgehen. Der bisher am deutlichsten faßbare Grund für diese Annäherung ist, daß offensichtlich die mittleren An­ gestellten und Beamten beim Vergleich der Weimarer Republik mit dem späten Kaiserreich und beim Vergleich der BRD mit der Weimarer Republik zuneh­ mend aus der Arbeiterschicht stammten und daß möglicherweise Arbeiterkin­ der seltener Arbeiter- und häufiger mittlere Angestellten- und Beamtenberufe wählten. In den USA gibt es für solche Verschiebungen während des 20. Jahrhunderts keine Anzeichen16. Auf diese Weise wurde der Anteil der Ar­ beiterkinder unter den White-C ollar-Berufen in Deutschland bzw. der BRD größer, wenn auch wohl nicht gleich groß wie in den USA. Das zunehmende zahlenmäßige Gewicht der mittleren White-C ollar-Berufe in beiden Ländern läßt diese unterschiedliche Entwicklung als einen zentralen Faktor für die An­ näherung der gesamtgesellschaftlichen Aufstiegsmobilität erscheinen. Warum diese Veränderungen im deutschen Fall so stark, in den USA so gering waren, ob sie auf unterschiedliche Veränderungen der Berufsstruktur, auf größere Veränderungen der Ausbildungsmöglichkeiten im deutschen Fall, auf stärkere Verschiebungen der Ausbildungs- und Berufspräferenzen der deutschen Arbei­ terkinder, auf veränderte Auslesekriterien für deutsche Angestelltenpositionen zurückgehen, oder ob die entwickeltere Wirtschaft der USA vor Deutschland bzw. der BRD ein ökonomisches Stadium erreichte, in dem die soziale Auf­ stiegsmobilität nicht mehr oder geringer zunahm als zuvor - das alles sind bisher unbeantwortete und mit der bisherigen Forschung unbeantwortbare Fragen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Politische Entscheidungen und Reformen führten dagegen zumindest in dem immer zentraleren Aufstiegskanal, dem Ausbildungssektor, während des 20, Jahrhunderts nicht zu einer Annäherung, möglicherweise sogar zu einem grö­ ßeren Abstand der Aufstiegsmobilität in diesen beiden Ländern. Während der Ausbildungssektor in den USA im Laufe des 20. Jahrhunderts gegenüber Ange­ hörigen der unteren Mittel- und Unterschicht zunehmend offener wurde, hat sich der Ausbildungssektor in Deutschland bzw. der BRD seit dem Kaiserreich nur unwesentlich verändert und vor allem die Diskriminierung der Landwirts­ und Arbeiterkinder weit stärker beibehalten. Auch wenn kurzfristig Zusam­ menhänge zwischen Bildungsausgaben und Aufstiegsmobilität selten sind, dürfte doch vor allem die nationalsozialistische Investitionslücke im Bildungssektor, aber auch die begrenzte Investitionsmöglichkeit der Bildungspolitiker der Wei­ marer Republik und die Indifferenz gegenüber Bildungsinvestitionen in der BRD bis in die 60er Jahre hinein eine stärkere Öffnung des Ausbildungssek­ tors in Deutschland bzw. der BRD wesentlich verhindert haben. Eine Auswir­ kung davon dürfte sein, daß die Aufstiegsmobilität in die obere Mittelschicht in den USA deutlich stärker ist als in der BRD und möglicherweise im Laufe des 20. Jahrhunderts sogar stärker geworden ist.

Anmerkungen 1 Vgl. S. M. Lipset/R. Bendix, Social Mobility in Industrial Society, Berkeley 1959, 11 ff.; R. Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft u. Soziologie in Amerika, München 1963, 77 ff. — Dieser Essay verdankt sein Entstehen wesentlich den ausgezeichneten Arbeitsbedingungen an West European Studies, Harvard Uni­ versity. Es ist Teil eines größeren Projekts zur sozialen Mobilität im 19. und 20. Jahr­ hundert, das ich mit Prof. Rosenberg 1973 ausführlich besprach und wohl kaum be­ gonnen hätte, wenn seine Forderung nach „realer Sozialgcschichte“ nicht so überzeu­ gend gewesen wäre. Wichtige Hinweise erhielt ich außerdem von Frederick D. Mar­ quardt, der das Manuskript gelesen und mit mir durchdiskutiert hat. 2 Unter intergenerationaler Mobilität wird der Unterschied zwischen dem sozialen Status eines Sohnes bzw. einer Tochter und dem seiner/ihrer Eltern (meist des Vaters) verstanden. Mit intragenerationaler Mobilität meint man dagegen den Unterschied zwischen den sozialen Status', die ein einzelnes Individuum während seines Lebens erreicht. Meist wird dabei die Startposition mit der Höchst- oder Endposition ver­ glichen. Mit dem sehr vieldeutigen Begriff der beruflichen Mobilität ist hier die an den Berufspositionen und nicht an anderen Indikatoren gemessene Mobilität gemeint. Vgl. zum Problem von Berufs- oder anderen Daten bei historischen Mobilitätsstudien: S. Thernstrom, The Other Bostonians, C ambridge/Mass. 1973, 289 ff.; S. Blumin, The Historical Study of Vertical Mobility, Historical Methods Newsletter 1. 1968, Nr. 4; ders., Mobility and C hange in Ante-Bellum Philadelphia, in: S. Thernstrom/R. Sennet Hrsg., Nineteenth-C entury C ities: Essays in the New Urban History, New Haven 1969, 165 ff.; C . Griffen, Occupational Mobility in Nineteenth-C entury America, Journal of Social History 5. 1972; P. R. Knights, The Plain People of Boston, 1830—1860, N. Y. 1971; H. P. C hudacoff, Mobile Americans, N. Y. 1972. 3 G. E. Lenski, Trends in Inter-Generational Occupational Mobility in the United States, ASR 23. 1958, 514 ff.; E. F. Jackson/H. J . Crockett, Occupational Mobility in the United States: A Point Estimate and Trend C omparison, ebd., 29. 1964, 5 ff.; O.

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D. Duncan, The Trend of Occupational Mobility in the United States, ebd., 30. 1965, 491 ff.; P. M. Blau/O. D. Duncan, The American Occupational Structure, Ν. Y. 1967, 81 ff.; Ν. Rogoff, Recent Trends in Occupational Mobility, G lencoe 1953; Thernstrom, Bostonians: für weitere historische Stadtstudien zum 20. Jahrhundert, allerdings ohne Trendanalysen, vgl. S. Thernstrom, C lass and Mobility in a Nine­ teenth-Century C ity, in: R. Bendix/S. M. Lipset Hg., C lass, Status and Power, Ν. Y. 19662, 613; zudem: C. McG uire, Social Stratification and Mobility Pattern, ASR 15. 1950, 202. 4 H. Daheim, Berufliche Intergenerationen-Mobilität in der komplexen Gesellschaft, KZS 16. 1964, 99 ff. (auch Köln); K. M. Bolte, Sozialer Aufstieg u. Abstieg, Stutt­ gart 1959, 164; für Euskirchen vgl. die erste, auf historischen Quellen beruhende Trendanalyse in Deutschland: R. Mayntz, Soziale Schichtung u. sozialer Wandel in einer Industriegemeinde, Stuttgart 1958, 147 ff. (enthält sich allerdings aller Aussa­ gen über die Entwicklung der Aufstiegsmobilität). K. U. Mayer/W. Müller, Progress in Social Mobility Research? Quality and Quantity 5. 1971, 155 ff.; G. Kleining, Struktur- u. Prestigemobilität in der Bundesrepublik Deutschland, KZS 23. 1971, 20 f.; ders., Die Veränderung der Mobilitätschancen in der BRD, ebd., 23. 1971, 790 ff.; K. U. Mayer/W. Müller, Trendanalyse in der Mobilitätsforschung, ebd., 23. 1971, 778 ff.; dies., Die Analyse von Mobilitätstrends, ebd., 24. 1972, 46 ff. Mayer u. Müller haben gegen Kohortenanalysen eine Reihe von quellenkritischen Bedenken angemeldet. Eines der schwerstwiegenden Argumente dürfte sein, daß die jüngste Kohorte zu Fehlschlüssen verleiten kann, da diese Kohorte noch am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen und deshalb irrtümlicherweise gegenüber älteren und daher arrivierteren Kohorten weniger aufstiegsmobil erscheinen kann. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum beim Vergleich zwischen BRD und Weimarer Republik die Kleiningschen Daten eine Stagnation, die im folgenden genannten, nicht auf Kohor­ tenanalyse beruhenden Daten eine Zunahme der Aufstiegsmobilität aufweisen. 5 Diese Schichteinteilung entspricht dem in der deutschen Nachkriegssoziologie üb­ lichen mit leichten Veränderungen: Unterschicht meint hier Arbeiter; untere Mittel­ schicht meint hier mittlere Beamte und Angestellte, Volksschullchrer (bis Weimarer Republik), selbständige Handwerker und Kleinhändler; obere Mittelschicht meint hier Unternehmer, freie akademische Berufe, höhere Beamte einschl. Hochschullehrer, Lehrer an höheren Schulen, Geistliche Für die Probleme der Anwendung dieses Schemas bei historischen Untersuchungen sei hier auf einen noch nicht veröffentlich­ ten Aufsatz (Sozialer Aufstieg in Deutschland, 1900—1960) verwiesen. 6 Vgl. die Daten bei Kleining, Mobilitätschancen, 793. 7 Vgl. M. Janowirz, Soziale Schichtung u. Mobilität in Westdeutschland KZS 10. 1958, 15 f.; Bolte, Sozialer Aufstieg, 222 ff., Lipset/Bendix, Mobility, 17 ff., S. M. Miller, C omparative Social Mobility, C urrent Sociology 9. 1960, 29 ff.; Daheim, Intergenerationen-Mobilität, 104; K. Svalastoga, Gedanken zu internationalen Ver­ gleichen sozialer Mobilität, in: D. V. Glass/R. König, Soziale Schichtung u. soziale Mobilität, Köln 1961, 284 ff.; ders./T. Rishoy, Social Mobility: The Western Euro­ pean Model, Acta Sociologica 9. 1966; Kleining, Struktur- u. Prestigemobilität, 18 ff. 8 Die Prozentwerte der Tabelle 1 drücken jeweils den Anteil der Angehörigen einer Schicht aus, die Väter einer bestimmten (hier einer bestimmten anderen) Schicht haben. Die sog. Abstromquoten (Begriff vgl. K. M. Bolte, Vertikale Mobilität, in: R. König Hg. Handbuch der empirischen Sozialforschung, 2, Stuttgart 1969, 7), die hier ebenfalls interessant wären, lassen sich aus den zugrunde gelegten Daten nicht berechnen. In Klammern sind jeweils die Assoziationsindices angegeben. Sie werden hier verwandt, um beim historischen Vergleich der Auf- und Abstiegsraten die Ver­ änderung der Berufsstruktur mitzuberücksichtigen. Der Assoziationsindex setzt den Anteil (A) der Söhne, die Väter einer bestimmten Berufsgruppe haben, und den An© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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teil (B) dieser Berufsgruppe der Väter an sämtlichen Erwerbstätigen der Vätergenera­ tion in Relation (A:B). Nimmt beim historischen Vergleich der Assoziationsindex zu, so bedeutet dies bei sozialem Aufstieg eine Verbesserung der Startchancen. Absolut gesehen liest sich bei sozialem Aufstieg der Assoziationsindex unter 1 als Benachtei­ ligung, über 1 als Bevorzugung. Im Fall von sozialem Abstieg ist die Bedeutung um­ gekehrt. Für die Diskussion der Schätzungen für 1904/13 und 1925/29 (Spalte 1, 2), denen über 50 Erhebungen zugrunde liegen, muß hier mangels Raum auf den in Anm. 5 genannten Aufsatz hingewiesen werden. Für Spalte 3: Janowitz, 11 (ohne Agrarsektor, da die Schätzungen für 1904/13 u. 1925/29 nur ohne Agrarsektor mög­ lich sind); für Spalte 4: Mayer/Müller, Progreß, 174 (ohne Agrarsektor). Für weitere Erhebungen zur BRD vgl. R. Kreckel u. a., Vertikale Mobilität und Immobilität in der BRD, Bonn 1972, 11 ff. 9 Tabelle 2, die Assoziationsindices enthält, ist nicht mehr als eine Illustration, da weder die Zeitpunkte noch die Sozialgruppen identisch sind. Wie die in Anm. 7 aufgeführten Untersuchungen zeigen, kann Tabelle 2 nur die Richtung, nicht den Grad der Annäherung illustrieren. Für Dt. Reich bzw. BRD wie Tab. 1. Für USA berechnet nach Lenski, 516. Die besseren Daten Blau/Duncans (107 ff.) lassen sich hier nicht verwenden, da es sich um nicht umrechenbare Abstromquoten handelt. Bei sämtlichen Daten der Tab. 2 ist der Vergleichbarkeit halber der Agrarsektor nicht enthalten. 10 C . W. Mills, The Power Elite, N. Y. 1956, 107; Lipset/Bendix, Mobility, 114 ff. u. die dortige Zusammenfassung der Arbeiten von C . W. Mills, M. Newcomer, S. Keller, F. W. Taussig/C . S. Joslyn, W. L. Warner/J. C . Abegglen, S. Adams, W. Miller. Vgl. zudem: The Big Business Executive/1964: Α Study of His Social and Educational Background, unter Mitarbeit von M. Newcomer, ο. Ο. 1965, 32; S. Μ. Lipset, Social Mobility and Equal Opportunity, Public Interest Fall 1972, 91 f. 11 Vgl. Sozialer Auf- u. Abstieg im deutschen Volke, Beiträge zur Statistik Bayerns 117, München 1930, 136; H. Sachtier, Wandlungen des industriellen Unternehmers in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Diss. Halle o. J . , 41; H. Kaelble, Sozialer Aufstieg in Deutschland, 1850—1914, in: K. Jarausch Hg., Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1974 bzw. VSWG 60. 1973, 41—71; M. Kruk, Die großen Unternehmer, Frankfurt 1972; B. Biermann, Die soziale Struktur der Unternehmerschaft, Stuttgart 1971, 82 ff.; H. Pross/K. W. Böttichcr, Mana­ ger des Kapitalismus, Frankfurt 1971, 32 ff. Zum Vergleich USA/Deutschland wäh­ rend der Industriellen Revolution: H. Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung, Berlin 1972, 97 ff. 12 Die Kohortenanalyse von Blau u. Duncan (107) zeigt zumindest beim Auf­ stieg von manuellen zu (allen) nichtmanuellen Berufen keine Veränderung der Auf­ stiegsraten während des zwanzigsten Jahrhunderts. 13 Die Tabelle 3 gibt an, welcher Anteil der mittleren Angestellten (bzw. der mehrheitlich aus mittleren Angestellten bestehenden, jeweils angegebenen Sozialgrup­ pen) Arbeitersöhne und -töchter waren. Für die USA: berechnet nach Studien, zit. bei Thernstrom, C lass, 613; zudem: für Jonesville, McGuire, Social Stratification, 202; für Boston: S. Thernstrom, Bostonians, 89 (auf Zustromquoten umgerechnet); em­ ployed white collars, 1962/63; J . L. Stern/D. B. Johnson, Blue- to White-Collar Job Mobil­ ity, ο. Ο. 1968, 32; für Deutschland: kaufmänn. Angestellte: Die wirtschaftliche Lage der Handlungsgehilfen im Jahre 1908, Hamburg 1910, 60 ff.; techn. Angest.: A. Günther, Die deutschen Techniker, Berlin 1912, II, 51 f.; BRD, ca. 1959: H. Graf nach: S. Braun, Die sozialen Traditionen der Angestellten, WWI-Mitteilungen 13. 1960, 122; BRD, 1960: S. Braun/J. Fuhrmann, Angestelltenmentalität, Neuwied 1970, 69; Euskirchen: Mayntz, 158 ff.; Köln: Daheim, Intergenerationen-Mobilität, 117ff.; Schleswig-Holstein: Bolte, Aufstieg, 164 f.; Konstanz: Mayer/Müller, Pro­ gress, 177; vgl. auch H. Janberg, Die Bankangestellten, Wiesbaden 1958, 84; D. C rew, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Definitions of Modernity: Social Mobility in a German Town, 1880—1901, Journal of Social History 7. 1973. Zur Interpretation: Braun, 121 ff.; H. Steiner, So­ ziale Strukturveränderungen im modernen Kapitalismus, Berlin 1967, 137 f.; Κ. Μ. Bolte u. a., Deutsche G esellschaft im Wandel der Zeit, II, Opladen 1970, 315 f. Auch nach den Daten Kleinings stammen die Angestellten in zunehmendem Ausmaß aus der Arbeiterschaft, die Angehörigen der unteren Mittelschicht in zunehmendem Aus­ maß aus der Unterschicht — wie zu erwarten mit Ausnahme der letzten Kohorte (Geburtsjahrgänge 1936—45), die erst am Anfang ihrer Berufskarriere stand und deshalb intergenerational noch wenig aufgestiegen sein konnte (Kleining, Mobilitäts­ chancen, 797 ff.). 14 Zur sozialen Herkunft der deutschen Studenten ab 1913 muß auch hier mangels Raum auf den in Anm. 5 genannten Aufsatz verwiesen werden. Zur sozialen Her­ kunft der deutschen bzw. westdeutschen Schüler: Jahrbuch für das höhere Schulwe­ sen 1. 1931/32, 89 ff.; Wirtschaft u. Statistik 1967, 606* (bisher einzige Gesamterhe­ bungen); zur Entwicklung der sozialen Herkunft amerikanischer Studenten eine Im­ pression bei: C . Jencks/D. Riesman, The Academic Revolution, Garden C ity 1968, 95 ff.; ein Resumee der vorhandenen, verstreuten Daten fehlt, vgl.: R. A. Mulligan, Social Mobility and Higher Education, Journal of Educational Sociology 25. 1952, 479 ff.; P. Sorokin, Social and C ultural Mobility, Ν. Y. 1959, 416 ff.; Ο. Ε. Reyn­ olds, The Social and Economic Status of College Students, Ν. Y. 1927, 13 ff. (hier­ aus zit. Zahlen); E. Roper, Factors Affecting the Admission of High School Seniors to College, Washington 1949, 16 f.; American Council on Education Hg., On G et­ ting into College, Washington 1949, 16 ff.; R. A. Mulligan, Socioeconomic Back­ ground and College Enrollment, ASR 16. 1951, 188 ff.; Lipset/Bendix, Mobility, 91 ff.; M. Trow, The Democratization of Higher Education in America, European Journal of Sociology 3. 1962, 23 ff.; B. Barber, Social Stratification, Ν. Y. 1957, 390 ff.; zum Verhältnis Bildungsinvestitionen und sozialer Aufstieg für den Fall des gegenwärtigen Ausbildungssektors der USA: C . Jencks u. a., Inequality, Ν. Y. 1972; zum Wachstum der Bildungsausgaben: S. Fabricant, The Trend of G overnment Ac­ tivity in the United States, Ν. Y. 1952; Historical Statistics of the United States. Colonial Times to 1957, Washington 1960; W. G . Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jhdts., Berlin 1965, 726 ff.; Statistisches Bundesamt. Bevölkerung und Wirtschaft 1872—1972, Stuttgart 1972; H. C . Reckten­ wald, Die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben in der Bundesrepublik, in: H. König Hg., Wandlungen der Wirtschaftsstruktur in der BRD, Berlin 1962, 199 ff. 15 Vgl. für die Rekrutierung der oberen Mittelschicht insgesamt: Miller, C ompa­ rative Social Mobility, 36 ff.; Janowitz, 15 f.; Daheim, Intergenerationen-Mobilität, 104; Kleining, Struktur- u. Prestigemobilität, 18 ff.; O. D. Duncan, Social Origins of Salaried and Self-Employed Professional Workers, Social Forces 44. 1965/66, 188 f.; A. J . Reiss, Occupational Mobility of Professional Workers, ASR 20. 1955, 964 ff.; B. Davis, Eminence and Level of Social Origin, American Journal of So­ ciology 59. 1953/54, 11 ff.; für Unternehmer wie Anm. 10, 11; für höhere Beamte vgl. vor allem W. Zapf, Die Verwalter der Macht, in: ders., Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, München 19652, 93; R. Bendix, Higher C ivil Service in American Society, Boulder 1949, 25 ff.; W. L. Warner u. a., The American Federal Executive, New Haven 1963, 81 ff.; M. Ferrari, Origins and C areers in American Business, Government and Academic Elites, C alifornia Management Review 12. 1970, 26 ff.; für Ingenieure vgl. Der deutsche Ingenieur in Beruf und Gesellschaft, VDI-Informationen, Sept. 1959, Nr. 5; R. Perucci, The Significance of Intra-Occu­ pational Mobility, ASR 26. 1961, 874 ff.; S. Adams, Origins of American Occu­ pational Elites, 1900—1955, American Journal of Sociology 62. 1956/56, 360 ff.; Professoren u. a.: S. S. West, C lass Origins of Scientists, Sociometry 24. 1961, 251 ff.; B. Barber, Science and the Social Order, London 1953, 134 f.; C . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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v. Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hoch­ schulen 1864—1964, Göttingen 1956, 195 ff.; H. Pross u. a., Professoren in der Provinz, Neuwied 1970; Lehrer (an höheren Schulen/High Schools): Adams, Elites 3. 360 ff.; R. J . Havighurst/B. L. Neugarden, Society and Education, Boston 19673, 410 ff.; Kaelble, VSWG. 59; Ärzte: neben der deutschen bzw. westdeutschen Hochschul­ statistik (Medizinstudenten): Adams, Elites, 360 ff.; ders., Trends in Origins of Physicians, ASR 18. 1953, 404 ff.; für Rechtsanwälte: D. Rüschemeyer, Lawyers and Their Society, C ambridge/Mass. 1973. 16 Die Entwicklung der Berufspräferenzen oder -chancen für Arbeiterkinder läßt sich für Deutschland bisher nur an zwei Stadtstudien aufzeigen: Unter den Arbeiter­ kindern waren einfache und mittlere Angestellte und Beamte in Euskirchen 1906— 1933 12 %, 1946—53 22 %, in Köln 1906—13 13 %, 1949—56 1 8 % (Mayntz, Indu­ striegemeinde, 158 ff.; Daheim, Intergenerationen-Mobilität, 119 f.; vgl. zudem C rew, Modernity, 61 f.). Für Kinder von ungelernten Arbeitern in den amerikanischen Städten im 20. Jahrhundert vgl. Thernstrom, C lass, 613.

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28. Aspekte der Agrarpolitik im „Organisierten Kapitalismus“ Fragen und Probleme vergleichender Forschung Von HANS-JÜRGEN PUHLE

I. Aufgabe der hier vorgelegten kurzen und z. T. zugespitzten und holz­ schnittartig vereinfachten Bemerkungen soll es sein, einerseits die wichtigsten Ergebnisse einiger in der Absicht des Vergleichs unternommener Einzelstudien zur Funktion und zur Kontinuität politischer Agrarbewegungen in den kapi­ talistischen Industriegesellschaften Frankreichs, der USA und Deutschlands seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts anzudeuten und andererseits den Versuch zu machen, weiterführende Fragen im Hinblick auf einen weit­ gehend noch ausstehenden, von bestimmten erkenntnisleitenden Interessen her strukturierten und konsequent durchgeführten Vergleich auch dann zu for­ mulieren, wenn die Antworten darauf mangels gleichmäßiger Dichte der For­ schung noch nicht — oder nur sehr unvollständig — gegeben werden können1. Dabei kristallisieren sich die jeweiligen Unterschiede zwischen den verglei­ chend gegenübergestellten westlichen Industrieländern besonders deutlich her­ aus angesichts des umfassenden Problems der „German divergence from the West“ (L. Krieger)2, der Vorgeschichte, der Ursachen und Hintergründe na­ tionalsozialistischer Diktatur in Deutschland im Gegensatz zu der trotz ver­ gleichbarer oder ähnlicher ökonomischer Krisenlagen und sozialer „Heraus­ forderungen“ im ganzen weiterhin in den Bahnen demokratischer Politik ver­ laufenden Entwicklung der ebenfalls nach kapitalistischen Prinzipien organi­ sierten größeren Staaten Westeuropas und Nordamerikas, in denen entweder (wie in den USA) begrenzte Ansätze „liberaler“ Reformpolitik unter stärke­ rer Betonung „korporativer“ und staatsinterventionistischer Züge möglich wa­ ren oder (wie in Frankreich) zumindest das traditionale politische Potential der etablierten, einander vielfach blockierenden, organisierten sozialen Grup­ pen durchweg stark genug blieb, um autoritäre oder faschistische Verformun­ gen der gesamtpolitischen Landschaft zu verhindern3. Die Gemeinsamkeiten der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ent­ wicklungstendenzen in den fortgeschritteneren Industriegesellschaften spiegeln sich demgegenüber vorzüglich in jenen Erscheinungen direkter oder vermittel­ ter Verklammerungen zwischen privaten und öffentlichen Sektoren der Wirt­ schaft und Politik, zwischen den um die Mitte des 19. Jahrhunderts und für

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die politischen Theoretiker des Liberalismus noch relativ exakt voneinander abgrenzbaren Bereichen der Gesellschaft und des Staats. Der Gesamtkomplex dieser Verschränkungen soll hier — im Unterschied zum manchesterliberalen Konkurrenzkapitalismus — mit dem (theoretisch noch keineswegs durchreflek­ tierten) Arbeitsbegriff des „Organisierten (bzw. sich organisierenden) Kapi­ talismus“ bezeichnet werden. „Organisierter Kapitalismus“ meint an dieser Stelle zunächst nur im Sinne eines operationalen Idealtyps ein System wirt­ schaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Interaktion, in dem nicht nur aufgrund der Bedrohung durch die Ungleichmäßigkeiten wirtschaftlichen Wachstums und die Konjunkturlagen Handels- und Industriekapital sich ver­ flechten, sondern, unter strikter Beibehaltung des kapitalistischen Prinzips der privaten Aneignung der Gewinne, die einzelnen Wirtschaftssektoren (Land­ wirtschaft, Industrie und privater tertiärer Sektor) untereinander ebenso wie mit den regulierenden, verwaltenden und in verstärktem Umfang auch dienst­ leistenden Agenturen der Staatsmacht enger verklammert werden, das Markt­ prinzip zunehmend durch das Organisationsprinzip ersetzt wird und der Staat eine unvollkommen bleibende, aber wachsende Tendenz zur Lenkung der Wirtschaft und zur Intervention in die Gesellschaft entwickelt, was wiederum zurückwirkt auf die politischen Institutionen und Konsultationsmechanismen wie auf die Organisationsformen privater Interessenten und in den Bereich der politischen Öffentlichkeit4. Der benutzte Arbeitsbegriff hat ungeachtet seiner noch bestehenden theo­ retischen Defizienz und seiner unschwer aufweisbaren Grenzen (z. Β. taugt er nur wenig als durchgängiges Periodisierungskriterium) den Vorteil, daß er es erlaubt, die in den fortgeschritteneren Industrieländern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ansatzweise sich ausprägenden und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker verfestigenden Koordinations- und Kooperations­ mechanismen zwischen allen Sektoren der Privatwirtschaft und dem Staat, denen weder am „klassischen“ Konkurrenzkapitalismus orientierte liberale Wirtschaftstheorien noch die orthodox-marxistischen Thesen vom „staatsmo­ nopolistischen Kapitalismus“ in ausreichendem Maße Rechnung tragen, in einer möglichst offenen und gerade auch im Rahmen einer vergleichenden Fragestellung die notwendigen Differenzierungen erlaubenden Weise in den Griff der Analysen zu bekommen5. Im Hinblick auf den hier zur Debatte stehenden Agrarsektor und die in ihm heute anzutreffende Realität nicht mehr freier, sondern überwiegend staatlich oder halbstaatlich administrierter, integrierter multinationaler wie nationaler Großmärkte in Westeuropa und in den USA impliziert die Suche nach den jeweiligen Voraussetzungen und Bedingungen sowie nach dem Zeitpunkt des „Durchbruchs“ eines überwiegend organisierten kapitalistischen Systems vor allem die Frage nach dem Verhältnis von agrarischer Selbstor­ ganisation und Interessenwahrung zu staatlichen Interventionspraktiken (und gegebenenfalls den Mischungen beider). Das in diesem Zusammenhang thema­ tisierte Problem des jeweiligen Anteils der sozialen und politischen Kräfte des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Agrarsektors an der — und ihres Einflusses auf die — Staatsmacht und deren Organe(n) führt dabei in den konkreten Untersuchungszusammenhängen zu­ mindest teilweise wieder zurück auf jene andere Problematik der unterschied­ lichen politischen Entwicklungen (Autoritarismus—Präfaschismus—Faschismus versus innerhalb kapitalistischer Wirtschaftsordnungen sich umorganisierende oder bewahrende Demokratien), auf die jeweils dominanten Tendenzen in der Entwicklung der sozioökonomischen Faktoren wie der institutionellen Traditionen und der politischen Kultur eines Landes6. Die Frage nach den möglichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Po­ sition der Agrarsektoren verschiedener Länder in der Phase des Übergangs zum „Organisierten Kapitalismus“ und nach dessen „Durchbruch“ einerseits und die Frage nach dem Stellenwert der landwirtschaftlichen Gegebenheiten, der organisierten Agrarbewegungen und des gesamten Komplexes der Agrar­ politik (mit ihren Verästelungen in die Zoll-, Handels- und Finanzpolitik usw.) als Bestimmungsfaktoren einer gesamtpolitischen Orientierung anderer­ seits können in befriedigender Weise nur aufeinander bezogen und ineinander verschränkt beantwortet werden, wenn ein konkreter, an funktionalen Äqui­ valenten orientierter Vergleich angestrebt wird. Der Bezugsrahmen des poli­ tischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesamtsystems, der mit konstitutiv ist für die Reaktionen agrarischer Bewegungen auf die Industrialisierung (der ge­ genüber jene sich nicht als Avantgarde, sondern eher als ängstlich bremsende Nachhut verhielten) wie auch für die Ausformung der agrarischen Organisa­ tionen und ihr Koalitionsverhalten, verdient dabei ebensostarke Berücksichti­ gung wie die Strukturen des Agrarsektors selber. Der Reiz eines Vergleichs zwischen Frankreich, den USA und Deutschland liegt aber nicht nur in den verschiedenen politischen, sozialen und geographischen Ausgangskonstellationen, auf die schon Barrington Moore hingewiesen hat7, sondern auch in der Ver­ schiedenheit des Industrialisierungs- und Innovationstempos der drei Länder. II. Der Übergang in einen starker organisierten Kapitalismus, den auf dem Agrarsektor die umfassende Organisation des staatlichen Agrarprotektionis­ mus und/oder Agrarinterventionismus widerspiegelt, fiel in Deutschland in die Zeit zwischen den späten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Ersten Weltkriegs, in den USA in die ausgehenden 20er Jahre und die Epoche des Rooseveltschen New Deal8. Für Frankreich wird man dieses Phä­ nomen mit einigem Vorbehalt trotz früherer vereinzelter und sektoraler An­ sätze wohl erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ansetzen dürfen, in der jedoch das nationale Bezugssystem, gerade was den Agrarsektor angeht, bereits zunehmend durch den multinationalen Rahmen der westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft überlagert worden ist9. Für die Fragen nach der je­ weiligen Position und nach dem Stellenwert des Agrarsektors neben den an­ deren Wirtschaftssektoren und den intervenierenden Agenturen der Staats­ macht und nach den wirkungsmächtigsten Kontinuitätsbrüchen in der Ge­ schichte der politischen Agrarbewegungen bedeutet das, daß im Vergleich je­ weils verschiedene, nicht synchrone Zeitabschnitte in den Mittelpunkt der Un35 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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tersuchung geraten. Das Ungleichzeitige muß unter den analytischen Frage­ stellungen einer am Vergleich historischer Kontinuitätslinien interessierten po­ litischen Struktur- und Sozialgeschichte, wenn notwendig, als Gleichzeitiges behandelt werden. Dabei ergeben sich einige strukturelle und tendenzielle Gemeinsamkeiten, die wesentlich aus dem Prozeß der Industrialisierung selber resultieren, sowie gravierende Unterschiede vor allem in den sozialen und politischen Ausgangs­ punkten und Reaktionsweisen im einzelnen. Die Entwicklung des Agrarsektors und die Agrarpolitik in den westlichen Industrieländern seit dem Durchbruch der Industrialisierung in der ersten und zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch in der Phase des Übergangs vom Agrar- zum Industriestaat ist wesentlich gekennzeichnet durch eine Abnahme der Ökonomischen Bedeutung der Landwirtschaft gegen­ über Industrie- und Dienstleistungssektor, den Rückgang der landwirtschaft­ lich tätigen Bevölkerung und das Absinken des agrarischen Anteils am Brutto­ inlandsprodukt und an der Wertschöpfung10. Außerdem bewirkte die seit Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmende Integration des landwirtschaftli­ chen Sektors in die kapitalistischen Mechanismen der Produkten- wie der Bo­ denmärkte gleichzeitig eine verstärkte Abhängigkeit der Agrarwirtschaft von den gesamtwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen dergestalt, daß zwar auch weiterhin sektorale und begrenzte Agrarkrisen mit verschiedenen Ursa­ chen (bei gleichzeitiger Prosperität der anderen Wirtschaftssektoren) möglich blieben (wie nach 1920 in den USA), aber gesamtwirtschaftliche Depressionen oder Deflationen immer zugleich auch solche des Agrarsektors waren (wie zwi­ schen 1873 und 1896 oder nach 1929)11. Dem Schwund der Ökonomischen Stärke und der gewachsenen Krisenanfäl­ ligkeit der Landwirtschaft gegenüber steht — zumindest bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts — ihr noch aus vorindustrieller Zeit überkommenes soziales und politisches Einflußpotential, das es den Agrariern aller Länder durchweg erlaubte, die wirtschaftlichen Verluste zu kompensieren. Die entscheidende Voraussetzung dafür war die Tatsache, daß die gesellschaftlichen Strukturen und die Kanäle politischer Willensbildung in den größeren industrialisieren­ den Ländern noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, teilweise noch bis heute, geprägt gewesen sind von wesentlich vorindustriellen, agrargesellschaftlichen Faktoren und Konstellationen, wie sie sich z. B. äußern in der traditionellen Bevorzugung agrarischer Regionen im Wahlrecht, der Dominanz landwirt­ schaftlicher Interessen in den zweiten Kammern (etwa im französischen und im amerikanischen Senat), oft auch in den ersten (wie im französischen Hono­ ratiorenparlamentarismus der 3. und 4. Republik oder im preußischen Abge­ ordnetenhaus vor 1918). Die Ausgangspunkte konnten dabei allerdings verschieden sein und auch zu einer unterschiedlichen gesamtpolitischen Weiterentwicklung führen. In Frank­ reich sicherte der landwirtschaftliche Großbesitz des Nordwestens und des Pariser Beckens seine Interessen im Honoratiorenparlament der ländlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Notabein, der Individualismus der Kleineigentümer verwirklichte sich dagegen in den bonapartistischen Systemen oder machte sich gelegentlich in protest­ lerischer action directe vom Lande Luft12. In den USA wurde nach dem unvollständigen Sieg des Bündnisses zwischen nordöstlichem Industriekapital und den Farmern des Mittelwestens über die südstaatliche Plantagenaristokratie im Bürgerkrieg das in der Tradition Jef­ fersons und Jacksons stehende frühkapitalistische Gleichheitsideal der auf sich selbst gestellten „yeomen farmers“ (ein Pendant nicht so sehr zum europäi­ schen freien Bauern als vielmehr zum „wagenden Unternehmer“ apologeti­ scher Wirtschaftsgeschichten) konstitutiv für die Artikulation der Forderun­ gen partizipatorischer „agrarischer Demokratie“ 13. In Deutschland blieb die Übermacht des vorwiegend getreidebauenden, großgrundbesitzenden und vielfältig privilegierten ostelbischen Junkertums über die west- und süddeutschen Besitzer ebenso unangetastet wie dessen be­ vorzugte Stellung neben Bürokratie und Militär im preußischen Herrschafts­ kartell, in einem Staat, für den das Fehlen einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution ebenso charakteristisch war wie das Vorhandensein spätfeudaler Relikte in den politischen Institutionen und in der politischen Kultur14. Entsprechend den Unterschieden im Industrialisierungstempo und in den je vorfindbaren vorindustriellen sozioökonomischen Konstellationen sowie der tradierten politischen Kultur (vor allem hinsichtlich der Intensität staatlicher Intervention) variieren auch die Erscheinungsformen des Agrarinterventionismus und der Zeitpunkt seiner endgültigen Durchsetzung von Land zu Land. Besonders deutlich wird das an der Verschiedenheit der jeweiligen Reaktionen auf die weltweite Agrardepression zwischen 1875 und 1898 und des Ausbaus der damals eingeleiteten Maßnahmen in dem halben Jahrhundert danach. III. Im relativ langsam industrialisierenden15 Frankreich setzten die in den 70er und 80er Jahren gegründeten, vom Großbesitz beherrschten konservativen und „radikalen“ Großsyndikate der Landwirtschaft16 im Bündnis mit be­ stimmten Sektoren der verarbeitenden Industrie mit dem Méline-Tarif einen Zollschutz auf mittlerem Niveau sowie später sektorale Schutzmaßnahmen für die großen Sonderkulturen durch, deren Interessen daneben noch von den mächtigen Branchenorganisationen durchaus wirksam gewahrt wurden. Die Branchenorganisationen erwiesen sich auf die Dauer auch als die entscheiden­ den Machtträger des französischen Agrarsyndikalismus, zumal ihnen ange­ sichts der doppelgleisig verlaufenden Traditionslinien der politischen Artiku­ lation des Agrarsektors in Konflikten zwischen den Spitzen der großen „in­ tegralen“ Verbände und deren aufbegehrendem regionalen Anhang im Land oft genug die Funktion des Züngleins an der Waage zukam17. Die Geschichte der französischen Agrarbewegungen und der Agrarpolitik im 20. Jahrhundert verlief relativ kontinuierlich ohne große Brüche und be­ deutsame gesamtpolitische Auswirkungen18. Die politischen Techniken blieben weitgehend die der klassischen Pressure Group-Politik und des mehrgleisigen parlamentarischen Lobbyismus19. Regionale Protestbewegungen von der länd35*

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lichen Basis wurden entweder integriert oder lösten sich nach zahlreichen Spal­ tungen wieder auf20. Die regional sehr verschiedenen traditionellen politi­ schen Bindungen der Bauern wurden dabei nicht wesentlich angetastet; die po­ litische Vertretung der französischen Landwirtschaft blieb zersplittert21. Als ein noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts überwiegender Agrarstaat und als ein Land des ausgeprägten Traditionalismus auch in politischer Hinsicht mit einer Neigung der gegenseitigen Blockierung der großen gesellschaftlichen Lager22 entwickelte Frankreich bis Anfang der 50er Jahre ein vergleichsweise „altmodisches“ protektionistisches System für den landwirtschaftlichen Sektor auf einem gegenüber Deutschland oder den USA relativ niedrigen Preisni­ veau und mit nur geringer staatlicher Interventionsintensität, aber deutlich zu­ gunsten der größeren Getreide-, Zuckerrüben-, Wein- und Alkoholproduzen­ ten23. Der einzige ansatzweise Bruch in der kontinuierlichen Traditionslinie fran­ zösischer Agrarpolitik, die Möglichkeit der Zuwendung zu mehr Strukturpo­ litik Ende der 50er Jahre durch ein Zusammentreffen der Einflußnahme des jungen, reformfreudigen C entre National des Jeunes Agriculteurs (C NJA) im Lande mit den vom neuen System der 5. Republik vorgeprägten Koope­ rationsformen zwischen Regierung und Öffentlichkeit, die an die Stelle der Parlamentshonoratioren der 4. Republik die Technokraten der Administra­ tion gesetzt hatten, wurde in den 60er Jahren zunehmend aufgefangen durch die gemeinsame europäische Agrarpolitik, d. h. durch eine folgenreiche Ver­ änderung des gesamten Bezugsrahmens, deren Rückwirkung auf die französi­ sche Basis dort die traditionalen Verhaltensweisen verstärkte und den impetus zu struktureller Veränderung bremste24. Es müßte jedoch auch ohne das Eingreifen dieses deus ex machina bezwei­ felt werden, daß die Kräfte des Wandels sich auf die Dauer hätten entschei­ dend durchsetzen können, da sie einen ausdrücklichen oder bewußt gemachten Interessengegensatz zwischen agrarischen Groß- und Kleinbesitzern voraus­ setzten, der in der nachrevolutionären politischen Kultur Frankreichs nicht heimisch ist, zumal auch die Großagrarier schon seit den Zeiten des Absolutis­ mus nicht mehr zur eigentlich politisch herrschenden Klasse gehören. Struktur­ reformerische Pläne, die auf einen Abbau der unrentablen Bauernstellen, Zusammenlegung, stärker genossenschaftliche Organisation der Produktion, Umsiedlung und Umschulung oder gar auf eine Aufteilung des in der Regel rentabel wirtschaftenden Großbesitzes abzielten, haben bisher in Frankreich immer Schiffbruch erlitten: Sie waren entweder gegen die wirtschaftliche Ver­ nunft oder sie hatten die übermächtige bäuerlich-feudale wie bourgeoise Tradi­ tion des individuellen Familienbesitzes gegen sich, die seit Gambettas Entschluß, mit den Bauern, die ja damals auch mehr Stimmen hatten, statt mit den städti­ schen Arbeitern zu paktieren, von allen linksbürgerlichen und sozialistischen Parteien bis zur heutigen Kommunistischen Partei gestützt worden ist und nur gelegentlich von linken Katholiken angegriffen wird25. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Der Konsensus einer mühsam erkämpften, aber in sozialer Hinsicht von der Bourgeoisie bisher nie weitergeführten Revolution wirkt sich auf die politische Kultur Frankreichs zwar harmonsierend und insgesamt als Stärkung eines selbstverständlichen demokratischen Potentials aus. Er verstärkt aber, verbun­ den mit dem aufgrund langsamen Entwicklungstempos noch relativ ungebro­ chenen Traditionalismus des Landes auf nahezu allen Sektoren, das Behar­ rungsvermögen des wirtschaftlichen und sozialen status quo und politisch kon­ servative bis technokratische Kräfte26. In den USA setzte der Agrannterventionismus erst seit Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts ein. Vorher hatten die Farmer, vor allem des Mit­ telwestens, aber auch des Südens in der Krise gegen Ende des 19. Jahrhunderts radikale, sich auf die Ideale partizipatorischer „agrarischer Demokratie“ be­ rufende, „populistische“ Protestbewegungen der landwirtschaftlich tätigen klei­ neren kapitalistischen Unternehmer gegen die zunehmenden Organisations­ tendenzen der „Großen“ in Industrie, im Banken- und Eisenbahngeschäft or­ ganisiert. Dieser populistischen Revolte, die zwar als Revolte mit der Wahl­ niederlage von 1896 endgültig mißlang27, mit der Durchsetzung bescheidener und schrittweiser, „progressiver“ Reformpolitik nach der Jahrhundertwende aber durchaus ansehnliche Früchte trug, ging es jedoch noch nicht so sehr um expliziten Agrarprotektionismus als vielmehr um die Kontrolle und Regle­ mentierung der industriellen Konkurrenz und der Produktenbörsen sowie eine inflationäre Geld- und Kreditpolitik zugunsten der Landwirtschaft. Da die amerikanischen Farmer trotz der Krise vornehmlich am Export interessiert waren, waren sie stärker (und auch wesentlich eher als etwa die Industrie) im­ perialistisch als protektionistisch gesonnen; Schutzzölle spielten in ihrer Agi­ tation und Politik noch kaum eine Rolle. Dieser Zustand änderte sich erst in der auf die landwirtschaftliche Prospe­ rität zwischen 1900 und 1913 und den zusätzlichen Boom der Kriegsjahre folgenden, wesentlich durch das Ende der Kriegsbewirtschaftung28 und den Verlust der europäischen Märkte verursachten sektoralen Agrardepression ab 1920, die spater bruchlos überging in die gesamtwirtschaftliche Krise am Ende der 20er Jahre29. Die Versuche, die radikale Basisagitation wiederzubeleben, blieben erfolglos. Demgegenüber setzte die neue Pressure Group der Farm Bureaus, die 1921 den Farm Bloc im Kongreß organisierte, sich im Parlament immer stärker durch30. Die zweimal im Kongreß unter dem Druck der Farm Bureaus beschlossenen McNary-Haugen-Gesetze, die ein doppeltes Preisni­ veau für die Hauptgetreidearten, ein hohes inländisches und ein niedriges für den Außenhandel und den Ausgleich der Differenz aus Steuermitteln und Abgaben auf die Weiterverarbeitung vorsahen, traten lediglich aufgrund des Vetos eines den manchesterliberalen Business-Idealen der Industrie verpflich­ teten Präsidenten nicht in Kraft31. Die Politik des Preissubventionismus, der Marktlenkung und der Regie­ rungsintervention im Auftrag und im Interesse der landwirtschaftlichen Pro­ duzenten begann erst mit der Errichtung des (noch relativ erfolglosen) Hoover© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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schen Farm Board in der Krise von 1929 und wurde ab 1933 noch durch frei­ willige, aber unwahrscheinlich attraktive Produktionskontrollen unter Roose­ velts Agricultural Adjustment Administration ausgebaut zu einem umfassen­ den, von der damals größten zivilen bürokratischen Maschinerie des Staates interventionistisch gelenkten landwirtschaftlichen Subventionssystem, wie es — mehrmals abgeändert — in den Grundzügen noch bis heute besteht32. Dabei werden nach dem veralteten, aber für die Produzenten einträglichen parity-Schema33 alle zwei Jahre die garantierten Mindestpreise für die wich­ tigsten landwirtschaftlichen Produkte gesetzlich fixiert, die (ständig steigen­ den) Subventionsmittel im Haushaltsansatz bereitgestellt und die Maximai­ Anbauflächen (für die gegen Ausgleichszahlungen freiwillig am Programm teil­ nehmenden Erzeuger) festgelegt. Diese letzte Maßnahme hat ihren Zweck der Produktionsbeschränkung zwecks Preisstützung bislang allerdings so gut wie nie erreicht, da die Preisgarantien zur Intensivierung der Produktion anreiz­ ten und die landwirtschaftliche Überproduktion nur noch vergrößerten, was wiederum die Regierung regelmäßig in Absatzschwierigkeiten gebracht hat. Die Motivationen der UNRRA-Programme, Marshall-Plan und Entwick­ lungshilfen, Korea- und Vietnamhilfen als Versuche der Verlängerung der ag­ rarischen Kriegskonjunktur in die Nachkriegszeit hinein machen das ebenso deutlich wie die gegenwärtige Politik hart am Rande des Handelskrieges ge­ genüber der EWG oder das zunehmende Interesse am Handel mit Ostblock­ ländern. Von allen Programmen, die Anfang der 30er Jahre diskutiert wurden, sind Regierung und Gesetzgeber dabei relativ kontinuierlich den Vorschlägen der in den ohnehin durch die traditionelle enge Zusammenarbeit mit den staatli­ chen Agenturen privilegierten Farm Bureaus zusammengeschlossenen Allian2 der Farmer des östlichen Mittelwestens und des Südens (und nicht der radi­ kaleren Farmers' Union des westlichen Mittelwestens) gefolgt, die in dem Maße, in dem ihre ökonomische Sicherheit stabilisiert wurde, zunehmend kon­ servativer wurden und erfolgreich alle Versuche, besonders der Demokrati­ schen Regierungen in der Tradition des New Deal, die landwirtschaftlichen Hilfsprogramme auch auf die unterprivilegierten Pächter, Landarbeiter und Kleinbetriebe auszudehnen, blockiert haben und außerdem immer stärker die Rückkehr zum freien Markt (bei weiter garantierten Subventionen) propa­ gieren34. Die in der Tradition des Progressivism fortgeführte Rooseveltsche Reform­ politik integrierte das ehemals populistische Protestpotential vom Lande end­ gültig in die ausgefahrenen Bahnen der Traditionsparteien und gab den gro­ ßen Organisationen gleichzeitig durch den Ausbau der staatlichen Interven­ tionsmechanismen neue Möglichkeiten gezielter Interessenpolitik innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens. Vereinfacht gesagt hat der amerika­ nische Kapitalismus von der Basis des schnell expandierenden Industrie- und Bankensektors her sowohl die Landwirtschaft als auch die Staatsmacht inte­ griert. Die Politik des umfassenden Agrarsubventiomsmus hat die tonangeben© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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den Farmerorganisationen aus einer Position des radikalen Protests von links im Namen der „agrarischen Demokratie“ durch eine Phase klassischer Pres­ sure Group-Politik und der Allianz mit der Regierung in der ersten Phase des New Deal hindurch in eine Position der Status quo-Bewahrung weit rechts von der Mitte gebracht. Richtung und Umfang der Subventionsgesetzgebung und der Agrarpolitik wurden dabei wesentlich mehr von den großen Farmer­ organisationen bestimmt als von der Regierung. In dem von Preußen her dominierten Deutschland initierte die von Bis­ marck noch souverän manipulierte Allianz von „Roggen und Eisen“ nicht nur Ende der 70er Jahre die Politik des industriellen und landwirtschaftlichen Zollprotektionismus (dessen Satze bis Ende der 80er Jahre um das fünffache zum Hochschutzzoll erhöht wurden); ihr ideologischer Konsensus wirkte au­ ßerdem weiter. Die Formierung des Bundes der Landwirte Anfang der 90er Jahre unter dem Eindruck des konjunkturellen Preisverfalls, der die Folgen einer fast hundert Jahre verschleppten Strukturkrise der Landwirtschaft be­ sonders deutlich hervortreten ließ, im eindeutigen Interesse der ostelbischen Großagrarier gegen die relativ unerheblichen C aprivischen Zollreduktionen gerichtet, sprengte die Bahnen der hergebrachten Pressure Group-Politik im Parlament und in den „petits comités“ der bürokratischen Honoratioren und bereicherte die deutsche Politik um einen neuen Typ von straff geführter, schlagkräftiger, agitatorisch tätiger Massenorganisation landwirtschaftlicher Großbesitzerinteressen mit einer militanten wirtschaftsharmonistischen, sozial­ darwinistischen, antisemitischen, völkisch-nationalen, antiparlamentarischen, mittelständischen und latent expansionistischen, im ganzen durchaus präfa­ schistischen Kampfesideologie, direktdemokratischer Agitation und reaktionären wirtschaftspolitischen Zielsetzungen. Der Bund der Landwirte wurde nicht nur innerhalb kurzer Zeit zur domi­ nierenden agrarischen Interessenorganisation, stellte die kleineren west- und süddeutschen Verbände in den Schatten und unterwanderte zahlreiche Land­ wirtschaftskammern, sondern beherrschte auch die Deutsch-Konservative Par­ tei und darüber hinaus eine große Gruppe von Reichstagsabgeordneten und durchweg mehr als ein Drittel, zuzeiten sogar die Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus und trug außerdem in enger Verbindung mit den Organi­ sationen von Mittelstand und Schwerindustrie entscheidend zur politischen Po­ larisierung der deutschen Gesellschaft vor 1914 und zur weiteren Verzögerung der Durchsetzung des Parlamentarismus in Deutschland bei35. Der Bund der Landwirte sicherte der Landwirtschaft darüber hinaus auch im Zolltarif von 1902 wieder das relativ hohe Protektionsniveau der Bis­ marckzeit und setzte zahllose „kleine Mittel“ zugunsten des Agrarsektors durch, vom Ausbau der „Branntweinliebesgaben“ über die Margarine- und Viehseuchengesetzgebung bis hin zur Verzögerung des Baus des Mittelland­ kanals und die Verwässerung der Reichsfinanzreform von 1909. Die Lieb­ lingsidee der organisierten Agrarier, der „Antrag Kanitz“ , der mit der Ver­ staatlichung des Getreideaußenhandels die privilegierte Sozialisierung des Pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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duzentenrisikos der kleinen Oberschicht eines einzigen Wirtschaftssektors an­ zielte, wurde allerdings ebenso wie ihre Forderung nach konsequenter Autar­ kiepolitik nicht mehr im Kaiserreich, sondern (dem Inhalt nach) erst im na­ tionalsozialistischen Reichsnährstand verwirklicht, der ausdrücklich an die Traditionen des Bundes anknüpfte. Die interventionistische deutsche Agrarpolitik folgte auch nach 1919 trotz mancher organisatorischer Modifikationen36 und der kurzfristigen Unruhe im Zeichen von Wirtschaftskrise und „Grüner Front“ 37 bis 1945 konsequent den bereits im Kaiserreich ausgeprägten Kontinuitätslinien aus Zollschutz, „kleinen Mitteln“ , Steuerprivilegien vor allem für den ostelbischen Großbe­ sitz und zahlreichen indirekten Subventionen und staatlichen Preisstützungs­ maßnahmen. Die Handelsvertragspolitik in der Zeit der Weimarer Republik38, die Tätigkeit von Getreidehandelsgesellschaft (GHG) und Getreide Industrie Commission AG (GIC ), Preußenkasse und „Osthilfe“ 39 machen das ebenso deutlich wie das Einschwenken der SPD auf die etablierte interventionistische Agrarpolitik in der zweiten Hälfte der 20er Jahre40 oder später die Bevor­ zugung der Großbetriebe durch die zentralen Verordnungen des Reichsnähr­ standes: Entschuldungsgesetz, Erbhofgesetz, das sog. „Getreidegrundgesetz“ von 1934, usw.41. In wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht reicht die Kontinuität trotz der wichtigen politischen, geographischen und sozialen Zäsur des Jahres 1945 durchaus auch noch in die Geschichte der Bundesrepublik hinein, selbst wenn die ostelbischen Agrarier verschwunden sind. Allerdings operiert die Einheits­ organisation des Deutschen Bauernverbandes wieder im Stile klassischer Pres­ sure Group-Politik im Rahmen eines akzeptierten parlamentarischen Systems, und ihre Forderungen spiegeln durchaus konservative und nicht mehr prä­ faschistische Tendenzen. In dem Maße aber, in dem die tonangebende landwirtschaftliche Interes­ senorganisation auf den früher üblichen gesamtpolitischen Anspruch der Ag­ rarier verzichtet und sich auf die sektorale Interessenwahrung beschränkt hat, hat ihr Erfolg auf diesem Gebiet zugenommen. Die Durchsetzung des Land­ wirtschaftsgesetzes vom September 1955 (einstimmig im Bundestag angenom­ men), das praktisch den Anspruch auf Parität gegenüber den nichtlandwirt­ schaftlichen Sektoren gesetzlich verankerte und die Regierung zu entsprechen­ den Ausgleichszahlungen — wenn auch zunächst unkoordiniert und eher nach dem Gießkannenprinzip — verpflichtete, stellt m. E. neben den zweijährigen amerikanischen parity payments appropriations den bisher größten und um­ fassendsten Triumph des staatlichen Interventionismus im Rahmen einer na­ tionalen Agrarpolitik dar, der zudem auch entscheidend in die sich konsoli­ dierende EWG hineinwirken sollte42. IV. Der Agrarinterventionismus der größeren westlichen Industrieländer war in den letzten hundert Jahren wesentlich dadurch gekennzeichnet, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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— daß er in der Regel von den organisierten Großproduzenten auf Kosten der kleineren Produzenten, die statistisch überall in der Mehrheit sind, aber weniger am Markt anzubieten haben, durchgesetzt wurde; — daß mithin die Einkommensstützung den Vorrang vor jeder Strukturpo­ litik und technischen Modernisierung gehabt hat und die Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren nicht, wie etwa in Holland und Dänemark (übri­ gens lange Zeit Freihandelsländern) durch rechtzeitige Spezialisierung und bewußte Innovationsförderung, zu einem sich selber tragenden Wirtschafts­ sektor entwickelt wurde, man sogar vielfach dafür Sorge trug, strukturelle Reformen und Modernisierung zugunsten bloß konservierender Status quoGarantie zu verhindern; — daß die Einkommensstützung gleichzeitig über die Preise und die Steuern vorgenommen wurde, also der Konsument doppelt belastet wird, davon aber nur einmal nach dem Einkommen gestaffelt, während die landwirtschaftlichen Produzenten in der Regel umso mehr vom Subventionssystem profitieren, je mehr sie produzieren und verkaufen43; — daß die Intervention des immer stärker gesamtwirtschaftliche und -gesell­ schaftliche Lenkung monopolisierenden Staates in zunehmendem Maße be­ müht worden ist zwecks Zollschutz oder Exportsubvention, zur Administrie­ rung eines doppelten Niveaus der Agrarpreise, zur Marktregulierung im In­ teresse der Produzenten und zur Reduzierung des Unternehmerrisikos, daß die großen Agrarorganisationen sich aber auf der anderen Seite im Namen der unternehmerischen Freiheit gegen eine (möglicherweise die Gewinne einschrän­ kende) Produktionskontrolle erfolgreich zur Wehr gesetzt haben, mithin Ver­ luste weitgehend sozialisiert wurden, während die Gewinne weiterhin dem kapitalistischen Prinzip der privaten Aneignung unterworfen blieben. Die Tatsache, daß es den tonangebenden Großproduzenten trotz dieser po­ litischen Implikationen immer wieder gelungen ist, sich gegen die gelegentlich auch separat organisierten kleineren Bauern oder Farmer durchzusetzen, läßt sich dabei noch relativ einfach aus den finanziellen, organisatorischen oder koalitionsbedingten Voraussetzungen der jeweiligen Einfluß- oder Machtchan­ cen erklären. Der andere und wesentlich bedeutsamere Umstand aber, daß die von den Großbesitzern dominierten Verbände in der Regel die Kleinbesitzer trotz deren oft entgegengesetzter Interessen (z. B. Produktenpreis vs. Futter­ mittelpreis) stillschweigend in ihre Reihen integrieren konnten, läßt sich (will man nicht davon ausgehen, daß ärmere Bauern nicht nur sozial schwächer, sondern auch noch dümmer als andere seien) nicht allein motivieren mit dem gemeinsamen Interesse an hohen Bodenpreisen und der Bewahrung des (nur abstrakt gleichwertigen) Eigentums, überliefertem Individualismus, Industrie­, Kapitalismus- und Arbeiterfeindlichkeit und den Mechanismen der gezielten „gesamtagrarischen“ Integrationsideologien und geschickten Propagandatech­ niken der Großverbände44. Die genannten Faktoren erklären die immer wieder berufene und zustande gebrachte Aktionseinheit zwischen großen und kleineren landwirtschaftlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Besitzern sicherlich zu großen Teilen — und das in konkreten konjunkturellen und regionalen Situationen oder gesamtpolitischen Konstellationen einmal mehr, einmal weniger —, vermögen sie aber noch nicht hinreichend und zwin­ gend verständlich zu machen. Hier müßte zum einen noch der ganz offenkun­ dige Mangel an aussichtsreichen und zugleich realistischen Alternativstrategien im einzelnen begründet und auf seine Ursachen hin geprüft werden. Zum an­ deren und vor allem wäre jedoch die Klassenlage der mittleren und kleinen Besitzer nach ihrer subjektiven Seite hin und als potentiell handlungsorien­ tierender Faktor systematisch zu untersuchen, eine Aufgabe, die trotz verein­ zelter Ansätze bisher noch kaum in Angriff genommen worden ist, die aber, von einem breiten Ansatz kooperierender sozial geschichtlicher, ökonomischer und soziologischer Feldforschung ausgehend, zu reizvollen und weiterführen­ den Ergebnissen gelangen könnte. Der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sehr deutlich zutage tretende land­ wirtschaftliche Strukturwandel, der sich vor allem in einer neuerlichen rapiden Abnahme der landwirtschaftlichen Betriebe und der landwirtschaftlich täti­ gen Bevölkerung, fortschreitender Modernisierung und Maschinisierung äußert (in den USA seit den 40er und besonders in der ersten Hälfte der 50er Jahre; in Deutschland in den 50er und 60er Jahren; in Frankreich allmählich erst seit den 60er Jahren), hat zwar die unrentablen Kleinstbetriebe dezimiert, Flurbe­ reinigung, Zusammenlegung und Anbaumethoden oftmals intensiviert, aber die traditionellen Strukturen interventionistischer Agrarpolitik noch nicht grundlegend verändern können. Im Gegenteil scheinen die Fortschreibung eines zwar des öfteren totgesagten, aber dann doch immer stärker aufgebläh­ ten Subventionismus nach dem Parity-Schema, in den USA und die Errichtung des komplexen Systems der verwalteten Wirtschaft des europäischen Agrar­ markts zwischen landwirtschaftlicher Interessenpolitik (in der multinationalen Pressure Group der C OPA45), bürokratischer Lenkung und den besonders in jüngster Zeit angesichts der zunehmenden Verquickung mit der Währungspo­ litik stärker als zuvor divergierenden „nationalen Interessen“ allenfalls eine neue, fortgeschrittenere Phase interventionistischer Agrarpolitik im organisier­ ten Kapitalismus der westlichen Industrieländer einzuleiten, die wie die frü­ here Phase vor allem auch dadurch gekennzeichnet ist, daß sie mit der Ten­ denz der Landwirtschaften aller technologisch hochentwickelten Länder zur Überproduktion keineswegs fertig wird, sondern im Gegenteil weiterhin der künstlichen Produktionsbeschränkung (oder -Vernichtung) weit über ökologi­ sche, technologische oder betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten hinaus als einer entscheidenden Voraussetzung zu ihrem Funktionieren bedarf. Gegenüber diesen trotz aller Unterschiede in den jeweiligen Ausgangspo­ sitionen (hier nur umrißhaft skizzierten) Gemeinsamkeiten und Übereinstim­ mungen sozioökonomischer Entwicklungstendenzen und einer ihnen weitge­ hend entsprechenden, generell zunehmenden konservativen Orientierung na­ tionaler Agrarsektoren in politischer Hinsicht stehen erhebliche Unterschiede nicht nur in der Art und Weise der politischen Artikulation und Intervention © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der agrarischen Interessenten, ihrer Parteiaffiliationen, regionalen Aufsplit­ terungen oder internen Rivalitäten, sondern vor allem auch in den jeweiligen gesamtpolitischen Auswirkungen ihrer konkret motivierten und gezielten po­ litischen Betätigung innerhalb des vorgegebenen Bezugsrahmens. In Frankreich blieben die großen Agrarorganisationen kontinuierlich lobby­ istische Protagonisten partieller Interessen, zudem den Gegebenheiten der „blockierten Gesellschaft“ verhaftet; in den USA wurde der gesamtpolitische, durchaus demokratische und progressive impetus der Farmerorganisationen mit der Zeit in die Bahnen konservativer Pressure Group-Politik gelenkt; in Deutschland lösten sich die organisierten Großagrarier sehr früh aus dem Schema der bloßen Interessenwahrung und gingen, organisiert in einer dema­ gogischen Quasi-Partei mit dem Anspruch der gesamt-„ständischen“ (und am liebsten auch gesamtstaatlichen) Vertretung, in die große Politik, die - nach­ dem auch die „Herrn im Haus“ die „demokratischen Handschuhe“ so vehe­ ment angezogen hatten, daß die Nähte platzten — in der Katastrophe nicht nur der Agrarier, sondern des Deutschen Reiches endete. Erst danach fanden sie unter veränderten Bedingungen wieder zu durchaus erfolgreicher Pressure Group-Politik zurück. Die ersten teilten die Schwankungen ihrer Nation und ihres Staatswesens zwischen Honoratiorenpolitik und Bonapartismus (und nutzten die Vorteile beider), die zweiten halfen — aus durchaus egoistischen Interessen — demokra­ tische, wenn auch bescheidene Reformpolitik zunächst durchzusetzen und dann auch zu bremsen, und nur die dritten wurden zu Exponenten des Präfaschis­ mus und begünstigten entschieden den mit plebiszitären Akklamationstechni­ ken und neoständischen Ideologien gepflasterten Weg in die nationalsoziali­ stische Diktatur46. Die These, daß Kapitalismus — zumal in seiner zunehmend organisier­ ten Phase — unter allen Umständen und notwendigerweise zum Fa­ schismus führe, hält auch einem Vergleich der Kontinuitätslinien agrarischer Interessenpolitik im 20. Jahrhundert nicht stand. Allerdings läßt sich soviel sagen, daß die von den tonangebenden Agrarieren in den entwickelten großen Industrieländern, deren Landwirtschaft nicht — wie die einiger kleinerer Län­ der Westeuropas — rechtzeitig diversifiziert oder spezialisiert wurde, seit einem Jahrhundert verfochtene und im eigenen Interesse weitgehend durch­ gesetzte Politik durchweg, im wirtschaftlichen wie politischen Sinne des Wor­ tes, antiliberal gewesen ist und den interventionsfreudigen starken Staat zum Wohle der Produzenten proklamiert hat. Der jeweilige Grad, in dem dieser Staat im Verlauf der zunehmenden Realisierung einer dergestalt provozierten Politik dann faschistisch wurde oder noch demokratisch blieb, die Staatsmacht wesentlich als Agent der herr­ schenden Klassen tätig wurde oder auch von deren Interessen nicht mehr ab­ gedeckte Korrekturen anstreben konnte, mehr Spielraum blieb für die zu­ nehmend korporativ organisierten Privatinteressen oder für „Staatssozialis­ mus“ , die konkrete Funktion des Staates im Organisierten Kapitalismus mit© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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hin war dabei in besonderem Maße abhängig von den Qualitäten und Ent­ wicklungstendenzen, die der Staatsmacht bereits zum Zeitpunkt des Durch­ bruchs der Industrialisierung und des Beginns des Übergangs zum Organi­ sierten Kapitalismus innewohnten. Hat die Agrarpolitik der interessierten Produzenten (und wer macht außer denen schon kontinuierlich Agrarpolitik?) in der Phase der jeweiligen Durch­ setzung des Organisierten Kapitalismus in einem Land aufgrund von deren traditionell günstiger Ausgangsposition, ihrer Organisationsdichte und Effi­ zienz sowie geeigneten Koalitionsverhaltens eine beispielhafte Signalwirkung, die die für ein sich ausformendes organisiert-kapitalistisches System charakte­ ristischen Tendenzen und Mechanismen in der Regel plastischer und deutlicher hervortreten läßt als die Beziehungen zwischen Staat, Industrie und tertiärem Sektor, so präformieren auf der anderen Seite in der Phase des Beginns und des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus ökonomisches und politisches Potential und Stellenwert des Agrarsektors und der ihn beherrschenden Kräfte in einer Gesellschaft neben anderen Faktoren entscheidend Richtung und Tempo der weiteren Entwicklung. Inwieweit sich in beiden Phasen die agra­ rischen Interessen gegen die der anderen Sektoren (sofern sie kontrovers sind) durchsetzen und inwieweit sie womöglich den Einfluß auf die Staatsmacht und damit auf die potentiellen gesellschaftlichen Regulierungsinstrumente ganz oder teilweise monopolisieren können, ist allerdings nicht allein eine Frage der jeweiligen agrarischen Pressure Group-Politik, unterschiedlicher Konjunktur­ entwicklungen oder subjektiv aktualisierter Klassenlagen, sondern ein Problem der in Frage stehenden Gesamtgesellschaft und der in ihr herrschenden Macht­ und Einflußverteilung. In dieser Hinsicht reichten die Machtchancen der französischen Bauern und der amerikanischen Farmer, mochten sie noch so reich oder radikal sein, nicht heran an die der ostelbischen Rittergutsbesitzer, wie sie Hans Rosenberg so tiefschürfend — und vor allem in den angemessenen Zusammenhängen — ana­ lysiert hat47. Der Einfluß der ersteren auf die Entwicklung eines organisiert kapitalistischen Systems im jeweiligen Land ist folglich insgesamt geringer ge­ wesen und in politischer Hinsicht teilweise in andere Richtungen gegangen als der der letzteren, obwohl der Prozeß des ökonomischen Rückzugs der Land­ wirtschaft in den großen Industrieländern annähernd gleich oder ähnlich ver­ lief. Anmerkungen 1 Die hier verkürzten allgemeinen Überlegungen basieren im wesentlichen auf mei­ ner Münsteraner Habilitationsschrift: Studien zur Kontinuität politischer Agrarbe­ wegungen in Industriegesellschaften, 1973 MS; gedr. Göttingen 1974. Auf die dort geführten Einzelnachweise kann hier verzichtet werden. Teilaspekte der Problematik wurden bereits behandelt in H. J . Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus. Thesen zum Stellenwert der agrarischen Interessenverbände in der deutschen Politik am Ende des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1972; ders., Populismus, Krise u. New

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Deal. Zum Verhältnis von agrarischer Demokratie u. organisiertem Subventionismus in der Zwischenkriegszeit, in: H. A. Winkler Hg., Die große Krise in Amerika. Ver­ gleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929—1939, Göttingen 1973, 107 —52. 2 Vgl. L. Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957. :i Die speziellen Situationen Englands, in dem das freie Bauerntum durch die enclosures seit dem 17. Jhd. weitgehend abgeschafft worden und die landbesitzende gentry schon sehr früh zum Wollhandel übergegangen war, und des erst spät indu­ strialisierenden Japan, wo aufgrund eines speziellen Pachtsystems Urbanisierung und Industrialisierung weniger stark auf den Agrarsektor zurückwirkten als anderswo, können in diesem Zusammenhang nicht näher behandelt v/erden, obwohl der Einbe­ zug zumindest Englands in eine spätere, umfassendere Analyse notwendig erscheint. Vgl. B. Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966, 3—39, 228—313. Zur Kritik: Η. J . Puhle, G rundherren u. Bauern im Spannungsfeld zwischen Revolution u. Faschismus, in: G rundfragen der Weltagrarentwicklung, Offene Welt 102. 1972, 188—97. Zu England im 20. Jh. vor allem: P. Self — H. J . Storing, The State and the Farmer. British Agricultural Policies and Politics, Berkeley 1963. Informativ, aber nur teil­ weise befriedigend die weltweite Sammlung: H. Mendras — Y. Tavernier Hg., Terre, paysans & politique. Structures agraires, systèmes politiques et politiques agri­ colcs, 2 Bde, Paris 1969/70. 4 Zur näheren Definition, Problematik und Geschichte des Begriffs Organisierter Kapitalismus vgl. neuerdings vor allem die Beiträge von J . Kocka, H. J . Puhle, H.U. Wehler und H. A. Winkler in: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, H. A. Winkler Hg., Göttingen 1974. Zum Umfeld vgl. C . Offe, Struktur­ probleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt 1972, 7 ff., 27 ff.; ders. u. W. D. Narr Hg., Sozialstaat u. Massendemokratie, Köln 1974, Einl.; H. J . Puhle, Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat. Entwicklungstendenzen staatlicher Aufga­ benstellung u. Verwaltungsprobleme im Zeichen von Industrialisierung u. Demokra­ tisierung, in: G. A. Ritter Hg., Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, 29—68. 5 Die wesentliche analytische Differenz zwischen der noch rudimentären „Theorie“ eines organisierten Kapitalismus und der auf der Leninschen Imperialismustheorie basierenden Lehre vom staatsmonopolistischen Kapitalismus besteht darin, daß letztere auch in ihrer verfeinerten und gewissermaßen historisierten Ausformung den Staat durchweg als Agenten der herrschenden Klasse ohne nennenswertes Eigengewicht be­ greift. Vgl. vor allem: Institut für Gesellschaftswissenschaft beim ZK der SED Hg., Imperialismus heute. Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland, Berlin 1968; C . Schirrmeister, Staatsmonopolistischer Kapitalismus, in: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Köln 1969, 448—452, u. Der staatsmonopo­ listische Kapitalismus, Frankfurt 1972. 6 Der Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung, der konjunkturellen Bewegungen und die jeweiligen sozialen Differenzierungen, bes. im Hinblick auf den Agrarsektor, die entscheidende Ausgangspunkte der in Anm. 1 erwähnten Studien gewesen sind, können hier nicht im einzelnen nachgezeichnet, sondern müssen vorausgesetzt wer­ den. — Zum Begriff der politischen Kultur und seiner methodischen Funktion vgl. S. Verba, C omparative Political C ulture, in: L. Pye u. S. Verba Hg., Political C ul­ ture and Political Development, Princeton 1965, 512—60; H. J . Puhle, Politischer Stil, in: Η. Η. Röhring u. Κ. Sontheimer Hg., Handbuch des deutschen Parlamen­ tarismus, München 1970, 398—401. 7 Moore, 413 ff., 484 ff. 8 Vgl. H. J . Puhle, Parlament, Parteien u. Interessenverbände 1890—1914, in: M. Stürmer Hg., Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 340—77; H.-U. Weh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ler, Der Aufstieg des organisierten Kapitalismus u. Interventionsstaats in Deutschland u.: H. J . Puhle, Der Übergang zum „organisierten Kapitalismus“ in den USA. The­ sen zum Problem einer aufhaltsamen Entwicklung, beide in: Organisierter Kapitalis­ mus 36—57 u. 172—194. In anderem Kontext zur amerikanischen Entwicklung W. A. Williams, The C ontours of American History, C hicago 19662, 320 ff., 343 ff.; G. Kolko, The Triumph of C onservatism, C hicago 19672, 139 ff., 255 ff. 9 Dieser Komplex ist noch sehr wenig erforscht. Ansätze bei: J . H. McArthur u. B. R. Scott, Industrial Planning in France, Boston 1969, 28 ff., 182 ff., 267 ff., 307 ff., 335 ff.; S. C ohen, Modern C apitalist Planning. The French Model, C ambridge/ Mass. 1969, 32 ff., 155 ff., 189 ff.; aus marxistischer Sicht, aber das Eigengewicht der Staatsmacht gegenüber der orthodoxen Theorie betonend: N. Poulantzas, Pouvoir politique et classes sociales, Paris 1971, 2 Bde. 10 Anteil der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung an der ökonomisch aktiven Bevölkerung in %:

1880 1900 1930 1950 1960 1968

Frankreich

U.S.A.

Deutschland

ca. 50 42,7 (1901) 32 ca. 30 22,4 15,8

49,4 37,5 21,4 11,5 8,1 5,0

43,2 (1882) ca. 35 30 23,2 (1949) 14,0 10,2

Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt zu konstanten Preisen in % :

1900 1930 1940 1950 1953 1960 1965

Frankreich

U.S.A.

Deutschland

27

22,5 10,6 9,4 6,9

ca. 30 20,5

18 (1938) 11 9

5,8

1

10,6 0 8,2 4,5

Deutschland im jeweiligen Gebietsstand, nach 1949 Bundesrepublik. Ungenauigkeiten und Annäherungen ergeben sich aus jeweils verschiedenen Bezugs­ größen oder Durchschnittsermittlungen. 11 Ich stütze mich hier und in der Folge im einzelnen (wie auch zu Anm. 10) auf das umfangreiche wirtschafts- und sozialstatistische Material: Für Frankreich: Min. de l'Agriculture, Statistique agricole de la France, Algérie et C olonies. Resultats Généraux de l'enquête décennale de 1882, Nancy 1887; Statistique agricole de la France. Rés. Généraux de l'enquête décennale de 1892, Paris 1897; Statistique agricole annuelle, 1901, 1913, 1920; Statistique agricole de la France. Rés. Généraux de l'enquête de 1929, Paris 1936; Statistique agricole. Rétro­ spectifs 1930—1964, Paris 1966; Statistique agricole, Annuaire abrégé 1968, Paris 1968; INSEE, Tableaux de l'économie française 1966, 1968, 1969, 1970 sowie J . M. Jeanncney, Tableaux statistiques relatifs à l'économie française et l'économie mondiale, C ahiers FNSP 87, Paris 1957; Histoire quantitative de l'économie française, Cahiers de l'ISEA, mars-avril, juillet 1961 und J . C . Toutain, Le produit de l'agri­ culture française de 1700 à 1958, Cahiers de l'ISEA, févr. 1961. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Für die U.S.A.: Historical Statistics of the U.S. C olonial Times to 1957, Washington 19612; C ontinuation to 1962 and Revisions, Washington 1965; U. S. Dep. of C om­ merce, Statistical Abstract of the U. S. 1896, 1906, 1916, 1925, 1942, 1969, 1970; Current Population Reports sowie Labor Force Bulletin, passim; S. Kuznets, National Income. A Summary of Findings, N. Y. 1946; U. S. Dep. of Agriculture (USDA), Generalized Types of Farming in the U. S., Washington 1950; USDA, Agricultural Statistics 1952 und 1966; USDA, Handbook of Agricultural C harts, Washington 1969; USDA, Yearbook of Agriculture, 1908—1972, bes. 1933, 1940, 1962 und 1970; Agri­ cultural Information Bulletin, sowie: R. F. Martin, Income in Agriculture 1929—1935, N. Y. 1936; H. Barger u. H. H. Landsberg, American Agriculture 1899—1939. A Study of Output, Employment and Productivity, N. Y. 1942; A. S. Tostlebe, C apital in Agriculture. Its Formation and Financing Since 1870, Princeton 1957. Für Deutschland: Statistik des Deutschen Reiches, bes. Bd. 212, 2 b (1912), 409 (1928), 459 (1937); Statistik der Bundesrepublik Deutschland, bes. Bd. 21, 2 und 23 (beide Stuttgart 1952), 27 (1954); Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich 1907; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1912, 1924/5, 1930, 1935, 1941/ 2; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1952, 1962, 1968, 1971 (jeweils Stuttgart); Statistisches Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 1968—1971 (Hamburg); J . C onrad, Agrarstatistische Untersuchungen, Jahr­ bücher für Nationalökonomie u. Statistik NF 16, 1888, u. W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965. 12 Zur Übersicht vgl. M. Augé Laribé, La politique agricole de la France de 1880 a 1940, Paris 1950; P. Barral, Les agrariens français de Méline à Pisani, Paris 1968; J . Fauvet — H. Mendras Hg., Les paysans et la politique dans la France contemporaine, Paris 1958; Y. Tavernier, Le syndicalisme paysan. FNSEA-C NJA, Paris 1969; K. Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), MEW 8. Berlin 1960, 111—207; Ph. Gratton, Les paysans français contre l'agrarisme, Paris 1972 und die vorzüglichen Regionalstudien von E. LeRoy Ladurie, Les paysans de Languedoc, Paris 1969, u. S. Berger, Peasants against Politics. Rural Organization in Brittany, 1911—1967, C ambridge/Mass. 1972. 18 Vgl. Moore, 111—58, bes. 149 ff.; A. W. Griswold, Farming and Democracy, N. Y. 1948, und die Beiträge in der Sammlung: L. Η. Douglas Hg., Agrananism in American History, Lexington/Mass. 1969. 14 Vgl. vor allem den unübertroffenen Beitrag von H. Rosenberg, Die Pseudode­ mokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse (1958) in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 7—49, sowie ders., Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, The Prussian Experience 1660—1815, C ambridge/Mass. 1958 u. ö.; E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik, Hg. H.-U. Wehler, Berlin 19702, 31 ff., 53 ff.; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform u. Revolution, Stuttgart 1967, 398 ff., 487 ff. 15 Vgl. dazu D. S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological C hange and industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, C ambridge 1969, 159 ff., 206 ff., 370 ff., 432 ff. Ferner A. Sauvy, Histoire Economique de la France entre les deux guerres. 3 Bde, Paris 1965/67/72; T. Kemp, The French Econ­ omy, 2 Bde, London 1971/72. 16 Die Gründung der „integralen“ Agrarverbände war rechtlich erst dadurch mög­ lich geworden, daß der Geltungsbereich der Bestimmungen des Syndikatsorganisations­ gesetzes Waldeck-Rousseau von 1884 in der letzten Beratungsphase noch auf den Agrarsektor ausgedehnt wurde. — Während die 1880 von Gambetta inspirierte und in bürgerlich-radikaler (sowie freimaurerischer) Tradition stehende Société Nationale d'Encouragement à l'Agriculture (SNEA) und die von ihr gegründeten späteren Genossenschaftsverbände des „Boul. St. Germain“ , die Fédération Nationale de la © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mutualité et de la C oopération Agricole (FNMC A), ab 1953: C onfederation Na­ tionale de la Mutualité, de la C oopération et du C rédit Agricole (C NMC C A) das verbreitete Schicksal des französischen Radikalismus teilten und schon in der 3., bes. aber in der 4. Republik sowohl konservativer als auch einflußloser wurden, do­ minierten die konservativen (und vor der Jahrhundertwende z. Τ. noch klerikalen und monarchistischen) Großverbände der „rue d'Athènes“ und später „rue des Py­ ramiden“ kontinuierlich die Agrarpolitik der dritten bis fünften Republik: Die 1886 von der Société des Agriculteurs de France (1867) ins Leben gerufene Union C en­ trale des Syndicats des Agriculteurs de France (UC SA, ab 1934 Union Nationale = UNSA) beherrschte bis ans Ende der 3. Republik neben den seit 1851 etablierten Landwirtschaftskammern und deren losem Dachverband (Assemblée Permanente des Presidents de C hambres d'Agriculture = APPC A, ab 1935) auch die (völlig me­ diatisierte) intentionale Gesamtorganisation der französischen Landwirtschaft, die Confederation Nationale des Associations Agricoles (C NAA), ebenso wie ihre Nach­ folgerin, die Federation Nationale des Syndicats d'Exploitants Agricoles (FNSEA) nach dem neo-ständischen Zwangsintermezzo der einheitlichen C orporation Paysanne des Vichy-Regimes den agrarischen. Dachverband des freien Frankreich, die 1943/45 unter sozialistischem Vorzeichen gegründete C onfédération Générale de l'Agriculture (CGA) zunächst unterwanderte und 1953 endgültig ganz in ihre Dienste nahm. UCSA (in der 3. Republik) und FNSEA (in der 4. und 5. Republik) waren bzw. sind die tonangebenden Großverbände der französischen Landwirtschaft. 17 Unter den associations spécialisées dominieren: der 1924 gegründete Getrei­ deproduzentenverband Association Generale des Producteurs de Blé (AGPB), der personell vielfach identisch ist mit der stärksten Gruppe der FNSEA, der Fédération du Nord et du Bassin Parisien; der Zuckerrübenproduzentenverband C onfédération des Planteurs de Betteraves (C GB, gegr. 1921); die Weinbauernverbände, vor allem die ältere C onfederation Generale des Vignerons du Midi (C GVM) von 1907 und die Federation des Associations Viticoles (FAV) von 1913. Hinzu kommen diverse, durch das staatliche An- und Verkaufsmonopol für Alkohol protegierte Brennerei­ verbände, insbes. das Syndicat National des Distilleries Vinicoles (FNDV) und die Union Nationale des Groupements de Destillations d'Alcool (UNGDA) von 1947 mit zahlreichen angeschlossenen Verbänden. Vgl. H. Roussillon, L'Association Générale des Producteurs de Blé, Paris 1970, 19 ff., 36 ff., 54 ff., 87 ff.; Tavernier, Syndicalisme Paysan, 35 ff.; J . M. C otteret, Note sur quelques organisations profes­ sionnelles. Secteur de l'Alcool, in: Fauvet-Mendras Hg., 293—301. Zum beispielhaften Konflikt um das „Guéret-Kommittee“ 1953: G. Wright, Rural Revolution in France. The Peasantry in the 20th C entury, Oxford 19682, 122 ff.; Gratton, 213 ff. 18 Eine teilweise Ausnahme macht die Errichtung der staatlichen, aber von den Produzenten beherrschten Getreidehandelsstelle (ONIB, bzw. später ONIC ) durch die Volksfrontregierung. 19 Die Agrarpolitik der 4. Republik wurde z. B. entscheidend bestimmt von der wesentlich von der FNSEA organisierten Überfraktion der Amicale Parlémentaire Agricole (APA). Zur Typologie der pressure groups vgl. Puhle, Parlament, Par­ teien u. Interessenverbände, 344—47. Der „klassische“ Typ entspricht dem Typ der zweiten Stufe in Deutschland. 20 Zu punktuellem Einfluß gelangten neben „christdemokratischen“ Regionalbe­ wegungen, vor allem in der Bretagne, während der 20er Jahre, besonders die C omi­ tés de Défense Paysanne unter der Führung von Henri Dorgères (zwischen 1928 und 1935) und der späte agrarische Ableger der Poujadistenbewegung (Union de Defense des Agriculteurs de France) im Jahre 1956. Die Unruhe der südfranzösi­ schen Weinbauern nach 1907 wurde von den Branchenverbänden kanalisiert; Fleu­ rant's („Agricola“ ) Parti Agraire von 1927 war ebenso kurzlebig wie E. Jacquet's Entente Paysanne von 1925 oder der Parti Paysan Anfang der 50er Jahre; kom© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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munistische Organisationen im C orrèze (Fédération des Paysans Travailleurs ab 1924) und in anderen Regionen des westlichen Massif C entral blieben isoliert und der zwischen 1934 und 1936 gescheiterte Versuch zur Schaffung eines Front Paysan (unter Einbezug der UNSA) wurde in der 4. Republik erst gar nicht mehr wiederholt. Zur Übersicht vgl. vor allem: Berger; J . M. Royer, De Dorgères à Poujade, in: Fauvet­ Mendras Hg., 149—206; S. Hoffmann, Le Mouvement Poujade, Paris 1956; Grat­ ton. 21 Es gibt in Frankreich keine Partei der Landwirtschaft. Vgl. die aufschlußrei­ chen Ergebnisse der bisher einzigen gründlichen Untersuchung des Wählerverhaltens in agrarischen Regionen: J. Klatzmann, Géographie électorale de l'agriculture française, in: Fauvet-Mendras Hg., 39—67. 22 Vgl. S. Hoffmann, Paradoxes of the French Political C ommunity (1—117) u. andere Beiträge in: ders. u. a., In Search of France. The Economy, Society and Po­ litical System in the Twentieth C entury, N. Y. 1965; M. C rozier, La société bloquée, Paris 1970. 2;i Marktorganisierende Interventionsinstitutionen wurden erst ab 1953, bes. für Wein, Fleisch, Milch und Kartoffeln errichtet. Lediglich das Getreideamt bestand schon seit den 30er Jahren. 24 Nach einem längeren Prozeß technologischer Neuerungen und einer damit ver­ bundenen, kontinuierlichen Abnahme der Zahl der Betriebe unter 20 ha seit Beginn der 50er Jahre erfolgten der Übergang zur 5. Republik und der Beitritt zur EWG nahezu gleichzeitig in den Jahren 1957/8. Vgl. M. Debatisse, La révolution silen­ cieuse. Le combat des paysans, Paris 1963, 130ff.; Wright, 143 ff.; Tavernier, Syn­ dicalisme, 135 ff. Zum Komplex der Strukturreform: M. Faure, Les paysans dans la société française, Paris 1966, 104 ff., 168 ff.; M. Gervais u. a., Une France sans paysans, Paris 1965, 8 ff.; H. Delorme u. Y. Tavernier, Les pacsans français et l'Europe, Paris 1969, 31 ff., 61 ff., 107—140. 25 Zur Kritik schon F. Engels, Die Bauernfrage in Frankreich u. Deutschland (1894), MEW 22, Berlin 1963, 483—505, bes. 490 ff. Demgegenüber Programme com­ mun de gouvernement du Parti C ommuniste Français et du Parti Socialiste, Paris 1972, 124. 20 Vgl. Moore, 40 ff., 108 ff., 413 ff.; Hoffmann, Paradoxes, 60; C rozier, 93 ff., 127 ff., 203 ff. 27 Vgl. vor allem J . D. Hicks, The Populist Revolt. A History of the Farmers' Alliance and the People's Party, Lincoln 1961, 96 ff., 301 ff., 340 ff. Zur Bewertung und zu den weiteren hier skizzierten Zusammenhängen: Puhle, Populismus, u. die dort angegebene Lit. 28 Die in den USA weitgehend improvisierten kriegswirtschaftlichen Koopera­ tionsformen blieben auch für den Agrarsektor, insbes. in der Gestalt der Hoover­ schen Food Administration, weiterhin modellhafte Orientierungsmuster für die Art und Weise des staatlichen Interventionismus in Krisenzeiten. Der „time lag“ zwischen der deutschen und der amerikanischen Entwicklung zum Organisierten Kapitalismus wird demgegenüber daran deutlich, daß es zu einer organisierten Zusammenarbeit aller privaten und öffentlichen Interessenten unter formaler Beteiligung der etablier­ ten Großverbände in Deutschland schon im Ersten Weltkrieg kam, in den USA da­ gegen erst im Zweiten. Vgl. B. H. Hibbard, Agricultural C hanges During the World War, in: L. B. Schmidt u. E. D. Ross Hg., Readings in the Economic History of American Agriculture, N. Y. 1925, 504—28; A. B. Genung, Agriculture in the World War Period, in: USDA, Farmers in a C hanging World, The Yearbook of Agricul­ ture 1940, Washington 1940, 277—96. 29 Die Wechselwirkungen zwischen Außenhandel, Situation am Weltmarkt und nationaler Agrarpolitik bedürfen auch für die USA, und insb. für die 20er und 30er Jahre noch einer eingehenderen Analyse. Zu den internen Daten vgl. vor allem die 36

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Studien von Barger u. Landsberg, Tostlebe sowie A. B. Genung, Agricultural De­ pression Following World War I and Its Political C onsequences. An Account of the Deflation Period, 1921—1934, Ithaca 1954. 30 Zur Geschichte der American Society of Equity und der Non-Partisan League: Th. Saloutos u. J . D. Hicks, Twentieth C entury Populism. Agricultural Discontent in the Middle West 1900—1933, Lincoln o. J . , 111 ff., 149 ff.; zu Milo Reno's Farmers' Holiday Association Anfang der 30er Jahre: J . L. Shover, C ornbelt Rebellion. The Farmers' Holiday Association, Urbana 1965. Zu den Anfängen der Farm Bureaus und der American Farm Bureau Federation (AFBF) vgl. O. M. Kile, The Farm Bureau Through Three Decades, Baltimore 1948, u. G. McC onnell, The Decline of Agrarian Democracy, N. Y. 1969. 31 Einzelheiten bei J . D. Black, The McNary-Haugen Movement, AER 18. 1928, 405—27. 32 Vgl. E. G. Nourse u. a., Three Years of the Agricultural Adjustment Administration, Washington 1937; R. S. Kirkendall, Social Scientists and Farm Politics in the Age of Roosevelt, C olumbia 1966; C . McFadyen C ampbell, The Farm Bureau and the New Deal, Urbana 1962; A. J . Matusow, Farm Policies and Politics in the Truman Years, C ambridge/Mass. 1967; McC onnell, Decline. 33 Mit „100 % of parity“ wird das Verhältnis der Kaufkraft des Agrarsektors zu der der nichtagrarischen Wirtschaftssektoren im Durchschnitt der Jahre 1910— 1914 bezeichnet. Der Parity Index drückt die Steigerung der Ausgaben incl. Zin­ sen, Steuern und Löhnen gegenüber 1910—14 aus. Die Parity Ratio umschreibt das Verhältnis der agrarischen Produktenpreise (prices received) zu den Ausgaben (prices paid). 34 Der riesige Geschäftskonzern der AFBF gehört heute zu den scheinbar wirt­ schaftsliberalen und politisch ultrakonservativen Vorkämpfern der „silent majority“ Amerikas. Vgl. Th. Lowi, How the Farmers Get What They Want, The Reporter 30 (21. 5. 1961), 11 ff.; McC onnell, Decline, 145 ff.; S. R. Berger, Dollar Harvest. The Story of the Farm Bureau, Lexington/Mass. 1971. Zur Bremsfunktion der AFBF: McFadyen C ampbell, 156 ff. u. exemplarisch S. Baldwin, Poverty and Politics. The Rise and Decline of the Farm Security Administration, C hapel Hill 1968; D. E. Conrad, The Forgotten Farmers. The Story of the Sharecroppers in the New Deal, Urbana 1965; D. H. Grubbs, C ry from the C otton. The STFU and the New Deal, Chapel Hill 1971 u. P. Matthiessen, Sal si Puedes. C esar C havez and the New American Revolution, N. Y. 1971. Ferner: Ε. Higbee, Farms and Farmers in an Urban Age, N. Y. 1963 u. die Beiträge in: W. F. Owen Hg., American Agriculture. The C hanging Structure, Lexington/Mass. 1969. 35 Die programmatische wie ideologische Einigkeit zwischen den Großverbänden der Landwirtschaft, der Schwerindustrie und des „alten“ , d. h. selbständigen Mittel­ stands über die grundlegenden Fragen der Gesellschaftspolitik (aber nicht so sehr der Wirtschaftspolitik), wie sie in den Erklärungen des sog. „Kartells der schaffen­ den Stände“ von 1913 zum Ausdruck kam, bewies ein solches Beharrungsvermögen, daß sich z. B. einzelne Topoi der übereinstimmenden Forderungen der Verbände der Besitzenden noch in der gemeinsamen Erklärung des Deutschen Bauernverbandes, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und des Bundesverbandes der Deut­ schen Industrie zur Wirtschafts- und Agrarpolitik vom 18. 5. 1972 (die von allen drei im Bundestag vertretenen Parteien zustimmend gewürdigt wurde) wiederfinden. Vgl. den Wortlaut des Berichts vom 3. Reichsdeutschen Mittelstandstag in: Neue Reichskorrespondenz v. 25. 8. 1913 u. die Presseerklärung des Deutschen Bauern­ verbandes (DBV) v. 18. 5. 1972, in: Deutsche Landwirtschaftliche Presse 19 v. 7. 10. 1972, 1 f. Zum Gesamtkomplex: H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967; H. J . Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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wilhelminischen Reich (1893—1914), Hannover 1967 (1974 2 ); ders., Der Bund der Landwirte im wilhelminischen Reich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh Hg., Zur soziologi­ schen Theorie u. Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, 145—62; ders., Von der Agrarkrise zum Präfaschismus; Η. Α. Winkler, Pluralismus oder Protektionis­ mus?, Wiesbaden 1972. Zum Umfeld für die Bismarckzeit: Max Weber, Parlament u. Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: ders., Ges. Politische Schrif­ ten, Tübingen 19582, 294—431, bes. 299 ff., 312 ff., 328 ff., 372 ff.; H. Böhme, Deutsch­ lands Weg zur Großmacht, Köln 19722; 421 ff.; H. U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723, 53—193; ders., Das Deutsche Kaiserreich, 1871 bis 1918, Göttingen 1973; M. Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, HZ 209. 1969, 566—615; ders., Konservatismus u. Revolution in Bismarcks Politik, in: ders. Hg., 143—67; für das wilhelminische Reich: E. Kehr, Schlachtflottenbau u. Parteipolitik 1894—1901, Berlin 1930; Puhle, Parlament; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Par­ teien u. Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Reiches, Köln 1970. 36 Zur Diskussion: M. Sering, Agrarkrisen u. Agrarzölle, Berlin 1925, 73 ff. u. C. J . Fuchs, Deutsche Agrarpolitik vor u. nach dem Kriege, Stuttgart 19273, 57 ff. Vgl. ferner vor allem U. Teichmann, Die Politik der Agrarpreisstützung. Marktbe­ einflussung als Teil des Agrarinterventionismus in Deutschland, Köln 1955, passim; Η. Η. Herlemann, Vom Ursprung des deutschen Agrarprotektionismus, in: E. G er­ hardt u. P. Kuhlmann Hg., Agrarwirtschaft u. Agrarpolitik, Köln 1969, 183—208. Enttäuschend H. Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963 (siehe dazu die verdienstvolle Kritik von H. Rosenberg, Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in ders., Probleme, 81—147) u. E. Klein, Geschichte der deutschen Landwirtschaft im Industriezeitalter, Wiesbaden 1973. 37 Dazu immer noch am besten die mit spitzer Feder geschriebene Darstellung von E. Topf, Die Grüne Front. Der Kampf um den deutschen Acker, Berlin 1933. Ferner: H. Beyer, Die Agrarkrise u. das Ende der Weimarer Republik, Zeitschrift für Agrargeschichte 13. 1965, 65 ff. Die Kölner phil. Diss. von D. Gessner, Die Grüne Front und das Ende der Weimarer Republik (1970 Ms.) war mir leider noch nicht zugänglich. 38 Dazu neuerdings enttäuschend A. Panzer, Das Ringen um die deutsche Agrar­ politik von der Währungsstabilisierung bis zur Agrardebatte im Reichstag im De­ zember 1928, Kiel 1970. 39 Vgl. Teichmann, 259 ff.; Topf, 85 ff.; G. Schulz, Staatliche Stützungsmaßnah­ men in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der „Osthilfe“ der Regierung Brüning, Fs. f. H. Brüning, Berlin 1967, 141—204; D. Petzina, Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik 1932/3, VfZ 15. 1967, 18—55. 40 Das sozialdemokratische „Monopolprojekt Dr. Baade“ von 1929 unterschied sich trotz verschiedener Motivationen nur noch graduell vom agrarischen „Monopol­ projekt Dr. Schiele“ . Vgl. auch die Erläuterungen zum Kieler Agrarprogramm der SPD von 1927: H. Krüger u. F. Baade, Sozialdemokratische Agrarpolitik, Berlin 1927. Eine spezifische Ironie liegt noch zusätzlich darin, daß die trotz der seit den 90er Jahren anhaltenden Diskussion erst in Kiel beschlossene „revisionistische“ agrar­ politische Konzeption, die die Partei noch um die Jahrhundertwende besonders auf dem Land hätte stärken können, zum Zeitpunkt ihrer (viel zu spät erfolgenden) An­ nahme die SPD eher schwächen mußte. 41 Vgl. H. Reischle u. W. Saure, Der Reichsnährstand. Aufbau, Aufgaben u. Be­ deutung, Berlin 19362; H. Gies, Die nationalsozialistische Machtergreifung auf dem agrarpolitischen Sektor, Zeitschrift für Agrargeschichte 16. 1968, 210 ff.; D. Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich, Stuttgart 1968, 91 ff.; D. Schoenbaum, Hitler's Social Revolution, N. Y. 1967, 152—77, sowie N. Steinberger, Die Agrarpolitik des Nationalsozialismus, Moskau 1935, 113—15. 42 Dazu die Tätigkeitsberichte des DBV 1952/3 — 1971 u. die Grünen Berichte 36'

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(1956—1970), bzw. Agrarberichte (1971—1973) der Bundesregierung: DS II, 2100, 3200; III, 200, 850, 1600, 2400; IV, 180, 940, 1860, 2990; V, 255, 1400, 2540, 3810; VI, 372, 1800; 7/146—147, 148. 43 Dieser Zustand ist inzwischen in einem solchen Maße unhaltbar geworden, daß nicht nur in den USA Präsident Nixon (wenn auch erst nach seiner Wiederwahl 1972) neue Vorschläge zur Abhilfe angekündigt hat, sondern auch innerhalb des Deutschen Bauernverbandes heute von diesem traditionellen Schema abweichende neue Lösunesmöglichkeiten immerhin schon diskutiert werden. 44 Vgl. für Deutschland etwa R. Hilferding, Handelspolitik u. Agrarkrise, Die Gesellschaft 1924, 113—29, bes. 114 f.; L. Brentano, Die deutschen Getreidezölle, Stuttgart 19253, 129 f.; F. Fabian, Die Verschuldung der deutschen Landwirtschaft vor u. nach dem Kriege, Diss. Leipzig 1931, 16 f.; H. J . Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, 46 ff. 45 Im westeuropäischen C omité des Organismes Professionnels Agricoles geben FNSEA und DBV den Ton an. 40 Daß die amerikanischen Farmer 1932 überwiegend Rosseveit wählten und die deutschen Agrarier und Bauern überwiegend Hitler, laßt sich schon anhand der je­ weiligen regionalen Wahlergebnisse unschwer nachweisen. Vgl. E. E. Robinson, They Voted for Roosevelt. The Presidential Vote 1932—1944, N. Y. 1970; A. Milatz, Wähler u. Wahlen in der Weimarer Republik, Bonn 1965, sowie die Schleswig-Hol­ stein betreffende Pionierstudie von R. Heberle, Landbevölkerung und National­ sozialismus (1934), Stuttgart 1963. 47 Besonders in: H. Rosenberg, Pseudodemokratisierung, u.: Zur sozialen Funk­ tion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: ders., Probleme, 7—49, bzw. 51—80.

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29. Finanzpolitik und sozialer Wandel Wachstum und Funktionswandel der Staatsausgaben in Deutschland, 1871—1933 Von PETER- C HRISTIAN W I T T

Die Untersuchung sowohl der Zielsetzungen und Methoden, mit denen unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung1 die Befriedigung von gesellschaftlichen Erfordernissen und Bedürfnissen durch die öffentlichen Hände erfolgt, als auch der Frage, was jeweils als nur noch gesamtgesellschaft­ liche, nicht mehr aber aus privater Initiative zu leistende oder ihr zu über­ lassende Aufgabe anerkannt oder verworfen wird, konkret also vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich die Analyse der aufbringungs- und verteilungs­ politischen Seite des Budgets, des „aller täuschenden Ideologien entkleideten Gerippes“ staatlicher Herrschaftsausübung2, kann — darauf hat mit der ihm eigenen gedanklichen Schärfe und sprachlichen Prägnanz Schumpeter den Blick gelenkt — einen erkenntnistheoretisch besonders vielversprechenden und methodisch überzeugenden Ausgangspunkt für die Offenlegung politischer und sozialer Struktur- und Machtverhältnisse bieten. „Die Finanzen sind“ , so meinte Schumpeter, „einer der besten Angriffspunkte der Untersuchung des sozialen Getriebes, besonders, aber nicht ausschließlich, des politischen. Nament­ lich an jenen Wendepunkten — oder besser Wendeepochen —, in denen Vor­ handenes abzusterben und in Neues überzugehen beginnt und die auch stets finanziell Krisen der jeweils alten Methoden sind, zeigt sich die ganze Frucht­ barkeit dieses Gesichtspunktes: Sowohl in der ursächlichen Bedeutung — inso­ fern als staatsfinanzielle Vorgänge ein wichtiges Element des Ursachenkom­ plexes jeder Veränderung sind — als auch in der symptomatischen Bedeutung — insofern als alles, was geschieht, sich in der Finanzwirtschaft abdrückt“ 3. Die grundlegende Einsicht, die Schumpeter hier ausgesprochen hat, läßt sich auf eine einfache Formel bringen: Befreit von allen ideologischen Redensarten und hohlen Phrasen verkünden die nüchternen Zahlen des staatlichen Budgets, das von Politikern und Finanzwissenschaftlern allzuoft als Ausdruck einer übergeordneten Objektivität und Rationalität des Staates mystifiziert worden ist, die nackten Tatsachen über den politischen und sozialen Zustand eines Staates; denn das Budget ist die „Verwirklichung eines politischen Handlungs­ programms: es ist der Regierungsakt par excellence“ 4, durch den sich soziale

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Wandlungsprozesse ebenso induzieren lassen wie sie auch in seinem Zahlen­ spiegel abgelesen werden können. Nun ist zwar offensichtlich, daß sich, solange eine staatliche Organisation existiert, die jeweiligen Inhaber der staatlichen Gewalt stets auch finanzpoli­ tischer Methoden, besonders der Steuer- und Subventionspolitik, bedient ha­ ben, um die bestehenden sozialen Zustände und die Machtverteilung entweder zu erhalten oder umzuformen, bisweilen auch völlig umzustürzen, ja, daß der moderne Staat in seiner mitteleuropäisch-absolutistischen, später konsti­ tutionellen und seiner westlich-parlamentarischen Variante seine konkrete Er­ scheinungsform weithin den Kämpfen zwischen Fürsten und Ständen um die politische, ökonomische und soziale Macht verleihende Verfügungsgewalt über die Öffentlichen Finanzen verdankt5. Aber für unsere Fragestellung ist dies insofern nur von untergeordnetem Interesse, als sich die dabei auftretenden sozialen Wandlungsprozesse zunächst nur im Bereich der Führungsschichten, 2. B. durch die Ersetzung einer herrschenden Klasse durch eine andere, abge­ spielt haben6. Eine grundlegende Änderung brachte erst der Beginn der In­ dustrialisierung, die ihrerseits in einer ganzen Reihe von Staaten vor allem auch durch finanzpolitische Maßnahmen der staatlichen Gewalt, d. h. einer technischen und ökonomischen Innovationen aufgeschlossenen Bürokratie, ein­ geleitet und vorangetrieben wurde7. Denn nun nahmen die nur noch gesamt­ gesellschaftlich, nicht aber mehr aufgrund privater Initiative zu leistenden Aufgaben in einem solchen Ausmaße zu, daß sich der moderne Industriestaat, ganz unabhängig davon, ob diese Entwicklung aus politischen und sozialen Gründen bewußt angestrebt, nur hingenommen oder sogar bekämpft wurde, mehr und mehr in den Typus des — wohl noch graduelle, aber keine prin­ zipiellen Unterschiede aufweisenden — Interventionsstaats verwandelte, der in immer weitere Lebensbereiche regulierend eingreift und den wir heute als soziale Realität erleben. Dabei ist aber offensichtlich die Frage, ob das Herr­ schaftssystem in demokratischer, autoritärer oder totalitärer Weise organisiert ist, wohl für die Methoden und die konkreten Zielsetzungen der Herrschafts­ ausübung, nicht aber für diese Wandlung zum Interventionsstaat hin von Be­ deutung. Die „wachsende Ausdehnung der öffentlichen, insbesondere der Staatstätigkeiten“8 bedeutet also nicht, wie selbst der konservative Sozialre­ former Adolph Wagner bei der Formulierung seines „Gesetzes“ hoffnungsvoll vermutete, auch automatisch eine sozial ausgleichende Umverteilungspolitik und die Förderung sozialer Emanzipationsprozesse durch die öffentliche Hand9, wenngleich sie deren notwendige Voraussetzung ist10. Wenn der Tatbestand der „Zunahme der Staatstätigkeit“ konstatiert wird, richtet sich das Augen­ merk gewöhnlich auf das Anwachsen des staatlichen Budgets — und dieser Vor­ gang ist sowohl in absoluten Ziffern wie relativ als Anteil am Sozialprodukt11 seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in allen Staaten beeindruckend genug12. Dennoch ist das nur ein Teil der ganzen Wahrheit, da außer dem staatlichen Budget noch ein weiterer, offensichtlich ebenfalls stark expandierender Anteil des Sozialprodukts in die staatlich regulierte Aufbringungs- und Verteilungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Finanzpolitik und sozialer Wandel

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politik einbezogen wird13, ohne daß dieser Prozeß stets eindeutig feststellbar oder gar quantifizierbar wäre. Verhältnismäßig klar zutage liegt er noch bei den nicht durch die öffentlichen Haushalte laufenden Einnahmen und Ausga­ ben der Sozialversicherungen, denn deren Zweck ist offensichtlich die — staat­ lich initiierte — intertemporale und/oder interpersonale Einkommensumvertei­ lung. Dagegen entzieht sich der sog. „versteckte öffentliche Bedarf“ (d. h. alle Arten von Leistungen, die von Privaten entweder unentgeltlich oder zu niedrigeren als den Marktpreisen für staatliche Organe erbracht werden14) im allgemeinen ganz so jeder genaueren Bestimmung wie die aufgrund von Gesetzgebungs- und Verwaltungsvorschriften entstehenden, aber ausschließlich unter Privaten stattfindenden Einkommensredistributionsprozesse15. Man wür­ de jedoch die soziale Realität des modernen Staats gründlich verkennen, wenn diese Vorgänge einfach übersehen würden. Praktisch bedeutet das, daß die Erkenntnismöglichkeiten, die eine Analyse finanzpolitischer Entscheidungen bietet, nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn unter Finanzpolitik nicht nur die staatliche Aufbringungs- und Verteilungspolitik, sondern auch die Geld-, Kredit- und Währungspolitik und schließlich die mit Mitteln der Fi­ nanzpolitik betriebenen oder mit ihren Erfordernissen begründeten wirtschafts­ und außenhandelspolitischen Maßnahmen verstanden werden16. Ähnliche, vielleicht noch schwerwiegendere methodische Probleme wirft natürlich der Begriff des „sozialen Wandels“ auf: Außer der absoluten und der relativen Veränderung der Ökonomischen Situation und des sozialen Status' von Indi­ viduen und Klassen, zunehmender Partizipation weiter Bevölkerungskreise an politischen EntScheidungsprozessen und dem damit verbundenen oder die­ sen Prozeß widerspiegelnden Wandel in den Funktionen des Staats und seiner Bürokratie sollen durch ihn ebenfalls Veränderungen in den wirtschaftlichen Organisationsformen, insoweit sich in ihnen grundlegende Wandlungsprozesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems zeigen, erfaßt werden. Statistisch-methodische Schwierigkeiten, streckenwesie auch der desolate Zu­ stand der deutschen Finanzstatistik17 verhindern die wünschenswerte vollstän­ dige Erfassung des durch staatliche Aufbringungs- und Verteilungspolitik um­ verteilten Anteils am Sozialprodukt. Die folgenden Tabellen18 erfassen daher nur die durch die öffentlichen Haushalte (Reich, Bundesstaaten/Länder, Ge­ meinden) und die öffentlich-rechtlichen Parafisci (Sozialversicherungen) flie­ ßenden Beträge. Trotz der Einschränkungen vermitteln diese Angaben jedoch ein anschauliches Bild von der Ausdehnung und den veränderten Schwerpunk­ ten der Staatstätigkeit. Von der Gründung des Reiches (die Periode von 1871 bis 1874, in der mit den Einnahmen aus der französischen Kriegsent­ schädigung die Heereskontingente sächlich neu ausgestattet wurden, wird hier ausgeschlossen) bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wuchs der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt von 10,6 % auf 14,5 %. Die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Staatsausgaben lag bei 3,4 %, die des Sozialprodukts bei nur 2,6 %19. Unter den Staatsausgaben wiederum hatten die Transferzahlun­ gen (unter ihnen werden hier alle Zahlungen im Sinne der Definition von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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17031 17 632 17 645 19 982 23 416 28 801 33 334 41 859 49 429 41 300 39 466 75 348 60 376

14,3 10,6 10,4 11,4 12,3 12,0 13,2 13,8 14,5 57,7 37,0 24,0 30,6 52,1 34,0 27,9 32,5 30,1 25,0 24,2 25,4 26,9 (3) (3) 4,6 3,3

7,6 3,6 2,9 3,7 3,7 3,0 3,2 3,5 3,9 (3) (3) 1,1 1,0

— — — — — — — — — (3) (3) 2,2 1,7

— — — — — — — — — (3) (3) 9,0 5,5

6,3 9,4 14,4 15,8 16,3 15,0 13,6 13,8 14,5 (3) (3) 2,1 4,2

0,9 1,0 1,5 1,8 2,0 1,8 1,8 1,9 2,1 (3) (3) 0,5 1,3

0,8 0,9 1,0 1,4 1,8 1,9 2,4 2,5 2,7 (3) (3) 8,8 13,7

Transfer­ zahlungen 2 b

5,6 8,5 9,6 12,3 14,6 15,8 18,2 18,1 18,6 (3) (3) 36,6 44,8

Nettosozialprodukt Staatsausgaben davon Verteidi­ besondere Kriegs-- Schuldendienst zu Faktorkosten in v. H. des NSP gungsausgaben folgelasten b a a in Mill. M b a a b

a) in v. H. der gesamten Staatsausgaben b) in v. H. des Nettosozialprodukts zu Faktorkosten in laufenden Preisen 1 In Preisen von 1913. 2 Hierin sind auch die Pensionen für Beamte und Soldaten enthalten. 3 Eine Aufteilung der Staatsausgaben läßt sich in den Jahren 1914—24 nicht exakt genug vornehmen.

1871/74 1875/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99 1900/04 1905/09 1910/13 1914/18 1 1919/24 3 1925/29 1930/32

Periode

Staatsausgaben nach Funktionen in Deutschland (keine vollständige Aufteilung)

Tabelle 1

5,6 13,2 16,3 14,9 14,6 15,0 15,9 15,9 17,9 (3) (3) 13,3 12,4

a

0,8 1,4 1,7 1,7 1,8 1,8 2,1 2,2 2,6 (3) (3) 3,2 3,8

b

Bildung

568 Peter-Christian Witt

Finanzpolitik und sozialer Wandel

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Tabelle 2 Zuwachsraten von Nettosozialprodukt zu Faktorkosten und Staatsausgaben in ausgewählten Perioden in v. H. (in laufenden Preisen)

Nettosozialprodukt Staatsausgaben davon: Verteidigung Schuldendienst Transferzahlungen Bildung

1871/74—1930/32

1875/79—1910/13

1910/13—1930/32

2,1 3,3

2,6 3,4

1,1 5,1

—1,2 2,6 6,8 4,7

2,6 4,5 5,5 4,2

-6,3 — 1,5 10,1 3,1

A. C . Pigou20, aber ohne den gesondert nachgewiesenen Schuldendienst ver­ standen) mit 5,5 %, der Schuldendienst mit 4,5 % und die Ausgaben für Bil­ dungszwecke mit 4,2 % überdurchschnittliche jährliche Wachstumsraten, wäh­ rend das Gewicht der Verteidigungsausgaben, trotz eines geringen Anstiegs ihres Anteils am Sozialprodukt, infolge einer unterdurchschnittlichen Wachs­ tumsrate von nur 2,6 % relativ zurückging. Allerdings bildeten sie auch 1910/ 13 mit rd. 27 % aller Staatsausgaben weiterhin deren größten Einzelposten und behielten mit einem langfristig nur wenig schwankenden Anteil von rd. 90 % die alles überragende Bedeutung im Reichshaushalt21. Innerhalb dieser Veränderungen der Ausgabenstruktur ist sicherlich am bemerkenswertesten das überdurchschnittliche Anwachsen der Transferausgaben. In ihm spiegelt sich zwar auch die veränderte und verbesserte Altersversorgung der Beamten wider 2 , entscheidender war jedoch die Einführung und der allmähliche Aus­ bau des Sozialversicherungssystems. Denn hierdurch verdoppelte sich zwischen 1880 und 1913 der Anteil der Transferausgaben an den Staatsausgaben. In­ nerhalb der Transferausgaben haben die Subventionen an die Wirtschaft nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. Das lag daran, daß sie z. Τ. wie bei den Einfuhrscheinen oder den Brannweinkontingentsscheinen gar nicht über die öffentlichen Haushalte liefen oder sich als nur indirekt gewährte Subventionen wie z. Β. im Hochschutzzoll einer statistischen Erfassung aus methodischen Gründen weithin entziehen konnten23. Das überdurchschnittliche Anwachsen der Aufwendungen für den Schuldendienst spiegelt im wesentlichen sowohl die verfehlte Aufbringungspolitik im Reich, das seine steigenden Rüstungs­ ausgaben zu einem erheblichen Teil mit Anleihen finanzierte24, als auch ähn­ liche Tendenzen bei den Gemeinden wider25. Während des Ersten Weltkrieges stieg der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt auf rd. 58 % — 1917 erreichte er rd. 77 %26 —, und an ihnen dürften wiederum die Verteidigungslasten einschließlich der Verzinsung der Kriegsanleihen bis zu 85 % betragen haben27. Ähnlich unübersichtlich ist die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ausgabenstruktur in den ersten Nachkriegsjahren, als rd. 37 % des Sozial­ produkts durch den Staat umverteilt wurden. Doch gingen die Verteidigungs­ lasten einschließlich der besonderen Kriegsfolgelasten, d. h. im wesentlichen die der Reparationszahlungen, auf weniger als 20 % zurück. Auch der Schul­ dendienst verlor infolge der inflationsbedingten, rapiden Entschuldung der öffentlichen Hände stetig an Bedeutung, während die Transferzahlungen wohl 50 % überschritten haben. Unter ihnen machten neben den echten Verbesserun­ gen der staatlichen Fürsorge und der massiven Stützung des Preisniveaus einiger Grundnahrungsmittel die inneren Kriegsfolgelasten in Form von Pen­ sionen und Unterstützungen an Kriegsversehrte und Kriegshinterbliebene den wichtigsten Posten aus28. Daneben spielten jedoch auch die Subventionen an die Wirtschaft, die zunächst im wesentlichen zur Verbesserung der Arbeits­ marktlage vergeben wurden, sowie die Leistungen für den Wohnungsbau, bei dem die öffentliche Hand oft die Rolle der inflationsgeschädigten Versiche­ rungen und Hypothekenbanken übernahm, eine bedeutsame Rolle29. Nach der Stabilisierung der Mark ging der Anteil der Staatsausgaben zu­ nächst im Zuge der restriktiven Haushaltspolitik und des Abbaus der Sozial­ leistungen scharf auf weniger als ein Viertel des Sozialprodukts zurück, er stieg erst in der Weltwirtschaftskrise trotz der Brüningschen Sparpolitik wie­ der an. Das Gewicht der Verteidigungsausgaben und der besonderen Kriegs­ folgelasten nahm dabei weiter ständig ab, während die Bedeutung der Trans­ ferzahlungen, deren Absinken in der Periode 1925/29 die eigentliche Ursache für den geringeren Anteil der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt ge­ wesen war30, in den Jahren der Weltwirtschaftskrise wieder stark wuchs. Sie beanspruchten nun — hauptsächlich infolge der katastrophalen Arbeitslosig­ keit — fast 45 % aller Staatsausgaben oder nahezu 14 % des Sozialprodukts. Der Schuldendienst machte trotz starker Neuverschuldung der Öffentlichen Hände nach 1924 einen relativ unbedeutenden Anteil des Sozialprodukts aus31. Die Bildungsausgaben wuchsen zwar noch wesentlich schneller als das Sozialprodukt, aber innerhalb der Staatsausgaben ging ihr Gewicht stetig zurück. Der Wandel der Staatsfunktionen zwischen 1871 und 1933: von der Auf­ rechterhaltung der inneren Ordnung und des gesellschaftlichen Status quo und der Gewährleistung der äußeren Sicherheit hin zum wenigstens tendenziell entwickelten Wohlfahrtsstaat — wobei freilich die Finanzpolitik noch nicht konsequent für Ziele wie das Wirtschaftswachstum, die Vollbeschäftigung und Stabilität, sondern vielmehr zur sozialen Korrektur der ökonomischen Krisen­ folgen, d. h. für die Bekämpfung von Symptomen, nicht aber von Ursachen eingesetzt wurde — läßt sich an der hier skizzierten veränderten Verteilung der öffentlichen Ausgaben ebenso wie an dem Anwachsen des durch den Staat umverteilten Anteils am Sozialprodukt deutlich ablesen. Vor allem aber die Ausdehnung des durch immer vielfältigere Leistungen des Staats erfaßten Per­ sonenkreises und dabei besonders die Vermehrung direkter oder — wie z. Τ. bei den Sozialversicherungen — indirekter staatlicher Sozialleistungen berech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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tigen es, von einem echten Wandel staatlicher Funktionen in dem betrachte­ ten Zeitraum zu sprechen. Dazu müssen noch die Umschichtungen in der staat­ lichen Aufbringungspolitik gesehen werden: Anstelle eines Übergewichts an indirekten Steuern und Zöllen, die gewöhnlich mit einer negativen Redistri­ butionspolitik zugunsten einer einzelnen sozial und politisch bevorrechtigten Schicht, der Großagrarier, verbunden waren; anstelle der Schuldaufnahme, die insofern ebenfalls negativ redistributiv wirkte, als aus ihr staatliche Trans­ fereinkommen für steuerlich unzureichend belastete Bezieher oder Besitzer großer Einkommen und Vermögen entstanden; und schließlich anstelle der Erwerbseinkünfte in der Zeit des Kaiserreichs und insbesondere während des Ersten Weltkrieges32 trat in der Weimarer Republik eine stärkere Betonung der — als Instrumentarien staatlicher Redistributionspolitik allerdings objektiv wenig geeigneten33 — direkten, die Einkommen, Vermögen und Erbschaften be­ lastenden Steuern34. Nach alledem ist off ensichtlich, daß die staatliche Finanzpoli­ tik soziale Wandlungsprozesse zumindest insoweit induzierte bzw. widerspie­ gelte, als staatliche Leistungen und Anforderungen in der Weimarer Republik wenigstens tendenziell für soziale Schichten, die bisher von der aktiven Teil­ nahme am politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen waren, früher nicht gewährte Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnete. Allerdings ist unübersehbar, daß die in den ersten Jahren nach 1918 angestrebte emanzipatorische Funk­ tion der Finanzpolitik nicht mit adäquaten Methoden verfolgt wurde. Das gilt aber mutatis mutandis auch für die Finanzpolitik im Kaiserreich, die das angestrebte Ziel, den sozialen und politischen Status quo zu stabilisieren und politisch-soziale Wandlungsprozesse abzublocken, nur mit höchst unvollkom­ menen Mitteln, häufig sogar nur um den Preis einer Gefährdung des unerläß­ lichen Interessenausgleichs der bevorrechtigten Klassen untereinander ver­ folgte. Denn wie im Kaiserreich vor 1914 die ständige finanzpolitische Bevor­ zugung einer sozialen Schicht, der Großagrarier, oder während des Weltkrie­ ges die gewollte und mit finanzpolitischen Maßnahmen geförderte Reichtums­ konzentration bei den Besitzern der Produktionsmittel die übergeordneten allgemeinpolitischen Ziele der Finanzpolitik konterkarierte, so konnte auch in der Weimarer Republik eine sozial stärker ausgleichende Verteilungspolitik des Staats allein nicht das politische System des demokratischen Verfassungs­ staats absichern, zumal da viele Nutznießer der sich nun entschiedener durch­ setzenden Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat erst durch die verfehlte Finanz­ politik während der Inflationszeit — das bezieht sich nicht so sehr auf die Intentionen, wohl aber auf die Ergebnisse — in die Lage gerieten, auf den bisher von ihnen stets bekämpften sozialstaatlichen Gedanken angewiesen zu sein. Anmerkungen 1 Die gleiche Fragestellung für Staaten mit sozialistischer (planwirtschaftlicher) Staats- und Gesellschaftsordnung dürfte nicht minderen Erkenntniswert besitzen,

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freilich müßten verfeinerte Methoden zur Ausscheidung des echten öffentlichen Be­ darfs entwickelt werden, um zu vergleichbaren Aussagen zu gelangen. — Vgl. zu den hier vorgetragenen Überlegungen meine Untersuchung, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches, 1903—1913, Lübeck 1970, u. meine vor dem Abschluß stehende Studie: Die Finanz- u. Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches, 1918—1924. 2 Vgl. zu dieser Sichtweise der öffentlichen Haushalte R. Goldscheid, Staatssozialis­ mus oder Staatskapitalismus, Jena 1917; ders., Staat, öffentlicher Haushalt u. Ge­ sellschaft vom Standpunkt der Soziologie, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, I, Tübingen 1926, 148 ff. 3 J . A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates, in: ders., Aufsätze zur Soziolo­ gie, Tübingen 1953, 5 f. 4 G. Jèze, Allgemeine Theorie des Budgets, Tübingen 1927, VII f. Zu Recht weist Jèze darauf hin, daß dieser Programmcharakter des Budgets sowohl bei Regierun­ gen mit sozialen und politischen Reformbestrebungen vorhanden ist wie auch bei kon­ servativen, denn auch, „die bestehenden Einrichtungen nicht zu verändern und den ,status quo' aufrechtzuerhalten“ , sei ein Regierungsplan, ein gesellschaftspolitisches Programm. Es ist daher Ausdruck einer ganz bedauerlichen Konfusion, wenn z. Β. F. K. Mann davon spricht, daß es eines der „aktuellsten und beklemmendsten Pro­ bleme der staatlichen Finanzwirtschaft“ sei, „ob die Finanzpolitik auch gesellschafts­ politischen Zielsetzungen dienen soll, etwa durch die Umwandlung der kapitalisti­ schen oder halbkapitalistischen Struktur einer Gesellschaft oder durch die Korrektur sozial unerwünschter Formen menschlichen Verhaltens“ (Finanzpolitische Entschei­ dungen in einer pluralistischen Gesellschaft aus ökonomischer Sicht, in: H. C . Reck­ tenwald Hg., Finanzpolitik, Köln 1969, 33 f.), denn die Gegenfrage darauf kann mit Jèze nur sein, ist der Verzicht auf Reformbestrebungen nicht auch eine „gesell­ schaftspolitische Zielsetzung“ ? 5 Vgl. dazu mit weiterführender Lit.: Η. Hofmann Hg., Die Entstehung des mo­ dernen souveränen Staates, Köln 1967; F. K. Mann, The Fiscal C omponent of Rev­ olution. An Essay in Fiscal Sociology, RoP 1947, 331 ff.; Th. Mayer, Geschichte der Finanzwirtschaft vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, I, 236 ff.; K. Heinig, Das Budget, 3 Bde Tübingen 1919/51. 6 Diese Feststellung schließt nicht aus, daß trotz des verhältnismäßig kleinen An­ teils des Sozialprodukts, der in den staatlichen Umverteilungsprozeß einbezogen wurde, hiervon nicht auch Wirkungen auf die gesamte Sozialstruktur ausgingen. 7 Vgl. W. Fischer, Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Be­ ginn der Industrialisierung, Kyklos 14. 1961, 337 ff., jetzt auch in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industialisierung, Göttingen 1972; W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia, Liverpool 1958; ders., The In­ dustrial Revolution on the C ontinent: Germany, France, Russia 1800—1914, London 1961. 8 A. Wagner, Grundlegung der politischen Ökonomie, I, Leipzig 18923, 892. 9 Α. Wagner, Finanzwissenschaft, I, Leipzig 18833, 47 f. 10 Hierüber ist sich bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten die moderne Nationalökonomie einig, vgl. H. C . Recktenwald, Integrierte Wirtschafts- u. Finanz­ politik, in; ders., Hg., 17 ff. 11 Im internationalen Vergleich ergeben sich nicht geringe Schwierigkeiten dadurch, daß bisweilen das Bruttosozialprodukt, bisweilen das Nettosozialprodukt zu Fak­ torkosten (Volkseinkommen), bisweilen auch nur das Nettoinlandsprodukt zu Fak­ torkosten als Bezugsmaßstab gewählt wird. Wenn im folgenden vom Sozialprodukt die Rede ist, bezieht sich das stets auf das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten. 12 Vgl. dazu U. Hicks, British Public Finances. Their Structure and Development 1880—1952, London 19632; S. Fabricant, The Trend of Government Activity in the United States Since 1900, N. Y. 1952; S. Andic/J. Veverka, The Growth of Govern© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ment Expenditure in Germany since the Unification, Finanzarchiv N. F. 23. 1963/ 64, 169 ff.; O. Weitzel, Die Entwicklung der Staatsausgaben in Deutschland, Diss, Nürnberg 1967. 13 W. G. Hoffmann (u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, 107 ff., 147 ff.) interpretiert Wagners „Gesetz“ der wachsenden Staatsausgaben völlig fehl, wenn er „Staatsausgaben“ nur als öffent­ lichen Verbrauch (d. h. Löhne und Gehälter sowie sächliche Ausgaben) zuzüglich der Ausgaben für die Errichtung öffentlicher Gebäude und den öffentlichen Tiefbau de­ finiert. Denn Wagner ging es gerade nicht um eine ökonomisch exakte Trennung von privatem und öffentlichem Verbrauch (dabei können gegen Hoffmanns Definitions­ versuch auch noch Einwände geltend gemacht werden), sondern er behauptete mit sei­ nem „Gesetz“ , daß ein wachsender Anteil des Sozialprodukts in die staatliche Auf­ bringungs- und Verteilungspolitik einbezogen werden würde, gleich ob dieser vom Staat als solchem verbraucht oder wieder an Private redistributiert wurde. Gegen Hoffmann muß daher mit Nachdruck geltend gemacht werden, daß gerade der wach­ sende Anteil des nicht vom Staat verbrauchten, sondern nur umverteilten Sozialpro­ dukts den Wandel zum Wohlfahrtsstaat kennzeichnet. 14 Vgl. dazu G. Schmölders, Finanzpolitik, Berlin 19703, 175 ff. 15 Hierunter fallen alle Maßnahmen, die sektoral oder global die Angebots- und Nachfrageverhältnisse von Gütern und Dienstleistungen und damit deren Preise ver­ ändern, z. B. Zölle, Ein- und Ausfuhrverbote, steuertechnische Vorschriften usw. 16 Selbstverständlich sprengt dieser weitgefaßte Begriff die Grenzen dessen, was in dem uns interessierenden Zeitraum unter Finanzpolitik verstanden wurde. Doch erweist er sich für die Analyse unseres Problems als besonders fruchtbar und kommt auch der theoretischen Forderung nach einer integrierten staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik weit entgegen. Freilich wird er nur als Operationale Basis für die Analyse verwandt, ohne damit die damals handelnden Politiker nachträglich an un­ serem heutigen Erkenntnisstand messen oder ihnen gar eine an ihm orientierte Zweck­ rationalität des Handelns unterstellen zu wollen. 17 Bis 1913 liegen teilweise nur Netto-Etats (Reich und ein Teil der Bundesstaaten) bzw. Schätzungen (Gemeinden) vor; für die Jahre 1914 bis 1924 existierten überhaupt keine brauchbaren finanzstatistischen Veröffentlichungen. 18 Grundlage der Berechnung sind die publizierten Hauhaltsrechnungen von Reich, Bundesstaaten/Ländern und Gemeinden sowie Sozialversicherungen. Für die Jahre 1914 bis 1924 erfolgte die gesdiätzte Berechnung von Staatsausgaben und Sozialpro­ dukt aufgrund von Materialien aus dem Reichsfinanz-, Reichswirtschafts- und Reichs­ arbeitsministerium sowie den entsprechenden bundesstaatlichen bzw. Landesmini­ sterien. Auf Einzelbelege und eine Erläuterung der Berechnungsmethoden muß hier verzichtet werden, vgl. dazu meine (Anm, 1) genannte Untersuchung. Für die Anga­ ben über das Sozialprodukt stütze ich mich auf Hoffmann u. a. 19 Alle Angaben beziehen sich auf laufende Preise; in konstanten Preisen stieg das Sozialprodukt jährlich um 2,4 %, die Staatsausgaben um 3,1 %. 20 A. C . Pigou, Α Study in Public Finance, London 1928, 19 ff. 21 Witt, Finanzpolitik, 1903—1913, 380. 22 Diese jährliche Zuwachsrate entsprach mit 3,4 % genau dem durchschnittlichen Wachstum. 23 Anhaltspunkte über die Größenordnung bei Witt, 40 ff. 24 Witt, 386. 25 Η. Lücker, Die Entwicklung u. die Probleme des Gemeindeabgabenwesens in den Städten u. großen Landgemeinden der preußischen Industriebezirke, in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 127/III, Leipzig 1910. 26 Parallele Entwicklungen werden auch von Hicks (10 ff.) für England nachge­ wiesen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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27 Eine genauere Berechnung ist wegen der Vernichtung der Haushaltsakten und den wenig spezifizierten Haushaltsrechnungen des Reichs und der Bundesstaaten so­ wie den ganz ungenügenden Angaben der Gemeinden nicht möglich. Vgl. dazu meine in Anm. 1 genannte Untersuchung. 28 Es kann zweifelhaft sein, ob diese Leistungen nicht dem Komplex Verteidigungs­ und besonders Kriegsfolgelasten zugerechnet werden sollten. Vgl. dazu U. Hicks, The Finance of British Government, Oxford 19702, 29 ff. 29 Vgl. dazu Kap. IV und V meiner in Anm. 1 genannten Untersuchung. 30 Verringert hatten sich nur die Sozialausgaben, während der Anteil der Subven­ tionen an den Transferausgaben sprunghaft anstieg. Vgl. dazu C . D. Krohn, Stabi­ lisierung u. ökonomische Interessen, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923— 1927, phil. Diss. Hamburg 1973. 31 Vgl. Tab. 2. Zum Vergleich: Die Bedienung der öffentlichen Schulden bean­ spruchte in Großbritannien während der Jahre 1924—32 rd. 25 % der gesamten Staats­ ausgaben und 7,6 % des Volkseinkommens, nach Hicks, Finance, 360, 380. 32 Vgl. Witt, Finanzpolitik 1903—1913; W. Gerloff, Die Finanz- u. Zollpolitik des Deutschen Reiches, Jena 1913; ders., Die steuerliche Belastung in Deutschland während der letzten Friedensjahre, als Ms. gedr. Berlin 1916; K. Roesler, Die Fi­ nanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Berlin 1967. 33 G. Schmölders, Das Gerechtigkeitspostulat in der Besteuerung, Finanzarchiv N. F. 23. 1964, 53 ff., ders. Finanzpolitik, 367 ff. 34 Vgl. Witt, Finanz- u. Wirtschaftspolitik 1918—1924; Krohn.

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30. The Collapse of the Steel Works Association, 1912-1919 A C ase Study in the Operation of German “ Collectivist C apitalism“ B Y GERALD D. FELDMAN

German industrial capitalism has long been famous for its organization, and this reputation for organization has been a source of pride for German busi­ nessmen just as it has been a cause of envy and anxiety to the outside world. Unfortunately, the history of this organizational development, particularly the history of horizontal and vertical organization for the purposes of stabi­ lizing the market and controlling production, has received little detailed study. Similarly, little work has been done on the concrete relationship between the decision making processes characteristic of what Hans Rosenberg has called “ collectivist“ capitalism and the long and short range economic, social and political parameters within which business decisions are determined1. Surely such investigations are necessary if we are to make progress toward the kind of history of society in the industrial age which Hans Rosenberg has tried to promote in his pioneering studies. This essay, which investigates the collapse of one of Germany's most venerable syndicates, the Steel Works Association (Stahlwerksverband), in the aftermath of the First World War, is meant to serve as a very modest contribution toward this extraordinarily formidable task. It is extremely important not to equate the peculiarly collectivist character of German industrial capitalism with either a necessarily high degree of stabil­ ity or an automatically uniform and homogeneous response by German busi­ nessmen to the problems they faced. As a relatively backward latecomer to industrialization, Germany's problems were different from those of England, but they were scarcely less extraordinary. If England enjoyed the benefits of being the 'first industrial nation' and suffered the penalties of 'taking the lead', Germany enjoyed the benefits of the technological and organizational innovations at once available to and required by the newcomer but also probably suffered more acutely from 'uneven development' and bureauc­ ratization2. For geographical, technological and cultural reasons, cartelization and trustification never took hold in the English iron and steel industry in the manner that it did in Germany3, but it would be utterly misleading to confuse Germany's incredible success in overtaking England at the turn of the century

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with a coherent and cohesive drive for supremacy. That supremacy was the by-product of a differently organized but quite stormy and often simply anarchic industrial development. Cartel organization in the industry at once reflected and promoted such development, and this is essential for an under­ standing of the character of the Steel Works Association. The Steel Works Association, which was founded in 1904, was a child of prosperity rather than distress (Not), and it did not have the defensive char­ acter of the horizontal organizations of the 1873—96 period4. On the con­ trary, it was a product of the industry's exceptional growth and the favorable economic conditions of the 1896—1914 period. Thanks to bountiful natural resources and a splendid technology, the G erman iron and steel industry appeared destined to dominate its counterparts in Europe. The presence of large quantities of minette ore in Lorraine and of coal in the Ruhr permitted the development of an efficient division of labor between the two areas. The production of pig iron and other of the industry's cruder products was con­ centrated in Lorraine, Luxemburg and the Saar, while the production of more advanced products was concentrated in the Ruhr, where there was a supply of high quality labor and close proximity to the finishing industries5. The industry moved rapidly in the direction of vertical and horizontal concentration. The economic and technological advantages of producing as much as possible in 'one heat' need no elaboration, and an initial period of vertical concentration in the direction of securing basic raw materials (coal, iron ore, smelting) was followed by a growing effort to integrate rolling mills and other finishing operations. If the most important 'mixed works' were created before the war, however, the prewar period was no less notable for its cartelization and syndicalization. Cartelization was considered essential if the industry was to take advantage of tariffs and protect itself from cutthroat competition in times of recession. It was particularly important and successful in enabling G ermany to gain significant advantages in international arrange­ ments regulating the rail market. Horizontal organization was most suitable for the cruder products: pig iron, and the so-called Α-Products (semis, rails, and structural steel). These items were uniform and demonstrated little varia­ tion in quality. They were easily marketed through a single sales organization, and this explains why the most effective and advanced of the prewar cartels in this industry were the Pig Iron Syndicate (Roheisenverband) and the Steel Works Association. Both constituted the most advanced form of cartel, the syndicate, and the member firms were obligated to sell through them. At no time, however, did it prove possible to syndicalize the so-called B-Products (bars, bands, plate, and rolled wire), although this remained the goal of the Steel Works Association throughout its existence. The maximum accomplish­ ment in this area had been the creation of quota arrangements (Kontingentie­ rung) for the B-Products in 1904, but this arrangement deteriorated and finally collapsed in 1912. The inability to maintain even limited arrangements for the B-Products within the framework of the Steel Works Association was © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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symptomatic of the increasingly destabilizing nature of the prewar organiza­ tion of the German iron and steel industry8. Unable to make more than modest profits on the successfully syndicalized Α-Products, the large mixed works dominating the Steel Works Association made increasing use of their self-consumption rights (Selbstverbraucherrechte) to produce B-Products and then used their, increased capacities to demand increased quotas. In 1911/12, sales of Α-Products were only 32.24 % above 1904/05, while sales of B-Products were 106 % more and sales of the most important of the latter, bars (Stabeisen), had increased 124.10 % 7 . There was every reason to believe that the unquestionable stabilization of prices in the Α-Products had led to a dramatic expansion — probably an overexpansion — of production in the B-Products, which served as a 'safety-valve' (Sicher­ heitsventil) for the mixed works8. The latter at once needed to cover their fixed costs through maximum production and were at the height of their expansionist propensities. At the same time, these conditions weakened the Steel Works Association in its efforts to bring in the outsiders, particularly the open-hearth producers (Siemens-Martin steel) in the Siegerland and the 'pure' rolling mills (reine Walzwerke). In angry moments, a Steel Works Association member might declare that “ We have a whole series of weapons at our disposal against outside works who might cause us difficulties, namely the Coal and Pig Iron Syndicates, and if necessary we should use these weapons ruthlessly and not be held back by any public outcry“9, but in his sober moments he could not neglect his interest as a member of those very same syndicates in keeping his customers. Similarly, while there was an increasing tendency on the part of the mixed works to buy up or form pooling arrangements (Inter­ essengemeinschaften) with the pure rolling mills before the war, the mixed works showed no disposition to go out of their way to make membership in the Steel Works Association attractive to smaller firms by making concessions in the crucial area of quotas. As a member later noted, “ Syndicates (for B­ Products) could have been formed before the war if the large works had been prepared to leave something over for the small and medium sized works“ 10. Indeed, the atmosphere surrounding the renewal of the Steel Works Asso­ ciation in May 1912 was extraordinarily tense, and while it appears to have been standard procedure for holdouts to play “ va banque with the nerves of the participants in the negotiations“ , the fears of a “ collapse comparable to an economic Jena“ certainly were quite real11. In fact, it could be argued that the compromises made in order to extend the Steel Works Association another five years had only served to undermine it still further, and whatever the sucessful battle for renewal might be called, it certainly was no economic Leipzig. Kir­ dorf argued in vain that “ the elimination of B-quotas will be a regression to the old conditions, and a Steel Works Association without B-quotas will no longer be a Steel Works Association“ 12. He was outvoted, however, by col­ leagues like August Thyssen, who demanded either the syndicalization of the B-Products or the termination of all production limitations on them, and by 37 Sozialgeschichte Heute © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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those who considered the whole effort too hopeless to bother about any further. While it would appear that no one, not even Hugo Stinnes, whose re­ sistance to a dimunition of his monopoly in the so-called G rey-girders actually brought the negotiations beyond the twelfth hour, was willing to take re­ sponsibility for the termination of the Steel Works Association in 1912, its future was far from rosy13. Thyssen was bitter over the concessions made to Stinnes, and was to be successful in winning similar rights for himself in court. He was also pro­ foundly dissatisfied with his quota in Α-Products, which he felt insufficient in the light of the capacity of his new steel work in Hagendingen14. Most im­ portant, it was quite clear that Thyssen's remark of 1905 that “ the time of syndicates is actually past and we must move on to the time of trusts“ 15, was increasing in validity and that the Steel Works Association was following rather than leading the way toward rationalization and was losing ground in the estimation of the industrial leaders. One of the ostensible purposes of the Steel Works Association was the promotion of rationalization, but when As­ sociation supporters like Kirdorf warned against discussions of the closing of inefficient plants and the distribution of production according to profiles and types on the grounds that they would be “ endless“ , then they could only strengthen the influence of critics like Stinnes, who argued that “ It is absolutely necessary to have a period without syndicates, because otherwise we can never have healthy conditions. There are altogether too many works which do not have any right to exist; only free competition can create complete clarity in this regard“ 16. Needless to say, it is impossible to predict whether further renewals of the Association would have been possible without the special con­ ditions brought on by the war and whether the Association's collapse in 1919/20 could have been prevented if the special conditions of 1919/20 had not existed, but this brief discussion should make it clear that the structural problems leading to the collapse of the Steel Works Association were endo­ genous as well as exogenous and that there is considerable continuity between the industry's prewar and postwar problems. There is yet another element of continuity, and that is in the relationship between the state and the Steel Works Association. There is no overt evidence in the lengthy secret negotiations among the Steel Works Association members in 1912 that anxiety over state action to preserve the organization was a significant concern in its prolongation, but the industrialists certainly must have been aware that the breakdown of the Steel Works Association could have political consequences. While state action with regard to cartels is nor­ mally thought of in terms of action against abuses, a type of action certainly left open to the state under the famous Reichsgericht decision of February 4, 1897 recognizing cartel agreements as binding in law, the importance of state action to promote cartelization and syndicalization is no less worthy of atten­ tion and, in the G erman case, probably more so. The government had been unwilling to come to the aid of the pure rolling mills and create a large steel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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plant to supply the latter as proposed by the anti-Steel Works Association forces in 1904 and again in 1908—09, and the government had shown little inclination to act against cartel abuses before the war17. In the case of the potash industry, however, the government had demonstrated a disposition toward compulsory syndicalization in an industry where competition threat­ ened to waste national resources and have adverse economic consequences18. It was surely this precedent of the forced syndicalization of the potash industry in 1910 that was in the mind of the editorialist of Stahl und Eisen in 1912 when he praised the leadership of the Steel Works Association for its success in getting the organization renewed without “ legislative assistance“ 19. In 1912, therefore, there was at least the fear that the state might not tolerate complete freedom on the iron and steel market, a posture that took explicit form during and after the war. Whatever the continuity of development between 1912 and 1919, however it must be understood that the relationships among the various strands of development in the iron and steel industry's history were badly distorted by the conditions developing after 1914. The demands of war production en­ couraged expansion, often with the assistance of government funds, and this continued the artificial stimulation of the industry in another form. Similarly, wartime demands intensified the profitability of B-Products as well as of the C-Products, a new category of more finished goods previously included in the former group20. The mixed concerns had little inclination to sell the A-Products needed for their own more advanced production, and the shortages of A­ Products induced the government to control prices more stringently on these materials while granting high prices for B- and C -Products as an incentive to war production. In short, the war encouraged still further the expansion into finishing (Verfeinerung) and gave a very major impetus to heavy in­ dustry's incursions into the manufacturing industries (weiterverarbeitende In­ dustrie). Vertical concentration in the direction of both raw materials and finished products was encouraged by the shortages of raw materials, the prof­ itability of rationalization, the availability of large amounts of liquid capital as a consequence of the war profits, and the desire to escape taxation by speedy reinvestment of profits21. To these motives were increasingly added fears that Germany had lost her old markets for less finished products. In­ dustrialists knew that other countries had expanded their iron and steel pro­ duction during the war or, as in the case of India, had developed such pro­ ductive capacity for the first time. In the view of many industrial leaders, this meant that heavy industry had to develop a more secure domestic market for its cruder products and seek profit on the world market with quality products and finished goods. In 1918, for example, General Director Paul Reusch of the Gutehoffnungshütte and Albert Vögler of the Deutsch-Luxem­ burg concern told their Supervisory Boards (Aufsichtsräte) that Germany was going to lose her old markets for semis in England and the English colonies, 37*

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and that “ it is a necessary natural consequence of this that the G erman works will have to go into finishing more and more“22. From a purely economic point of view, therefore, the wartime situation contained many elements that were bound to undermine industrialist com­ mitment to the Steel Works Association still further, but it also gave the government a vital interest in the preservation of such syndicates and their expansion into every area of production. They were useful instruments in the government's efforts to control distribution and prices, although they had lost much of their original functions as organizations for the limitation of pro­ duction, the maintenance of profitable domestic prices and the promotion of low export prices. Whereas cartels and syndicates had originally been created to protect producer interests, their nature was now being transformed by the state in its role as the nation's largest consumer. Syndicalization had become an instrument in the hands of those seeking to organize the economy and control prices. This ist not to say that industrialists had lost all interest in syndicaliza­ tion as an instrument of producer interests. Industrial leaders were more than happy to take advantage of government powers to ban exports in order to compel their colleagues to join in export syndicates established to secure high prices and foreign exchange through the elimination of competition among exporters. Similarly, during the first year and a half of the war they were also reminded of some of the more traditional uses of syndicates. When military demand suddenly dropped in late 1915 there was a renewed interest in setting up a price cartel for bars and other B-Products as well as considerable anger at the army for being an unreliable customer. Nevertheless, the fundamental function of wartime syndicates was to serve the government rather than the producers. This was plainly evident in the creation of the German Steel Federa­ tion (Deutscher Stahlbund) on October 4, 1916, a federation encompassing a host of syndicates that was created for all products and which was intended to serve the economic mobilization necessitated by the Hindenburg Program, For patriotic and practical reasons, the industrialists collaborated in this thoroughgoing syndicalization, but they viewed it as temporary23. They took a much more serious view of the problem of renewing the Steel Works Association, however. It was scheduled to expire in 1917, and there could be no question about the fact that the difficulties which had nearly destroyed the organization in 1912 had been exacerbated. Everyone agreed that the Steel Works Association was a “ torso“ , encompassing an increasingly small part of the nation's steel production. Furthermore, its stature had been diminished still further by its inability to impose discipline upon its members during wartime and compel them to deliver their quotas of Α-Products as required by the government and as needed by the primary consumers. At the same time, however, there were many industrial leaders who considered its non-renewal both impossible and unwise. The government was demanding that the syndicates be continued. Thus, on April 6, 1917, G eneral Director Beuken­ berg of the Phoenix concern reported that government officials “ stressed em© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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phatically that the iron industry in all circumstances must create syndicates for its products in peacetime, for otherwise the government will be relentless in establishing compulsory syndicates“24. The government had already made it clear that it meant business by forcibly renewing the coal syndicate in 191525. In promoting syndicalization, the government was moved by two sets of motives, one of which the industrialists could view with considerable sympathy and the other of which they viewed with increasing alarm, but both of which seemed to militate for a more thoroughgoing voluntary renewal of the Steel Works Association. Industrialists could hardly deny that they were going to face greater competition after the war and that organization could play an important role in the industry's efforts to meet it. Thus, Director Thomas Müller of the Stumm concern told his colleagues that “ combination in as many products as possible is absolutely necessary for the German iron and steel industry . . . for the economic war, which will outlast this war, can only be carried on with success if the German iron industry is no longer engaged in internal combat“ 26. Germany's Mitteleuropa planners in the government and industry also required cartels, for it was argued “ that the tariff barriers between the German Empire and Austria-Hungary will have to come down and the protection of interests on both sides will have to be sought in cartel agreements“ . If there were going to be high tariffs against other nations, then “ the system of rebates for indirect exports will have to be expanded to the greatest possible degree“ 27. The industrialists were much less sympathetic to the second set of govern­ ment motives for the promotion of syndicalization, namely, the government's desire to use syndicates as a means of more effectively taxing and controlling industry. As early as January 1915, the Saar industrialist and chairman of the Steel Works Association, Louis Röchling, noted that “ the social burdens of industry will undergo an enormous increase after the war, since our legislation will have to reflect the conclusions to be drawn from the changed national position of the Social Democrats. C ircumstances being what they are, the iron industry will have to pay the most, and the increased costs could involve such an increased burden as to make its productivity and its continued existence in general impossible without firmly organized trade associations“28. By 1917, however, Röchling was more fearful than ever, for now the influence of Wal­ ther Rathenau and Wichard v. Moellendorff seemed omnipresent in Berlin, and he warned “ that there are all kinds of plans in Berlin; so, for example, they are toying with the idea that the Reich must be a participant in every industrial organization without putting in any capital per se and that 30 % of the profit is to be taken for the benefit of the Reich. They are also toying with the idea of continuing price ceilings after the war. All this shows con­ clusively how necessary it is that that no effort be spared to regulate things on the basis of our own decisions“29. However, just as it was possible to argue that renewal of the Steel Works Association was necessary for the mobilization against outside competition and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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government intervention, so was it possible to argue that the best way to handle these threats was to avoid an overcommitment to that organization. Critics could point out that it was impossible to sign a ten year contract, as was proposed by Director Müller30, for example, because no one knew how the war was going to turn out. How could a firm counting on the utilization of Briey-Longwy ores make such an agreement until it knew what the disposi­ tion of that territory was going to be? Also, it was possible to question the utility of syndicates for the recovery of the export market. Some businessmen, like Vögler, felt that speed was of the essence and that individual firms with export experience had proven far more effective than syndicates in getting foreign orders. Röchling, while agreeing that some concerns had done better when it came to selling large amounts abroad, prognosticated that the postwar market would be relatively limited and that syndicates would be more effective in getting good prices31. Similarly, there was disagreement as to how seriously the government threat to force syndicalization should be taken. While Röch­ ling felt that anticipatory organization was the only answer, Peter Klöckner argued against being panicked into going too far and pointed out that the problems of forming syndicates were so great “ that the Reich government simply will not be able to master them“ 32. One thing was certain, however, and that was that the industrialists them­ selves proved unable to overcome the difficulties of renewing the Steel Works Association on any stable basis during the war. In October 1915 the Deutsch­ Luxemburg concern announced that it intended to leave the organization, and Thyssen took the same position in 191733. As usual, the quota problem lay at the heart of the conflicts, but now the disagreements not only revolved around old issues like the Thyssen-Sunnes conflict over Grey Girders and Thyssen's dissatisfaction with the quota allowed for his Hagedingen plant, but also over the allowances that were to be made for the wartime expansion. While sup­ porters of long term syndicalization were devising ingenious formulas for the perpetuation of the Steel Works Association for the coming decade, it proved impossible to find a satisfactory formula establishing quotas that took into account old grievances, prewar expansion programs realized during the war, and wartime expansion undertaken at government behest. The Krupp firm, for example, had increased its prewar crude steel production of 1.6 million tons by an additional 800,000 tons. Director Bruhn warned his colleagues that the plants producing the new tonnage were too recently built to have paid their way during the war and bluntly announced that “ Despite all the friend­ liness toward syndicates that the Krupp firm has always shown and is also now again ready to show, you cannot possibly expect from us a complete renunciation of our increased capacity. You must see to it that you come to an understanding with us. If you cannot do it or do not want to do it, then we will find a way and a means to gain a hearing for our just claims and will manage to have our wishes, which must be viewed as just and well-founded, carried through by the government in the formation of the syndicates. We © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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don't want to go too far. We are quite prepared to give up a part of our new plant facilities, but a complete renunciation is out of the question, and you must take that into account under all circumstances“34. Needless to say, it proved impossible to find a satisfactory formula for a lengthy prolongation of the Steel Works Association in the context of such claims, above all when powerful members had grave doubts as to the ad­ visability of making a long term commitment in the first place. The end result was that the Steel Works Association was prolonged on the basis of the old contract for brief periods while negotiations over a long term contract dragged on to the end of the war. These wartime negotiations concerning the renewal of the Steel Works Association, among other things, had demonstrated a growing interest on the part of some of the larger firms in a greater degree of collaboration among themselves. It had always been understood that a successful syndicate could not be formed without the participation of some of the great firms, like Thyssen, Deutsch-Luxemburg, Phoenix, and Krupp, but it would appear that the general tendency was for each of the large members to impose its terms individually upon the rest as its price for adhering to the syndicate. In the discussions of 1917—18, however, there was talk of collaboration among a block of the larger Rhenish-Westphalian works in an effort to form a group constituting approximately three-quarters of the production quota. Such a group would then be in a position to impose its will upon the rest of the membership in the formation of the syndicate. Also, a group with such strength would have a better chance of gaining government acceptance of its decisions. In short, close collaboration within a regionally based block of producers was viewed as a means of maintaining order in the industry and securing its integrity against outside interference35. It is no accident that two of the chief proponents of this idea were Beuken­ berg of Phoenix and Vögler of Deutsch-Luxemburg. It is most likely that this reflected the even more ambitious plans they were discussing concerning the future organization of the steel industry. During the war, Beukenberg held confidential discussions with Vögler suggesting the possibility of creating an Interessengemeinschaft between Phoenix and Deutsch-Luxemburg. Beukenberg's motives appear to have been somewhat narrow in their conception. Phoenix' holdings were widely scattered, and the concern was constantly searching for secure sources of raw materials. Also, Beukenberg was planning to retire in the near future and seems to have felt that the suggested Inter­ essengemeinschaft would provide a secure legacy for the future. Vögler's in­ terest in the project unquestionably was based on more profound intentions. Vögler was deeply impressed with the failure of the Steel Works Association to promote the goal of rationalization stated in its charter and was distressed by the relative absence of significant technical and scientific breakthroughs in his industry during the previous fifteen years. He seems to have sensed the relative retardation of the industry, and he looked to the newer industries for © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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a model. He found it in the chemical industry, where the Interessengemein­ schaften instigated by C arl Duisberg in 1904 and 1915 seemed to point the way toward the future. In contrast to his employer, Hugo Stinnes, Vögler's interest in industrial combination was technocratic rather than decisionist and specula­ tive, and Stinnes seems to have done little about the Beukenberg proposal when Vögler informed him about it during the war. In October 1918, how­ ever, Stinnes responded to the worsening military and political situation by showing interest in the Beukenberg idea, albeit in the context of a broader scheme to expand the Deutsch-Luxemburg's coal base by an Interessengemein­ schaft with Emil Kirdorf's Gelsenkirchener Bergwerke. Stinnes now conjured up the vision of a “ triple alliance“ of Deutsch-Luxemburg, the Gelsenkirchener Bergwerke and Phoenix capable of withstanding every contingency the future might bring36. It was in this context as well as in the context of the continued deadlock in the Steel Works Association negotiations that Vogler composed a memoran­ dum in October 1918 urging that the steel industry follow the path of the chemical industry. He urged that the way be paved for the total rationaliza­ tion of the industry through the creation of a successive series of Interessen­ gemeinschaften aimed at the formation of a powerful block of concerns. Vögler's memorandum was a veritable paean to the gains that could be made from common research and marketing facilities, a rational division of labor in production, and a common policy toward labor. He warned that the future competition from the United States and other industrial nations required this, while the power of labor at home and the unavoidable introduction of the eight hour day would increase costs and severely penalize irrationalities in production. Vögler placed particular emphasis on the enormous savings that would accrue if there were a common investment policy that spared each con­ cern from the need to round out its individual production program by dupli­ cating the investment programs of its competitors. Through such collaboration each individual member of the Interessengemeinschaft could concentrate on its most efficient operations as determined by its economic and geographical ad­ vantages37. Vögler's memorandum is of more than passing interest. It propounded a real alternative to what was to transpire as well as served as a harbinger of what was later to come. Vögler appears to have understood the dangers of the kind of “ rationalization“ that was to characterize the inflation, namely a free­ for-all of vertical concentration by giant concerns in which duplication of effort and overexpansion of productive facilities paved the way for the col­ lapses of 1924—25 — not the least impressive of which was that of Hugo Stinnes' empire — and the struggle against overcapacity and irrationality in the industry which was to follow38. Yet, Vögler's memorandum also presaged, in its socioeconomic and technical reasoning, the considerations that led to the creation of the United Steel Works (Vereinigte Stahlwerke) in 1926 and the complex structure of cartel organizations which it dominated. The question © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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thus arises as to why the more systematic effort at rationalization had to await this later period. A large part of the answer certainly lies in the uncertainty, confusion and dislocation of the immediate postwar period. The organizational and economic fabric of the iron and steel industry was ripped asunder by the temporary or permanent losses in Lorraine, Luxemburg, the Saar and Upper Silesia, while coal shortages and strikes in 1918—20 had a very deleterious effect upon pro­ duction. Such conditions were not conducive to long range planning but rather to short range action aimed at saving what could be saved, at the minimum, and making gains for oneself, at the maximum. These concerns found expression in a peculiar oscillation between disciplined collaboration to ward off outside opponents and anarchic self-help when panic or overwhelming advantage seemed to dictate. Thus, through concerted action the industrialists formed an alliance with the trade unions and, in combination with them, managed to persuade the government to lift price ceilings on iron and steel and to relax export and exchange controls in January 1919. When producer arguments that these policies would not lead to internal shortages and that the value of the mark would increase substantially proved false, there was a revolt of the primary consumers against the astronomic price increases of January-February 1919 as well as the shortages of goods. This threatened to bring government action and a restoration of controls, but under Vögler's leadership, the producers backed away from their policy of disregarding the interests of their domestic customers and, in April 1919, reconstituted the German Steel Federation as a body in which representatives of the manufactur­ ing industries and the labor unions could participate in pricing discussions on a non-voting basis. The producers moderated their demands and tried to set their prices for longer periods of time, thereby permitting a more accurate calculation of costs by their customers in the manufacturing industries. The German Steel Federation also constituted a shrewd and effective means of countering the entire program of the Reich Economics Ministry, led by Ru­ dolf Wissell and Wichard v. Moellendorff, to establish mixed economic bodies (Gemeinwirtschaftskörper) for the iron trades which would oversee prices and distribution policy and would undertake the rationalization of the industry. Thanks to its clever policy of temporizing with its business, labor and govern­ mental opponents and critics, the steel producers managed to ward off both socialization and control through a planned economy (Planwirtschaft) during the crucial period preceding the fall of Wissell and Moellendorff in July 191939. At that point, however, the good discipline demonstrated by the producers began to disintegrate, in part because the Treaty of Versailles had set the seal on the industry's losses, had opened up enormous tasks of reorganization and reconstruction, and promised to intensify production problems by removing large amounts of coal via reparations deliveries. The currency took a turn for the worse and was unlikely to improve in the near future. Finally, the Treaty was a severe blow to the democratic forces in Germany, and industrialist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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rebelliousness was an integral part of the general shift to the right during this period. Thus, when the government continued to demand that the producers maintain the Steel Works Association, a demand that they had backed up by periodical decrees forcing its perpetuation, and further demanded that the producers give priority to their domestic customers and charge moderate prices, the producers began to take a more defiant attitude40. There can be no question about the fact that with the loss of Lorraine and the Saar and the inability of the German government to control effectively the entrance and exit of goods on its western borders either through tariffs or effective border controls, the Steel Works Association had become more of a torso than ever before and a fiasco as well. It was impossible for producers to turn their goods over to the Steel Works Association at the prices set by the Steel Federation because that same steel would almost invariably be marketed by merchants at outrageous prices under the fiction that it was really the higher priced Saar, Lorraine or Upper Silesian steel. Black marketeenng, hoarding and irregular business practices became the order of the day. Under such conditions, it was difficult to find a viable means of perpetuating the Steel Works Association and imposing discipline through penalties, let alone creating the kind of regional Interessengemeinschaft for rationalization pur­ poses advocated by Vögler41. Thus, when Vögler presented a revised version of his October 1918 memo­ randum to the leaders of the industry in July 191942, he met with some support from colleagues like Paul Reusch, August Thyssen and Bruno Bruhn, who either feared that the government would intervene if they did not create a viable organization themselves or, as was particularly the case with Bruhn, believed in industrial organization as a matter of principle. They were willing to prolong the Steel Works Association while negotiations went forward to­ ward the creation of an Interessengemeinschaft. This position was stoutly opposed by Hugo Stinnes and Jacob Hasslacher of the Rheinische Stahlwerke. Stinnes had lost interest in Vögler's proposal and ignored it, but he was dead set against renewing the Steel Works Association, while Hasslacher was pre­ pared to continue the Steel Works Association in a completely powerless form, that is, without penalties for violation of delivery and price obligations. Stin­ nes criticized the latter suggestion as a transparent sop to the government. Both industrialists insisted that the best way for Germany to recover was through individual action and unrestricted use of individual connections and outlets for exports. Hasslacher did not disagree with Vögler's intentions in principle — he was to play a major role in realizing some of them in 192643—, but he argued that they could not be realized until the firms themselves found it so necessary to collaborate that they were prepared to overcome the diffi­ culties involved. To come to such a decision, however, they would need a clearer sense of the future, and it was quite clear that they had no such sense in July 1919. This was amply demonstrated by Director Bruhn, who remarked that “ despite the fact that we are negotiating in a circle of very clever people, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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our opinions are very far apart. One says that exports will be very strong, while another values them at zero. Some are of the view that we will only be able to export in more finished products, others that we will only be able to export in unfinished products. C oncerning consolidation there is every shade of opinion; syndicates or no syndicates or at most price agreements, Interessen­ gemeinschaften and finally complete freedom. We are all still in a complete ferment and will hardly be able to arrive at anything satisfactory“ 44. In 1919 Vögler's scheme for the rationalization of the iron and steel in­ dustry on the basis of autonomous action from within the industry itself could only fail, and he ended up in his characteristic posture. He was a powerful and convincing advocate of freedom from government restrictions and from the poorly functioning syndicates inherited from the past. At the same time, he urged moderation upon his colleagues and the creation of new and more viable forms of organization. In practice, however, this meant that just as he ended up serving as one of the most effective servants of Srinnes' business interests even when he had strong doubts about his master's policies, so he ended up marching in step with the more immoderate elements in the industry he sought to stabilize. This immoderation reached monumental proportions in the fall and winter of 1919/20. Deutsch-Luxemburg and Rheinstahl openly defied the govern­ ment's continuation of the Steel Works Association and contested the legality of the government decrees in court. Of more immediate significance was that the steel producers were ruthlessly eliminating their Swedish ore debts. These debts, which played a major role in the behavior of some of the leading industrialists, were contracted during the war when the government demanded that the steel producers pay their ore debts through loans contracted in Sweden and payable in kronen. The government had done this to prevent a massive export of marks and a further weakening of the German currency, but the steel producers had been quite happy to comply because they anticipated an exchange profit when the anticipated increase in the value of the mark would take place after the war. By mid-1919 this speculative venture had turned into a nightmare, and the firms with Swedish ore debts were demanding that they be permitted to export in sufficient quantities and be allowed enough foreign exchange to pay their debts. C onsequently, many of them exported at the expense of their domestic customers' needs and increasingly demanded partial payment in foreign exchange calculated at unfavorable rates from their domestic customers in the manufacturing industries. A veritable ideology was created to support these practices by Jacob Reichert, the Business Manager of the Association of German Iron and Steel Industrialists, whose pamphlet “ Salvation from the Exchange Shortage“ (Rettung aus der Valutanot), echoed Stinnes' slogan “ onward to world market prices“ (“ heran an die Weltmarkt­ preise“ ), with the argument that once domestic prices reached world market prices domestic scarcity would be ended and stability restored. As might be expected, the manufacturing customers of the steel producers, as well as many © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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of Stinnes' own colleagues, were quite sceptical about this argumentation as well as fearful that the finishing industries would be ruined in the process45. The producers also demanded that the government compensate them for their exchange losses on their Swedish ore debts, a compensation the govern­ ment refused on the grounds that it was not responsible for “ indirect“ war costs and could not afford to pay such huge debts in any case. What is striking, however, is that the producers cooperated very little with those in business or government who sought to help them. Nothing, for example, came of the efforts of the banker Max Warburg to persuade the industrialists to accept a Swedish offer to extend the loans, and Warburg complained bitterly that “ it is very wrong not to take advantage of the good disposition of the Swedes, who want to be understanding. We really drive ourselves into the abyss if now each businessman, insofar as he does not produce for export, secretly sells marks in order to meet his obligations; if that continues, then the mark notes will soon be unmarketable“ 46. Similarly, nothing came of a suggestion by Finance Minister Erzberger that the Reich government lease the Hibernia mines to the Swedes as security against the Swedish loans as well as a means of preventing allied seizure47. By February 1920, the bulk of the Swedish ore debts had been paid thanks to mark dumping, sales of foreign exchange held abroad, and the domestic business practices mentioned above. Thus, when the Economics Ministry approached the steel producers in April 1920 with an offer to help organize the payment of the debts, the latter showed no further in­ terest and the ministry could not even ascertain the amount of the debt re­ maining48! The ministry's main motive had been the prevention of foreign control over German steel works, a development that was taking place in the case of Rhein­ stahl and Phoenix, where Dutch interests had developed a large measure of control through the agency of the iron merchant, Otto Wolff. It was thanks to Wolff, who operated not only with Dutch capital but also under the cover of respectable foreign merchant houses which he had bought up, that Rheinstahl was able to make large sales abroad during this period. Little wonder that Hasslacher insisted on freedom from the Steel Works Association49. Many of Hasslacher's colleagues feared such foreign control and shared the government's concern, but their distrust of the government and sense that they had to go it alone were far too great for them to collaborate with the Eco­ nomics Ministry. While willing to accept compensation from the government for the loss of their plants in Lorraine and to build new plants with this money, they would not cooperate with the government officials who argued that the coal crisis in the winter of 1919 might be used “ to hasten somewhat the unavoidable fusion process“ . Peter Klöckner bluntly and impolitely replied that “ We do not need to play hide-'n-seek. Industry as well as the banking world has no confidence in the present government. C onditions here are still too unclear“ , and Wiedfeldt of Krupp remarked that “ The general uncertainty and the concern about the future causes everyone to maintain as much liquidity © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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as possible so that, if it is necessary, one can at least go into a respectable bankruptcy“50. This, however, was only one side of the coin. In actuality, the postwar boom on the iron and steel market was proving highly profitable and 1920 was a year filled with fusions and vertical concentration. The anxiety, which certainly existed, had not eliminated profit and enterprise, and Vögler was most to the point when he noted that the time was not ripe for a more substantive form of rationalization because “ temporarily things are still ap­ parently going too well for us“ 51. The steel producers did pay an immediate price for their behavior in 1919/ 1920. They had mobilized the government and the primary consumers against themselves, and they were compelled to submit to a government decree in April 1920 establishing an Iron Trades Federation (Eisenwirtschaftsbund) com­ posed of producers, consumers and workers with powers to regulate prices and distribution. The steel producers found the new organization, which gave the government very strong powers of control as well, onerous and humiliating, but it cost them little in the end. It was established too late, at a time when the mark increased in value and business conditions became somewhat de­ pressed. As a consequence, they were able to prove the superfluity of the organization by underselling the price ceilings and glutting the domestic market with steel at appropriate moments. In collaboration with the industrial con­ sumers, who became fearful of the trade union activities in the Iron Trades Federation and disliked the powers retained by the government, they under­ mined the controls before the inflation assumed catastrophic proportions in late 1922. Once the Iron Trades Federation had been established, however, the government accepted the liquidation of the Steel Works Association, which had in any case been completely lamed by the non-participation of Deutsch­ Luxemburg and Rheinstahl. Indeed, it was they who had dealt it a death blow and had enabled the government to declare that a new organization based on broader principles of participation in economic decision making was a neces­ sity. Yet, in the balance, the steel producers had succeeded in freeing themselves from controls, either internal or external, during the inflation. When they accepted self-regulation again, as they did in the stabilization and depression of 1924—25, it was because they were back in control of their own house and could not afford to do otherwise. It was Hasslacher who pointed out that the alternative to the United Steel Works was the bankruptcy of its members, and it was precisely some of those who had overexpanded their operations during the inflation who were most anxious to promote domestic and international cartelization in the late 1920's53. Clearly, there were good reasons for the success of the steel producers in winning their way both at home and abroad in the early 1920's. Viewed from the purely internal standpoint of the industry, they were right. It made sense to go it alone in a time of uncertainty and to argue that controls imposed by a weak government could only prove ineffective and demoralize the business community. Similarly, it made sense to oppose cooperation with the French on © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the latter's terms. As early as November 7, 1918 Hugo Stinnes had noted that the French would derive little benefit from their gains in Lorraine because Germany had the coal and was not totally dependent upon French iron ore53. It made sense to refuse to sign trade treaties with the French until the latter had, as Hasslacher put it, “ choked“ on their minette54. Thanks to their policies, aided to be sure in a decisive way by the shortages of the war and inflation, the German steel men emerged in 1924 as the same powerful leaders in the German business world that they had been in 1912. Unfortunately, they also emerged with renewed overcapacities and a Mal­ thusian anti-consumer posture that favored cartelization over the development of mass markets as a solution to the industry's problems. Furthermore, much of the “ rationalization“ of the second half of the 1920's was aimed at correcting the abusive, helter-skelter expansion of the previous years. All this is not to argue that particularly attractive real alternatives existed after the Revolution. The Social Democrats, as is well known, tended to yield to the “ experts“ from the industrial world in all things, even when the “ experts“ could not agree. The men who staffed the Reich Economics Ministry do not gain in stature and attractiveness on close scrutiny. To make these points, however, is perhaps to contribute something to history and to give a warning to scholarship that con­ centrates too narrowly on economic aggregates. The burden of continuity was as heavy in the economic history of the Weimar Republic as it was in other areas, and in this instance its result was the perpetuation of the power of a group of businessmen in a manner unfavorable to their customers in industry and to the economy as a whole. Surely the continued triumph of the “ producer point of view“ was one of the least happy developments in the history of the Republic. The history of the Steel Works Association from 1912 to 1919 raises serious doubts about the legitimacy of industrialist claims that they were suitable agents for the organization of their own industry without outside interference. The record suggests that the dysfunctional character of the Steel Works Association preceded the events of 1914—20 and that the basic prob­ lems were perpetuated and intensified by the war and revolution. In this con­ nection, one must also question the recent arguments of those who view the inflation favorably from the standpoint of the impulse it gave to rationaliza­ tion54. While the advantages of the inflation for the maintenance of full em­ ployment during the early years of the Republic and for the recovery of foreign markets are unquestionable, it is difficult to see how the undeniable contributions of certain fusions of the early 1920's can be given greater weight than the host of irrationalities and dysfunctional economic bodies produced during this period. Surely it can be equally well argued that a very substantial price is paid for planlessness in times of economic dislocation and disorder because capitalism, however collectivist, does not appear of itself to produce mechanisms productive of discipline and sensible planning in such times of need.

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Notes 1 H. Rosenberg, Grosse Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1965, esp. 268—69. H. Rosenberg has frequently used the term “ collectivist capitalism“ in his recent discus­ sions with me. The research for this essay was supported by grants from the American Council of Learned Societies, the Social Science Research C ouncil and the Institute of International Studies of the University of C alifornia at Berkeley. The essay contains conclusions and material that will be developed in a book I am now completing on the iron and steel producers, their industrial consumers and the state in Germany, 1914—1924. Many of the arguments developed toward the end of this essay will be more fully developed and documented in the larger work. 2 D. S. Landes, The Unbound Prometheus. Technological C hange and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, C ambridge 1969, 231 ff., and H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723, 61 ff. 3 D. L. Burn, The Economic History of Steelmaking 1867—1939, C ambridge 1940, esp. 219 ff. 4 On the distinction between cartel formation in the two trend periods, see Rosen­ berg, 269—70. The most suggestive recent discussion of cartels in Germany is to be found in E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964, 24 ff. 5 J . G. Pounds and W. N. Parker, C oal and Steel in Western Europe, Bloomington 1957, esp. 249 ff. 6 See the excellent discussion in Η. R. Todsal, The G erman Steel Syndicate, Quar­ terly Journal of Economics 32. 1917, 259—306; Η. Bogner, Die Wandlungen in der Organisation der deutschen Stahlindustrie u. ihre Ursachen, phil. Diss. Heidelberg 1929, 5—28; G . Embscher, Periodische Wandlungen im Zusammenschluß der deutschen Industrie, phil. Diss. Dessau 1928, 30—72. 7 Bogner, 73. 8 Todsal, 289—99. 9 Stahlwerksverband, Verhandlung vom 11. April 1922, HA/GHH, Nr. 3000030/16. 10 Verhandlung vom 20. Feb. 1917, HA/GHH, Nr. 3000035/2, u. Bogner, 19—21. 11 Stahl u. Eisen, 32, 9. Mai 1912, 769. 12 Verhandlung vom 19. April 1912, HA/GHH, Nr. 3000030/16. 13 Verhandlungen vom 30. April/1. Mai 1912, ibid. 15 Quoted in Maschke, 32. 14 Bogner, 27 f. 16 Bericht von v. Bodenhausen über den Verlauf der am 21. März 1910 stattgehabten Sitzung, betreffend Erneuerung des Stahlwerks-Verbandes, Werksarchiv der Firma Krupp, WA IV Ε 81. 17 Ε. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, IV, Stuttgart 1969, 1110 ff. Tosdal, 289—99. Similarly, the government defended the mixed works against the pure rolling mills by arguing that “ The plant combinations are the result of technical progress and are absolutely necessary for a rationalization of production; the pure rolling mills have only their backwardness to thank for their difficult situation“ , quot­ ed in Bogner, 19. 18 Embscher, 70. 19 Stahl u. Eisen, 32. 9. Mai 1912, 769. 20 For the C-Products see ib., 35. 17. Juni 1915, 646. 21 Η. Tross, Der Aufbau der Eisen- u. eisenverarbeitenden Industrie-Konzerne Deutschlands, Berlin 1923. 22 Aufsichtsrats-Protokolle der Deutsch-Luxemburg A. G., Mai 1918, Archiv der Friedrich-Wilhelms-Hütte, Mülheim/Ruhr, Nr. 123/19. 28 H. v. Beckerath, Kräfte, Ziele u. Gestaltungen in der deutschen Industrie, Jena 1922. There is a remarkably well-informed and thoughtful discussion of developments

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in the iron and steel industry in A. Schlaghecke, Die Absatzorganisation u. Bewirt­ schaftung des Eisens 1914—1920, phil. Diss. Gießen 1922. 24 HA/GHH, Nr. 3000035/2. 25 A. H. Stockder, History of the Trade Associations of the German C oal Industry under Private and State C ontrol, N. Y. 1924, 113—118. 26 Schreiben vom 30. Juni 1915, HA/GHH, Nr. 3000035/0. 27 Verhandlung vom 16. Juli 1917, HA/GHH, Nr. 3000035/2. 28 Verhandlung vom 20. Jan. 1915, HA/GHH, Nr. 3000035/1. 29 Verhandlung vom 16. Juli 1917, HA/GHH, Nr. 3000035/2. 30 See HA/GHH, Nr. 3000035/0—2 for the discussions of Midler's proposals, which were publicized in Stahl u. Eisen, 35. 4. Feb. 1915, 152—154. 31 Verhandlung vom 28. Feb. 1918, HA/GHH, Nr. 3000035/2. 32 Verhandlung vom 15. Mai 1918, ibid. 33 Tosdal, 281; Bogner, 27. 34 Verhandlung vom 15. Mai 1918 and 6. April 1917, HA/GHH, Nr. 3000035/2. 35 See esp. the Verhandlung vom 6. April 1917, ibid. 36 G. v. Klass, Α. Vögler, Tübingen 1957, 68—71; H. Böhme, E. Kirdorf, Tradi­ tion 6. 1968, 299 f.; Vögler to C . Duisberg, Oct. 8, 1917, Werksarchiv Bayer, Auto­ graphensammlung Duisberg. 37 Klass, 74—89. 38 On the problems of vertical concentration and rationalization in the 1920's see C. Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation. A Study of C urrency Depreciation in Post-War Germany, 1914—1923, London 19683, 201—14, 372—74, and R. Brady, The Rationalization Movement in German Industry, Berkeley 1933, 103—38. 39 At present, the best discussions of the general events surrounding the problems discussed in this section are H. Schieck, Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 1918, phil. Diss., Heidelberg 1958, and the above men­ tioned dissertation by Schlaghecke. 40 See the detailed discussion by Freiherr v. Buttlar of the Economics Ministry in DZA Potsdam, RWM, Nr. 4453, Bl. 111 ff. 41 Ibid. u. F. Klöckner to the RWM, ibid., Nr. 4453, Bl. 264—265. 42 The memorandum is to be found in HA/GHH, Nr. 3000030/11. 43 There is important material in Hasslacher's role in promoting the creation of the Vereinigte Stahlwerke in the Rheinstahl Archiv, Essen, Nr. 170. 44 Verhandlung vom 16. Juli 1919, HA/GHH, Nr. 3000030/12. 45 Schlaghecke, 30—32; J . Reichert, Rettung aus der Valutanot, Berlin 1919; see also the bitter debate in the Hauptvorstand des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindu­ strieller in February 1920, in: BA Koblenz, R 13 I/157. 46 M. Warbure to Κ. Wiedfeldt, Nov. 10, 1919, Werksarchiv Krupp, WA III, 225. 47 Wiedfeldt to A. Hugenberg, Dec. 9, 1919, ibid., 224. 48 HA/G HH, Nr. 3000035/6. 49 See the discussions in the Aufsichtsrat of Rheinstahl, Rheinstahl Archiv Nr. 123. On July 7, 1921 Director Klemme of the G HH reported to Reusch that “ The signif­ icance of the firm Dikema & Chabot, with which we also dealt to a very considerable degree before the war, is to be recognized, but it is to be noted that it has come under the influence of the Otto Wolf (sic) firm after the death of its previous owner and is now the Otto Wolff firm in Holland operating with the clever retention of an old and well established name“ . HA/G HH, Nr. 3000033/12. Despite the prolongation of the Steel Works Association by the government, Rheinstahl and the Deutsch Luxem­ burg firm defiantly challenged the legality of the decrees under which these prolon­ gations had taken place. The court case that resulted dragged on until 1924, when it was quietly dropped by the government. The records of the case are to be found in DZA Potsdam, RWM, Nr. 5602. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Verhandlung vom 11. Sept. 1919, DZA Potsdam, RWM, Nr. 4616, Bl. 269—70. Vögler to Wiedfeldt, Oct. 25, 1919, Krupp Archiv, WA III 225. 52 3ogner, 43—70; Rheinstahl Archiv, Nr. 123. 53 See Stinnes' remarks at a meeting in the Reich Economic Office on Nov. 7, 1918 in DZA Potsdam, RWM, Nr. 7887, Bl. 33 ff. 54 Hauptvorstandssitzung des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Feb. 22, 1921, ΒΑ Koblenz, R 13 I/159. 55 The leading presentation of this view is K. Laursen and J . Pedersen, The G erman Inflation 1918—1923, Amsterdam 1964, 97 ff. 50

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31. Die Silverberg-Kontroverse 1926 Unternehmerpolitik zwischen Reform und Restauration Von DIRK STEGMANN

Die Rede des rheinischen Braunkohlenindustriellen Paul Silverberg auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) am 4. September 19261, die die Billigung der Außenpolitik Stresemanns und die Aussöhnung mit der Weimarer Verfassung proklamierte, auf sozialpolitischem Gebiet ten­ denziell für eine Erneuerung der Zentralen Arbeitsgemeinschaft zwischen Un­ ternehmern und Gewerkschaften und gleichzeitig für eine Einbeziehung der SPD in die Reichsregierung plädierte, ist allgemein als Dokument einer Neu­ orientierung der deutschen Unternehmerpolitik in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik betrachtet worden2. Eine solche Bewertung ergibt sich auch aus einer vordergründigen Übernahme zeitgenössischer Stellungnahmen zu dieser Rede vor allem aus dem republikanischen Lager. Für Rudolf Hilfer­ ding, den Theoretiker des sog. Organisierten Kapitalismus innerhalb der SPD und geistigen Wegbereiter des gewerkschaftlichen Konzepts der Wirtschafts­ demokratie, erschienen die Ausführungen Silverbergs als Absage an die alte Linie des autoritäten Kapitalismus der Vorkriegszeit3: „Der Reichsverband will die Fortsetzung einer verständigen Außenpolitik der Verständigung, er will eine ungestörte Entwicklung im Innern und deshalb keinen Kampf um die Staatsform, er erkennt die Änderung der sozialen Machtverhältnisse an. Die Utopie der Stumm, Bueck und Kirdorf, Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu vernichten, ist erledigt. Nur das Kompromiß erscheint verwirklichbar. Der deutsche Unternehmer hat sich zu der Einsicht durchgerungen, die der engli­ sche schon lange vor dem Kriege erreicht hat.“ Bei den C hristlichen Gewerk­ schaften war das Echo noch optimistischer, die historische Dimension, in die diese Rede gestellt wurde, noch weiter gefaßt, so wenn z. Β. Stegerwald4 sie in ihrer Bedeutung mit dem Bekenntnis zum sozialen Kaisertum durch Wilhelm II. im Jahre 1890 verglich: „Ich messe dem Schritt des Reichsverbandes der deutschen Industrie, in dessen Namen Silverberg gesprochen haben soll, eine ähnliche Bedeutung zu, wie der sozialen Botschaft, mit der der junge Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 die Arbeiterschaft für den Staat gewinnen wollte Jetzt spricht kein Monarch, sondern die Industrie bietet in großen, in manchen Punkten allerdings noch der Klärung bedürftigen Grundrissen die

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Hand, auf dem Boden des heutigen Staates und der Reichsverfassung zusam­ men mit der bedeutungsvollen Schicht der Arbeiter das Zerstörte wieder auf­ zubauen.“ Obwohl die Bedeutung der Silverbergschen Rede unbestreitbar ist, ist die Frage nach Repräsentativst, dem sozialen und politischen Stellenwert dieser Option bisher kaum gestellt worden. Im allgemeinen beschränkte man sich darauf, sie als Beweis für das Vorhandensein demokratischer und sozialer Komponenten in der Unternehmerpolitik der Nachkriegszeit hinzustellen. Diese Vernachlässigung hängt auch damit zusammen, daß die politische So­ zialgeschichte erst in jüngster Zeit, herausgefordert durch die marxistische For­ schung in der DDR und deren Faschismustheorien, Analysen vorgelegt hat, die sich mit der sozialökonomischen Option der deutschen Unternehmerschaft und dem Verhältnis von Kapital und Arbeit in der Weimarer Republik be­ fassen5. Die Analyse beschränkte sich dabei vor allem auf die Jahre 1930— 33, während die Jahre des vergleichsweise funktionierenden Parlamentaris­ mus westlich-demokratischen Zuschnitts in der Phase der relativen Stabilisie­ rung 1924—1929 nur marginal behandelt worden sind. Dieser Verzicht darauf, nach der spezifischen Form der Austragung sozialer Konflikte in diesem Zeit­ raum zu fragen, ist umso unverständlicher, als erst unlängst die bedenkens­ werte These aufgestellt werden konnte, die politisch-soziale Stabilität dieser Jahre habe auf dem Interessenkompromiß großer wirtschaftlicher Interessen­ gruppen in Industrie, Landwirtschaft und — als schwächstem Teil — der orga­ nisierten Arbeiterschaft beruht6: Solange hier ein Weg der mittleren Linie möglich gewesen sei, sei auch das politische System als solches relativ stabil ge­ blieben. Von diesem systemtheoretischen Ansatz her, der dem Verhältnis von Kapital und Arbeit eine Schlüsselrolle für die spezifische Stabilität eines poli­ tischen Systems zubilligt, erhält die Klärung dieser Zusammenhänge beson­ deres Gewicht. Silverbergs Appell muß von daher in eine weitere historische Dimension gestellt werden. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist seit Beginn der Weimarer Republik durch Scheinlösungen charakterisiert, da soziale Konflikte nicht offen ausgetragen, sondern bestenfalls auf bürokratischem Wege kanalisiert wurden, um die drängenden Probleme der Überführung der Kriegs- in die Friedens­ wirtschaft zu lösen. Nach dem Zusammenbruch des autoritären Obrigkeits­ staats war es durch die im Zeichen der militärischen Niederlage ad hoc in­ augurierte sog. Zentrale Arbeitsgemeinschaft (ZAG) definiert, die man zu Recht als „eine der Form nach paritätisch organisierte Ständegemeinschaft“ 7 be­ zeichnet hat, da sie als Selbstverwaltungskörperschaft in Konkurrenz zu den politischen Parteien die Probleme der Nachkriegswirtschaft quasi im vorpar­ lamentarischen Raum ordnen wollte. Vage berufständisch-korporative, anti­ parlamentarische, in loser Tradition zu Bismarckschen Verfassungsprinzipien stehende Konzeptionen, die besonders im Unternehmerlager virulent waren, gingen hier mit älteren gewerkschaftlichen Vorstellungen eines reformierbaren, sozial organisierbaren Kapitalismus auf bürokratischer Grundlage eine Ehe auf 38*

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Zeit ein, die nur solange währte, wie sich beide Teile Vorteile von einer solchen Kooperation versprachen. Betrachtete die Mehrzahl der Unternehmer ein sol­ ches Zeitbündnis primär als „Hagelversicherung“ (Stegerwald) gegen die so­ ziale und politische Revolution und als C hance, ihre wirtschaftspolhischen Vorstellungen (wie etwa im Eisenwirtschaftsbund) durchzusetzen, so sahen die Gewerkschaften in ihm ein wirksames Palliativ gegen die Rätebewegung und einen Hebel, ihnen bisher fernstehende Gruppen in der Arbeiter- und Angestelltenschaft durch sozialpolitische Erfolge an die eigene Organisation zu binden. Wirksam werden konnte eine solche Versicherungsgesellschaft auf Ge­ genseitigkeit jedoch nur in der Zeit relativer wirtschaftlicher Ruhe. Die „fast märchenhafte“ 8 Nachkriegskonjunktur war indes spätestens 1920 zu Ende. Als die deutschen Unternehmer als alleinige Nutznießer aus der Hyperinfla­ tion der Jahre 1922/23 und der anschließenden Markstabilisierung hervor­ gingen, war eine Basis für die Kooperation zwischen ihnen und den Gewerk­ schaften nicht mehr gegeben. Die innergewerkschaftlichen Gegner der ZAG verließen bereits im Laufe des Jahres 1922/23 die gemeinsame Organisation, wobei sie der Idee der Arbeitsgemeinschaft den Gedanken eines Ausbaus der Betriebsräte zu Bezirksarbeiterräten und einem Reichsarbeiterrat entgegen­ setzten. Die Gewerkschaftsführung im ADGB mußte sich unter dem Druck der eigenen Basis aus dem Abkommen vom Dezember 1918 zurückziehen, wollte sie nicht ein Auseinanderbrechen ihrer Organisation riskieren. Diese Entwick­ lung wurde noch dadurch beschleunigt, daß jetzt wieder die traditionellen Versatzstücke des deutschen autoritären Kapitalismus (M. J . Bonn) im Unter­ nehmerlager mit aller Schärfe zum Vorschein kamen. Diese Ideologien wurden nicht ausschließlich von ökonomischen Interessen diktiert, sondern lagen auch in überkommenen sozialen Mentalitäten und Verhaltensmustern begründet. Nach dem Arbeitszeitdiktat des Zechenverbandes vom Oktober 1923 beklag­ ten sich nicht nur Vertreter des ADGB, sondern auch der C hristlichen Gewerk­ schaften, daß die Arbeitgeber zu „gewissen brutalen Maximen der Vorkriegs­ zeit“ 9 zurückgekehrt seien; besonders der Ruhrkohlebergbau wurde bezichtigt, mit seiner Arbeitszeitforderung eine „maßlose Herrschsucht“ zu dokumentie­ ren, die auf die „Errichtung ihres früheren brutalen Herrenstandpunktes und die restlose Beseitigung der Gleichberechtigung der Arbeiterschaft“ 10 hinaus­ laufe. Symptom für diese sozialrestaurative Haltung war nicht allein die Arbeits­ zeitfrage, sondern auch der kontinuierlich vorgetragene Angriff auf die sozial­ staatliche Komponente der Weimarer Verfassung, die Forderung nach Auf­ lockerung bzw. Aufhebung des Tarifvertragssystems, nach Aufgabe der staat­ lichen Verbindlichkeitserklärungen sowie nach Änderung bzw. Abschaffung des Betriebsrätegesetzes11. In dieser Politik wurde der Steinkohlebergbau durch die Eisen- und Stahlindustrie unterstützt: Hier sammelten sich die Verfechter eines autoritären ,archaischen' Kapitalismus, der ideologisch bruchlos an die sozialreaktionären Leitbilder im kaiserlichen Deutschland anknüpfte. Ohne die Dogmatik der marxistischen Monopolgruppentheorie12 zu übernehmen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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kann man doch diese Gruppe als relativ homogen, von einem modernen', auf Kooperation ausgerichteten Flügel in den jungen Wachstumsindustrien, vor­ nehmlich in der Elektro-, der C hemie- und der Maschinenbauindustrie, ab­ heben. Diese Gruppe eines reformerischen Kapitalismus, deren Management — Techniker, Kaufleute — am Vorbild der Effizienz und Leistung in der amerikanischen Industriewirtschaft orientiert war, zeigte sich noch am ehesten bereit, hohe Löhne und soziale Lasten als Versicherungsprämie des kapitali­ stischen Systems zu gewähren. Eine solche Haltung war wettbewerbsmäßig auch eher zu verkraften, da die Löhne in diesen Branchen — anders als in der Kohle/Eisen- und Stahlindustrie — einen relativ untergeordneten Faktor für die Kostenrechnung darstellten. Anders als in jenen Industrien, die von An­ fang an die ZAG als ein Zweckbündnis auf Zeit angesehen hatten, gab es hier frühzeitig Stimmen, die dafür plädierten, dieses System der Kooperation durch gesetzlich verankerte bürokratische Organisationsformen auf der Basis der Selbstverwaltung auf Dauer zu verankern13. Hier läßt sich am ehesten das Modell eines technokratisch organisierten Kapitalismus auffinden, das in lockerer Affinität zu der von Teilen der Gewerkschaftsbürokratie entwickelten Idee eines sozial organisierten Kapitalismus auf privatwirtschaftlicher Grund­ lage steht. Es überrascht nicht, daß diese Gruppen auch nach der 1924 end­ gültig gescheiterten Kooperation in der ZAG dafür plädierten, pseudo-ständi­ sche Institutionen wie den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, dessen Zusam­ mensetzung bis 1920 u. a. auf dem Präsentationsrecht der ZAG beruht hatte, weiterzuentwickeln: als Ersatz für die ZAG. Hier sollten sozial- und wirt­ schaftspolitische Entscheidungen durch ein Gremium von Fachleuten aus der Arbeiterschaft und dem Unternehmertum vorentschieden werden und den par­ lamentarischen Gremien und der Regierung als Entscheidungshilfe zu Gebote stehen. Daß sich diese Gruppe nicht durchsetzen konnte, war — abgesehen von der rechtsbürgerlichen Konsolidierung der Republik seit 1924 — auch ein Reflex auf die Strukturwandlungen in der deutschen Volkswirtschaft im Zeichen der Stabilisierung. Hier hatten sich seit Kriegsende tiefgreifende Verlage­ rungs- und Transformationsprozesse vollzogen, die diesen Bereich in einem bisher nicht gekannten Ausmaße organisierten und bürokratisierten. Diese Um­ strukturierung verlief in zwei Phasen: Insbesondere die vertikale industrielle Konzentration schritt seit 1918 voran, u. a. begünstigt durch die lohnfixierte Sicht der Gewerkschaftsführung, die höhere Löhne primär über möglichst un­ gehemmte Ausnutzung des Monopols gewährleistet sah14. Diese Haltung der Gewerkschaftsführer hatten Unternehmer wie Stinnes von Anfang an in ihr Strukturkonzept eingebaut: Der Arbeiterschaft müsse lohnpolitisch gegeben werden, „was ihr zukommt, dann bekommen wir die Preise, die wir brau­ chen“ 15. Bereits Mitte 1919 plädierte er deshalb, unterstützt von Klöckner, für die Ausweitung der Rohstoff- und Grundstoffindustrien bis hin zum Ver­ feinerungsbetrieb; Stinnes, Thyssen und Klöckner sprachen sich jetzt dafür aus, die alte horizontale Syndikatspolitik, die „nur mit Kanonen auf Spatzen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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geschossen [und] die Konjunkturen verpaßt“ (Stinnes) habe, zugunsten der Bildung von produktionsmäßig sich ergänzenden großen Interessengemeinschaf­ ten entweder innerhalb der Kohle- und Eisenindustrien (so Thyssen) oder aber innerhalb der Kohle-, Eisen- und Elektroindustrie (so Stinnes und Sie­ mens) aufzugeben. Das Organisationsmodell der C hemieindustrie, besonders der 1916 gegründeten sog. Kleinen I. G. der Farbenindustrie, galt als das große Vorbild. Daneben entsprang diese Taktik auch der Hoffnung, solche „großen Brocken“ (Thyssen) würden den Sozialisierungsbestrebungen entge­ genwirken können. Der Aufbau leistungsfähiger Interessengemeinschaften blieb indes nicht auf den Bereich der Eisen- und Stahlindustrie oder der Steinkoh­ leindustrie beschränkt, bei der auch die Zusammenlegung von Zechen zu grö­ ßeren Einheiten zunahm, sondern erstreckte sich auch auf die jungen Wachs­ tumsindustrien16. Inflation, Markstabilisierung und Dawes-Plan leiteten eine zweite Phase ein: Das Prinzip der Interessengemeinschaften, besonders in der Verbindung von Eisen- und Stahlindustrie mit der Elektrogroßindustrie, wurde wieder fal­ lengelassen und der Weg zum Trust beschritten, der Vereinigung rechtlich selbständiger Unternehmungen mit befristeter Vertragsdauer im Gegensatz zur amerikanischen Form der Fusionierung. An die Stelle der vertikalen Kom­ bination traten die horizontalen Zusammenschlüsse. Rationalisierung im Pro­ duktionsbereich, Normalisierung und Typisierung hießen die neuen Schlag­ wörter. Jetzt wurde auch wieder an die Syndikats- und Kartellpolitik der Vor­ kriegszeit in einem vorher nicht vorhandenen Umfang angeknüpft. Dem Auf­ bau leistungsfähiger Kartelle und Syndikate auf dem deutschen Binnenmarkt seit 1924 in den Leitsektoren der Industriewirtschaft folgte der Ausbau inter­ nationaler Syndikate seit 1925/26, besonders in der Kali-, der C hemie-, der Elektro- und der Eisen- und Stahlindustrie17. Man kann erst seit dieser Zeit von einem relativ geschlossen ausgebildeten System eines Organisierten Kapi­ talismus sprechen, dessen besondere Merkmale hohe Kapitalakkumulation, Konzernierung, Vertrustung und Monopolisierung des Binnenmarktes waren: u. a. aufgrund eines Systems langfristig ausgehandelter Kompromisse zwischen eisenverarbeitender und Rohstoff- und Halbzeugindustrie (AVI-Abkommen 1925). Innerhalb dieses Systems konnten C hemie- und Elektroindustrie, ver­ glichen mit der Zeit von vor 1918, ihren Einfluß erheblich steigern, die IG­ Farben z. B. waren 1925 mit über 1 Mrd. RM Aktienkapital der größte deut­ sche Konzern, was nicht zuletzt auch durch die Übernahme des Präsidiums­ vorsitzes im RDI durch C arl Duisberg im Jahre 1925 dokumentiert wurde. Trotzdem blieb das Übergewicht der Eisen- und Stahlindustrie, organisatorisch eng mit dem Steinkohlebergbau verbunden, ungeachtet einer relativen Macht­ einbuße im Vergleich mit den Zuständen vor 1918, erhalten18, und zwar nicht nur aufgrund ökonomischer Konsolidierung, sondern auch deshalb, weil es durch die Kontrolle über finanzstarke und einflußreiche Unterverbände (Lang­ namverein, Nordwestl. Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlin© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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dustrieller) abgesichert werden konnte. Diese Unterverbände wurden plan­ mäßig als Machtinstrumente der Ruhrindustrie ausgebaut19. Im Gefolge dieser Entwicklung verstärkten sich Eigengewicht und Einfluß der Wirtschaft auf dem allgemeinpolitischen Sektor. Dieser Prozeß ist z. B. bei der Neuformulierung der deutschen Zoll- und Handelspolitik zu verfol­ gen, bei der die direkte Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft zunahm. Die internationale Kartellierung führte zu nicht zu übersehenden Rückkopp­ lungen auf das außenpolitische System, dessen Rahmen weitgehend durch eigenverantwortlich geführte Verhandlungen der Wirtschaft (Internationaler Stahlpakt) determiniert wurde20. Auch innenpolitisch kann man diesen Pro­ zeß der „Refeudalisierung“ 21 seit 1924/25 auf mehreren Gebieten verfolgen: auf sozialpolitischem Feld in der Aufkündigung der ZAG und in der erneuten Propagierung der Werksgemeinschaftsidee bzw. in der besonders von Vögler (Vereinigte Stahlwerke) propagierten sog. Dinta-Ideologie, die Hand in Hand ging mit der Stützung bzw. der partiellen Wiederbelebung der wirtschafts­ friedlichen „gelben“ Arbeitnehmerbewegung. Auf wirtschafts- und handels­ politischem Sektor im Wiederaufleben der traditionellen Allianz der „schaf­ fenden Stände“ in Landwirtschaft und Großindustrie, die in ihren Ergebnis­ sen darauf hinauslief, daß im Gegensatz zu einer Politik des vorrangigen Kon­ sumentenschutzes 1918—1922 eine Überwälzung der Lasten der 1925 neu ausgehandelten Agrar- und Industriezölle auf die Verbraucher erfolgte, ge­ koppelt mit einer primär die Produzenten begünstigenden staatlichen Kartell­ und Reichsbankkreditpolitik. Auf der Ebene der Parteipolitik endlich kam es nicht zuletzt als Reflex auf die Schwächung der bürgerlich-demokratischen Kräfte und der sozialistischen Arbeiterbewegung zu neuerlichen Anläufen, aus DVP und DNVP eine einheitliche Rechtspartei zu formen. Durch die Gründung der Nationalliberalen Vereinigung 1924, hinter der vor allem die rheinisch-westfälische Schwerindustrie stand, sollte der erste Schritt dazu ge­ tan werden, einen Hebel zu schaffen, um auch die sozialpolitischen Forderun­ gen der Industrie durchzusetzen. Mitte 1926 knüpfte der Aufruf von v. Gayl und Jarres zur Bildung einer großen Rechtspartei an dieses Konzept an. Auf dieser Ebene liegen auch die verfassungspolitischen Zielsetzungen: Programmatisch forderte der Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG, der spätere Leiter der Vereinigten Stahlwerke (1926), Albert Vögler, in seinem Vortrag „Staat und Wirtschaft“ am 26. März 1924 vor dem RDI die Rückkehr zum „überparteilichen Staat der Ver­ gangenheit“ 22 und die Nichteinmischung des Staates in die Belange der Pri­ vatwirtschaft: Der staatlichen Bürokratie wurde allein die Funktion zugewie­ sen, polizeistaatliche Aufgaben zu erfüllen, Autorität im Lande, Zucht und Ordnung, Beschützung von Leib und Eigentum des Staatsbürgers. Der Triumph über die im Zuge der Stabilisierung 1924/25 erreichte Beseitigung der letzten Reste einer dirigistischen Zwangswirtschaft, die in den Gemeinwirtschaftsmo­ dellen eines Moellendorff oder Wissell eine kurze Zeit angeklungen und im Eisenwirtschaftsbund, im Reichskohlenrat oder in den staatlichen Außenhan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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delsstellen wirksam gewesen war, ging hier mit der Forderung nach einem staatlich sanktionierten Freiraum für die Belange der Wirtschaft einher. Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand wurde als Kardinalsünde wi­ der den kapitalistischen Geist, als „kalte Sozialisierung“ , die als Vorstufe zum Sozialismus begriffen wurde, zurückgewiesen. In dem gleichen Augenblick aber, in dem scheinbar der Standpunkt des wirtschaftsliberalen Laissez-faire wieder eingenommen worden war, wurde zum Schutz der Privatwirtschaft gegen das Parlament und die politischen Parteien der staatliche Interventionis­ mus gefordert; er verdichtete sich z. B. in dem Appell gegenüber Hindenburg, den Reichsfinanzminister mit einem Vetorecht bei wirtschafts- und finanzpo­ litischen Grundsatzentscheidungen des Kabinetts auszustatten, und in der For­ derung, mittels eines Ermächtigungsgesetzes aufgrund des Art. 48 der Ver­ fassung zu regieren. Hand in Hand damit ging die Forderung nach Verein­ fachung des Kabinetts: Durch Auflösung des Reichsarbeitsministeriums und Eingliederung als besondere Unterabteilung in das Reichswirtschaftsministe­ rium sollte der Primat der Wirtschaftspolitik endgültig fixiert werden23. Diese Tendenzen, die auf die Errichtung eines „kapitalistischen Ständestaates“ 24 abzielten, radikalisierten sich in dem Maße, in dem die sozialistischen Gewerk­ schaften mit ihrer Forderung nach Demokratisierung der Wirtschaft (Breslau 1925) die Autonomie des privatwirtschaftlichen Systems anzutasten versuch­ ten. Der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Reichert, Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDEStI), forderte Ende 1925, unterstützt von Borsig (Vors. der Vereinigung Deutscher Arbeitgeber­ verbände) und Groebler (Buderus'sche Eisenwerke) dazu auf, den Reichstag zu entmachten und allein aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes zu regie­ ren25. Seit Anfang 1926 wurde erstmals die Forderung nach Revision der Verfassung in einer Kampagne in der rechtsstehenden Presse vorgetragen, als deren Protagonist der Vertrauensmann des Ruhrbergbaus und der westlichen Eisen- und Stahlindustrie, August Heinrichsbauer, fungierte26. Im Reichstag machte sich die DNVP zum Anwalt dieser Programmatik: Statt Demokrati­ sierung der Wirtschaft wurde die „Entdemokratisierung des Staates“ 27 pro­ klamiert. Im Mai 1926 zirkulierten Gerüchte über einen geplanten Rechts­ putsch alldeutsch-schwerindustrieller Kreise; die Gruppen, die hinter einer sol­ chen Politik standen, darf man bei Industriellen suchen, die sich bereits im Frühjahr 1924 als sog. Deutsche Industriellen-Vereinigung zum Oppositions­ kern innerhalb des RDI formiert hatten28. Die Direktoriumspläne dieser Gruppe waren — wie bereits 1923 — auch eine Reaktion auf die verschärften innenpolitischen Spannungen im Gefolge der Wirtschaftskrise im Winter 1925/26. Die Arbeitslosigkeit betrug auf ihrem Höhepunkt im Februar 1926 22 %: rd. 2 Mill. Arbeitslose und über 2 Mill. Kurzarbeiter waren nach Schätzungen der Gewerkschaften vorhanden. In der Krise selbst hatten die Unternehmer bei stark schrumpfenden Mitgliederzah­ len der Gewerkschaften — so sank die Zahl der im ADGB Organisierten von 7,89 Mill, im Jahre 1922 über 7,13 Mill. 1923, 4,6 Mill. 1924 und 4,15 Mill. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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1925 auf 3,97 Mill. 1926 — ein Absenken des Lohnniveaus durchsetzen kön­ nen. Da die von staatlicher Seite inaugurierten Maßnahmen zur Senkung der Preise durch Vorgehen gegen die Preispolitik der Kartelle und Syndikate ein Schlag ins Wasser blieben, sank auch die Kaufkraft ab. Im Vorl. Reichswirt­ schaftsrat, der sich im Juli 1926 u. a. mit der wirtschaftspolitischen Seite der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beschäftigte, griff Tarnow vom ADGB die Unternehmer scharf an, indem er erklärte: „Ich muß nochmals den Vorwurf gegen die deutschen Arbeitgeber erheben, daß sie diesen Lohnabbau zwar mit der Motivierung, sie wollen die Preise senken, durchgeführt haben, aber ohne daß diese Bedingung erreicht worden ist, vielmehr aber auch rein aus sozialem Machtgefühl heraus. Es war sozialer Übermut in der Zeit der Krise, der viele deutsche Unternehmer veranlaßt hat, die Situation auszunutzen durch einen Angriff auf die Löhne der Arbeiter.“ 29 Erst die Auswirkungen des englischen Kohlenarbeiterstreiks vom Mai bis November 1926 besserten die konjunkturelle Lage; nicht nur der Kohlenberg­ bau selbst, sondern auch die Eisenindustrie profitierte von diesem Streik, der die kurzfristige Zwischenkonjunktur der Jahre 1927—1928 wirksam förderte. Vor diesem Hintergrund ist die Rede Silverbergs im Herbst 1926 vor dem RDI zu werten. Silverberg hatte sich bis dahin allgemeinpolitisch und beson­ ders sozialpolitisch nur wenig exponiert; der „kleine Stinnes“ (F. Pinner), Leiter eines technisch und organisatorisch vorbildlich verwalteten Konzerns einer Wachstumsindustrie, des Braunkohlenbergbaus, eng verbunden mit den Interessen der Elektrizitätsindustrie (RWE), war auch seit 1925/26 mit dem westlichen Steinkohlenbergbau (Harpener Bergbau AG) und der Eisen- und Stahlindustrie (Vereinigte Stahlwerke) in engere Verbindung getreten, ohne daß er sich eindeutig einer klar abgrenzbaren interessenpolitischen Front in der Industrie zuordnen ließe30. Von seinem intellektuellen Habitus her gehörte Silverberg sicherlich nicht zum Durchschnittstypus des deutschen Industriellen. Er war Mitglied der DVP und gehörte der Stresemannschen Richtung an; ob er seine Darlegungen vor dem RDI politisch mit diesem Parteiflügel abge­ stimmt hat, läßt sich nicht feststellen. Tatsächlich lief sein Appell innen- und außenpolitisch auf eine Stützung der Politik Stresemanns hinaus. Der put­ schistischen Taktik des radikalen DNVP-Flügels und der Alldeutschen setzte er ein Bekenntnis zur Republik entgegen, das aus dem Bestreben diktiert war, der Wirtschaft das nötige Vertrauen im Ausland, d. h. die Sicherstellung der amerikanischen Dollarkredite, zu erhalten. Sozialpolitisch kann man seinen Standpunkt als den eines aufgeklärten, sozialfundierten Kapitalismus betrach­ ten mit stark technokratischem Einschlag: Unternehmer und Arbeiter erschie­ nen ihm als Säulen des modernen Machtstaates, für Mittelstand und Landwirt­ schaft war in diesem System nur eine untergeordnete Stellung vorgesehen. Ra­ tionalisierung und Technisierung in einem System des „organisierten und sich organisierenden Kapitalismus“ 31 waren seiner Meinung nach nur mit einem sozialreformerischen Gewerkschaftsflügel partnerschaftlich durchzusetzen. Die­ se Anschauungen schieden ihn von der Masse seiner Unternehmerkollegen in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Schwerindustrie, die politisch primär in traditionellen, aus dem Kaiser­ reich überkommenen Gesellschaftskategorien eines Bündnisses mit vorindustriel­ len Gruppen in Landwirtschaft und Kleingewerbe gegen die organisierte Ar­ beiterschaft dachten. Silverberg war, nachdem Vögler abgesagt hatte, der ursprünglich auf Wunsch Duisbergs als Vertreter der westlichen Montanindustrie hatte sprechen sollen, am 22. Juli vom Geschäftsführenden Präsidialmitglied des RDI, Kastl, dazu aufgefordert worden, auf der Tagung zu reden32. Er akzeptierte, nachdem ihn u. a. der volkswirtschaftliche Berater der IG-Farben und nachmalige Vorstands­ vorsitzende des AEG-Konzerns, Karl Bücher, zur Übernahme des Themas „Deutsches Unternehmertum in der Nachkriegszeit“ gedrängt hatte. Ende August übersandte Silverberg Kastl sein Manuskript, der es mit den lobenden Worten: „I a und herzlichen Glückwunsch“ 33 kommentierte. Die Rede selbst lag bereits acht Tage vor der Tagung in Dresden gedruckt vor: Nach Presse­ meldungen soll sie u. a. dem amtierenden Präsidenten des RDI, Duisberg, des­ sen Vorgänger Sorge und den Präsidiumsmitgliedern Bücher, Siemens, Borsig bekannt gewesen sein. Auf jeden Fall hat sie dem Präsidial- und Vorstands­ beirat für Allgemeine Politik und Wirtschaftspolitik, einem 1925 gegründeten Beratergremium der engeren RDI-Führung, vorgelegen: Diesem Gremium ge­ hörten vom Präsidium des RDI 8 Mitglieder an34; von dessen Mitgliedern war mit Sicherheit nur Reusch, der Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, nicht zugegen35. Ob auch Vögler abwesend war, als die Ausführungen Silver­ bergs diskutiert wurden, ist nicht feststellbar; es spricht jedoch einiges dafür, daß er vor der Tagung den Wortlaut der Rede nicht kannte. Dieses Gremium billigte die Grundlinien der Silverbergschen Ausführungen, eine offizielle Bil­ ligung durch das Präsidium etwa erfolgte hingegen nicht36. Ein Kreis von Industriellen aus der Braunkohlen- und der Textil- und vor allem aus der Chemie- und Elektroindustrie teilte also das Bündnisangebot Silverbergs an die Arbeiterschaft, das im übrigen an ganz konkrete Bedingungen geknüpft war: Aufgabe des „Klassenkampfgedankens“ , Anerkennung des Status quo in der Wirtschaftsordnung und damit des Privateigentums, Verzicht auf die „Politik der Straße“ zur Durchsetzung von Forderungen, Entwicklung hin zu dem, was Silverberg „soziale Demokratie“ nannte, und zwar auf der Grund­ lage der vom RDI Ende 1925 aufgestellten programmatischen Leitsätze zur wirtschafts- und sozialpolitischen Konsolidierung37. Maliziös formuliert: Was Silverberg der Arbeiterschaft anbot, war „die Republik mit dem Großherzog an der Spitze, nur daß dieser Großherzog heute Reichsverband heißt“ 38. Trotz dieser geforderten Vorleistungen seitens der Gewerkschaften, die ein Scheitern dieses Bündnisangebots vorprogrammierten und Silverbergs gleich­ zeitiger Kritik am Weimarer „Fürsorgestaat“ war das Echo auf der Industrie­ tagung selbst zwiespältig; Silverberg, der auch ausdrücklich die Verdienste Eberts und Legiens um die Republik anerkannt hatte, erntete nur wenig Beifall für seine Thesen39. Aus der Versammlung selbst heraus trat ihm zunächst je­ doch nur der Geschäftsführer des VDEStI, Reichert, entgegen. Dieser, dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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von der Essener „Bergwerks-Zeitung“ bescheinigt wurde, seine Ausführungen seien repräsentativ für die Mehrzahl der hier versammelten Industriellen ge­ wesen40, zweifelte von vorneherein die Grundlagen eines solchen Bündnisan­ gebots an, indem er sich vor allem gegen die These Silverbergs verwahrte, die Masse der Arbeiterschaft sei bei der Sozialdemokratie organisiert, so daß es politisch nur opportun sei, mit der SPD ins Gespräch zu kommen. Im Ge­ genteil seien nur geringe Teile der deutschen Arbeiterschaft durch die SPD po­ litisch vertreten oder in den sozialistischen Gewerkschaften organisiert; ge­ rade die große Zahl der Arbeiter, die rechts wähle, dürfe keineswegs ausge­ klammert werden. Die Forderung nach Eintritt der SPD in die Regierung at­ tackierte er als ein Hineinziehen des RDI in die Parteipolitik, ein Vorwurf, bei dem ihm sehr viele Industrielle folgten. Für die Machtverteilung im RDI nun ist von Interesse, daß Silverberg auf der Tagung selber von Mitgliedern des Präsidiums bzw. des Präsidialbeirates für allgemeine Politik und Wirtschaftspolitik auf Reichem Vorstoß hin keine offene Unterstützung erhielt. Die Reaktionen für und wider Silverberg spielten sich in der unmittelbaren Folgezeit vor allem in der Presse ab. Das Echo im demokratisch-parlamentarischen Lager war insgesamt auf den Ton eines vor­ sichtigen Optimismus gestimmt. Bei aller Kritik an Einzelpunkten überwog die Anerkennung der selbstkritischen Position Silverbergs, wobei indes die Frage aufgeworfen wurde, ob diese auch repräsentativ für die des RDI insgesamt sei. Die demokratische Presse zeigte sich am optimistischsten: Die „feinen Leute“ 41 bekennten sich jetzt endlich zur Republik, die gleichen, die bisher die Organisationen der Vaterländischen Verbände, d. h. die Vorhut der Konter­ revolution, finanziell unterstützt hätten. Man dürfe hoffen, daß jetzt ein Neuanfang gesetzt werde. Die sozialistischen Gewerkschaften und vor allem die SPD lehnten bei aller positiven Würdigung der Silverbergschen Kritik an der alten starren Linie der Unternehmerpolitik ein Bündnis auf der Basis der Silverbergschen Bedingungen mehr oder weniger pointiert ab: eine neue ZAG sei unmöglich42. Der Vorsitzende des ADGB, Leipart, kritisierte vor allem auch die sozialpolitischen Passagen der Rede; zudem vermißte er eine Antwort auf die gewerkschaftliche Forderung nach Wirtschaftsdemokratie, zu der Sil­ verberg mit keinem Wort Stellung bezogen hätte. Einem Eintritt in die Re­ gierung stand der ADGB im Gegensatz zur SPD positiv gegenüber. Dieses Schwanken zwischen Kooperation und Abgrenzung resultierte aus dem takti­ schen Dilemma der sozialistischen Gewerkschaften: Einmal sahen sie sich dem Druck der KPD ausgesetzt, die eine Koalition Silverberg-Leipart konstruiert hatte, zum anderen waren die Modalitäten einer Zusammenarbeit mit den Unternehmern zu unpräzise und vage. Die liberal-demokratischen Ange­ stelltenverbände argumentierten vorsichtiger: Mit Rücksicht auf die schwie­ rige Wirtschaftslage sei eine Arbeitsgemeinschaft, die jedoch ein Fallenlassen der wirtschaftsfriedlichen Bewegung und die alleinige Anerkennung der Ge­ werkschaften als Verhandlungspartner implizieren müsse, durchaus zu be­ grüßen43. Für die christlichen Gewerkschaften endlich hoben Stegerwald und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Führer der katholischen Bergarbeiter, Imbusch, bei aller Kritik im einzel­ nen die Kooperationswilligkeit Silverbergs betont hervor, forderten aber, die­ ser Rede müßten praktische Schritte folgen: Fallenlassen der „Gelben“ , Ab­ schluß einer neuen ZAG mit festumrissener Programmatik44. Zustimmung er­ hielt Silverberg auch von Teilen der Regierung, so vom amtierenden Reichs­ kanzler Marx, dem demokratischen Reichsfinanzminister Reinhold und dem Reichsarbeitsminister Brauns45. Scharf ablehnend dagegen war die Reaktion der deutsch-nationalen Presse46; die „Kreuz-Zeitung“ des Grafen Westarp legte den Gegnern Silverbergs nahe, aus dem RDI auszutreten und eine Neuorganisation zu bilden, und die all­ deutsch-völkische „Deutsche Zeitung“ polemisierte vehement gegen die „un­ glaublichen Naivitäten“ Silverbergs und seiner Freunde. Ebenso ablehnend reagierten die Vertretungen des Alten Mittelstandes sowie der rechte Flügel im Neuen Mittelstand, die alle ein Bündnis von Arbeitern und Unternehmern auf Kosten der eigenen Interessen befürchteten. In dieser negierenden Haltung berührten sie sich mit der Position des Reichslandbundes. Hier wurde die Rede vor allem als Absage an die Sammlung der rechtsbürgerlichen Parteien ge­ wertet; intern war das Echo noch gereizter. In der Bundesvorstandssitzung vom 8. 9. 192647 regte der Präsident, Graf Kalckreuth, an, daß sich die Land­ wirtschaft öffentlich zur Bildung einer Rechtsfront bekennen und auf diese Weise gegen Silverberg Stellung beziehen sollte. Im Vorstand wurde die Rede Silverbergs dabei keineswegs als Stimme eines Außenseiters abgetan; vielmehr sei diese Rede „aufs neue ein Beweis“ dafür, daß die „Industrie sich nicht scheut, auf Kosten der Landwirtschaft sich mit denjenigen zu einigen, die ihr für den jeweiligen Erfolg passend erscheinen“ 48. Nach Meinung des Reichs­ landbundes sollte die Silverberg-Rede in Deutschland die „innerpolitische Vor­ aussetzung zur Niederlegung der Zollschranken durch Herstellung einer Links­ koalition“ schaffen. Die Stimmung war so gereizt, daß ein Gegenbündnis mit der christlich-nationalen Arbeiterschaft gegen die Industrie propagiert wurde49, ein Ansinnen, das von Kalckreuth nur mit dem Hinweis darauf abgeblockt werden konnte, Silverbergs Auslassungen seien nicht für die Schwerindustrie repräsentativ, zu der man die angebahnten Kontakte im Gegenteil verstärken sollte. Mit dieser Interpretation ist erneut die Frage nach der Repräsentarivität dieser Rede gestellt. Eine Antwort darauf gibt eine genaue Analyse der in­ nerindustriellen Kommentare und ihrer spezifischen Motivationen. Ungeteilte Zustimmung erhielt Silverberg, folgt man einer internen Aufstellung des RDI, nur aus den Kreisen des Vereins Deutscher Maschinenbauanstalten, der opti­ schen, der Textil- und der C hemie-Industrie50. Am weitesten gingen dabei der Elberfelder Textilindustrielle Frowein (stellv. Vors. des RDI) und der dem IG Farben-Konzern verbundene Rechtsanwalt Lammers (Präsidial- und Vorstandsmitglied des RDI, MdR [Z]). Beide befürworteten eine Wiederauf­ nahme der ZAG-Politik, wobei besonders Frowein betonte, auch eine vernünf­ tige Wirtschaftspolitik (Zölle, Aufwertungspropaganda) seien durchaus mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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der Sozialdemokratie zu machen, denn Gespräche, die über diese Dinge „in den letzten Monaten im ganz kleinen Kreise“ regelmäßig stattgefunden hät­ ten, hätten „allseitig befriedigt“ . Eine gewisse Mittelstellung nahmen einzelne Vertreter der Großbanken ein, die in dem Angebot Silverbergs eine äußerst günstige taktische Ausgangsposition für den RDI erblickten, mittels derer die gouvernementalen Gruppen in der DNVP gestärkt werden könnten. Das Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Kehl, deutete an, daß man „in Bank­ kreisen“ das Vorgehen Silverbergs im allgemeinen billige; man gebe sich der Hoffnung hin, „daß durch dieses scheinbare Entgegenkommen der Industrie gegenüber der Sozialdemokratie die Deutschnationalen sich entschließen wür­ den, aus ihrer bisherigen Stellung herauszugehen und sich offen unter Fallen­ lassen des Kampfes gegen die Weimarer Verfassung an die Seite der bürger­ lichen Parteien stellen würden“ 51. Insgesamt überwogen indes die ablehnenden Kommentare. Die dem Vorsit­ zenden der Fachgruppe Bergbau im RDI, Hugenberg, nahestehende Presse verurteilte uneingeschränkt den Vorstoß Silverbergs und verwies ihn flugs ins Lager des „Marxismus“ ; einzelne Stimmen gingen soweit, in wenig verklau­ sulierter Form herauszustellen, der Jude Silverberg sei eigentlich gar kein deut­ scher Großindustrieller, sondern vertrete „stark händlerische Einstellungen“ 52. Auch die Braunkohleindustrie Sachsens meldete beim Präsidium des RDI durch den deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Rademacher frühzeitig Protest an53, den der am 9. September tagende Industrieausschuß innerhalb der DNVP, dem u. a. als Vertreter der westlichen Montanindustrie Reichert, Thyssen, Haßlacher und Springorum angehörten, seinerseits unterstützte. Ähn­ lich unmißverständliche Töne schlug ein Flügel in der Textilindustrie an: So verwahrte sich der Generaldirektor der Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei in Bremen, Horst, in einem Schreiben an den RDI vom 8. September gegen die Ausführungen Silverbergs und wertete vor allem des­ sen Referenz vor Ebert und Legien als „kaum zu überbietende Geschmacklo­ sigkeit“ . Für die Textilindustrie insgesamt war diese Haltung aber nicht re­ präsentativ, so wenn der Textilindustrielle Wiedemann (Augsburger Kamm­ garnspinnerei) sie sofort als ungerechtfertigt desavouierte. Unterstützung hin­ gegen wurde Horst von dem Generaldirektor der Zellstoffabrik Waldhof, Clemm, zuteil, der als einzig mögliche Politik eine ungebrochene Kampfstel­ lung gegenüber den Gewerkschaften herausstellte — eine Einstellung, die vor allem von vielen klein- und mittelbetrieblich organisierten Firmen, besonders in Sachsen, Hannover, Thüringen und Oldenburg, vertreten wurde. Gerade aus ihren Verlautbarungen sprach unverhüllt die Sorge, die Gewerkschaften könnten durch das Angebot Silverbergs aufgewertet und langfristig gestärkt werden. Dieser relativ geschlossen argumentierenden Front traten zudem noch Exponenten der Werftindustrie (Blohm) und der Zement- und Baustoffindu­ strien (Schott) bei. Aus ihren Kreisen rekrutierte sich die prononciert gegen Silverberg Ende des Jahres begründete „Gesellschaft für deutsche Wirtschafts© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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und Sozialpolitik“ , die den Gedanken der Werksgemeinschaft und den Kampf gegen die Gewerkschaften unverhüllt propagierte54. Politisch am bedeutsamsten war jedoch die Ablehnung durch die westliche Kohlen-, Eisen- und Stahlindustrie, die sich im Laufe des September zu einem massiven Gegenvorstoß formierte. Die Seele des Widerstandes wurde der Ge­ schäftsführer des VDEStI, Reichert, in Zusammenspiel mit Reusch, dem Vor­ sitzenden des „Langnamvereins“ , und Fritz Thyssen, assistiert von Hugenberg und Brandi im Zechenverband. Sie alle hielten ihr Konzept eines autoritären Patriarchalismus in Anlehnung an vorindustrielle, preußisch-konservative So­ zialmuster ungebrochen aufrecht. Das Angebot Silverbergs betrachteten sie als Aufwertung der SPD und der Gewerkschaften55, das die Gefahr in sich berge, die ihnen nahestehenden wirtschaftsfriedlichen Organisationen der Arbeiter und Angestellten, die ihre Gegnerschaft bereits lautstark artikuliert hatten, könnten sich von ihnen abwenden. Zudem fürchteten sie, das Bündnis mit der Landwirtschaft, das über wirtschafts- und zollpolitische Kooperation auch auf das sozialpolitische Gebiet ausgedehnt werden sollte, könne durch solche Initiativen ausgehöhlt werden. Parteipolitisch endlich durchkreuzte Sil­ verbergs Appell ihr Konzept einer breiten antisozialistischen Sammlung der Rechtsparteien56. Nachdem bereits die Industrie- und Handelskammer für die Kreise Essen, Mülheim und Oberhausen am 8. September 1926 und der Haaptvorstand des VDEStI zusammen mit der Fachgruppe der Eisen schaffenden Industrie beim RDI am 16. September von Silverberg abgerückt waren, die beide die „neue Reichsverbandspolitik im Bunde mit den Sozialdemokraten“ 57 attackiert hat­ ten, wurde auf der Tagung des Langnamvereins am 1, Oktober der massivste Gegenvorstoß58 lanciert. Reusch stellte hier Silverberg, der seine Position noch einmal verteidigte, die eigene Konzeption der Sammlung von rechts entgegen, wobei er verklausuliert an die bereits im Frühjahr 1926 artikulierten Verfas­ sungsreformvorschläge anknüpfte. Thyssen monierte — ein Vorwurf von „trost­ loser Dürre“ 59, wie die „Frankfurter Zeitung“ anmerkte — die „Seele“ des deutschen Arbeiters sei weder sozialistisch noch klerikal, sondern „deutsch“ . Fiel diese Demonstration noch relativ gemäßigt aus, so ging der Bergbauliche Verein60 noch einen Schritt weiter, indem er gegenüber der RDI-Führung da­ mit drohte, eine Wiederholung eines solchen Schrittes, ohne vorher alle Gre­ mien zu informieren, könne die Geschlossenheit des RDI gefährden. Diese Unstimmigkeiten über den sozialpolitischen Kurs des RDI konnten auch auf einer Präsidialsitzung am 14. Oktober 1926 nicht bereinigt werden: Weiterhin standen sich die Verfechter der Werksgemeinschaftsidee und die einer Zusam­ menarbeit mit den Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber. Die Anhänger einer neuen ZAG blieben ganz isoliert61. Das Silverberg-Lager verzichtete in der Folgezeit, schon um die inneren Spannungen in der Industrie nicht noch zu verschärfen, auf weitere Initiativen; es wagte nicht, die Machtfrage in der Industrie zu stellen und etwa eine Neu­ orientierung der Unternehmerpolitik einzuleiten. Diese defensive Haltung re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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sultiert aus dem Eingeständnis der Schwäche der eigenen Position: Die negative Resonanz in einflußreichen Interessengruppen der deutschen Gesellschaft trug ebenso dazu bei wie die relative ökonomische Schwäche und die im Vergleich zur Schwerindustrie eingeschränkteren Möglichkeiten zur Einflußnahme auf Parteien, Regierung und Ministerialbürokratie. Das politische Eigengewicht der Silverberg-Gruppe wurde zusätzlich auch dadurch eingeengt, daß auch sie bei aller Bereitschaft, die gewerkschaft­ lich organisierte Arbeiterschaft als Verhandlungspartner zu akzeptieren, von ihrem Selbstverständnis her Unterordnung, nicht Gleichberechtigung der Ar­ beiterschaft, forderte. Hierin ging sie konform auch mit den strikten Gewerk­ schaftsgegnern im RDI. Im Gegensatz zur Schwerindustrie, die eine offensive Politik praktizierte, blieb das Silverberg-Lager zum Immobilismus verurteilt. Das trat besonders in Erscheinung, als Reusch, Thyssen und Vögler 1928 den folgenschwersten Vorstoß gegen die sozialstaatliche Komponente der Weimarer Verfassung, letztlich gegen das demokratische System als solches, führten, in­ dem sie mit der Aussperrung im sog. Ruhr-Eisenkampf versuchten, die Ge­ werkschaften dauernd zu schwächen, und mit ihrer Weigerung, den Schieds­ spruch des staatlichen Schlichters zu akzeptieren, den sozialstaatlichen Inter­ ventionismus zu beseitigen trachteten. Sie stellten damit auch den RDI und die Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände vor ein fait accompli, wobei sie bewußt einen Bruch mit diesen Verbänden riskierten, deren Führung eher einen kompromißbereiten Kurs zu steuern gewillt war62. Es lag in der Konsequenz dieser Politik, daß diese Gruppe gerade auch in der Weltwirtschaftskrise die C hance erblickte, ihre antidemokratischen und sozial-repressiven Vorstellungen durchzusetzen. Erneute Anläufe zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft mit den Gewerkschaften von Seiten der C hemie­ und Elektroindustrie scheiterten 1929, 1930 und zuletzt 1931 am massiven Widerstand der westlichen Montanindustrie63, die spätestens seit Ende 1932 in einem Kompromißbündnis mit dem Nationalsozialismus64 einen Weg sah, die Gewerkschaften zu beseitigen und den von ihr geforderten autoritären Staat aufzubauen. Silverberg, der — nur von einigen wenigen Industriellen unterstützt — demgegenüber das Konzept Schleichers der Spaltung der NSDAP und der Kooperation mit den Gewerkschaften von Leipart bis Strasser unter­ stützt hatte, legte im Frühjahr 1933 sämtliche Ämter nieder und ging in die Emigration.

Anmerkungen 1 Zu Silverberg vgl. H. Kellenbenz, P. Silverberg, RWB 9. Münster 1967, 103 ff.; die Rede ist abgedruckt bei P. Silverberg, Reden u. Schriften, Hg. F. Mariaux, Köln 1951, 49 ff. 2 Vgl. K. Roeseler, Unternehmer in der Weimarer Republik, Tradition 13. 1968, 217 ff. 3 R. Hilferding, Politische Probleme, Die Gesellschaft. III, 1926, 293.

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KZ Nr. 668, 8. 9. 1926, Stegerwald u. Silverberg. Η. Α. Turner, Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972. 6 M. Stürmer, Koalition u. Opposition in der Weimarer Republik 1924—1928, Düsseldorf 1967, 31, 224. 7 M. J . Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 1930, 58. 8 C . Ungewitter, C hemisch-industrielle Wirtschaftspolitik 1923/24, (Berlin) 1924, 21. 9 DZA I, Potsdam, RAM Nr. 2454, Entschließung des Deutschen Gewerkschafts­ bundes (Otte, Brüning) vom 19. 11. 23. 10 Ebd., Entschließung des Gewerkvereins christl. Bergarbeiter, Bez. Gelsenkirchen, vom 3. 2. 24. 11 Vgl. dazu u. a. Bericht über die Hauptversammlung der Süddt. Gruppe des VDEStI am 16. 10. 25, 10 f. 12 Vgl. dazu E. Hennig, Monopolgruppentheorie in der DDR, Leviathan 1. 1973, 135 ff. 13 Vgl. dazu PA, Nl. Stresemann Bd. 260, v. Raumer (Geschäftsführer des Zen­ tralverbandes der elektrotechnischen Industrie) an Stresemann 23. 7. 1923; C . F. v. Siemens u. Bücher in der ZAG 1924, DZA I, Potsdam, ZAG Nr. 31; ebd., Vorl. RWR, passim. 14 Vgl. dazu das kritische Urteil von G. Kessler, Die Lage der deutschen Arbeiter­ schaft seit 1914, in: Strukturwandlungen der deutschen Volkswirtschaft, Hg. B. Harms, I, Berlin 19292, 464. 15 H. A./GHH Nr. 3000030/12, Sitzung des Stahlwerksverbandes am 16. 7. 1919. 16 Bezeichnendes Beispiel war die Bildung der Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union 1920, vgl. dazu BT 16. 11. 20, Die Vertrustung der deutschen Montanindustrie; DZA I, Potsdam, RWM Nr. 2267/1. 17 Vgl. dazu die Aufstellungen in: PA, Sonderreferat W, Industrie Nr. 10, Bd. 1. 18 Vgl. dazu u. a. die Berechnungen über die ökonomische Starke der einzelnen Industriesektoren, in: DZA I, Potsdam, RWM Nr. 8430. 19 Vgl. dazu B. Weisbrod, Zur Form schwerindustrieller Interessenvertretung in der 2. Hälfte der Weimarer Republik, Referat für das Intern. Symposium in Bochum 1973 (erscheint 1974). 20 D. Stegmann, Deutsche Zoll- u. Handelspolitik 1924—1929, ebd., passim. 21 W. Link, Die außenpolitische Rolle des Parlaments u. das Konzept der kom­ binierten auswärtigen Gewalt, in: Probleme der Demokratie heute (Sondcrh. 2 PVS), Opladen 1971, 366. 22 Veröffentlichungen des RDI, H. 21, Berlin 1924, 35. 23 BA, Nl. Silverberg Bd. 235, Kastl an Silverberg 30. 12. 1925, betr. Empfang des RDI bei Hindenburg: „Der Reichspräsident meinte . . . zustimmend zu den Aus­ führungen des Herrn Reusch, daß die Not der Zeit eine stärkere Anwendung des Artikels 48 auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes notwendig mache. Wenn die Regierung keine Dummheiten macht, soll mir [Kastl, D. S.] ein Ermächtigungs­ gesetz und der Artikel 48 sehr recht sein. Dann muß sie aber mehr als bisher auf das hören, was die Wirtschaft verlangt“ ; Eingabe des RDI an Hindenburg vom 29. 12. 1925, ebd.; vgl. auch Anm. 11. 24 Bonn, 73 f., 98 ff. 25 G. Stresemann, Vermächtnis, Hg. H. Bernhard, II, Berlin 1932, 381. 26 Vgl. seinen Artikel „Resolution oder Verfassungsänderung?“ , RWZ Nr. 184, 14. 3. 1926. 27 BT Nr. 420, 6. 9. 1926, Die Dresdner Industrietagung (Th. Cassau). 28 Vgl. dazu PA, Nl. Stresemann Bd. 281, Aufzeichnung vom 5. 6. 1926 für Stresemann: H. A./GHH Nr. 4001012024/3 A, Blank an Reusch 12. 5. 1926. 29 DZA I, Potsdam, Vorl. RWR Nr. 401, Sitzung vom 14. 7. 1926. 4

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30 Im RDI war Silverberg z. Β. 1929 mit seinen Vorschlägen zur Steuerpolitik weitgehend isoliert, vgl. H. A./GHH Nr. 400101220/7, Schriftwechsel Kastl-Reusch; BA, Nl. Silverberg, 235, Schriftwechsel Silverberg-Kastl. 31 Zu diesem Aspekt vgl. F. Pinner, in: BT Nr. 421, 6. 9. 1930, Wo Gedanken fehlen . . . 32 BA, Nl. Silverberg, 235, Kastl an Silverberg, 22. 7. 1926. 33 Ebd., Kastl an Silverberg, 28. 8. 1926. 34 Vgl. H. A./GHH Nr. 400101220/0, RDI an Präsidial- und Vorstandsmitglie­ der 4. 3. 25: Bücher (IG Farben), Lammers (IG Farben), Deutsch (AEG), Funcke (Märkische Kleineisenindustrie, Hagen), Piatschek (Vors. des Deutschen Braunkohle­ industrie-Vereins), Reusch (GHH) und Vögler (Deutsch-Luxemburgische Bergwerks­ und Hütten AG, seit 1926 Vereinigte Stahlwerke). 35 H. A./GHH Nr. 400101220/3, Protestbrief Reuschs an RDI, 13. 9. 1926. 36 Frowein an RDI 16. 9. 1926, ebd.; Silverberg am 1. 10. 1926 vor dem Lang­ namverein: BA, Nl. Silverberg, 414 (Protokoll). 37 Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, Veröffentl. des RDI H. 29, Dezem­ ber 1925. 38 BT Nr. 420, 6. 9. 1926, Die Dresdner Industrietagung (Th. Cassau). 39 BT Nr. 418, 4. 9. 26, Dr. Silverbergs Dresdner Rede; FZ Nr. 661, 5. 9. 1926: „Spärlicher Beifall“ . 40 Nr. 212, 10. 9. 1926, Nachklänge zur Dresdner Industrietagung. 41 BT Nr. 419, 5. 9. 1926, Herzlich willkommen! (Th. Wolff). 42 Vorwärts Nr. 418, 5. 9. 26, Kampf oder Gemeinschaft; Volksstimme Nr. 426, 12. 9. 26, Die Gewerkschaften und Silverberg (W. Eggert, ADGB); Vorwärts 12. 9. 26, Gewerkschaften u. Unternehmer. Eine Antwort Leiparts auf Silverbergs Rede. 43 BT Nr. 668, 8. 9. 1926, Gewerkschaften und Arbeitsgemeinschaft (Resolution des GdA vom 7. 9. 1926); ähnlich: E. Lemmer, in: BT Nr. 439, 17. 9. 26, für den demokratischen Gewerkschaftsflügel. 44 KZ Nr. 668, 8. 9. 1926, Stegerwald und Silverberg; Rheinische Volksstimme Nr. 228, 10. 9. 1926, Um die volkliche Einheit (A. Stegerwald); Der Deutsche Nr. 223, 23. 9. 1926, Neuorientierung? (A. Stegerwald); KVZ Nr. 735, 4. 10. 1926, Abgeordneter Imbusch zur Arbeitsgemeinschaft. 45 Vgl. dazu die Zeitungsausschnittsammlungen in: BA, Nl. Silverberg Bd. 235. 46 Ebd. 47 DZA I, RLB Nr. 144. 48 Ebd., Erklärung des Vors. des Handels- und zollpolit. Ausschusses des RLB, v. Sybel. 49 Ausführungen Kriegsheims am 13. 1. 1927, ebd. 50 Vgl. dazu die Materialien in: H. A./GHH Nr. 400101220/3, bes. Lange (VDMA) an RDI 9. 10. 26; Frowein an RDI 16. 9. 1926; Duisberg vor dem Langnamverein am 1. 10. 1926, vgl. Anm. 58; Lammers, Deutsche Wirtschaftspolitik u. Weltwirt­ schaft, Politisches Jahrbuch 1926, Hg. G. Schreiber, Mönchen-Gladbach 1927, 203 ff.; Hummel (IG Farben) am 25. 10. 1926 auf einem Parteitag der DDP, vgl. Voss. Zei­ tung Nr. 256, 26. 10. 1926; Fischer (Zeißwerke, Jena) auf einer Hauptausschußsit­ zung des RDI am 11. 12. 1926, in: H. A./GHH Nr. 4001012024/3 A. Vgl. auch das Urteil von L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, 203: „im wesentlichen die Kreise der Export-, der großen C hemie- und der elektrotech­ nischen sowie der Fertigwarenindustrie“ . 51 H. A./GHH Nr. 4001012024/3 A, Blank an Reusch, 6. 9. 1926, Wiedergabe einer telefonischen Unterredung mit Kehl. 52 Berliner Lokalanzeiger Nr. 419, 5. 9. 1926, Utopia in Dresden (F. Hussong). 53 Für das folgende vgl. die Sammlungen in: H. A./GHH Nr. 400101220/3. Auf Einzelbelege wird verzichtet. 39

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Dirk Stegmann

54 Vgl. dazu FZ Nr. 827, 5. 11. 1926; Mitglieder waren u. a. Horst (Vors.), Büren (Vors. des Vorstandes der Braunkohlen- und Brikett-Industrie AG), Leopold (Vors. des Halleschen Braunkohlevereins), Bergmann (Vorstandsmitgl. der Ilseder Hütte), Schurig (Vorstandsmitgl. der Bremer Haake-Beck-Brauerei), der C hefredak­ teur der Essener „Bergwerks-Zeitung“ , Vertreter der nationalen Arbeiter- und Ange­ stelltenverbände, des 1925 aus der Deutschen Industriellen-Vereinigung umfirmierten Bundes für Nationalwirtschaft u. Werksgemeinschaft sowie des alldeutsch-völkischen DNVP-Flügels. 55 Vögler z. Β. war über die Rede Silverbergs „einigermaßen entsetzt“ und fürchtete „gewisse Schwierigkeiten der Arbeiterschaft im Revier als Folge dieser Rede“ , vgl. H. A./GHH Nr. 4001012024/3 A, Blank an Reusch, 6. 9. 1926. 56 Vgl. Reichert vor dem Hauptvorstand des VDEStI und der Fachgruppe der Eisen schaffenden Industrie im RDI am 16. 9. 1926, in: BA, R 13 I/166: „Landwirt­ schaft und Industrie wünschen den Wiedereintritt der Deutschnationalen in das Reichs­ kabinett. Dasselbe ist der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft der Rechtsparteien, wie sie von den Staatsratsmitgliedern Jarres und von Gayl vorgeschlagen wird“ . 57 H. A./GHH Nr. 400101220/3, Reichert an Reusch, 6. 9. 1926; dort auch die Entschließungen der angesprochenen Gruppen. 58 BA, Nl. Silverberg, 414, bes. Schlenker (Langnamverein) an Silverberg 10. 9. 1926 und Antwort Silverbergs vom 12. 9. 1926 (zur Vorbereitung der Tagung und Abstimmung der einzelnen Redner); das Tagungsprotokoll ist gedr. in: Mitteilungen des Langnamvereins. 1926, 4., 121 ff. 59 Nr. 472, 5. 10. 1926. 60 H.A./GHH Nr. 400101220/3, Resolution vom 6. 10. 1926. 61 KZ Nr. 768, 15. 10. 26, Die Präsidialsitzung des Reichsverbandes; vgl. auch H.A./GHH Nr. 4001012024/3A, Protokoll über die Tagung des Hauptausschusses des RDI am 11. 12. 1926, Vortrag Vielhabers (Krupp; Vors. des Sozialpolitischen Aus­ schusses der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände); vgl. auch ders., Sozial­ politischer Rückblick auf das Jahr 1926, in: Das Wirtschaftsjahr 1926. Jahresbericht der IHK des Ruhrbezirks zu Bochum, Dortmund, Duisburg-Ruhrort, Essen, Krefeld u. Münster, Essen 1927, 66 ff. Vielhaber lehnte hier für die Industrie eine neue ZAG nach dem Vorbild von 1918 ab und plädierte stark für das Vöglersche Konzept einer „neuen veredelten Arbeitsgemeinschaft“ . 62 H. A./GHH Nr. 400101220/6 A, Kastl an Reusch, 8. 11. 1928; Reusch an Kastl, 19. 11. 1928. 63 Vgl. dazu in der Reihenfolge: H. A./GHH Nr. 400101221/9, Schlenker an Reusch, 12. 12. 1929 betr. Pläne v. Raumers; Siemens am 30. 6. 1930 im Vorl. Reichswirtschaftsrat, DZA I, Potsdam, Vorl. RWR Nr. 533; Belege bei L. Döhn, Politik u. Interesse. Die Interessenstruktur der Deutschen Volkspartei, Meisenheim 1970, 158, u. bei A. Heinrichsbauer, Schwerindustrie u. Politik, Essen 1948, 64 (Sondierungen von Bosch [IG Farben] und Bücher [AEG]). Für die Stellung der Schwerindustrie vgl. vor allem Reusch (GHH) an Kastl 6. 9. 1931, H. A./GHH Nr. 4001012020/11: „Die Industrie war bisher zu feige, den Kampf mit den Gewerk­ schaften mit aller Schärfe aufzunehmen. Das ganze Unheil, das über uns gekommen ist, ist nicht zum geringsten Teil auf die Gewerkschaften zurückzuführen . . .“ 94 Zur Auseinandersetzung über die politische Option der deutschen Schwerindu­ strie vgl. Turner, sowie kritisch dazu meinen eigenen Beitrag: Großindustrie u. Na­ tionalsozialismus 1930—1933, Ein Beitrag zur Geschichte der sog. Machtergreifung, Archiv für Sozialgeschichte 13. 1973.

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32. Thomas Mann's “ Dr. Faustus“ and Social Biography B Y EUGENE N. and PAULINE R. ANDERSON

The present essay discusses the “ Dr. Faustus“ of Thomas Mann as an example and model of social biography. For that purpose two related questions come under consideration: first, the use of the story of Adrian Leverkühn in “ Dr. Faustus“ as a symbol of the fate of Germany, and, second, the formal means employed by the author in composing and narrating this story. Beyond the analysis an attempt is made to explore the rapidly expanding area where novel and history as forms of expression meet and exchange such technical details as choice of topics to consider, selection of sources, methods of composition, and criteria of judgment. Discussion concentrates upon only that half of the area which is of interest to the historian, leaving to an inquisitive literary critic the task of discussing what, apart from its facts, history has to offer the novelist1. Thomas Mann suggests the present approach to his novel when he calls “ Dr. Faustus“ a biography and refers in the title to Adrian, its hero, as a “ German tone-setter“ . In letters that he wrote during and soon after the com­ position of the novel Mann refers to the work as an autobiography, “ this bock of my heart, this resumé of my life“ ; he says that fundamentally it has Germany as its subject, that it deals with “ the character and fate of Germany“ , and he asserts that Adrian bears “ the suffering of the epoch“ . The book, he says, is symbolic of “ all the sadness and all the misery of loneliness“ of Germany; he refers to the musical isolation of the Germans from the world, and cites the pact that Germany made with the Devil2. Writing the book “ cost“ him more than any other work and had “ eaten into him more deeply“ , so that he believed, correctly, it seems, that his own “ inner excitement“ (Erregung) is evident even in those parts that are “ most boring“3. Mann refers approvingly to a poem in which the author declares that he (the poet) writes in order to keep the wounds open4, and he declares in the earliest months of his work on “ Dr. Faustus“ that the story is as “ oppressive, gloomy, sinister, sad as life itself“ , “ even more than life“ , he adds, “ for the idea and art always exceed and exaggerate life“5. Mann's assertion of the need to hate and to love, and his passionate condemnation of National Socialism and of the dark side of German character make the reader doubt whether this reservation holds; “ Dr. Faustus“ is in fact as “ oppressive, gloomy, sinister, and sad as life“ . 39*

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Thomas Mann began to write “ Dr. Faustus“ when World War II had already entered its fourth year. Although National Socialist power appeared declining, the outcome of the war remained uncertain, except to those of great faith. The prospect of long drawn out destruction and death, of more tyranny and persecution seemed assured. Mann, who was born in 1875, had reached what the Swiss critic Staiger called “ a Biblical age“ 6, and an age when, as Staiger adds, one does not expect an author to sustain the effort needed to produce a work of the stature of “ Dr. Faustus“ . Like countless creative talents Mann suffered from ailments, real and imagined, which by the time that he began this new novel might well have exhausted his physical strength. World War I, the defeat of Germany in 1918, a revolution, inflation, the disappoint­ ments of the Weimar Republic, unemployment and hunger in the economic depression of 1929 to 1933, the shame of National Socialism, and exile, a second world war and the impending disaster of another defeat — the intel­ lectual and emotional erosion from these events, to mention only those af­ fecting Germany, might have been expected to deplete his nervous energy and to destroy his ability to concentrate his powers. Instead, they seem to have prepared him for a culminating “ act of grace“ . The intensity of his thoughts and feeling about Germany and, secondarily, about Western Society and the world compensated for the normal decline of mental and spiritual faculties. The novel “ Dr. Faustus“ constitutes a battle won against National Socialism; it incorporates the wisdom gained during cataclysmic changes rarely if ever encountered in the life span of one individual. The extremes of these changes, the sudden transition from heights to depths, the great variety of experience, and the vehement reaction to them aroused reserves of physical and spiritual resources that in a less troubled time might have lain dormant. In this last major novel Mann attacked a subject that would either reveal the limitations of his physical and literary ability or spur him to his greatest achievement. The fate of Germany could be treated on any one of a number of levels of insight and emotional comprehension. Mann had the ability and found the strength and courage to write at the highest level, to fashion an objective cor­ relative of what had conditioned his life, in happiness and sorrow, in achieve­ ment and disaster, in spirit and in flesh, the Germany of the Hohenzollerns and the Buddenbrooks; of the military and literature; of religion and music; of aspiring toward Heaven and falling into Hell. Thomas Mann did not need to be a soldier, or unemployed, or a National Socialist, an active participant, in order to share all these experiences to the full; a writer like an artist, as Mann has said, surpasses the activist in imaginative involvement7. Apart from Mann's gifts of expression, the intensity of emotion and the vividness of insight in this book of Gerontion derive from the fact that “ Dr. Faustus“ became a transposed autobiography, a novelistic portrayal of a pro­ fessional writer's interpretation of the interdependence between his own fate and that of Germany. It is a novel such as could be written in and about a time of war and nationalism, in which the life of the individual has the same © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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characteristics as the life of society. Mann's own experience enabled him to integrate these two elements. “ Dr. Faustus“ is a social biography by a rebel against extreme nationalism, and the rebellion pictured attests to the rebel's participation in the feelings of the nationalist, although in reverse. Mann's personal experience was as socially conditioned as that of any National Social­ ist, and his greatest work emerged from his love-hate response toward suf­ fering Germany. He transmuted the base elements of the cruel personal social experience into a work of art. Mann identifies the fundamental theme (Grundmotiv) of “ Dr. Faustus“ as the cultural crisis which since 1914 Germany had been enduring8. When in 1946 a French professor asked him to describe the form and nature of future culture, Mann, denying his competence to do this, responded with a sketch of a society in which the main characteristic would be that of community (Ge­ meinschaft)9. The word covers and connotes many things, the ideal toward which the Soviet Union was striving, and which Mann consistently refused to condemn, the essentials of German national unity without the barbarism of National Socialism, Adrian's dream of intimacy between music and society, and, to return to German reality, an antithesis of the German tradition of Mann's “ unpolitical man“ . Mann defined the cultural transition after 1914 as one from bourgeois Romanticism, culture with a capital “ C“ , to social culture, and he distinguished the two cultures by their attitudes toward politics. “ We have learned“ , he wrote in a letter of October 15, 1944, “ that the good is not achieved in aesthetic boldness and charm, that a culture which has no interest in politics dwells very close to barbarism and loses the social from its vision; that a thinking man has greater responsibilities than the problem of beauty.“ 10 He has expressed his own discovery of the essential importance of political awareness in the “ Betrachtungen eines Unpolitischen“ , a collection of studies of the period of World War I and its immediate aftermath, as well as in many subsequent lectures and articles, and he continually lamented the absence of political understanding as the decisive weakness of the German people, which accounted for their acceptance of the aberration of National Socialism. The term politics meant more to Mann than a citizen's participation in party activities and his use of the ballot. It connoted rather the kind of behavior that we associate with democracy, a society composed of self-reliant individuals taking initiative in public affairs and in all civic activities. C itizens, he thought, should be well informed, appreciative of aesthetic and spiritual manifestations of life, considerate of their fellows, judicious about their own action and about the actions of their government, courageous in expressing their views and in taking steps to shape public life. The long tradition of discipline under absolutism and militarism seemed to him to have prevented the Germans from acquiring this political sense, and Mann designated the outbreak of World War I as the point when European culture, especially German culture, as it had existed, collapsed because the people had been deprived of opportunities to learn about politics. He saw after 1918 the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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beginning of efforts not merely to erect a responsible popular government but to develop a society of civic-minded citizens. The National Socialists had won control of government and society before the process of civic education could progress beyond an initial stage; but the effort to gain this education must be resumed. “ Dr. Faustus“ provides in symbolic form a parallel to the fate of the German people after succumbing to the devil of National Socialism. The structure that Thomas Mann selected for the novel serves the author's purpose of portraying and judging the cultural crisis of his people. He chose as the form of his account not a history, social panacea or slice-of-life; not a set of memoirs or an autobiography; not a novel or drama, but a biography. The form of the biography allows him to look at his hero and the German environment from the three points of view respectively of Serenus, of the hero Adrian, and of the real author. Since the book must be written after the death of its hero, Mann could and did use several different kinds of time — that in which the author wrote (Mann and Serenus begin simultaneously to write their history), a device that enabled Mann to incorporate a description of con­ ditions in Germany at the time of his writing each chapter; that in which the events of Adrian Leverkühn's life take place; and, implicitly, that in which the reader becomes acquainted with the book. We shall show later how Mann exploits these different time-conditions to enhance the effectiveness of his symbol. The biographic form adds an authenticity to the work not likely to be achieved by a purely novelistic treatment, and the seeming actuality en­ hances the effect by utilizing factual evidence of Germany's cultural crisis. The form of tragic drama would have been less appropriate than that of a novel, since Germany and Hitler did not suffer a tragic fate: Hitler could not qualify as a tragic hero, and the finale of National Socialism lacked the impact of a Wagnerian opera; in fact, Mann never thought of the National Socialists and of the Germans under Nazism as heroic. The literary form most suited to the author's purpose was that of history made personal; the author could utilize both the historical and the novelistic treatment of the subject to achieve a symbolic biography. In writing biography Mann takes liberties that a historian would not have risked and could not easily have conceived. One cannot explain his act as the work of novelist turned biographer, since many novelists have written bio­ graphies that conform to standard historical practice. Mann's sense of the most expressive means by which to accomplish his purpose, the appreciation of a novelist who had mastered his craft and who had much to impart in this work, led him to amplify the biographical form with features that would provide the intended effect. Since his is a symbolic story of the nation in crisis, and a statement of the author's judgment of this nation and of the crisis, the standard biography, even in novelistic form, would have been too confining for him. Mann needed a means for personifying the conflict between the bourgeois humanistic culture and the social culture in the making; he needed a way that could indicate the disastrous effects of an unpolitical © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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attitude on the part of the German people and at the same time show that nation in the midst of its cultural, if unpolitical, creativity; and since Mann's nature was one of cheerfulness and hope, he sought means whereby he could lessen the tension and horror of his narrative. Mann found the answer to his compositional problem in the selection and use of Serenus Zeitblom as biographer. Although a close friend and admirer of Adrian Leverkühn from early childhood to the day of Adrian's death, a participant in many of his hero's experiences, and occasionally a confidant, Serenus serves as a foil to Adrian. He represents the bourgeois humanistic culture of the nineteenth century, both in his personal life and by way of his sympathies and understanding. Through him Mann expresses many — one cannot say all — of his own ideals while conscious of the fact that these ideals no longer are appropriate to this world and so are passing into history. Serenus often seems perplexed by the actions of Adrian, and by depicting Serenus as somewhat absurd in his kleinbürgerlich existence (the French phrase petty bourgeois does not quite fit, since it does not connote the persistence of a preindustrial status group), Mann introduces an element of “ Durchheiterung“ , a note of serenity, to lighten the Faustian story. He uses Serenus to correlate emotionally the events which he is narrating with those occurring at the time of his writing, to carry on a dialogue with himself about how Germany could have succumbed to National Socialism and become involved in war. Serenus serves as a posthumous Greek chorus, or, better still, as a historian involved in the disaster for which he seeks an explanation through the biography of his hero. The use of Serenus enables Mann to write, not as an ex post facto historian-judge, such as he was not and could not be, about a Germany that he both loved and hated, but as a participant. Serenus, the counterpart to Adrian in this respect, takes a role in the book second only to that of the hero: he represents not merely the dying culture but Germany in the process of being taught a new culture by events. His presence adds a suggestion of positive, constructive thinking about the future of the nation. Serenus allows Mann to convey his political and social message, to do more than merely to tell the story of disaster. Through Serenus he balances the fate of Germany­ Adrian by the other and promising reality of the awakening Germany-Adrian­ Serenus, and so he portrays both parties to the cultural crisis, the one with its historical limitations, the other in all its hopeful inadequacy. The professional historian as biographer would scarcely venture as does Serenus to include himself in the account of his hero-subject, certainly not to any such extent as Serenus does. Under exceptional circumstances an author might write at some length about personal relations with the subject of his biography, but a biographer objectively and modestly concentrates all his attention upon the principal. It is possible that on occasion anonymity on the part of a biographer has led to the opposite result from that intended: by not including himself frankly as a representative of his culture, whether con­ temporary with that of the subject or with a later one, a biographer violates © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the standard of objectivity. Every historian unconsciously includes himself and his values to an appreciable extent in his work; the deliberate addition of his personal time perspective in the historical process would lend richness and persuasiveness to his story. The gaining of perspective, the placing of the hero-subject in the social process, and the relating of him to the society of his time cause biographers more difficulty than portrayal of the subject. The criterion that they should follow in dividing space properly between the account of the individual and that of the social background becomes prob­ lematical. In the liberal, bourgeois, humanistic biography of the culture that Serenus represents, an author customarily slighted the social conditioning of the hero's development. Serenus-Mann understands that a biography in a period of cultural crisis cannot be written in isolation, that the author must devise a form fitted to his subject and time. One may contrast Mann's method of making this a social biography with that employed by another creative writer, C arl Sandburg, in his biography of Lincoln. Sandburg, a poet, intro­ duces the simple device of having the moon look down upon events in the changing society of Lincoln's time. Mann the novelist uses subtler means, and Serenus the classicist and Mann the humanist have set an example for trans­ forming the art of biography. The technique of including the author himself as supplement to his subject is capable of many variations — the Roosevelt­ Hopkins relationship, the addition of a counter-hero or a secondary, com­ plementary or control figure, the historian Schlesinger-politician Kennedy re­ lationship — the possibilities are numerous, and the expansion of the social sciences and the participation of the practitioners of those sciences in public life will rapidly increase the opportunities to write a new kind of social bio­ graphy. The suggestion of the authors that Dr. Faustus symbolizes the fate of Germany cannot be taken literally. Mann includes no Hitler and no lesser Hitler. He portrays a few persons, those in the Munich circle of Dr. Kridwiss, who hold ideas that would be sympathetic to National Socialism; but the reader doubts that these figures will develop into credible National Socialists. In fact, Mann avoids the Nazi type, so that a reader who expects the bio­ graphy to portray Germany of this century in full will be disappointed: he must be reconciled to comparing the fate of Adrian with that of the German people, not with that of Nazism. Adrian, who has little or nothing of the National Socialist in his character, works through to a social ideal of culture that the National Socialists caricatured but would never have approved. Adrian's end is pathetic, utterly devoid of heroism, just as World War II left the German people socially paralyzed; to one who loved them for their good qualities, they seem misled, naive, dazed. Nonetheless, the finale of Adrian's life does not parallel that of the Germans in World War II, for unlike Germany, Adrian succeeds in creating. Mann uses the biography to explain the process of decay of Germany's culture; he can express only faith in her ultimate revival. In so doing he suggests to a reader with the history of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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National Socialism vividly in mind not merely how the conquest of the Ger­ mans by Nazism could come about; although Serenus closes the account im­ mediately prior to the seizure of power by the National Socialists, Mann suggests that Germany will eventually recover to become her better self. As a biography Dr. Faustus belongs to humanistic studies and not to the social sciences. Except for the use of psychology, its intellectual background lies in the fields of history, literature, theology, philosophy, and music. Since Adrian and the lesser figures of the novel always discuss traditional subjects of German culture, during the writing of the novel the social sciences seem not to have entered into Mann's thoughts. Science may occasionally show through the philosophical parts; scientists themselves are absent. Exclusion of repre­ sentatives of the social and physical sciences is justified by the nature of the novel-biography; but the omission deserves mention in order to clarify Mann's intention of portraying bourgeois culture in crisis — bourgeois culture built upon the humanities, upon the nineteenth-century society of status distinctions, in which burghers of independent means and humanistic culture occupied the center. Out of the crisis will come the social culture sought by Adrian. In “ Dr. Faustus“ there are some eccentrics; there are peasant proprietors, self­ reliant and endowed with peasant virtues; there are craftsmen and burghers, who are as reliable as the peasants; there are academic figures, professors and male students; there are burgher intellectuals and even a few aristocratic ones; there are women of every status group, and representatives in minor roles of a few scattered occupations. The society of “ Dr. Faustus“ is as characteristic of solid burgher-peasant culture as is the society of the early nineteenth century. The novel ignores all those social forces that made modern Germany, officials, officers, scientists, industrialists, proletarians, politicians, editors and journalists, whose inclusion would have necessitated the writing of an entirely different book. In such a book the author would have portrayed German society more inclusively than he does in “ Dr. Faustus“ , but he would have been handicaped in concentrating upon his chief interest, the transformation of German cultural life. In the long letter of September 7, 1945, to Walter von Molo, Mann called the pact with the Devil “ a profound old German temptation“ , so that when the German people made a pact with the National Socialist version of the Devil they followed a traditional form of behavior. A novel about Germany's suffering in recent years, Mann continued, had to take this “ horrible pact“ as its main event11. He referred to the nation's weakness for the Devil from the medieval period and the Reformation through Goethe's Faust to the present, and he spoke of German character as possessing both good and evil qualities. There are, he said, not good Germans and bad Germans; one cannot destroy the latter and restore the good Germany. He built “ Dr. Faustus“ upon the thesis that the conflict between the two forces takes place in every German, including himself. He wrote of the inner spiritual battle that decides the course of external events; evil had temporarily won, but, he predicted to von Molo, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the Devil would eventually lose, the pact would be voided and G ermany would recover. The Faustian theme suited Mann's purpose of finding a literary symbol by which to interpret G ermany's acceptance of National Socialism. Its historical character assured popular understanding of the analogy, and use of it offered an explanation of the nation's fall, a partial alibi by which to burden the Devil even more, perhaps, than the G erman people, since he had supernatural powers. It held out hope, moreover, for the future, once the G ermans re­ pudiate the agreement and give ascendancy to their many creative characteris­ tics. As a humanist and a European intellectual appreciative of the forces of history, Mann loved the symbol of Faust for its own sake; he saw National Socialism as the most recent surrender to forces whose history could be traced to the Middle Ages and which lived in the spiritual realm of the humanities and religion. He associated these forces with the kind of society that preserved traditional qualities. “ Dr. Faustus“ combines the qualities of Bildungsroman and Un-Bildungsroman; it portrays the happenings in the inner world of the spirit, using the external data of the novelist to reveal conflicts within the mind and soul, the result of which led to National Socialism. For this reason, Mann employs largely preindustrial types of figures and living styles as symbols of the G ermany that signed the Devil's pact. He implies that Nazism con­ stitutes a throwback to rural and small-town life, that far from aspiring to a true thousand-year Reich it looked to the past. One may question whether Mann's thesis about the close relation between National Socialism and traditional society serves the author as an objective correlative for G erman history in recent decades. For novelistic purposes con­ centration upon preindustrial evidence to support the Faustian interpretation proves effective. Moreover, failure to refer to many new forces derived from industrialism and power politics, such as helped National Socialism to control, does not necessarily detract from the emotional impression left upon a reading public aware of the part played by these new forces in bringing G ermany to disaster, The literary critic may say that Mann's symbol is sufficient, that the inclusion of modern social forces would have lessened the impact of the book by evoking hostile thoughts. The historian-critic might reply that the Faustian legend can be as valid for industrial society as it is for a preindustrial one; it can be particularized in a modern form and setting without loss of emotional effect. The omission of modern forces reduces it to being a partial portrait of modern G erman society; for an understanding of the G erman people and their recent history one must supplement “ Dr. Faustus“ with other reading. The intellectual and emotional confusion that enabled National Socialism to appear is presented with persuasive clarity; the social background is supplied only in part; the material conditions are ignored. The novelistic aspect takes precedence over the historical, allowing historical understanding of the spiritual problems of modern G ermany but less than full comprehension of the social setting of the most recent national pact with the Devil. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mann limited his portrayal of German fate by choosing as his subject matter the story of a composer. He once referred to himself in a letter as a “ musician transferred to literature“ 12, and in another letter he wrote of the Germans as alienated from the world in their musicality13. He inherited with the national tradition a body of thought about the distinctive nature of music as the human expression of the divine, a creative force derived from the all-inclusive supernatural creativity, the most elusive and evanescent, the least intellectual, rational, or tangible form of the eternal, the most difficult to capture and to describe of all mankind's creative achievements, the nearest to God, the most profound of the means of communication between God and man. These philosophic terms of identification would not have satisfied Mann's purpose: their abstraction, their applicability outside of social time, precluded their use in the particular cultural situation of Germany. That he chose music and a composer as subjects of his novel may be explained partly by Mann's long and intense interest in music and by his need for something that had Faustian potentialities in its Weltfremdheit and in its striving after supernatural crea­ tivity. The author, however, did not seek to write a novel-biography of the composer alone but to depict as well the background from which National Socialism developed and became accepted. To do this he sought a sociology of music strong enough to bear music as the symbol of both the cultural crisis and the fate of his hero-composer and of the German people. Through use of music, the least sensuous, the most elusive of all the arts, he planned to make vivid and convincing the strain of greatness that became temporarily cor­ rupted by National Socialism. He could thus correlate the turn to National Socialism with aspirations of a divine nature that had been too exalted, too ambitious, almost blasphemous in their irreality, and that had brought the deserved punishment of disaster. He could describe the endeavor of his com­ poser-hero in this cultural crisis to fulfill the exalted mission of creating music to express and illuminate the age, together with the efforts of Germany to do something vaguely regarded as truly German; he could show the effects of Adrian's and of Germany's willingness to place these ends above morality, to sacrifice success and respect for oneself and for the rights of others, the re­ spect for society. In music Mann had a medium suited to his interest and knowledge — and to his social purpose in writing the novel — and which possessed the added attraction of testing his skill in transposing into literary form the abstract art of notes, time intervals, sound, and the intricacies of key modulation. C ould Mann turn the most Faustian of the arts to the account of a Faustian individual who would be the symbol of a Faustian society? In Theodor Adorno's sociology of music applied to Schönberg's innovations in musical form Mann found what he needed to correlate music with Germany in crisis and to give his novel historical reality. Music supplied the medium through which Mann presented the cultural crisis and developed a theory of creativeness. It is the breakthrough that pro­ vides the central concept of the novel, whether as intellectual phenomenon, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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emotional experience, cultural achievement, or social and political aspiration. Mann has the characters, especially Adrian and Serenus, discuss this concept in several pivotal conversations, and the long dialogue between Adrian and the Devil sets forth the terms by which the breakthrough will become possible. Serenus defends the right and duty of Germany to “ break through to the world“ , to escape from isolation and unite with the world at the expense, if necessary — and the outbreak of World War I seemed to prove that it was — of committing the crime of aggression (306 f.). Adrian agrees that a “ real breakthrough“ is worth a crime: he entered into the compact with the Devil for similar reasons — to emancipate himself and culture from the shallow, supercilious isolation of Romanticism, the culture of the few, and to revive art as “ the servant of a community which will comprise far more than educa­ tion, and will not have culture but will perhaps be a culture“ (321 f.). He seeks to reunite art, in his case music, and the people, to achieve an art that will be popular, intimate with religion, vital, powerful, and essentially simple, “ an art without anguish, psychologically healthy, not solemn, unsadly con­ fiding, an art per du with humanity“ (322). He had striven to emancipate himself from degenerate Romanticism by cultivating an attitude of “ intel­ lectual coldness“ , but he is not at all content to remain in this state of mind. He defines the real breakthrough as one “ from intellectual coldness into a touch-and-go world of new feeling“ , and he predicts for him who achieves it the reputation of being “ the savior of art“ (321). The character of Adrian changes in accordance with the demands for the breakthrough. By nature he seems to have been equipped to rebel against the prevailing culture. Since he was the son of peasants, he had escaped the family background of a Romantic bourgeois élite possessing a culture divorced from the people. As a child he had manifested the traits of coldness, irony, sardonic humor, intellectuality, aloofness, which were the direct opposite of those of Romanticism, and as he matured he retained these same qualities. At least as early as the episode with Esmeralda, however, the adult Adrian began to experience his own breakthrough; he transforms himself into a person of emotion, love, remorse, and self-forgetfulness. His music expresses the same development, until it matches in intensity Adrian's own feeling at the bedside of little Echo. The first part of the novel portrays the cold, anti-Romantic Adrian; the latter part traces the humanizing and socializing of the intellectual composer into an expressionist, a new version of an old recurring cultural phenomenon that had appeared in the Gothic, the Barock, and the Romantic movements. In choosing subjects for his music from these and similar cultural periods, “ Love's Labour Lost“ , the “ Apocalypse“ , “ Dr. Faustus“ , and others Adrian early reveals a longing for a life in which intellectuality gives way to emotionality; he follows his favorite themes into a life crowned with feeling. Adrian's character reflects the breakthrough; his music documents the trans­ formation of his character. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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The crisis in Adrian's development comes with the visit to Esmeralda and the fatal infection. The dialogue with the Devil clarifies the meaning of the crisis. This dialogue, which takes place immediately before Adrian moves to the home of Frau Schweigestill, allows the reader to look backward and to peer into the future, and it serves as an axis or junction point between the two parts of Adrian's life. Adrian and the Devil review the composer's course up to the time of the visit; they diagnose his character and probe Adrian's thoughts and hopes; they define two possible lines of development for him. Mann's Devil shifts between being a real figure and being an illusion in Adrian's mind. In acknowledging that he cannot turn a nonentity into a talent, the Devil recognizes that Adrian possessed from the first the well spring of originality, and that his development had followed the lines of his nature; that he, the Devil, could merely intensify experience, enabling Adrian to press creativity to extremes and so to enhance its power. The Devil, or the Devil as Adrian's alter ego, poses the terms of the agreement: that by rejecting health in favor of illness, truth in favor of success, love in favor of cold intellectual­ ity, and by accepting the fate of eternal damnation, Adrian should succeed in breaking through decadent Romanticism to a new barbaric, religion-based culture of community. He would “ lead the way“ into the future; young people would swear by his name; his madness would make it unnecessary for them to be mad. “ On your madness they will feed in health, and in them you will become healthy“ (243). The Devil's only condition is that Adrian must not love human beings. Adrian counters that he cannot avoid love, since in devot­ ing himself to his work he must love it, and this love of musical composition will keep alive the capacity to love human beings (248 f.). A second possible way of escaping the Devil is suggested in the dialogue when Adrian cites the Lutheran precedent of being so convinced of one's damnation that one throws oneself upon the mercy of God and is saved by Grace. The Devil scoffs at this notion, holding that Adrian's pride and the self-esteem that his illness must augment will prevent his ever demeaning himself in this manner. The reader does not share the Devil's assurance. The dialogue with the Devil shows the terms of the pact to be ambiguous. There are three possible outcomes of Adrian's career, eternal damnation, sal­ vation through love, and salvation by Grace. The dialogue sets criteria to apply in following the course of subsequent events. It arouses the reader's anticipation by retaining the mystery and uncertainty of devilish, or, if one uses the other interpretation of the Devil, of psychological action. It stirs doubts of how it is possible to enjoy the creativity that the Devil has promised Adrian if in the end one is to become a lost soul, and it recalls the formula for creativity that Serenus the humanist defended, that “ art is mind“ , that it has no direct social obligations, that in creating in freedom mind “ in some indirect way“ serves society (322). Serenus's standard conception of individ­ ualistic western society, that of cultural laisser-faire, is one to which many of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Mann's readers would subscribe. The three possible lines of development add uncertainty and suspense to a novel in which there is little action. The historian may consider the dialogue between Adrian and the Devil from at least two points of view, that of the parallel between its content and Germany's turn to National Socialism, and that of its usefulness as a device in composition. The parallel to Nazism may be found in the arguments that the Devil puts forward, and the question becomes one of whether and to what extent these arguments coincide with those of National Socialism. Undoubtedly the Nazis and many non-Nazi Germans believed German society to be sick; but National Socialists would not have agreed that Hitler, like Adrian, suf­ fered from sickness. Nazism claimed to be able to restore the nation to health by being its only healthy element. The National Socialists and their German followers sought to break out of isolation into the world, and they also shared the Devil's view about the creative need for violence, his scorn for moral virtue, and his worship of success regardless of the means employed to obtain it. They were ready to commit crime in order that future generations might benefit, sharing the Devil's argument that their successors would bless them as saviors. The Devil did not specifically cite the analogy of C hrist's sacrifice on the Cross for mankind when he described Adrian's ill-health and damnation as the price of liberating society culturally, and the most ardent National Socialists were anti-C hristian; yet the C hrist metaphor would be present in the minds of the readers of “ Dr. Faustus“ and in the thoughts of German Hitlerites. The great difference between the Devil's proposal and the expectations entertained of the Nazi seizure emerges as the story unfolds. Adrian fails of his ideal, for his music never becomes the popular expression of a mass culture but at most a body of original compositions. He develops as a person and hence as composer, and he creates music of the future. National Socialism led Germany to disaster and shame. Serenus's introduction to many chapters by a report about the condition of the war never allows the reader to forget the analogy; in fact his commentary is so effective that one forgets the differences between the respective outcomes. Mann arouses the emotional response of horror to the work of the Devil, and the reader transfers that sense of horror to Nazism. The historical critic, however, must remember that “ Dr. Faustus“ does not need to be historically accurate in every detail or in its main lines of development in order to fulfill its purpose. Adrians' achievements suggest the recovery of the good qualities in German character, and the manner of his ending parallels the devastation of Germany during the war. When we approach the usefulness of the device offered to the historian by the dialogue, we turn from substance to form; for whether in historical writing or in creative literature, each subject, each body of material, and each method and approach demands its own composition. The purposes served by the dialogue with the Devil are matters that arise in almost any historical work. At some point a crisis is reached, an axis is needed, a formal transition © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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must be made, perhaps only once, perhaps at several points. The historian usually is unequipped to exploit the opportunity; at best he may summarize his work in interpretive statements and formulate in equally general terms the problems with which he will henceforth deal. He could, however, enhance the interest of his study for the reader by employing the novelist's method of con­ fronting the results so far reached with the prospects ahead. He does not need a devil as stimulus; he has as many kinds of provocateurs as there are historical situations. He can use as antagonist any one of the many persons who will have criticized or opposed the course of events and who will have engaged in the indeterminate debate about motives. He can counter with views of a defender of the actions and of an optimist about the future. The compositional technique of Mann in achieving dramatic effect by a confrontation at critical points proves to be as possible in the objective, footnoted writing of history as it is in imaginative literature. With the present means for obtaining oral sources, stenographic accounts, and personal records in multi-volumes, the historian can even include dialogue. For earlier periods he must forego the benefits that dialogue makes possible, but he can nonetheless juxtapose con­ trary views and introduce something equivalent to Mann's dramatic scene. The encounter with the Devil occurs about midway in the book. Prior to this time Mann had brought Adrian forward into his vocation; after it he elaborates upon the composer's musical achievement in relation to his personal life. For each part the author includes the necessary social setting, and we shall attempt to explain at least some of the lessons that the biographer­ historian may draw from the exemplary structure that Mann erects. The biographer-historian almost never — we do not recall a single excep­ tion — devotes to the hero's parental and social background, to his early years and choice of vocation as much attention as they deserve. Psychologistis like Erik Erikson have revealed to us the decisive effect of early experience and are formulating a method to derive meaning from the relevant sources. Mann the novelist chooses kinds of evidence that the historian neglects or entirely ignores: the medieval survivals in the physical and social environment of Adrian's childhood; his first experience with music through the voice of a dairymaid whose feet are caked with dung; his introduction to the mysteries of nature by his father; the hereditary migraine — all data to arouse the reader's sense of anticipation. The historian may not be able to duplicate Mann's elaboration, but he can explore the kinds of influence upon his hero in the early years — in case of a future political figure, such matters as the particular character of the environment, the folklore of local politics, in addition to the usual hereditary factors such as may have left an imprint upon the subconscious and turned the individual toward a career. Adrian's exposure to the tools of his vocation in his uncle's warehouse of musical instruments, and his early training in musical composition by Kretschmar could easily be paralleled in political biography by an analysis of the introduction to the tools of the political vocation, the first experience in handling people and in political © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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activity, acquaintance with local political institutions and political mores, early practical lessons from local political figures, insight into the kind of knowledge that we designate as polity. To introduce this knowledge requires as detailed acquaintance with local society as Mann manifests about the farm and Kaisersaschern, and as elaborate an analysis — full exploitation of local history for biographical setting. Following upon childhood comes the youth, who must be fitted into national life and shown in the process of selecting a career. Biographers tend to slight the first responsibility; by omitting to consider other interests that the hero tests and discards they are almost deterministic about the choice of career. Mann meets both biographical obligations primarily through a lengthy analysis of Adrian's intellectual interests as contrasted with interests of his friends and acquaintances. The elaborate discussion of the limitations and potentialities of mathematics, theology, philosophy and music as means of expressing life is justified by Adrian's exploration of each in order to select the one suited to himself. In conversations with Serenus, Adrian explores the classics and litera­ ture with similar purpose. Mann reveals the state of knowledge in these fields through portrayal of the professors at the university and a summary of the content of their courses. He introduces popular thinking at the educated bourgeois level about nation and state, about contemporary national policies and public practices, militarism, nationalism, imperialism, socialism, cosmo­ politanism by way of controversy among club brothers on an outing. That the device employed to include these topics is literary, novelistic, does not diminish the reader's appreciation of all the material as relevant, in fact, as essential. Mann has placed Adrian within the intellectual history of Ger­ many; he has gone even deeper, to evaluate each of the subjects as a form of human expression irrespective of time and place. The union of the two ap­ proaches enables him to be historical about prewar Germany and to transcend historicism. One can imagine a biography of Abraham Lincoln in which the historian would follow a similar pattern. The historian would require a profound knowledge of law, law books, legal education, jurisprudence, law offices, law practice, instruments of the law at Lincoln's time in Illinois. He must have thought out the role of law and the legal profession in society irrespective of time, in order to judge the extent that the legal profession would enable Lin­ coln to realize his abilities, to probe the heights and depths of thought and emotion and to serve his society. C hoice of a career involved a much more serious decision in an old, well-structured society than in the loose frontier condition found in that part of the United States. Nonetheless education ranks with family and childhood environment as essential factors in a man's career; it offers the subject by which the biographer can move from analysis of the less free forces of heredity and initial social experience to a portrayal of the forces enabling vicarious experience and open choice. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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We do not know how many individuals go through an experimental period comparable to that of Adrian; certainly many do so, and the travail deserves a place in any solid biography. We do know that change from the liberalistic biography to the social biography appropriate to our intellectual interests calls for inclusion of the kind of intellectual history and the vocational and subject evaluation that Mann supplies. To write a biography furnished with its social setting requires the author to devote as great a proportion of his book to the years of maturing into a vocation as Mann employs. The author owes it to the reader to clarify the kind of life and achievement that the hero's choice of career makes possible. Biography becomes the story of an individual and the story of an occupation, the latter being the means by which the author relates his hero to society and to transcendental values. The years prior to maturity are usually treated as something of rather elementary substance, or if the hero tries to probe deeply into thoughts about life, vocations, state and society, we pass lightly over these quests as youthful samplings, not to be taken seriously since the hero discarded most of them. In assuming the superior attitude of an adult, wise after the event, we neglect subtle insights into per­ sonality and the connection between personality and achievement in a career which the study of early years would disclose. We simplify the hero to the point of violating historical reality and drive the unsatisfied reader to the bio­ graphical treatment of creative writers. The historian may object that he lacks the evidence to compete with a “ Dr. Faustus“ . A more accurate statement would be that the historian at present has such a limited conception of the content of biography that especially for the early period of a man's life he ignores numerous available sources in folklore, local history, and in intellectual history in its profoundest and broadest conception. Appreciation of the second part of “ Dr. Faustus“ may be furthered by analyzing developments in relation to the structural elements that Mann em­ ploys throughout the book. Like Adrian's music this is a novel of theme and variations, a contrapuntal composition that rejects harmony and melody as characteristics of the burgher culture-music of Romanticism. The contrapuntal form suits the discussion of problems that involve dualism, polarity, dialectic as manifested in the connection between good and evil, form and freedom, creativity and sterile imitation, rationality and barbarism, brutal violence and aestheticism, sickness and health, nationalism and cosmopolitanism — the list may be easily expanded. These are problems of contrast and conflict that the title “ Dr. Faustus“ already connotes and that recur in every episode in the volume. Since they concern a common issue shared by opposites, they serve as the theme upon which Mann composes numerous variations. The non-verbal, fleeting means of expression, music, offers the categories for organizing the materials of a biography-novel. A lifetime of thought and of the exercise of craftsmanship lay back of the achievement of spiritual and intellectual unity in this complicated work, as each episode, each character, each musical com© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 40 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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position, every item in the book unfolds from within itself the essence of the theme or basic problem in one of its variations. The ambiguity of dual relations in the developing narrative builds a feeling of tension. The reader never escapes from the state of uncertainty that con­ trapuntal conflict produces. The potential resolution inhering in the conflict only means that the dialectic must resume. The incongruity of a classical humanist's love for and attempt to understand and to portray a demonic person, a Dr. Faustus, furnishes the spiritual framework of the biography. Variations on the demonic theme persist, beginning with the strange figures present in Kaisersaschern and the father's nature lore and continuing with Krumpf, the professorial caricature of Luther, Schleppfuss, C larissa's betrayer, and many others. Each of these has a conception of the role of the demonic in life, and each offers a variation on the Faustian theme. ■ The treatment of the theme of love furnishes a second example. Variations include the mother's feeling for Adrian, Serenus's affair with the cooper's daughter, his marriage to the gentle, insignificant Helene (a bit of irony in the name), Adrian and Esmeralda, Adrian's sister's marriage including Adrian's comments on it. After the Devil's injunction not to love, the variations increase in number and grow in significance — the young girl and the chauffeur, C la­ rissa and her betrothed, the marriage and passion of Inez, Rudi and Adrian, the triangle of Marie, Rudi and Adrian, and, omitting other examples, the love of Adrian for the child Nepo. The theme of death accompanies that of love and assumes almost as many forms; the tension between the two holds the reader tightly. We may begin the list with Adrian's contracting the disease, a condition that assures a pervasive atmosphere of decay culminating in his premature death. Frau Schweigestill revives the theme with the story of the daughter of proud parents who when deprived of her illegitimate child wastes away. C larissa takes her own life by poison that she had kept by her for a long time, and her sister murders Rudi. The climax of this theme comes with Nepo's fatal struggle with meningitis. C ontemporaneous with Serenus's de­ scription of Nepo's horror-like end occurs the defeat of Germany in World War II, the equivalent of nation-state death. As one more theme we may cite that of the national breakthrough to the world. Variations are offered in the discussion among the students in the hayloft, later paralleled by that in the circle of Munich intellectuals at the home of Dr. Kridwiss, which shows the inroads of National Socialism among individuals before Nazism came to power; the sojourn in Italy, the classic land, where Adrian plotted with the Devil; Adrian's interest in English and French tales for his music personified by his friendship for Rüdiger the trans­ lator; the temptation by Herr Fiteiberg, a parody on Satan's temptation of Christ; the love for Marie and French culture; the playing of Adrian's music abroad — he actually attended a concert in Switzerland; the adaptation of a story from Tschaikowsky's life in the form of Adrian's relationship to his Hungarian benefactress. All these and others do not amount to success in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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escaping from the German national environment. Nor could Mann have allow­ ed Adrian to escape without ruining the analogy between the latter's fate and that of Germany. As the symbol of Germany Adrian could and could not break through to the world. Like the German attempt under Nazism, physically speaking he failed. C onsonant with Mann's hope for Germany's recovery, in the realm of the spirit he broke the national barrier. Mann employs music to bear the weight of the demonic career of his hero and of the nation, emphasizing his main points by correlating personal and national crises with analysis of Adrian's musical compositions expressive of the relevant emotions. Two examples may suffice for our purpose, the “ Apo­ calypse“ and its setting, and the “ Damnation of Dr. Faustus“ . Each composition operates contrapuntally or as a variation of its immediate setting and heightens the emotional atmosphere, and through each Mann achieves a crescendo of action in the novel and in the fate of the nation. Each composition summarizes and rounds out the development of the story to that point — the religious, philosophical and social problems, their state of resolution — and each is a microcosm reaching for the universe. Serenus precedes the analysis of the “ Apocalypse“ with a review of the conversation among the decadent Munich intellectuals, where the Jew Dr. Breisacher concludes the evening by foretelling the arrival of an age that the reader identifies with the worst horrors of National Socialism and the wars and revolutions of this century. The author describes the “ Apocalypse“ as the musical rendition of the world that Brei­ sacher predicted, music that whispers and shrieks, music of the “ sublimest stirrings“ , “ blood-boltered barbarism“ , and “ bloodless intellectuality“ , that employs the “ howling glissando“ , a “ savage device“ , that merges chorus and orchestra, having an orchestra that vocalizes a chorus that instrumentalizes, a music of parody and yearning to believe, a music that makes “ the like unlike“ , music of “ hellish laughter“ and tears, of dissonance and paradox, of sweetness and purity, of soullessness, of “ fervent prayer for a soul“ , of “ longing without hope“ , that is, a music of a diseased Adrian and of a diseased Germany (373 f.). The next episode illustrates the message of the “ Apocalypse“ in the betrayal, love and suicide of C larissa, actress without success, proud in bearing, a trifle garish in dress and conduct, a chaste, high-minded mocker, shy and defenceless, who at the moment of finding love fell prey to a vulgar, provincial cynic of a variant nature of the Faustian. The senseless world of violent extremes comes to focus in the fate of this minor character. The next chapter after it begins, “ O, Germany, thou art undone“ , as Serenus reminds us that he is writing amidst the devastation of World War II. The biographer-novelist begins his analysis of the “ Lamentation of Dr. Faustus“ on April 25, 1945, when the western front was disintegrating, the Russians approaching Berlin, and Germany faced disaster. “ Curses, curses on the corrupters of an originally decent species of human beings, law-abiding, only too docile, only all too willingly living on theory, who thus went to school to Evil!“ (482) The German people, Serenus continues, “ have failed 40*

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horribly in their last and uttermost attempt to find the political form suited to their particular needs“ (482). Just at this moment he reports Adrian's solving the problem of the relation between form and substance. The fact that Adrian “ broke through“ in his last and supreme composition immediately before his own collapse, and that Serenus describes it at the time of Germany's collapse brings to its culmination the contrapuntal story of composer and nation, of the ambiguous relation between good and evil. The search for variations on the Faustian theme concludes with as much of a resolution of the problem as humanity can achieve. Adrian's “ Lamentation“ becomes the occasion on which Serenus laments the fate of his people; for Adrian it marks victory, for Ger­ many it is a dirge. Serenus identifies the “ Lamentation“ as the breakthrough “ of expressivism, of the highest and profoundest claim of feeling to a stage of intellectuality and formal strictness“ . In its music Adrian had overcome his coldness and aloofness in favor of “ a voice expressive of the soul and a warmth and sincerity of creative confidence“ (485). He composes variations on the ambig­ uous theme “ For I die as a good and as a bad C hristian“ , but his mastery of form, his adherence to “ the absoluteness of the form“ , has enabled him to achieve the fullness of subjectivity. Mann likens the music to “ a perfectly conscious control over all the 'characters' of expressiveness which have ever been precipitated in the history of music“ (485—89), and it closes with a “ chorus of lament“ that begins with an “ inferno-gallop“ and turns into the reverse to the “ Ode to Joy“ of Beethoven's Ninth Symphony (489 f.). In the chapters immediately preceding the description of the “ Lamentation of Dr. Faustus“ , Mann treats the love of Adrian for Nepomuk and the death of this angelic child. He recounts in one of his letters that only two pieces of his writings had ever brought him to tears; the death of Nepo is one of them14. Following directly after the composer's partial devotion to Rudi and then to Marie, love of Nepo had completed the transformation of Adrian into a being capable of human love. The one absolute condition of the pact with the Devil had proved to be more than humankind could bear. Adrian's warning now shows itself to have been more accurate than the scoffing certainty of his antagonist-helper. Through love of his work he has learned to love humanity, male and female, adult and child. His love reaches so far that in having pacted with the Devil he believes himself responsible for the death of friend and child and for other evil deeds. The “ Lamentation“ expresses despair over his own wickedness. “ It is not to be“ , he said (478, 490 f.) at the deathbed of the child; Adrian saw no hope, he found no source of “ consolation, appeasement, transfiguration“ ; he despaired of the world, and he rejected any thought of salvation by the “ false and flabby middle-class piety“ (490). The Devil had predicted that Adrian would be too proud to accept the Lutheran precedent of salvation, of throwing himself, a lost soul, upon the mercy of God, and Mann does not indicate that Adrian in spite of himself was saved in this way. Instead, Mann concludes an exquisite interpretation of the “ Lamentation“ by © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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referring to “ our artist paradox“ , that “ expression as lament“ might generate a religious feeling of hope, a miracle. At the end of the “ Lamentation“ the sound of the instruments fades until only the high G of the 'C ello is heard, “ dying in a pianissimo-fermata. Then nothing more; silence and night. But that tone which vibrates in the silence, which is no longer there, to which only the spirit hearkens, and which was the voice of mourning, is so no more. It changes its meaning; it abides as a light in the night“ (490 f.). The evidence for Adrian's having gained salvation in spite of his rejection of it derives not merely from the assurance of the last note; it lies implicit in the successful breakthrough of the “ Lamentation“ to the creative oneness of strict form and full substance, to the ultimate of expressiveness. It is found in Adrian's having violated the terms of the compact by loving, and it can be inferred from Mann's use of Adrian and his music as a symbol of the fate of Germany. Mann could not damn a nation; in his letters he repeatedly declares faith that the German people, led astray by the Devil-Hitler, will revive15. National Socialism is a passing episode, he wrote, and he anticipates a time when Germany will find the new form suited to its needs. It will be part of a new world society that will replace the national individualism of the nine­ teenth century and that will produce a culture that Mann calls “ social hu­ manism“ 16. The condition of Germany at the time of his writing “ Dr. Faustus“ did not entitle Mann to draw a parallel between the finale of Adrian and the fate of the German people. Adrian's breakthrough had no counterpart in the crushed, divided Germany of bombed-out cities, extermination centers, total misery and moral isolation. Serenus's lament that Germany had not found the political form suited to its character (482) means that Adrian cannot be interpreted literally as a symbol of the nation. Adrian's ultimate success itself takes the shape of a lamentation ending with the note of high G on the cello; in the novel Serenus finds not even this assurance for the future of Germany. In both cases, however, Mann derives hope from the healing effects of time. Adrian's story belongs to a period of cultural crisis that will pass but will doubtless recur. Ambiguity, dualism, the dialectic seem characteristic of history; Mann places Adrian in the dialectical process, and he could expect Germany to benefit from the course of change. He could solve the problem of freedom and form in music, or in the broader domain of humanistic culture, but not for a longer time than the dialectic of change allowed; then the problem would require solution again. In the fields of public life, government, economy, and social relations he could not offer more than the vague outline of a solution, and to have attempted to find the political equivalent of Adrian's break­ through in music would have violated the character of the novel. In last anal­ ysis Mann proved to be the child of our historically-minded age: recognizing the fact of change, he could report only the personal victory of Adrian in the time-limited form of a biography and express hope in time's disciplining of the large, unstructured units of nation-state and world society. The “ artist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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paradox“ and the political paradox express themselves in the religious parallel of faith (491). Mann chose a style of writing suited to the particular situation. In this respect he set a model for historical writing: he made each style a means of interpretation and at the same time an objective expression of content. He has been called the ironic German; but in “ Dr. Faustus“ he employs an old Ger­ manic dialect in such passages as those of the Devil in wheedling Adrian, a straightforward, unsubtle modern German in serious parts like that of the explanation of the terms of the pact, or that of the death of Nepo. Although the novel is built around the ironic relation of a classical humanist and a Faustian composer, Mann restricts the ironic style to those scenes or parts of scenes that are ironic in character. Thus when Serenus writes about himself or about Germany, Mann introduces an ironic form of writing that reveals the humanist's admission of embarrassed incapacity for his task and dogged will to carry out a responsibility that he alone can fulfill (504). Adrian uses irony in his social relations, his speech, and in much of his music. He explains his reasons, first, through the Devil's assertion that true passion exists “ only in the ambiguous and the ironic“ (242), and then in Serenus's summary of his remark that “ irony, mockery“ clear the air of the romantic and make “ a bond with the objective and the elemental“ (321). Until the breakthrough Adrian is an ironic person; achievement of his objective purifies him of this attitude toward life. In portraying Adrian's development Mann employs the ironic style as an objective correlative of the hero; it helps to preserve the bio­ grapher's and the reader's distance from him; it adds a note to alleviate the horror, often the repulsiveness, of certain situations, for example, that of the dialogue with the Devil, that of Adrian's own confession, by enabling writer and reader to keep each his poise; and it enhances the tension in the book by the interaction of irony and seriousness. Mann grips the reader's attention by stylistic variety suited to the subject as well as by the content. In the concluding part of his monologue-conversation with Adrian the impresario Fitelberg slips in the statement “ . . . and let ourselves lean to the German side and an ironic view“ (407). Throughout his mature life Mann understood that irony characterizes social and political situations as well as individuals. Adrian and Germany share the characteristics of just such an ironic situation. The well-intentioned, ambitious Adrian pacts with the Devil and sacrifices his health and soul in order to create a new culture of community, and to emancipate the younger generation from the insipidity of Romanticism. Germany aimed at the heavens and fell victim to the Neo-Romanticism of National Socialism; the German people nourished a feeling of self-righteous superiority and suffered defeat twice in a generation at the hands of those peoples whom it had intended to help. The ironic fact of high expectation and defeat or even disaster in wars and revolutions and the irony-related ambigu­ ity of egoism and public service inherent in responsible government, liberal capitalism, and other institutions and ways of modern society have made an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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ironic style as suited to our culture as is the stately measure of the iambic hexameter to the age of Louis XIV. Aware that style is socially conditioned, that it constitutes an element in social history, Mann knew that avoidance of irony in writing about Adrian and Germany would expose him to the temptation either of falling back into the maudlin, the “ pathos and prophecy, sound-intoxication and literature“ (321) of the romanticist, or of employing the flat, colorless, socalled objective style of the historian. In composing a biography-novel symbolic of a people in the present century, he uses as many styles of writing as there are styles of situations. Irony came to him as a form of expression as naturally as other styles from this age of cultural pastiche. He had mastered these styles in the process of living as a writer. Thus Mann shows the historian that style can be a means of enhancing the authenticity of historical work. The structure of “ Dr. Faustus“ may offer less novelty to the historian than the style. Many examples exist, particularly in historical works of the present century, in which the historical scholar writes variations on a theme. Meinecke's Weltbürgertum und Nationalstaat, first published in 1908, with predecessors in the history of thought and institutions, appeared at a time when scholars were seeking means to bring order into their conceptions of the fundamental social changes occurring around them. Meinecke found one means in a history which traces the course of thought from cosmopolitanism to the idea of the national state; that is, he wrote variations on a theme; or — if we adopt another of Mann's figures — he composed contrapuntal history, through the interplay of two melodies, that of cosmopolitanism and that of the national state. Within a broad framework Mann portrays each episode of his novel as a total social situation. Many creative writers are accustomed to this approach to the characters and events in their work; in “ Dr. Faustus“ , however, Mann excels in filling each scene with overtones of emotion from all previous parts. With every incident he adds a new layer to the reader's subconscious, so that a scene contains the totality of that which is past and the germ of that which is to occur. In the analysis of the “ Lamentation of Dr. Faustus“ Mann de­ scribes musical composition in terms that apply in essentials to a type of historical portrayal. He calls it “ non-dynamic, lacking in development, with­ out drama, in the same way that concentric rings made by a stone thrown into water spread ever farther, without drama and always the same“ (487). The description fits certain historical studies, for example, the analysis of the routine on a manor, the role of lord and lady and of the peasants, or that of the taste in household goods, in art and literature, and in the conduct of a bourgeois family. The treatment is compact, non-developmental, hence devoid of drama; nonetheless it can arouse the emotions by connoting and reflecting a living society. If the historian adds the dynamic quality of action within a single setting in a brief time-span and writes a piece of functional history, a cross-sectional analysis, a portrayal of a slice-of-life, he may aspire to express © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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the social totality as completely as Mann achieves in “ Dr. Faustus“ with, for example, the story of the sleigh-ride. The biography-novel of Adrian will always serve the historian as a source in the intellectual history of the author and, through him, of Germany. The use of creative literature for the history of ideas is well established and needs no defence and no elaboration of appropriate method. Striking to the historian may be Mann's ability to interpret social and political conditions by means of the non-verbal, hardly material evidence of music. The often thrilling insight into society that he gains through the analysis of music should encourage the historian to emulate this example. Historians have turned for assistance to the sociologist, the political scientist and experts in other social disciplines; Mann introduces them to concepts and methods for dealing with the humanistic, theological, divine and demonic phenomenon of music. The historian may then pursue the subject further into the sociological studies of music by Theo­ dor Adorno, and these studies may lead him to seek ways of comparable richness for utilizing artistic and literary forms of expression, including those in “ Dr. Faustus“ , as sources in social history. To choose an example: the biographer-historian might portray an individual as a personality, not solely as a public figure. In order to accomplish this objective, he would cease to neglect or ignore not merely childhood but the members of the other half of the human race that affected the hero's life. Public figures rarely exist whose life lacked the decisive influence of persons like Mother Elsbeth, Frau Schweigestill, Marie; even Frederick the Great had his sister Wilhelmine as confidant. Subjects of biography also have close rela­ tions with men of little or no public importance, the Rüdigers, the Munich circle, the Kretschmars, the dairymaid. Yet who has written the biography of the personal servant of royalty, high nobility, millionaires, anonymous figures of intimacy and trust who in numerous ways affected the life of the hero more than did distinguished acquaintances? Mann shows the historian how effectively incidents and details of minor consequence can add atmosphere, can introduce action into a life as sedentary as that of Adrian, how the fate of persons around the hero may reflect, anticipate, or supplement by way of contrast the career of the leading figure. If the historian omits the Roddes, the Schlagenhaufens, the apothecary brother-in-law, the Monsignore Hinter­ pförtner in writing about society and public life, in politics, economics or other fields of activity, he sacrifices social reality. In our interdependent society the novelistic technique of utilizing a many-faceted society as setting lends itself, with some adjustments, to the needs of the historian-biographer. Mann shows us what kinds of scenes and what types of data to employ in building a portrait of individual and group. He offers a solution to the prob­ lem which confronts us in the enormous amount of source material — the problem of selecting not merely the most appropriate sources but the topics and settings, each of which should enhance and supplement the effect of the others, the problem of finding a method for handling these topics and settings. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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He is our master in the art of composition; he sets an example from which history as a form of human expression can learn techniques to satisfy public expectation. Although history tends to lag behind society, its face to the past, ours is an age of experimentation in every aspect of writing, including that of writing history. By adapting devices and standards of literary composition to historical composition the historian will broaden the content and scope and enhance the degree of objectivity given to social history. “ Dr. Faustus“ helps the historian to find the forms suited to describe a society in rapid transition. Mann declared in a letter of November 21, 1950 that “ This novel is German to excess“ 17, and Serenus in the Epilogue wonders about “ the essentially foreign impression“ (504) that his book will make in the United States, France and elsewhere abroad. C ritics have occasionally denied “ Dr. Faustus“ the prestige of belonging to world literature because of its concentration upon national subject matter, and in 1954 a group of German writers accused Mann of “ national limitation“ and lack of European culture18. The absurd statement by these German writers recently freed from the isolation of National Socialism could be ignored if it were not connected with the question of the scope of Mann's greatest novel. The social historian may conclude his analysis by evaluating the relevance of “ Dr. Faustus“ to Western experience. Mann wrote the biography-novel in his old age with the wisdom gained from study, travel, and actual residence in many lands. At the time of writing he was a citizen of the United States and living in C alifornia. There are other periods in world history in which forced emigration of intellectuals and crea­ tive talent has occurred; none, however, on the scale of that in our century. Mann possessed the requisite of intimacy and distance for a clear, compact, judicious view of his native land and people; he had learned from experience at home and abroad to temper devotion to the nation by objective standards. Dr. Faustus is the work of a cosmopolitan deeply rooted in German culture; its symbolic richness reveals the hand of a writer disciplined by years of war, revolution, and exile to choose problems, topics, scenes and activity that would make the fullest impact upon his readers. This is no provincial work but a piece of world literature in every sense. To deny it recognition as such would in addition be equivalent to the condemnation of all historical study of nation, class, city, or any subject less than the universe. A novel about Germany can have significance for society everywhere for the same reason that a history of Germany may be illuminating to foreigners. Mann once thought that the French reading public might accept his book out of curiosity about “ these Germans“ 19. The historian sees another and weightier justification for placing it in world literature. As time passes we realize more surely than ever that problems, mistakes, and attempted solutions portrayed by Mann in a German setting are not uniquely German. We may select as example the problems that Mann places at the center of his work, that of the relation of freedom and form, of good and evil, of the process of change from decadence to creativity. Every people now struggles with these © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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issues; the old notion about the uniqueness of the G erman idea of freedom is retreating before the view that the G ermans perceived and expressed in writing and in institutions the ambiguity of the relation between freedom and order at a time when the western nations of the Enlightenment enjoyed conditions permitting them to believe in the simplicity of the liberalism of Smith and Mill and the Declaration of the Rights of Man. The G ermans faced dualism, polarity, and dialectic while the French and English, although not all of them, were placing their faith in the beneficent Unseen Hand of natural law. In our century peoples all over the world contend with these fundamental issues of social and political life in a world in transformation. “ Dr. Faustus“ con­ centrates upon a burgher society, and especially upon its intellectuals and creative talent, against a peasant, premetropolitan background; but restriction of social coverage brings the advantage of precision and clarity in the analysis of the author's theme. It serves us in the third time-dimension as readers by virtue of the fact that comparable social groups provide leaders of critical action in other countries. We learn from “ Dr. Faustus“ what to expect from these social groups under similar conditions. “ Dr. Faustus“ offers the ultimate synthesis about a culture. Its author achieves the goal toward which every student of society strives: he views the characters and events with understanding and compassion; by placing them within a setting of philosophy, faith in man and nature and the world, he subsumes temporal manifestations under enduring values. Nietzsche once con­ demned the abuses of historical study, its encouragement of passiveness, deter­ minism, negativism; Mann surmounts these temptations in measuring his subject by the ideals and beliefs that a life of thought and feeling had given to an intense and sensitive mind. A student once remarked to us: “ I envy anyone his first reading of Dr. Faustus.“ For insight into the nature of mankind and into the social life of our century it holds a unique place. Notes 1 In quoting from “ Dr. Faustus“ we use the translation by Η. Τ. Lowe-Porter (New York, 1948). Hereafter the volume is referred to only by page reference. 2 T. Mann, Briefe, II (1937—1947); III (1944—1955), (Reutlingen, 1963, 1965). Hereafter referred to as II and III. II, 397, 498, 461, 417 f., 575, 525; III, 395, 343, 176. 3 II, 575; III, 395. 4 II, 423. 5 II. 320 f., June, 1943. 6 II, 575. 7 II, 320 f. 8 T. Mann, Die Entstehung des “ Dr. Faustus“ (Reutlingen, 1967), 723: also II, 475. 9 II, 475. 10 II, 396. See also, II, 390, 476. 12 II, 574. 14 III, 263. 11 II, 446. 13 II, 417 f. 15 II, 440—47, especially the long letter to Walter von Molo, September 7, 1945. 18 II, 446 f. 18 III, 341. 17 III, 176. 19 III, 176.

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Innenpolitische Antriebskräfte der nationalsozialistischen Außenpolitik Von KLAUS HILDEBRAND

I. „Primat der Innenpolitik“ ? Daß die Frage nach den innenpolitischen An­ triebskräften der nationalsozialistischen Außenpolitik der historischen Wissen­ schaft heute als Problem erscheint, erklärt sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung der Forschung, die Ekkehart Krippendorff bereits 1963 zu fragen veranlaßte: „Ist Außenpolitik Außenpolitik?“ 1 Die für die Geschichtsschrei­ bung lange Zeit verbindliche Maxime vom Primat der äußeren Politik wurde mehr und mehr in Zweifel gezogen und ist inzwischen weitgehend — durch die zuweilen mit gleicher Einseitigkeit vertretene — Position vom Primat der inneren Politik ersetzt worden. Im Prinzip erscheint dieser Streit um den Pri­ mat der Innen- oder Außenpolitik jedoch in zumindest dreifacher Hinsicht als vergleichsweise undifferenziert und daher als wissenschaftlich wenig ergiebig: 1. dürfte es heute über die Einsicht einer Interdependenz von Innen- und Außenpolitik kaum noch ernsthafte Kontroversen geben; 2. ist — um auf die Valenz der These vom Vorrang der inneren Politik kurz einzugehen — der sog. Primat der inneren Politik eine politisch und analytisch kaum zu bestrei­ tende, allerdings zu allgemein formulierte Wahrheit und 3. ist es für die Er­ klärung außenpolitischer Strategien zweifellos fruchtbarer, vor dem gemein­ samen Hintergrund vergleichbarer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Be­ dingungen verschiedener Staaten den je spezifisch historischen Befund ihrer nationalen Entwicklung und politischen Kultur differenzierend herauszuprä­ parieren, der für Definition und Methode der jeweiligen Außenpolitik einer Nation als ausschlaggebend zu bewerten ist. Denn die selbstverständlich für die Außenpolitik eines jeden Nationalstaates in gewissem Maße verbindliche These vom Primat der inneren Politik erweist sich sehr rasch als Leerformel, wenn man z. Β. daran geht, die so unterschiedlich verlaufene G eschichte der Außenpolitik Großbritanniens und Preußen-Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert miteinander zu vergleichen. Alle Gemeinsamkeiten beider Nationen — industriekapitalistische Ordnung, wirtschaftliche Wachstumsstörungen, ökonomische Krisen, Ausbildung eines „politischen Massenmarktes“ (H. Rosenberg) usw. — sind für die Definition und Methode der fast diametral gegensätzlichen außenpolitischen Strategien beider Länder weit weniger entscheidend als vielmehr jene spezifischen Diffe-

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renzen, die sich 1. aus dem verschiedenartiger historischer Genese entsprin­ genden Gesellschafts- und Verfassungsgefüge der politischen Systeme herleiten und die sich z. T. damit funktionell vermittelt 2. aus der unterschiedlichen Lage beider Staaten im Rahmen des internationalen Systems als eines „eige­ ne(n) Raum(s) politischen Handelns mit zum Teil spezifischen Partnern und zum Teil spezifischen Zielen und Mitteln“ 2 rekrutieren. Diese beiden einander bedingenden und für die Formulierung sowie Methode der Außenpolitik eines Nationalstaates konstitutiven Faktoren aber waren es, die — bewußt genera­ lisierend ausgedrückt — in Großbritannien die Neigung zu einer Innenpolitik der modernisierenden Reform und zu einer Außenpolitik der Status quo­ und Friedensbewahrung förderten, die aber in Preußen-Deutschland in teil­ weise nicht unerheblichem, wenn auch nicht zu überschätzendem Maße zu einer Strategie des Sozialimperialismus tendierten, nämlich Fragen der inneren Politik aufs Feld der Außenpolitik zu verlagern. Hier ein Zug zur Erhaltung des Friedens, dort ein Hang zum kriegerischen Risiko und beide Tendenzen zweifellos in gewissem, wenn auch angesichts der Eigengesetzlichkeiten der Weltpolitik nicht ausschließlichen Sinne vom Primat innerer Bedingungen mit­ geprägt, der uns allerdings als formaler Begriff im Hinblick auf die für die Definition nationaler Außenpolitik konstitutiven historischen Unterschiede der beiden miteinander konfrontierten politischen Systeme wenig aufschluß­ reich zu sein scheint. Eben diese hier fragmentarisch angedeutete spezifisch historische Dimension der gesellschaftlichen und konstitutionellen Wirklichkeit eines Nationalstaates aber, die Entstehung und Existenz außenpolitischer Strategien zu erklären mithelfen kann, sollte stets beachtet werden, wenn es im folgenden darum gehen wird, die heute in der Forschung erörterten, hier sicherlich nicht vollstän­ dig vorgetragenen Erklärungen der nationalsozialistischen Außenpolitik zu analysieren, die stärker heteronomistisch orientiert, den Nationalsozialismus eher als ein Derivat der Gesellschaftspolitik deuten oder stärker autonomi­ stisch ausgerichtet, den Nationalsozialismus eher als absolute Größe interpre­ tieren. Unter die Kategorie der heteronomistisch geprägten Ansätze, die das „Drit­ te Reich“ in erster Linie als Funktion gesellschaftlicher Bedingungen begreifen, seien 1. die Erklärungen der marxistischen Forschung subsumiert, die von einer „Agententheorie“ bis hin zu dem Versuch reichen können, der „verselbständig­ ten Exekutive“ innerhalb eines konservativ-faschistischen Machtkartells hohe Geschichtsmächtigkeit beizumessen; 2. wird in diesem Zusammenhang die so­ zialimperialistische Erklärung nationalsozialistischer Außenpolitik zu behan­ deln sein, wie sie Hans-Ulrich Wehler vertritt; 3. soll es darum gehen, sozial­ imperialistische Züge nationalsozialistischer Außenpolitik zwischen den alter­ nativen Polen der Strategie Hitlers einerseits und des Kurses traditioneller Großmachtpolitik andererseits, wie ihn Teile der alten Führungsschichten im „Dritten Reich“ , aber auch Exponenten der nationalsozialistischen Elite ver­ folgten, einzuordnen und 4. wird Arno Mayers Theorie über gesellschaftliche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Ursachen moderner Kriege zu betrachten sein, die Legitimationskrisen von Eliten und äußere Politik miteinander zu korrelieren versucht. In der Kategorie der autonomistischen Deutungen, die das Eigengewicht der nationalsozialistischen Diktatur gegenüber ihrer gesellschaftlichen Basis und Funktion betonen, muß 5. Martin Broszats Erklärung der Außenpolitik des „Dritten Reiches“ als einer „ideologischen Metapher“ zur Bewahrung innen­ politischer Herrschaft analysiert und endlich 6. danach gefragt werden, ob es ausreichende Indizien dafür gibt, anstelle von nationalsozialistischer Außen­ politik gattungsbegrifflich vielleicht zutreffender von „faschistischer“ Außen­ politik zu sprechen. Und zum Schluß ist 7. auf Hitlers „Programm“ als der wohl ausschlaggebenden Antriebskraft der nationalsozialistischen Außenpoli­ tik einzugehen, nach den Bedingungen zu suchen, die seine Realisierung be­ wirkt und die sich als Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen „Ent­ wurf einer Herrschaft“ in der Geschichte der internationalen Politik in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts niedergeschlagen haben. Es muß nicht ausdrücklich betont werden, daß Überschneidungen bei der Betrachtung der verschiedenen Ansätze zur Erklärung der nationalsozialisti­ schen Außenpolitik kaum zu vermeiden sind und die jeweils vorgetragene Kritik notwendigerweise nur knapp und sehr fragmentarisch ausfallen muß. II. Nationalsozialistische Außenpolitik und marxistische Wissenschaft. Wenn heute in der Geschichtswissenschaft der DDR eine allmähliche und vorsichtige Lösung von der „Agententheorie“ zu beobachten ist, teilweise bereits die Ver­ selbständigungstendenzen der nationalsozialistischen Exekutive — allerdings mehr implizit als ausdrücklich — berücksichtigt werden und der Gang der For­ schung sich u. U. in eine Richtung bewegen könnte, die von einer Interessen­ gemeinschaft zwischen zwei gleichberechtigten Potenzen, den Faschisten und der alten Oberschicht, hier insbesondere: der Großindustrie und dem Finanz­ kapital, ausgeht, so ist doch — sieht man von Hilferdings frühem und hell­ sichtigem Versuch, den autonomen C harakter faschistischer Bewegungen zu erkennen, ab — in allen, auch in den in der Bundesrepublik Deutschland er­ schienenen marxistischen Untersuchungen kaum zu übersehen, daß sie im Grunde — ursächlich oder funktionell — die Expansion des Nationalsozialis­ mus als Konsequenz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung begreifen und dies im Zuge einer Erklärung des Faschismus — wenn wir diesen fragwürdigen Begriff benutzen wollen — tun, dessen Genese und/oder Existenz durch den Kapitalismus im fortgeschrittenen Stadium seiner Oligopolisierung oder sei­ ner Organisation bedingt sei. Solcher Deutung sind u. a. folgende Überlegungen entgegenzuhalten: 1. Re­ sultat einer auf dem letzten deutschen Historikertag in Regensburg drei Tage lang geführten Debatte über den „Organisierten Kapitalismus“ war es, die politischen Artikulationsformen dieser spezifischen Stufe ökonomischer Ent­ wicklung als „polyvalent“ zu charakterisieren, das aber bedeutet: 2. daß jener „Organisierte Kapitalismus“ ebenso mit der Appeasement-Politik des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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britischen Parlamentarismus und der ihm zugehörigen Freiheitsspielräume vereinbar war, wie er sich offenbar — zumindest zeitweilig — mit der national­ sozialistischen Diktatur und Hitlers Kriegs- und Rassenpolitik zu arrangieren verstand, oder mit Henry Turners Worten formuliert: „Der Nationalsozialismus war . . . ein Kind des kapitalistischen Systems. Man sollte dieser Tatsache je­ doch nicht zuviel Gewicht beimessen. Nur wenige kapitalistische Gesellschaf­ ten haben ein dem Nationalsozialismus vergleichbares Phänomen hervorge­ bracht; überdies entstammt nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch jede andere vom modernen Europa ausgehende politische Bewegung, die li­ berale Demokratie ebenso wie der Kommunismus, dem gleichen kapitalisti­ schen System.“ 3 3. ist erst kürzlich wiederum recht einleuchtend von Axel Kuhn darauf hingewiesen worden, daß Hitlers außen- und rassenpolitische Vorstellungen, wie sie sich prinzipiell in seinem „Programm“ zusammenzo­ gen, bereits lange vor der „Machtergreifung“ und vor den Kontakten mit Ver­ tretern der Wirtschaft definiert waren und 4. gibt es wohl kein einziges Do­ kument, in dem aus Kreisen der Wirtschaft auf eigene Initiative hin außen­ politische Ziele an Hitler herangetragen und sodann vom „Führer“ — sein „Programm“ verändernd oder ergänzend — berücksichtigt worden wären. Weder die exportorientierte Industrie mit Hjalmar Schacht an der Spitze noch die sich ab 1936 zum Autarkiekonzept verstehende Großchemie und Schwerindustrie haben im Frieden oder im Krieg nachweisbar Hitlers außen­ politische Entscheidungen prinzipiell beeinflußt, womit nicht zeitweilige, eher zufällige als intendierte Koinzidenzen geleugnet werden sollen. Ohne Zweifel aber war die Einwirkung wirtschaftlicher und industrieller Kreise und „Pressure Groups“ während der Wilhelminischen Ära und im Ersten Weltkrieg auf die Außen- und Kriegszielpolitik der Regierung von Bethmann Hollweg weit erheblicher, als dies im „Dritten Reich“ und während des Zweiten Weltkrieges im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Führerdik­ tatur der Fall gewesen ist. In ihren verschiedenen Zweigen war z. Β. die deutsche Industrie weder an der „Machtergreifung“ so maßgeblich beteiligt, wie andere gesellschaftliche Gruppen es waren, noch hat sie jemals Außenpo­ litik und Kriegführung Hitlers gravierend bestimmt — ohne damit in Abrede stellen zu wollen, daß sie in jener Zeit wirtschaftlichen Gewinn erzielte. Ihr politischer Einfluß indes schwand, der staatliche Dirigismus wuchs, und die Befürchtungen einer auch ökonomischen Entmachtung nahmen in dem gleichen Maße zu, wie sich diese Gefahr durch entsprechende Schritte der Partei kon­ kretisierte und wie das für kapitalistisches Wirtschaften konstitutive Prinzip, unter Einsatz minimaler Mittel maximalen Profit zu erreichen, im Zeichen der Rüstungs- und Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“ in der zweiten Hälfte der 30er Jahre mehr und mehr außer Kraft gesetzt wurde und Hermann Göring diese — wie Max H. Kele es umschrieben hat — zwischen Staatskapitalismus und Staatssozialismus sich vollziehende Entwicklung so kennzeichnete: „Die Auseinandersetzung, der wir entgegengehen, verlangt ein riesiges Ausmaß von Leistungsfähigkeit. Es ist kein Ende der Aufrüstung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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abzusehen. Allein entscheidend ist hier der Sieg oder Untergang. Wenn wir siegen, wird die Wirtschaft genug entschädigt werden! Man kann sich hier nicht richten nach buchmäßiger Gewinnrechnung, sondern nur nach den Be­ dürfnissen der Politik. Es darf nicht kalkuliert werden, was kostet es. Ich verlange, daß Sie alles tun und beweisen, daß Ihnen ein Teil des Volksver­ mögens anvertraut ist. Ob sich in jedem Fall die Neuanlagen abschreiben lassen, ist völlig gleichgültig. Wir spielen jetzt um den höchsten Einsatz. Was würde sich mehr lohnen als Aufträge für die Aufrüstung?“ 4 Zieht man zu diesen Ausführungen ergänzend das bekannte Beispiel der im Prinzip kapitalistischem Profitdenken diametral entgegenstehenden Be­ handlung der sog. „Judenfrage“ hinzu, so ist der „absolute Primat der poli­ tischen Zielsetzungen“ (Bracher) kaum von der Hand zu weisen und im Grunde Thilo Vogelsangs Zusammenfassung über das Verhältnis von Wirt­ schaft und Nationalsozialismus zuzustimmen: „Die Wirtschaft, deren kapi­ talistische Grundstruktur zwar beibehalten wurde, aber war um utopistischer Ziele und mehr noch um der imperialistischen Räson des Regimes willen zur Gefangenen des nationalsozialistischen Staates geworden.“ 5 Wirtschaftlicher Besitz und politische Macht fielen zunehmend mehr auseinander und ver­ stärkten damit eine Tendenz, die sich — von den Jahren der Weimarer Repu­ blik einmal abgesehen — ganz allgemein als für den Gang der preußisch­ deutschen Geschichte als typisch erkennen laßt und uns zu der Erklärung füh­ ren kann, warum es in Preußen-Deutschland zur nationalsozialistischen Dik­ tatur mit ihren allerdings nicht vorhersehbaren außenpolitischen Folgen kom­ men konnte. Um es wiederum im Vergleich zwischen der britischen und der deutschen Geschichte anschaulich zu machen: In England wurde bekanntlich spätestens ab 1688 die Kategorie der Deckungsgleichheit von wirtschaftlich­ sozialem Prozeß und politischem System, wie sie in der Institution des Par­ laments sinnfällig und effektiv zum Ausdruck kam, für den Verlauf der na­ tionalen Entwicklung verbindlich. In Preußen-Deutschland dominierte das Kriterium der Deckungsungleichheit zwischen ökonomischer Macht und politi­ scher Herrschaft, führte im Kaiserreich zur Neo-Feudalisierung des jungen, machtvoll aufstrebenden Kapitalismus und stiftete z. B. jene schwerwiegen­ den „verfassungspolitischen Probleme des Verbandswesens“ , die „die Chancen einer gesellschaftlichen Integration durch parlamentarischen Kom­ promiß“ verringerten6. Konsequenz dieser Verwerfung im Gesellschafts- und Verfassungsgefüge Preußen-Deutschlands war nach den Erfahrungen der preu­ ßisch-deutschen Elite mit dem parlamentarischen Experiment der Weimarer Republik die Bereitschaft dieser vorindustriellen, besser gesagt: vorkapitali­ stisch orientierten Führungsschichten, sich noch einmal auf den Versuch einer autoritären Lösung der anstehenden Fragen einzulassen, ohne die damit ver­ bundenen Unkosten der Außenpolitik einer „verselbständigten Exekutive“ , also: die Folgen des Hitlerschen „Programms“ und seiner Strategie kalkulieren zu können. Hitlers Diktatur ist in erster Linie weder vom Geld der Kapi­ talisten errichtet worden, noch waren sie es in ihren diversen Gruppierungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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bis hin zum IG-Farben-Konzern — der innerhalb der Rüstungswirtschaft des „Dritten Reiches“ eine privilegierte Stellung einnahm —, die Interesse daran hatten oder haben konnten, Profit anstelle kapitalistischen Erwirt­ schaftens in atavistischer Manier durch kriegerische Beute zu erzielen. Bei durchaus fortschreitendem finanziellem Verdienst zerstörte die von Hitler in Gang gesetzte Kriegswirtschaft die bürgerliche Ordnung und das kapitalisti­ sche System in Deutschland. Eine im Sinne der parlamentarischen Entwicklung Großbritanniens sich herstellende Kongruenz von wirtschaftlichem Besitz und politischer Macht war während des „Dritten Reiches“ selbstverständlich ferner als jemals zuvor in der Geschichte Preußen-Deutschlands. Und eine im Rah­ men der „Agententheorie“ unterstellte Indienstnahme der politischen Exeku­ tive für wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele der ökonomisch Besitzen­ den fand auf außenpolitischem Feld so wenig statt, daß man — pointiert ge­ sagt — die Meinung vertreten könnte, der Nationalsozialismus repräsentiere in seinem fortgeschrittenen Stadium einen „absoluten Gegensatz zum Kapi­ talismus“7. Gewiß aber hat Tim Mason die Beziehungen von Wirtschaft und Nationalsozialismus im Hinblick auf die deutsche Außenpolitik jener Jahre und im Vergleich mit dem innen- und außenpolitisch so völlig verschieden organisierten und prozedierenden, parlamentarisch regierten Großbritannien angemessen bestimmt, wenn er schreibt: „Eine ideologisch bestimmte Politik siegte wieder über wirtschaftliche Kalkulation.“ 8 III. Nationalsozialistische Außenpolitik als sozialer Imperialismus? Weit differenzierter als die ausschließlich bzw. weitgehend die Expansion des „Dritten Reiches“ wirtschaftlich erklärenden Arbeiten der marxistischen Wis­ senschaft ist der Versuch, die Außenpolitik des preußisch-deutschen National­ staates — mit Ausnahme der Phase der Weimarer Republik, durchaus aber unter Einschluß der nationalsozialistischen Periode — innerhalb eines theore­ tischen Koordinatensystems von wirtschaftlichem Wachstum, sozialem Wan­ del und politischer Systemerhaltung im Zuge einer Theorie des sozialen Im­ perialismus zu interpretieren. In diesem Sinne sieht Hans-Ulrich Wehler die nationalsozialistische Außenpolitik kontinuierlich in eine politische Linie ein­ gebettet, die „von Bismarck über Miquel, Bülow, Tirpitz bis hin“ zu Hitler verläuft9. Er begreift sie als Ausdruck eines „extremen Sozialimperialis­ mus . . ., der durch den Ausbruch nach ,Ostland' noch einmal den inneren Fortschritt aufzuhalten und von der inneren Unfreiheit abzulenken versucht hat — auch er wieder im Banne einer konservativen Utopie!“ 10 Unter Sozial­ imperialismus wird dabei mit Karl-Dietrich Bracher „jener politisch und öko­ nomisch zugleich begründete Manipulationsvorgang“ verstanden, „durch den mit Hilfe einer intensiven psychologischen Propaganda die sozialen Emanzi­ pations- und Bewegungskräfte innerhalb des Staates auf die Expansion der äußeren Grenzen abgelenkt, scheinbar kompensiert und letzlich sogar in ein Instrument imperialistischer Machtpolitik verkehrt werden“ 11. Im Grunde, so lautet das Fazit solcher Interpretation, habe auch Hitlers Außenpolitik © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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dazu gedient, innere Schwierigkeiten aufs Feld der äußeren Politik zu ver­ lagern und das bestehende Sozialgefüge zu konservieren. Ohne bestreiten zu wollen, daß eben dieses Stratagem in der Absicht der­ jenigen gelegen haben mag, die Hitler 1933 als einem „neuen Bismarck“ zur Macht verhalfen, ist 1. auf die relative Eigenständigkeit der Hitlerschen au­ ßenpolitischen Vorstellungen und auf ihr Ziel hinzuweisen, letztlich die be­ stehende Gesellschaft in ein „backward looking Utopian goal“ zu überfüh­ ren12. D. h. es wird 2. im Zuge solcher Interpretation von den „fundamentally anti-modern aims“ 13 nationalsozialistischer Außenpolitik und von ihrem ob­ jektiven Resultat einer (national und international) empfindlich gestörten, nicht jedoch stabilisierten bürgerlichen Ordnung abstrahiert und 3. wird nicht angemessen berücksichtigt, daß in der Diktatur des „Dritten Reiches“ — ganz anders als im Zeichen des halb-absolutistischen Konstitutionalismus des Kai­ serreichs, das im Prinzip und trotz aller Einschränkungen durch das „persön­ liche Regiment“ ein Rechtsstaat war — die politische Führung zum Zwecke einer Politik der „sekundären Integration“ 14 kaum in erster Linie aufs außenpolitische Terrain angewiesen war, da neben sozialpolitischen „Maß­ nahmen“ und anstelle eines nach außen gerichteten Sozialimperialismus im letzten stets der schiere Terror als Integrationsmittel zur Verfügung stand. Die Außenpolitik des Regimes aber wurde durch innenpolitische Rücksichten dieser Provenienz weit weniger beeinträchtigt, als dies während des Kaiser­ reichs wohl der Fall gewesen sein dürfte. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erstaunt es nicht, daß Versuche, den Verlauf der preußisch-deutschen Geschichte auf ihrem Weg von Bismarck zu Hitler mit Hilfe eines „Bonapartismus-Faschismus-Modells“ zu erklären, eben auf dem Gebiet der außenpolitischen Anwendbarkeit dieser Theorie scheitern. Denn einer vielleicht noch vergleichbaren Kontinuität der Probleme stand ge­ wiß eine Diskontinuität der Mittel und Ziele gegenüber, die zu ihrer Über­ windung benutzt bzw. angestrebt wurden: Auf der einen Seite ging es um die Erhaltung eines Gesellschaftsgefüges und auf der anderen Seite um seine Zerstörung und Transformation in eine biologisch geprägte Herrschaftsord­ nung. IV. Nationalsozialistische Außenpolitik versus traditionelle Großmachtpo­ litik. Dennoch können sozialimperialistische Züge in der nationalsozialistischen Außenpolitik kaum übersehen werden, sind indes nicht mit Hitlers Inten­ tionen zu identifizieren und eher als Alternativen zur Strategie des Diktators zu versehen. Es ist das Verdienst von Hans-Jürgen Schröder, die teilweise sozialimperialistisch orientierte Politik Hjalmar Schachts und des Auswärti­ gen Amtes analysiert zu haben. Es waren vornehmlich Vertreter der alten deutschen Führungsschichten im „Dritten Reich“ , die im Zuge traditioneller Großmachtpolitik unter Einsatz wirtschaftlicher Mittel vor allem indirekte Einflußzonen in Südosteuropa und in Südamerika zu gewinnen trachteten, eine hegemoniale Position des Deutschen Reiches in Mittel- und Ostmittel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 41 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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europa erstrebten, komplementär dazu koloniale Revision forderten und nicht zuletzt im Gefolge der Wirkungen der 1929 hereinbrechenden Weltwirt­ schaftskrise Außenpolitik auch als innenpolitische Krisenstrategie betrieben. Es scheint jedoch eine Schwäche eben dieser sehr anregenden Untersuchung von Schröder zu sein, daß er, offenbar wohl vom Modell einer für alle okzidenta­ len Industrienationen während der Depression der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts scheinbar verbindlichen Theorie des sozialen Imperialismus ge­ leitet, nicht sorgfältig genug zwischen Hitlers programmatischen Zielen und Methoden einerseits und den Konzessionen des Diktators an die außenpolitisch alternative Linie der Traditionalisten andererseits differenziert, von der sich der „Führer“ u. a. eine rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die zur Aufrüstung notwendigen Devisen versprochen haben mag. Denn als nach der Konsolidierung der nationalsozialistischen Diktatur im Zeichen des Übergangs zur extremen Rüstungswirtschaft und zur unmittelbaren Vorbereitung der außenpolitischen Expansion die britische Appeasement-Politik Neville C ham­ berlains (ab 1937 ganz deutlich erkennbar) eben auf dieses traditionelle Kon­ zept deutscher Großmachtpolitik mit den Forderungen nach mitteleuropäischer Vorherrschaft, kolonialen Ergänzungsräumen, wirtschaftlichen Einflußzonen im Sinne einer dadurch zu erzielenden innenpolitischen Integration und Kon­ solidierung der bürgerlichen Sozialordnung einzugehen anbot, da lehnte Hitler diese Offerten der Briten ab, rekurrierte immer wieder auf seine Idee des zu ganz anderem Zweck erstrebten Bündnisses mit England, war sogar dazu be­ reit, seine außenpolitischen Ziele — falls nötig — gegen Großbritannien durch­ zusetzen und ließ die auf Friedensbewahrung abzielenden Bemühungen z. Β. des Auswärtigen Amtes scheitern oder benutzte sie zur Abschirmung seiner expansiven Politik. Wie man über Hitlers Englandpolitik in den 30er Jahren gesagt hat, ging es dem Diktator eben nicht darum, friedlich prozedierend im Sinne einer Strategie des „permanenten Münchens“ beträchtliche terri­ toriale und ökonomische Gewinne zu erreichen. Er strebte vielmehr danach, im Zuge einer kriegerisch orientierten Politik d. h. im Prinzip durch getrennt zu führende Kriege die Landkarte Europas und der Welt zu verändern. Der Forschung aber ist es als Aufgabe gestellt, nicht zuletzt auch im Zu­ sammenhang mit den Untersuchungen zum Problem der Opposition bzw. des Widerstandes und im Hinblick auf die außenpolitischen Reaktionen vor allem Großbritanniens die verschiedenen Gruppen innerhalb der deutschen Führungs­ spitze näher zu betrachten, die während der zweiten Hälfte der 30er Jahre bis zum Beginn des Frankreichfeldzuges angesichts der bestehenden Diver­ genzen über die außenpolitische Strategie des Reiches — hier Friedenspolitik, dort Kriegskurs — gespalten war. Welche Persönlichkeiten und Zirkel im Auswärtigen Amt, in der hohen Bürokratie, besonders im Reichswirtschafts­ ministerium und im Amt des Vierjahresplans, im Heer, eventuell auch in der Marine und Luftwaffe und in der Wirtschaft entschieden sich bewußt für einen alternativen bzw. oppositionellen Kurs gegenüber Hitlers expansiver Politik? Wer trat dagegen auf außenpolitischem Sektor unbedingt als Gefolgs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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mann des „Führers' auf? Und wer ist trotz vom Hitlerschen „Programm“ abweichenden außenpolitischen Vorstellungen, wie sie z. Β. von Ribbentrop mit seiner antienglisch ausgerichteten Konzeption hegte, oder trotz einer Präfe­ renz für die Erhaltung des Friedens gegenüber Hitlers kriegerischer Politik im Prinzip — bewußt oder unbewußt — der Strategie des Diktators gefolgt? In diesem Kontext bedürfte vor allem die Rolle Hermann Görings einer grundlichen Untersuchung: Einerseits war er auf wirtschaftlichem Sektor der verantwortliche Mann für Hitlers Kriegsvorbereitungen, und seine treibende Rolle beim sog. österreichischen „Anschluß“ liegt auf der Hand. Andererseits sollte man darüber jedoch nicht vergessen, daß er durch seine Mitwirkung beim Zustandekommen des Münchener Abkommens auf seiten der Friedens­ partei des Auswärtigen Amtes stand, daß er im Gespräch mit dem amerika­ nischen Botschafter Bullitt am 23. November 1937 (ganz anders als Hitler während dieser Zeit) Ziele traditioneller deutscher Großmachtpolitik, die für Großbritannien und die USA akzeptabel waren, vortrug und daß er es war, der die stark aufs wirtschaftliche Kalkül gegründeten und auf Friedensbewah­ rung hin orientierten Initiativen des Ministerialdirektors im Amt des Vier­ jahresplans, Wohlthat, nicht nur abdeckte, sondern auch förderte. Niemals freilich ist sein außenpolitisches Alternativprogramm dabei so bewußt for­ muliert worden, wie Schacht, den er als seinen persönlichen Widersacher 1936 kompetenzenmäßig beerbte, dies getan hat, als er — vielleicht schon vor dem Erfahrungshorizont der unterschiedlichen außenpolitischen Ziele der Tradi­ tionalisten und Hitlers sowie unter dem unmittelbaren Eindruck der even­ tuell aus der Aufrüstung sich ergebenden kriegerischen Konsequenzen — äußerte: „Aber er soll mir man ja keinen Krieg anfangen oder auch nur für ihn rüsten! Dann ohne mich und auf jede Konsequenz!“ 15 Stets war es Goring, der in allen Überlegungen der konservativen Opposi­ tion während der Jahre 1938/39 als präsumtiver Nachfolger Hitlers an der Spitze eines auf einem Machtkartell zwischen „gemäßigter“ Parteielite und alten Oberschichten basierenden autoritären Staates genannt wurde. Offen­ sichtlich galt Göring als eine Alternative zu Hitler, dessen außenpolitischer Ri­ sikokurs von den Konservativen ebenso abgelehnt wurde, wie die durch die forcierte Aufrüstung entstandenen innenpolitischen Folgen — z. Β. die über­ aus angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt, die steigenden Löhne und die soziale Unruhe in der teilweise durch Zwangsverpflichtung zur Rüstungsar­ beit von ihren Familien getrennten Arbeiterschaft — die ursprünglichen För­ derer des Diktators zu seinen entschiedenen Gegnern werden ließen. Hitler erfüllte weder innen- noch außenpolitisch jene Funktionen, die man ihm 1933 zugedacht hatte, sondern schlug einen Expansionskurs ein, der in nationalem und internationalem Ausmaß die bestehende Ordnung grundsätzlich in Frage stellte, anstatt sie innenpolitisch zu festigen und außenpolitisch im Sinne der Traditionalisten zu revidieren. Göring aber vertrat — ganz ähnlich übrigens wie Schacht vor der 1936/37 sich vollziehenden Machtablösung an der wirt­ schaftlichen Spitze des „Dritten Reiches“ — einerseits eine Politik, die Hitlers 41*

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Kriegswillen entgegenkam und versuchte andererseits, durchaus im Sinne der Schachtschen Vorstellungen von traditioneller Machtpolitik, einen Weg der Friedenserhaltung zu gehen, ohne sich wohl im letzten zu einer prinzipiellen Absage an Hitlers Außenpolitik durchzuringen, die es erlaubte, von Opposi­ tion zu sprechen. V. Elitäre Legitimationskrise und kriegerischer Ausweg. Eine in Zukunft sorgfältig zu überprüfende Variante in den gesellschaftlich gebundenen Er­ klärungen nationalsozialistischer Außenpolitik hat Arno Mayer in seinen Aus­ führungen über „Gesellschaftliche Ursachen europäischer Kriege seit 1870“ angedeutet16. Er sieht einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlich, sozial und politisch absinkenden Eliten innerhalb eines Nationalstaates, ihrem ge­ sellschaftlichen und politischen Führungsanspruch, den schwindenden Möglich­ keiten, ihre ökonomische, soziale und politische Herrschaft zu legitimieren und ihrer Neigung, solche Legitimationskrisen zunehmend bereitwilliger durch eine Politik des außenpolitischen Risikos und letztlich des kriegerischen Aus­ wegs zu kompensieren. Nun ist es zweifellos schwierig und von Mayer noch nicht erarbeitet, den Begriff der sinkenden Schicht für unser Untersuchungs­ objekt zu operationalisieren. Will man darunter in erster Linie Angehörige der traditionellen deutschen Elite aus dem Großagrariertum, der Wehrmacht, der hohen Bürokratie, dem Auswärtigen Amt und der Wirtschaft begreifen, so läßt sich Mayers Hypothese rasch widerlegen. Zwar ist sie für den Verlauf der preußisch-deutschen Geschichte auf ihrem Weg von Bismarck zu Hitler insofern richtig, als eben diese Vertreter der deutschen Führungsschichten Hit­ ler einst zur Macht verhalfen, um als unverzichtbar angesehene Privilegien zu bewahren. Vornehmlich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre allerdings waren sie in der Mehrzahl daran interessiert, kriegerische Risiken deutscher Außenpolitik zu vermeiden — obwohl sie mehr und mehr einsahen, daß ihre gesellschaftlich und politisch führende Stellung gefährdet war und zwar nicht mehr länger durch die politische „Linke“ , sondern durch die etablierte na­ tionalsozialistische Diktatur. Beschränkt man den Begriff der absinkenden Elemente indes auf die neue Parteielite des „Dritten Reiches“ , so ist das Ergebnis vorab recht verwirrend und bedürfte der gründlichen Détailanalyse, die eventuell bestehende Funk­ tionszusammenhänge zwischen den parteiinternen Kämpfen und Positions­ veränderungen z. B. Himmlers und von Ribbentrops sowie ihren außenpoli­ tischen Neigungen gegenüber den Fragen von Krieg und Frieden in den 30er und 40er Jahren zu untersuchen hätte. Wie läßt sich endlich Hitlers Politik — nicht zuletzt auch angesichts ihrer frühzeitig entworfenen Vorstellungen — im Rahmen der hier zu überprüfenden Korrelation interpretieren, wenn man einmal davon ausgeht, daß ein Teil seiner Legitimation — Hitlers Selbst­ verständnis zufolge — in seiner Popularität bei den Massen begründet war und z. Β. durch den außenpolitischen Erfolg des österreichischen „Anschlusses“ ungemein gesteigert wurde? Mag der Diktator hin und wieder auch einen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Schwund seiner Popularität befürchtet haben, so standen ihm doch mannig­ fache Wege sozialpolitischer, fiskalischer und innenpolitischer Legitimation zur Verfügung, die einen Rekurs auf die Außenpolitik überflüssig machten. Angesichts der sich in den Jahren 1938/39 zuspitzenden inflationären Rü­ stungskonjunktur, der angespannten Arbeitsmarktlage, der Zwangsverpflich­ tungen von Arbeitskräften und der Gefahr sozialer Unruhen, hätte Hitler — die revolutionäre Situation des Jahres 1918 stets traumatisch vor Augen — durch eine Drosselung der Rüstungsanstrengungen die Lage auf dem Arbeits­ markt entspannen, bei den Massen Popularität gewinnen und den Beifall der seinen Kriegskurs wegen der außen- und innenpolitisch verhängnisvollen und zerstörerischen Folgen verurteilenden alten Elite finden können, das heißt aber: Gerade der Verzicht auf eine Politik des militärischen Risikos, nicht die Verfolgung einer kriegerischen Strategie hätte ihm Legitimations­ chancen an die Hand gegeben. Der Diktator aber ließ nicht nur die Aufrü­ stung des Heeres unbeirrt vorantreiben, sondern hielt auch am Aufbau der deutschen Marine fest, obwohl gerade die Verwirklichung des bislang viel zu wenig beachteten 2-Plans im Jahre 1939 die innen- und sozialpolitische Lage des Reiches erheblich belastete. Hitler blieb auf seinem programmatisch einge­ leiteten Kurs, da es ihm nicht um innenpolitische Legitimation, sondern um Eroberung und Rassenherrschaft ging. Leiten wir mit diesen Fragen an Mayers heuristisch gewiß aufschlußreichen und zu prosopographischen Arbeiten auffordernden Ansatz zu den autonomi­ stisch angelegten Deutungen nationalsozialistischer Außenpolitik über und beginnen wir mit Martin Broszats scharfsinnigen Überlegungen. VI. Nationalsozialistische Außenpolitik als „ideologische Metapher“ zur innenpolitischen Herrschaftsbewahrung? Ausgehend von der Einsicht, daß

„der nationalsozialistische Staat . . . kein monolithisch-strukturiertes, von ein­ heitlichem politischen Wollen durchströmtes Herrschaftsgebilde“ 17, sondern eine „autoritäre Anarchie“ repräsentierte, hat Martin Broszat den sehr reflek­ tierten Versuch unternommen, nationalsozialistisches Herrschaftssystem und Hitlers Außenpolitik im Begriff der „ideologischen Metapher“ miteinander zu verrechnen. Er begreift die „Endziele“ Hitlers als Symbole zur Begründung immer neuer Aktivität des nationalsozialistischen Regimes, dessen Gesetz die im Grunde inhalts- und ziellose Bewegung gewesen sei: „nur die weitere Ak­ tion verbürgte Integration und Ablenkung der antagonistischen Kräfte der entfesselten Gesellschaft des Dritten Reiches. Diese mußte sich aber rationaler Bändigung und Kalkulation mehr und mehr entziehen und in selbstzerstöreri­ schen Wahn umschlagen.“ 18 Obwohl dieser Erklärungsversuch unter anderen und wohl ausschlaggeben­ deren Motiven deutscher Außenpolitik zwischen 1933 und 1945 auch einen Teil der historischen Wirklichkeit erfaßt und daher zu beachten bleiben wird, erheben sich doch vorab folgende Fragen: Warum hat Hitler, wenn er seine äußere Politik unter dem funktionalen Aspekt der Herrschaftsbewahrung an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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gesehen hätte, so beharrlich an fixen außenpolitischen Zielen festgehalten? Warum ist er dann nicht auf das „colonial appeasement“ der Briten einge­ gangen? Warum hat er sich dem Prestigebedürfnissen und sozialimperialisti­ scher Politik entgegenkommenden Versuch des „economic appeasement“ , ja, des Appeasement C hamberlains schlechthin entzogen? Warum vertrat er 1940/ 41 so entschlossen die Vorstellung des russischen Krieges und ergriff nicht willig die mittelafrikanische Alternative? Fassen wir die Einwände, die in diesen Fragen liegen, zusammen, so läßt sich feststellen: Einmal dürfte die relative Eigenständigkeit des Hitlerschen „Programms“ , dessen inhaltlich umrissene Ziele vom Diktator als Intentionen formuliert und verwirklicht wur­ den, in der Broszatschen Interpretation zu sehr funktionalisiert werden, denn im Prinzip trachtete Hitler nach der Überwindung, nicht nach der Perpe­ tuierung des bestehenden Herrschafts- und Sozialsystems. Aus der Unter­ sehätzung des weitgehend autonomen und inhaltlich verbindlichen C harakters des „Programms“ ergibt sich sodann die Tendenz, Hitlers Außen- und Rassen­ politik sowie seine Strategie, die für den „Führer“ und seine Partner bzw. Gegner im internationalen System der 30er und 40er Jahre entscheidenden Gravamina, prinzipiell als für Alternativentscheidungen offen mitzuverste­ hen. Auf außenpolitischem Terrain aber war, so muß in Antithese zu Hans Mommsen formuliert werden, Hitler eben grundsätzlich nicht „ein Mann der Improvisation, des Experimenuerens und der Augenblickseingebung“ 19. Viel­ mehr leiteten ihn bestimmte, früh fixierte Grundlinien seiner Gedankenbil­ dung, innerhalb deren er ein sehr hohes Maß an politischer Beweglichkeit entwickelte, ohne allerdings prinzipiell im Frieden wie im Krieg eine tradi­ tionell-imperialistische Alternative zu seiner Politik der Eroberung des „deut­ schen Ostimperiums“ 20 ernsthaft zu erwägen. Und die von Hans Mommsen zur Erklärung der nationalsozialistischen Außenpolitik von Joseph Schumpe­ ter entliehene Formel, Hitlers Strategie als objektlose Disposition zu umschrei­ ben, ist einfach deswegen unzutreffend, weil das „Programm“ des Diktators sehr wohl inhaltliche Determinanten besaß und nicht für grundsätzliche Wahl­ chancen offen war. Was aber die von Hans Mommsen gegenüber dem „schwa­ chen Diktator“ 21 Hitler gerügte „spezifische Unfähigkeit, sich Grenzen zu setzen“ 22, angeht, so erscheint auch diese Feststellung als fragwürdig, wenn man sich vor Augen führt, daß jene nach normalem Verständnis scheinbar un­ limitierten Vorstellungen, macht- und rassenpolitisch gesehen, ihre Grenze in der Forderung nach globaler Herrschaft fanden. Hitlers Außenpolitik war eingefügt zwischen die Alternativen von „Weltmacht oder Untergang“ , d. h. er war von dem Dogma geleitet, entweder werde das Reich, machtpolitisch betrachtet, zu einer der führenden Nationen der Welt aufsteigen und unter rassenpolitischem Aspekt eine neue, die Bedingungen der bisher bekannten historischen Entwicklung überwindende, den geschichtlichen Prozeß endgültig in einen biologischen Endzustand transformierende Ordnung schaffen oder aber im Falle des Mißlingens dieser ambitiösen Ziele untergehen. Gewiß war Hitler von „einer gefräßigen, offenbar unersättlichen Machtbesessenheit“ 23 be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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fallen, jedoch waren seine Vorstellungen, zu welchen Zwecken politische Macht zu benutzen sei, inhaltlich bestimmt und zwischen den absoluten Grenzwerten des „Alles oder Nichts“ angesiedelt, ohne ihm in machiavellistischer Manier grundsätzlich einen echten, programmrevidierenden Kompromiß zu erlauben. Gemessen an seinen rassen- und außenpolitischen Zielen hatte das bestehende innenpolitische Machtgefüge lediglich funktionellen C harakter. Hitler erstrebte politische und militärische Macht nicht um ihrer selbst willen, um sich sodann von der einmal in Gang gesetzten Politik der permanenten Aktion und Be­ wegung fortreißen zu lassen. Vielmehr galten ihm seine Herrschaft und „der Staat als ein Mittel zum Zweck“ 24 der Erreichung von ihm selbst mehr oder minder konkret entworfener rassen- und außenpolitischer Ziele. Die sich zwei­ fellos im Gefolge der Verwirklichung des „Programms“ einstellende Dynamik des Systems, die Hitler immer schwerer zu kontrollieren vermochte, berührte allerdings nicht die Endziele, die der Diktator seinem Reich gesetzt hatte, sondern betraf — und dies z. T. gravierend — die Art und Weise ihrer Reali­ sierung. Broszats Erklärungsversuch trifft einen Effekt nationalsozialistischer Außen­ politik, erliegt aber der Versuchung, „unbestreitbare Wirkungen und Konse­ quenzen zum primären Zweck“ 25 zu erheben. Die wissenschaftlichen Erkennt­ nisse über den polykratischen Grundzug des „Dritten Reiches“ lassen sich, wie Wolfgang Mommsen und Reinhard Bollmus betont haben, nicht aufs außenpolitische Gebiet übertragen, auf dem Hitler „ein persönliches Regi­ ment“ 26 praktizierte und „vom Beginn bis zum Ende seiner politischen Lauf­ bahn an zwei Zielen festhielt: der Vernichtung der Kräfte des sogenannten ,Weltjudentums' und der Errichtung eines vom ,germanischen Rassekern' beherrschten Großflächen-Staates von ,unbedingter Souveränität'“ 27. Die in­ nenpolitische Anarchie und das im Kompetenzengewirr des nationalsoziali­ stischen Staates geltende Recht des „Eroberers“ aber waren — bewußt oder unbewußt — die Voraussetzungen für Hitlers autonom geführte Außenpoli­ tik, deren Ziele nicht uneigentlich, also metaphorisch, sondern eigentlich, also auf Verwirklichung angelegt waren — anders formuliert: Hitlers Außenpoli­ tik zielte nicht auf innenpolitische Integration, sondern auf außenpolitische Expansion sowie auf national und international verbreitete rassische Herr­ schaft, die die soziale Frage als historisches Problem ein für allemal obsolet machen würde. VII. Nationalsozialistische oder „faschistische“

Außenpolitik? Bevor wir

uns aber Hitlers „Programm“ als der entscheidenden innenpolitischen An­ triebskraft nationalsozialistischer Außenpolitik zuwenden, soll vorab geprüft werden, inwieweit gattungsspezifisch der Begriff der nationalsozialistischen Außenpolitik im überordnenden Begriff der faschistischen Außenpolitik auf­ gehen kann. Einigt man sich zur Kennzeichnung einer idealtypisch postulier­ ten faschistischen Außenpolitik auf formale Kriterien wie Expansion, Ge­ waltsamkeit, Brutalität in den Zielen und Methoden, so läßt sich zwar von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Gemeinsamkeiten der Außenpolitik z. Β, zwischen Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien sprechen. Allerdings sind diese Identitäten so allgemein ge­ faßt, daß sie nur schwer gegen die Außenpolitik des tennoistischen Japans oder des stalinistischen Rußlands abzugrenzen sind und in die Nähe des wis­ senschaftlich inzwischen fragwürdig gewordenen Totalitarismus-Begriffs ge­ raten könnten. Geht man jedoch über solch formale Kategorien hinaus und transzendiert man auch die eben zur Bestimmung politischer Herrschaftsfor­ men nicht ausreichende Frage nach dem „C ui bono?“ , so ist nach den außen­ politischen Zielen — hier des deutschen Nationalsozialismus und Hitlers, dort des italienischen Faschismus und Mussolinis — zu suchen, um im Vergleich des außenpolitischen C harakters der Regimes die Frage nach ihrem Telos zu stel­ len und zu prüfen, ob sich gattungsbegrifflich identisch, von faschistischer Außenpolitik im Blick auf das „Dritte Reich“ und das faschistische Italien sprechen läßt. Um das Resultat vorwegzunehmen: Gerade auf dem Feld ver­ gleichender Untersuchungen zur deutschen und italienischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg zeigt sich der Faschismus­ Begriff am verwundbarsten. Erst kürzlich hat Henry Turner im Zusammen­ hang mit der Anwendung von Modernisierungstheorien auf die Erklärung des Faschismus darauf aufmerksam gemacht, wie entscheidend es ist, über die Fragen nach der gesellschaftlichen Basis und Funktion des Faschismus hinaus zur Bestimmung des Telos politischer Herrschaftssysteme die außenpoliti­ schen Zielvorstellungen der Diktaturen zu kennen. Sieht man z. Β. die Komponenten des Antisemitismus und der rassischen Höherzüchtung, das rassenpolitische Dogma in Hitlers Gedankenbildung, als konstitutiv für die nationalsozialistische Außenpolitik und ihre Ziele an, dann scheint im Hinblick auf Mussolinis italienischen Faschismus die gemeinsame Basis der Vergleichbarkeit zu entfallen. Wenn es Hitlers Ziel war, unter Ein­ satz hochmoderner Mittel in eine vormoderne, rassisch-mythische Utopie zu steuern, und wenn es Mussolinis Ziel gewesen sein sollte — dies ist ein äußerst kontroverser Punkt der Forschung — Modernisierung wenn auch unter den extrem hohen Kosten einer Entwicklungsdiktatur zu stiften, dann stellt sich ebenfalls die Frage nach der Identität der Regimes und ihrer Ziele. Ja, selbst wenn nicht gesellschaftliche Modernisierung, sondern außenpoliti­ sche Expansion das Primärziel des italienischen Faschismus gewesen ist, so hat man zu untersuchen, ob Mussolinis außenpolitische Forderungen nach einem römischen „Impero“ , nach kolonialer Herrschaft und nach dem „mare nostro“ mit denen Hitlers vergleichbar sind, die im letzten kriegerische Er­ oberung und rassische Herrschaft in globaler Dimension ins Auge faßten. Viel eher scheint hier die Differenz zwischen einer traditionell-imperialistisch orien­ tierten Außenpolitik und Hitlers „neuartiger“ Kriegs- und Rassenpolitik her­ vorzutreten, deren qualitative Unterschiede kaum zu bestreiten sind. Denn die Überlegungen des einen bewegten sich durchaus noch in historisch vertrau­ ten Kategorien, die des anderen sprengten eben diesen Rahmen, intendierten den geschichtlichen Prozeß zu überholen und in einer biologischen Utopie still© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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zulegen. Will man sich im Sinne einer Definition von „Normalfaschismus“ als Prototyp des Faschismus auf das italienische Beispiel einigen, dann war Hitler unter außenpolitischen Aspekten gewiß kein Faschist, d. h. national­ sozialistische Außenpolitik ist gattungsspezifisch kaum einem Begriff von „fa­ schistischer“ Außenpolitik zu subsumieren. VIII. Hitlers „Programm“ . Als entscheidende Antriebskraft der national­ sozialistischen Außenpolitik erscheinen im Grunde Hitlers programmatische Vorstellungen. Daher gilt es in diesem Zusammenhang zu untersuchen 1. jene „Antriebskräfte“ innerhalb der preußisch-deutschen Geschichte, die auf die Genesis dieses „Programms“ Einfluß genommen haben; ferner 2. jene „An­ triebskräfte“ im Rahmen der preußisch-deutschen Entwicklung auf ihrem Weg von der Reichsgründung bis 1933, die Hitlers Diktatur ermöglichten und damit ungewollt und nicht vorhersehbar seinen außen- und rassenpolitischen Ideen zur Realisierung verhalfen. Endlich aber sind, last but not least, denn diese Richtung werden künftige Forschungen einschlagen 3. jene Bedingungen zu analysieren, die sich im Zuge der Verwirklichung dieses „Programms“ ein­ stellten, auf seine Gestaltung zurückwirkten und es in der Prozedur verän­ derten, ohne daß dabei jedoch z. Β. auf dem Sektor der Rüstungswirtschaft oder dem der Rassenpolitik dies zu übersehen ist: Welches Eigengewicht die von Hitler in Gang gesetzten Prozesse auch immer bekamen und in welch großem Maß sie sodann Zeit- und Bündnisplanungen des Diktators mitbe­ stimmten, sie blieben stets in grundsätzlicher Identität mit den Absichten des „Führers“ und konnten ihn trotz erheblicher Veränderungen nicht zu einer Revision seiner programmatischen Überlegungen bewegen. Wenn z. Β. dem bekannten Wort Hitlers vom 22. August 1939 zufolge, die wirtschaftliche Lage des Deutschen Reiches es war, die zur kriegerischen Aktion drängte, so muß doch als entscheidend berücksichtigt werden, daß eben diese Tendenz von Hitler ausgelöst und beabsichtigt worden war und sich in prinzipiellem Ein­ klang mit seinem gerade auf kriegerische Expansion abzielenden „Programm“ befand, indes weitgehende machtpolitische Modalitäten implizierte, die ihn dennoch nicht zu einer Politik der Friedensbewahrung motivieren konnten. Und wenn man kürzlich auf das „konstitutive Element der Dynamik“ 28 des nationalsozialistischen Staates für die sog. „Endlösung“ der „Judenfrage“ hin­ gewiesen hat, so ist doch angesichts der Untersuchungen von Eberhard Jäckel über Hitlers entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Judenpolitik nicht zu vergessen, daß gerade diese Dynamik ein Kind der nationalsozialistischen Politik und Hitlers „Programm“ implizit war. In keinem Fall bewegte sich die von dem Diktator selbst ausgelöste Dynamik des „Dritten Reiches“ in eine Richtung, die Hitlers ursprünglichem Herrschaftsentwurf diametral ent­ gegengesetzt gewesen wäre, sondern verlief in prinzipieller Konsonanz mit seinen leitenden Vorstellungen zwischen den Grenzwerten eines Kampfes um „Weltmacht oder Untergang“ . © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Klaus Hildebrand

Ohne der naiven Vorstellung anzuhängen, nationalsozialistische Außenpo­ litik im Sinne eines „Fahrplans einer Welteroberung“ zu interpretieren und alle, z. Τ. ja sehr wesentlichen Modifikationen der äußeren Politik und Kriegführung ins Kalkül gezogen, ja, ohne zu übersehen, daß die Reali­ sierung der außen- und rassenpolitischen Vorstellungen Hitlers eben jene Be­ dingungen freisetzte, die zur Zerstörung der nationalsozialistischen Diktatur führten und wohl wissend, daß auch diese Alternative konstitutiv in jenes „Programm“ des „Alles oder Nichts“ gehörte, kann vorläufig festgestellt werden, daß Hitlers Politik prinzipiell zu keiner Phase von ihren konstanten Ideen abrückte, weil nicht Überlegungen von der Erhaltung eines gesellschaft­ lichen Systems oder der Stabilisierung einer etablierten Herrschaft die Gedan­ kenbildung des Diktators entscheidend bestimmten. Im Gegenteil: Ihre Zer­ störung bzw. qualitative Veränderung waren die Voraussetzung für jene krie­ gerische Expansion bzw. gingen mit deren Vorbereitung und Verwirklichung einher, die nicht objektlos disponiert war, sondern zum Ziel rassisch geprägter Eroberung und Herrschaft in globalem Ausmaß führen sollte.

Anmerkungen 1 E. Krippendorff, Ist Außenpolitik Außenpolitik? PVS 4. 1963, 243 ff. — Die folgenden Überlegungen wurden im Rahmen einer vom Deutschen Historischen In­ stitut in Rom vom 21.—24. 6. 1973 veranstalteten Tagung über die faschistische und nationalsozialistische Außenpolitik vorgetragen. Der Text ist leicht erweitert und durch Anmerkungen ergänzt worden, die sich jedoch allein auf den Beleg angeführter Zitate beschränken. Ausführliche Verweise in meinem Aufsatz: Hitlers Ort in der Geschichte des preußisch-deutschen Nationalstaates, HZ 217. 1973, 584—632. 2 W. Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, München 1970, 16. 3 H. A. Turner, Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhält­ nis zwischen Nationalsozialismus u. Wirtschaft, Göttingen 1972, 32. 4 W. Treue, Das Dritte Reich u. die Westmächte auf dem Balkan. Zur Struktur der Außenhandelspolitik Deutschlands, Großbritanniens u. Frankreichs 1933—1939, VfZ 1. 1953, 53, Anm. 16, zit. nach Th. Vogelsang, Die nationalsozialistische Zeit. Deutschland 1933—1939, Frankfurt 1967, 75 f. 5 Ebd., 76. K. D. Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 19724, 364. 6 H. A. Winkler, Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Pro­ bleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972, 36. 7 A. Kuhn, Das faschistische Herrschaftssystem u. die moderne Gesellschaft, Ham­ burg 1973, 31. 8 T. Mason, Der Primat der Politik — Politik u. Wirtschaft im Nationalsozialis­ mus, Das Argument 8. 1966, 492. 9 H.-U. Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871—1918. Studien zur deutschen Sozial- u. Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, 161. 10 Ebd. 11 K. D. Bracher u. a., Die nationalsozialistische Machtergreifung, 1933/34, Köln 19602, 223. 12 H. A. Turner, Fascism and Modernization, World Politics 24. 1972, 558 (dt. in: ders., Faschismus).

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Innenpolitische Antriebskräfte

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Ebd. W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H. Böhme Hg., Probleme der Reichsgründungszeit 1848—1879, Köln 19732, 473. 15 Zit. bei Vogelsang, 73. 16 Die folgenden Ausführungen knüpfen an Überlegungen eines Vortrages von Arno Mayer über „Gesellschaftliche Ursachen europäischer Kriege seit 1870“ an, der am 22. 5. 1973 im Rahmen einer Veranstaltung der Fakultät für Geschichtswissen­ schaft der Universität Bielefeld gehalten worden ist. 17 H. Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, 18. 18 M. Broszat, Soziale Motivation u. Führerbindung des Nationalsozialismus, VfZ 18. 1970, 409. 19 H. Mommsen in einer Rezension von H.-A. Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, Frankfurt 1968, Militärgeschichtliche Mitteilungen 1970, 1, 183. 20 A. Hillgruber, Die „Endlösung“ u. das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, VfZ 20. 1972, 133 ff. 21 H. Mommsen, Nationalsozialismus, in: Sowjetsystem u. Demokratische Gesell­ schaft, IV, Freibure 1971, 702. 22 Mommsen, Rez. 183. 23 J . Fest, Vorwort zu: A. Hitler, Gesichter eines Diktators, Hg. J . v. Lang, Hamburg 1968, 15. J4 A. Hitler, Mein Kampf, München 1941, 433. 25 Th. Schieder, Das Deutsche Reich in seinen nationalen u. universalen Bezie­ hungen 1871—1945, in: Th. Schieder u, E. Deuerlein Hg., Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970, 446. 26 W. J . Mommsen, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem, Jahrbuch der Universität Düsseldorf 1970/71, 426. 27 R. Bollmus, Das Amt Rosenberg u. seine Gegner, Stuttgart 1970, 247. 28 U. D. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, 360. 13

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Anhang 1. Verzeichnis der Veröffentlichungen von Hans Rosenberg I. Bücher

1. Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660 — 1815, C ambridge/Mass. 1958, 1966, 1968; Paperback: Boston 1968. 2. Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972 (ent­ hält III, 15, 16, 21, 23, 24). 3. Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. 4. Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus, München 1933. 5. Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969 (enthält III, 10, 13, 14). 6. Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands, 1858—1866, 2 Bde, Mün­ chen 1935; Neudruck Aalen demn. 7. Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859, Stuttgart 1934; Neudruck: Göt­ tingen 1974. II. Editionen

8. Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms, Stuttgart, 1930; Neudruck 1966. 9. Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 19272. III. Aufsätze

10. Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: H. Rosenberg, Probleme der deutschen Soziakeschichte, Frankfurt 1969, 81—147. 11. Die zoll- und handelspolitischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskri­ sis 1857—1859, Weltwirtschaftliches Archiv 38. 1933, 368—83. 12. Political and Social C onsequences of the Great Depression of 1873—1896 in C entral Europe, Economic History Review 13. 1943, 58—73. 13. Die Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Festschrift für Hans Herzfeld, Berlin 1958, 459—86. Überarbeitet als: Die Pseudode­ mokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: 1. Moderne Deutsche So­ zialgeschichte, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1966 (19734), 287—308, 519— 23; 2. Η. Rosenberg: Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 7—49.

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Veröffentlichungen von Hans Rosenberg

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14. Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: H. Rosen­ berg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 51—80 (überarbeitete deutsche Fassung von III. 19). 15. Gervinus und die Deutsche Republik, Die Gesellschaft 6./II. 1929, 119— 36; auch in: H. Rosenberg, Politische Denkströmungen im deutschen Vor­ märz, Göttinnen 1972, 115—27. 16. Zur Geschichte der Hegelauffassung, in: H. Rosenberg Hg., R. Haym, Hegel und seine Zeit, Leipzig 19272, 510—50; auch in: H. Rosenberg, Po­ litische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, 69— 96. 17. Hegel, in: P. R. Rhoden Hg., Menschen, die Geschichte machten, III, Wien 1931, 134—139. 18. Honoratiorenpolitiker und großdeutsche Sammlungsbestrebungen im Reichsgründungsjahrzehnt, Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutsch­ lands 19. 1970, 155—233. 19. The Economic Impact of Imperial Germany: Agricultural Policy, Jour­ nal of Economic History 3. 1943, Suppl., 101—07 (überarbeitete deutsche Fassung: III. 14). 20. Die Maximen von Bismarcks innerer Politik, Preußische Jahrbücher 202. 1925, 193—218. 21. Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, Hi­ storische Zeitschrift 141. 1930, 497—541; auch in: H. Rosenberg, Politi­ sche Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, 18—50. 22. The Rise of the Junkers in Brandenburg-Prussia, 1410—1653, American Historical Review 49. 1943/44, 1—22, 228—42; selbständiger Sonder­ druck: Indianapolis o. J. 23. Arnold Ruge und die Hallischen Jahrbücher, Archiv für Kulturgeschichte 20. 1930, 281—308; auch in: H. Rosenberg, Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, 97—114. 24. Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur­ wissenschaft und Geistesgeschichte 7. 1929, 560—86; auch in: H. Rosen­ berg, Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, 51—68. 25. The Struggle for a German-Austrian C ustoms Union, 1815—1939, The Slavonic and East European Review 14. 1936, 332—42. 26. Wirtschaftskonjunktur, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, 1873— 1896, in: Moderne Deutsche Sozialgeschichte, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1966 (19734), 225—53, 504—10.

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2. Autorenverzeichnis mit alphabetischem Inhaltsverzeichnis Eugene N. Anderson, Jg. 1900; Studium der Geschichte; Prof. Emeritus, Uni­ versity of C alifornia, Los Angeles/USA. Veröffentlichungen: Nationalism and the C ultural C risis in Prussia 1806—1815, 1939; Political and Social Conflict in Prussia, 1858—1864, 1954; mit P. R. Anderson, Political Insti­ tutions and Social C hange in Continental Europe in the 19th Century, 1967. Nr. 32: mit P. R. Anderson, Thomas Mann's „Dr. Faustus“ and Social Biography. Pauline R. Anderson, Jg. 1903; Studium der Geschichte. Veröffentlichungen: Background of Anti-English Feeling in Germany, 1890—1902, 1939; mit Ε. Ν. Anderson, Political Institutions and Social Change in Continental Europe in the 19th Century, 1967. Nr. 32: mit Ε. Ν. Anderson, Thomas Mann's „Dr. Faustus“ and Social Biography.

Shulamit Angel-Volkov, Jg. 1942; Studium der G eschichte; Lecturer, De­ partment of History, Tel-Aviv University; Mitglied des Instituts für Deutsche Geschichte, Tel-Aviv University, Tel-Aviv/Israel. Nr. 21: The Social and Political Function of Late 19th C entury AntiSemitism: The Case of the Small Handicraft Masters.

Jürgen Bergmann, Jg. 1936; Studium der Geschichte u. Germanistik; Habili­ tationsstipendiat der DFG in Berlin. Veröffentlichungen: Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, Berlin 1973; Auf­ sätze zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Nr. 16: mit R. Spree, Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirt­ schaft 1840—1864. Robert M, Bigler, Jg. 1923; Studium der Geschichte; C hairman u. Associate Prof., Department of Political Science, University of Nevada, Las Vegas/ USA. Veröffentlichungen: The Politics of German Protestantism. The Rise of the Protestant C hurch Elite in Prussia 1815—1848, Berkeley 1972; Auf­ sätze zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Nr. 10: The Social Status and Political Role of the Protestant C lergy in Pre-March Prussia. Dirk Blasius, Jg. 1941; Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte; Prof., Gesamthochschule Essen. Veröffentlichungen: Aufsätze über Lorenz v. Stein sowie Probleme der Sozial- u. Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhun­ derts. Nr. 8: Der Kampf um die Geschworenengerichte im Vormärz. Helmut Böhme, Jg. 1936; Studium der Geschichte, Germanistik und Volks­ wirtschaftslehre; Präsident der TH Darmstadt, Prof. für Mittlere und

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Neuere Geschichte. Veröffentlichungen: Deutschlands Weg zur Großmacht 1848—1881, Köln (1966) 19723; Hamburg und Frankfurt, Frankfurt 1968; Prolegomena zu einer deutschen Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Frank­ furt 1968 u. ö.; Hg. von Sammelwerken; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 22: Bankenkonzentration und Schwerindustrie, 1873—1896. Bemerkun­ gen zum Problem des „Organisierten Kapitalismus“ . Willerd R. Fann, Jg. 1932; Studium der Geschichte; Assistant Prof. of His­ tory, Louisiana State University, New Orleans/USA. Nr. 6: The Rise of the Prussian Ministry, 1808—1827. Gerald D. Feldman, Jg. 1937; Studium der Geschichte; Prof. of History, University of C alifornia, Berkeley/USA. Veröffentlichungen: Army, Indus­ try, and Labor in Germany, 1914—1918, Princeton 1966; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nr. 30: The C ollapse of the Steel Works Association 1912—1919. A C ase Study in the Operation of German „C ollectivist C apitalism“ . Dieter Groh, Jg. 1932; Studium der Geschichte, Philosophie, Slawistik, Jura; Prof., Universität Heidelberg. Veröffentlichungen: Rußland u. das Selbst­ verständnis Europas, Neuwied 1961; mit W. C onze, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966; Negative Integration u. revo­ lutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des 1. Weltkrieges, Berlin 1973; Überlegungen zu einer kritischen Geschichts­ wissenschaft in emanzipatorischer Absicht, Stuttgart 1973; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts sowie zu theoretischen Fragen. Nr. 18: Revolutionsstrategie und Wirtschaftskonjunktur. Klaus Hildebrand, Jg. 1941; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft u. Germanistik; Prof., Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Vom Reich zum Weltreich. Hitler. NSDAP u. koloniale Frage 1919—1945, München 1969; Bethmann Hollweg — der Kanzler ohne Eigenschaften? Düsseldorf 19702; Deutsche Außenpolitik 1933—1945. Kalkül oder Dogma? Stuttgart 19732; engl. The Foreign Policy of the Third Reich, London 1973; Auf­ sätze zur deutschen u. englischen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 33: Die innenpolitischen Antriebskräfte der nationalsozialistischen Außenpolitik. Stefi Jersch-Wenzel, Jg. 1937; Studium der Geschichte u. Germanistik; Habi­ Htationsstipendiatin der DFG in Berlin. Veröffentlichungen: Jüdische Bür­ ger u. kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 1808—1848, Berlin 1967; Hg., Das Leinenhaus Grünfeld, Berlin 1967; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Nr. 19: Die Lage von Minderheiten als Indiz für den Stand der Emanzi­ pation einer Gesellschaft. Hartmut Kaelble, Jg. 1940; Studium der Geschichte, Soziologie, des Öffentl. Rechts; Prof. für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Freie Universität Berlin. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Veröffentlichungen: Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft, Berlin 1967; Berliner Unternehmer während der frühen In­ dustrialisierung, Berlin 1972; Aufsätze zur deutschen u. amerikanischen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 27: Sozialer Aufstieg in USA und in Deutschland 1900—1960. Ein vergleichender Forschungsbericht. Jürgen Kocka, Jg. 1941; Studium der Geschichte u. Politischen Wissenschaft; o. Prof. für Allg. Geschichte u. b. B. der Sozialgeschichte, Universität Bie­ lefeld. Veröffentlichungen: Unternehmensverwaltung u. Angestellenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus u. Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, Klassenge­ sellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918, Göttingen 1973; Mithg. der „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft“; Aufsätze zur deutschen u. amerikanischen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts sowie zu theoretischen Fragen. Nr. 12: Preußischer Staat und Modernisierung im Vormärz: Marxistisch­ leninistische Interpretation und ihre Probleme. Annette Leppert-Fögen, Jg. 1943; Studium der Soziologie u. Volkswirtschafts­ lehre; Wiss. Assistentin, Universität Erlangen/Nürnberg. Veröffentlichun­ gen: Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte u. Ideologie des Klein­ bürgertums, Frankfurt 1974; Aufsätze zu theoretischen Fragen. Nr. 1: mit H. Medick, Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Millar of Glasgow, 1755—1801. Helen P. Liebel-Weckowicz, Jg. 1921; Studium der Geschichte; Prof. of History University of Alberta, Edmonton/Kanada; Veröffentlichungen: Enlightened Despotism versus Enlightened Bureaucracy in Baden, 1750—1792, Phila­ delphia 1965; Aufsätze zur europäischen Geschichte des 17.—19. Jahrhun­ derts. Nr. 3: C ount Karl v. Zinzendorf and the Liberal Revolt against Joseph's II. Economic Reforms, 1783—1790. Peter Lundgreen, Jg. 1936; Studium der Geschichte u. Germanistik; Assistenz­ prof., Freie Universität Berlin. Veröffentlichungen: Die englische Appease­ ment-Politik bis zum Münchener Abkommen, Berlin 1969; Bildung u. Wirt­ schaftswachstum im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973; Aufsätze zur Sozialgeschichte der Bildung. Nr. 5: Gegensatz und Verschmelzung von „alter“ und „neuer“ Bürokratie im Ancien Régime: Ein Vergleich von Frankreich und Preußen. Frederick D. Marquardt, Jg. 1939; Studium der Geschichte; Assistant Prof. of History, Syracuse University, Syracuse/USA. Veröffentlichungen: Auf­ sätze zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Nr. 11: A Working C lass in Berlin in the 1840's? Herbert Matis, Jg. 1941; Studium der Geographie u. Geschichte; o. Prof. für Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Hodischule für Welthandel, Wien/Öster­ reich. Veröffentlichungen: Österreichs Wirtschaft 1848—1913, Berlin 1972; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Hernán C ortés, Göttingen 1967; Aufsätze zur österreichischen Sozial­ u. Wirtschaftsgeschichte im 18. u. 19. Jahrhundert. Nr. 14: Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Österreich 1848— 1918. Hans Medick, Jg. 1939; Studium der Geschichte, Philosophie, Politischen Wis­ senschaft, Soziologie; Wiss. Referent, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. Veröffentlichungen: Naturzustand u. Naturgeschichte der bür­ gerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie u. Sozialwissenschaft bei S. Pufendorf, J . Locke u. A. Smith, Göttingen 1973; Aufsätze zur englischen Geschichte u. zu theo­ retischen Fragen. Nr. 1: mit A. Leppert-Fögen, Frühe Sozialwissenschaft als Ideologie des kleinen Bürgertums: John Millar of Glasgow, 1755—1801. Ηans-Jürgen Puhle, Jg. 1940; Studium der Geschichte, Politischen Wissen­ schaft, Soziologie, Philosophie; Privatdozent, Universität Münster. Ver­ öffentlichungen: Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatis­ mus im Wilhelminischen Reich (1893—1914), Hannover 1966; Politik in Uruguay, ebd. 1968; Tradition u. Reformpolitik in Bolivien, ebd. 1970; Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972; Hg., Perspectivas del Progreso, Santiago 1969; Aufsätze zur deutschen u. amerikanischen Ge­ schichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 28: Aspekte der Agrarpolitik im „Organisierten Kapitalismus“ . Fragen und Probleme vergleichender Forschung. Reinhard Rürup, Jg. 1934; Studium der Geschichte u. Germanistik; Prof. der Neueren Geschichte, Freie Universität Berlin. Veröffentlichungen: J . J . Moser. Pietismus u. Reform, Wiesbaden 1965; Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968; Quellen zur Geschichte der Rätebe­ wegung in Deutschland 1918/19, Bd. I, Leiden 1968 (mit E. Kolb bearbei­ tet); Aufsätze zur deutschen Geschichte des 18.—20. Jahrhunderts. Nr. 20: Kontinuität und Diskontinuität der „Judenfrage“ im 19. Jahrhun­ dert. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus. Klaus Saul, Jg. 1939; Studium der Geschichte u. Literaturwissenschaft; Prof., Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Staat, Industrie u. Arbeiterbe­ wegung im Wilhelminischen Reich 1903—1914, Hamburg 1974; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 25: Staatsintervention und Arbeitskampf im Wilhelminischen Reich, 1904—1914. Gustav Schmidt, Jg. 1938; Studium der Geschichte, Germanistik, Politischen Wissenschaft; Prof., Universität Münster. Veröffentlichungen: Deutscher Historismus u. der Übergang zur parlamentarischen Demokratie (Meinecke­ Troeltsch-Max Weber), Hamburg 1964; Aufsätze zur deutschen u. engli­ schen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 15: Politischer Liberalismus, „Landed Interests“ und Organisierte Ar­ beiterschaft, 1850—1880. Ein deutsch-englischer Vergleich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 42 Sozialgeschichte Heute ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Lawrence Schofer, Jg. 1940; Studium der Geschichte, Assistant Prof. of His­ tory, University of Pennsylvania, Philadelphia/USA. Veröffentlichungen: Aufsätze zur Sozialgeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 24: Modernization, Bureaucratization, and the Study of Labor History: Lessons from Upper Silesia, 1865—1914. Gerbard Schulz, Jg. 1924; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft u. Geographie; o. Prof. für Neuere Geschichte u. Zeitgeschichte. Veröffent­ lichungen: Parteien in der Bundesrepublik, 1955 (mit M. G. Lange u. K. Schütz); Die nationalsozialistische Machtergreifung (1960), 19743 (mit K. D. Bracher u. W. Sauer); Zwischen Demokratie u. Diktatur. Verfassungs­ politik u. Reichsreform, 1963; Die deutschen Ostgebiete, 1967; Revolution u. Friedensschlüsse 1917—1920, 19692, engl. 1972; Das Zeitalter der Gesell­ schaft, 1969; Hg. von Sammelbänden: Was wird aus der Universität? 1969; Geschichte heute, 1973; von Schriftenreihen: Tübinger Schriften zur Sozial- u. Zeitgeschichte, seit 1972; Moderne Geschichte u. Politik, seit 1973. Nr. 4: Deutschland und der preußische Osten. Heterologie und Hegemonie. William H. Sewell, Jg. 1940; Studium der Geschichte; Assistant Prof. of History, University of C hicago, C hicago/USA. Veröffentlichungen: Auf­ sätze zur Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts sowie zu theoretischen Fra­ gen. Nr. 2: Etat, C orps, and Ordre: Some Notes on the Social Vocabulary of the French Old Regime. James J . Sheehan, Jg. 1937; Studium der Geschichte; Prof. of History, North­ western University, Evanston/USA, Veröffentlichungen: The C areer of L. Brentano, C hicago 1966; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts sowie über theoretische Fragen. Nr. 9: Partei, Volk, and Staat: Some Reflexions on the Relationship Be­ tween Liberal Thought and Action in Vormärz. Elaine Glovka Spencer, Jg. 1939; Studium der Geschichte; Assistant Prof., Northern Illinois University, DeKalb/USA. Nr. 23: Business, Bureaucrats, and Social C ontrol in the Ruhr, 1896—1914. Reinhard Spree, Jg. 1941; Studium der Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Wirtschafts- u. Sozialgeschichte; Wiss. Mitarbeiter, Institut für Wirtschafts­ u. Sozialgeschichte, Freie Universität, Berlin. Nr. 16: mit J . Bergmann, Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840—1864. Dirk Stegmann, Jg. 1941; Studium der Geschichte u. Germanistik; Habilita­ tionsstipendiat der DFG in Hamburg. Veröffentlichungen: Die Erben Bis­ marcks. Sammlungspolitik 1897—1918, Köln 1970; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 3 1 : Die Silverberg-Kontroverse 1926. Unternehmerpolitik zwischen Re­ form und Restauration. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Michael Stürmer, Jg. 1938; Studium der Geschichte u. Sozialwissenschaften; o. Prof. für Neuere u. Mittlere Geschichte, Universität Erlangen. Veröffent­ lichungen: Koalition u. Opposition in der Weimarer Republik; Hg., Das kaiserliche Deutschland. Gesellschaft u. Politik 1871—1918, Düsseldorf 1970; Hg., Bismarck u. die preußisch-deutsche Politik, München 19732; Aufsätze zur deutschen Geschichte im 19. u. 20. Jahrhundert. Nr. 13: 1848 in der deutschen Geschichte. Hans-Ulrich Wehler, Jg. 1931; Studium der Geschichte u. Soziologie; o. Prof. für Allg. Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, Universität Bielefeld. Ver­ öffentlichungen: Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723; Das Deutsche Kaiserreich, Göttingen 1973; Krisenherde des Kaiserreichs, Göttingen 1970; Sozialdemokratie u. Nationalstaat, Göttingen 1971 2 ; Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, 1865—1900, Göttingen 1974; Hg. von Sam­ melwerken, u. a. der Historischen Reihe der „Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek“ ; Mithg. der „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft“ ; Aufsätze zur deutschen, polnischen u. amerikanischen Geschichte sowie zu theoretischen Fragen. Vorwort Heinrich August Winkler, Jg. 1938; Studium der Geschichte, Politik, des Öffentlichen Rechts; o. Prof. für Neuere u. Neueste Geschichte, Universität Freiburg. Veröffentlichungen: Preußischer Liberalismus u. deutscher Na­ tionalstaat, Tübingen 1964; Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialis­ mus, Köln 1972; Pluralismus oder Protektionismus? Wiesbaden 1972; Hg., Die große Krise in Amerika, Göttingen 1973; Hg., Organisierter Kapitalis­ mus, Göttingen 1974; Aufsätze zur deutschen u. vergleichenden Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Nr. 17: Zum Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Revolution bei Marx und Engels. Peter-Christian Witt, Jg. 1943; Studium der Geschichte u. Politischen Wis­ senschaft; Research Fellow, St. Antony's C ollege, Oxford/Großbritannien. Veröffentlichungen: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1903—1913, Lübeck 1970; F. Ebert, 1871—1925, Bonn 1971; Aufsätze zur deutschen Geschichte im 19. u. 20. Jahrhundert. Nr. 29: Finanzpolitik und sozialer Wandel. Wachstum und Funktion der Staatsausgraben in Deutschland, 1871—1933. Gilbert Ziebura, Jg. 1924; Studium der Geschichte, Allg. Staatslehre u. Ro­ manistik; o. Prof. für Politische Wissenschaft, Freie Universität Berlin. Veröffentlichungen: Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frank­ reichs, 1911—1914, Berlin 1955; Das französische Regierungssystem. Leit­ faden von F. Goguel (Übersetzung u. Vorwort von G. Z.), Köln 1956/57; Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, Köln 1960; Leon Blum, Theorie u. Praxis einer sozialistischen Politik, Berlin 1963; franz. Paris 1967; Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 — Mythen u. Realitäten, Pfullingen 1970; Hg. mit G. A. Ritter, Festgabe für E. Fraen42*

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kel, Berlin 1963; Hg., Nationale Souveränität oder übernationale Inte­ gration? Berlin 1966; Hg. mit R. Löwenthal, Beiträge zur auswärtigen u. internationalen Politik, Berlin 1966 ff., bisher 6 Bde,; Hg., Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre. Zur Theorie u. Vergleichung politischer Parteien, Darmstadt 1969; Hg. mit E. C zempiel, Studienbücher zur auswärtigen und internationalen Politik, Düsseldorf 1971 ff., bisher 4 Bde,; Aufsätze zur deutschen u. französischen Geschichte im 19. u. 20. Jahrhundert. Nr. 26: Deutscher und Französischer Hochimperialismus vor 1914. Versuch einer vergleichenden Theorie. Friedrich Zunkel, Jg. 1925; Studium der Geschichte, Germanistik, Geographie, Volkswirtschaft; Universitätsdozent, Universität Tübingen. Veröffentlichun­ gen: Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834—1879; Aufsätze zur deutschen Sozialgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert. Nr. 7: Die Rolle der Bergbaubürokratie beim industriellen Ausbau des Ruhrgebiets, 1815—1848.

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3. Abkürzungsverzeichnis A ADGB AEG AER AF AG AGS AHR AHZ AKZ ALR AR ASR BA Ba BBC BIKH BRD BT BW BzGSSE CEH DDP DFG DHZ Diss. DNVP DV DVLG DZA EHR EKZ Fs. GBAG GdA GHH

= Archiv = Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund = Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft = American Economic Review = Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung = Aktiengesellschaft = Archiv für die Geschichte des Sozialismus = American Historical Review = Allgemeine Handwerker-Zeitung = Allgemeine Kirchen-Zeitung = Allgemeines Landrecht = Aufsichtsrat = American Sociological Review = Bundesarchiv = Bergamt = Business Cycle C urve = Berginspektion Königshütte = Bundesrepublik Deutschland = Berliner Tag = Briefwechsel = Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen = Central European History = Deutsche Demokratische Partei = Deutsche Forschungsgemeinschaft = Deutsche Handwerker-Zeitung = Dissertation = Deutsch-Nationale Volkspartei = Deutsche Vierteljahrsschrift = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte = Deutsches Zentralarchiv (I, Potsdam; II, Merseburg) = Economic History Review = Evangelische Kirchen-Zeitung = Festschrift = Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesellschaft = Gewerkschaft der Angestellten = Gutehoffnungshütte

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GLA GStA GWU HA/GHH HHStA HJ HK HO HStA HZ IAA IG IISG IRSH JbW JEH JHI JMH JPE JRGB KV2 KZ KZS LA Leg. LRA MdI MdR MEW MfHG MIDG MÖSTA NBER Nl. Ν. Y. OBa Ρ PA PaP PAP PJ PRO PSQ

Abkürzungsverzeichnis

= Generallandesarchiv = Geheimes Staatsarchiv Berlin = Geschichte in Wissenschaft und Unterricht = Historisches Archiv der Gutehoffnungshütte = Haus-, Hof und Staatsarchiv, Wien = Historical Journal = Handelskammer = Home Office = Hauptstaatsarchiv = Historische Zeitschrift = Internationale Arbeiter-Association = Interessengemeinschaft = Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam = International Review of Social History = Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte = Journal of Economic History = Journal of the History of Ideas = Journal of Modern History = Journal of Political Economy = Jahresberichte der Königlichen Regierungs- und Gewerberäte und Bergbehörden = Kölnische Volkszeitung = Kölnische Zeitung = Kölner Zeitschrift für Soziologie = Landesarchiv = Legislaturperiode = Landratsamt = Minister(ium) des Innern = Mitglied des Reichstags = Marx-Engels-Werke = Ministerium für Handel und Gewerbe = Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte = Mitteilungen aus dem Österreichischen Staatsarchiv = National Bureau of Economic Research = Nachlaß = New York = Oberbergamt Dortmund = Potsdam = Politisches Archiv, Auswärtiges Amt Bonn = Past and Present = Polnisches Kreisarchiv = Preußische Jahresbücher = Public Records Office, London = Political Science Quarterly © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

Abkürzungsverzeichnis PVS RdI Rep RGG RJA RK RoP RT RW RWB RWE RWZ SDAP SDG Sess. SL SP StA StAD StAL StAM StM USDA VdEStI VDMA

VfZ

VgDA VSWG WAP Ζ ZBHS ZfB ZfG ZfGS ZGA ZGOR ZOBH ZVHG

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Politische Vierteljahrschrift Reichsamt des Innern Repositur Religion in Geschichte und Gegenwart Reichsjustizamt Reichskanzlei Review of Politics Reichstag Reichswirtschaftsministerium Rheinisch-Westfälische Biographien Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk Rheinisch-Westfälische Zeitung Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft Session Staatslexikon Soziale Praxis Staatsarchiv Staatsarchiv Düsseldorf Staatliches Archivlager Staatsarchiv Münster Staatsministerium United States Department of Agriculture Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Verein Deutscher Maschinenbauanstalten Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Vierteljahrsschrift für Sozial u. Wirtschaftsgeschichte Polnisches Provinzarchiv Zentrum Zeitschrift für das Berg-, Hütten- u. Salinenwesen Zeitschrift für Bergrecht Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft Zentralarbeitsgemeinschaft Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift des Oberschlesischen Berg- u. Hüttenmännischen Vereins Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte

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4. Personenregister Frau Ruth Dietrich möchte ich für die Erarbeitung des Registers und ihre stete Hilfe bei der Drucklegung danken. H.-U. Wehler 407, 428, 433 f., 452 f., 467, 470, 501 Abegglen, J . C. 533 bis 503, 512, 515, 551, 640 f., 644 Abel, W. 14 Blanckenburg, M. 270 Adler, V. 261 Blasius, D. 148 Adorno, T. 619, 632 Blau, P. M. 527 Ahlwardt, H. 427 v. Bodelschwingh, E. 141 Albrecht Achilles, Kurfürst 88 Bodin, J . 105 Alexander I. 87 v. Böhm-Bawerk, E. 257 v. Altenstein, K. 124 f., 132, 176 Böhme, H. 266 f., 269, 275, 432, 505 Anaxagoras 340 Bölling 133 f., 138 Anderson, Ε. Ν. 10, 611 Bollmus, R. 647 Anderson, P. R. 10, 611 Bolte, K.M. 528 Angel-Volkov, S. 416 Bonn, M. J . 596 v. Arnim, B. 234 v. Born, L. 436 Aubin, H. 11 Born, S. 196, 199, 203 v. Auersperg, A. 252 Borsig, E. 198, 203, 600, 602 Bosher, J . F. 109, 115 Babeuf, G . 341 v. Boyen, H. 121 v. Bach, A. 249 Bracher, K. D. 639 f. Bagehot, W. 271, 278 Brandi 606 Bakunin, M. 339, 343 Brassert 133, 138 Baiser, F. 165, 192 f., 205 Barraclough, G . 86 Brauns, H. 604 Baudeau, A. 70 de Brienne, L. 115 Bebel, A. 356-61 Bright, J . 268 f., 278 v. Belcredi, R. 251 Brill 203 f. Bendix, R. 525 Brinton, C . 326 v. Bennigsen, R. 270 Broszat, M. 637, 645-47 Berger, K. 134, 252 v. Bruck, K. L. 246, 248, 254 Bergmann, J . 289 Brüning, H. 570 v. Berlepsch, F. A. 481 Bruhn, B. 582, 586 Bernstein, E. 192, 344, 356, 358, 361 Brunner, O. 328 v. Bethmann Hollweg, T. 515 f., 638 Bücher, K. 602 Beukenberg, W. 580, 583 f. Bueck, Η. Α. 490, 594 v. Beust, F. F. 138, 140, 142 v. Bülow, B. 488-90, 512, 515, 640 Beutel 427 v. Bülow-C ummerow, E. 93 Beuth, C. P. W. 216 Bullitt, W. 643 v. Beyme, K. F. 121 v. Buol-Schauenstein, J . R. 249 Biedermann, K. 167 Buonarotti, P. M. 341 Biermann, B. 533 Burckhardt, J . 234 Biermann, W. 192 Bigler, R. M. 175 Cairncross, Α. Κ. 498 Bisky 202-4 v. Caprivi, L. 100, 503-5, 513, 515, 551 v. Bismarck, Ο. 86, 99-101, 150, 163, 228, Chamberlain, N. 642, 646 231, 239 f., 243, 268-72, 280-82, 333, Chotek, R. 79, 82

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Personenregister Clemm, C. 605 Cobden, R. 281 v. Cocceji, S. 109, 111 v. Coels, F. 461 Conze, W. 167, 191-93, 205, 212 Craig, J . 24 Crockett, Η. J . 527 Crowe, E. 508 Daheim, H. J . 528 f. Dahlmann, F. 168 Dahrendorf, R. 525 Darwin, C. 359, 514, 551 v. Delbrück, C . 481 Delbrück, Η. 488 Delcassé, Th. 506 v. Derschau 136 Deutscher, I. 326 Disraeli, B. 238, 269, 274 Dohm 390 v. Dohna, F. F. A. 120, 122 Droz, J . 191 Duisberg, C . 440, 584, 598, 602 Duncan, O. D. 527 Du Pont de Nemours, P. S. 70 Ebert, F. 602, 605 Eger, F. 76-80, 82 Eichholtz, D. 220 Eichhorn, A. F. 178 Eliot, T. S. 162 Eltzbacher, J . 435 f. Engels, F. 166, 218-20, 229, 236, 326 bis 333, 337--40, 342-46, 355, 356-61 Erikson, Ε. Η. 623 Erzberger, M. 588 Falkson, F. 163 Fann, W. R. 119 v. Fechenbach, F. K. 422 f. Feldman, G . D. 575 Ferguson, A. 22 v. Feuerbach, A. 152, 158 Fischer, W. 212 v. Flottwell, E. 376 Fontane, T. 96 Forbonnais, F. V. 70 Fox, C. J . 23 Franz, Erzherzog 81 f. Franz Joseph, Kaiser 245-49, 254 Freytag, G . 370 Friedensburg, W. 192 Friedjung, H. 261 Friedrich II. 632 Friedrich Wilhelm II. 119, 180

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Friedrich Wilhelm III. 119, 121, 137 Friedrich Wilhelm IV. 376 Frowein, A. 604 Fuchs, K. 132 Funke, C. 439, 456 Funke, F. 435 Furetière, A. 51 v. Gagern, H. 163 Gall, L. 266, 275 Gans, E. 86 de Gaulle, C . 333 v. Gayl, W. 599 v. Gerlach, H. 422 v. Gerlach, O. 176 f., 179, 184 Gerstein, K. 457 Gervinus, G. G. 10 Gesenius, W. 183 Giskra 248, 250-52 Gladstone, W. E. 269, 272, 274 f., 278 bis 280 Glagau, O. 403, 419 f. Godeffroy, G. 436 Göring, Η. 638, 643 v. G oethe, J . W. 234, 617 v. G oluchowski, A. 249 Gouldner, A. 469 Grillo, F. 434 f. Grillparzer, F. 248 Groebler, A. 600 Groh, D. 354 v. G rolmann, K. W. G. 131 Grader, V. 114 Grün, K. 86 Grünne 249 Guericke, Η. Ε. F. 183 Gurland, A. 235 Gutmann, E. 436 Hätzel 203 Hahn 183, 185 Hallgarten, G. W. F. 517 Hamerow, T. 191 f., 229 Haniel, F. 135, 139, 439 Hansemann, D. 166, 434 v. Hardenberg, Κ. Α. 119-26, 131, 217 Harkort, F. 134 Harrington, J . 23 Harrison, R. 278 Hase, K. 183 Hasner 252 Hasslacher, J . 586, 588-90, 605 v. Hatzfeld, G raf 73 f. Haugen, G . N. 549

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Personenregister

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Imbusch, H. 604 v. Inama-Sternegg, T. 257

Kaelble, H. 525 Kahnis 185 v. Kalckreuth, E. 604 Kallen, G. 9 v. Kamptz, Κ. Α. 153 v. Kanitz-Podangen, H. 551 v. Kardorff, W. 99 f. Karl I. von England 327 Karl v. Mecklenburg, Herzog 125 Karsten 134, 138 Kaschnitz 78 Kastl, L. 602 v. Kaunitz, W. A. 71 Kautsky, K. 344, 358-60 Keetmann 184 Kehl 605 Kehr, E. 10, 273, 496, 501 Keie, M. H. 638 Kempen 249 Kennedy, J . F. 616 Kerstorf, E. 251 v. Kircheisen 151 f. Kirdorf, E. 437 f., 440-42, 488 f., 577 f., 584, 594 Klee, E. 380 Kleine, E. 441, 459 Kleining, G . 529 f. Klöckner, P. 460, 582, 588, 597 Klönne, C . 441 Kloz 135 Kocka, J . 211 v. Kollowrat, L. 72, 74, 79 Koselleck, R. 211 f., 214 v. Kottwitz, B. 181 Krause 202 f. Krieger, L. 543 Krippendorf, E. 635 Krupp, A. 440, 582 Kruse, F. 455 f. v. Kübeck, K. 246 v. Kügelgen, W. 233 Kuhn, A. 638

Jackson, E. F. 527, 547 Jacoby, J . 164 Jäckel, E. 649 Jäckh, E. 514 Janssen, H. 459 Jarres, K. 599 Jefferson, T. 547 Jersch-Wenzel, St. 365 Joseph II. 69-82 Joslyn, C . S. 533 v. Juraschek, F. 257

Lacy, G. 81 Lammers 604 Landau, J. 435 Langgaßncr, A. 261 Lasker, E. 268 Lassalle, F. 280 Lazarus, Graf 132 Legien, C . 602, 605 Lehmann, W. C . 23 f. Lehr 458 Leipart, Th. 603, 607

Haym, R. 9, 11 Hedemann 199 Hegel, G . W. F. 170, 177, 220, 340 f., 343, 345 Heine, H. 86, 341, 377 v. Heinitz, F. A. 131 Heinrichsbauer, A. 600 Heintzmann 140 f. Heinzen, K. 126 Henderson, W. O. 215 Hengstenberg, E. W. 177, 183-87 Henrici, E. 420 Herbst, E. 248, 251 f., 259 Hertzberg, A. 388 Heubner 185 Hilferding, R. 496, 594, 637 Hildebrand, K. 635 Hillebrand, K. 402 Himmler, H. 644 v. Hindenburg, P. 580, 600 Hintze, O. 14, 90, 105 f., 221 Hitler, A. 15, 270, 614, 616, 622, 629, 636-50 Hobsbawm, E. J . 278, 473 Hobson, J A. 500 v. Hock, F. 246 v. Holstein, F. 357 Holtfrerich, C.-L. 305 Honigmann 142 Hoover, Η. C. 549 Hopkins, H. 616 Horst 605 Howe, R. 271 Hoym, G raf 373 Huerta, V. 507 Hugenberg, A. 605 f. Humann, A. 434 Humann, F. A. 434 v. Humboldt, W. 121, 177

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Personenregister Lenin, W. J . 217—20, 330, 496 Lenski, G. E. 527 Lent, A. 436, 441 Leopold, Erzherzog 71, 81 f. Leppert-Fögen, A. 22 Lepsius, M. R. 427 Leverkühn, A. 611, 614 f. Liebel-Weckowicz, Η. Ρ. 69 Liebermann v. Sonnenberg, M. 420, 422 Lincoln, A. 616, 624 Lipset, S. M. 525 List, F. 217 Löwenthal, R. 326 Loyseau, C. 51, 57 f., 62 f. Ludwig XIV. 56, 77, 631 Ludwig XVI. 70 Lüchow 203 Lücke, F. 186 Lueg, K. 455 Luegger, K. 261 Lütge, F. 212 Lundgreen, P. 104 Luther, M. 176, 179—81, 626 Luxemburg, R. 360 McNary, C . 549 Mandrou, R. 115 Mann, T. 240, 611—25, 627—34 Marcinkowski, K. 376 Marheineke 183 Maria Theresia v. Habsburg 70 f., 73 f. Marquardt, F. D. 191 Marr, W. 403 v. Martin, Κ. Α. 73, 77 Marx, K. 22, 27, 30, 32, 159, 192, 217 bis 220, 229, 236, 271, 309 f., 326—33, 335—46, 354—59, 361, 495 f., 604 Mason, T. 640 Massing, P. W. 388 Mathias, P. 274 Matis, H. 243 Maupeou 115 Mayer, A. 636, 644 f. Mayer, G . 10, 278 Mayer, K. U. 528 f. Medick, H. 22 Mehring, F. 192 Meinecke, F. 9—12, 16, 631 Melanchthon, P. 180 Menger, C. 257 v. Merckel, F. T. 123 v. Metternich, C. L. W. 245 Mevissen, G . 168 Michaelis 203

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v. Mielecki 143 Mill, J . St. 634 Millar, J . 22—39 Miquel, J . 99, 512, 640 de Mirabeau, H. G . 70 Mittermaier, K. J . A. 149 v. Moellendorf, W. 581, 585, 599 v. Mohl, R. 168 v. Molo, W. 617 v. Moltke, H. 357 Mommsen, H. 646 Mommsen, W. J . 647 Monroe, J . 507 Moore, B. 14, 115, 467, 545 Moore, D. C. 278 Mousnier, R. 50, 66, 114 v. Müller, K. A. 12 Müller, T. 581 f. Müller, W. 528 f. Murhard, F. 165 Murray, D. 24 Mussolini, B. 648 Namier, L. 235 Napoleon I. 87—89, 150, 232 f., 374 f., 393 Napoleon III. 271, 332 f. Naumann, F. 95, 258, 514 Necker, J . 69 f., 72, 115 Nicolovius, L. 176, 181 Nietzsche, F. 634 Nitzsch, C. J . 177, 186 Noyes, P. H. 191 f. Nürnberger, R. 340 Nußbaum, H. 512 Obermann, K. 192 Olshausen, J . 183, 185 v. Oppenheim, S., Bankhaus 435, 443 Owen, R. 335 Palm, J . P. 87 Palmerston, H. J . T. 238, 272 Parsons, T. 50, 100 Pattai, R. 261 v. Peez, A. 250, 252 Perkin, H. 274 Pernerstorfer, E. 261 Perrot, F. 420, 442 Pfizer, P. 163, 170 v. d. Pfordten, L. 239 f. Pigou, A. C. 569 Pinner, F. 601 v. Plener, I. 250, 252

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Personenregister

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Pocock, J . G. A. 2 3 - 2 6 v. Posadowsky-Wehner, A. 479—81, 487, 491 de Pretis 253 Pribram, K. 257 Prince-Smith, J . 167, 634 Pross, Η. 334, 533 Puhle, Η. J . 543 Pulzer, P. G. J . 388 Quarck, M. 192 v. Quast, T. 185 Raab, 73 Raabe, W. 370 Rademacher 605 v. Ranke, L. 230, 232 v. Rath, Ε. 441 Rathenau, W. 581 Reichert, J . 587, 602 f., 605 f. Reinhold, P. 604 Reusch, P. 456, 579, 586, 602, 606 f. v. Rheinbaben, G . 454 f. Riehl, W. H. 162 Riesman, D. 535 v. Ribbentrop, J . 643 f. Ritter, G . 15 Robin, R. 50 v. Rochau, L. A. 86 Röchling, L. 581 f. Rogoff, N. 528 Rohrbach, P. 514 v. Roon, A. 270 Roosevelt, F. D. 545, 550, 616 Rosenberg, F. X. 76 Rosenberg, H. 9—19, 105, 114, 164, 180, 191, 218, 221, 243, 226—68, 270, 280, 290, 354, 358, 417, 432 f., 476, 501, 556, 575, 635 Rosenstock-Huessy, E. 328 Rothe, R. 177, 183, 186 Rothschild, Bankhaus 443, 508 v. Rotteck, K. 168 Rousseau, J . J . 345 Rürup, R. 388 Ruge, A. 10 Ruppenthal 157 f. Russel, E. 436 f. Sack, F. S. G. 177 Sack, Κ. Η. 186 Salomonsohn, A. 436 Sandburg, C. 616 Sassulitsch, V. 331

Saul, K. 479 ν. Savigny, F. K. 177 Schacht, H. 638, 641, 643 Schäffle, A. 250, 252, 257 Schieder, W. 192, 277 v. Schleicher, K. 607 Schleiermacher, F. 177, 181, 183, 186 Schlesinger, Α. Μ. 616 v. Schmerling, A. 250—52 Schmidt, G . 266 Schmidt, W. 192 Schmieding, T. 459 Schmieding, W. 458 f. Schmitz, G . 434 v. Schmoller, G . 14, 104 f. Schnabel, F. 212, 239 Schneider, L, B. 23, 26 f. v. Schön, Η. Τ. 123 f., 168, 176 Schönberg, A. 619 v. Schoenerer, G. 261 Schofer, L. 467 v. Schorlemer-Lieser, C . 456 Schröder, H.-J. 641 f. v. Schuckmann, K. 132 Schulz, G. 86 Schumpeter, J . A. 260, 326, 565, 646 v. Schwabach, P. 508 v. Schwarzenberg, F. 249 v. Senfft-Pilsach, E. 184 Sewell, W. H. 49 Sheehan, J . J . 162 v. Siemens, G. 196, 435 f., 598, 6C2 Sieyès., Abbé, E. J . 327 Silverberg, P. 594 f., 601—7 Skene 251 Slawik, J . 472 Smith, A. 22, 27, 71, 74 Sombart, W. 11, 525 v. Sonnenfels, J . 72, 76 Spahn, M. 9 Spenzer, E. G. 452 Spree, R. 289 Springorum, F. 605 Stadelmann, R. 191 f., 228, 232-34 Staiger, E. 612 v. Starhemberg, G. A. 76 Stegerwald, A. 594, 596, 603 Stegmann, D. 594 v. Stein, L. 86, 119 f., 122, 124, 176, 181, 257, 341 vom Stein, H. F. K. 131, 133, 217 Sterling, E. 388 Stern, F. 269

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Personenregister Stinnes, Η. 440 f., 488, 578, 582, 584, 586—88, 590, 597 f. Stinnes, M. 135, 140, 142 Stoecker, A. 403, 421—23, 426 Strasser, G . 607 Strauss, G . F. A. 177, 179 Strayer, J . R. 115 Stresemann, G . 594, 601 Stürmer, M. 228, 266 f., 269 v. Stumm-Halberg, K. 594 Sueß, E. 244, 255 Taussig, F. W. 533 Taylor, A. J . P. 240 Tessendorf, H. 279 v. Thadden, A. 184 Thernstrom, S. 528 v. Thile, L. G. 184 Tholuck, A. 176 f., 183, 185 Thompson, Ε. Ρ. 468 Thyssen, A. 438—41, 577 f., 582, 586, 597 f., 605, 607 Thyssen, F. 606 Tilly, R. 214 v. Tirpitz, A. 516, 640 de Tocqueville, A. 230, 525 v. Treitschke, H. 212, 403 Treue, W. 212 Trimborn, K. 486 Troeltsch, E. 86 Trotzki, L. 330 Tsihaikowsky, P. J. 626 Turgor, A.-R. 70—72, 74 f. Turner, Η. Α. 638, 648 Uhlich, L. 186 Vagts, A. 501, 508 Valentin, V. 192 Varga, E. 496 Veblen, T. 86, 100, 501

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v. Velsen, G . 488 v. Vincke, L. F. 123, 142 Vögler, A. 579, 582—86, 589, 599, 602, 607 Vogelsang, T. 639 Vovelle, M. 65 Wagner, A. 257, 566 Wagner, R. 614 Waltehoff, M. 434 Warburg, M. 588 Warner, W. L. 533 Weber, M. 96, 98, 221, 327, 514 Wegscheider, J . 183 Wehler, H.-U. 266, 270, 275, 432, 501 f., 504, 636, 640 Welcker, T. 149, 168, 170 v. Westarp, K. 604 De Wette 183 Wiedemann, H. 605 Wiedfeldt, Ο. 461, 588 ν. Wieser, F. 257 Wilhelm II. 95, 99, 594 Winkler, Η. Α. 326 Wislicenus, G . A. 187 Wisseil, R. 585, 599 Witt, P.-Ch. 565 Wöllner, J. C . 180 Wolff, Ο. 588 v. Wrangel, F. 204 v. Wülfing 456 Zachariä, K. 170 Ziebura, G. 495 Ziekursch, J . 9 v. Zinzendorf, F. 74 f. v. Zinzendorf, K. 69—82 v. Zinzendorf, L. 70 v. Zinzendorf, N. 70 Zunkel, F. 129, 267, 269 Zunz, L. 372 Zweigert, E. 459, 461

Bayerische Staatsbibliothek München

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5

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Hans Rosenberg Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz 1972. 142 Seiten, Paperback (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 3) „. . . Die Abhandlungen führen in eine historische Landschaft, die immer noch weithin unkartiert ist und in der es Entdeckungen auf Entdeckungen zu machen gibt. Man­ ches in ihr mutet sehr biedermeierlich an, anderes - und mehr - um so moderner: der literarisch-publizistische Bereich, die Rolle einer kritischen Theorie, das Umschlagen von Theologie in Politik, Erkenntnisse und Aporien des Liberalismus als geistiger Haltung. All das und vieles mehr im Detail zu studieren ist eine Aufgabe, die nicht nur zu theoretischer Erkenntnis führen, sondern im weitesten Sinn auch zu politischem Handeln frei machen kann.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung Inhalt: Zur Einführung / Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgär­ libcralismus / Geistige und politische Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts / Zur Geschichte der Hegelauffassung / Arnold Ruge und die „Hallischen Jahrbücher“ / Gervinus und die deutsche Republik. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Demokratie / Verzeichnisse / Anmerkun­ gen / Register

Hans Rosenberg Die Weltwirtschaftskrise 1857-1859 2. Auflage. Mit einem Vorbericht 1974. XXV, 210 Seiten, kart. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1396) Die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren wirtschaftsgeschichtlich eine Speku­ lations- und Gründerzeit großen Stils, in der sich in Europa und Amerika der Durch­ bruch zum Hochkapitalismus vollzog. Dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung folgte die Krise von 1857-1859. Sie war die erste Weltwirtschaftskrise der Geschichte. Hans Rosenberg besdireibt ihren Verlauf, analysiert ihre Ursachen und historischen Voraussetzungen und gibt damit eine Darstellung der europäischen und nordamerika­ nischen Wirtschafts- und Konjunkturentwicklung von 1848-1859. Als sein Buch zum ersten Mal erschien, war es bahnbrechend als Brückenschlag zwischen Geschichte und Sozialwissenschaften, heute ist es ein klassisches Werk der Wirtschaftsgeschichte.

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KRITISCHE STUDIEN ZUR

G E SC H IC H T S W I S S E N SC H A F T

1. Wolfram Fischer · Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industria­ lisierung. Aufsätze — Studien — Vorträge 1972. 547 Seiten 2. Wolfgang Kreutzberger · Studenten und Politik 1918—1933. Der Fall Freiburg im Breisgau 1972. 239 Seiten 3. Hans Rosenberg · Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz 1972. 142 Seiten 4. Rolf Engelsing · Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschich­ ten 1972. 314 Seiten 5. Hans Medick · Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Ge­ sellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichts­ philosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke 1972. 330 Seiten und Adam Smith. 6. Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozial­ geschichte 1929—1939. Mit Beiträgen von Willi Paul Adams, Ellis W. Hawley, Jürgen Kocka, Peter Lösche, Hans-Jürgen Puhle, Heinrich August Winkler, Hellmut Wollmann. Herausgegeben von Heinrich 1973. 243 Seiten August Winkler 7. Helmut Berding · Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im 1973. 160 Seiten Königreich Westfalen 1807—1813 8. Jürgen Kocka · Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918 1973. X, 230 Seiten 9. Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. Mit Beiträ­ gen von Gerald D. Feldman, Gerd Hardach, Jürgen Kocka, C harles S. Maier, Hans Medick, Hans-Jürgen Puhle, Volker Sellin, Hans-Ulrich Wehler, Bernd-Jürgen Wendt, Heinrich August Winkler. Herausgegeben von Heinrich August Winkler 1974. 223 Seiten 10. Hans-Ulrich Wehler Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865—1900. 1974. 426 Seiten 11. Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburts­ tag. Herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler 1974. 669 Seiten 12. Wolfgang Köllmann · Bevölkerung in der industriellen Revolution. Stu­ dien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert. 1974. Etwa 280 Seiten mit zahlreichen Schaubildern 13. Elisabeth Fehrenbach · Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Eine Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten 1974. Etwa 250 Seiten VANDENHOECK & RUPREC HT IN GÖTTINGEN U N D ZURIC H © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35962-5