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Rechtsvergleichende Argumentation: Phänomenologie der Veranderung im rechtlichen Diskurs 9783161523113, 9783161522345

Welche Bedeutung haben rechtsvergleichende Argumente bei der Anwendung nationalen Rechts? Diese Frage beschäftigt die re

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German Pages 214 [216] Year 2012

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Zum Geleit
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation
A. Beispiele aus der Praxis
B. Gegenstand der Untersuchung
C. Zielsetzung der Arbeit
D. Stand der Forschung
E. Programm des Entwurfs
I. Probleme der Untersuchung
II. Gang der Darstellung
III. Methode der Untersuchung
Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens
A. Grenzdekonstruktion
I. Die logische Grenzziehung des Positivismus
II. Die Transformation der positivistischen Logik
B. Dekonstruktion
I. Zeichen
1. Différance
2. Spur(en)
3. Wiederholung
II. Bedeutung
1. Zeichen und Bedeutung
2. Instanzen von Bedeutung
3. Bedeutung im dekonstruktiven Diskurs
III. Holismus, System, Kontinuität
1. Holismus
2. System
3. Kontinuität
C. Die Dekonstruktion des eigenen Rechts
I. Dekonstruktion des Rechts?
II. Recht als rekonstruktive Zeichenpraxis
1. Normatives Sein
2. Flüchtige Instanzen
3. Dynamische Struktur
4. Recht als Rechtskontext
5. Die rechtliche Entscheidung
6. Rechtsgeltung
III. Das andere Recht im eigenen
1. Rechtskontext – die Basis der impliziten Normativität
2. Zirkulationen – der prinzipielle Zusammenhang der Rechtskontexte
3. Polykontexturalität – die Pluralität der rechtlichen Kontexte
D. Blick zurück und nach vorne
I. Universelles Rechtsdenken ohne universelles Recht
II. Symmetrie, Autonomie und Identität von Rechtskontexten
III. Das Problem des Automatismus
Teil 2: Strukturen der Argumentation
A. Grenzrekonstruktion
B. Strukturen der juristischen Argumentation
I. Ausgangspunkte
II. Grundlagen der philosophischen Argumentationstheorie
1. Übergang – Die inferentielle Struktur bei Toulmin
2. Prämissen – Die argumentative Geltung bei Wohlrapp
a) Pragmatik, Theorie, Episteme
b) These, Dialog, Transsubjektivität
c) Geltung, Relativität, Offenheit
3. Argumentation und Argument
III. Reformulierungen der juristischen Argumentation
1. Die Reformulierungen im Überblick
2. Die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation
3. Die Inferenzstruktur der juristischen Begründung
4. Die argumentative Geltung der juristischen Begründung
5. Argumentformen des eigenen Rechts
IV. Pragrammatologie der juristischen Argumentation
C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation
I. Transsubjektivität
II. Inferentielle Funktion
III. Kontextverflechtung
1. Die Kontexte
2. Die Verflechtung
3. Die Prinzipien der Kontextverflechtung
D. Blick zurück und nach vorne
I. Illustrationen
II. Die Rationalität rechtsvergleichenden Argumentierens
III. Das Problem des Ethnozentrismus
Teil 3: Strukturen der Methode
A. Grenzüberschreitung
B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung
I. Funktionale Methode
II. Die Kritik
III. Methodentheorie nach dem cultural turn
C. Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation
I. Pragrammatologie der Vergleichung
1. Rechtskontextvergleichung als paradoxe Spiegelung
2. Pragmatistische oder hermeneutische Verknappung?
II. Strukturen der Vergleichung
1. Grundriss der Vergleichungsstruktur
2. Dialogische Rechtsvergleichung
a) Kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben
b) Die Richterin und ihr Argumentationsvorhaben
3. Trialogische Rechtsvergleichung
a) Instanzen
b) Diskussion
III. Wann beginnt Vergleichung?
D. Schluss
Literatur
Namenregister
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Rechtsvergleichende Argumentation: Phänomenologie der Veranderung im rechtlichen Diskurs
 9783161523113, 9783161522345

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 279 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Thomas Coendet

Rechtsvergleichende Argumentation Phänomenologie der Veranderung im rechtlichen Diskurs

Mohr Siebeck

Thomas Coendet, geboren 1982, Studium der Rechtswissenschaften; 2003–12 Stipendiat der Schweizerischen Studienstiftung; 2012 Promotion; derzeit Rechtsanwalt in Zürich. Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doctor iuris der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Die Fakultät hat diese Arbeit am 26. April 2012 auf Antrag der beiden Gutachter, Prof. em. Dr. iur. h.c. Hans Peter Walter (Universität Bern) und Prof. Dr. iur. Stefan Vogenauer (University of Oxford), als Dissertation angenommen.

e-ISBN 978-3-16-152311-3 ISBN 978-3-16-152234-5 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

Zum Geleit Die philosophische Arbeit besteht in einer beständigen Überschreitung: alles tun, um seine eigene ethnozentrische oder geographische Grenze anzuerkennen, aber auch, um sie zu überwinden, ohne sie zwangsläufig zu verraten. Jacques Derrida (Sein Erbe wählen, 40) Der internationale Kongress für Rechtsvergleichung, der im Jahre 1900 in Paris stattfand, verlieh der Überschreitung räumlicher Grenzen in der juristischen Arbeit einen neuen Impuls. Die Rechtsvergleichung wurde zum wissenschaftlichen Programm, die mit der Bildung der modernen Nationalstaaten getrennten Rechtsdiskurse wieder zusammenzuführen. Mit diesem Programm verband Raymond Saleilles, der Organisator des Pariser Kongresses, zugleich die Idee, der Rechtsvergleichung eine normative Funktion für das geltende Recht zuzuweisen: Die Gerichte sollten nationales Recht in grenzüberschreitenden Materien, orientiert an einem rechtsvergleichend erarbeiteten droit commun international, interpretieren und fortbilden.1 Sein grundlegendes Argument ist leicht ersichtlich und heute nicht weniger aktuell: Internationale Probleme sollen auch international gelöst werden. In der Folge vermochte sich Saleilles’ Idee allerdings nicht durchzusetzen. Knapp ein halbes Jahrhundert später hat dann Konrad Zweigert den Gedanken, rechtsvergleichende Argumente im Rahmen des geltenden Rechts zu berücksichtigen, wieder aufgegriffen.2 Doch auch ihm blieb der durchschlagende Erfolg in der Gerichtspraxis versagt. Natürlich lassen sich diese frühen Postulate für eine rechtsvergleichende Argumentation psychologisieren und man kann sie als das Begehren von Rechtsvergleichern deuten, ihrer Arbeit im rechtlichen Tagesgeschäft eine normative Bedeutung verleihen zu wollen. Aber selbst wenn das hinsichtlich dieser früheren Postulate zutreffend sein sollte, wäre dieselbe Behauptung angesichts einer heute doch weitaus selbstbewussteren Rechtsvergleichung ____________ 1 2

Saleilles, La Fonction juridique du Droit comparé, 168–172. Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode.

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Zum Geleit

kaum zu halten. Damit ist für die vorliegende Untersuchung die Frage der rechtsvergleichenden Argumentation aber nicht erledigt, sondern höchstens die Möglichkeit gegeben, sie in versachlichter Form erneut zu stellen. Dies einerseits deshalb, weil sie sich als eine wiederkehrende Fragestellung erweist, deren theoretisches und praktisches Potential andererseits bis heute noch nicht ausgeschöpft wurde. Es ist die Ausgangsthese dieser Arbeit, dass der anscheinend bescheidene Erfolg der Ideen von Saleilles und Zweigert nicht an ihrem mangelnden Potential liegt, sondern vor allem auch an einer immer noch fehlenden theoretischen Untersuchung, wie sich die normative Wirkung von rechtsvergleichenden Argumenten im geltenden Recht grundlegend gestaltet. Solange in den Grundlagen nicht geklärt ist, worum es bei dieser Argumentationsform geht, lässt sich jedoch nach Ansicht dieser Arbeit weder abschließend noch sinnvoll über ihre vergangene wie zukünftige Bedeutung urteilen. Vor diesem Hintergrund erachtet es die vorliegende Untersuchung als gerechtfertigt, das von Saleilles und seinen Nachfolgern hinterlassene Erbe anzutreten und nochmals über das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation nachzudenken. Sie interessiert sich, wie soeben deutlich gemacht, für die theoretischen Grundlagen dieser Argumentationsform. Dabei umfasst ihre analytische Perspektive neben rechtlichen auch philosophische Theorien; sie folgt namentlich einem zentralen Impuls, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Philosophie aus Paris erhielt. Es ist dies die von Jacques Derrida entwickelte Philosophie der Dekonstruktion. – Die Untersuchung macht es sich somit zu ihrem methodischen Programm, mit Blick auf die rechtsvergleichende Grenzüberschreitung über die fachlichen Grenzen des Rechts hinauszudenken. Sie will in Sachen der Rechtsvergleichung die Federführung weder denen überlassen, die immerzu versuchen, jeglichen theoretischen Anspruch mit einer unreflektierten Praxisrelevanz pragmatistisch herunterzuspielen, noch sich denen anschließen, die Theorie in diesem Zusammenhang so einsetzen, dass sie sich letztlich der rechtsvergleichenden Praxis entziehen. Im Gegensatz zum vorliegend gewählten theoretischen Schwerpunkt der Untersuchung ist die bisherige Forschung zur rechtsvergleichenden Argumentation vorzugsweise empirisch ausgerichtet. Die Rechtspraxis wird auf ein Phänomen hin beobachtet, von dem man bloß eine intuitive Vorstellung mitbringt und trotzdem werden bestimmte Vorgehensweisen theoretisch als rechtsvergleichende Argumentationen ausgezeichnet. Was folgt aus diesem intuitiv empirischen Zugang für eine Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation? Nichts Gutes, wenn man bei ihm stehen bleibt. Denn eine Theorie, die sich darauf beschränkt, die Praxis nachzuzeichnen, entbehrt des kritischen Abstands zu ihrem Gegenstand und verliert sich in ihm. Was entsteht, ist eine Theorie, die blind ist ihrem Gegenstand gegenüber und die

Zum Geleit

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man besser nicht verwendet, um sich in der Praxis zu orientieren. Was Lehre und Rechtsprechung als rechtsvergleichende Argumentationspraxis bezeichnen, kann für die folgende Untersuchung daher nur einen hermeneutischen Ausgangspunkt bilden. Das bringt es mit sich, dass im Zuge der Analyse die Diagnose nicht ausbleiben mag, dass die rechtsvergleichende Argumentation etwas anderes ist, als man sich vorgestellt hatte. Die thematische Ausrichtung lässt sich damit im Überblick folgendermaßen angeben: Die Arbeit untersucht die Konsequenzen, die sich für die juristische Argumentation ergeben, wenn die rechtlichen Diskurse verschiedener Rechtsordnungen theoretisch und praktisch aufeinander bezogen werden. Dazu stellt sie das in der bisherigen Forschung, wie gesagt, lediglich intuitiv erfasste Phänomen der rechtsvergleichenden Argumentation auf eine breitere thematische Basis. Analysiert wird, wie sich die Normativität der eigenen Rechtsordnung mit der Normativität von anderen Rechtsordnungen durchsetzt. Die Arbeit bringt dieses Phänomen auf den Begriff der Veranderung des Rechts. Von dieser erweiterten Perspektive aus betrachtet, ist rechtsvergleichendes Argumentieren eine spezifische Veranderung, die man zunächst ganz schlicht wie folgt formulieren kann: Indem rechtsvergleichende Argumente in den rechtlichen Argumentationsprozess integriert werden, wird das eigene ein Stück weit zu anderem Recht. Es ist das Ziel der Untersuchung, die gerichtliche und rechtswissenschaftliche Praxis im Hinblick auf diese spezifische Veranderung theoretisch zu orientieren. Gelingen kann dies aber nur, sofern eine entsprechende Theorie auf der verbreiterten thematischen Basis rechtlicher Veranderung abhebt. Der vorgelegte Entwurf einer rechtsvergleichenden Argumentationstheorie ist deshalb als Phänomenologie der Veranderung im rechtlichen Diskurs ausgestaltet. Die Anregung für die vorliegende Untersuchung ist von Gerichtsurteilen, Gutachten und Aufsätzen ausgegangen, die Probleme des nationalen Privatrechts vor dem Hintergrund anderer Rechtsordnungen erörtern. Hinsichtlich dieser fallbezogenen Argumentationen war die Zusammenarbeit mit Prof. em. Dr. h.c. Hans Peter Walter an seinem Lehrstuhl an der Universität Bern eine große Inspiration. Ihm möchte ich auch für die großzügigen zeitlichen Freiheiten danken, die mir erlaubten, das Forschungsvorhaben in seiner Anfangsphase auf Kurs zu bringen. Die entscheidenden Fortschritte ließen sich anschließend aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes erzielen, für den mich der Schweizerische Nationalfonds, die Janggen-Pöhn-Stiftung sowie die Schweizerische Studienstiftung finanziell beziehungsweise organisatorisch unterstützten. Dank all diesen Institutionen konnte die Untersuchung in drei verschiedenen Rechtsordnungen durchgeführt werden: In Deutschland am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, in England an der University of Oxford und in Frankreich an der Université Paris I, Panthéon-Sorbonne.

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Zum Geleit

Die Möglichkeit die Untersuchung an verschiedenen Orten realisieren zu können, hat mich mit vielen Menschen zusammengebracht. Und entsprechend viele sind es, von denen die folgenden Überlegungen profitierten und die ich deshalb in meinen Dank einschließen möchte – all jene, die mir zu dieser Arbeit kritische Fragen gestellt und neue Perspektiven eröffnet haben, die bereit waren ihre Thesen zu diskutieren oder sich einfach geduldig anzuhören. Namentlich kann ich nur einige nennen. Besonders bedanken will ich mich bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann, dass er mich am Max-Planck-Institut in Hamburg so freundlich empfing und zudem in seine Arbeitsgruppe integrierte. Ihm danke ich ebenso dafür, die Aufnahme dieser Promotionsarbeit in die Schriftenreihe des Instituts in so kurzer Zeit geprüft und befürwortet zu haben. Großen Dank schulde ich weiter Prof. Dr. Stefan Vogenauer von der University of Oxford für viele Diskussionen, Anregungen und Präzisierungen zu verschiedenen Fassungen des Textes. Die freundschaftliche Kritik und sein stetiges Interesse, das er dieser Arbeit entgegenbrachte, haben mich an mehr als nur einer Stelle entscheidend motiviert. Nichts anderes gilt für meine ausgezeichneten fachlichen Gesprächspartner Philipp Eichenhofer, Martin Flohr und Christoph Hurni. Ihnen sowie Annemijn Algra, Xiaobai Chu, Dominique und Samuel Coendet, Joris Fach, Jenny Frey, Dmitrij Gawrisch, Chia-Lynne Hong, Daniel Klauser, Christopher Moufawad el Achkar, David Nisters, Philipp Truniger, Anton Wiedmann und Moqi Xu ist dieser Text gewidmet. Thomas Coendet Oxford, im März 2012

Inhalt Zum Geleit ................................................................................................... V Inhalt ........................................................................................................... IX

Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation ............. 1 A. Beispiele aus der Praxis ........................................................................... 3 B. Gegenstand der Untersuchung .................................................................. 4 C. Zielsetzung der Arbeit .............................................................................. 8 D. Stand der Forschung............................................................................... 10 E. Programm des Entwurfs ......................................................................... 16 I. Probleme der Untersuchung ............................................................ 16 II. Gang der Darstellung ....................................................................... 20 III. Methode der Untersuchung ............................................................. 22 Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens ....................................... 25 A. Grenzdekonstruktion .............................................................................. 27 I. Die logische Grenzziehung des Positivismus .................................. 27 II. Die Transformation der positivistischen Logik ............................... 28 B. Dekonstruktion ....................................................................................... 29 I. Zeichen ............................................................................................ 30 1. Différance .................................................................................... 30 2. Spur(en) ....................................................................................... 35 3. Wiederholung .............................................................................. 37 II. Bedeutung........................................................................................ 39 1. Zeichen und Bedeutung ............................................................... 39 2. Instanzen von Bedeutung............................................................. 42 3. Bedeutung im dekonstruktiven Diskurs ....................................... 44 III. Holismus, System, Kontinuität ........................................................ 48 1. Holismus...................................................................................... 49 2. System ......................................................................................... 50 3. Kontinuität ................................................................................... 51 C. Die Dekonstruktion des eigenen Rechts ................................................. 54 I. Dekonstruktion des Rechts? ............................................................ 54

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Inhalt

II. Recht als rekonstruktive Zeichenpraxis ........................................... 57 1. Normatives Sein .......................................................................... 58 2. Flüchtige Instanzen ...................................................................... 60 3. Dynamische Struktur ................................................................... 62 4. Recht als Rechtskontext............................................................... 65 5. Die rechtliche Entscheidung ........................................................ 66 6. Rechtsgeltung .............................................................................. 70 III. Das andere Recht im eigenen .......................................................... 72 1. Rechtskontext – die Basis der impliziten Normativität................ 73 2. Zirkulationen – der prinzipielle Zusammenhang der Rechtskontexte ............................................................................. 75 3. Polykontexturalität – die Pluralität der rechtlichen Kontexte ...... 79 D. Blick zurück und nach vorne .................................................................. 81 I. Universelles Rechtsdenken ohne universelles Recht ....................... 81 II. Symmetrie, Autonomie und Identität von Rechtskontexten ............ 82 III. Das Problem des Automatismus ...................................................... 83 Teil 2: Strukturen der Argumentation ......................................................... 85 A. Grenzrekonstruktion ............................................................................... 87 B. Strukturen der juristischen Argumentation ............................................. 88 I. Ausgangspunkte .............................................................................. 88 II. Grundlagen der philosophischen Argumentationstheorie ................ 90 1. Übergang – Die inferentielle Struktur bei Toulmin ..................... 91 2. Prämissen – Die argumentative Geltung bei Wohlrapp ............... 94 a) Pragmatik, Theorie, Episteme ................................................. 96 b) These, Dialog, Transsubjektivität ......................................... 101 c) Geltung, Relativität, Offenheit .............................................. 108 3. Argumentation und Argument ................................................... 114 III. Reformulierungen der juristischen Argumentation ........................ 115 1. Die Reformulierungen im Überblick ......................................... 115 2. Die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation ....... 117 3. Die Inferenzstruktur der juristischen Begründung ..................... 120 4. Die argumentative Geltung der juristischen Begründung .......... 122 5. Argumentformen des eigenen Rechts ........................................ 125 IV. Pragrammatologie der juristischen Argumentation ....................... 128 C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation ........................... 132 I. Transsubjektivität .......................................................................... 133 II. Inferentielle Funktion .................................................................... 137 III. Kontextverflechtung ...................................................................... 139 1. Die Kontexte.............................................................................. 139 2. Die Verflechtung ....................................................................... 140 3. Die Prinzipien der Kontextverflechtung .................................... 141

Inhalt

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D. Blick zurück und nach vorne ................................................................ 144 I. Illustrationen.................................................................................. 145 II. Die Rationalität rechtsvergleichenden Argumentierens................. 150 III. Das Problem des Ethnozentrismus ................................................ 152 Teil 3: Strukturen der Methode ................................................................. 155 A. Grenzüberschreitung ............................................................................ 157 B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung............................... 158 I. Funktionale Methode ..................................................................... 158 II. Die Kritik ...................................................................................... 160 III. Methodentheorie nach dem cultural turn ...................................... 161 C. Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation ................ 164 I. Pragrammatologie der Vergleichung ............................................. 165 1. Rechtskontextvergleichung als paradoxe Spiegelung ................ 165 2. Pragmatistische oder hermeneutische Verknappung? ................ 167 II. Strukturen der Vergleichung ......................................................... 172 1. Grundriss der Vergleichungsstruktur ......................................... 173 2. Dialogische Rechtsvergleichung ............................................... 174 a) Kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben .......... 175 b) Die Richterin und ihr Argumentationsvorhaben ................... 177 3. Trialogische Rechtsvergleichung............................................... 178 a) Instanzen ............................................................................... 179 b) Diskussion ............................................................................ 181 III. Wann beginnt Vergleichung? ........................................................ 184 D. Schluss ................................................................................................. 188

Literatur .................................................................................................... 191 Namenregister ........................................................................................... 201

Einleitung

Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

A. Beispiele aus der Praxis Praktische Beispiele in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, an die sich eine theoretische Untersuchung der rechtsvergleichenden Argumentation anschließen lässt, gibt es unzählige. Nachstehend werden zwei Berichte über eine rechtsvergleichende Argumentation in der Gerichtspraxis des Civil und Common law zitiert. Die Beispiele schildern also je eine gerichtliche Entscheidung aus der Perspektive der Wissenschaft, womit in ihnen sowohl die Gerichte wie die Lehre zu Wort kommen. Das erste Beispiel stammt aus dem Civil law. In einem Aufsatz mit dem Titel »Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts« heißt es: »Schon mit dem zweiten Entscheid, einem Urteil der ersten Zivilabteilung vom 16. Mai 2003 (BGE 129 III 535), stossen wir auf einen Entscheid, der nachgerade als typisch dafür bezeichnet werden kann, wie selbstverständlich das Bundesgericht in seiner Arbeit rechtsvergleichend tätig wird. In dem Fall geht es um die gerichtliche Überprüfung eines Schiedsgutachtens. Gleich zu Beginn der Erwägungen … geht es um den Begriff des Schiedsgutachtens. Hier gibt das Bundesgericht seine Definition und zitiert als Beleg hierfür zunächst zwei eigene Entscheide und als dritten Beleg den Kommentar von Stein/Jonas/Schlosser zur deutschen Zivilprozessordnung.«1 Im zweiten Beispiel berichtet ein Autor über eine Gerichtsentscheidung aus dem Common law. In Greatorex v. Greatorex musste ein englisches Gericht die Frage klären, ob das Opfer von selbstverschuldeten Verletzungen verpflichtet sei, Dritten keine psychischen Schäden zuzufügen. Für diese Frage setzte sich der englische Richter insbesondere mit einem deutschen Urteil auseinander. Dazu vernimmt man Folgendes: Der Richter, Cazalet J, hatte »in seinem Urteil anerkannt, dass es keine bindenden Präzedenzfälle hinsichtlich der Frage der Sorgfaltspflicht gibt. Zur Orientierung wurde er daher unter anderem auf deutsches Recht verwiesen und in seinem Ergebnis zweifellos durch ein BGH-Urteil vom 11. Mai 1971 beeinflußt«, das eine entsprechende Sorgfaltspflicht abgelehnt hatte: »Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes würde die Aufbürdung einer solchen Rechtspflicht das Recht des einzelnen zur freien Selbstbestimmung … übermäßig einschränken … Cazalet J folgte ganz ausdrücklich der Argumentation des BGH und bezeichnete das aus dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen abgeleitete Argument als ›durchschlagend‹.«2 ____________ 1

G. Walter, Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, 91. 2 Markesinis, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, 159 f.

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

An dieser Stelle geht es nicht darum, diese Beispiele inhaltlich noch weiter zu erläutern oder bereits methodisch zu hinterfragen. Von Interesse ist zunächst nur, dass beide Berichte ein bestimmtes argumentatives Vorgehen des Gerichts als ein rechtsvergleichendes bezeichnen. Das erste Beispiel spricht ausdrücklich von der »rechtsvergleichenden« Tätigkeit des Gerichts bei der Ausarbeitung seiner Entscheide und im Kontext des zweiten Beispiels ist über eine »rechtsvergleichende Methodenlehre« und die »juristische Argumentation« des Gerichts zu lesen.3 Das so beschriebene gerichtliche Vorgehen besteht in beiden Fällen darin, dass in einer Sachfrage zum eigenen, nationalen Recht eine ausländische Rechtsordnung herangezogen wird. Im ersten Fall belegt das Gericht eine Begriffsbestimmung mit dem Kommentar zu einem ausländischen Gesetz, im zweiten bezieht es sich für seine Argumentation auf das Urteil eines ausländischen Gerichts. Abstrahiert man nun von diesen Fällen, so lässt sich das beobachtete Phänomen wie folgt bündeln: Gerichte des Civil und Common law setzen in der Begründung ihrer Entscheide zum eigenen, nationalen Recht rechtliche Argumente ein, die sie aus einer anderen, fremden Rechtsordnung beziehen.

B. Gegenstand der Untersuchung Das soeben formulierte Phänomen bezweckt keine bestimmte empirische oder theoretische Aussage. Es bildet lediglich einen hermeneutischen Ausgangspunkt, um den Gegenstand dieser Untersuchung näher zu bestimmen. Betrachten wir es deshalb erneut: Gerichte des Civil und Common law setzen in der Begründung ihrer Entscheide zum eigenen, nationalen Recht rechtliche Argumente ein, die sie aus einer anderen, fremden Rechtsordnung beziehen. – Man kann dieses Phänomen in sechs Elemente zergliedern: (1) Gerichte, (2) Entscheidbegründungen, (3) eigenes Recht, (4) rechtliche Argumente, (5) anderes Recht und (6) Bezüge. Die Elemente werden jetzt mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand in leicht veränderter Reihenfolge kurz eingeführt. Gerichte – Die vorliegende Untersuchung fokussiert auf die Gerichtspraxis.4 Sie konzentriert sich auf die Situation, in der eine Richterin sich überlegt, ihre Argumentation zu einer spezifischen Rechtsfrage des nationalen Rechts rechtsvergleichend abzustützen. In dieser Arbeit bezeichnet ›rechtsvergleichende Argumentation‹ also den Schnittpunkt zwischen gerichtlicher ____________ 3

Markesinis, ebd., 154, 168. Für eine umfassende und aktuelle empirische Untersuchung der rechtsvergleichenden Argumentation in der Gerichtspraxis siehe Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 75–227. Die Untersuchung deckt sechs europäische Rechtsordnungen ab: Deutschland, Frankreich, Tschechien, Slowakei, England und Wales. 4

B. Gegenstand der Untersuchung

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Praxis und Rechtsvergleichung. Außer Betracht bleiben andere rechtsvergleichende Themengebiete wie das Verhältnis von Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte, Rechtssetzung oder Rechtsvereinheitlichung sowie Theorien zu den Rezeptionsvorgängen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen (legal transplants).5 Auch wenn man innerhalb einzelner dieser Themengebiete ebenfalls von ›rechtsvergleichender Argumentation‹ sprechen möchte, beispielsweise in der Rechtssetzung oder Rechtsvereinheitlichung, bleibt der Fokus an dieser Stelle auf dem Zusammenspiel von Rechtsvergleichung und Rechtsprechung. Entscheidbegründung – Das erläuterte Phänomen besteht darin, dass ein Gericht seine rechtlichen Argumente für die Entscheidbegründung teilweise aus einer anderen Rechtsordnung bezieht. Entscheidbegründung meint hier die Argumentation, die eine bestimmte rechtliche Schlussfolgerung trägt. Diese Argumentation braucht nicht notwendigerweise schriftlich zu erfolgen; sie kann auch im internen Gespräch eines Richterkollegiums enthalten sein. Damit ist zugleich gesagt, dass es für das vorliegend entworfene theoretische Konzept nicht darauf ankommt, ob rechtsvergleichende Argumente in einer schriftlichen Begründung zu einem Entscheid genannt sind. Das Konzept beschreibt das rechtsvergleichende Argumentieren somit ebenfalls vor französischen Gerichten, bei denen die veröffentlichten Entscheidungsgründe oft sehr knapp ausfallen.6 Rechtliche Argumente – Das beobachtete Phänomen verweist weiter auf rechtliche Argumente. Über den Begriff des Rechtsarguments wird noch viel zu sagen sein. An dieser Stelle ist zunächst bloß festzuhalten, dass für die theoretische Untersuchung auch die Argumentation mit rechtswissenschaftlichen Lehrbüchern, Kommentaren, Aufsätzen oder Präjudizien zu berücksichtigen ist, wie sie in den einleitenden Beispielen aufscheint: »Gleich zu Beginn der Erwägungen … geht es um den Begriff des Schiedsgutachtens. Hier gibt das Bundesgericht seine Definition und zitiert als Beleg hierfür zunächst zwei eigene Entscheide und als dritten Beleg den Kommentar von Stein/Jonas/Schlosser zur deutschen Zivilprozessordnung«; beziehungsweise: »Cazalet J folgte ganz ausdrücklich der Argumentation des BGH und bezeichnete das aus dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen abgeleitete Argument als ›durchschlagend‹.« ____________ 5

Als Einführung in diese verschiedenen rechtsvergleichenden Themen siehe die Beiträge in Reimann/Zimmermann (Hg.): The Oxford Handbook of Comparative Law – für die Rechtsgeschichte James Gordley (Kapitel 23), für die Rechtssetzung Jan M. Smits (Kapitel 15), für die (europäische) Rechtsvereinheitlichung Reinhard Zimmermann (Kapitel 16) und bezüglich der Rezeptionsvorgänge Michele Graziadei (Kapitel 13). 6 Siehe dazu Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, 232 f.

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

Bezüge – Die rechtlichen Argumente, mit denen ein Gericht seinen Entscheid begründet, bezieht es nach dem beschriebenen Phänomen aus einer anderen Rechtsordnung. Um von einer rechts-vergleichenden Argumentation sprechen zu können, müssen solche Bezüge auf einem vergleichenden Vorgehen basieren. Von Methode und Begriff der Vergleichung wird ebenfalls noch eingehend die Rede sein. Hier genügt folgender präzisierender Hinweis: Die Untersuchung geht nicht davon aus, dass sich das Gericht ausschließlich selbst mit dem ausländischen Recht auseinandersetzt, wenn es rechtsvergleichend argumentiert. Es kann sich nicht nur direkt, sondern auch indirekt auf das andere Recht beziehen, indem es beispielsweise eine rechtsvergleichend argumentierende Monographie zum eigenen Recht konsultiert. Deshalb wird die vorliegende Untersuchung, obwohl sie auf die Gerichte fokussiert, gleichzeitig die rechtsvergleichende Argumentation im wissenschaftlichen Diskurs thematisieren.7 Anderes Recht – Was ist Recht? Und was ist anderes Recht? Mit beiden Fragen wird sich die folgende Arbeit ausführlich befassen. Zunächst reicht es aus, auf die folgenden zwei begrifflichen Erweiterungen hinzuweisen. Hinsichtlich des Rechtsbegriffs wird eine Erweiterung zu analysieren sein, die sich bereits mit den rechtlichen Argumenten ankündigte: Inwiefern lassen sich Präjudizien, Gesetzeskommentare (etc.) als Elemente des Rechts verstehen? Von der Antwort hängt ab, ob sich etwa das Urteil oder der Kommentar zu einer ausländischen Rechtsordnung überhaupt als ein rechtsvergleichender Bezugspunkt begreifen lässt, so wie es in den einleitenden Beispielen geschieht. Die zweite Erweiterung betrifft die Frage, was unter anderem Recht zu verstehen ist. Wenn in den folgenden Erläuterungen von anderem Recht gesprochen wird, bezieht sich das nicht nur auf fremde oder ausländische Rechtsordnungen im Sinne anderer nationalstaatlicher Rechte. Erfasst werden etwa auch internationale Modellregeln wie die Principles of European Contract Law. Darüber hinaus verhält sich das Element ›anderes Recht‹ komplementär zum ›eigenen Recht‹, das jetzt als letztes zu beschreiben ist. Eigenes Recht – Seine vielleicht wichtigsten Präzisierungen erhält der Untersuchungsgegenstand schließlich über das Element des eigenen Rechts. Es dürfte bereits klar geworden sein, dass die vorliegende Untersuchung privatrechtlich fundiert ist. Das bedeutet zwar nicht, die von ihr entwickelte Theorie hätte zur rechtsvergleichenden Argumentation im Strafrecht oder öffentlichen Recht nichts zu sagen. Sie wird aber nicht auf Diskussionen und Besonderheiten eingehen, die für eine Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation in diesen Gebieten zusätzlich zu beachten wären. ____________ 7 Für Beispiele zu einer rechtsvergleichend argumentierenden Wissenschaft siehe nur Ranieri, Die Rechtsvergleichung und das deutsche Zivilrecht im 20. Jahrhundert, 794 f.

B. Gegenstand der Untersuchung

7

Im Sinne einer weiteren Eingrenzung wird eigenes Recht zudem europäisch interpretiert. Die hier entwickelten rechtstheoretischen Konzepte gehen somit vom Modell eines europäischen Rechtsstaates des Civil oder Common law aus. Das verlangt allerdings, dass in sie nicht mehr theoretische Annahmen eingehen, als in diesem Modell allgemein vorausgesetzt werden kann. Die Untersuchung stützt sich deshalb auf rechtsstaatliche Strukturelemente wie Demokratieprinzip, Gewaltenteilung oder Normbindung durch Gesetz oder Präjudiz. Sie berücksichtigt aber keine spezifischen positivrechtlichen Ansatzpunkte in einzelnen nationalen Rechten wie den für die rechtsvergleichende Argumentation immer wieder genannten Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches.8 Auf solche »Transmissionspunkte«,9 über die rechtsvergleichende Argumente auf eine traditionell positivistische Art und Weise ins nationalstaatliche Recht einbezogen werden, will die Untersuchung bewusst verzichten. Selbstverständlich wird es ohne positivrechtliche Ansatzpunkte schwieriger, rechtsvergleichende Argumente theoretisch zu begründen. Die Aufgabe soll indessen sogar noch strenger gefasst werden, indem das eigene Recht nicht nur ohne positivrechtliche, sondern auch ohne sachliche Ansatzpunkte definiert wird. Solche sachlichen Beziehungen ergeben sich beispielsweise dann, wenn nationales Recht ausländisches Recht rezipiert oder mit diesem vereinheitlicht oder harmonisiert wird.10 Wie bei den positivrechtlichen ist bei solchen sachlichen Ansatzpunkten das eigene Recht mit dem anderen Recht bereits in einer spezifischen Weise verbunden. Entsprechend wird hier nicht mehr nach einem allgemeinen oder prinzipiellen Zusammenhang zwischen den beiden gefragt. Da sich die vorliegende Untersuchung hingegen für die Tiefenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation interessiert, scheint es mir notwendig, ihre Fragestellung insoweit zu radikalisieren, als dass sie auf die sachlichen Bezugspunkte ebenfalls verzichtet. Dieser Verzicht bleibt allerdings strategisch, das heißt, er schließt nicht aus, dass die zu entwickelnde Theorie solche spezifischen Beziehungen gleichwohl miterklärt.

____________ 8 Anschließend an Art. 1 ZGB bereits Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, 9 und zuletzt Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 234 f. Grundlegend zur Bedeutung der Rechtsvergleichung in Art. 1 ZGB MeierHayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 197–200, 265–267 und weiterführend Uyterhoeven, Richterliche Rechtsfindung und Rechtsvergleichung. 9 Begriff von Wendehorst, Von Arbeit im Recht, am Recht und über Recht, 1408, mit Beispielen. Für weitere Beispiele zu solchen positivrechtlichen Ansatzpunkten siehe Kramer, Konvergenz und Internationalisierung der juristischen Methode, 82. 10 Siehe für die rechtsvergleichende Argumentation in diesen Fällen H. P. Walter, Das rechtsvergleichende Element.

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

Sind die positivrechtlichen und sachlichen Verbindungen zum anderen Recht gelöst, erscheinen somit als eigenes Recht nur jene Vorschriften des nationalen Privatrechts, bei denen kein Auslandsbezug herzustellen ist. Das eigene Recht erscheint so nach außen hin als geschlossenes System.11 Diese Ausgangslage wurde in der Literatur als rechtsvergleichende Interpretation des »rein internen« oder »autonom-internen Rechts« beziehungsweise als »Rechtsvergleichung bei Vorschriften ohne Auslandsbezug« beschrieben;12 im Gegensatz etwa zur Situation, in der aufgrund völkerrechtlicher Verträge das internationale UN-Kaufrecht (CISG) als Teil des nationalen Rechts anzuwenden ist oder zu dem Fall, in dem das internationale Privatrecht eines Staates auf ausländisches Recht verweist. Abkürzend werde ich die Situation, wie sie dem folgenden Text zugrunde liegt, als die rechtsvergleichende Argumentation bei rein nationalem oder schlicht eigenem Recht bezeichnen. Motiv – In den wesentlichen Grundzügen dürfte damit geklärt sein, von welchem hermeneutischen Ausgangspunkt die vorliegende Arbeit startet, wenn sie rechtsvergleichendes Argumentieren ausgehend vom Phänomen erläutert, dass ein Gericht in der Entscheidbegründung zum eigenen Recht rechtliche Argumente einsetzt, für die es sich auf ein anderes Recht bezieht. Vor die Klammer dieses Phänomens ist jedoch noch eine wichtige Frage zu ziehen, die ebenfalls zum Gegenstand der Untersuchung gehört: Warum sollte man überhaupt rechtsvergleichend argumentieren? Zu klären ist somit das Motiv der rechtsvergleichenden Argumentation.

C. Zielsetzung der Arbeit Mit dem Gegenstand der Untersuchung lässt sich jetzt ihre Zielsetzung festlegen. Was möchte die Arbeit erreichen? Es geht ihr um eine theoretische Untersuchung der rechtsvergleichenden Argumentation. In einem umfassenden theoretischen Entwurf versucht sie zu klären, wie das in der Gerichtspraxis immer wieder auftretende rechtsvergleichende Argumentieren bei rein nationalem Privatrecht verständlich gemacht werden kann. Dabei hat sich bereits angedeutet, dass dieser Entwurf sich für die Tiefenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation interessiert. Er will die grundlegenden ____________ 11

Der Begriff System wird hier in einem undramatischen Sinn als das aus Teilen gefügte Ganze einer Rechtsordnung verstanden, ohne damit seine vielfältigen Verwendungen in Rechtswissenschaft und Justiz zu referenzieren (vgl. für diese Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 3–140). 12 Für das erste Zitat Aubin, Die rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, 458 f.; für das zweite Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, 628.

C. Zielsetzung der Arbeit

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Denkstrukturen konzeptualisieren, die das rechtsvergleichende Argumentieren anleiten. Sein Ziel verfolgt der Entwurf umfassend. Der Gedanke eines umfassenden Entwurfs lässt sich aufgrund des Untersuchungsgegenstandes folgendermaßen verstehen. Will ein Gericht seinen Entscheid rechtsvergleichend begründen, das bedeutet, für seine eigene rechtliche Argumentation vergleichend anderes Recht heranziehen, impliziert das die folgenden Grundfragen: Welches prinzipielle normative Verhältnis besteht zwischen eigenem und anderem Recht? Was ist das grundlegende Motiv und die Funktionsweise der rechtsvergleichenden Argumentation? Und schließlich: Wie ist rechtsvergleichendes Argumentieren methodisch zu gestalten, damit es praktisch gelingt? Im Zuge der Untersuchung dieser Grundfragen entsteht so Schritt für Schritt eine umfassende Theorie rechtsvergleichender Argumentation. Gleichwohl bleibt diese Theorie ein Entwurf. Das bedeutet, sie kann auf Einzelheiten des rechtsvergleichenden Argumentierens nicht eingehen, wie beispielsweise seine Ausprägung innerhalb verschiedener privatrechtlicher Themengebiete (Personenrecht, Sachenrecht, Vertragsrecht etc.) oder innerhalb einzelner rechtlicher Argumentformen (Teleologie, Systematik, Grammatik etc.). Für solche Feinstrukturen wären weitere Studien notwendig. Der Entwurf bleibt also bei den grundlegenden Fragen und versucht, sie in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Das hat den entschiedenen Vorteil eines verhältnismäßig knappen Textes, der noch überschaubar bleibt, gleichwohl aber die grundsätzlichen Probleme anspricht. Doch weshalb sollten grundlegende Denkstrukturen in einem überschaubaren theoretischen Konzept wichtig sein? Die Antwort gibt die übergeordnete Zielsetzung der Arbeit. Ihre Theorie versucht letztlich, Gerichte und Rechtswissenschaft in der Praxis der rechtsvergleichenden Argumentation zu orientieren. Sie folgt damit einem noch näher zu begründenden pragmatischen Theorieverständnis. Indem diese Arbeit sich mit dem grundlegenden gedanklichen Gehalt der Idee beschäftigt, rechtsvergleichend argumentieren zu wollen, möchte sie also eine Orientierung anbieten. Eine Orientierung, die in der Frage, ob und wie man rechtsvergleichend argumentieren sollte, einige gedankliche Wegweiser verfügbar macht und so eine bewusstere Praxis der rechtsvergleichenden Argumentation ermöglicht. Man kann deshalb die Zielsetzung auch noch einmal anders, diesmal in kantischen Worten angeben: Orientierung im Denken.13

____________ 13 Kant, Was heisst: sich im Denken orientieren?; siehe für das Pragmatikverständnis in dieser Arbeit Teil 2, bei Fn. 26.

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

D. Stand der Forschung Der Forschungsstand zur rechtsvergleichenden Argumentation gestaltet sich unübersichtlich. Das beginnt mit einer uneinheitlichen Terminologie. Man spricht von rechtsvergleichender Auslegung, universaler Interpretationsmethode, komparativer Methode der Rechtsfindung, von rein zivilistischer und rechtsanwendungsbezogener Rechtsvergleichung oder rechtsvergleichender Argumentation.14 Die vorliegende Untersuchung verwendet durchgehend die Begriffe rechtsvergleichendes Argument und rechtsvergleichende Argumentation. Das dient einerseits der begrifflichen Übersicht und erweitert andererseits den semantischen Horizont für die Fallrechtspraxis des Common law sowie eine grundlegende argumentationstheoretische Analyse: von rechtsvergleichender Argumentation zu sprechen, eröffnet die Möglichkeit, ihre Bedeutung für die gerichtliche Praxis konsequent als Argumentationstheorie zu entwickeln. Die Unübersichtlichkeit des Forschungsstandes ist indessen nicht nur terminologisch. Sie folgt auch daraus, dass sich der oben erläuterte Untersuchungsgegenstand ganz unterschiedlich analysieren lässt: Entweder wird gefragt, inwiefern Gerichte rechtsvergleichende Argumente tatsächlich einsetzen oder man ist daran interessiert, wie dieser Vorgang theoretisch zu erläutern ist. In den meisten Untersuchungen vermischen sich diese Betrachtungsweisen allerdings zu empirisch-theoretischen Analysen, die dann in Beiträgen zu Sammelwerken, Aufsätzen, rechtsvergleichenden oder methodologischen Lehrbüchern knapp dargestellt werden.15 Die Stellungnahmen zur Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation sind entsprechend verzettelt, oftmals marginal und kursorisch, zuweilen auch rein programmatisch

____________ 14 Im Einzelnen: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 461 (»Rechtsvergleichende Auslegung«); Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode; Kramer, Juristische Methodenlehre, 253 (»komparative Methode der Rechtsfindung«); Sandrock, Über Sinn und Methode zivilistischer Rechtsvergleichung, 11 (»rein zivilistische Rechtsvergleichung«); Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 432 (»rechtsanwendungsbezogene Rechtsvergleichung«) und ders., Rechtsvergleichung und zivilrechtliche Methodik, 831 (»rechtsvergleichende Argumentation«). 15 Aus den vielen wertvollen Einzeluntersuchungen verweise ich hier nur auf die Sammelbände Canivet/Andenas/Fairgrieve (Hg.): Comparative law before the courts; Drobnig/v. Erp (Hg.): The Use of Comparative Law by Courts sowie die ausführlicheren empirisch-theoretischen Studien von Markesinis/Fedtke, Judicial Recourse to Foreign Law und Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts.

D. Stand der Forschung

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oder polemisch. Ein ganzheitliches theoretisches Konzept, wie es diese Arbeit anzielt, lässt sich hingegen bis jetzt nicht ausmachen.16 Vor diesem Hintergrund will die folgende Darstellung des Forschungsstandes nicht bloß theoretische Einzelheiten auflisten. Die eher technischen Elemente der bisherigen theoretischen Forschung werden im zweiten Teil des Entwurfs eingehend zu besprechen sein. An dieser Stelle wird dagegen versucht, die vorangehenden Untersuchungen auf eine gemeinsame theoretische Grundposition zu beziehen. Als Grundposition der rechtsvergleichenden Argumentationstheorie möchte ich die Normativitätsthese vorschlagen. Ich werde zunächst den Inhalt dieser These kurz vorstellen und danach die Begründungen, die man in der Lehre für sie gegeben hat. Durch die Diskussion dieser Begründungsvorschläge sollen dann die bereits dargelegten Aufgaben und Ziele des vorliegenden Entwurfs noch schärfer herausgearbeitet werden. Die Normativitätsthese – Namentlich rechtsvergleichend geschulte Autoren waren immer wieder bestrebt, rechtsvergleichende Argumente als normative Elemente der juristischen Methode zu begründen. Normativität meint hier die These, dass rechtsvergleichende Argumente an der Rechtsfindung zum geltenden Recht teilhaben sollen. Ihnen soll grundsätzlich ebenso wie grammatikalischen, historischen, systematischen oder teleologischen Argumenten normative Wirkung zukommen, indem sie mitbestimmen, was der Inhalt des geltenden Rechts ist.17 Ich werde diese These als ›Normativitätsthese‹ oder These einer ›normativen Rechtsvergleichung‹ bezeichnen. Drei Konzepte spielen nun eine übergeordnete Rolle, wenn es darum geht, diese These theoretisch zu begründen und so die Rechtsvergleichung mit einer normativen Wirkung auszustatten: Rechtsidee, universale Rechtsprinzipien und rechtliche Autorität. Eine neuere Studie beschreibt diese Einsicht intuitiv wie folgt: »Le débat concernant le recours à l’argument fondé sur la comparaison dans l’activité jurisprudentielle évoque des tensions habituelles dans la jurisprudence entre droit écrit et droit non écrit ou entre positivisme et jusnaturalisme. Il n’est d’ailleurs pas sans rappeler celui autour des principes généraux du droit. À l’ère de la globalisation, l’argument fondé sur la comparaison ne représenterait-il pas une nouvelle expression des principes non écrits ? C’est pourquoi des objections à son recours se manifesteraient selon des lignes de

____________ 16

Eine ähnlich nüchterne Einschätzung zum Forschungsstand findet sich bei Drobnig, The Use of Foreign Law by German Courts, 128; Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 430 f.; Ranieri, Die Rechtsvergleichung und das deutsche Zivilrecht im 20. Jahrhundert, 777; Schluep, Einladung zur Rechtstheorie, 654. 17 Am präzisesten findet sich diese These bei Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 438–441; siehe auch Legrand, Au lieu de soi, 23; Dölle, Der Beitrag der Rechtsvergleichung zum deutschen Recht, 22 sowie abschwächend ders., Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, 406.

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

force similaires à celles concernant les principes généraux du droit. En particulier, on se demande d’où l’argument fondé sur la comparaison tire-t-il son autorité.«18

Die Textstelle erwähnt das Naturrecht, allgemeine Rechtsprinzipien und die Autorität eines rechtsvergleichenden Arguments. Was diese Stichworte für die soeben umrissene These einer normativen Rechtsvergleichung bedeuten, wird jetzt unter den Begriffen Rechtsidee, universale Rechtsprinzipien und Autorität näher erörtert. Rechtsidee – Der Grundgedanke, rechtsvergleichende Argumente mit der Rechtsidee als normative Elemente des eigenen Rechts zu begründen, lässt sich knapp wie folgt darstellen. Man setzt zunächst voraus, dass die ausländischen Rechtsordnungen grundsätzlich gleichermaßen und gleichwertig auf Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit hinzielen. Also auf jene Werte, die man unter anderem mit dem Begriff der Rechtsidee gefasst hat. Für die Normativität von rechtsvergleichenden Argumenten ist allerdings nicht dieser Begriff ausschlaggebend, sondern die Überlegung, dass ein inländisches Gericht für seine Entscheidbegründung ausländisches Recht heranziehen darf, weil ausländische Rechtsordnungen jene Zielwerte ebenfalls anstreben. Das eigene und andere Recht treffen sich im gemeinsamen Fluchtpunkt der Rechtsidee und daher gilt: Rechtsvergleichende Argumente sind normative Bestandteile der Argumentation zum eigenen Recht. Man hat diese theoretische Begründung zutreffend als naturrechtliche Struktur identifiziert.19 Die oben zitierte Studie weist richtigerweise darauf hin, dass die rechtsvergleichende Argumentation die üblichen Spannungen zwischen Positivismus und Naturrecht hervorrufe – »Le débat … évoque des tensions habituelles dans la jurisprudence … entre positivisme et jusnaturalisme.« Wer nun die Normativität von rechtsvergleichenden Argumenten mit der Rechtsidee begründet, schlägt sich in diesem Widerstreit auf die Seite des Naturrechts. Dem wird die vorliegende Studie nicht folgen. Zu viele berechtigte Einwände bestehen gegen die naturrechtlich konzeptualisierte Rechtsidee. Aus der komplexen Kritik will ich hier nur einen wichtigen Punkt aufgreifen. Die Orientierung an diesem Konzept führt in einen Reflexionsstopp.20 ____________ 18 Ponthoreau, L’argument fondé sur la comparaison dans le raisonnement juridique, 554 f. – meine Hervorhebungen, TC. 19 So ausdrücklich Smits, Comparative Law and its Influence on National Legal Systems, 528. Er teilt diese Begründung mit Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 386, 461 f.; Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 441; Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, 13; ferner Bucher, Der von den Juristen verkannte apagogische Beweis, 1008 und v. Bar, Vereinheitlichung und Angleichung von Deliktsrecht in der Europäischen Union, 231. 20 Siehe die Kritik bei Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 128–131.

D. Stand der Forschung

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Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn man dieses Konzept probeweise als theoretische Begründung für die rechtsvergleichende Argumentation gelten lässt: Die Rechtsidee rechtfertigt die Normativität rechtsvergleichender Argumente. – Das ist schön und gut, aber was nun? Mit dem bereits definierten Gegenstand der Untersuchung lässt sich dieser Reflexionsstopp noch genauer erläutern. Dort habe ich das eigene Recht als ein geschlossenes System interpretiert, das keine positivrechtlichen oder sachlichen Verbindungen zum anderen Recht aufweist. Auf solche spezifischen Verbindungen wurde verzichtet, um den allgemeinen Zusammenhang zwischen eigenem und anderem Recht untersuchen zu können. Wird dieser prinzipielle Zusammenhang jetzt durch naturrechtliche Strukturen hergestellt, verschenkt man sich jene bewusst radikalisierte Fragestellung, die zu einer tiefergehenden theoretischen Analyse der rechtsvergleichenden Argumentation herausfordert. In der Rechtsidee löst sich, anders gesagt, das theoretische Problem der rechtsvergleichenden Argumentation, bevor man sich ihm gestellt hat. Genauso wie bei den positivrechtlichen oder sachlichen Verbindungen zwischen eigenem und anderem Recht mündet hier die theoretische Analyse in einen voreiligen Reflexionsstopp. Die Untersuchung kann also nur gewinnen, wenn sie auf die Rechtsidee sowie andere naturrechtliche Strukturen insgesamt verzichtet. Sie gewinnt namentlich auch durch eine präzisierte Aufgabenstellung. Die vorangehenden Überlegungen zeigen, dass auf all jene theoretischen Konzepte zu verzichten ist, die das eigene und andere Recht verbinden, indem sie beide überlagern. Die Normativitätsthese der rechtsvergleichenden Argumentation ist nicht durch subordinative Konzepte, sondern vielmehr vom maximalen theoretischen Widerstand her zu begründen. Dieser maximale Widerstand findet sich im eigenen Recht, verstanden als ein geschlossenes System ohne Auslandsbezug. Insoweit ist die Ausgangslage der Untersuchung konsequent positivistisch. Und deshalb verlangt ihr Problem nicht nach naturrechtlichen Strukturen, sondern danach, den prinzipiellen Zusammenhang von eigenem und anderem Recht ausschließlich vom eigenen Recht her zu begründen. Ihre präzisierte Aufgabenstellung lautet somit, die positivistische Ausgangslage rechtstheoretisch zu transformieren; oder noch genauer: gefordert ist eine Rechtstheorie jenseits von Positivismus und Naturrecht.21 Universale Rechtsprinzipien – Die Rechtsvergleichung auf der Basis von universalen Rechtsprinzipien als eine normative Größe in der juristischen Methodik zu installieren, ist wesentlich mit Josef Essers Grundsatz und Norm verbunden. In dieser Studie legte Esser grundlegend dar, wie univer____________ 21

Die letzte Formulierung ist inspiriert durch den bei Kaufmann vorgezeichneten ›dritten Weg‹ für eine Rechtsphilosophie jenseits von Naturrecht und Positivismus (Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 221, 328).

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

sale Rechtsprinzipien die richterliche Fortbildung des nationalen Privatrechts normativ anleiten sollten und weiter, wie solche universalen Rechtsprinzipien rechtsvergleichend aus den verschiedenen Rechtsordnungen herauszuarbeiten seien.22 Daraus ergibt sich eine universalistische Sichtweise, in der die Rechtsvergleichung offensichtlich in eine normative Funktion für das geltende Recht einrückt. In die vorliegend verwendete Terminologie gefasst: In Gestalt von universalen Rechtsprinzipien werden rechtsvergleichende Argumente zu normativen Elementen der juristischen Argumentation zum eigenen Recht. Das ist ein Gedankengang, der heute in der rechtsvergleichenden Argumentationstheorie en vogue zu sein scheint: »À l’ère de la globalisation, l’argument fondé sur la comparaison ne représenterait-il pas une nouvelle expression des principes non écrits ?«23 Es dürfte bereits klar sein, dass die vorliegende Untersuchung die universalen Rechtsprinzipien nicht als theoretische Basis übernehmen wird, um rechtsvergleichende Argumente normativ zu begründen. Wie die Rechtsidee bilden sie ein subordinatives Konzept, das eigenes und anderes Recht überlagert und so die Fragestellung dieser Arbeit verflachen würde. Auch werden aufgrund dieses subordinativen Charakters immer wieder grundsätzliche theoretische Bedenken gegen universale Rechtsprinzipien geäußert. So ist namentlich in der Methodentheorie der Rechtsvergleichung heftig umstritten, ob sich verschiedene Rechtsordnungen auf allgemeine Prinzipien zurückführen lassen.24 Insgesamt scheint es daher ratsamer, keine universalen Rechtsprinzipien vorauszusetzen, um eine normative Rechtsvergleichung zu etablieren. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass solche Prinzipien gar nicht zu berücksichtigen wären. Sie sind in Form internationaler Modellregeln insbesondere für die Frage interessant, wie die rechtsvergleichende Argumentation methodisch zu strukturieren sei, damit sie praktisch gelinge.25 Autorität – Es bleibt noch die Frage nach der Autorität: »on se demande d’où l’argument fondé sur la comparaison tire-t-il son autorité.«26 Betrachten wir zur Verbindung von Normativität und Autorität in der rechtsvergleichenden Argumentation die folgende Textstelle:

____________ 22 Siehe Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, insbes. den 3. und 5. Teil. 23 Ponthoreau, L’argument fondé sur la comparaison dans le raisonnement juridique, 555. Man erkennt diesen Gedankengang auch schon bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 386; Sandrock, Über Sinn und Methode zivilistischer Rechtsvergleichung, 66–75; Saleilles, La Fonction juridique du Droit comparé, 170. 24 Davon wird im dritten Teil noch eingehend die Rede sein (Teil 3, bei Fn. 10). 25 Siehe dazu Teil 3, bei Fn. 55. 26 Ponthoreau, L’argument fondé sur la comparaison dans le raisonnement juridique, 555; siehe für das vollständige Zitat Einleitung, bei Fn. 18.

D. Stand der Forschung

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»But it may also be that the content of foreign law itself is a normative argument to adopt a certain solution. In such cases, foreign law contributes directly to the court decision or legislation and thus possesses authority for the court or the legislature: it is because a particular solution has been adopted elsewhere that the court or legislature wants to do the same. This argument may still have to be balanced against others, but it does have normative weight as an authority-based argument. The best examples of such ›hard‹ use of foreign law are cases in which a certain international consensus, or a foreign solution, is explicitly used as an argument for adopting the same solution at the national level.«27

Nach dieser Auffassung haben rechtsvergleichende Argumente ein normatives Gewicht, sofern sie eingesetzt werden, weil eine rechtliche Lösung von einer anderen rechtlichen Autorität angewendet wird. Der theoretische Status dieser Konzeption ist heikel. Ihr zufolge begründet rechtliche Autorität, namentlich jene eines internationalen Konsenses, die normative Kraft des rechtsvergleichenden Arguments. Sie schließt somit aus der Tatsache, dass jemand ein Argument vertritt, auf seinen normativen Gehalt: als Argument soll X gelten, weil es von Autorität Y vertreten wird. Das ist gleich ein doppelter Kategorienfehler. Erstens wird damit, ohne eine Begründung vorauszusetzen, von einem Sein auf ein Sollen geschlossen. Doch lediglich aus der Tatsache, dass jemand eine bestimmte Lösung vertritt, folgt nun einmal nicht, dass sie gelten soll. Die gegenläufige Konzeption impliziert also den klassischen naturalistischen Fehlschluss. Der zweite problematische Schluss liegt dann darin, dass ebenso über den Inhalt eines Arguments nichts gesagt ist, nur weil eine bestimmte Autorität es vertritt. Vielmehr sind Form und Inhalt eines Arguments kategorisch auseinanderzuhalten. Mit einer Konzeption, wie sie die zitierte Studie vertritt, sind normative rechtsvergleichende Argumente somit bloß um den Preis gedanklicher Unklarheit zu haben. Dieser Preis ist nicht unbezahlbar,28 doch es scheint mir nicht richtig, ihn zu bezahlen, weil die geschilderte Konzeption, ähnlich wie die Rechtsidee und die universalen Rechtsprinzipien, einzig den theoretischen Reflexionsbedarf verdeckt. Implizit zeigt die zitierte Studie selbst an, wo eigentlich weiterzudenken wäre, wenn sie neben dem normativen den inspirativen Gebrauch von Rechtsvergleichung beschreibt: »…it is not so much foreign law as such that is taken over by a national lawmaker or court, but the argument expressed in foreign legislation, or in a foreign court decision. That argument itself, however, is not specifically ›foreign‹: it has persuasive authority because of its inherent quality, not because it is used in another country. … This means that the influ-

____________ 27

Smits, Comparative Law and its Influence on National Legal Systems, 526. Es ist vielmehr eine Pointe der philosophischen Erfahrung im 20. Jahrhundert, dass Begriffe ihren Kategorien entfliehen (Gamm, Flucht aus der Kategorie, 67, 82). 28

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

ence of comparative law in this type of case is, at most, one of finding inspiration in the process of weighing the arguments in favour or against a particular solution.«29

Die Autorität dieser inspirativen Rechtsvergleichung wird theoretisch also anders aufgebaut. Die Studie spricht hier von der Überzeugungskraft des Arguments (»persuasive authority«), die sich aus seiner inhärenten Qualität ergeben soll und die dann den Abwägungsprozess für oder wider eine bestimmte Lösung inspiriert. Anders als vorhin wird die Kraft des Arguments damit aus seinem Gehalt begründet und insoweit ist die Konzeption klarer. Doch hat diese Kraft des rechtsvergleichenden Arguments jetzt nicht mehr normativen, sondern lediglich überzeugenden Charakter. Die zu begründende Ausgangsthese war jedoch die Normativität rechtsvergleichender Argumente – nicht eine inspirative, sondern eine normative Rechtsvergleichung. Diese These kann die Studie somit nicht schlüssig begründen. Hingegen verdeutlicht sie die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung: Die rechtsvergleichende Argumentation ist theoretisch soweit zu entwickeln, dass sie die normative Kraft ihrer Argumente aus deren Gehalt zu erklären vermag, ohne dabei auf die Begriffe von Inspiration und Überzeugungskraft zurückzugreifen.

E. Programm des Entwurfs Die bisherigen Ausführungen haben die rechtsvergleichende Argumentation als ein vielschichtiges, komplexes Problem erkenntlich gemacht. Die These, die der folgende Text zu begründen versucht, besteht in einem umfassenden theoretischen Entwurf zu diesem Problem. Um vom Inhalt dieser These eine möglichst klare Vorstellung zu geben, ist das mit den vorangehenden Überlegungen skizzierte Programm eines solchen Entwurfs noch einmal neu zusammenzustellen und zu verfeinern. Zu diesem Zweck werde ich das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation in einzelne Probleme aufteilen und sie zunächst getrennt und danach in ihrem Zusammenhang beschreiben, indem ich sie auf den Gang der Darstellung verteile. Abschließend wird die Methode vorgestellt, mit der die Untersuchung ihr Programm verfolgt. I. Probleme der Untersuchung Universalität als Paradox – Will man das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation grundlegend formulieren, so schließt es unter anderem ein, ____________ 29

Smits, Comparative Law and its Influence on National Legal Systems, 536 f.; ähnlich Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 241–243; siehe ferner Glenn, Persuasive Authority.

E. Programm des Entwurfs

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dass eigenes Recht mit jedem anderen Recht in einen Zusammenhang treten kann. Französisches Recht beispielsweise lässt sich mit englischem, amerikanischem, brasilianischem, japanischem oder chinesischem Recht zusammendenken. So gesehen bringt die Idee der rechtsvergleichenden Argumentation also zunächst ein universales Rechtsdenken hervor: Das eigene Recht wird dem Potential aller anderen Rechte gegenübergestellt. Aber allein damit kommt dem anderen Recht und so auch den rechtsvergleichenden Argumenten keine normative Wirkung zu. Das andere Recht bleibt ein Sein gegenüber dem Sollen des eigenen Rechts; aus der Perspektive des eigenen Rechts enthält das andere Recht lediglich Tatsachen, jedoch keine Normen. Wie gesehen, bleibt die rechtsvergleichende Argumentation nicht bei einem universalen, doch unverbindlichen Denkansatz stehen. Ihre These ist ein normativer Anspruch für das geltende Recht. Sie will also den Zusammenhang zwischen eigenem und anderem Recht normativ denken. Vorausgesetzt ist damit eine rechtstheoretische Begründung, weshalb eigenes und anderes Recht in einem normativen Zusammenhang stehen. Wie finden das Sollen des eigenen und des anderen Rechts zusammen? Sowohl die Rechtsidee wie die universalen Rechtsprinzipien geben hier eine Antwort. Beide stellen sie den nationalen Rechten einen übergeordneten Reflexionspunkt zur Verfügung, über den sie sich normativ verbinden können. Die nationalen Rechte bilden, so könnte man die Idee anders ausdrücken, nur vordergründig normativ getrennte Ordnungen. Bei genauerer Betrachtung bilden sie die normativen Unterschichten einer universalen normativen Oberschicht von Rechtsidee oder Rechtsprinzip, in der sie sich vereinen. Die vorliegende Studie will auf solche subordinativen Konzepte verzichten. Sie zielt auf eine Theorie, die einen prinzipiellen Zusammenhang ausschließlich vom eigenen Recht her entwickeln und auf positivrechtliche sowie sachliche Verbindungen zum anderen Recht verzichten kann. Mit dieser konsequent positivistischen Ausgangslage setzt sie sich freilich unter gewaltigen argumentativen Zugzwang. Denn der einzige Weg, das eigene Recht normativ mit dem anderen zusammenzubringen, besteht jetzt nur noch darin, seine Normativität soweit auszudehnen, dass sie jene des anderen Rechts impliziert. Das andere ist dann immer bereits eigenes Recht und so wären Argumente, die an ein anderes Recht anschließen, für das eigene normativ. Kann man aber bei einer in dieser Weise implizierten Normativität überhaupt noch von einem anderen Recht sprechen oder ist nunmehr nicht alles eigenes Recht? In dem Fall hätte sich die Möglichkeit rechts-vergleichend zu argumentieren aufgelöst, da Vergleichspunkte nicht mehr bestünden. Verhindert ein universeller und normativer Ansatz, wie ihn dieser Entwurf verfolgt, somit notwendigerweise die These einer normativen Rechtsvergleichung? Es wäre voreilig, das anzunehmen. Was sich abzeichnet, ist erst einmal ein Paradox, das sich wie folgt ausdrücken lässt: Ein rechtliches

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

Argument muss, damit es ein normatives und rechtsvergleichendes Argument ist, dem eigenen Recht angehören und zugleich nicht angehören. Dieses Paradox ergibt sich, wenn man so wie hier einerseits die rechtsvergleichende Argumentation als normativ und andererseits das eigene Recht als geschlossenes System voraussetzt. Die für das eigene Recht maßgebliche Normativität liegt dann nur innerhalb seines Systems, weshalb sich das System die anderen Rechte als sein Außen zu seinem Innen machen muss, sollen sie normativ wirken. Will man jetzt in dieser Situation gleichwohl von einer rechts-vergleichenden Argumentation sprechen, benötigt dieses System aber weiterhin einen äußeren Bezugspunkt. Es gibt gleichzeitig nur eines und viele Rechtssysteme, kann man das damit gegebene Paradox auch nochmals anders formulieren. Mit ihm wird das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation in seiner ganzen Schärfe gestellt. Normative Normativität – Theoretisch wirklich herausfordernd wird die rechtsvergleichende Argumentation erst, wenn sie eine normative Wirkung für das geltende Recht beansprucht. Mit diesem Anspruch sind neben dem soeben erläuterten Paradox viele weitere Schwierigkeiten verbunden. Denn es reicht ja nicht hin, dass eine rechtsvergleichende Argumentationstheorie eigenes und anderes Recht bloß normativ zusammenführt. Damit begründet sie erst die Basis für ein normatives Argument, das sich auf anderes Recht bezieht. Um diesem Argument auch eine normative Wirkung zuschreiben zu können, muss sie darüber hinaus erklären, woher das Argument seine normative Kraft erhält. Es zeigt sich so eine eigentümliche Verdoppelung der Normativität: Die Normativität des anderen ist zunächst in das eigene Recht zu integrieren und anschließend zu begründen, warum diese implizite Normativität normativ sein soll. Auch wenn es etwas übertrieben scheint, kann man dies als das Problem der normativen Normativität bezeichnen. Wie erreichen die rechtsvergleichenden Argumente somit eine normative Kraft? Die bisherigen Forschungen lassen zwei Ansätze erkennen. Entweder wird sie ihnen durch eine Autorität verliehen oder sie steckt in ihrem Gehalt. Wird sie als autoritative Kraft modelliert, führt das in einen Kategorienfehler. Dagegen ist das Konzept der inhaltlichen Kraft bisher nur unzureichend begründet. Zwar spricht man hier von der Überzeugungskraft des rechtsvergleichenden Arguments, die sich aus seiner inhärenten Qualität ergeben soll, will ihm dadurch aber gerade keine normative, sondern bloß eine inspirative Kraft zuweisen. Dieser Entwurf stellt sich ebenso gegen diese Konzeptualisierung wie gegen das autoritative Modell. Sein spezifisches Problem ist es entsprechend, die normative Kraft rechtsvergleichender Argumente inhaltlich zu erläutern. Das verlangt von ihm, allgemeiner formuliert, ein differenziertes theoretisches Modell, wie sich die normative Kraft von Argumenten konstituiert.

E. Programm des Entwurfs

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Mit der Weichenstellung inhaltliche statt autoritative Kraft sind freilich zahlreiche weitere Probleme verbunden, deren Kern die Normbindung durch Gesetze und Präjudizien bildet. Wie ist ihre spezifische Autorität zu interpretieren, wenn man Autorität und normative Kraft auseinanderhält? Diese Frage spitzt sich vor dem Hintergrund der rechtsvergleichenden Argumentation dramatisch zu: Falls die vom anderen Recht ausgehenden rechtsvergleichenden Argumente normativ wirken, indem sie eine inhaltliche Bindungswirkung entfalten, was bindet dann die juristische Argumentation noch an das eigene und nicht das andere Recht? Die Begründungslast für eine Theorie normativer Rechtsvergleichung erhöht sich damit noch weiter. Sie muss einen Differenzierungsgrad erreichen, bei dem sie die normative Kraft von Argumenten inhaltlich bestimmen kann, ohne gleichzeitig die Geltung des eigenen Rechts zu hinterfragen und sich an das andere Recht zu binden. Blackboxes – Eine Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation muss zumindest erklären, was ein rechtsvergleichendes Argument ist. Und das ist nicht wenig. Bereits wenn man diesen Begriff analytisch trivial zergliedert, ergeben sich grundlegende Fragen: Was ist Recht? Was ist Vergleichung? Was ist ein Argument? – Doch weiß man mit einem geklärten Rechts-, Vergleichungs- und Argumentbegriff denn wirklich, was ein rechtsvergleichendes Argument ausmacht? Wäre nicht ebenfalls zu überlegen, wie ein solches Argument strukturiert ist oder, anders gefragt, was für ein argumentativer Gehalt mit ihm transportiert werden kann? Hat das rechtsvergleichende Argument etwa eine Substanz und einen Ort? Finden wir es in der eigenen, anderen oder zwischen den Rechtsordnungen? Oder gehen solche substanzontologischen Fragen nicht geradezu am Problem des rechtsvergleichenden Arguments vorbei und müsste man dieses vielleicht eher als eine spezifische Denkbewegung in der rechtlichen Argumentation rekonstruieren? All diese mehr oder weniger assoziativ gestellten Fragen machen eines deutlich: Solange man sie nicht in einem theoretischen Zusammenhang überblickt, bleibt ein rechtsvergleichendes Argument ein seltsames Ding mit einem undurchschauten, diffusen Innenleben, eine Blackbox. Das Problem des rechtsvergleichenden Arguments als Blackbox weist somit über sich selbst hinaus. Eine rechtsvergleichende Argumentationstheorie kann sich also nicht nur auf die Blackbox des einzelnen rechtsvergleichenden Arguments konzentrieren. Sie wird dieses zentrale Problem nicht lösen, wenn sie seinen theoretischen Kontext unerörtert lässt, denn das hieße lediglich, die eine Blackbox in die nächste zu schachteln. Vom rechtsvergleichenden Argument ist daher die Perspektive zu erweitern auf sein Motiv und die Funktion solcher Argumente für die juristische Argumentation, von da zur Theorie der juristischen Argumentation selbst und weiter zur Philosophie der Argumentation und des Rechts. Es versteht sich von selbst, dass letzte Antworten über all diese Themengebiete hinweg weder möglich noch

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

notwendig sind, wohl aber ist es eine Positionsbestimmung zur gedanklichen Orientierung. Denn erst wenn geklärt ist, was die einzelnen Blackboxes (Argumentation, Argument, Funktion, Motiv etc.) enthalten und wie sie miteinander kommunizieren, erhält das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation eine theoretisch transparente Struktur. Methodisches Risiko – Das Problem des methodischen Risikos wird mit der Universalität der rechtsvergleichenden Argumentation unmittelbar verständlich. Rechtsvergleichendes Argumentieren bedeutet grundlegend, sein eigenes Recht dem Potential aller anderen Rechte auszusetzen. Um das bereits genannte Beispiel nochmals aufzunehmen: Französisches Recht kann potentiell mit englischem, amerikanischem, brasilianischem, japanischem oder chinesischem Recht verglichen werden. Wie erlangt also eine französische Richterin eine hinreichende Kenntnis etwa des englischen Rechts, um eine vergleichende Argumentation hinsichtlich des eigenen Rechts aufbauen zu können? Das Risiko, das andere Recht falsch zu verstehen und daraus heikle Schlussfolgerungen für die eigene Rechtsanwendung zu ziehen, ist augenscheinlich hoch und die Möglichkeiten der Richterin, den Prozess der Vergleichung zu steuern, sind allein schon zeitlich begrenzt. Auf der anderen Seite liegt nahe, dass rechtsvergleichendes Argumentieren unabsehbare praktische Folgen zeitigt, wenn man seine methodischen Risiken ausblendet. Eine Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation muss sich daher auch mit dem Problem auseinandersetzen, was die methodischen Schwierigkeiten der Rechtsvergleichung sind und wie sich die damit verbundenen Risiken praktisch verarbeiten lassen. II. Gang der Darstellung Dem Entwurf geht es mit Blick auf die rechtsvergleichende Argumentation um gedankliche Orientierung. Sein erster Teil handelt entsprechend davon, einen Raum des rechtsvergleichenden Denkens zu entwerfen. Dieser Denkraum ist darauf angelegt, der rechtsvergleichenden Argumentation ihre normativen Möglichkeiten für das geltende Recht zu eröffnen. Als Eröffnung wird das prinzipielle normative Verhältnis zwischen eigenem und anderem Recht thematisiert. Dieses Verhältnis hat, wie gesehen, eine paradoxe Struktur. Anderes Recht muss sich als eigenes beschreiben lassen und gleichwohl anderes Recht bleiben. Um dieses Paradox aufzulösen, führt der erste Teil den Begriff des Rechtskontextes ein. Eigenes und anderes Recht werden als spezifisch strukturierte Kontexte beschrieben, zwischen denen praktisch erzeugte Normativität zirkuliert. Das wird in zwei größeren Schritten dargelegt. Philosophisch orientiert fokussiert die Untersuchung zunächst auf das eigene Recht und beschreibt nach dem Vorbild eines europäischen Rechtsstaates, wie die Praktiken in diesem spezifischen Rechtskontext seine Nor-

E. Programm des Entwurfs

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mativität produzieren. Hier kommen insbesondere Probleme der Rechtsgeltung, der juristischen Argumentation und die Grenze zwischen Recht und Tatsachen zur Sprache. Ziel dieses ersten Schrittes ist es, das anfangs positivistisch radikal geschlossene System aufzubrechen und seine Normativität zu erweitern. In einem zweiten Schritt gilt es dann, zu zeigen, wie diese im eigenen Rechtskontext produzierte Normativität sich mit jener des anderen Rechts verschränkt, ohne dabei das andere Recht als einen spezifisch anderen Kontext aufzuheben. Mit diesem Zweischritt argumentiert der erste Teil für eine bestimmte Denkhaltung. Er versucht zu zeigen, wie sich das andere Recht gegen alle positivistischen Widerstände durchsetzt und dass es daher angezeigt ist, die Idee einer normativen Rechtsvergleichung näher und vorsichtig zu reflektieren. Der erste Teil zieht für die normative Wirkung des anderen Rechts und der rechtsvergleichenden Argumentation noch keine Konsequenzen. Was er geltend macht, ist, dass mit dem Konzept eines eigenen Rechts irreduzibel eine Veranderung dieses Rechts durch anderes Recht gesetzt wird. Das ist die Ausgangslage oder der Raum des rechtsvergleichenden Denkens. Erst der zweite Teil erläutert, weshalb diese Veranderung des eigenen Rechts in der rechtsvergleichenden Argumentation auch argumentativ nachvollzogen werden sollte. Er dreht sich somit um die rechtsvergleichende Argumentation als eine normative Forderung, kurz: um das Problem der normativen Normativität. Zugleich entwickelt der zweite Teil die Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation, mit denen sich ihre Blackboxes entschlüsseln lassen. Seine analytische Leitmetapher bleibt dabei der Rechtskontext und wiederum vollzieht sich die Argumentation in zwei größeren Schritten. Ausgehend von der philosophischen Argumentationstheorie wird zuerst für das eigene Recht oder eben den eigenen Rechtskontext eine detaillierte Struktur der rechtlichen Argumentation entworfen. Diese Struktur orientiert sich erneut am europäischen Modell und auch sonst schreibt sie die Thesen des ersten Teils fort. Die umfangreichen Vorarbeiten ermöglichen es anschließend, Motiv, Funktionsweise und Normativität der rechtsvergleichenden Argumentation präzise zu bestimmen. Am Ende des zweiten Teils steht somit ein rechtstheoretisches Vokabular, mit dem man über das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation wesentlich differenzierter zu sprechen vermag als bisher. Ein Vokabular, mit dem sich ausdrücken lässt, worum es bei der rechtsvergleichenden Argumentation geht und worum nicht und mit dem man entsprechend nuancierter darüber urteilen kann, inwiefern sie als eine normative Argumentationsform des geltenden Rechts Sinn ergibt. Eine Gegenüberstellung mit dem Vokabular der bisherigen Forschungen wird das ausführlich illustrieren. Der abschließende dritte Teil des Entwurfs widmet sich der Frage, wie rechtsvergleichendes Argumentieren methodisch zu strukturieren sei, damit

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

es praktisch gelinge. Einleitend rekapituliert er die Methodendiskussion der Rechtsvergleichung und versucht einige Wegweiser für die künftige Theoriebildung aufzustellen. Ausgehend davon wird danach in drei Abschnitten eine Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation entworfen. Ein erster Abschnitt führt zunächst die methodischen Fragen mit den Thesen des ersten und zweiten Teils zusammen. Dadurch sollen zum einen die methodischen Schwierigkeiten der rechtsvergleichenden Argumentation unterstrichen und zum anderen soll erklärt werden, warum man diesen Schwierigkeiten nicht ausweichen darf. Vielmehr hat sich eine rechtsvergleichende Argumentationstheorie bewusst auf die methodischen Risiken der Rechtsvergleichung einzustellen. Der zweite Abschnitt nimmt dieses Ergebnis auf und entwickelt deshalb risikobezogene Strukturen der Vergleichung. Diese erwägen verschiedene Möglichkeiten, um das methodische Risiko rechtsvergleichenden Argumentierens in ein kalkuliertes Risiko umzuformen und setzen diese Möglichkeiten systematisch zusammen. Im dritten Abschnitt wird schließlich der Begriff der Vergleichung diskutiert. Hier wird also der Frage nachgegangen, ab wann ein Gericht, das sich auf anderes Recht bezieht, tatsächlich vergleichend vorgeht und nicht bloß anderes Recht übernimmt. In einem grundlegenden Vergleichungsbegriff findet die Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation ihren Abschluss. Der dritte Teil richtet seine theoretische Aufmerksamkeit somit weniger auf die Frage, ob man rechtsvergleichend argumentieren sollte, sondern wie sich das praktisch umsetzen ließe. Ihn interessiert nicht so sehr, wie die Veranderung des eigenen Rechts als philosophische oder argumentationstheoretische, sondern wie sie als praktische Veranderung nachvollzogen werden kann. III. Methode der Untersuchung Dass der folgende Text seine These auf einer breiten thematischen Front vorantreibt, macht das soweit formulierte Programm unschwer deutlich. Sein Vorhaben verwendet philosophisches, rechtstheoretisches und rechtsmethodisches Wissen und erörtert nicht allein die Theorie der rechtsvergleichenden, sondern auch jene der juristischen und philosophischen Argumentation sowie die allgemeine Rechtstheorie. Die Untersuchung verfolgt somit einen prononciert holistischen Ansatz. Als holistisch versteht sie eine Position, die die Bedeutung einzelner Teile aus einem ganzen Zusammenhang heraus bestimmt. Folglich sieht sie die einzelnen Probleme der rechtsvergleichenden Argumentation namentlich durch das Ganze einer rechtlichen Argumentationstheorie bestimmt. Soll das problembestimmende Ganze aber keine leere Form sein, muss es selbst wieder in einzelne Teile zerlegt werden. Das bedeutet, das Ganze einer juristischen Argumentationstheorie ist in einzelnen Theoremen der rechtlichen Argumentation zu erörtern. Mit ihnen

E. Programm des Entwurfs

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werden jedoch weitere Ganzheiten vorausgesetzt, insbesondere des Rechts und der Argumentation, weshalb sich die holistische Analyse noch weiter ausdehnt. Es sollte damit einigermaßen verständlich sein, was die Untersuchung unter einer holistischen Methode versteht. Wie setzt sie der folgende Text nun aber konkret um? Der erste und zweite Teil des Entwurfs sind methodisch fast identisch aufgebaut. Die Eröffnung machen die philosophischen Grundlagen, die zunächst losgelöst vom rechtlichen Kontext dargelegt werden. Sie enthalten detaillierte und dennoch prägnante Darstellungen einer Philosophie der Dekonstruktion (Teil 1) und der Argumentation (Teil 2). Die eingeführten Philosophien werden anschließend für den rechtlichen Kontext interpretiert. Das soll nicht so geschehen, dass die Interpretation das Recht gewissermaßen von außen mit philosophischen Wahrheiten überschreibt. Gerade umgekehrt nimmt sie jeweils das Recht als spezifischen Kontext an und befragt ihn mit den philosophischen Mitteln gleichsam von innen her. So entstehen die Konturen einer Dekonstruktion des Rechts beziehungsweise einer Theorie der juristischen Argumentation. Einem holistischen Ansatz gemäß werden diese Theorien im zweiten Teil aufeinander abgestimmt, womit zugleich gesagt ist, worin der methodische Aufbau des ersten und zweiten Teils sich unterscheidet. Erst nachdem das jeweilige theoretische Ganze zusammengesetzt ist, erörtern die beiden Teile die ihnen zugewiesenen Probleme der rechtsvergleichenden Argumentation. Dieses Diskussionsstadium wird im dritten Teil wesentlich schneller erreicht, da er keine neuen philosophischen Grundlagen einführt, sondern die vorangehenden übernimmt und so direkt bei der Methodentheorie der Rechtsvergleichung einsetzen kann. Die holistische Methode, wie sie dieser Entwurf verwendet, hat Vor- und Nachteile. Ihr entscheidender Vorteil liegt darin, wertvolles philosophisches Erklärungspotential für den rechtlichen Diskurs verfügbar zu machen, ohne es dem Leser unexpliziert oder trivialisiert hinzustellen und dadurch eine entweder von vornherein kraftlose oder nur für Eingeweihte entzifferbare Argumentation zu entwickeln. Der Text wird vielmehr so angelegt, dass sich seine philosophische Argumentation aus ihm selbst heraus entfalten kann; er soll sich selbst erklären. Der offensichtliche Nachteil ist auf der anderen Seite, dass sich der Leser in die entsprechenden Grundlagen eindenken muss, will er nicht an der hier vertretenen These vorbeilesen. Das Versprechen, das ihm jedoch mitgegeben werden kann, ist, dass der Entwurf zum einen versucht, die rechtstheoretischen Vorarbeiten so knapp und klar wie möglich zu fassen und sie zum anderen wirklich umfassend für sein Ziel einer rechtsvergleichenden Argumentationstheorie einsetzt. Dieses Ziel ist es letztlich auch, das den holistischen Ansatz dieser Untersuchung trotz seiner Nachteile sachlich rechtfertigt. Eine Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation, die eine vertrauenswürdige Orientierung für die Praxis sein

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Einleitung: Das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation

möchte, kann das juristische Argumentieren vor Gericht nicht um-schreiben, ohne zugleich ein insgesamt konsistentes argumentatives Modell aufweisen zu können. Als eine Ansammlung kurzatmiger Aphorismen zur rechtsvergleichenden Argumentation schließt sich der Entwurf daher bereits methodisch aus. Er sieht aber auch keinen Grund, den Leser in eine philosophische Atemlosigkeit zu versetzen, sondern sucht ihn auf einem ausgeglichenen Mittelweg zu erreichen.

Teil 1

Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

A. Grenzdekonstruktion Eine Untersuchung, inwiefern sich nationales Recht von anderem abgrenzen lässt, kann mit der Frage nach der Bedeutung des eigenen Rechts einsetzen. Sie ist uns ohne Weiteres vertraut, denn immer wieder fragen wir nach dem Sinn oder der Bedeutung von Normen des eigenen Rechts. »Was bedeutet diese Norm des Gesetzes für einen Fall wie diesen?«, ist eine Frage, die den Juristen zur zweiten Natur wird und die den wesentlichen Grund darstellt, warum sie argumentieren. In der Rechtsargumentation wollen sie klären, was der maßgebende Sinn einer Norm ist. Ihr Interesse ist es dann, etwas allgemeiner formuliert, das geltende nationale Recht zu ermitteln. Sie beschäftigen sich also mit dem Recht als normative Forderung oder, nochmals anders gesagt, sie argumentieren für ein bestimmtes rechtliches Sollen. Da sich dieser Argumentationsprozess um das geltende eigene Recht dreht, stehen sie der Frage, ob man sich hier vergleichend auf anderes Recht beziehen könne, naturgemäß skeptisch gegenüber. Für das eigene ist anderes Recht grundlegend nicht relevant, ließe sich diese skeptische Meinung prägnant einfangen. Mit ihr zieht der Skeptiker dem anderen Recht eine klare Grenze. I. Die logische Grenzziehung des Positivismus Die Meinung, das eigene und das andere Recht ganz grundlegend voneinander abgrenzen zu können, kommt nicht von ungefähr. Sie weiß eine starke positivistische Logik hinter sich: die rechtstheoretische Trennung von Sein und Sollen. Eine an ihr orientierte logische Grenzziehung zwischen nationalen Rechten findet sich selbst noch bei Autoren, die sich für eine rechtsvergleichende Argumentation einsetzen: »Es ist zuzugeben, daß die vergleichende Heranziehung ausländischen Rechts logisch kein Element der Anwendung inländischer Rechtsnormen sein kann. Sollenssätze der einen Rechtsquelle sind als solche nicht von dem einer anderen Rechtsordnung zugehörenden Rechtsanwender zu beachten – von der Ausnahme der Verweisung abgesehen. Die Bindung des Sollens wirkt nur innerhalb der eigenen Rechtsordnung.« 1

Entlang der logischen Trennung von Sein und Sollen werden eigenes und anderes Recht so klar geschieden. Und ebenso klar fallen dann die Konsequenzen für die normative Relevanz von anderem Recht und rechtsvergleichenden Argumenten aus: Eine auf ihnen basierende Normativität ist logisch prinzipiell ausgeschlossen. Das andere Recht ist für das eigene lediglich ein Sein und damit sind rechtsvergleichende Argumente nicht normativ, sondern empirisch. Eine neuste Studie zur rechtsvergleichenden Argumentation formuliert das ausdrücklich: ____________ 1

Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, 203.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

»Finally, the absence of any binding force of foreign law in cases where its use is not mandatory also means that it has no normative quality. Yet again, this is the logic of two different sets of norms, which are in no hierarchical or other connection: the ›sollen‹ of the foreign system is just a ›sein‹ in the domestic. The foreign ›ought‹ has no normative relevance for the domestic ›ought‹. It functions just as an empirical fact about a social phenomenon (legal regulation) in a different normative system. Arguing out of a foreign model is, from the point of view of domestic legal norms, just an empirical argument.« 2

Doch die zitierte Studie ahnt selbst, dass diese positivistische Logik mit einer rechtsvergleichenden Argumentationstheorie nicht wirklich harmoniert und so versucht sie eine inspirative Rechtsvergleichung zu begründen, deren Argumente zumindest eine indirekt normative Relevanz haben sollen.3 Allerdings kommt sie auf diesem Weg nicht über die einleitend zitierte Studie hinaus, denn auch sie will rechtsvergleichende Argumente nicht als bindende, sondern lediglich als überzeugende Kraft verstehen.4 Die Rede von einer indirekt normativen Relevanz täuscht somit über das ungelöste theoretische Sachproblem hinweg und lässt die positivistische Logik der Grenzziehung unverändert in Kraft: Das eigene bleibt eigenes und das andere bleibt anderes Recht. II. Die Transformation der positivistischen Logik Das Programm einer normativen Rechtsvergleichung ist nach dem Gesagten nur dann zu realisieren, wenn man einerseits den positivistischen Skeptiker ernst nimmt, andererseits aber seine Logik grundlegend hinterfragt. Der vorliegende Entwurf folgt einer konsequent positivistischen Ausgangslage und übernimmt somit die skeptische Grundannahme, indem er das eigene Recht als radikal geschlossenes System definiert. Wie erläutert, setzt er sich damit dem Paradox aus, alles Sollen des anderen Rechts in das Sollen des eigenen Rechts integrieren zu müssen, ohne dabei das andere im eigenen Recht aufzuheben. Wie ist es nun möglich dieses Paradox aufzulösen und dadurch die positivistische Logik zu transformieren? Nimmt man den positivistischen Skeptiker ernst, sind subordinative Konzepte wie die Rechtsidee oder universale Rechtsprinzipien keine Option. Sie setzen dem positivistischen Credo mit seinem Verständnis von Sein und Sollen lediglich ihr eigenes Credo entgegen, in dem ein universales rechtliches Sollen jenes der nationalen Rechte überlagert. Die skeptische Position ____________ 2

Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 242. Bobek, ebd., 243 (»judges start … [to] look for extra-systemic foreign inspiration and reasoning«, »foreign solutions will be accorded, via judicial fiat, indirect normative relevance in the domestic law«). 4 Vgl. Einleitung, bei Fn. 29 mit Bobek, ebd., 241 (»comparative arguments are simply: (i) persuasive authority, never a binding one«). 3

B. Dekonstruktion

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gerät durch ein solches Glaubensbekenntnis naturgemäß nicht unter argumentativen Druck, denn Glaubensbekenntnisse sind keine Argumente. Oder mit Hegel: »Ist die Widerlegung gründlich, so ist sie aus ihm [sc. dem Widerlegten] selbst genommen und entwickelt, – nicht durch entgegengesetzte Versicherungen und Einfälle von außen her bewerkstelligt.«5 Die Transformation der positivistischen Logik hat deshalb innerhalb dieser Logik anzusetzen. Sie muss zeigen, wie der Skeptiker jene logische Grenze zwischen den nationalen Rechten überschreitet, indem er sie zieht. Jetzt steht die positivistische Logik ja nicht isoliert im Raum und die Gründe, mit denen man sie verteidigen kann, entsprechen ihrer Stärke. Es sind tatsächlich viele Instanzen, die sich für die normative Trennung zwischen eigenem und anderem Recht anführen lassen: Demokratie und Autonomie, Territorialität und Nationalität, Identität und Kultur, Grundnorm und System etc. – Aber die Frage bleibt sich gleich: Können Instanzen wie diese die logische Grenzziehung des Positivismus wirklich absichern? Oder verhält es sich vielmehr so, dass bereits die Frage nach der Bedeutung des eigenen Rechts den Impuls für eine Bewegung setzt, die, sofern man ihr nachgeht, zeigt, dass sie das Denken über das eigene Recht über die eigenen Grenzen hinaustreibt? Die genannten Fragen verlangen also nach einer Theorie, die erläutert, wie die Bedeutung in den Normtexten des eigenen Rechts entsteht: Wie produziert sich, allgemein gefragt, nationale Normativität aus Gesetzen und Präjudizien? Und kann dieses spezifisch nationale Sollen des Rechts über Instanzen wie System, Demokratie oder Normbindung von anderen normativen Ordnungen logisch positivistisch oder ähnlich abgegrenzt werden? Jene Theorie, die in solchen Fragen vermutlich besser Bescheid weiß als jede andere, ist die von Jacques Derrida entwickelte Philosophie der Dekonstruktion. Mit ihr soll in diesem ersten Teil die positivistische Grenzziehung umfassend dekonstruiert und so ein Raum eröffnet werden, in dem sich eine normative Rechtsvergleichung denken lässt.

B. Dekonstruktion Als eine Theorie von Bedeutungskonstitution geht die Dekonstruktion von der folgenden Frage aus: Wie ergibt sich die Bedeutung eines Textes?6 Die ____________ 5

Hegel, Phänomenologie des Geistes, 27 und 418 – am Beispiel der Aufklärung. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 19, 81; Engelmann, Einleitung, 17–19, 26. Die Theorie der Dekonstruktion gibt es freilich nicht. Auch Derrida selbst verzichtet bewusst auf eine Definition von Dekonstruktion (Derrida, Limited Inc, 218). Meine Skizze orientiert sich namentlich an Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Sie schuldet seiner luziden Darstellung sicherlich mehr, als sich nachstehend in Fußnoten einfangen ließe. 6

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

Schwierigkeit dieser Ausgangsfrage beginnt damit, dass bereits sie selbst eine Bedeutung erzeugt. Sie bedeutet etwas und so liegt der Frage immer schon eine Antwort voraus. Verglichen mit dieser vorausliegenden Antwort kommt jede erst noch zu entwickelnde Antwort irreduzibel zu spät. Daraus zieht die Dekonstruktion den Schluss, dass sie ihre Frage beantworten muss, indem sie auf das zurückblickt, was bereits vorliegt.7 Was liegt bereits vor? Was vorliegt, sind Zeichen – die Buchstaben des Alphabets in Worte geformt, mit ihren Leerzeichen dazwischen und ein Satzzeichen zum Ende, mit dem die Ausgangsfrage gestellt ist: »Wie ergibt sich die Bedeutung eines Textes?« Das Problem der Konstitution von Bedeutung in Texten verschiebt sich so zunächst auf die Konstitution von Zeichen.8 I. Zeichen Derrida beschreibt die Konstitution von Zeichen mit den Aspekten von différance, Spur und Wiederholung. Im Zusammenspiel formen diese Aspekte ein Dreieck, mit dem sich ein Zeichen als Basis von Bedeutungskonstitution erläutern lässt.9 Die folgenden Ausführungen wenden sich deshalb zunächst jenen Eckpunkten zu, um danach zu zeigen, wie das Zeichen die Bedeutung eines Textes strukturiert. 1. Différance Derrida entwickelt die différance maßgeblich in seiner Auseinandersetzung mit dem Linguisten Ferdinand de Saussure, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sprachwissenschaft neu begründet.10 Auch Saussure hatte bereits über die Konstitution von Zeichen geforscht. Im Rahmen seiner Untersuchungen zur Lehre von den Zeichen, der Semiologie, gibt er die folgende Definition des Zeichens: Ein Zeichen verbindet eine Vorstellung mit einem ____________ 7

Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 83 f.; Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 202; ders., Die Schrift und die Differenz, 311; ders., Grammatologie, 35 f.; Gamm, Perspektiven nachmetaphysischen Denkens, 116. – Diese Rückwendung ermöglicht es allerdings nicht, die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen in der Frage selbst gleichzeitig zu ihrem eigenen Bedeutungsgeschehen zu beantworten. Der Bruch zwischen Reflexion (Antwortinhalt) und Praxis (Antwortvorgabe) bleibt irreduzibel (Bertram, ebd., 85). Im Augenblick, da sie gestellt wird, verschiebt sich die Fragestellung und lässt sich auch nicht durch eine rückwärts gewandte Innenreflexion wieder zurechtrücken (vgl. Derrida, Glas, 25). 8 Dabei ist unerheblich, ob die Ausgangsfrage ausgeschrieben oder ausgesprochen wird, weil sich mündliche und schriftliche Sprachzeichen in ihrer Bedeutungsmöglichkeit nicht prinzipiell unterscheiden (siehe dazu Derrida, Randgänge der Philosophie, 112–118). 9 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 87, 103. 10 Derrida, Grammatologie, 44, 49–129; ders., Randgänge der Philosophie, 37–40, 99.

B. Dekonstruktion

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Lautbild. Die Vorstellung bezeichnet er dabei als Signifikat, das Lautbild als Signifikanten. In einem Zeichen verweist somit ein bezeichnender Signifikant auf ein bezeichnetes Signifikat. So stehen beispielsweise beim Zeichen »Buch« die Buchstaben dieses Wortes für das, was wir uns unter einem Buch vorstellen, wenn wir dieses Wort lesen oder aussprechen. Das Wort »Buch« ist der Signifikant, unsere Vorstellung eines Buches das Signifikat. In diesem Modell ist das Zeichen folglich als Zeichen von etwas gedacht, als sinnlich wahrnehmbares Außen, das auf ein intelligibles Innen verweist.11 Saussure übernimmt diesen Zeichenbegriff aus der metaphysischen Tradition, deren Konzept von Bedeutungskonstitution für die folgenden Überlegungen kurz zu skizzieren ist. In der Metaphysik bezieht ein Zeichen seine Bedeutung aus einem Signifikat, das dem Signifikat innerhalb des Zeichens übergeordnet ist. Die Bedeutung ist ideal bereits vorhanden und der Prozess ihrer Konstitution besteht nur noch darin, sie in der Zusammensetzung von Signifikant und Signifikat auszudrücken.12 Jenes übergeordnete Signifikat strukturiert das Zeichen somit in der Weise, dass in ihm die Ordnung des Signifikats mit der Ordnung des Signifikanten niemals gleichzeitig ist, sondern ihr vorausgeht. Die Signifikanten sind bloß ein Ausdruck einer vorgegebenen Ordnung und für die Bedeutungskonstitution somit nicht entscheidend. Denn was als Bedeutung sprachlicher Zeichen gilt, ist letztlich von einem Standpunkt außerhalb ihrer selbst konstituiert. Bedeutungsbestimmend ist eine Instanz, die die Zeichen überschreitet – ein transzendentales Signifikat.13 Saussure bezweifelt nun die Möglichkeit eines solchen äußeren Standpunkts. Er entwirft eine semiologische Erklärung von Bedeutungskonstitution, die ohne Rückgriff auf ein transzendentales Signifikat auskommen soll. So betrachtet er Signifikant und Signifikat als zwei gleichgeordnete Seiten ein und derselben Sache. Die Zeichenbedeutung ergibt sich für ihn dementsprechend nicht aus einem übergeordneten Signifikat. Bedeutung erlange ein Zeichen nur dadurch, dass es sich von anderen Zeichen unterscheidet.14 Saussure formuliert das wie folgt: »Ob man Bezeichnetes [als Signifikat] oder Bezeichnendes [als Signifikant] nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus

____________ 11 Derrida, Randgänge der Philosophie, 39; ders., Positionen, 150 Anm. 6; ders., Die Schrift und die Differenz, 425. 12 Derrida, Positionen, 41; Engelmann, Einleitung, 22 f. 13 Siehe Derrida, Grammatologie, 35; ders., Positionen, 42, 53; ders., Randgänge der Philosophie, 94–96. 14 Derrida, Positionen, 40 f.; Engelmann, Einleitung, 24.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist.«15

Bedeutungsbestimmend sind nach dieser These somit einzig die »Verschiedenheiten« unter den einzelnen Zeichen, nicht eine übergeordnete Instanz oder die Zeichen für sich selbst. Jetzt bestehen solche Zeichenverschiedenheiten nicht als vorgegebene oder feste Differenzen: »Diese sind weder vom Himmel gefallen noch ein für alle Mal in ein geschlossenes System, in eine statische Struktur eingeschrieben«, wird Derrida später schreiben.16 Und gleiches lässt sich ebenso wenig von den einzelnen Zeichen behaupten, zwischen denen die Verschiedenheiten bestehen. Saussure schreibt also folgerichtig: »Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.«17

Wie kann aber eine »Verschiedenheit ohne positive Einzelglieder« gedacht werden? Saussure beantwortet diese Frage nicht. Mit der différance entwirft Derrida eine Antwort: Wenn eine Differenz nicht zwischen positiven Einzelgliedern besteht, muss das Denken der Differenz auf jenes dynamische Moment zurückgehen, aus dem die Einzelglieder erst hervorgehen. Zu denken ist die Differenz nicht als Unterschied zwischen feststehenden Punkten, sondern als Bewegung der Differenzierung, mit der diese Punkte entstehen. Diese dynamische Bewegung der Differenzierung bezeichnet Derrida als différance. Er charakterisiert sie mit den Aspekten von Raum, Zeit und Kraft.18 Wie ist das näher zu verstehen? Die Differenzierung von Zeichen impliziert insoweit ein räumliches Moment, als zwei Zeichen wie a und b nur dann voneinander unterschieden sind, wenn zwischen ihnen eine räumliche Trennung besteht. Schriftsprachen realisieren dieses Prinzip augenfällig in der Praxis des Leerzeichens. Jede Differenzierung bedeutet somit einen Zwischenraum. Aus diesem Zwischenraum folgt zugleich das zeitliche Moment der Differenzierung. Ein Zeichen ist, wie Saussure sagt, kein positives Einzelglied. Es besteht nicht für sich allein, sondern nur in seiner Differenzierung zu anderen Zeichen. In einem Zeichensystem mit den Elementen a und b konstituiert sich a deshalb nur in einem Umweg über b. Erst nach diesem »unumgänglichen Umweg« (Bertram) kommt das Zeichen a als solches zustande. Der Zwischenraum unter den Zeichen bewirkt somit eine zeitliche Verzögerung in der Zeichen____________ 15

Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 143 f. Derrida, Positionen, 51. 17 Saussure, ebd. 18 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 89. 16

B. Dekonstruktion

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konstitution, weshalb jede räumliche Differenzierung auch Zeit ist. Nimmt man die Aspekte von Raum und Zeit zusammen, so lässt sich sagen, dass différance die Zeichenbildung als Bewegung von raumzeitlichen Differenzen erläutert.19 Mit dem dritten Aspekt beschreibt Derrida die Bewegung der Differenzierung als produktive Kraft.20 Die Schwierigkeit dieses Moments besteht darin, dass différance weder schlichte Beschreibung noch Ursache des Zeichengeschehens sein kann. Schlichte Beschreibung deswegen nicht, weil sie in dieser Position nichts bewirken könnte. Sie würde dem Zeichengeschehen bloß zusehen, wie es sich vollzieht. Ein differentielles Zeichen kann indessen ohne différance gar nicht erst gedacht werden. Die Bewegung der Differenzierung geht den Einzelpunkten immer voraus. Deshalb ist différance im differentiellen Zeichenbegriff notwendig voraus-gesetzt. Sie muss sich auf das Zeichengeschehen differenzierend auswirken und kann es nicht nur beschreibend mit-verfolgen. Sie hingegen als Ursache des Zeichengeschehens zu deuten, hieße erneut einen äußeren Standpunkt einnehmen, von dem aus Zeichenbedeutung transzendental erzeugt wird. Das Programm, die Bedeutungskonstitution ohne eine übergeordnete Instanz, ohne ein transzendentales Signifikat zu erklären, wäre gescheitert. Mit dem erreichten Diskussionsstand lässt sich jedoch bereits verstehen, weshalb Saussure zu Recht an der Möglichkeit eines äußeren Standpunktes zweifelte und es nicht überzeugen kann, Bedeutungskonstitution auf eine übergeordnete Instanz wie Subjekt, Bewusstsein, Logos (usw.) zurückzuführen: Eine Instanz außerhalb des Zeichengeschehens beansprucht, sich nicht in einer Bewegung der Differenzierung zu bestimmen, sondern Bestimmtheit in sich selbst zu erlangen – sie ist in ihrem Dasein schlicht das, was sie ist. Ihre Präsenz gleicht somit einem Zeichen, das keinen unumgänglichen Umweg zurückzulegen braucht. Etwas mit einer solchen privilegierten Präsenz auszuzeichnen, beschreibt Derrida als Präsenzmetaphysik.21 Mit ihr wird, so Derrida, ein unklarer Begriff von Bestimmtheit eingeführt. Eine Bestimmtheit ist seinem Verständnis zufolge nur als etwas denkbar, das sich unterscheidet. Ich finde also etwa im Regal ein bestimmtes Buch nur, indem ____________ 19 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 89 f.; Derrida, Randgänge der Philosophie, 36, 42 f., 119; Düttmann, Derrida und ich, 19. Derrida fasst die raumzeitliche Differenzierung mit dem Neologismus différance zusammen (Derrida, ebd., 36). Inspiriert durch Hegel gehen so bei Derrida die Aspekte von Raum und Zeit ineinander über. Die Verräumlichung ist bei ihm das Raum-Werden der Zeit, das sich mit der irreduziblen Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft konstituiert. Die Verzeitlichung ist das Zeit-Werden des Raums als wechselseitiger Umweg zwischen den beiden Differenzpunkten von Vergangenheit und Zukunft (ders., ebd., 42 f.). 20 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 9–53; ders., Grammatologie, 44. 21 Derrida, Randgänge der Philosophie, 45–50, 96–105; ders., Positionen, 51–53; ders., Sporen, 206; Wortham, The Derrida Dictionary, 103–105.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

ich es von anderem unterscheide und nicht bloß weil es dieses Buch ist. Nach Derrida ist deshalb der Begriff von etwas in sich selbst Bestimmtem ein Widerspruch in sich, denn er bedeutet einen unterschiedslosen Unterschied. Es gibt somit keine Unterschiedslosigkeit, das heißt keinen Standpunkt außerhalb der Bewegung der Differenzierung (différance), der nicht auch ein Unterschied wäre.22 Wie kann also die différance als differenzierende Bewegung wirken, ohne sich selbst jenseits derselben Bewegung als übergeordnete Instanz zu positionieren – wie erreicht die différance einen Standpunkt innerhalb von différance? Die Frage erscheint auf den ersten Blick logisch widersinnig, da sie einen Begriff auf sich selbst bezieht. Derrida entschärft diese Paradoxie, indem er betont, différance sei weder Wort noch Begriff. Was hier im Text somit als die différance erscheint, ist niemals sie selbst, sondern ein Implikat von différance.23 Gleichwohl bleibt das Denken von différance paradox, da sie nur im bereits differenzierten Zeichen gedacht werden kann und zugleich dem Zeichen vorausgehend gedacht werden muss.24 Dieses Vorausdenken lässt sich bei Verzicht auf einen äußeren Standpunkt nur so verstehen, dass différance als ursprüngliche Ursache differentieller Zeichen auftritt, welcher der Name Ursprung nicht mehr zukommt. Sie markiert auf diese Weise den Rand eines Textes.25 Die Paradoxien der différance dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass auch sie die Ausgangsfrage der Dekonstruktion nicht hintergehen kann. Die Bedeutungskonstitution in Texten kann nur aus bereits bedeutenden Zeichen rekonstruiert werden. Das weiß auch Derrida und deshalb geht es ihm bei der différance nicht darum, die Möglichkeitsbedingungen von Zeichen und Bedeutung festzuschreiben, sondern die Kritik metaphysischen Denkens an die Grenze ihrer Möglichkeit zu treiben. Diese Grenze ist mit den bereits bestehenden Zeichen markiert. Différance kann sich nicht von ihrem Gegebensein im Zeichen ablösen. Sie bleibt ohne reales Zeichengeschehen unbedeutend. Für die Bildung von bedeutungstragenden Zeichen ist

____________ 22 Bertram/Lauer/Liptow/Seel, In der Welt der Sprache, 213–215. Um dasselbe in Hegel’schen Worten zu sagen: Die Unterschiedslosigkeit zu denken, gleicht dem Versuch ein »formloses Weißes« herzustellen; es ist ein Gedanke, mit dem man sich in der »Leerheit des Absoluten« versenkt (Hegel, Phänomenologie des Geistes, 51; siehe für dieses Argument auch Bennington, Derridabase, 85–88; Bertram/Liptow, Holismus in der Philosophie, 28; Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 102–104; Sloterdijk, Derrida ein Ägypter, 41, 54–65). 23 Derrida, Randgänge der Philosophie, 32, 55 f. 24 So Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 91; siehe dazu ebenso Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 161. 25 Derrida, Randgänge der Philosophie, 40, 92; ders., Die Schrift und die Differenz, 312; ders., Limited Inc, 197.

B. Dekonstruktion

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sie zwar ein unerlässlicher, aber nicht der einzige Aspekt. Wir bedürfen immer einer Spur, um der différance auf die Spur zu kommen.26 2. Spur(en) Zeichen entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie benötigen einen materiellen Bezugspunkt – eine Spur. Spuren sind etwas, das sich in Raum und Zeit materialisiert: ein Federstrich auf einem Blatt Papier, Fußabdrücke im Schnee oder am Arbeitsplatz zurückgelassene Bibliotheksbücher. Als solche materiellen Bezugspunkte sind Spuren stets der Vergänglichkeit ausgesetzt. Die Tinte verläuft, der Schnee schmilzt, Bücher werden ins Regal gestellt. Unvergängliche Spuren wären dagegen erneut eine selbstständige, metaphysische Präsenz außerhalb von Raum und Zeit.27 »Eine unauslöschbare Spur ist keine Spur; sie ist eine volle Präsenz, eine unbewegliche und unbestechliche Substanz, ein Sohn Gottes …«28

Was hier Derrida zur Vergänglichkeit der Spur ausführt, weist bereits darauf hin, dass eine Spur nicht einfach für sich anwesend oder abwesend sein kann. Sie ist wie das Zeichen differentiell verfasst. Eine Spur vermag ich nur zu lesen, indem ich sie von anderen Spuren unterscheide. Sehe ich im Schnee eine Katzenspur, ist dies meine gedankliche Schlussfolgerung daraus, dass ich jene Spur etwa von den Spuren anderer Tiere unterscheide. Eine Spur ist somit nicht einfach eine für sich anwesende materielle Hinterlassenschaft. Sie ist der Verweisungszusammenhang aus all jenen Spuren, von denen sie sich differenziert. Spurenlesen bedeutet, diesen Verweisungszusammenhang zu denken. Eine Spur existiert nicht aus sich selbst heraus. Immer ist sie eine Spur von Spuren.29 Der so verdoppelte Spurbegriff kann in zwei Richtungen gedacht werden. Einerseits, wie eben formuliert, als Schluss vom Ganzen auf einen Teil: Die Spur als Spur der in ihr gebündelten Spuren. Andererseits als Schluss von einem Teil auf das Ganze: Die Spur als Spur von anderen Spuren. In der zweiten Schlussfolgerung verschwindet die Spur, erlöscht sie in den anderen Spuren. Derrida umschreibt das folgendermaßen: »Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muß unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur,

____________ 26

Derrida, Randgänge der Philosophie, 131; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 92 f.; Bennington, Derridabase, 85; Gamm, Perspektiven nachmetaphysischen Denkens, 124. 27 Siehe Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 93 f. 28 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 349. 29 Ausführlich Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 95–97; Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 90–93; Bennington, Derridabase, 83.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

sondern unzerstörbare und monumentale Substanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen verschwinden, in ihrer Position aus sich hinausgehen läßt.«30

Die beiden Schlussfolgerungen aus dem verdoppelten Spurbegriff verdeutlichen, dass die Spur keine selbstständige oder volle Präsenz ist, sondern ein ideeller Verweisungszusammenhang aus materiellen, vergänglichen Markierungen, der sich als Spur von Spuren zusammenfassen lässt. Nach Derrida ist die Spur somit durch die Aspekte der Materialität, Idealität und Vergänglichkeit charakterisiert. Auf die Zeichenkonstitution übertragen, bedeutet dieses Verständnis von Spur: Ein Zeichen bildet sich als Spur von Spuren. Es ist eine materielle Markierung, die durch ein System von Spuren ideell geprägt wird. Materialität und Idealität sind somit im Zeichen verschränkt.31 Derrida hat den Zusammenhang von Zeichen und Spur in den Positionen präzise beschrieben: »Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, dass sich jedes ›Element‹ … aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. Diese Verkettung, dieses Gewebe ist der Text … Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.« 32

Was wir in einem Text als bedeutungstragende Zeichen erkennen, sind zunächst Spuren von Spuren. Die differenzierende Bewegung innerhalb dieses Spurengewebes wird anschließend von der différance näher ausgeführt. Sie zeigt, wie sich Spuren durch Verräumlichung und Verzeitlichung voneinander differenzieren. Plastisch spricht Derrida von der différance als dem Spiel der Spur.33 Doch damit sind erst zwei Aspekte der Zeichenbildung geklärt. Zeichen bilden sich aus Spuren, die sich aus einem Verweisungszusammenhang zu anderen Spuren ergeben. Das wechselseitige Verweisen der Spuren beschreibt die différance als Bewegung von raumzeitlichen Differenzen. Mit diesen beiden Aspekten betrachten wir gewissermaßen das Gesamtgeschehen des Textes. Aber was geschieht, wenn wir aus dieser Gesamtperspektive auf eine spezifische Spur in einem Text fokussieren, beispielsweise auf das Verb »fokussieren«? Wie bildet sich eine bestimmte Spur, beziehungsweise ein bestimmtes Zeichen? Diese Fragen klärt der dritte Aspekt der Zeichenbildung: die Wiederholung.34 ____________ 30

Derrida, Randgänge der Philosophie, 53 – meine Hervorhebungen, TC. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 97 f. 32 Derrida, Positionen, 50. 33 Derrida, Randgänge der Philosophie, 51. 34 Vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 98 f. 31

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3. Wiederholung Wiederholung hat bei Derrida verschiedene, teils nicht leicht verständliche Facetten. Als Einstieg dient die soeben gestellte Frage, wann ein Zeichen als bestimmtes Zeichen identifiziert werden kann. Die dahinter liegende Frage ist jene nach dem Verhältnis von Identität und Wiederholung. Nach der einen philosophischen Ansicht tritt die Wiederholung an eine bereits bestehende Identität heran und bildet sie erneut ab. Sprechen wir dasselbe Wort noch einmal aus, wiederholen wir exakt dieses eine bereits bestehende Wort. Springen wir mit den Augen in einem Text zurück und lesen erneut, wiederholen wir dieselben Worte. Erst mit und nach dem postkantianischen Idealismus verändert sich diese Vorstellung. Der entscheidende Gedanke besteht darin, dass sich von Wiederholung einzig da sprechen lässt, wo zwei diskriminierbare Zustände vorliegen. Eine Wiederholung ist deshalb nur möglich, wenn sie gerade keine Identität hervorbringt.35 Derrida vermerkt: »Wiederholungen gibt es nur als diskrete; sie wirken als solche nur durch den Zwischenraum, der sie auseinanderhält.«36

Das wirft die Frage auf, wie die Wiederholung eines Zeichens zu verstehen ist. Wie kann ich ein bestimmtes Wort wiederholen, etwa indem ich es erneut lese und zugleich behaupten, dass es nach seiner Wiederholung nicht mehr identisch ist? »Ganz einfach«, würde Hegel antworten. Die irreduzible Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft markiert eine »absolut differente Beziehung des Einfachen«. Sie erscheint »in dieser Einfachheit … als Moment gegen das Sichselbstgleiche«.37 Hegel argumentiert mit anderen Worten, dass nichts der Teilung durch jene irreduzible Differenz entgeht. In der Zeit spaltet sich alles in ein Vorher und Nachher, weshalb nie etwas mit sich selbst identisch sein kann. Jedoch ermöglicht gerade diese Aufspaltung eine Wiederholung, da jederzeit zwei diskriminierbare Zustände vorliegen. Jedes Zeichen unterscheidet sich somit nicht nur von anderen Zeichen, sondern immer auch von sich selbst. In seiner Selbstunterscheidung ist es, so könnte man mit Hegel formulieren, »ein Verschiedenes«.38 ____________ 35

Vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 99 f. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 309. 37 Hegel, Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, 206 f.; vgl. dazu und zum Folgenden ders., Phänomenologie des Geistes, 87–89, 498. 38 Hegel, Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, 207. Diesen Hegel’schen Gedankengang finden wir bei Derridas Erörterungen zur différance wieder. Dort bildet jene »differente Beziehung« das wesentliche Moment einer Gegenwartskonstitution, das Derrida als irreduzible Differenz nicht mehr eine Spur, sondern Urspur nennt (Derrida, Randgänge der Philosophie, 42; vgl. ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, 202 f. sowie Teil 1, Fn. 19). 36

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

Bei der Selbstunterscheidung ist nun anzusetzen, um ein Zeichen als ein bestimmtes Zeichen zu verstehen. Die von Hegel angesprochene irreduzible Differenz teilt das Zeichen bereits im Moment seiner Einschreibung ein erstes Mal und holt damit die Möglichkeit der Wiederholung in das Zeichen hinein, noch bevor sich dieses als bestimmtes Zeichen konstituiert. Denn das Zeichen entsteht als bestimmtes Zeichen erst, nachdem es sich nicht nur von den anderen Spuren, sondern auch von sich selbst differenziert hat. Es muss den Umweg über sich selbst zurücklegen, sich wiederholen, um als spezifisches Zeichen funktionieren zu können. Die Wiederholbarkeit ermöglicht, die fortlaufende Wiederholung konstituiert somit ein bestimmtes Zeichen. Wiederholung ist deshalb nichts, was dem Zeichen empirisch hinzugefügt wird. Sie ist in einem Zeichen konstitutiv impliziert.39 Derrida hat das so formuliert: »Denn es gibt kein Wort, noch ganz allgemein ein Zeichen, das nicht durch die Möglichkeit seiner Wiederholung konstruiert ist. Ein Zeichen, das sich nicht wiederholt, das nicht schon durch die Wiederholung in seinem ›ersten Mal‹ geteilt ist, ist kein Zeichen.«40

Konnten bis jetzt nur jegliche Zeichen eines Textes als durch différance markierte Spuren von Spuren erläutert werden, ist nun auch ein spezifisches Zeichen entschlüsselt: Ein Zeichen ist eine Spur von Spuren, zu dem seine Wiederholung als Spur der Spur hinzutritt. In einer stärker an Hegel orientierten Terminologie gefasst: Ein einzelnes Zeichen ist durch seine Wiederholung bestimmt. Und Wiederholung bedeutet eine Bewegung des Sichvonsichunterscheidens und des Sichaufsichbeziehens.41 Wiederholung ermöglicht somit ein Zeichen als spezifisches Zeichen zu identifizieren. Wie ist aber eine Identifikation noch möglich, nachdem sich zeigte, dass Identität sich nicht wiederholen lässt? Das Paradox verschwindet, wenn man berücksichtigt, dass die Wiederholung den Begriff der Identität verändert. Denn Wiederholung schließt lediglich jene ideale Identität aus, die als unveränderliches Selbes wiederholt werden soll. Für die Konstitution einer wiedererkennbaren Identität ist sie dagegen positive Möglichkeitsbedingung. Sie ermöglicht ein Selbes, das wir als solches wiedererkennen und identifizieren können, obwohl es sich bereits mit Abweichungen durchsetzt ____________ 39 Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 118; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 100 f. Die Teilung des Zeichens im Moment seiner Einschreibung, die zugleich den Verfasser einer Nachricht zu deren Empfänger macht, hat Derrida am Beispiel einer Einkaufsliste illustriert: »Im selben Augenblick, in dem ›ich‹ eine ›shopping list‹ mache, weiß ich …, daß sie eine solche nur sein wird, wenn sie meine Abwesenheit impliziert, … gleich danach, im Augenblick selbst, der schon der folgende Augenblick ist, in Abwesenheit des mit einer Hand mit einem Bic-Kugelschreiber Jetzt-Schreibenden. So spitz er auch ist, teilt er sich schon, wie das stigmè jedes Zeichens …« (Derrida, Limited Inc, 83). 40 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 373. 41 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 95, 586–588.

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hat.42 Diesen Vorgang der verändernden Wiederholung bezeichnet Derrida als Iteration.43 Sie bedeutet konkret, dass wir uns strenggenommen stets anderer Worte bedienen, denn selbst dieselben Worte sind immer bereits andere. II. Bedeutung Die Dekonstruktion fragt, wie die Bedeutung in Texten entsteht. Sie erkennt, wie einleitend bemerkt, dass sie ihre Frage nur beantworten kann, wenn sie zunächst die Konstitution von Zeichen untersucht. Die bisherigen Ausführungen dazu ermöglichen uns, nun zur Ausgangsfrage der Dekonstruktion zurückzukehren. 1. Zeichen und Bedeutung Ein Zeichen rekonstruiert die Dekonstruktion mit den Aspekten von différance, Spur, Wiederholung. Zeichen sind zuallererst Spuren. Sie benötigen einen materiellen Bezugspunkt in Raum und Zeit. Bedeutung erlangen Spuren jedoch nicht aus ihrer Materialität oder aus ihrer eigenen Präsenz. Sie sind erst lesbar, wenn sie sich von anderen Spuren differenzieren und so deren Spuren in sich aufnehmen. Das macht sie zu Spuren von Spuren. Auf die Zeichen übertragen, besagt dies, dass Zeichen nie aus sich selbst heraus existieren, sondern immer in einem Zusammenhang mit anderen Zeichen stehen. Sie formieren sich über Zeichenketten ohne positive Einzelglieder. Folglich lässt sich Differenz von Zeichen nur noch als differenzierende Bewegung denken. Eine Bewegung, die Derrida mit den Momenten von Raum, Zeit und Kraft beschreibt und als différance zusammenfasst. Diesem Spiel der Spur innerhalb der textuellen Zeichenketten fügt die Wiederholung die Möglichkeit hinzu, in einem Text spezifische Spuren zu identifizieren. Die Wiederholung wirkt dabei als identitätsstiftendes und zugleich veränderndes Moment des Zeichenbegriffs. Mit Spur, différance und Wiederholung ist die ____________ 42 Derrida, Dissemination, 187; Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 85, 117 f.; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 101 f. – Die ideale Identität lässt sich auch nicht dadurch herstellen, indem einfach auf ihre Wiederholung verzichtet würde. Selbst die Vorstellung einer idealen Identität bestimmt sich innerhalb von différance und bleibt damit an die Wiederholung gebunden, um bedeutsam sein zu können (vgl. Teil 1, bei Fn. 21). Das entspricht strukturell dem Argument Hegels zur Sprachlichkeit der sinnlichen Gewissheit (vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 85). 43 Derrida, Randgänge der Philosophie, 333. Im Terminus Iteration schwingt noch das Sanskrit-Adjektiv itara mit, das »anders« oder »verschieden« bedeutet. Eine Iteration ist somit eine Wiederholung, die das, was sie wiederholt, zugleich verändert (Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 59).

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Konstitution eines Zeichens nachvollzogen. Damit lässt sich nun zeigen, wie sich die Bedeutung in Texten ausbildet. Die Besonderheiten der dekonstruktiven Theorie von Bedeutungskonstitution treten hervor, wenn man ihren Zeichenbegriff jenem der metaphysischen Tradition gegenüberstellt. In dieser bilden Signifikant und Signifikat zwei verschiedene Ordnungen innerhalb des Zeichens. Dabei bezwecken die Signifikanten einzig, die bereits bestehenden Signifikate auszudrücken. Die Signifikanten bedeuten die Bedeutung der Signifikate. Das Zeichen trennt durch diese strukturelle Differenz von Signifikant und Signifikat somit Sinnliches und Intelligibles: Die Signifikanten ermöglichen ausschließlich, eine Bedeutung sinnlich wahrnehmbar und kommunizierbar zu machen, wirken sich indessen nicht auf die Bedeutung aus. Bedeutung gehört vielmehr einer vor-ausdrücklichen Schicht zu, von Husserl als Schicht des Sinns bezeichnet. Sinn ist demnach »nur in der Vorstellung vorhanden (idéalité), nur intelligibel oder geistig«, etwas, »das sich eventuell mit der wahrnehmbaren Seite eines Signifikanten verbinden kann, dazu aber an sich in keiner Weise genötigt ist.«44 Abgeschichtet von den Signifikanten, bewahrt das Signifikat eines Zeichens die Integrität und Autonomie der Bedeutung beziehungsweise des Sinns.45 Für die Metaphysik wird die strikte Trennung zwischen Signifikant und Signifikat damit zur entscheidenden Differenz. Denn sie ermöglicht ein reines Signifikat zu denken, das unabhängig von seinem Gegebensein in Signifikanten existiert: als einfache gedankliche Präsenz vor oder außerhalb des Zeichengeschehens. Jede Instanz, die eine eindeutige Bedeutung behaupten will, muss deshalb jene Differenz als absolut ausgeben. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit eines reinen Sinns jenseits eines realen Zeichengeschehens. Derrida bezeichnet die Instanzen, die einen Standpunkt außerhalb des Zeichengeschehens beanspruchen, um von hier aus die Möglichkeit eines reinen Sinns zu sichern, als transzendentale Signifikate. Sie tragen die Namen Gott, Wahrheit, Bewusstsein usf. Im metaphysischen Zeichenbegriff ____________ 44

Derrida, Positionen, 55 – ohne die Hervorhebungen des Originals. Siehe allem voran Derrida, Positionen, 54–57, 46 f.; ders., Die Stimme und das Phänomen, 30–31; ders., Randgänge der Philosophie, 96, 106–112, 327 f.; ders., Die Schrift und die Differenz, 425 f.; ferner Teil 1, nach Fn. 11. – Der Gedanke Sinn und Bedeutung funktional zu differenzieren, findet sich wegweisend bei Frege (Frege, Über Sinn und Bedeutung). Husserl hatte diese Differenzierung zuerst zurückgewiesen, nahm sie dann später auf, ohne sie aber mit derselben Funktion wie Frege zu versehen (Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 30). Ich merke das hier nur an, um zu verdeutlichen, dass die Ausgangsfrage der Dekonstruktion nach der Konstitution von Bedeutung die Frage nach dem Sinn einschließt. Bedeutung ist ihr wie in den Logischen Untersuchungen von Husserl »gleichbedeutend mit Sinn« (Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, 58). Die Unterscheidung Freges zwischen Sinn und Bedeutung wird somit durch das Denken Derridas dekonstruiert (Bennington, Derridabase, 111). 45

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verhalten sich Bedeutung und Zeichen somit gleich wie Ursprung und Derivat. Die Bedeutung entspringt in letzter Instanz aus einem transzendentalen Signifikat, von dem sich der Sinn der Zeichen ableitet.46 Jedes transzendentale Signifikat bleibt indessen in einer Paradoxie stecken. Es setzt die strukturelle Differenz von Signifikant und Signifikat von einem Standpunkt außerhalb dieser Struktur als absolut, wobei jene Differenz es ihm überhaupt erst ermöglicht, diesen Standpunkt einzunehmen. Genau dieses Paradox macht die Dekonstruktion geltend, um die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat neu zu bestimmen. »Denn es gibt zwei ungleichartige Weisen, die Differenz zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat auszustreichen: die eine, die klassische, besteht darin, den Signifikanten zu reduzieren oder abzuleiten, das heißt letztlich das Zeichen dem Denken unterzuordnen; die andere, die wir hier gegen die vorhergehende halten, besteht darin, das System, in dem diese Reduktion funktionierte, in Frage zu stellen: zuallererst die Entgegensetzung von Sinnlichem und Intelligiblem. Denn das Paradox dabei ist, daß die metaphysische Reduktion des Zeichens der Entgegensetzung bedurfte, die sie reduzierte. Die Entgegensetzung steht in einem systematischen Zusammenhang mit der Reduktion.« 47

Im Gegensatz zur metaphysischen Tradition löst die Dekonstruktion dieses Paradox auf, indem sie das Verhältnis von Bedeutung und Zeichen als Ursprung und Derivat umkehrt und verschiebt. Zeichen gehen nach der Dekonstruktion also der Bedeutung voraus. Dieses Vorausgehen ist jedoch nicht eine schlichte Umkehrung eines metaphysischen Konzepts von Bedeutungskonstitution, sondern erfordert all jene komplexen Verschiebungen, die wir in Derridas Zeichenbegriff vorfinden. Insgesamt wird dabei für die Bedeutung eine einheitliche semiologische Grenze aufgezeigt, die insbesondere auch die Differenz von Signifikant und Signifikat betrifft. Diese ist nach dem Zeichenbegriff der Dekonstruktion nicht länger absolut. Jedes Zeichen ist differentiell verfasst. Seine Spur verweist konstitutiv auf andere Spuren, von denen sie sich differenziert. Damit wird der Gegensatz von Sinnlichem und Intelligiblem überschritten. Materialität und Idealität, die die Metaphysik noch klar auf Signifikant und Signifikat verteilt, sind in den Spurenverweisen des Zeichens verschränkt. Die Verschränkung der vermeintlich strikten Differenz von Signifikant und Signifikat wirkt sich auf die Bedeutungskonstitution grundlegend aus. Sinn und Bedeutung können sich nicht mehr in die Signifikate der Zeichen als vorausdrückliche Sinnschicht zurückziehen. Ständig bleiben ihre Spuren der Erosion von différance und Iteration ausgesetzt. Sowie die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat in dieser Weise reduziert ist, verliert sich zudem die Möglichkeit eines transzendentalen Signifikats, das eine ein____________ 46

Derrida, Positionen, 41 f., 53, 56; ders., Grammatologie, 38; Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 119; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 110; Teil 1, nach Fn. 11 und 20. 47 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 426.

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deutige Bedeutung, eine Schicht des reinen Sinns außerhalb des Zeichengeschehens sichern könnte. Die transzendentalen Signifikate sind wieder ins Zeichengeschehen eingeschrieben und können daher die Bedeutungsbildung nicht mehr selbstständig kontrollieren. Ihre eigene Bedeutung bleibt vielmehr vom Spiel der Signifikanten und der Signifikate (différance) abhängig. Für die aus Zeichen konstituierte Bedeutung ergibt sich daraus: »Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.«48 Erstreckt sich das Spiel der Bedeutungsbezeichnung ins Unendliche, hat dann die Bedeutung in der dekonstruktiven Zeichentheorie nicht ihren Platz verloren? Nein, die Bedeutung bleibt im Zeichenbegriff der Dekonstruktion erhalten. In ihrem Modell ist die Bedeutung die spezifische Spurung des Zeichens. Das Zeichen, Spur von Spuren, bezieht seine Bedeutung aus seiner Differenzierung zu sich selbst sowie den anderen Spuren. Aus dieser Differenzierung ist sein Ort in einem Zeichensystem von ihm aus festgelegt. Für jedes Zeichen erfolgt somit eine Selbstverortung durch Differenzierung. Diese spezifische Selbstverortung ist die Bedeutung des Zeichens.49 2. Instanzen von Bedeutung Bedeutung wird nach den bisherigen Erkenntnissen nicht von einer äußeren Instanz an das Zeichengeschehen weitervermittelt, sondern erst aus diesem heraus begründet. Finden sich aber Instanzen, die innerhalb des Zeichengeschehens bedeutungsstiftend wirken, indem sie eine durch die Grundmomente der Dekonstruktion (différance, Spur und Wiederholung) begründete Bedeutung spezifizieren? Als solch eine mögliche Instanz hat Derrida insbesondere den Kontext untersucht.50 Für gewöhnlich wird mit dem Kontext einem Text etwas ihm Äußerliches hinzugedacht, das die Bedeutung dieses Textes mitbestimmt oder verändert. Sachverhalte oder Ereignisse, Gegenstände oder Intentionen treten als nicht sprachliche Elemente an den Text heran und prägen die Bedeutung seiner Zeichen. Text und Kontext bilden somit konzentrische Kreise. Diesem Kontextmodell entspricht die Vorstellung, dass jedem Text ein ursprünglicher Kontext korreliert, der die historische Textbedeutung definiert: Der Kontext zentriert eine Textbedeutung, die sich dann hermeneutisch ermitteln lässt. Bedeutungsändernd wirkt in diesem Modell einerseits die Evolution des ursprünglichen Kontextes. Beispielsweise wenn sich die bestimmte geschichtliche Situation verändert, aus der ein Buch hervorgeht. Andererseits ist jene Operation bedeutungsändernd, mit der ein Text in einen neuen Kontext ge____________ 48

Derrida, Die Schrift und die Differenz, 424. So Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 108. 50 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 116–118. 49

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stellt wird. Etwa wenn ein Autor sein Buch an die Leser eines für ihn fremden Kulturkreises sendet. Dieses Modell der konzentrischen Kreise schreibt sich für den sprachlichen Kontext entsprechend fort. Bedeutungsverschiebungen finden somit statt, wenn beispielsweise ein Text nur fragmentarisch überliefert beziehungsweise ein Wort oder Satz eines Textes in einen neuen textuellen Zusammenhang gestellt wird.51 Aufgrund seiner Überlegungen zur Zeichenbildung erachtet Derrida dieses gängige Kontextverständnis als theoretisch unzulänglich. Jedes Zeichen konstituiert sich als Spur von Spuren und weist dadurch notwendigerweise über sich selbst hinaus, um als Zeichen funktionieren zu können. Das Zeichen verfügt somit bereits in seiner Konstitution über einen bedeutungsprägenden Kontext von Spuren. Der Kontext ist folglich nichts, das sich unabhängig von der Herstellung eines Textes ereignet. Ereignisse anlässlich der Textentstehung sind immer schon Spuren der Zeichen und deren Bedeutung. So verschwindet die Grenzlinie zwischen den konzentrischen Kreisen von Text und Kontext und die beiden Kreise verschwimmen zu einem umfassenden Gewebe von Spuren. In diesem Gewebe verschiebt sich ebenfalls die Trennung zwischen sprachlichem und nicht sprachlichem Zeichenkontext. Zeichen verweisen nicht nur auf andere Zeichen, sondern ebenso auf sämtliche weitere Bezugspunkte ihrer realen Umgebung. Das liegt ebenfalls in der Logik der Spur begründet, die Idealität und Realität miteinander verbindet. Eine kontextualisierende Realität außerhalb von Zeichen wäre dementgegen nichts anderes als eine selbstgenügsame Präsenz, eine äußere Scheininstanz von Bedeutung.52 Der dekonstruktive Kontextbegriff revidiert also die gängigen Relationen zwischen Kontext, Text und Bedeutung nach dem Modell konzentrischer Kreise. Weder verändern sich Bedeutungen über Kontextevolutionen oder Textoperationen noch besteht eine kontextzentrierte Textbedeutung. – Zeichen sind konstitutiv durch Spuren kontextualisiert; sie lassen sich nicht erst in Kontexte stellen. Zitieren wir ein Zeichen in einem anderen Kontext, greifen wir daher nicht ein positives Einzelglied heraus und fügen es andernorts wieder ein, sondern verändern Spuren. Bedeutungsverschiebungen sind Ver____________ 51 Derrida, Randgänge der Philosophie, 328; ders., Limited Inc, 212; Bennington, Derridabase, 93; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 118 f. Siehe zur Kritik eines hermeneutischen Zentrums Derrida, Sporen, 207, 212–216, 218. 52 Derrida, Randgänge der Philosophie, 327 sowie durchgehend; Bennington, Derridabase, 95–99; Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 120; zum Problem der äußeren Instanzen insbesondere Teil 1, nach Fn. 45. – Indem Derrida in seinem Zeichenverständnis die sprachlichen Zeichen konstitutiv mit der realen Welt verbindet und so über die Sprache hinausdenkt, begründet er ein Sprachverständnis, das die aktuelle Sprachphilosophie mit dem Gedanken der »Welthaltigkeit der Sprache« erfasst (vgl. dazu Bertram/Lauer/Liptow/Seel, In der Welt der Sprache).

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änderungen im Spurengewebe. Sie setzen somit nicht beim Text oder Kontext als abgetrennte Einzelgrößen an. In einem Gewebe von Spuren existiert auch kein von einem Kontext eingefasstes Textzentrum und folglich keine kontextzentrierte Textbedeutung, die sich bei einem gleichbleibenden Wortlaut einzig über die Evolution des ursprünglichen Kontextes ändert. Vielmehr trennt sich das Zeichen in seiner Selbstunterscheidung von Beginn an vom Kontext seiner Produktion sowie jedem festgelegten Rezeptionskontext.53 Seine Bedeutung korreliert in keinem Zeitpunkt mit einem bestimmten Kontext in der Gegenwart, vielmehr wiederholt das Zeichen vergangene Kontexte und verweist dabei gleichzeitig auf zukünftige.54 Nach dem Gesagten entwickelt sich der Kontext aus der Konstitution der Zeichen heraus und folgt daher in seinen Möglichkeiten den Aspekten von Spur, différance und Wiederholung. So hindert ihn allem voran die Logik der Spur, sich als eine Instanz zu stabilisieren, die eine in Zeichen begründete Bedeutung von sich aus spezifizieren könnte. Der Kontext ist keine Instanz innerhalb des Zeichengeschehens, der die in diesem begründete Bedeutung unabhängig von den Grundmomenten der Dekonstruktion zu regulieren vermag. Denn auch er bleibt in das Gewebe von Spuren integriert und bildet entsprechend keine privilegierte Präsenz, die für eine selbstständige Spezifizierung der Zeichenbedeutung vorausgesetzt wäre. Aus diesen Überlegungen zum Kontext ergibt sich für die Frage nach möglichen Instanzen von Bedeutung eine weitere Antwort: Bedeutung wird nicht bloß von keiner äußeren Instanz vorgeschrieben, sondern sie lässt sich ebenso wenig über Instanzen innerhalb des Zeichengeschehens als eindeutige Bedeutung spezifizieren. Was immer als eine solche Instanz im semiologischen Raum der Dekonstruktion in den Blick kommen mag, wird einen Standpunkt einnehmen, der sich als Kontextualisierung von Zeichen denken lässt.55 Deshalb gilt: »Es gibt kein außerhalb des Kontextes«.56 3. Bedeutung im dekonstruktiven Diskurs Wenn es kein außerhalb des Kontextes gibt, was besagt das für die Bedeutung im dekonstruktiven Diskurs? In der Rezeption Derridas hat man Fragen wie diese oftmals zum Anlass genommen, seine Philosophie auf bestimmte Positionen festzulegen, ohne jedoch näher zu überlegen, ob diese tatsächlich ____________ 53 Siehe Bennington, Derridabase, 94 sowie zur Selbstunterscheidung des Zeichens eingehend Teil 1, bei Fn. 37 und das Beispiel in Teil 1, Fn. 39. 54 Dreisholtkamp, Jacques Derrida, 85; ferner Engelmann, Einführung, 31. 55 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 125, 134 Fn. 55; vgl. Bennington, Derridabase, 100, 106 f. 56 Derrida, Limited Inc, 211. Die Kleinschreibung von »außerhalb« im Zitat wird in der Folge fortgeführt, um die damit akzentuierte Geste eines umfassenden Kontextes beizubehalten.

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seinen Intentionen entsprechen. Es ist für das Verständnis der Dekonstruktion zentral, einige solcher Fehlzuschreibungen zu kennen und gleichzeitig zu wissen, warum sie nicht zutreffen. Ich skizziere deshalb kurz eine standardmäßige Antwort auf die gestellte Frage und zeige danach, weshalb sie Derrida als falsch zurückgewiesen hätte. Stellen wir uns also erneut die Frage: Wenn es kein außerhalb des Kontextes gibt, was besagt das für die Bedeutung im dekonstruktiven Diskurs? Die (unrichtige) Antwort: In einem grenzenlosen Kontext ist es letztlich unausweichlich, dass jegliche spezifische Bedeutung ihre Konturen verliert. Aussagen relativeren sich im dekonstruktiven Kontext soweit, dass ihnen kein spezifischer Gehalt mehr zukommt, sie alles und deshalb nichts mehr sagen. Eine in Zeichen gefasste Bedeutung verliert sich in einem endlosen Gewebe von Spuren, weshalb ein bedeutsamer, sprich sinnvoller Diskurs nicht mehr möglich ist. Zurück bleibt lediglich jenes Spurengewebe, das die Dekonstruktion als Text bezeichnet. Denkt man die Dekonstruktion zu Ende, reduziert sich die Bedeutung dieses Textes auf ein allgemeines Geschehen von Bedeutung. Die dekonstruktive Theorie schließt damit die Welt in einem letztlich bedeutungslosen Text ein. So entfällt auch die Möglichkeit, textuelle Bedeutungsdifferenzierungen benennen und als richtig oder falsch einordnen zu können. Der Wahrheitswert tendiert im undifferenzierten Text gegen Null. Unterscheidungen der binären Logik, wie richtig oder falsch, verlieren ihre determinierende Wirkung. Die Bedingungen, gemäß denen b sagen muss, wer a sagt, sind völlig offen. Demzufolge ist der dekonstruktive Diskurs durch einen Indeterminismus und die völlige Relativierung von Bedeutung gekennzeichnet. Was hält Derrida entgegen? Im Nachwort Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion sagt er: Natürlich »gibt es einen ›richtigen Weg‹, einen besseren Weg, und ich war, nebenbei bemerkt, oft erstaunt beziehungsweise je nach Gemütslage erheitert oder entmutigt über den Gebrauch oder Mißbrauch des folgenden Arguments: Da man annimmt, daß der Dekonstruktionist (das heißt ohnedies der Skeptiker-Relativist-Nihilist!) nicht an die Wahrheit, die Stabilität und Einheit der Bedeutung, an die Intention und das Sagen-Wollen glaubt, wie kann er dann von uns verlangen, ihn mit Kompetenz, Genauigkeit und Strenge zu lesen? Wie kann er fordern, daß man seinen eigenen Text richtig interpretiert? Wie kann er jemanden beschuldigen, ihn schlecht verstanden, vereinfacht oder entstellt zu haben? Anders gesagt, wie kann er etwas diskutieren und wie kann er die Lektüre dessen diskutieren, was er schreibt? Die Antwort ist recht einfach: Diese Definition des Dekonstruktionisten ist falsch (ich sage wirklich falsch: nicht richtig) und schwach; sie folgt einer schlechten Lektüre (ich sage wirklich schlecht: nicht gut) und einer schwachen Lektüre zahlreicher Texte, auch meiner, die man lesen muß, wenn man über sie reden will. Man wird sehen, daß der Wert der Wahrheit

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(und aller dazugehörigen) darin nie bestritten oder zerstört, sondern nur in stärkere, weitere und vielschichtigere Kontexte eingeschrieben wird.«57 Wichtig ist zunächst, dass Derrida den Wert der Wahrheit für die Dekonstruktion reklamiert: Sie kann nicht unter der Annahme gedacht werden, diesen Wert zu zerstören.58 Deshalb kann Derrida an dieser Stelle, ohne sich zu widersprechen, zwischen einem richtigen und einem falschen Verständnis von Dekonstruktion differenzieren. Mit der Möglichkeit innerhalb der dekonstruktiven Theorie solche binärlogischen Unterscheidungen zu treffen, fällt der oben skizzierte Vorwurf des Indeterminismus schon in sich zusammen.59 Dieser Vorwurf basiert seinerseits auf der (zutreffenden) Annahme, dass in einem undifferenzierten Text der Wert der Wahrheit verschwindet. Entscheidend ist folglich, ob der dekonstruktive Diskurs tatsächlich zu der oben beschriebenen Relativierung der Bedeutung führt. In dieser Frage hängen die Irritationen augenscheinlich mit dem Kontextverständnis zusammen. Was meint Derrida, wenn der Wert der Wahrheit »in stärkere, weitere und vielschichtigere Kontexte eingeschrieben wird«? Beim Begriff des Kontextes ist deshalb einzusetzen, um die Denkbewegung der Dekonstruktion angemessen nachzeichnen zu können. Der Kontext ist keine Instanz von Bedeutung. Gleichwohl weisen Kontexte gemäß dekonstruktiver Theorie eine spezifische Bedeutung aus. Denn diese wird von der Dekonstruktion nicht teils in den Wörtern selbst, teils in deren Kontext verortet. Maßgebend sind entsprechend der dekonstruktiven Logik ausschließlich Kontexte: Bedeutung basiert auf Zeichen. Zeichen sind Spuren von Spuren und Spuren sind die Kontexte von Zeichen. Diese Kontexte fasse ich mit dem Begriff des Zeichenkontextes zusammen; er weist die spezifische Bedeutung aus. Jener Begriff bringt indessen keine theoretischen Verschiebungen mit sich. Er übersetzt lediglich, was wir bereits als Selbstverortung des Zeichens kennengelernt haben. Selbstverortung ist die spezifische Bedeutung des Zeichens aus seiner Differenzierung zu sich selbst und zu anderen Spuren. Dieser bedeutungsspezifizierende Spurenkomplex kann nun genauso als Zeichenkontext begriffen werden. Selbstverortung und Zeichenkontext bilden somit unterschiedliche Kurzformeln der Bedeutungsspezifität. Sie beruhen jedoch gleichermaßen auf den Grundmomenten der Dekonstruktion, sind also im Ausgang von différance, Spur und Wiederholung zu denken. Folgerungen aus dem Kontextbegriff der Dekonstruktion sind daher an deren Zeichenbegriff zurückzubinden. Eben diese Rückbindung unterbleibt bei den eingangs gezogenen Folgerungen aus dem dekonstruktiven Kontextbegriff. Bereits wenn man sich er____________ 57

Derrida, Limited Inc, 225 f. Siehe Derrida, Dissemination, 184–188. 59 Derrida, Limited Inc, 180 f., 189, 229. 58

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innert, dass Derrida Textbedeutung aus einem differentiellen Zeichenbegriff entwickelt, leuchtet ein, warum die Dekonstruktion keinen undifferenzierten Text ohne Wahrheitswert ausbuchstabiert. Dekonstruktion denkt immer von der Differenz aus. »Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren«, schreibt Derrida.60 Die bedeutungsbildenden Differenzen werden von der dekonstruktiven Theorie nicht aufgelöst, sondern in ihrer komplexen Vielschichtigkeit betrachtet. Die Denkbewegung der Dekonstruktion besteht folglich nicht in einer Relativierung von Wahrheit und Bedeutung. Sie verweist aber auf die Pluralität von bedeutsamen Differenzen, mit ihrer endlosen Ausstreuung und potentiellen Verbreitung von Sinn. Ein Vorgang, den Derrida als Dissemination bezeichnet hat.61 Das erklärt, was Derrida meint, wenn der Wert der Wahrheit »in stärkere, weitere und vielschichtigere Kontexte eingeschrieben wird«. Die differenzierende Bewegung der différance disseminiert den Wahrheitswert in die Spuren, schreibt ihn in die Spurenverweise der Zeichen ein. Wahrheit steht so in einem sich fortlaufend differenzierenden Zeichenkontext. Und das ist nunmehr kein naiver, begrenzter, relativistischer Kontext, sondern ein starker, weiter und vielschichtiger. Weder dekonstruktiver Kontext noch allgemein Dekonstruktion münden somit in einen bedeutungsleeren Diskurs. In diesem bleiben Instanzen wie Sinn, Bedeutung, Wahrheit, Gerechtigkeit, Intention, Bewusstsein, Subjekt (etc.) genauso erhalten wie binärlogische Unterscheidungen – richtig/falsch, innen/außen etc. Indessen entwirft die Dekonstruktion diesen Instanzen und Unterscheidungen eine andere Logik. »Diese andere ›Logik‹ erlaubt in dem theoretischen Diskurs als solchem keine ungefähre Aussage«, aber sie verlangt, so Derrida, »das Miteinbeziehen dieses unbegrenzten Kontextes, die möglichst wache und umfassende Beachtung des Kontextes und somit eine unablässige Bewegung der Rekontextualisierung«.62 Von der Zeichentheorie her versieht Derrida also den Kontext mit einer Nicht-Abschließungsklausel. Das verunmöglicht es, Bedeutung diskursiv mit einem Anspruch auf das letzte Wort zu verbinden: Letztbegründungen sind im unaufhaltbaren und unbegrenzten Spiel der differentiellen Spuren nicht denkbar. Bedeutungsunterscheidungen sind pragmatisch, nicht axiomatisch determiniert. Obgleich sie dementsprechend nicht einfach völlig beliebig sind im Sinne eines philo-

____________ 60

Derrida, Positionen, 50 sowie ders., Gestade, 130. Derrida, Dissemination; ders., Randgänge der Philosophie, 342. 62 Derrida, Limited Inc, 196 und 211. 61

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sophischen anything goes, behalten sie gleichwohl immer einen Rest an Unentscheidbarkeit.63 Im Ergebnis leistet die Dekonstruktion daher wesentlich mehr als bloß eine weitere anspruchsvolle Rekonstruktion des Letztbegründungsproblems. Sie endet nicht in der leeren Erkenntnis, dass es keine absolute, sondern nur eine relative Wahrheit gebe. Denn gerade in diesem Schluss wird die binäre Logik unter der Hand wieder angewendet, nachdem man sich scheinbar über sein epistemologisches Unvermögen aufgeklärt hat. Dekonstruktion – das ist keine simple Relativierung des Wahrheitswertes, sondern bedeutet den kritischen Hinweis, dass die Sinnkomplexität in Diskursen sich zum einen stetig iteriert und disseminiert, zum anderen sie sich niemals endgültig reduzieren lässt. Infolgedessen verlangt die Dekonstruktion, Sinn und Bedeutung kontextsensitiv, das heißt ausgehend von différance, Spur und Wiederholung zu ermitteln, ohne dabei in unkritische Argumentationsmuster zurückzufallen. Und das stellt eine produktive (nicht negative) Aufgabe an das Denken: »das De der Dekonstruktion bezeichnet nicht die Zerstörung dessen, was konstruiert wird, sondern die Ankündigung dessen, was jenseits des konstruktivistischen oder destruktionistischen Schemas zu denken bleibt.«64 III. Holismus, System, Kontinuität Die Ausgangsfrage der Dekonstruktion führte von der Bedeutung zu den Zeichen und zurück zur Bedeutung. Die auf diesem Weg herausgearbeiteten Grundzüge einer dekonstruktiven Bedeutungstheorie lassen sich jetzt mit Blick auf die rechtstheoretische Interpretation präzisieren. Diese Präzisierungen setzen mit dem Begriff des Holismus ein, leiten von da zum System über und schließen mit jenem der Kontinuität ab.65 ____________ 63

Derrida, Limited Inc, 179, 181, 229, 235. Daraus ergibt sich letztlich eine moderate Form des Kontextualismus, nach dem Bedeutung nicht durch einen Kontext bestimmt ist, sondern durch die Kontexte des Zeichens. Diese Kontexte bestimmen seine spezifische Bedeutung. Man kann zwar nicht auf die Kontexte zugreifen, um diese Bedeutung eindeutig zu bestimmen – das wäre ein starker Kontextualismus der Bedeutung. Die Kontexte ermöglichen es jedoch, sich mit ihnen auf seiner Bedeutungssuche zu orientieren (Bertram, Die Sprache und das Ganze, 116–119; ähnlich bereits Gamm, Flucht aus der Kategorie, 153). Ich werde diese Möglichkeit der Orientierung weiter unten noch etwas näher verfolgen (Teil 1, nach Fn. 71 und 99) und dann im Pragmatikkonzept des zweiten Teils fortschreiben. 64 Derrida, Limited Inc, 227 und nochmals grundlegend zum Ganzen ebd., 211–213; ders., Sporen, 216. Siehe auch die weiterführenden Beiträge in Kern/Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion sowie zum Programm der Destruktion der Metaphysik Heidegger, Sein und Zeit, 19–27. 65 Die Möglichkeiten zu diesen Präzisierungen verdanke ich Bertram, Übergangsholismus. Die folgenden Überlegungen beruhen fast durchgehend auf dieser Studie.

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1. Holismus Eine holistische Position charakterisiert, dass sie grundsätzlich eine Relation von Teilen und Ganzem behauptet. Holistisch argumentiert daher eine Theorie, welche die Bedeutung einzelner Ausdrücke aus dem Verhältnis von Elementen und ganzem Zusammenhang heraus bestimmt: »Die Teile eines Ganzen sind durch das Ganze bestimmt.«66 Holismus ist also ein Begriff, der die Art und Weise beschreibt, in der sich Elemente eines Zusammenhangs konstituieren.67 Was die holistische Formel als Teile oder Elemente eines Ganzen bezeichnet, untersucht die Dekonstruktion mit der Konstitution von Zeichen. Wie gesehen, rekonstruiert sie die Zeichen – oder eben Elemente – als differenzierende Bewegung: In der Bewegung von Wiederholung und différance unterscheidet sich ein Element von sich selbst sowie den anderen Elementen und geht dabei den Umweg über die so gebildeten räumlichen Differenzen. Kraft dieser raumzeitlichen Differenzierungen konstituiert sich ein Element über sich selbst und seine Beziehungen zu den anderen Elementen als ein bestimmtes Element.68 In diesem Differenzierungsprozess formuliert die Dekonstruktion folglich ihren holistischen Zusammenhang: Ein Element bestimmt sich aus einem ganzen Zusammenhang, der aus den Differenzierungen dieses Elements von sich selbst und anderen Elementen gebildet wird. Übersetzen wir diese holistische Position in die dekonstruktive Semiologie, ergibt sich: Die Bedeutung eines Zeichens bestimmt sich aus seiner Differenzierung zu sich selbst sowie den anderen Spuren (Selbstverortung), beziehungsweise die Zeichen eines Textes sind durch den Spurenkomplex des Zeichens bestimmt (Zeichenkontext).69 Die Besonderheit des so begründeten dekonstruktiven Holismus liegt darin, dass er ›das Ganze‹ als bedeutungskonstitutive Größe eliminiert. Da der ganze Zusammenhang aus der Differenzierung der Elemente gegenüber sich selbst und den anderen Elementen gebildet wird, bedarf es dieser Größe nicht mehr, um die Bedeutung einzelner Elemente zu bestimmen. Der holistische Zusammenhang zwischen Teilen und Ganzem kann somit umgeformt werden in den Zusammenhang von Teilen und Beziehungen zwischen Teilen. Die entscheidende Größe der holistischen Gleichung ist also nicht mehr ›das

____________ 66

Mayer, Semantischer Holismus, 26; Bertram, Übergangsholismus, 390 f. Bertram/Liptow, Holismus in der Philosophie, 7. 68 Bertram, Übergangsholismus, 390–394. 69 Siehe zum Begriff der Selbstverortung und des Zeichenkontextes Teil 1, nach Fn. 59. 67

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Ganze‹, sondern ›die Beziehung‹ beziehungsweise als ihre Gegengröße: ›die Differenz‹.70 2. System Indem der dekonstruktive Holismus das Ganze aus den Beziehungen seiner Teile erklärt, erschließt er gleichzeitig eine aufschlussreiche systematische Perspektive. Denn was immer man unter dem Systembegriff im Einzelnen verstehen mag, so bringt er doch zumindest die Größe eines aus Teilen gefügten Ganzen ins Spiel. Eine holistische korreliert insoweit mit einer systematischen Perspektive. Aus diesem Grund lässt sich zunächst zeigen, dass die Dekonstruktion ein System als offen und veränderbar begreift und weiter, dass sie das systematische Denken von innen nach außen orientiert. Veränderbarkeit und Offenheit des Systems – Bildet das System ein Ganzes, das aus den Beziehungen von Teilen entsteht, bedeutet das erst einmal, dass Veränderbarkeit und Offenheit des Systems von den Grundmomenten der Dekonstruktion her zu erläutern sind. Denn die für das System konstitutiven Elemente folgen aus der differenzierenden Bewegung von différance und Iteration. Oder prägnanter formuliert: Aspekte der Konstitution von Teilen erweitern sich auf das System als ›das Ganze‹, da dieses aus Beziehungen von Teilen besteht. Diese Konstitution von den Teilen her bedeutet, dass das System nur als ein veränderbares bestehen kann: Es bildet sich aus einer Bewegung der Differenzierung (différance), die nicht feste Differenzen hervorbringt, sondern Differenzen, die stets wieder anders verlaufen können. Sie können jederzeit geändert, erneuert oder erweitert werden. Somit impliziert die Veränderbarkeit auch gleichzeitig die Offenheit eines Systems: Das System kann stets neue Elemente aufnehmen, indem es seine Differenzierungen verändert. In den Systembegriff der Dekonstruktion ist die Offenheit und Veränderbarkeit des Systems somit grundlegend integriert. Beides sind Momente, die einem System zukommen müssen, weil ein unveränderliches oder geschlossenes System keine Existenz erlangt.71 Orientierung im Systemdenken – Der dekonstruktive Holismus expliziert ein System von den Elementen und ihren Beziehungen her. Ein System lässt sich deshalb nach der Dekonstruktion nicht als ein Gesamtzusammenhang denken, der mit positiven Einzelgliedern besetzt ist. Es bildet keinen umfas____________ 70 Bertram, Übergangsholismus, 396, 399, 405. Der Begriff ›Differenz‹ ist hier gleichbedeutend mit Differenzierung. Siehe zum Denken ›der Differenz‹ Teil 1, bei Fn. 18. Indem die Dekonstruktion das Ganze als bedeutungskonstitutive Größe eliminiert, erscheint sie als Form eines moderaten Holismus (vgl. dazu Seel, Für einen Holismus ohne Ganzes, 35–38 und durchgehend). Die nachfolgenden Ausführungen sind somit als Ausdruck eines moderaten Holismus zu verstehen. 71 Vgl. Bertram, Übergangsholismus, 398; ders., Hermeneutik und Dekonstruktion, 104–107.

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senden Rahmen, der eine große Anzahl für sich bestehender Elemente einschließt. Die umspannende Kraft des Systems besteht nicht in seiner Ganzheit, sondern sie liegt in der Kraft der Differenzierung seiner Elemente (différance).72 Das System verdankt sich, anders gesagt, seiner Innenspannung. Entsprechend hat sich das systematische Denken nicht an der Ganzheit zu orientieren, sondern muss von den Differenzierungen der Elemente ausgehen, die diese Ganzheit erst hervorbringen. Ein System, das die Bedeutung seiner Elemente angeben soll, ist auf die Beziehungen dieser Elemente hin zu untersuchen. Die Dekonstruktion dreht dadurch die systematische Denkrichtung. Sie verläuft nicht mehr von außen nach innen, vom Ganzen des Systems zur Bedeutung seiner Elemente. Vielmehr lenkt eine systematische Orientierung das Denken von innen nach außen, von den Elementen zu den Beziehungen von Elementen und ihrer Bedeutung. Derrida hat dieser Orientierung im Systemdenken eine besondere Terminologie gegeben. Ihr Ausgangspunkt ist, dass er die Elemente des Systems als Zeichen versteht.73 Das Zeichen ist eine Spur von Spuren und gewinnt seine Bedeutung aus seinem spezifischen Spurenkomplex – dem Zeichenkontext. Der Denkbewegung von den Elementen zur Ganzheit des Systems in der holistischen Perspektive entspricht somit die Bewegung von den Zeichen zum Zeichenkontext in der dekonstruktiven Semiologie. Der für das einzelne Zeichen bedeutungsbestimmende Zeichenkontext ist von der Spur dieses einzelnen Zeichens her zu untersuchen. Das Denken orientiert sich also an den Spurenverweisen des Zeichens von innen nach außen: vom Zeichen zum Zeichenkontext. Man kann deshalb ein System auch als einen dekonstruktiven Kontext begreifen. 3. Kontinuität Die Dekonstruktion formuliert ihre Bedeutungstheorie als holistisches Modell. Dieses Modell lässt sich nun daraufhin befragen, wie sich in ihm Kontinuitäten von Bedeutung ausbilden. Da der holistische Zusammenhang über différance und Iteration stets auf Momente von Veränderbarkeit bezogen bleibt, gestalten sich die Fragen nach einer kontinuierlichen Bedeutung eher paradox: Ist Kontinuität nicht dadurch gekennzeichnet, dass sich nichts verändert? Stellen sich die in einer Sprache zweifellos bemerkbaren Kontinuitäten nicht ein, weil wir uns über den Gebrauch der Wörter einigen und sie diesen Konventionen entsprechend verwenden? »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«, schreibt Wittgenstein bekanntlich.74 Ist die kontinuierliche Bedeutung eines Wortes sein konventionsgemäßer ____________ 72

Bertram, Übergangsholismus, 394, 398. Vgl. Derrida, Positionen, 50. 74 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Rn. 43. 73

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Gebrauch in der Sprache? Nicht abzuweichen, wäre damit einer kontinuierlichen Bedeutung als Imperativ vorausgesetzt. Für die Antworten der Dekonstruktion auf diese Fragen lässt sich vorweg festhalten, dass auch sie die Bedeutung auf den konkreten Zeichengebrauch stützt. Ohne Spuren als materielle Bezugspunkte bleiben die differenzierenden Bewegungen von différance und Wiederholung bedeutungslos. Erst im Moment des Zeichengebrauchs wird der holistische Zusammenhang der Dekonstruktion greifbar. Im Zeichenkontext formiert sich dann übergangsweise eine bestimmte Bedeutung. Weil sich Bedeutungen nur in dieser momentanen Kontextualisierung des Zeichengebrauchs ausbilden, verlegt sich auch die Frage nach der Kontinuität von Bedeutung auf die Zeichenbildung: Kontinuität von Bedeutung ist ausgehend von den Bedingungen für eine kontinuierliche Bedeutung von Zeichen zu begründen.75 Semiologisch kann Kontinuität als Übergang einer spezifischen Bedeutung von einem vergangenen auf einen aktuellen Zeichengebrauch verstanden werden. Die vergangene Bedeutung wird im aktuellen Zeichengebrauch reaktualisiert. Diese Reaktualisierung hat nach der dekonstruktiven Zeichentheorie keine bloß rezeptive Struktur: Eine im Zeichengebrauch spezifizierte Bedeutung bleibt nicht im Sprachsystem gespeichert und kann beim nächsten Gebrauch dort wieder abgerufen werden, da es an der Möglichkeit einer selbstständigen Bedeutung außerhalb ihrer Differenzierung in Zeichen fehlt. Infolgedessen setzt eine Reaktualisierung von vergangenen Bedeutungszuständen die neuerliche Differenzierung in einem aktuellen Zeichengebrauch voraus und das bedeutet wiederum, dass die Reaktualisierung auf différance und Wiederholung basiert.76 Die Wiederholung eines Zeichens bedeutet, wie gesehen, eine Bewegung des Sichvonsichunterscheidens und des Sichaufsichbeziehens. In dieser Bewegung teilt und bezieht sich das Zeichen auf sich selbst und reproduziert sich dadurch als dieses bestimmte Zeichen. Mit Hegel erfolgt die Selbstunterscheidung jedoch nicht aus einem Standpunkt in der Gegenwart. Im Moment des Selbstbezuges stoßen vielmehr Vergangenheit und Zukunft aneinander, ohne dass sich zwischen ihnen ein Raum von Gegenwart ausdehnt. In der aktuellen Wiederholung des Zeichens verbinden sich auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft.77 Da der Gebrauch von Zeichen Wiederholung impliziert, markiert jeder Zeichengebrauch diesen Übergang von Vergangenheit und Zukunft. Die in einem aktuellen Zeichengebrauch spezifizierte Bedeutung stellt sich somit notwendigerweise in Kontinuität zu vergangenen ____________ 75

Bertram, Übergangsholismus, 395–399; ders., Hermeneutik und Dekonstruktion, 120 bei/in Fn. 43. Siehe ferner Teil 1, bei Fn. 26 und zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Dekonstruktion Bertram/Lauer/Liptow/Seel, In der Welt der Sprache, 225–229. 76 Bertram, Übergangsholismus, 396, 408 f. 77 Siehe Teil 1, bei Fn. 37.

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Bedeutungszuständen. Mit anderen Worten: Es gibt keinen kontinuitätsfreien Zustand von Sprache.78 Die vergangenen Bedeutungszustände kontextualisieren also ein Zeichen auf dieselbe Weise wie die anderen Zeichen, von denen sich das Zeichen in seinem Gebrauch differenziert. Diese These hat folgende Pointe: Die Kontinuität des Zeichengebrauchs wird durch ihn selbst produziert. Das kann man auch dahingehend formulieren, dass jeder Zeichengebrauch sich selbst die Normen setzt, denen er folgt. Die dem aktuellen Gebrauch vorausliegenden Bedeutungszustände bilden keine positiven, das bedeutet vorausbestehenden Normen. Damit erhält auch die Frage nach dem Verhältnis von Konventionalität und Kontinuität eine Antwort. Konventionalität bildet zwar ein wesentliches Merkmal des Sprachgebrauchs, ist aber für seine kontinuierliche Bedeutung nicht vorausgesetzt. Sprachliche Konventionen begründen sich vielmehr erst aus den impliziten Kontinuitäten des Zeichengebrauchs. Ein Gebrauch, der nie seinen Ereignischarakter verliert, da ihm wegen seiner Momente von Veränderbarkeit (différance, Iteration) stets ein Quantum der Unentscheidbarkeit verbleibt.79 Die Dekonstruktion formuliert folglich für die Kontinuität nicht den Imperativ der ausbleibenden, sondern der eintretenden Veränderung. Im Zeichengebrauch vollzieht sich dieser Imperativ und erst daraus knüpft sich ein Netz von sprachlichen Konventionen. Konventionen normieren das Faktum des Zeichengebrauchs deshalb nicht in zwingender Weise. Und gleichwohl stellt der dekonstruktive Imperativ nicht einfach Faktizität vor Geltung. Die Dekonstruktion kennt, wie gesehen, keine einfachen Präsenzen, auch nicht von Fakten oder Normen: »Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.«80

____________ 78 Bertram, Übergangsholismus, 409 f. Siehe ferner Düttmann, Derrida und ich, 39. Diese Kontinuität des Zeichens wurde oben bereits im Rahmen des Kontextes angesprochen (Teil 1, bei Fn. 54). 79 Bertram, Übergangsholismus, 410 f. sowie Teil 1, bei Fn. 63. Ohne diesen Rest an Unentscheidbarkeit befänden wir uns in einem axiomatischen Deduktionsmodell von Bedeutung, in dem ein Bedeutungsgeschehen nicht mehr ein Ereignis, sondern die von einer äußeren Instanz letztbegründete Wirkung wäre. 80 Derrida, Positionen, 50. Die dekonstruktive These, dass jeder Zeichengebrauch sich selbst die Normen setzt, denen er folgt, erinnert sogleich an das Problem des Regelfolgens bei Wittgenstein. Bertram hat sie gerade mit Blick auf diese Wittgenstein’sche Problemstellung aus den Sprachphilosophien von Gadamer, Derrida und Brandom weiter entfaltet (siehe Bertram, Die Sprache und das Ganze, 123–147). Ich werde auf das damit angesprochene Problem noch zurückkommen (Teil 1, bei Fn. 124).

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C. Die Dekonstruktion des eigenen Rechts I. Dekonstruktion des Rechts? Dekonstruktion ist bei Derrida die Dekonstruktion der Philosophie. Ihre Reformulierung innerhalb der vorliegenden Untersuchung stellt die Frage, ob sie auf einen philosophischen Kontext verwiesen bleibt oder sich ihr Regeln entnehmen lassen, die auf andere Kontexte anwendbar sind. Gibt es also ein Außerhalb der Dekonstruktion der Philosophie, das sich innerhalb der Philosophie der Dekonstruktion befindet? Verbindet die Dekonstruktion in sich möglicherweise philosophische, juristische und politische Kontexte? Offensichtlich verlangt diese Frage noch einmal nach einer Betrachtung des Kontextes. Um sie zu beantworten, ist zunächst genauer zu untersuchen, inwiefern sich bei Kontexten von einem Innen und Außen sprechen lässt. Das Innen und Außen von Kontexten – Derrida stellt, wie gesehen, einerseits die These auf, dass kein außerhalb des Zeichenkontextes existiert: »Es gibt kein außerhalb des Kontextes«.81 Andererseits behauptet er gleichzeitig die Pluralität verschiedener Kontexte: »Ich glaube, daß die Dekonstruktion, die Dekonstruktionen, immer eine große Aufmerksamkeit für den Kontext voraussetzen, für alle Kontexte, für die geschichtlichen, wissenschaftlichen, soziologischen usw.«82 Das erzeugt auf den ersten Blick die paradoxe Situation, dass gleichzeitig ein außerhalb und kein außerhalb des Kontextes existiert. Doch auch dies ist, wie sich zeigen wird, bloß ein scheinbarer Widerspruch, der sich mit dem terminologischen Zusammenhang von Kontext und Text klären lässt. Die Zeichenkontexte übersetzen die Selbstverortung der Zeichen und zeigen dadurch spezifische Bedeutungen an. Aus der Behauptung, es gebe kein außerhalb des Kontextes, zu schließen, dass es nur einen Kontext gibt, hieße folglich, voneinander differenzierte Bedeutungsstandpunkte für unmöglich zu halten: Die Möglichkeit spezifischer Bedeutungen ginge in einem einzigen grenzenlosen Kontext unter. Es wurde bereits dargelegt, weshalb diese Schlussfolgerung die dekonstruktive Denkbewegung verfehlt.83 Die Dekonstruktion schließt die Welt nicht in einen undifferenzierten, bedeutungslosen Text ein, sondern sie beschreibt sie als einen semiologischen Raum, in dem sich nach den Aspekten von différance, Spur und Wiederholung verschiedene spezifische Bedeutungen ausbilden. In diesem Innenraum des Textes geht die Dekonstruktion von der Pluralität spezifischer Bedeutungen aus und impliziert so eine Pluralität von Kontexten. In der Perspektive des dekonstruk____________ 81

Derrida, Limited Inc, 211 sowie Teil 1, bei/in Fn. 56. Derrida zitiert nach Engelmann, Einführung, 24 f. 83 Teil 1, nach Fn. 56. 82

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tiven Textes finden seine spezifischen Kontexte deshalb ein Außen in anderen Kontexten. Insistiert Derrida gleichwohl, es gebe kein außerhalb des Kontextes, so wechselt er in die Perspektive eines einzelnen Kontexts. Er will damit deutlich machen, dass die aus der Textperspektive voneinander differenzierten Kontexte ihre eigene Bestimmtheit nicht in sich selbst begründen können. Als eine spezifische Bedeutung konstituiert sich ein spezifischer Kontext erst in der Bewegung der Differenzierung (différance), die im Innenraum des Textes einen unumgänglichen Umweg über die anderen Kontexte zurücklegt.84 Aus der Textperspektive verbindet sich daher der konstituierende Kontext mit anderen Kontexten, während aus der Perspektive dieses spezifischen Kontextes nach wie vor gilt, dass es kein außerhalb des Kontextes gibt und so für diesen Kontext alles Außen als ein Innen erscheint. Das Paradox, dass ein Kontext gleichzeitig über ein Außen und kein Außen verfügt, entsteht somit nur, weil zwei verschiedene Beobachtungsebenen miteinander vermischt werden. Unterscheidet man hingegen zwischen der Perspektive des Textes und des Kontextes, löst sich dieses Paradox auf und wird deutlich, inwiefern sich von einem Innen und Außen von Kontexten ausgehen lässt. Das Innen und Außen der Dekonstruktion(en) – Aufgrund der vorstehenden Überlegungen kann man die Frage, ob sich innerhalb der Philosophie der Dekonstruktion ein Außerhalb denken lässt, folgendermaßen beantworten: Die Dekonstruktion geht zwar von der Pluralität spezifischer Kontexte aus. Sie unterscheidet also philosophische, juristische oder politische Kontexte. Gleichzeitig verbindet sie jedoch diese verschiedenen Kontexte in einem Innenraum des Textes, den sie durch die Aspekte von différance, Spur und Wiederholung erläutert. Die Philosophie der Dekonstruktion weist damit über ihren philosophischen Kontext hinaus – es gibt kein Außerhalb der Philosophie der Dekonstruktion, weil jeder Blick auf die Welt innerhalb des semiologischen Raums der Dekonstruktion verbleibt.85 Das Entscheidende an dieser Derrida’schen Perspektivierung liegt freilich gerade darin, seine eigene Perspektive nicht auf einen Standpunkt oder Kontext zu verengen. Derrida hat es infolgedessen konsequent abgelehnt, Dekonstruktion als eine Methode zu betrachten, die spezifischen Diskursen ihre allgemeinen Regeln aufdrängt. Die Regeln der Dekonstruktion seien für jeden spezifischen Kontext gesondert zu ermitteln: »jeder Kontext … erfor-

____________ 84

Teil 1, vor Fn. 19 und bei Fn. 21. Das erinnert an den Universalitätsanspruch der Hermeneutik, wie ihn etwa Gadamer behauptet hat (Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems; siehe zu den Unterschieden der beiden Philosophien Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion). 85

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dert eine idiomatische, dekonstruktive Geste, so idiomatisch wie möglich.«86 Es gibt also nicht einfach eine Dekonstruktion, sondern eine Dekonstruktion der Philosophie, der Architektur, der Literatur, des Rechts etc. Und im Verhältnis dieser Dekonstruktionen zueinander existiert dann ein Außerhalb der Dekonstruktion. Dieses Außen einer kontextspezifischen Dekonstruktion bleibt allerdings im Innenraum des Textes und auf diese Weise bleiben die einzelnen Dekonstruktionen miteinander verbunden. Als allgemeine Regeln für eine dekonstruktive Perspektive erscheinen deshalb jene Gesichtspunkte, die den Text als semiologischen Raum konstituieren, das heißt différance, Spur und Wiederholung. Als Grundmomente oder grundlegende Aspekte erhalten diese allgemeinen Regeln jedoch nicht den Status einer Methode der Dekonstruktion. Sie reflektieren eher eine Denkhaltung, eine neue Art der Aufklärung, die sich selbst der Kritik unterwirft, die sie entfaltet.87 Das ließe sich vielleicht wie folgt zuspitzen: Dekonstruktion bedeutet eine Haltung, die alle Perspektiven füreinander öffnet, indem sie alle einschließt. Ihr Denken realisiert die kritisch-paradoxe Spannung, dass ich alle anderen und gleichwohl ich selbst bin.88 Dekonstruktion des Rechts – Innerhalb der Philosophie der Dekonstruktion lässt sich folglich eine spezifische Dekonstruktion des Rechts begründen. Da eine allgemeine Methode der Dekonstruktion fehlt, ist dies jedoch kein theoretischer Spaziergang. Dekonstruktion verlangt vielmehr, einen Kontext als spezifischen Kontext anzunehmen und ihn ausgehend von ihren Grundmomenten intern zu kommentieren. Zu entwickeln ist demnach ein interner Kommentar, der seinen Kontext nicht grundlegend neu strukturiert, sondern reformuliert. Das entspricht nicht zufälligerweise der einleitend dargestellten Methode und der eingangs dieses ersten Teils gewählten Strategie, die positivistische Logik von innen her zu kritisieren. Die folgenden Ausführungen formulieren für das eigene Recht einen solchen dekonstruktiven Kommentar. Er erläutert in einem ersten Schritt einige grundlegende rechtstheoretische Fragen, die das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation aufwirft. In einem zweiten Schritt untersucht er schließlich den prinzi-

____________ 86 Derrida zitiert nach Engelmann, Einführung, 25; siehe ebenfalls Derrida, Auslassungspunkte, 229; zum Problem einer Methode der Dekonstruktion ders., Dissemination, 304; Engelmann, Einleitung, 17–19. 87 Derrida, Limited Inc, 218; ders., Gesetzeskraft, 17, 58; Engelmann, Einführung, 29– 31; ders., Positionen 2009, 19; Sloterdijk, Derrida ein Ägypter, 20. Siehe ferner Teil 1, nach Fn. 22. 88 Ebenso scharf- wie tiefsinnig ist dieses Spannungsverhältnis expliziert bei Düttmann, Derrida und ich, 11–74.

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piellen normativen Zusammenhang zwischen eigenem und anderem Recht und führt so zu einer Dekonstruktion des eigenen Rechts hin.89 II. Recht als rekonstruktive Zeichenpraxis Die Grundmomente der Dekonstruktion begründen eine allgemeine Zeichenlehre, die sämtliche Kontexte einschließt. Das Recht, aus diesem semiologischen Raum heraus zu erläutern, bedeutet somit, es als eine Zeichenpraxis zu verstehen. Das ist intuitiv leicht nachvollziehbar – alle rechtlichen Diskurse verwenden Zeichen: Rechtssetzung, Rechtsprechung, Rechtslehre usf. In diesem Zeichengebrauch entsteht rechtliche Bedeutung, Normsinn oder, wie sich allgemeiner sagen lässt, rechtliche Normativität. Vor diesem Hintergrund kann man das rechtliche Argumentieren als einen spezifischen Prozess bestimmen, in dem rechtliche Normativität erzeugt wird. Auch das ist intuitiv einsichtig: Ein Gericht, das in einem noch nie da gewesenen Fall für einen bestimmten Normsinn argumentiert, tut etwas anderes als ein Gericht, das in einem präjudizierten Fall die rechtliche Situation erklärt, obgleich es in beiden Fällen durch seinen Zeichengebrauch rechtliche Normativität aufbaut.90 Ich möchte diese Zeichenpraxis des Rechts weiter als rekonstruierende Praxis beschreiben. Rekonstruktion benennt das Leitmotiv, wie das Recht zum einen als spezifischer Kontext angenommen und zum anderen mit der Zeichentheorie der Dekonstruktion verbunden werden soll. Dabei benennt Rekonstruktion zunächst die rechtstheoretisch bereits bekannte These, dass eine Norm nicht vorgefunden, sondern für jede Entscheidung neu formuliert wird.91 Ebenso geläufig ist jedoch, dass diese Konstruktion nicht völlig beliebig erfolgen kann, sondern gerade den spezifischen Kontext des Rechts zu

____________ 89

Die Konturen einer Dekonstruktion des Rechts bleiben auf das Ziel dieses Entwurfs fokussiert. Ihre theoretische Verortung kann daher größtenteils nur am Rande angezeigt werden. Zur Interpretation von Derridas Werk in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie siehe insbesondere die Beiträge in Goodrich/Hoffmann/Rosenfeld/Vismann (Hg.): Derrida and Legal Philosophy; Legrand (Hg.): Derrida and Law; Teubner (Hg.): Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann. Siehe zur Verbindung von Dekonstruktion und Rechtsvergleichung namentlich Legrand, »Il n’y a pas de hors-texte:« Intimations of Jacques Derrida as a Comparatist-at-Law; ders., Paradoxically, Derrida: For a Comparative Legal Studies; ders., Siting Foreign Law: How Derrida can help; unübersehbar ist der Einfluss Derridas auch in Legrand (Hg.): Comparer les droits, résolument. 90 Der Unterschied zwischen argumentativen und erklärenden Rechtsdiskursen wird im zweiten Teil noch eingehend erläutert (Teil 2, nach Fn. 97 und 104). 91 Siehe dazu Seibert, Zeichen, Prozesse, 120; zuletzt Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, 501.

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berücksichtigen hat.92 So wirken etwa die Gesetzes- und Präjudizienbindung als strukturierende Elemente der rechtlichen Zeichenpraxis und insoweit rechtfertigt es sich deshalb, von einer Rekonstruktion zu sprechen.93 Die Formel ›Recht als rekonstruktive Zeichenpraxis‹ fasst die hier ausgearbeitete Dekonstruktion des Rechts somit programmatisch zusammen. Betrachten wir nun, welche Punkte dieses Programms vertieft anzusprechen sind: Mit der logischen Grenzziehung des Positivismus wurde ersichtlich, dass es für eine normative Rechtsvergleichung besonders wichtig ist, wie man zwischen Sein und Sollen unterscheidet und ob sich diese Unterscheidung durch Instanzen wie Gesetzgebung oder System absichern lässt. Der folgende dekonstruktive Kommentar beschreibt daher zunächst die Differenz von Sein und Sollen und danach die Instanzen des Normsinns. Ergebnis ist eine gegenüber dem positivistischen Modell erweiterte, aber auch flüchtige Normativität. Da Recht jedoch stets in einer Rekonstruktion seinen Halt wiederfinden muss, werden anschließend seine Struktur und sein Begriff näher erörtert. Abschließend sind die rechtliche Entscheidung sowie die Rechtsgeltung zu erläutern. Denn rechtsvergleichende Argumente bilden ja Elemente einer Entscheidung, die sich auf Gesetze oder Präjudizien als verbindliche Normen beziehen. Und nicht zuletzt stehen sie natürlich durchgehend im Kontext der juristischen Argumentation, die deshalb in alle Programmpunkte eingeflochten wird. 1. Normatives Sein Die Differenz zwischen Sein und Sollen kann man nicht nur für die rechtsvergleichende Argumentation, sondern auch für das Recht schlechthin als zentral bezeichnen. Sie besagt, dass aus einer Aussage, wie etwas ist, nicht von selbst folgt, dass etwas so sein soll, wie es eben ist. Kürzer noch: Tatsachen allein machen keine Normen. In der Philosophiegeschichte hat wohl erstmals David Hume die Schwierigkeiten des Übergangs von deskriptiven zu normativen Sätzen klar benannt: »Plötzlich werde ich damit überrascht, daß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ›ist‹ und ›ist nicht‹ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ›sollte‹ oder ›sollte nicht‹ sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größster Wichtigkeit. Dies sollte oder sollte nicht drückt eine neue Beziehung ____________ 92

Das reflektiert insbesondere Alexy in seiner ›Sonderfallthese‹ (Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 34, 224, 263). Zum Standpunkt der Dekonstruktion zu dieser Rekonstruktion siehe Teil 1, vor/nach Fn. 63 sowie Derrida, Grammatologie, 273 f.; ders., Dissemination, 72. 93 Ähnlich schreiben Christensen und Kudlich: »Die Rechtsnorm wird konstruiert, aber eben nicht beliebig, sondern so, dass sie das Gesetz als Normtext anerkennt.« (Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 154)

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oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind.«94 Als »ganz verschieden« charakterisiert also Hume die Beziehungen von Sein und Sollen. Das legt nahe, die von ihm herausgestellte Differenz als irreduzibel zu verstehen. Eine These, der die Dekonstruktion allerdings nicht zustimmen würde: Außerhalb von différance gibt es keinen Standpunkt, von dem aus wir Tatsachen und Normen unterscheiden könnten und innerhalb von différance ist ihre Unterscheidung reduzibel, weil sie nur aufgrund der Bewegung der Differenzierung und nicht als vorgegebene oder feste Differenz besteht. Fakten und Normen sind nicht selbstgenügsame Präsenzen, sondern Spuren, die sich wechselseitig aufeinander beziehen: Spuren von Spuren. Wenn in Derridas Spurbegriff auf diese Weise Materialität und Idealität ineinander übergehen, so bedeutet das rechtstheoretisch die grundlegende Verschränkung von Sein und Sollen. Dahinter steht letztlich die Einsicht, dass wir auch für unser normatives Wissen auf die Welt angewiesen sind.95 In der Sprache Humes könnte man das so ausdrücken: Ohne das Sein der Welt hätten wir kein ›Material‹, um über das Sollen von Normen nachzudenken. Das lässt sich auf die Formel zuspitzen: Normativität ist normatives Sein. Die Dekonstruktion der Unterscheidung von Sein und Sollen heißt nun aber nicht einfach, sie für das Recht aufzugeben.96 Die Interpretation, die ich in dieser Hinsicht für den rechtstheoretischen Kontext vorschlagen möchte, orientiert sich an der Idee, dass Hume in der zitierten Textstelle weniger die Differenz an sich im Auge hat, als vielmehr die Frage unter welchen Bedingungen von einem Sein auf ein Sollen geschlossen werden kann. Hume formuliert insoweit präzise: Für »eine neue Beziehung oder Behauptung [eines Sollens] … muß ein Grund angegeben werden«, weil »sonst ganz unbegreiflich scheint, … wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind«. Entsprechend der Idee eines normativen Seins schließt Hume also nicht aus, das Sollen auf ein Sein zurückzuführen. Er stellt diese Rückführung indessen unter die notwendige ____________ 94

Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III, 211. Die Entdeckung ist so grundlegend, dass man sie auch als ›Humes Gesetz‹ bezeichnet. Für die vorliegende Arbeit scheint es mir indessen geeigneter, sie mit dem Begriff des naturalistischen Fehlschlusses zu verbinden, wissend, dass dieser Begriff historisch nicht auf Hume, sondern auf George Edward Moore zurückgeht (siehe dazu Prior, Logic and the basis of ethics). 95 Siehe dazu Kern, Wissen vom »Standpunkte eines Menschen«, die den Zusammenhang von Wissen und Welt aus den Philosophien von Kant, Derrida und Heidegger luzide herausarbeitet. 96 Siehe Teil 1, bei Fn. 64 und vor Fn. 86.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

und zugleich hinreichende Bedingung einer Begründung. Die Differenz von Sein und Sollen veranschlagt, so gesehen, eine Pflicht zur Argumentation. Rechtstheoretisch weist sie deshalb darauf hin, das rechtliche Wissen in einem Prozess der Argumentation zu bestimmen und nicht etwa bloß auf die Frage zu verkürzen, wer aufgrund seiner faktischen Macht ein Sollen zu definieren vermag.97 Die Differenz von Sein und Sollen ist hingegen nicht so zu verstehen, dass das Recht aus Normen und nur aus Normen besteht. Denn die Sollensforderungen des Rechts sind von ihren empirischen Grundlagen wie Sachverhalt, Gesetzbücher, Kommentare (etc.) kategorisch nicht strikt getrennt. Wer eine Rechtsfrage entscheiden muss, denkt also nicht in einer Kategorie des reinen Sollens, die sich jenseits des Seins der Welt befindet. Deshalb beschreibt die dekonstruktive Rechtstheorie die Normativität des Rechts als normatives Sein. Ein auf das reine Sollen ausgerichtetes Rechtsverständnis geht dagegen stets von einer irreduziblen Differenz zwischen Sein und Sollen aus. Das aber hat, so die dekonstruktive Rechtskritik, für die Rationalität des rechtlichen Diskurses unerwartete Folgen. Der Inhalt des Rechts lässt sich nicht präziser angeben, indem man ihn rein normativ begreift. Denn in einer rein normativen Perspektive sind die Spuren des Seins im Sollen ausgeblendet, werden die Zeichen des Rechts als reine Idealität ohne Materialität verstanden. Das Recht erhält dadurch einen irrealen Charakter, weil die Spuren des Seins als bedeutungskonstitutive Elemente der Normativität aus dem Blick geraten. Rechtsmethodisch impliziert das einen blinden Fleck bei der Ermittlung der Rechtsnormbedeutung. Die Bestimmung des Rechts nach einer dekonstruktiven Rechtstheorie entgeht dieser myopischen Fixierung, denn sie sieht rechtliche Normativität als normatives Sein, das in einem argumentativen Prozess zu entwickeln ist. 2. Flüchtige Instanzen Ein durchgehendes Motiv der dekonstruktiven Analyse ist die Frage nach möglichen Instanzen von Bedeutung. Unter den Begriffen des transzendentalen Signifikats und des Kontextes beschreibt Derrida eingehend, weshalb sich keine Instanz denken lässt, die eine Bedeutung von sich aus vorschreibt. Diese Erkenntnis ist rechtstheoretisch von besonderem Interesse, da sich in der juristischen Methodologie zahlreiche Instanzen finden, die beanspruchen, die Bedeutung von Rechtsnormen bestimmen zu können. Der Gesetzgeber, das System, der Zweck im Recht oder die Gerechtigkeit sind nur einige Beispiele. Ihnen ist gemeinsam, dass sie von einem Standpunkt außer____________ 97

Naturalistische Fehlschlüsse sind also nach wie vor möglich. Sie liegen dann vor, wenn ohne Begründung von einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird (vgl. dazu das Beispiel in der Einleitung, bei Fn. 27).

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halb des Normtextes eine Bedeutung an diesen herantragen. Normgehalt ist, was der Gesetzgeber, das System oder der Zweck als solchen definieren. Was sagt die Dekonstruktion zu dieser Vorstellung? Wie gesehen, besagt Dekonstruktion nicht, die genannten Instanzen aus dem Diskurs zu entfernen, sondern sie nicht mehr als transzendentale Signifikate zu verstehen, als in sich selbst bestimmte Instanzen, die außerhalb einer Bewegung der Differenzierung (différance) bestehen. Diese différance zeigt zum einen, dass weder Gesetzgeber noch System oder Zweck sich als selbstständige Instanzen von Bedeutung stabilisieren können. Auf der anderen Seite disseminiert différance die Bedeutung der genannten Instanzen an sich in den Spurenverweisen, macht sie zur Spur von Spuren. Was Derrida als das Erlöschen der Spur beschreibt,98 zeigt sich rechtstheoretisch darin, dass Instanzen des Normsinns sich in den Spuren des Rechts verflüchtigen. So erscheint beispielsweise der Gesetzgeber nicht als irgendeine metaphysische Instanz, sondern er verstreut sich in den Spuren der Verfassung, der Gesetzesmaterialien, der Rechtsgeschichte usw. Aus diesem Grunde bieten ›die Wertentscheidung des Gesetzgebers‹, ›der Zweck‹ oder ›das System‹ an sich kein griffiges Argument für den Sinn einer Rechtsnorm. Sie sind, um es auf eine kantische Formel zu bringen, Gedanken ohne Inhalt und damit leer.99 Für die juristische Argumentation mit jenen Instanzen dürfte daher die entscheidende Frage lauten: Wie kommen diese Instanzen erneut zu argumentativem Gehalt? Bezüglich des Systemgedankens hat der dekonstruktive Holismus bereits einen Hinweis gegeben. Gemäß seiner Analyse bilden Systeme keinen umfassenden Rahmen, dem sich einzelne Elemente entnehmen ließen. Das System an sich erreicht keine Spannkraft, mit der es seine Einzelteile von außen umschließen könnte. Es verdankt sich einzig seiner Innenspannung, die sich aus der Kraft der Differenzierung seiner Elemente (différance) ergibt. Der Gehalt eines Systems ist deshalb in den konkreten Beziehungen seiner Elemente zu ermitteln. Inhaltsvoll ist ein systematisches Argument erst, wenn es die spezifischen Relationen der Systemelemente verständlich macht, das System also von innen nach außen gedacht wird. Darin liegt eine Denkbewegung, die für alle sich verflüchtigenden Instanzen gleichermaßen gilt. Sie lassen sich inhaltlich nur dann begreifen, wenn man in Rechnung stellt, dass sie sich in Beziehungen von Teilen konstituieren und sie dementsprechend von diesen spezifischen Beziehungen her erläutert. ____________ 98

Siehe Teil 1, nach Fn. 29. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B75/A51, 98. Bekanntlich lässt Kant dem aber folgen, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Legt man beide Aussagen übereinander, so ergibt sich präzise die Frage, die ich nun erörtere: Wie begreifen wir einen inhaltsvollen Gedanken? 99

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Rechtstheoretisch folgt daraus, Instanzen des Normsinns an und für sich nicht als Argument gelten zu lassen. Sie erhalten ihre Bedeutungsmöglichkeit jeweils erst im Kontext einer bestimmten Auslegungsfrage. In der Terminologie Derridas ließe sich sagen, die fraglichen Instanzen seien von der konkreten Rechtsfrage des Einzelfalls her gespurt. Diese Dissemination der Normsinninstanzen verlangt deshalb rechtsmethodisch, auslegungsrelevante Größen wie Zweck, System oder Wertentscheidung im argumentativen Prozess so zu rekonstruieren, dass die auszulegende Norm in ihren konkreten rechtlichen und tatsächlichen Bezügen erscheint. Wenn die Dekonstruktion im holistischen Zusammenhang das Ganze als bedeutungskonstitutive Größe durch die Beziehungen zwischen Teilen ersetzt, stellt sie eine rechtstheoretische Aufgabe: Nämlich diese Substitution innerhalb einer Theorie der juristischen Argumentation angemessen nachzuzeichnen. Eine zu entwickelnde juristische Argumentationstheorie kann somit davon ausgehen, dass flüchtige Instanzen über die Beziehungen von Teilen aufgeschlüsselt und so die Rechtspraxis orientiert werden kann. Jedoch lassen sich auf diese Weise keine Instanzen rechtlicher Bedeutung erschließen, mit denen man spezifische Rechtsfragen oder gar das Recht als Ganzes eindeutig aufklären könnte.100 3. Dynamische Struktur Die beschriebenen flüchtigen Instanzen lassen das Recht ein wenig haltlos erscheinen. Das wirft die Frage auf, wie flüchtig beziehungsweise greifbar sie wirklich sind. Gibt es nicht durchaus rechtliche Strukturen wie die Gewaltenteilung oder die Gesetzes- und Präjudizienbindung, die auf den Diskurs des Rechts determinierend einwirken? Die ›dynamische Struktur‹ versucht eine knappe Antwort zu geben, indem sie beide Aspekte kombiniert: Flüchtigkeit und Strukturiertheit des Rechts. Sie wird ausgehend von einer These erläutert, die sich bei Derrida immer wieder zeigt. Nämlich, dass Zeichen spezifische Bedeutungen ausbilden, diese Bedeutungen aber nie endgültig greifbar sind, da sie nur aufgrund von Momenten der Veränderbarkeit (différance, Iteration) bestehen. Anhand dieser These wird die Vorstellung einer dynamischen Struktur zuerst semiologisch und anschließend rechtlich erklärt. Zeichen erhalten eine spezifische Bedeutung, weil sie in Beziehungen zu anderen Zeichen stehen. Diese Beziehungen spannen allerdings kein gleichmaschiges Netz, bei dem alle Knotenpunkte den gleichen Abstand vonei____________ 100 Der bereits für den Zeichenkontext angebrachte Vorbehalt des moderaten Kontextualismus gilt somit gleichermaßen für die flüchtigen Instanzen (Teil 1, Fn. 63). Indem man bei solchen Instanzen den Kontext oder die spezifischen Beziehungen untersucht, in denen sie stehen, gelangt man nicht zu einer eindeutigen Bedeutung von Normsinninstanzen.

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nander hätten. Dann wäre eine einzelne Beziehung keine bestimmte Beziehung mehr, weil jede Beziehung auch die andere sein könnte. Oder anders gesagt: Wenn alle Differenzen gleich sind, gibt es keine Differenzen mehr. In diesem Fall wäre konsequenterweise jedem Zeichen dieselbe Bedeutung zugeordnet. So hätte man erneut einen undifferenzierten allgemeinen Text vor sich, dessen Bedeutung nur noch eine glatte, unstrukturierte Oberfläche wäre. Der Gedanke einer spezifischen Bedeutung bringt folglich gleichfalls den Begriff der Struktur ins Spiel: Bestimmte Beziehungen implizieren einen strukturierten Text. Zeichen formen nach der Dekonstruktion somit kein gleichmaschiges Netz, sondern bilden eher einen dreidimensionalen Raum, der über eine von bestimmten Beziehungen profilierte Struktur verfügt.101 Fügt man diesem semiologischen Raum die Dimension der Zeit hinzu, wird die Vorstellung einer dynamischen Struktur bereits einsichtig. Strukturen können sich nicht außerhalb der Zeit stellen, sie fließen in ihr. Diese Dynamizität drücken in der Sprache der Dekonstruktion différance und Iteration aus: Mit différance erläutert Derrida, warum nur differenzierende Bewegungen und nicht feste Einzelpunkte gedacht werden können, Bedeutung also stets mit einer dynamischen Bewegung zusammenhängt. Mit der Iteration reflektiert er, wie sich ein Zeichen in der Differenz von Vergangenheit und Zukunft fortlaufend teilt, ohne sich je in einem Moment von Gegenwart zu vervollständigen. In der daraus folgenden Selbstunterscheidung kommt die Dynamizität der Zeichen und ihrer Strukturen wohl am besten zum Ausdruck: Jeder Augenblick ist bereits geteilt, ist bereits der folgende Augenblick.102 Damit ist der Gedanke einer dynamischen Struktur semiologisch begründet. Übertragen wir den Gedanken einer dynamischen Struktur in die Rechtstheorie, bedeutet das zuerst einmal die Möglichkeit, das Recht strukturell zu erfassen. Der Rechtskontext verfügt über eine bestimmte Struktur, das heißt, die Zeichen des Rechts stehen in bestimmten Beziehungen und konstituieren dadurch spezifische Bedeutungen, die sich im Zeichengebrauch der Rechtspraxis reaktualisieren. Wie dargestellt, produzieren diese Reaktualisierungen implizite Kontinuitäten, die dann Konventionen hervorbringen können.103 Gesetze, Prinzipien, Theorien und Methoden des Rechts lassen sich so als Ergebnis eines Strukturierungsprozesses der rechtlichen Zeichenpraxis begreifen. – Die Möglichkeit zur Strukturbildung ist wiederum für die Rechtspraxis von großer Wichtigkeit. Denn die rechtlichen Konventionen wirken als bestimmte Argumentationsstrukturen auf die Praxis zurück. So sind etwa ____________ 101

Derrida spricht denn auch vom Text als einem »Gewebe« (Derrida, Positionen, 50). Ähnlich bezeichnet Bertram sprachliche Strukturen als »vieldimensionale Geflechte« (Bertram, Die Sprache und das Ganze, 68). 102 Derrida, Limited Inc, 83 und Teil 1, bei Fn. 37. 103 Eingehend Teil 1, nach Fn. 74, insbes. bei Fn. 79.

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Demokratieprinzip, Gewaltenteilung und die Verfassungsgerichtsbarkeit die Strukturelemente eines Rechtsstaates, die argumentative Vorgaben machen, ohne dass sie als Strukturelemente in jedem Einzelfall erneut zu begründen wären. Die Rechtsstrukturen leisten also eine pragmatische Determinierung von rechtlichen Entscheidungen und führen insoweit zu einer Rekonstruktion des Rechts.104 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Strukturen nur übergangsweise bestehen. Sie sind ein Fließen. Das ist leicht nachzuvollziehen, sofern man mitbedenkt, dass jeder Gebrauch von Rechtssprache durch Gerichte, Rechtswissenschaft, Gesetzgebung oder Verwaltung ein Teil der Zeichenpraxis ist, die die rechtlichen Strukturen erst entstehen lässt. Da die Strukturen den Praktiken stets nachgeordnet sind, verbleibt das Recht somit unabweisbar in einer ständigen Konstruktion. Doch ebenso an dieser Stelle lässt sich mit Derrida noch einen Schritt weiterdenken. Man könnte, nachdem die Strukturen sich nicht mehr festhalten lassen, versucht sein, zumindest die jeweilige Praxis des Zeichengebrauchs als maßgebliche Stütze zu betrachten. Das ist aber nur soweit zutreffend, als die Dekonstruktion die Bedeutungsbildung mit dem konkreten Zeichengebrauch verknüpft. Praktiken als ursprüngliche Ursache dieser Bedeutung zu verstehen, hieße dagegen, die praktizierenden Subjekte unbemerkt zu Instanzen von Bedeutung zu erheben. Gerade solche Vorgänge kritisiert Derrida in seinen Reflexionen zur différance. Auch die Praxis des Zeichengebrauchs vermittelt keinen Ansatzpunkt für einen äußeren Standpunkt von Bedeutung. Die in der Rechtspraxis handelnden Subjekte können daher nicht beanspruchen, das Recht einfach jederzeit selbst neu zu konstruieren.105 Das Bild der dynamischen Struktur vereint in sich somit die Möglichkeiten und die Grenzen von rechtlichen Strukturen. Auf die These, das Recht in einem argumentativen Prozess zu rekonstruieren, hat das einen doppelten Effekt. Es ist einerseits möglich, diese Argumentation an bestehende Strukturen des Rechts anzuschließen und so überhaupt berechenbar zu machen (Rekonstruktion), andererseits kann diese Argumentation jederzeit konventionelle Argumentationsstrukturen hinterfragen, sofern das im Kontext eines Einzelfalles notwendig erscheint (Rekonstruktion). Mit den Bemerkungen zu ____________ 104

In der postmodernen Terminologie von Lyotard erscheinen diese Rechtsstrukturen als ›Sprachpartikel‹, die durch ihre ›pragmatischen Wertigkeiten‹ einen ›lokalen Determinismus‹ implizieren (siehe dazu Lyotard, Das postmoderne Wissen, 24 f.). In der von Wittgenstein inspirierten Rechtstheorie sind sie Ausdruck einer bestimmten ›Lebensform‹ (siehe dazu Aarnio, The Rational as Reasonable, 213–221). 105 Bertram spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »Irreduzibilität sprachlicher Strukturen« (Bertram, Holismus und Praxis, 72). Ein Gedanke, den Lyotard kritisch gegen Wittgenstein vorgebracht hat (Lyotard, »Nach« Wittgenstein, 69 f.; ebenso Gamm, Flucht aus der Kategorie, 149).

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normativem Sein, den flüchtigen Instanzen und der dynamischen Struktur des Rechts sind wir nun genügend vorbereitet, einen kurzen Blick auf jene Frage zu werfen, die für eine rechts-vergleichende Argumentation bekanntlich von zentraler Bedeutung ist: Was ist Recht – wenn wir es dekonstruktiv betrachten? 4. Recht als Rechtskontext Dass die Frage »Was ist Recht?« eine besondere Anziehungskraft ausübt, stellt Hart bereits in der Einleitung seines Concept of Law fest.106 Während aber auch Hart selbst Kriterien entwickelt, nach denen Recht allgemein zu bestimmen sei, dürfte bereits klar sein, dass die Dekonstruktion sich der Anziehungskraft dieses ti esti entzieht. Recht ist für sie keine privilegierte Präsenz, dem ein bestimmtes Wesen zukommt, sondern ein Zeichen, das wie die anderen Zeichen im Innenraum des Textes steht. Ein transzendentales Signifikat, das für das Rechtszeichen die allgemeinen Kriterien für seine Bedeutung angeben könnte, fehlt hingegen. Vielmehr bildet sich das Recht als Zeichen wie andere Zeichen aus différance, Spur und Wiederholung. Seine Bedeutung disseminiert sich laufend, ohne sich je zu einer Essenz des Rechtseins zu kondensieren. Was das Zeichen ›Recht‹ bedeutet, kann also nur in den Spurenverweisen ermittelt werden, die das Rechtszeichen prägen. Oder präziser: Das Zeichen Recht erlangt seine spezifische Bedeutung bloß in der momentanen Kontextualisierung seines Zeichengebrauchs. Zusammen mit den einleitenden Überlegungen zum Recht als rekonstruktiver Zeichenpraxis kann man Recht deshalb als einen spezifischen Kontext deuten, der sich im Zeichengebrauch der Rechtspraxis konstituiert. Dieser Rechtskontext hat die beschriebene dynamische Struktur.107 Strukturierend wirken einmal die Kontexte, von denen sich das Recht differenziert, das heißt namentlich ethische, politische und soziologische Kontexte. Inhaltliche Strukturelemente des Rechtskontextes bilden dagegen Normen – aber nicht nur Normen. Nach den Überlegungen zum normativen Sein gehören Gesetzbücher, Gerichtsurteile und Kommentare ebenso zu ihm wie Prinzipien, Methoden und Theorien. Sie alle sind Elemente des holistischen Zusammenhangs, der die Bedeutung der Rechtsnorm bestimmt. Eine Normsinninstanz, die die Bedeutungskonstitution zentral steuert, fehlt im Rechtskontext indessen. Potentielle Normsinninstanzen wie etwa der Gesetzgeber verflüchtigen sich im Spurengewebe des Rechtskontextes. Das Recht als Rechtskontext zu verstehen, bedeutet also für den Begriff des Rechts selbst nachzuvollziehen, was die dekonstruktive Rechtstheorie für die Normsinninstanzen entwickelt: Recht ist eine flüchtige Instanz. ____________ 106 107

Hart, The Concept of Law, 1–17. Teil 1, nach Fn. 102.

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5. Die rechtliche Entscheidung Rechtsvergleichende Argumente beziehen sich stets auf eine konkrete rechtliche Entscheidung. Die Entscheidung ist somit ein weiterer wichtiger Punkt in einer ganzheitlichen Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation. In der Folge geht es darum, sie aus dekonstruktivem Blickwinkel zu charakterisieren. Zunächst soll untersucht werden, was die Entscheidung ermöglicht, danach inwiefern sie sich durch rechtliche Argumente begründen lässt und schließlich, was die Dekonstruktion zur Idee einer gerechten Entscheidung zu sagen hat. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das Motiv der Unentscheidbarkeit, wie es Derrida im Text Gesetzeskraft mit dem Problem des Entscheidens verbindet.108 Ich erörtere also zunächst dieses Motiv und daran anschließend die Möglichkeit, die Begründung und die Gerechtigkeit einer rechtlichen Entscheidung. Immer im Blick bleiben dabei weiterhin die Aufgaben und Möglichkeiten der rechtlichen Argumentation. Unentscheidbarkeit – Der Leitgedanke der Unentscheidbarkeit lässt sich aus den Überlegungen Derridas zur différance erschließen. Derrida betont da namentlich den Gedanken, dass Bedeutung nicht von einer Instanz außerhalb des Zeichengeschehens begründbar ist, denn jede solche Instanz bleibt in ihrer eigenen Bedeutung in die Bewegung der Differenzierung (différance) eingebunden. Sie unterscheidet sich und erhält so ihre bestimmte Bedeutung. Einen unterschiedslosen Standpunkt gibt es somit nicht. Das bedeutet aber zugleich, dass Bedeutungsunterscheidungen von keiner Instanz selbstständig entschieden werden können: Da sind immer noch andere Instanzen, die die Bedeutungsunterschiede über den unumgänglichen Umweg der Differenzen mit-entscheiden. In dieser Dynamizität der Bedeutung verliert sich folglich die Idee eines Endpunkts ebenso wie jene eines selbstständigen Ursprungs: Im Spiel der Differenzen wird und wurde mangels eines transzendentalen Signifikats nie endgültig entschieden. Bedeutungsunterscheidungen behalten deshalb stets einen Rest an Unentscheidbarkeit.109 Möglichkeit der Entscheidung – Was bedeutet diese Unentscheidbarkeit für die Möglichkeit der rechtlichen Entscheidung? So paradox es klingt, die Unentscheidbarkeit macht eine Entscheidung überhaupt erst möglich. Das lässt sich folgendermaßen verstehen. Eine Entscheidung setzt prinzipiell die Wahl zwischen Möglichkeiten voraus, die in ihren Bedeutungen verschieden sind. Bringt man nun eine Instanz ins Spiel, von der her diese Bedeutungsunterschiede bereits entschieden sind, ist der Entscheidung das Moment der Wahl entzogen. Denn dann sind diese Möglichkeiten vielleicht noch voneinander unterschieden, aber ihre Bedeutung von dieser einen Instanz bereits ____________ 108

Derrida, Gesetzeskraft, 49–53. Ausführlich Teil 1, bei Fn. 19, 22, 46 und 63. Das Denken eines Anfangs ohne Anfang und eines Endes ohne Ende hat Derrida in Glas exemplarisch vorgeführt. 109

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eindeutig verteilt, noch bevor zwischen ihnen gewählt werden könnte. Es gibt also nichts mehr zu ent-scheiden, sondern nur noch Entschiedenes nachzuvollziehen. Da es jedoch im Spiel der Differenzen nie zu einer letztbegründeten Entscheidung kommt, vielmehr jener Rest an Unentscheidbarkeit zurückbleibt, verbleibt gleichzeitig die Möglichkeit der Wahl und damit der Entscheidung. So liegt die Bedingung der Möglichkeit der Entscheidung in einer Unmöglichkeit: Die Unentscheidbarkeit als Möglichkeit der Entscheidung.110 Man kann also entscheiden, muss es aber auch. Nachdem eine Entscheidung nicht axiomatisch determiniert ist, der rechtliche Einzelfall hingegen nach einer Entscheidung verlangt, hat sich das Gericht für eine mögliche Alternative zu entscheiden. Für den Moment der Entscheidung liegt ihm dann aber keine Regel mehr vor, seine Entscheidung noch weiter abzusichern. Unentscheidbarkeit heißt hier, dass es in der Entscheidung für die Normanwendung keine weitere Entscheidung für die Entscheidung geben kann.111 Denn die Entscheidung selbst ist eben nicht von einer letzten Instanz her kalkuliert oder vor-entschieden, sondern sie erfolgt immer aus einer Position der Unentscheidbarkeit oder wie Derrida sagt: »in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung«.112 Begründung der Entscheidung – Die Regelungslosigkeit im Moment der Entscheidung hat für ihre Begründung auf dem Wege der juristischen Argumentation einschneidende Konsequenzen. Teubner hat sie anschließend an Luhmann und Derrida mit desillusionierender Klarheit formuliert: »Genau an dieser Stelle beginnt nun, um den Hiatus [zwischen Rechtsnorm und Rechtsentscheidung] zu überspringen, die juristische Argumentation ihr rastloses Werk – erfolgreich und zugleich vergeblich. Juristische Argumentation bewirkt zwar Entscheidendes, aber auch sie kann den Konflikt nicht entscheiden, sie kann – entgegen den Selbstproklamationen von Argumentationstheoretikern – den Bruch von Struktur zu Operation, von Norm zu Rechtsakt nicht überbrücken. Juristisches Argumentieren kann nur Differenzen transformieren und stellt dann vor eine neue Entscheidungsalternative. Es verwandelt die bestehen-

____________ 110 Vgl. dazu Derrida, Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, 182; Teil 1, bei/in Fn. 79. Luhmann hat das bekanntlich als die Paradoxie des Entscheidens rekonstruiert (Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 308). Allerdings ist zu bemerken, dass es Luhmanns Systemtheorie im Gegensatz zur Dekonstruktion nicht gelingt, diese Paradoxie auf der Höhe ihrer Komplexität zu reflektieren (siehe dazu Gamm, Flucht aus der Kategorie, 159–164, 262 Fn. 46). 111 Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, 293 f. 112 Derrida, Gesetzeskraft, 54; ders., Als ob ich tot wäre, 43. Man könnte vermuten, die Regelungslosigkeit im Moment der Entscheidung führe Derrida in den Dezisionismus Carl Schmitts zurück (Schmitt, Politische Theologie, 37 f.). Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass an dieser Stelle eine Dekonstruktion des Dezisionismus erfolgt (siehe dazu Düttmann, Derrida und ich, 101–119).

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de Entscheidungsalternative in eine andere, die, wenn es gut geht, dem Rechtskonflikt adäquater ist als die begründungslose Alternative. Juristisches Argumentieren entscheidet nicht. Es rechtfertigt nicht. Es hat auch nichts zu verbergen. Es transformiert nur Entscheidungsalternativen, diese freilich drastisch. Eine Entscheidung bleibt nach wie vor notwendig, nur dass nach der Rechtsargumentation die sich präsentierende Entscheidungsalternative eine andere geworden ist.«113

Die Möglichkeiten der rechtlichen Begründung sind demnach klar begrenzt: Infolge der Unentscheidbarkeit wird auch die juristische Argumentation die im Moment der Entscheidung notwendigerweise fehlende Regel nicht herstellen können. Die Rechtsargumentation sichert somit weder die Legitimität noch entlastet sie von der Verantwortung für die Entscheidung. Die Rekonstruktion des Rechts in Form der juristischen Argumentation findet hier ihre wohl eindrücklichste Grenze. Gerechtigkeit der Entscheidung – Und die Forderung nach Gerechtigkeit, nach einer gerechten Entscheidung? Derrida stellt sie unter eine doppelte Bedingung: Die gerechte Entscheidung muss rechtmäßig und verantwortlich sein. Verantwortlich ist sie, wenn sie auf freiem Entschluss beruht, rechtmäßig dagegen, wenn sie mit dem Gesetz übereinstimmt. Das führt Derrida dazu, die Gerechtigkeit als eine Aporie zu verstehen, die sich folgendermaßen ausdrücken lässt: Folgt die Entscheidung einer Regel, ist sie rechtmäßig, nicht aber frei und verantwortlich. Folgt sie keiner Regel, ist sie zwar frei und verantwortlich, nicht aber rechtmäßig.114 Bleibt eine gerechte Entscheidung daher unmöglich – die Gerechtigkeit eine Utopie? Da die Unentscheidbarkeit in jedem Fall eine freie und verantwortliche Entscheidung ermöglicht, scheinen die Schwierigkeiten in dieser Frage eher bei der Legitimität zu liegen. Doch auch Legitimität kann sich in einer Entscheidung einstellen, denn eine aktuelle Entscheidung stellt sich als ein aktueller Zeichengebrauch notwendigerweise in Kontinuität zu vergangenen Entscheidungen. Sie bringt implizite Kontinuitäten hervor, in denen sie vorangehenden Konventionen folgen kann.115 Ob indes die Norm, die sich eine aktuelle Entscheidung setzt, den Normen entspricht, auf die sie sich bezieht, lässt sich hingegen nicht explizieren, auch nicht auf dem Wege der juristischen Argumentation. Der Hiatus zwischen der entscheidenden Praxis und ihrer argumentativen Reflexion bleibt irreduzibel.116 Gerechtigkeit ist daher in der praktischen Anwendung des Rechts möglich, unmöglich bleibt aber, den Augenblick der Gerechtigkeit mitzureflektieren: »Wie es scheint, kann ____________ 113

Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit, 24. Derrida, Gesetzeskraft, 46–48. 115 Ausführlich Teil 1, nach Fn. 74, insbes. bei Fn. 77. 116 Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, 294, 298. Dieser Hiatus hat sich schon bei der Ausgangsfrage der Dekonstruktion gezeigt (siehe Teil 1, bei/in Fn. 7). 114

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man niemals sagen, daß eine Entscheidung jetzt, im gegenwärtigen Augenblick vollkommen gerecht ist«.117 Derrida betrachtet diese Unmöglichkeit noch aus einer weiteren Perspektive. Selbst wenn die Gerechtigkeit sich in einer Entscheidung implizit verwirklicht, geht sie selbst über diese Entscheidung hinaus. Sie kann sich auch in zukünftigen Entscheidungen noch ereignen. Für ein solches Ereignis gilt indessen nach der Unentscheidbarkeit, dass es inhaltlich unbestimmt bleiben muss. Andernfalls ließe es sich von einer letzten Instanz her berechnen und wäre deshalb kein Ereignis der Gerechtigkeit, da nicht frei und verantwortlich. Die Gerechtigkeitsforderung ist in diesem Sinn stets die Überforderung des Berechenbaren durch die Zukunft. »Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen, … sie ist Zu-kunft, sie ist die Dimension ausstehender Ereignisse, deren Kommen irreduktibel ist.«118 Jegliche Normativität sieht sich durch diese Dimension der Gerechtigkeit herausgefordert – immer wieder aufs Neue – ohne anzukommen. Die Gerechtigkeit kennzeichnet bei Derrida somit eine gewisse Ambivalenz. Sie kann sich zwar in den rechtlichen Entscheidungen realisieren, behält aber eine Dimension, die sich niemals artikulieren lässt, weil es entweder zu spät oder zu früh ist, ihre Forderungen zu reflektieren. Derrida fasst diese Ambivalenz mit dem Begriff der Un-Möglichkeit. Aus diesem »aporetischen Potential«119 zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit zieht er eine für den praktischen Diskurs des Rechts wichtige Schlussfolgerung: »Das Übermäßige [das Unmögliche bzw. die Überforderung] der Gerechtigkeit, durch das sie sich nicht im Recht und in der Berechnung erschöpft, … dürfen nicht als Alibi dienen, um sich im Innern einer Institution oder eines Staates … von den juridisch-politischen Kämpfen fernzuhalten. … Die jeder Berechnung, jedem Kalkül gänzlich fremde Gerechtigkeit befiehlt also die Berechnung und das Kalkül. Dieses Berechnen muß sich so eng wie möglich an jenes halten, was man mit der Gerechtigkeit in Verbindung bringt: das Recht … [und] all jene Bereiche schließlich, von denen man das Recht nicht abtrennen kann, die in es hineinreichen und die nicht mehr bloß(e) Bereiche oder Felder sind: das Ethische, das Politische, das Ökonomische, das Psycho-Soziologische, das Philosophische, das Literarische usf.«120

Diese Aufforderung zum Kalkül verlangt für die juristische Argumentation somit eine möglichst präzise und umsichtige rechtliche Rekonstruktion. Der möglichen Gerechtigkeitsforderung nachzukommen, bedeutet demnach also, »das rastlose Werk der juristischen Argumentation« (Teubner) auf sich zu ____________ 117

Derrida, Gesetzeskraft, 50 – meine Hervorhebung, TC. Derrida, Gesetzeskraft, 56. Im Gegensatz zu anderen flüchtigen Instanzen lässt sich die Gerechtigkeit folglich nicht argumentativ aufschlüsseln (siehe Teil 1, bei Fn. 99 sowie Kern, Wissen vom »Standpunkte eines Menschen«, 237 Fn. 29). 119 Derrida, Gesetzeskraft, 44. 120 Derrida, Gesetzeskraft, 57 f. 118

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nehmen und darin auch jene Argumente einzukalkulieren, die sich aus den im Einzelfall weiter aktualisierten Kontexten (Politik, Ethik, Ökonomie etc.) ergeben. Der unmöglichen Gerechtigkeitsforderung zu entsprechen, verlangt hingegen nach Derrida, eine Entscheidung der Erfahrung des Unentscheidbaren auszusetzen,121 sie also in dem Wissen zu treffen, dass mit ihr ihre Infragestellung durch die Gerechtigkeit nicht aufhört, ein Scheitern an ihrer Forderung nicht ausgeschlossen ist. Deswegen ist die Forderung der Gerechtigkeit allerdings nicht utopisch. Ihre Besonderheit besteht vielmehr darin, dass sie gleichwohl fordert, wenn sie sich auch nicht teleologisch ansteuern lässt. Oder in die Worte Derridas gefasst: »Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche«.122 6. Rechtsgeltung Rechtsvergleichende Argumente beziehen sich auf Entscheidungen und diese wiederum auf Gesetze oder Präjudizien, die rechtliche Geltung beanspruchen. Rechtsgeltung wird so zum Thema ebenfalls der rechtsvergleichenden Argumentation. Ihr Begriff verweist auf zwei grundlegende Möglichkeiten seines Gebrauchs: Geltung bedeutet zunächst, dass wir die Regeln eines Gesetzes oder Präjudizes anwenden müssen. Regeln sind verbindlich. Geltung lässt aber ebenfalls die Frage zu, weshalb wir eine Regel anwenden müssen. Warum soll die Regel gelten? Aus dem Blickwinkel der Dekonstruktion gesehen, durchzieht beide Bedeutungsmöglichkeiten ein Spannungsverhältnis: Wie kann die Regel als verbindlich gelten, wenn jede Regelanwendung sich die Regeln, denen sie folgt, selbst setzt? Und wie kann man eine Regel begründen, nachdem klar ist, dass sie sich nicht auf eine letzte Instanz zurückführen lässt? Der ersten Frage geht es somit um die Bindung an Regeln, der zweiten um ihre Begründung. Eine dekonstruktive Antwort auf diese Fragen könnte nach der bisherigen Darstellung wie folgt aussehen. Regelbindung – Regel- oder Normbindung nimmt das Motiv der Rekonstruktion des Rechts auf. Recht wird nicht beliebig konstruiert, sondern auf bestimmte Normen bezogen. Normbezug bedeutet indessen nicht, eine vorbestehende Norm anzuwenden, denn die Norm kann sich ja erst in der Differenzierung des Zeichengebrauchs konstituieren. Als Gebrauch von Zeichen verbinden sich in der Normanwendung jedoch gleichzeitig vergangene und zukünftige Normen. Die Normbindung kommt also dadurch zustande, dass die Normanwendung in der Kontinuität des Zeichengebrauchs steht: Normbindung aufgrund verbindender Kontinuität zwischen vergangenen und zukünftigen Normen. So kann man von der Anwendung einer Norm sprechen, ____________ 121 122

Derrida, Gesetzeskraft, 49 f. Derrida, Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche.

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obwohl keine positive, das heißt für sich vorausbestehende Norm angewendet wird. Normbindung realisiert sich in den Kontinuitäten der Normanwendung, doch bildet sie selbst auch ein Strukturelement des Rechtskontextes, das sich seinerseits aus den impliziten Kontinuitäten der rechtlichen Zeichenpraxis ergibt. Normbindung ist eine rechtliche Konvention. Als eine konventionelle Argumentationsstruktur wirkt sie dann auf die Praxis der Rechtsargumentation zurück. Sie ordnet, genauer gesagt, die juristische Argumentation, indem sie diese auf die Gesetze oder Präjudizien bezieht. In dieser Weise wird der Text von Gesetzen und Präjudizien zum stabilen Bezugspunkt innerhalb der Beziehungen, die eine Argumentation aufbaut. Das macht ihren Wortlaut aber nicht zur zentralen Normsinninstanz. Die Begriffe in Gesetzen oder Präjudizien haben keine Bedeutung aus sich selbst heraus, von der sich die Normbedeutung ableiten ließe. Diese konstituiert erst der holistische Zusammenhang des rechtlichen Kontextes, der in der juristischen Argumentation entfaltet wird. Es geht also nicht um Bindung durch Gesetze und Präjudizien, sondern um Bindung an Gesetze und Präjudizien.123 Die Geltung von Regeln kann somit zunächst als eine Strukturierungsleistung der Rechtspraxis beschrieben werden. In der prägnanten Formel Wittgensteins: Der Regel folgen, ist eine Praxis.124 Regelbegründung – Aber warum müssen wir der Regel folgen? Was begründet ihre Geltung? Kelsen postuliert bekanntlich als Geltungsgrund des Gesetzes seine Grundnorm. Er schiebt die Geltung des Gesetzes im Stufenbau der Rechtsordnung nach oben, um sie mit einer hypothetischen letzten Norm zu begründen.125 Anschließend an ihn formuliert Hart seine rule of recognition. Geltung verlagert sich bei ihm ebenso in eine Grundnorm, die jedoch durch soziale Praxis empirisch auszufüllen sei.126 Dagegen setzt die heutige Verfassungstheorie ans Ende des Stufenbaus das Demokratieprinzip. Nach diesem Prinzip gründet das Recht auf der demokratischen Legitimation des Rechtssetzers.127 Gegen alle Antworten ist dasselbe einzuwenden. Sie schieben das Problem der Rechtsgeltung nur auf, weil sie nicht ausschließen können, weiter nach dem Grund zu fragen: Warum gilt die Grundnorm, warum soll die soziale Praxis maßgeblich sein, warum das Demokratieprinzip gelten? ____________ 123 Entsprechend der treffenden Differenzierung bei Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 182 f. (»Bindung durch das Gesetz«, »Bindung an das Gesetz«). 124 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Rn. 202. 125 Kelsen, Reine Rechtslehre, 196 ff. 126 Hart, The Concept of Law, 100–110. 127 Teubner, Des Königs viele Leiber, 242 f. Es ist dies die namentlich auf Habermas gegründete Position des demokratischen Positivismus (siehe dazu Niesen/Eberl, Demokratischer Positivismus).

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Derrida setzt für seine Antwort nach dem Geltungsgrund des Rechts an einem früheren Punkt ein. Er verschiebt das Geltungsproblem nicht auf den infiniten Regress der Begründung, sondern lokalisiert es bereits bei der Entscheidung, der Regel zu folgen. Diese Entscheidung muss, so haben wir gesehen, ohne eine Regel auskommen, um eine Entscheidung sein zu können. Sie erfolgt notwendigerweise grund-los. Dass man die Entscheidung für die Regel nicht von einer letzten Instanz her begründen kann, ermöglicht somit überhaupt, einer Regel zu folgen. Die Unentscheidbarkeit, durch die sich jedes Regelfolgen bedingt sieht, hat nach Derrida allerdings noch eine weitere Dimension: jene der Gerechtigkeit. Was sich im infiniten Regress der Begründungen äußert, die nicht endende Frage des Warum, das ist die unendliche Herausforderung jeglicher Normativität durch die Gerechtigkeit. Doch nachdem die Unentscheidbarkeit die Forderung der Gerechtigkeit bereits im Moment des Regelfolgens stellt, wird das Gerechtigkeitsproblem verdrängt, wenn man es im Stufenbau des Rechtsstaates auf-schiebt.128 Deshalb ist eine gerechte Entscheidung Derrida zufolge der Erfahrung des Unentscheidbaren auszusetzen. Er verschiebt damit die Frage nach der Geltung des Rechts von der Rechtstheorie zurück in die Rechtspraxis: Der Regel zu folgen, ist eine Praxis, die sich nicht begründen lässt. Was bleibt, ist die von der Gerechtigkeit gestellte un-mögliche Forderung: Der Regel zu folgen versuchen, indem man ihren spezifischen rechtlichen Kontext möglichst präzise rekonstruiert – ohne aber je wissen zu können, ob das gelingt.129 III. Das andere Recht im eigenen Der dekonstruktive Kommentar zum eigenen Recht ist damit für diesen und die folgenden Teile der Untersuchung hinreichend entwickelt. So kann als Nächstes untersucht werden, wie sich die Normativität des anderen Rechts in das eigene integriert, ohne dass dabei das andere im eigenen Recht aufgeht. Es geht also darum, das beschriebene Paradox der rechtsvergleichenden Argumentation aufzulösen und so die Grenzdekonstruktion zwischen eigenem und anderem Recht zu vollenden. Einstieg bildet der Begriff des Rechtskontextes. Er stellt die Basis, um die rechtsvergleichende Argumentation innerhalb der juristischen Argumentation als normativ beschreiben zu können. Ausgehend davon lässt sich in einem nächsten Schritt zeigen, wie die rechtliche Normativität zwischen den verschiedenen Kontexten des eigenen und anderen Rechts zirkuliert. In diesen Zirkulationen vollzieht sich somit die Implikation des anderen Rechts. Mit dem Stichwort der Polykontexturalität wird schließlich erläutert, weshalb diese Zirkulationen die ver____________ 128 129

Derrida, Gesetzeskraft, 29 und 48. Eingehend Teil 1, bei Fn. 119 und 121.

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schiedenen Rechtskontexte nicht in einem einzigen universalen Rechtskontext verschmelzen – womit das Paradox sich auflöst. 1. Rechtskontext – die Basis der impliziten Normativität Rechtliche Argumentation ist der Prozess, in dem ein rechtliches Problem argumentativ geklärt und so ermittelt wird, was als Recht gelten soll.130 Die Rechtsargumentation beansprucht also die von ihr gegebenen Antworten als rechtlich verbindlich – ihre normativen Schlussfolgerungen zielen auf rechtliche Geltung. Damit folgt die juristische Argumentation einem rechtlichen Geltungsbegriff.131 Gegenstand rechtsvergleichenden Argumentierens, wie ich ihn einleitend bestimmt habe, ist die Frage, ob sich rein nationales Recht allenfalls mit Argumenten rekonstruieren lässt, die nicht dem eigenen, sondern einem anderen Rechtssystem entstammen. Diese Argumente sollen, so die These einer normativen Rechtsvergleichung, an der argumentativen Rekonstruktion des geltenden Rechts teilhaben. Als Elemente der allgemeinen juristischen Argumentation zum eigenen Recht schließen sich deshalb auch die rechtsvergleichenden Argumente einem rechtlichen Geltungsbegriff an. Sie arbeiten wie die anderen rechtlichen Argumente an rechtlich verbindlichen Antworten. Aufgrund der konsequent positivistischen Ausgangslage der vorliegenden Untersuchung fragt sich aber, wie bei einer rechtsvergleichenden Argumentation überhaupt von Rechts-vergleichung die Rede sein kann. Denn zieht man die vom Rechtspositivismus ausgehende Stufenbaulehre als Rechtsgeltungstheorie heran, sind alle Normen, die sich nicht in den Stufenbau des nationalen Rechts einfügen, kein Recht.132 Von einem streng positivistischen Standpunkt aus gesehen, sind Normen anderer nationaler Rechte oder internationaler Modellregeln nicht Recht, doch auch historische, systematische oder andere außer-gesetzliche Argumente entfallen seinem Rechtsbegriff.133 Außerhalb des eigenen Gesetzesrechts findet der Positivismus somit keine rechtlichen Bezugspunkte und damit keine rechts-vergleichenden Argumente. Demgegenüber argumentieren die folgenden Überlegungen dafür, rechtsvergleichende Argumentation als eine Inbezugsetzung von Rechtskontexten zu betrachten, zwischen denen sich rechtlich normative Beziehungen herstellen lassen.

____________ 130

Siehe Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung, 18. Siehe Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 264; ders., Begriff und Geltung des Rechts, 142 f. 132 Kelsen, Reine Rechtslehre, 239–241. 133 Somek spricht von einer »externen Indifferenz« des positivistischen Rechtssystems (Somek, Rechtliches Wissen, 99). 131

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

Aus Sicht der Dekonstruktion ist das nationale Rechtssystem kontextuell verfasst, was man geometrisch mit der Figur eines Kreises beschreiben könnte. Der Stufenbau schlüsselt das nationale Rechtssystem dagegen pyramidal auf und gibt ihm die Form eines Dreiecks. Nun besagen solche figurativen Beschreibungen noch nicht viel. Entscheidend ist vielmehr, wie sie die Prozesse strukturieren, in denen ermittelt wird, was als Recht gelten soll. Im Stufenbau ist Rechtsgeltung vertikal organisiert. Das rechtliche Sollen der Norm hat seinen Geltungsanspruch aus dem Stufenbau des Rechtssystems abzuleiten und begründet sich schließlich auf der obersten Stufe aus einer Grundnorm oder dem Demokratieprinzip. Dieser Ableitungszusammenhang formiert eine notwendige Bedingung des Rechts. Er trennt klar zwischen Recht und nicht Recht – zwischen Faktizität und Geltung. Konsequenterweise wird in diesem Rechtskonzept die Rechtsvergleichung eine empirische, nicht aber eine juristisch normative Disziplin sein. Anderes Recht ist ein Sein, nicht aber ein Sollen.134 Das interne Problem des Positivismus ist indessen, dass er seine klare Grenzziehung zwischen Tatsachen und Normen nicht durchführen kann. Will er überhaupt eine rechtliche Normativität geltend machen, setzt er notwendigerweise Zeichen. Um seine Grenze zwischen Tatsachen und Normen ziehen zu können, benötigt er ebenfalls Zeichen. Sobald er aber ein Zeichen verwendet, schreibt sich das Sein unausweichlich in das von ihm gesetzte, geschriebene, gedachte, formulierte, präjudizierte (etc.) Sollen ein – jede positivistische Spur des Sollens geht ihren unumgänglichen Umweg über die Spuren des Seins. Sie ist eine Spur von Spuren und verschränkt in sich Materialität und Idealität. Im Moment, in dem der positivistische Skeptiker seine logische Grenze zwischen die nationalen Rechte ein-zeichnet, impliziert er also bereits ihre Überschreitung. Glaubt er dagegen, diese Grenze logisch klar ziehen zu können und so ein reines nationales Recht zu definieren, unterstellt er ein transzendentales Signifikat außerhalb des Zeichengeschehens, um eine Schicht des reinen Sinns zu sichern. Darin liegt letztlich nichts anderes als eine metaphysische Selbsttäuschung.135 Im Kreis des Rechtsdekonstruktivismus ist rechtliche Normativität weiter gefasst. Er konzeptualisiert das nationale Rechtssystem als holistisches Modell, in dem sich das Recht aus einem Verweisungszusammenhang von Spuren ergibt. Die rechtliche Zeichenpraxis führt die Verweisungen stets wieder neu zusammen. In der juristischen Argumentation wird hier das rechtliche ____________ 134 Vgl. Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 242; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 161. Die an dieser Stelle vorgenommene begriffliche Differenzierung zwischen vertikal und horizontal übernehme ich von Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis. 135 Eingehend Teil 1, bei Fn. 45, insbes. bei Fn. 47–48 sowie zum ›normativen Sein‹ bei Fn. 94.

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Sollen im horizontalen Zusammenspiel der Argumente ermittelt. Als normatives Sein überschreitet dieses Sollen den positivistischen Gegensatz von Recht und nicht Recht. Was der Positivismus als bloße Faktizität begreift, kann die dekonstruktive Rechtstheorie deshalb als Element von normativen Beziehungen denken. Zur Normativität des geltenden Rechts zählt sie folglich auch die außergesetzlichen Argumente namentlich historische, systematische und rechtsvergleichende. Sie kann das, wie gezeigt wurde, ohne den Geltungsanspruch von Gesetzen und Präjudizien aufgeben zu müssen. Der in dieser Weise modellierte Rechtskontext ermöglicht es somit, die Rechtsvergleichung rechtstheoretisch als eine juristisch normative Disziplin zu begründen. Er reformuliert eigenes Recht dergestalt, dass es sich über rechtsvergleichende Argumente mit anderen Rechtskontexten normativ verbinden kann. So legt er die theoretische Basis für eine implizite Normativität des anderen Rechts im eigenen. 2. Zirkulationen – der prinzipielle Zusammenhang der Rechtskontexte Rechtsvergleichende Argumentation verbindet nach den vorstehenden Überlegungen unterschiedliche Rechtskontexte. Mit der hier entwickelten rechtstheoretischen Beschreibung dieser Kontexte lassen sich zwischen ihnen juristisch normative Beziehungen herstellen. Damit stehen sie allerdings nach wie vor unverbunden nebeneinander. Eine normative Bedeutung kann dem Recht anderer jedoch, genau besehen, nur dann zukommen, wenn sich die normativen Bezüge zwischen dem eigenen und dem anderen Recht nicht erst in der rechtsvergleichenden Argumentation, sondern prinzipiell herstellen. Die rechtlich normativen Geltungsbeziehungen eines nationalen Rechtssystems müssten sich über seine Grenzen hinaus erweitern und in das System zurückkehren. Es gilt also mit anderen Worten zu analysieren, ob zwischen den verschiedenen Rechtskontexten eine Zirkulation rechtlicher Normativität stattfindet: das eigene Recht aus dem Kreis des nationalen Systems austritt und angereichert um das andere Recht wieder eintritt. Vorbedingungen – Zirkulationen zwischen Rechtskontexten setzen zuerst voraus, dass sich das nationale Rechtssystem als offenes und veränderbares ausbildet. In ein geschlossenes System kann rechtliche Normativität weder ein- noch austreten. Handelt es sich demgegenüber um ein offenes aber unveränderliches System, ist das grundsätzlich möglich, doch bewirkt hier die Unveränderlichkeit, dass dieses System das andere Recht nicht aufnehmen kann. Das unveränderliche System verbleibt in seinen eigenen Operationen und stößt deshalb das andere Recht wieder ab. Die holistische Perspektive der Dekonstruktion zeigte jedoch, dass sich Systeme nur als offene und veränderbare konstituieren können. Sie bilden sich Kraft Differenzierung ihrer Elemente (différance) und diese systembildenden Differenzierungen können stets geändert, erneuert oder erweitert werden. Ein nationales Rechtssystem

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

kann sich daher jederzeit mit normativen Elementen eines anderen rechtlichen Kontextes durchsetzen.136 Kreisaustritt – An die Systembildung im dekonstruktiven Holismus lässt sich gerade anschließen, um das Moment des Kreisaustritts zu erläutern. Die Dekonstruktion verbindet mit ihrer holistischen Rekonstruktion der Systembildung die Einsicht, dass sich die Ganzheit des Systems nicht voraus-setzen lässt. Ganzheit des Systems ist vielmehr den Differenzierungen seiner Elemente nach-geordnet. Systeme bleiben so unweigerlich in den holistischen Zusammenhang der Dekonstruktion eingeschrieben. Das impliziert, wie gesehen, eine Denkrichtung, die von den Elementen zum System beziehungsweise von den Zeichen zum Zeichenkontext hinführt. – Jetzt beschreibt die dekonstruktive Rechtstheorie das Recht als spezifischen Kontext, in dem das geltende Recht sich aus einem holistischen Zusammenhang bestimmt. Die Frage, ob das nationale Recht aus dem Kreis des nationalen Systems austritt, hängt also davon ab, wie weit dieser holistische Zusammenhang reicht. Erweitert sich die Bewegung von den Zeichen zum Zeichenkontext über das nationale System hinaus?137 Die Logik der Spur macht die Ausdehnung dieser Erweiterungsbewegung verständlich: Recht bildet sich als Kontext durch den Zeichengebrauch der Rechtspraxis. Die Zeichen des Rechts sind Spuren von Spuren. Mit dieser Verdopplung des Spurbegriffs weist Derrida darauf hin, dass eine Spur stets über sich selbst hinausweisen muss, um als Spur funktionieren zu können. Diese Spurenverweise lassen sich – und darin liegt das entscheidende Argument der Dekonstruktion – nicht begrenzen, da sich keine Instanz außerhalb des Zeichengeschehens denken lässt, die eine solche Grenze ziehen könnte. In einer Formulierung Derridas: »Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.«138 Die Spuren der Zeichen eines nationalen Rechtskontextes führen diesen somit über sich selbst hinaus. Oder für das System formuliert: Die juristisch normativen Beziehungen zwischen den Elementen des nationalen Rechtssystems erweitern sich über das nationale System hinaus. Jedes Element des Systems bezieht sich als Spur auf andere Spuren und somit auch auf Spuren eines anderen Systems. Es kommt in diesen Spurenverweisen zur Selbstüberschreitung des Systems – zum Kreisaustritt. Das nationale Recht dehnt so seine eigenen Geltungsbeziehungen auf das andere Recht aus, da ihm ebenfalls ein transzendentales Signifikat fehlt, das diesen Verweis auf das andere Recht unterbinden könnte. Demokratie und Autonomie, Territoriali____________ 136

Eingehend Teil 1, nach Fn. 70. Teil 1, bei Fn. 72 und 106. 138 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 424. 137

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tät und Nationalität, Grundnorm und System, Kultur und Identität, das sind die geschichtlich überlieferten Eigennamen der grenzsichernden transzendentalen Signifikate des nationalen Rechts – die sich aber bei näherer Betrachtung im Spurengewebe verflüchtigen.139 Kreiseintritt – Die Logik der Spur treibt das eigene Recht über den Kontext des nationalen Systems hinaus. Sie erklärt aber gleichzeitig die Gegenbewegung, in der das andere Recht in den Kreis des nationalen Rechts eintritt. Das liegt darin begründet, dass sich der verdoppelte Spurbegriff in zwei Richtungen denken lässt. Für den Kreisaustritt wurde die Spur als eine Spur gedacht, die auf andere Spuren verweist. Die Denkbewegung verläuft so von einem Teil zum Ganzen hin. Man kann eine Spur hingegen ebenso als Spur denken, die andere Spuren in sich bündelt. Das entspricht dem Schluss vom Ganzen auf einen Teil. Mit diesem Gedanken lässt sich verbinden, was Derrida als Erlöschen der Spur beschreibt. Die anderen Spuren verschwinden in der materiellen Markierung der Spur – sie erlöschen in ihr.140 Der Kreiseintritt des anderen in das eigene Recht ist eine Implikation dieser zweiten logischen Richtung der Spur. Die Spuren des anderen Rechts gehen in die Spur des eigenen Rechts ein und überschreiten so den Kreis des nationalen Systems von außen nach innen. Sie erlöschen dabei in den Spuren des nationalen Rechts, seinen materiellen Markierungen wie beispielsweise seinen nationalen Gesetzestexten.141 Der derart charakterisierte Kreiseintritt bleibt aber lediglich die gegenläufige Bewegung zum Kreisaustritt. Die beiden Bewegungen beschreiben also erst den Übergang zwischen verschiedenen rechtlichen Kontexten, in dem sich zwei Systeme wechselseitig überschreiten. Die zentrale Frage für die normative Bedeutung des anderen Rechts lautet indessen, ob das eigene Recht angereichert um die Normativität des anderen in das nationale System zurückkehrt. Führt also der Verweis vom eigenen auf das andere zum eigenen Recht zurück? Zirkulationen – Die Rückkehr der Erweiterungsbewegung vom eigenen auf das andere Recht setzt eine notwendige Bedingung, um sagen zu können, dass das andere Recht in die Normativität des eigenen Rechts eingeht. Doch wie ist sie zu begründen? Von eigenem und fremdem Recht zu sprechen, artikuliert offensichtlich eine Differenz. Das wiederum ruft das Motiv der différance auf. Différance beschreibt die Differenz nicht zwischen festen Einzelpunkten, sondern als Prozess der Differenzierung. Die Bewegung der Differenzierung zieht eine räumliche Differenz zwischen Zeichen und konstituiert ein einzelnes Zeichen, indem sie für dieses einen Umweg über die ____________ 139

Siehe zur Abwesenheit transzendentaler Signifikate allgemein Teil 1, bei Fn. 22 sowie 46; zu ihrer rechtstheoretischen Reformulierung als ›flüchtige Instanzen‹ bei Fn. 98. 140 Zur Logik des verdoppelten Spurbegriffs ausführlicher Teil 1, nach Fn. 29. 141 Siehe die Ausführungen zur Spur Teil 1, bei Fn. 31 und zum ›normativen Sein‹ nach Fn. 96.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

anderen Zeichen verlangt: Bedeutung erlangt ein Zeichen nur, indem es den unumgänglichen Umweg über die anderen Zeichen zurücklegt. So kommt das Zeichen über die anderen Spuren zu seiner Spur zurück.142 Aus der Perspektive eines einzelnen Zeichens gehen die beiden Bewegungsrichtungen der Spur somit nicht aneinander vorbei. Différance vereint sie für die Konstitution der Bedeutung eines bestimmten Zeichens zu einer einzigen zirkulären Bewegung: Sie führt die Spur als einen Teil über andere Teile hinaus zum Ganzen von Teilen und von diesem Ganzen zurück zu diesem einen Teil. Zirkulationen zwischen eigenem und anderem Recht lassen sich daher wie folgt beschreiben. Die Zeichen des nationalen Rechtskontextes überschreiten das System als eine Spur, die auf andere Spuren verweist. Um ihre eigene rechtlich normative Bedeutung bestimmen zu können, haben die Zeichen allerdings den unumgänglichen Umweg über die Zeichen des anderen Rechts zurückzulegen. Sie kehren so über die Spuren des anderen Rechts zu ihren eigenen Spuren zurück. Im rückläufigen Verweis auf das andere Recht schreibt sich dieses in die Spuren des eigenen Rechts ein. Die Spuren des anderen Rechts werden zu Spuren der Spuren des eigenen Rechts. Das bedeutet, wie gesehen, nicht bloß einen Kreiseintritt des anderen Rechts in das nationale Rechtssystem. Aus der Perspektive des sich konstituierenden eigenen Rechts ist dieser Kreiseintritt die Gegenbewegung einer Zirkulation, in der das eigene Recht die Spuren des anderen Rechts in sich aufnimmt. Und das bedeutet eine Zirkulation, in der sich die rechtliche Normativität des eigenen Rechts mit jener des fremden Rechts verschränkt. Beweger der Bewegung? – Von wem erhalten die normativen Zirkulationen zwischen den verschiedenen Rechtskontexten ihren Anstoß? Da sich Rechtskontexte im Zeichengebrauch der Rechtpraxis ausbilden, liegt es nahe, an diese Praxis anzuknüpfen und die praktizierenden Subjekte als Beweger der Zirkulationen zu bestimmen. Das ist insoweit richtig, als die Bedeutungsbildung vom Gebrauch der jeweiligen Zeichengegenstände abhängt. Obwohl man sie dem normativen Sein eines Rechtskontextes zuteilen kann, finden zwischen den Bibliotheken verschiedener Rechtskontexte demnach keine normativen Zirkulationen statt. Erst der Gebrauch dieser Bücher und Texte bildet implizit die Normativität der juristischen Praxis aus. Anstoß erhält eine Zirkulation innerhalb des Rechtskontextes also auch dann, wenn über die Bedeutung von einzelnen Rechtsnormen nachgedacht wird, ihr Sinn, ihre Bedeutung, kurz ihre Auslegung in Frage steht. »Was bedeutet diese Norm des Gesetzes für einen Fall wie diesen?«, lautet bekanntlich die eine Frage als zweite Natur der Juristen. ____________ 142

Teil 1, vor Fn. 19 und bei Fn. 22.

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Die mit dieser Frage initiierte Zirkulation lässt sich dann aber nicht auf den Kreis des nationalen Rechts begrenzen. Auch ein vordergründig rein nationaler Rechtsdiskurs bricht somit nicht an den nationalen Grenzen ab. Insbesondere vermögen die an der konkreten Praxis beteiligten Subjekte keine solche Grenze zu ziehen. Denn sie hätten sonst einen Standpunkt außerhalb der normativen Zirkulationen von Spuren. Sie wären äußere Instanzen, oder mit Derrida, transzendentale Signifikate der rechtlichen Bedeutung. Solche transzendentalen Signifikate sind ihm zufolge aber nicht denkbar. Sie stehen immer innerhalb einer Bewegung der Differenzierung (différance).143 Allerdings, Derrida charakterisiert différance ebenfalls als produktive Kraft. Ist sie der unbewegte Beweger der Zirkulationsbewegung? Die Antwort bleibt ambivalent: Différance bewirkt die differenzierende Bewegung der Spurenverweise und zirkuliert auf diese Weise die Bedeutungen von Rechtsnormen zwischen Rechtssystemen. Sie behält dabei aber den paradoxen Status einer Bewegung, die bewegt, ohne Beweger zu sein.144 3. Polykontexturalität – die Pluralität der rechtlichen Kontexte Die Zirkulationen beschreiben, wie die rechtliche Normativität des eigenen und des anderen Rechts in Spuren von Spuren zusammenkommen. Kann man bei dieser Gegebenheit die Normativität überhaupt noch in eine eigene und eine fremde aufspalten oder folgt daraus nicht ein einziges universelles Recht? Wir treffen hier auf das Paradox der rechtsvergleichenden Argumentation. Ein Argument muss, damit es ein normatives und rechtsvergleichendes Argument ist, dem eigenen Rechtssystem angehören und zugleich nicht angehören. Die Zirkulationen lösen den normativen Aspekt des Paradoxes, indem sie die Normativität des anderen Rechts in das eigene Rechtssystem integrieren. Polykontexturalität thematisiert dagegen, weshalb trotz dieser impliziten Normativität zwischen verschiedenen normativen Rechtskontexten differenziert werden kann und deshalb eine rechtsvergleichende Bezugnahme unter ihnen möglich bleibt.145 Das Moment der Polykontexturalität kann bei den Überlegungen zum Innen und Außen von Kontexten anknüpfen. Dort stellte sich die scheinbar paradoxe Frage, wie ein Kontext gleichzeitig ein Außen und kein Außen haben kann. Die normativen Zirkulationen erzeugen exakt dieselbe Schwierigkeit: Wie kann ein nicht begrenzbarer normativer Rechtskontext noch einen rechtlichen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst finden? Die Paradoxie ent____________ 143

Zum Problem einer transzendentalen Zeichenpraxis bereits Teil 1, nach Fn. 104. Zur Paradoxie der différance Teil 1, nach Fn. 22. 145 Die Begriffssetzung ›Polykontexturalität‹ ist inspiriert durch Teubner – jedoch ohne sich damit inhaltlich auf ihn zu beziehen (vgl. Teubner, Des Königs viele Leiber, 260–270; ders., Selbstsubversive Gerechtigkeit, 11 f.). 144

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

spricht im Modell der Zirkulationen einem internen Eintritt des anderen in das eigene Recht: Das Recht der Anderen tritt in den Kreis des nationalen Rechtssystems ein, in dem es sich bereits befindet. Wie ist diese Paradoxie aufzulösen? Beim Innen und Außen von Kontexten lag die Auflösungsformel in der Unterscheidung zwischen der Text- und Kontextperspektive. Sie vermochte zwei Thesen Derridas zum Kontext widerspruchsfrei zu vereinigen. Aus der Sicht des einzelnen Kontextes konnte die These eingeführt werden, ein spezifischer Kontext könne sich nicht in sich selbst bestimmen und integriere deshalb alles Außen in sein Innen, womit für ein außerhalb des Kontextes kein Raum bleibt. Dagegen ließ sich aus der Sicht des dekonstruktiven Textes die These aufrechterhalten, dass gleichzeitig mehrere verschiedene Kontexte nebeneinander bestehen können.146 Die Zirkulationen beschreiben aus der Dekonstruktion heraus die Bewegung eines unbegrenzten normativen Rechtskontextes. Sie operieren somit über das Innen des Kontextes, indem sie mit der ersten These behaupten, es gebe kein außerhalb des rechtlich normativen Kontextes. Dem lässt sich nun die zweite dekonstruktive These gegenüberstellen, mit der sich die Pluralität von Kontexten begründet. Die Polykontexturalität macht also mit der zweiten These ein Außen des unbegrenzten normativen Rechtskontextes geltend: Die Dekonstruktion führt in den Zirkulationen rechtlicher Normativität nicht zu einem einzigen Rechtskontext. Sich voneinander differenzierende (nicht ›differenzierte‹) Rechtskontexte bleiben möglich und insoweit ist auch von einem eigenen und anderen Recht zu sprechen. Zirkulationen wie auch Polykontexturalität übernehmen somit die Thesen zum Innen und Außen von Kontexten, weshalb sich ihre Paradoxien gleichfalls nach der Formel von Text- und Kontextperspektive auflösen: Die Polykontexturalität zeigt aus der Textperspektive, dass gleichzeitig mehrere sich voneinander differenzierende Rechtskontexte bestehen, während die Zirkulationen vom Standpunkt eines spezifischen Rechtskontextes aus behaupten, dass sich die Normativität der anderen Kontexte in diesen spezifischen Kontext integriert. Weil sich normative Zirkulation und Polykontexturalität somit nicht ausschließen, ergibt sich am Ende eine entparadoxierte Ausgangssituation der rechtsvergleichenden Argumentation. Die rechtsvergleichende Argumentation vermag nun ihre Argumente als normativ und vergleichend zu denken, weil sie dem System angehören und gleichzeitig nicht angehören können.

____________ 146

Teil 1, bei Fn. 81.

D. Blick zurück und nach vorne

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D. Blick zurück und nach vorne Die Entparadoxierung der rechtsvergleichenden Argumentation schließt den ersten Teil dieses Entwurfs ab. Die folgenden Überlegungen blicken zurück, was sich aus den bisherigen Erörterungen für das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation schließen lässt. Sie charakterisieren das rechtsvergleichende Denken, wie es sich vor dem Hintergrund des hier entwickelten Denkraums darstellt. Damit thematisieren sie die zentrale Frage, mit welcher Denkhaltung das Problem rechtsvergleichender Argumentation angegangen werden sollte. Danach lenkt ein kurzer Ausblick die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das man ebenfalls als theoretische Schlussfolgerung dieses ersten Teils vermuten könnte. Ich werde zeigen, weshalb hier einerseits ein Fehlschluss vorläge, wie sich jedoch andererseits entlang dieses Problems bereits das Thema des zweiten Teils abzeichnet. I. Universelles Rechtsdenken ohne universelles Recht Der vorliegende dekonstruktive Kommentar zum eigenen Recht zeichnet das Bild eines universellen Rechtsdenkens, in dem die Frage nach der Bedeutung des eigenen Rechts über dessen Grenzen hinausweist. Die Differenz von eigenem und fremdem Recht ist keine statische Trennlinie mehr, sondern drückt einen Differenzierungsprozess aus, eine différance, in der normative Bedeutungen zwischen den verschiedenen Rechtskontexten zirkulieren und die Spuren des anderen Rechts in den Spuren des eigenen Rechts erlöschen. Der Denkansatz einer rechtsvergleichenden Argumentation ist es, diesen Differenzierungsprozess über die Spuren des anderen Rechts in seiner Bedeutung für das eigene Recht wieder sichtbar zu machen. Das begründet die Möglichkeit einer Universalität der rechtlichen Argumentation, die Derrida für die dekonstruktive Perspektive allgemein formuliert hat: »Das Motiv der différance hat gegenüber den Differenzen das Universalisierbare, daß es den Differenzierungsprozeß über Grenzen jeglicher Art hinaus zu denken erlaubt: mag es sich dabei um kulturelle, nationale, sprachliche oder eben menschliche Grenzen handeln.«147

Über die nationalen Grenzen hinaus ist die eigene rechtliche Normativität damit in eine universale Perspektive gerückt und eröffnet so der Rechtsvergleichung einen Raum als normative Argumentationsform. Ein wesentlicher Punkt der in dieser Weise konzipierten normativen Rechtsvergleichung ist, dass sie die Normativität ihres universellen Denkansatzes begründen kann, ohne auf ein universelles Recht zurückgreifen zu müssen. Ihr normativer Anspruch ist davon unabhängig, sich auf universale Rechtsprinzipien oder ____________ 147

Derrida, Politiken der Differenz, 42.

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Teil 1: Der Raum rechtsvergleichenden Denkens

allgemeine Rechtsgrundsätze zu beziehen, die das nationale Recht überlagern. Und genauso wenig benötigt sie naturrechtliche Strukturen, um die im nationalen Recht angelegte positivistische Logik zu transformieren. Mit der Theorie der Dekonstruktion gelingt es vielmehr gerade im internen Widerstand gegen den Positivismus die Rechtsvergleichung als »universale Interpretationsmethode« (Zweigert) ohne universale Rechtsstrukturen zu denken. Universalität ohne Universalität. II. Symmetrie, Autonomie und Identität von Rechtskontexten Rechtsvergleichende Argumentation untersucht einen fremden Rechtskontext hinsichtlich seiner Bedeutung für das eigene Recht. Das heißt zunächst einmal, sich mit dem anderen Recht auseinanderzusetzen, aber dann auch sich für oder gegen das andere Recht zu entscheiden. Nach der Dekonstruktion erfolgt eine solche Entscheidung notwendig aus einer Position der Unentscheidbarkeit heraus. Sie ist von keiner letzten Instanz her zu begründen. Kein äußerer Standpunkt bietet sich an, von dem aus sich legitimieren ließe, weshalb in einer bestimmten Frage das eigene oder das andere Recht vorzuziehen sei. Eine gegenteilige Position bleibt immer auf ein transzendentales Signifikat angewiesen. Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats impliziert somit allgemein, dass sich weder für das eigene noch das fremde Recht eine grundlegende Überlegenheit oder Richtigkeit annehmen lässt. Es besteht insoweit vor und nach dem rechtlichen Argumentationsprozess eine Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen. Aus der Dekonstruktion ergibt sich mit anderen Worten ein symmetrisches Verständnis der Rechtskontexte. Diese Symmetrie der Rechtskontexte ist allerdings nicht losgelöst von der Frage ihrer Autonomie und Identität zu betrachten: Kann man selbst über das eigene Recht bestimmen und ist eigenes Recht wirklich eigenes Recht? Die ausführliche Antwort der Zirkulationen zu diesen Fragen kann hier noch in einen weiteren begrifflichen Zusammenhang gestellt werden, denn in den Zirkulationen zeigt sich, dass das eigene Recht seine normative Bedeutung nur im Umweg über das andere Recht bestimmen kann. Selbstbestimmung aus sich selbst heraus ist also nicht möglich. Autonomie des eigenen Rechts ist folglich bloß in einem irreduziblen Zusammenhang zum anderen Recht denkbar, weshalb es ein autonom internes oder rein nationales Recht nicht gibt. Gleichermaßen verändert sich damit die Vorstellung von der Identität eigenen Rechts: Eigene Normen sind immer auch die Normen der Anderen. Und diese Veranderung des Rechts zeigt an, warum es rational ist, die eigene normative Orientierung vom anderen Recht her zu suchen. Der dekonstruktive Kommentar zur Symmetrie, Autonomie und Identität von Rechts-

D. Blick zurück und nach vorne

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kontexten macht somit ein Verständnis von Normativität geltend, das eines nicht zulässt: ein distanziertes Urteil über die Normen der Anderen.148 III. Das Problem des Automatismus Die Frage nach der Bedeutung von eigenen Rechtsnormen enthält eine implizite Überschreitung der Grenzen eines nationalen Rechtssystems. Wenn jemand die Normativität des eigenen Rechts reflektiert, tut er dies vor der Größe eines Ganzen, die weder im nationalen System noch einem universellen Recht aufgeht. Die Interpretin einer Norm erörtert deren spezifische Bedeutung vor dem Hintergrund eines unbestimmten Ganzen. Ein Ganzes, das nicht bedeutungskonstitutiv wirkt, sondern aus den Beziehungen von Teilen besteht. In diesem zwischen Spuren von Spuren aufgespannten Denkraum erhält die Rechtsnorm eines nationalen Rechtskontextes ihre bestimmte Bedeutung auf der Folie des Unbestimmten. Unbestimmtheit heißt hier, dass sich die rechtliche Normativität eben nicht über einen bestimmten Rechtsoder Systembegriff definieren lässt. Sobald man das versucht, bringt man bewusst oder unbewusst ein transzendentales Signifikat ins Spiel. Die Zirkulationen erweitern deshalb den holistischen Zusammenhang der rechtlichen Normativität über das nationale Rechtssystem hinaus. Sie ziehen damit die Konsequenz, dass die holistischen Beziehungen in der Dekonstruktion mangels eines transzendentalen Signifikats ad indefinitum reichen. Bei Fragen zum eigenen Recht tritt deshalb ebenso das andere Recht prinzipiell in den normativen Relevanzhorizont einer Rechtsentscheidung.149 Die Dekonstruktion macht somit deutlich, vor welchem Hintergrund sich das Denken über die normative Bedeutung rechtsvergleichender Argumente zuallererst einordnet. Dass in diesem Denken das rechtlich relevante Wissen unbegrenzt ist, bedeutet allerdings nicht, aufgrund des holistischen Zusammenhangs in einer spezifischen Rechtsfrage bereits alles zu wissen. In den Zirkulationen entstehen also keine konkreten inhaltlichen Vorgaben für den Einzelfall. Das Gegenteil zu behaupten, hieße einen holistischen Zusammenhang der rechtlichen Normativität ad infinitum anzunehmen, in dem der Interpretin das rechtlich relevante Wissen von selbst zufließt. Unterstellte man einen solchen Automatismus, hätte sie die Antwort auf ihre Rechtsfrage bereits gefunden, indem sie sie stellt. Eine solch automatische Wissensvermittlung wäre freilich absurd. Die Absurdität dieses Resultats liegt daran, dass hier unter der Hand wieder ein Ganzes eingeführt wird: Die einzelnen Teile ____________ 148

Der letzte Satz ist inspiriert durch Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, 306. 149 Wegweisend zu den bisherigen und folgenden Überlegungen Seel, Für einen Holismus ohne Ganzes, insbesondere 35–38. Der Begriff des Relevanzhorizontes findet sich bei Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 155.

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des rechtlichen Wissens summieren sich in holistischen Zirkulationen zum Ganzen des für eine Rechtsfrage relevanten Wissens. Ein solches Ganzes ist nichts anderes als ein neuerliches transzendentales Signifikat, das alle Bedeutungen ideal bestimmt. Der Holismus ad infinitum wandelt sich zu einem Holismus ad definitum.150 Worauf verweist uns jetzt dieses Problem des Automatismus? Ich denke, es weist uns an, darüber nachzudenken, wie das für eine Rechtsfrage relevante rechtliche Wissen erarbeitet wird. Denn produziert der dekonstruktive Holismus zwar ein unbegrenztes, jedoch nicht unendliches Wissen, bleibt es der rechtlichen Praxis aufgegeben, das erforderliche Wissen zu erarbeiten. Eine dabei eingesetzte rechtsvergleichende Argumentation zielt darauf, die Bedeutung des indefiniten holistischen Verweisungszusammenhangs auf das andere Recht für das eigene Recht sichtbar zu machen: Was bedeuten andere Rechte für die Argumentation im eigenen Rechtskontext? Gefragt ist damit nach den Strukturen der rechtsvergleichenden und der rechtlichen Argumentation, in denen sich die rechtliche Wissensproduktion vollzieht. Der in diesem ersten Teil entworfene Denkraum der rechtsvergleichenden Argumentation ist somit argumentationstheoretisch zu strukturieren. Dementsprechend beschäftigt sich der zweite Teil des Entwurfs mit den Strukturen der rechtlichen und der rechtsvergleichenden Argumentation.

____________ 150 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das bei den Zirkulationen erwähnte Zitat Derridas zur Unendlichkeit des semiologischen Spiels besser verstehen: »Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.« (siehe Teil 1, bei Fn. 138) Die Unendlichkeit folgt hier aus der Unmöglichkeit, dem Feld und dem Spiel eine Grenze setzen zu können, weil seine holistischen Beziehungen ad indefinitum reichen. Führt man hingegen einen Holismus ad infinitum ein, hebt man paradoxerweise diese Unendlichkeit wieder auf. (Es ist leicht ersichtlich, dass diese Paradoxie lediglich auf einer Äquivokation von »unendlich« beruht. Im Zitat schließt die Unendlichkeit an die Frage an, ob wir holistische Beziehungen beherrschen können. Im Fall des unendlichen Holismus geht es gerade umgekehrt darum, ob holistische Beziehungen uns beherrschen. Gemäß einer dekonstruktiven Perspektive trifft beides nicht zu.)

Teil 2

Strukturen der Argumentation

A. Grenzrekonstruktion Die Grenze zwischen nationalem und anderem Recht zu dekonstruieren, war das Programm des ersten Teils. Dass wir diese Grenze zur Ausgrenzung des anderen Rechts nicht ziehen können, seine theoretische Auskunft. Den positivistischen Skeptiker, der dies anders sieht, mag das schockieren und er könnte zurückfragen: Soll das etwa heißen, alle Grenzen seien aufgelöst und die im eigenen Recht gespiegelte kulturelle Identität sei mit anderem Recht zuzuschütten? Stellte er diese Frage, hätte er die Dekonstruktion des eigenen Rechts jedoch nicht richtig verstanden. Dekonstruktion bedeutet keine naiv idealistische Auflösung von Grenzen, sondern sie verweist kritisch auf die Grenzen der Grenzziehung. Indem sie aufzeigt, dass man Grenzen nicht so ziehen kann, wie es die positivistische Logik möchte, argumentiert sie nicht gleichzeitig, dass man sie nicht ziehen muss. Eine entsprechende Argumentation schiene auch wenig erfolgversprechend. Allein die Gesetzes- und Präjudizienbindung zeigt, dass der rechtliche Diskurs zum eigenen Recht sich in einer spezifischen Weise von anderen Diskursen abgrenzt. Recht ist, mit Foucault gesagt, ein geordneter Diskurs, in dem auch nicht jeder sagen darf, was er möchte.1 Die Ordnung des rechtlichen Diskurses ändert die Dekonstruktion nicht, indem sie einfach alle Spielfiguren vom diskursiven Brett fegt. Sie akzeptiert aber keine Figuren oder Regeln, die das Spiel von außerhalb kontrollieren möchten. Sie verzichtet – in Derridas Worten – im Spiel der Spuren auf transzendentale Signifikate. Die Figuren und Regeln bleiben also im Spiel, doch sind sie ohne diese transzendentalen Momente nicht mehr dieselben. Die Instanzen des Normsinns, Gesetzes- und Präjudizienbindung, rechtliche Argumente und Entscheidungen, Normen und Tatsachen rücken in andere diskursive Positionen. Wenn in diesem Teil untersucht wird, wie man die Grenze zwischen eigenem und anderem Recht ziehen muss, kann das deshalb nicht bedeuten, die positivistische Grenze wiederherzustellen; genauso wenig, wie es zuvor mit ihrer Dekonstruktion darum ging, sie aufzulösen. Zu diskutieren ist vielmehr eine Re-konstruktion der rechtlichen Grenzen. ›Grenzrekonstruktion‹ bezeichnet folglich den Versuch, die jetzt auf dem neu geordneten Spielbrett möglichen Züge zwischen eigenem und anderem Recht mit Blick auf eine normative Rechtsvergleichung durchzuspielen. Das Programm dieser Grenzrekonstruktion ist nicht weniger umfangreich als jenes der Grenzdekonstruktion. Gemäß der einleitend beschriebenen holistischen Methode werden zunächst Grundlagen aus der philosophischen Argumentationstheorie erarbeitet und anschließend mit den Thesen zu einem rekonstruktiven Recht zu ganzheitlichen Strukturen der juristischen Argu____________ 1

Foucault, Die Ordnung des Diskurses.

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mentation zusammengesetzt. Dieses theoretische Ganze ist notwendig, um die einleitend beschriebenen Probleme der normativen Normativität und der Blackboxes zu lösen. Mit dem ersten Teil wissen wir ja noch nicht, wie eine rechtsvergleichende Argumentation innerhalb der juristischen verläuft. Es ist erst geklärt, dass sie die im eigenen Recht erloschenen normativen Spuren des anderen Rechts wieder sichtbar macht, dass sie diese expliziert. Wie eine solche Explikation strukturiert ist, steht aber noch genauso offen, wie ihre normative Kraft und das Motiv sie in einem gerichtlichen Verfahren durchzuführen. Strukturen für die rechtsvergleichende Argumentation, wie man sie im neu geordneten Diskurs des eigenen Rechts auszubilden vermag, müssen also ganz einfach erst noch ausgebildet werden. Aber das geht, wie nun schon mehrfach betont, nicht ohne neu formulierte Strukturen der juristischen Argumentation.

B. Strukturen der juristischen Argumentation I. Ausgangspunkte Die Argumentationsstruktur, wie sie der folgende Text entwickelt, erhebt keinen universellen Anspruch. Sie steht, wie einleitend bemerkt, in der Tradition eines europäischen Rechtsstaates. Entsprechend sind ihr Demokratieprinzip, Gewaltenteilung oder die Normbindung durch Gesetz oder Präjudiz selbstverständliche Strukturelemente. Damit wiederholt die argumentationstheoretische Strukturierung ein wesentliches Motiv der Dekonstruktion. Die Dekonstruktion tritt nicht von außen mit einer Methode an spezifische Kontexte heran. Sie macht keine universellen Reflexionspunkte verfügbar, sondern bloß einen Denkraum, in dem sich bestehende Strukturen analysieren lassen. Auf diese Weise ermöglicht sie eine interne Kommentierung von Kontexten, die deren Individualität anerkennt, ohne deswegen unkritisch zu sein. Die Ausführungen zu einer dekonstruktiven Rechtstheorie haben im ersten Teil einen solchen internen Kommentar bereits konturiert. Dieser versuchte unter anderem zu klären, was von einer juristischen Argumentationstheorie erwartet werden kann und was nicht. Die wichtigsten Punkte seien hier nochmals zusammengestellt. Die dekonstruktive Rechtstheorie geht zunächst einmal davon aus, dass das Recht auf einer Zeichenpraxis beruht. Diese Praxis muss ohne transzendentale Signifikate auskommen. In der Folge können weder reine Empirie noch reine Normen den Sinn von Rechtsnormen in ihrer Anwendung bestimmen. Bestimmt wird der Sinn der Norm, indem ihr holistischer Zusammenhang im Rechtskontext re-konstruiert wird. Die kontextspezifische Rekonstruktion nimmt pragmatisch determinierende Argumentationsstrukturen wie etwa die Gesetzes- und Präjudizienbindung oder theoretische Argumen-

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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te ebenso in den Blick wie die konkreten sachlichen Bezüge, in denen die Norm steht. Da in dieser Perspektive kein außerhalb des Kontextes denkbar ist, wird namentlich die grundlegende Kontrolle des Rechts durch die Sachdimension wieder hergestellt, die im Rechtspositivismus verloren geht.2 Die in diesen Rechtskontext eingelassene juristische Argumentation charakterisiert sich somit als eine pragmatische und sachhaltige Argumentation, die den gesamten normativen Relevanzhorizont der Entscheidung berücksichtigt. Das entspricht den Erwartungen, wie sie der juristischen Argumentation entgegengebracht werden können. Von der juristischen Argumentation ist jedoch nicht zu erwarten, dass sie eine Entscheidung entscheidet oder legitimiert. Rechtsargumentation kann keine Regel begründen, die die Entscheidung regelt oder an der sich messen ließe, ob die Entscheidung zu Recht oder zu Unrecht erfolgt. Die angewandte Regel stellt keine externe Messgröße dar, da jede Entscheidung sich selbst die Regeln setzt, denen sie folgt. Das Moment des Regelfolgens bleibt also der Praxis des Entscheidens immanent. Will man diese Immanenz zu einer externen Messgröße hin überschreiten, verlangt das nach einem Moment der Transzendenz – nach einem transzendentalen Signifikat. In der traditionellen Auslegungstheorie ist das beispielsweise der Wille des Gesetzgebers oder die Semantik des Gesetzes, in der früheren juristischen Argumentationstheorie insbesondere die praktische Vernunft.3 Aus ihnen sollen sich die Regeln ergeben, nach denen rational zwischen Recht und Unrecht entschieden werden kann. Rational ist eine Entscheidung, wenn sie dem gesetzgeberischen Willen beziehungsweise der gesetzlichen Semantik entspricht oder sie in einem Diskurs erfolgt, der den Gesetzen der praktischen Vernunft genügt.4 In allen Fällen entsteht eine zur Entscheidung externe Messgröße, mit der sich jene auf ihre Rationalität hin überprüfen lässt. Eine solche externe Rationalität ist in einer Rechtsargumentation ohne transzendentale Signifikate indessen nicht zu haben. Mit der Dekonstruktion verschiebt sich der Blickpunkt deshalb aber nicht einfach auf eine interne Rationalität der Entscheidung. Das hieße eine Hierarchie lediglich umzukehren, ohne ihre Logik zu verschieben. Wie sich aus Derridas Überlegungen zur Gerechtigkeit zeigt, lässt sich nicht reflektieren, ob einer Regel gefolgt wurde und folglich nicht sagen, ob eine Entscheidung ____________ 2 Zu diesem Kritikpunkt des nachpositivistischen Rechtsdenkens siehe Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, 265 und Somek, Rechtliches Wissen, 28 f. 3 Auslegungstheoretisch etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 328 bzw. 322; argumentationstheoretisch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 35. 4 So spricht denn Alexy für die Diskurstheorie des Rechts ausdrücklich von einem »Gesetzbuch der praktischen Vernunft« (ebd.). Ausführlich zu ihrer Kritik: Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? sowie Neumann, Zur Interpretation des forensischen Diskurses in der Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas.

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zu Recht oder zu Unrecht erfolgte. Dieses Moment bleibt ihr intern und steht als Bezugspunkt ihrer Rationalität nicht zur Verfügung. Man muss daher davon absehen, das Ergebnis einer juristischen Argumentation als richtig oder unrichtig auszeichnen zu wollen. Die Messgröße rationaler Argumentation ist bescheidener, dafür jedoch lebensnäher anzusetzen. Sie wird darauf auszurichten sein, ob die begründete Entscheidung gemessen am Stand der Argumente gültig oder ungültig ist. In den Grundlagen der philosophischen Argumentationstheorie wird dieses Konzept der argumentativen Gültigkeit auszudifferenzieren und anschließend für die juristische Argumentation zu interpretieren sein.5 II. Grundlagen der philosophischen Argumentationstheorie In einem Rückblick auf die Entwicklungen in der analytischen Philosophie findet sich die folgende Definition des Argumentbegriffs: »Ein gültiges Argument ist ein Übergang von Prämissen zu einer Konklusion, der Wahrheit transportiert.«6 Schon diese knappe Definition markiert die beiden wesentlichen Gelenkstellen eines Arguments. Die eine liegt in den Prämissen, die andere im Übergang zur Konklusion. Ist keine der beiden Stellen defekt, besteht ein schlüssiges Argument. Die nachstehenden Grundlagen aus der philosophischen Argumentationstheorie beobachten die Funktionsweise dieser Gelenkstellen mit zwei unterschiedlichen Theorien: Für die Frage, wann ein gültiger Übergang vorliegt, wird die Theorie von Stephen Toulmin über den »Gebrauch von Argumenten« eingeführt. Zur Frage, wann eine gültige Prämisse erreicht ist, zieht die Untersuchung die von Harald Wohlrapp entwickelte Theorie der »Argumentativen Geltung« heran. Auch diese Theorien sollen – wie schon jene der Dekonstruktion – nicht umfassend, sondern nur

____________ 5 Grundlegend zur Dekonstruktion von Hierarchien Derrida, Randgänge der Philosophie, 350 f.; ders., Positionen, 65–68; zur Immanenz und Transzendenz der Normativität Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, 296–298; zum Problembereich von Rationalität und Argumentation siehe die umfassende Übersicht bei Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 454–461. Eingehend beschreiben Christensen und Kudlich einen Weg von der externen zu einer internen Rationalität des Rechts. Könnte es sein, dass in dieser Umkehrung der Hierarchien der Habitus einer traditionellen Theorie fortwirkt? So die Frage, die sich anschließend an Somek stellen ließe (Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung, 13–51; Somek, Rechtliches Wissen, 86 Fn. 34). 6 Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?, 337.

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soweit wie für die vorliegend entwickelte Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation notwendig ausgebreitet werden.7 1. Übergang – Die inferentielle Struktur bei Toulmin Der britische Philosophieprofessor Stephen Toulmin eröffnet in den späten fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die moderne Argumentationstheorie, indem er sich mit dem Modell des Syllogismus auseinandersetzt.8 Als Fixpunkt seiner Theorie werden dieses Modell und seine argumentative Problematik deshalb kurz vorgestellt. Das syllogistische Modell strukturiert den argumentativen Übergang zwischen Prämisse und Konklusion logisch. Danach gilt ein Argument dann, wenn sein Schluss aus den Prämissen logisch folgt. Angelehnt an dieses Modell rekonstruiert der juristische Syllogismus die inferentielle Struktur des rechtlichen Arguments wie folgt: Die Rechtsfolge (R) tritt ein, wenn eine beliebige Person (x) den Tatbestand (T) erfüllt. In die Sprache der logischen Symbole übersetzt, bedeutet das für eine konkrete Person (a): ∀x (Tx→Rx) (sc. Für alle x gilt: Wenn x unter T fällt, dann tritt R ein) Ta (sc. Die Person ›a‹ erfüllt den Tatbestand) Ra (sc. Für die Person ›a‹ tritt die Rechtsfolge ein)

Die logische Rekonstruktion des Rechtsarguments im juristischen Syllogismus spiegelt das allgemeine juristische Verständnis wider, dass das konkrete Urteil (Ta→Ra) aus einem allgemeinen Rechtssatz (Tx→Rx) herzuleiten ist. Für das argumentationstheoretische Verständnis des Syllogismus ist jedoch entscheidend, dass die Herleitung aus dem Allsatz (Tx→Rx) das konkrete Urteil (Ta→Ra) zwar behauptet, nicht aber begründet. Denn der Allsatz enthält lediglich eine Konjunktion (∧) von singulären Sätzen. Er fasst die Reihe möglicher Einzelsätze (Ta→Ra) ∧ (Tb→Rb) ∧ (Tc→Rc) ∧ … ∧ (Tx→Rx) in einem allgemeinen Satz zusammen: ∀x (Tx→Rx). Die Begründung von (Ta→Ra) durch (Tx→Rx) enthielte folglich eine Begründung von (Ta→Ra) durch (Ta→Ra). Die Begründung wäre also zirkulär und das heißt: nur eine scheinbare Begründung. Das liegt schlicht daran, dass die formale Logik bloß erklärt, was man alles behauptet, wenn man eine bestimmte Behauptung aufstellt. Sie sagt hingegen nichts darüber aus, ob diese Behauptung inhaltlich auch begründet ist. Vom syllogistischen Modell ist daher nicht zu ____________ 7

In die rechtstheoretische Analyse der juristischen Argumentation sind diese Theorien bereits eingegangen. Die Theorie Toulmins wurde namentlich von Alexy, jene von Wohlrapp durch Christensen und Kudlich in die Diskussion eingebracht (siehe Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 112–117; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 241–246). 8 Siehe Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 116–121; Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 22–24.

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erwarten, dass es den Übergang von den Prämissen zur Konklusion begründet. Kurz: Der Syllogismus reflektiert die inferentielle Struktur von Behauptungen, nicht aber Begründungen.9 Oder in Hegels klassischen Worten: »Es müßte auch sonderbar zugehen, wenn die Tautologie, der Satz des Widerspruchs, der für die Erkenntnis theoretischer Wahrheit nur als ein formelles Kriterium zugestanden wird, d. h. als etwas, das gegen Wahrheit und Unwahrheit ganz gleichgültig sei, für die Erkenntnis praktischer Wahrheit mehr sein sollte.«10

Die Unmöglichkeit einer logisch zwingenden Begründung veranlasst Toulmin, ein alternatives Argumentationsschema zu entwickeln. Dabei bestreitet er in seiner Untersuchung über den Gebrauch von Argumenten nicht die logische Gültigkeit des Syllogismus. Er hält ihn jedoch aus den genannten Gründen für nicht zweckmäßig, die praktische Argumentation zu erläutern.11 Denn genau das ist Toulmins Ziel. Er sucht ein Argumentationsschema, um das »praktische Geschäft des Argumentierens« darzustellen, weshalb er sich die Frage vorlegt, was »also involviert [ist], wenn man Konklusionen durch Argumentationen begründet«.12 Obwohl Toulmin selbst die Argumentation noch als eine Kategorie der »angewandten Logik« bezeichnet, leitet er mit seinen Überlegungen eine pragmatische Wende in der Argumentationstheorie ein.13 Im Gegensatz zum Modell des Syllogismus rekonstruiert Toulmin den Übergang von den Prämissen zur Konklusion somit weniger logisch denn pragmatisch. In seinem Schema liegt ein gültiges Argument dann vor, wenn eine Schlussregel den Übergang von einem begründenden Datum zur zu begründenden Konklusion erlaubt, wobei diese Schlussregel ihrerseits einer Stützung bedarf:14

____________ 9 Die gegebene Darstellung zum juristischen Syllogismus übernehme ich von Neumann, Juristische Argumentationslehre, 17–21, 30–33; siehe dazu auch Lueken, Paradigmen einer Philosophie des Argumentierens, 17–28, insbes. 27; Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 206 f., 459 f. 10 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 319. 11 Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 111–114, 128. 12 Toulmin, ebd., 87 und 88. 13 Toulmin, ebd., 87; vgl. zur Entwicklung der Argumentationstheorie Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 8–42. Mit Wohlrapp lässt sich allerdings feststellen, dass Toulmin selbst diese pragmatische Wende noch nicht vollzieht (Wohlrapp, ebd., 23 f.). Ich werde auf das Zusammenspiel dieser beiden Argumentationstheoretiker noch zu sprechen kommen (Teil 2, nach Fn. 21 und 25). 14 Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 89, 94 f.

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B. Strukturen der juristischen Argumentation

K (Konklusion)

D (Datum)

SR (Schlussregel)

S (Stützung)

An einem Beispiel: Lautet die Konklusion (K), ein bestimmter Schuldner (a) solle Verzugszinsen leisten, liegt das begründende Datum (D) darin, dass a im Verzug ist. Um von diesem Datum zur Konklusion überzugehen, dient die Schlussregel (SR), dass ein säumiger Schuldner Zins zahlen muss. Diese Schlussregel lässt sich stützen (S), indem man beispielsweise den entsprechenden Gesetzesartikel angibt. Was bedeutet nun diese Rekonstruktion für den Gehalt der Konklusion? Toulmin zufolge hat die Konklusion in solchen Fällen nicht analytischen, sondern substantiellen Charakter. Substantiell ist das Argument, weil seine Konklusion nicht lediglich Informationen wiedergibt, die im Datum oder der Stützung auftauchen. Im syllogistischen Modell hingegen wiederholt die Schlussfolgerung bloß eine Information, die bereits von der Prämisse erfasst ist.15 Im Gegensatz zum Modell des Syllogismus erreicht das Toulmin’sche Argumentationsschema dadurch eine echte und nicht nur eine scheinbare Begründung von Schlüssen.16 Es sind insgesamt drei zentrale Einsichten, die das Modell Toulmins für den argumentativen Übergang von den Prämissen zur Konklusion vermittelt. Erstens erlaubt es Schlüsse, die substantiell sind und damit jene Informationen ausweisen, die die Konklusion tatsächlich tragen. Das Modell vermag also die praktische Struktur von Begründungen zu erhellen.17 Zweitens bietet es durch seine Differenzierung von Datum, Schlussregel und Stützung eine inferentielle Übersicht, an welchen Stellen der Argumentation inhaltliche Übergänge stattfinden. Das macht deutlich, über welche Prämissen man sich Rechenschaft ablegen muss, um einen bestimmten Schluss zu ziehen. ____________ 15

Toulmin, ebd., 113. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 22 f. 17 Neumann, ebd.; Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 23 f.; Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz, 85. 16

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Drittens lässt sich mit dem Toulmin’schen Modell eine Veränderlichkeit der Stützung beobachten, die Konklusionen von Argumentationen als kontingent ausweist. Dieser Gedanke ist am Beispiel des Verzugszinses leicht zu veranschaulichen. So war etwa nach strengem römischem Recht auch bei Schuldnerverzug kein Zins geschuldet, sofern nicht eine selbstständige Stipulation für einen Verzugszins bestand.18 Einer gegenteiligen Schlussregel fehlte es somit im Gegensatz beispielsweise zum aktuellen deutschen Recht an einer Stützung im geltenden Recht. Doch auch in heutiger Zeit verhielte es sich nicht zwingend anders, wenn die fällige Forderung nicht deutschem, sondern islamischem Recht unterstünde, in dem ein Verbot von Verzugszinsen zu prüfen wäre.19 Versteht man nun ein Argument, wie in der oben gegebenen Begriffsbestimmung, als einen Übergang von Prämissen zu einer Konklusion, der Wahrheit transportiert, so zeigen die sich in Raum und Zeit verändernden Stützungen nichts anderes, als dass die von ihnen gewiesenen Schlüsse, zwar möglich, aber – selbst bei gleichen Ausgangsdaten – nicht notwendig sind. Das Toulmin’sche Argumentationsschema macht somit auf eine grundlegende Kontingenz jeder argumentativ begründeten Wahrheit aufmerksam.20 2. Prämissen – Die argumentative Geltung bei Wohlrapp Das Konzept der argumentativen Geltung hat Harald Wohlrapp, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Hamburg, erstmals Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorgestellt. In den darauffolgenden Jahren hat er es zu einer umfassenden Theorie des Argumentbegriffs ausgebaut.21 Diese Theorie entwickelt er maßgeblich in einer kritischen Auseinandersetzung mit jener von Toulmin. Zutreffend stellt er fest, dass das Toulmin’sche Schema lediglich erahnen ließe, wie der formallogische Argumentbegriff zu überschreiten sei, diese Überschreitung aber selbst nicht konsequent vollziehe. Toulmin verteilte, wie gesehen, die argumentativen Prämissen auf Datum, Schlussregel sowie Stützung und entdeckte damit das substantielle Argument. Indessen klärt er nicht auf, wie das Wissen um diese Prämissen ent____________ 18

Honsell, Römisches Recht, 94. Elwan, Der Scheck im ägyptischen Recht mit vergleichenden Hinweisen auf das Recht anderer arabischer Staaten, 78–81. 20 Ähnlich Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 255. Diese Kontingenz muss und sollte nicht relativistisch interpretiert werden. Ich kann das an dieser Stelle nicht vertiefen, verweise zur Begründung aber auf das strukturell gleiche Problem der Relativität, das bei der argumentativen Geltung auftritt (Teil 2, bei Fn. 81). 21 Der Aufsatz »Argumentative Geltung« erschien 1995 (Wohlrapp, Argumentative Geltung), die erste Auflage der Monographie »Der Begriff des Arguments« 2008. Dabei bildet der Begriff der argumentativen Geltung auch in der neueren Studie das theoretische Zentrum (vgl. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 335). 19

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steht. Toulmin verortet zwar Schlussregel und Stützung innerhalb von Feldern verschiedener Disziplinen, setzt dort das Wissen jedoch schlicht positiv voraus.22 So weiß die Juristin beispielsweise ganz einfach, dass es eine Gesetzesnorm gibt und sie weiß ebenfalls, was sie regelt. Beides ist, wie die praktische Erfahrung zeigt, nicht immer der Fall. Der Feldbegriff bei Toulmin erklärt also weder, wie das Wissen in den Prämissen entsteht, noch was zu geschehen hat, wenn es fehlt. Man vermisst bei Toulmin ein geklärtes Verständnis darüber, was es heißt, sich Wissen zu erarbeiten.23 Was ist zu tun, wenn wir in einer Situation nicht wissen, was zu tun ist? Ich möchte ausgehend von dieser einfachen Frage die grundlegenden Elemente von Wohlrapps Theorie kurz skizzieren. Fehlt es uns an Wissen, so wissen wir nicht, was wir tun. Wir sind in unserem Handeln nicht orientiert. Wir vermissen, anders gesagt, die Orientierungspunkte, an denen wir uns ausrichten könnten, um in einem praktischen Problem bewusst zu handeln. In diesen Situationen orientieren wir uns, so Wohlrapp, indem wir uns entweder Wissen aneignen oder – wenn solches nicht vorhanden ist – nach neuem Wissen forschen. Im ersten Fall nimmt er offenbar einen Prozess des Lernens an, im zweiten dagegen verortet er unser Thema: den Prozess der Argumentation. Das Argumentieren kommt bei Wohlrapp also dann zum Zuge, wenn wir uns für unser Handeln nicht an gesichertem Wissen orientieren, sondern nach neuer Orientierung forschen. In diesem Fall wird eine These aufgestellt, wie man sich neu orientieren sollte. Die These impliziert somit den normativen Anspruch, als neue, zweckmäßige Orientierung zu gelten. Weil die These nun aber das Wissen überschreitet, können wir einerseits nicht wissen, ob sie diesen Geltungsanspruch zu Recht erhebt. Doch behauptet sie andererseits gerade mit diesem Anspruch, mehr zu sein als bloß eine unverbindliche Meinung. Diese Sonderstellung der These zwischen Meinen und Wissen verlangt gemäß Wohlrapp, sie in einem Prozess der Argumentation zu prüfen. Der Prozess der Argumentation hat bei Wohlrapp eine dialogische Struktur. In ihm wird die Forschungsthese von einem Proponenten behauptet und begründet, während sie ihr Opponent kritisiert. Argumentation hat in dieser Konzeption also zu prüfen, ob eine These als neue praktische Orientierung verlässlich ist. Dieser Nachweis gelingt einer Argumentation, wenn sie erstens zu zeigen vermag, dass die These theoretisch erreichbar ist und zweitens, indem sie sämtliche Zweifel ausräumt, die im argumentativen Dialog ____________ 22

Vgl. Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 17–43; in der deutschen Ausgabe ist der Begriff ›field‹ allerdings mit ›Bereich‹ übersetzt. 23 Zu Wohlrapps Auseinandersetzung mit Toulmin siehe Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 22–24, 190 f., 204 f. sowie ders., Toulmin’s Theory and the Dynamics of Argumentation.

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gegen die These vorgebracht werden. Etwas technischer: Die Argumentation für eine These muss sämtliche Einwände integrieren oder widerlegen, um argumentative Geltung zu erlangen. Darin ist die schon genannte Messgröße rationalen Argumentierens wiederzuerkennen: Die Geltung einer begründeten Entscheidung misst sich am Stand der Argumente.24 Mit einer argumentativ gültigen These hat die in ihr enthaltene Orientierung indessen erst theoretische Bedeutung. Sie stellt der Praxis einen neuen, kritisch geprüften und insoweit rationalen Orientierungspunkt zur Verfügung. Aber damit steht noch aus, ob die Praxis sich auch wirklich an der gültigen These orientiert. Wirkt sie sich allerdings im praktischen Handeln tatsächlich handlungsleitend aus, integriert sie sich schrittweise ins vorhandene Wissen. Zurückkommend zum Einfachsten, zur Ausgangsfrage, was zu tun ist, wenn wir in einer Situation nicht wissen, was zu tun ist, bedeutet das: Das nächste Mal, wenn wir in der Praxis nicht wissen, was zu tun ist, wissen wir nun eine weitere Antwort.25 In der Gegenüberstellung mit Toulmin zeichnet sich mit der skizzenhaft vorgestellten Wohlrapp’schen Theorie bereits ab, dass sie genau die Frage klärt, die jener unerläutert lässt: Wie erarbeiten wir uns das Wissen für die Prämissen der Begründungsstruktur? Toulmin bietet zwar in seinem Schema eine übersichtliche Inferenzstruktur und hebt so die inhaltlichen Übergänge hervor. Er bezeichnet mit Datum und Stützung, wie ich es nennen möchte, die wesentlichen Diskussionsfelder. Offen bleibt aber, wie diese – letztlich ausschlaggebende – inhaltliche Diskussion theoretisch verfasst sei. Genau an diese Stelle lässt sich nun Wohlrapps Modell anschließen. Indem dieses Modell überdies konsequent auf das praktische Handeln fokussiert, verleiht es der Toulmin’schen Theorie den entscheidenden pragmatischen Impuls, sie endgültig vom logischen Paradigma des Argumentierens zu lösen. Die ›Pragmatik‹ bildet jetzt das erste von neun Stichworten, mit denen ich das weit ausgreifende Argumentationskonzept von Wohlrapp so kurz und klar wie möglich aufzufächern versuche. a) Pragmatik, Theorie, Episteme Pragmatik – Das Argumentieren bezieht sich bei Wohlrapp, wie gesehen, funktional auf die handelnde Praxis. In ihm sollen neue, theoretisch ausgearbeitete Thesen entstehen, an denen sich die Praxis zu orientieren vermag. Das erklärt, weshalb sein Konzept begrifflich bei der Pragmatik ansetzt. Den übergeordneten Fluchtpunkt von Pragmatik bestimmt Wohlrapp darin, Theorien in einen Handlungskontext zu stellen und ihre Bedeutung und Geltung ____________ 24

Teil 2, bei Fn. 5. Siehe zum Grundriss der Wohlrapp’schen Theorie Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 42–45. 25

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in gewissen Leistungen zu sehen, die sie für das Handeln erbringen. Ein pragmatischer Ansatz bezieht die Theorie also auf das praktische Handeln.26 Doch was sind überhaupt Handlungen, nach denen sich ein pragmatisches Theorieverständnis ausrichtet? Wohlrapp präsentiert auf diese Anfrage eine kleine Handlungstheorie. Für seinen Handlungsbegriff verweist Wohlrapp zunächst auf unsere gewöhnliche Handlungskompetenz. Dass jemand handeln kann, bedeute vorerst die Fähigkeit, irgendwelche Abläufe absichtlich, oft zweck- oder zielgerichtet, zu inszenieren. Beispielhaft sei die Betätigung des eigenen Körpers, um zu singen, schreiben oder lesen. Als zentrale Unterscheidung führt er anschließend das Gelingen und Misslingen der Handlung ein. Eine Handlung gelingt, wenn sie so ausfällt, wie es ihr Entwurf vorsah und sie misslingt, wenn sie ihn verfehlt. Was wir als Kriterium des Gelingens entwerfen, könne dabei offensichtlich sehr verschieden sein. Es könne lediglich darin bestehen, dass die Handlung einen bestimmten Zweck erreicht oder so angesetzt werden, dass man auch die Handlung selbst einbezieht. In diesem Fall schreibe ich also nicht bloß, um (hoffentlich) etwas Richtiges zu sagen, sondern weil mir ebenfalls das Schreiben an sich wichtig ist. »Doch wie auch immer hier gedacht werden möchte«, so schreibt Wohlrapp selbst, »dass wir beim Handeln Gelingen von Misslingen unterscheiden und das Gelingen anstreben, das scheint mir unabweisbar.«27 Damit ist allerdings erst ein Handlungsbegriff gesetzt und es steht noch aus, worauf sich eine pragmatische Theorie denn genau bezieht. Um das zu verdeutlichen, führt Wohlrapp den Begriff der Praxis ein: Ob eine einzelne Handlung gelingt oder nicht, hänge augenscheinlich von zahllosen inneren und äußeren Bedingungen ab, die wir nicht beherrschen. Deshalb bildeten sich in allen wichtigen Lebensbereichen Praktiken aus, in denen sich Handlungen schematisieren. Indem dann bei einzelnen Handlungen diese Praxis-Schemata aktualisiert werden, treten ihnen gegenüber die Besonderheiten der jeweiligen Handlungssituation zurück. Auf diese Weise erhöhen Praxis-Schemata die Gelingenssicherheit der einzelnen Handlungen. »Überall wo etwas gekonnt ist, gibt es Praxen: … Wartung und Reparatur von Geräten, von Fahrzeugen, von Einrichtungen, beim Errichten und Einreißen von Gebäuden, Brücken, im Verkehr, … beim Führen von Betrieben, beim Finden und Durchsetzen von Entscheidun-

____________ 26 Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 50. Wohlrapp erörtert den Pragmatikbegriff ausgehend vom amerikanischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce bis Richard Rorty, erachtet hier den Handlungsbezug von Theorie aber als zu verflacht. In den weiteren Kreis der Vordenker schließt er deshalb insbesondere Kant ein, auf den er sich für seinen Schlüsselbegriff der Orientierung bezieht (vgl. Wohlrapp, ebd., 50–55, 66 Fn. 37). 27 Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 59 und insgesamt 57–59.

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gen, in der Gesetzgebung, der Rechtspflege, der öffentlichen Verwaltung … überall gibt es (hoffentlich) Leute, die nicht nur etwas tun, sondern etwas können.«28

Wenn Menschen etwas nicht nur tun, sondern »etwas können, haben sie sich durch Entwicklung einer Praxis aus den Unwägbarkeiten des Gelingens einzelner Handlungen herausgearbeitet«, konstatiert Wohlrapp folgerichtig und bestimmt somit eine Praxis als »ein System oder ein Feld von Handlungen, die aufeinander bezogen sind, sich gegenseitig voraussetzen, ermöglichen, stützen, korrigieren, unter variierenden Umständen ersetzen und die geeigneten Gefüge oder Geflechte von Situationsumständen herstellen, zusammenhalten, sichern.«29 Die Praxis ist folglich strukturiert nach dem Gelingen und Misslingen von Handlungen. Sie spiegelt Gelingensstrukturen wider. In einem pragmatischen Theoriebegriff sind es diese Gelingensstrukturen, die den Gegenstand von Theorie bilden. Theorie artikuliert die Gelingensstrukturen der Praxis.30 Theorie – Warum ist diese Theoriebildung mit Blick auf praktische Gelingensstrukturen sinnvoll? Theorie ermöglicht einerseits jemanden, der sich in der Praxis noch nicht auskennt, zu orientieren. Eine Person lässt sich dann theoretisch anlernen. Theorie ist andererseits aber auch für denjenigen hilfreich, der sich in der Praxis bereits zurechtfindet, sich jedoch besser orientieren will, weil er auf neue Problemsituationen stößt, die er mit dem vorhandenen Wissen nicht bewältigen kann. In diesen Fällen hat er, wie erörtert, nach neuer Theorie zu forschen. Damit sind zugleich die beiden Wege zur Theorie markiert: Lehre und Forschung. – Jedenfalls bezweckt Theorie, die Praxis zu stützen, indem sie in ihr orientiert. Orientierung wird zu dem pragmatischen Schlüsselbegriff. Jede Theorie, unbesehen ob normativ oder deskriptiv, steht Wohlrapp zufolge in der Fluchtlinie dieser pragmatischen Orientierungsfunktion. Immer geht es darum, »die relevanten Handlungsbedingungen identifizierbar, unterscheidbar, verständlich zu machen und damit ein Handeln im Vollsinne, insbesondere ein ›freies‹ Handeln, überhaupt erst zu ermöglichen.«31 Durch diese Spezifizierungen sichert pragmatisch verstandene Theorie das kontinuierliche Gelingen des praktischen Handelns. Episteme – Offenbar orientieren nun nicht alle mit diesem pragmatischen Theoriebegriff erfassten Theorien gleichermaßen. Es gibt bewährte und neue Theorien. Um diesen Unterschied herauszuarbeiten, differenziert Wohlrapp zwischen epistemischer und thetischer Theorie. Die thetischen Theorien enthalten neue Thesen. Sie postulieren neue Orientierung und bilden, wie skizziert, den Gegenstand von Argumentationen. Was wir bereits wissen, bildet ____________ 28

Wohlrapp, ebd., 60 f. Wohlrapp, ebd., 60. 30 Wohlrapp, ebd., 61. 31 Wohlrapp, ebd., 66 und insgesamt 62–66. 29

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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hingegen epistemische Theorie. Das sind Theorien, die sich schon ins handlungsleitende Wissen integrierten, die zur ›Episteme‹ gehören. Auf die thetischen Theorien werde ich noch eingehend zu sprechen kommen. Voranstellen möchte ich an dieser Stelle die epistemischen Theorien. Sie bilden bei Wohlrapp die theoretische Basis von Argumentationen, gehen also den thetischen voraus.32 Episteme bedeutet griechisch Wissen. Das macht es zuerst etwas irritierend, wenn Wohlrapp innerhalb der Episteme zwischen Wissen und Doxa unterscheidet. Diese Homonymie des Wissens wird sich indessen klären, nachdem die beiden Elemente epistemischer Theorie kurz eingeführt sind. Ich beginne mit dem Wissen und leite von da zu den Doxa über. In Wohlrapps pragmatischer Konzeptualisierung sind Theorien darauf ausgerichtet, die Praxis zu orientieren. Jede Theorie erhebt damit den für die thetische Theorie bereits skizzierten normativen Anspruch als zweckmäßige Orientierung zu gelten. Im Falle des Wissens ist dieser Geltungsanspruch gemäß Wohlrapp in einer besonderen Weise eingelöst. Wissen konstituieren ihm zufolge jene Theorieelemente, die die Praxis nicht nur stützen, sondern die mit ihr derart eng verbunden sind, dass sie die Welt und die Menschen gestalten: »Niemand kann sie daraus mehr ›wegdenken‹, ohne sich gleichsam selber wegzudenken, bzw. von sich selber in einer Weise zu abstrahieren, bei der kein Standpunkt für ein Urteil mehr da ist. Dass z.B. in unseren Wohnungen Lichter brennen, das realisiert chemische, physikalische und ästhetische Theorie, die über die Jahrhunderte gebildet worden ist.«33

Neben dieser qualifizierten Realisierung des Wissens verlangt Wohlrapp als weiteres Wissenskriterium, dass eine Theorie methodisch aufgebaut ist. Die Theorie muss durch ihre Ordnung gedanklich nachvollziehbar sein. Denn Theorien, die eine methodisch einsichtige Ordnung vermissen lassen, sind mit Blick auf ihre praxisstützende Funktion nicht zweckmäßig. Sie führen Denkfehler mit sich, die in einer Argumentation zu Einwänden führen.34 Als letztes Wissenskriterium gibt Wohlrapp schließlich die Kohärenz einer Theorie an. Kohärenz meint hier, dass eine Theorie sich mit dem vorhandenen Theoriebestand koordinieren muss, um als Wissen gelten zu können. Eine Theorie hat sich mit den Theorien, die bereits zum Wissen gehören, derart zusammenzufügen, dass sich dadurch »keine Einwände ergeben, sondern dass die anderen Theorien über Erklärungs- und Verdeutlichungsleistungen … als eine Ergänzung der Orientierung fungieren können. … Neue

____________ 32

Zum Ganzen Wohlrapp, ebd., 47, 56. Wohlrapp, ebd., 88. 34 Wohlrapp, ebd., 88–93. 33

100

Teil 2: Strukturen der Argumentation

Theorie, die als Wissen auftreten möchte, muss zu Theorie, bei der die Orientierungsleistung schon stabil ist, passen.«35

Wissen ist eine Theorie somit dann, wenn sich ihre Orientierungsleistung durch Realisierung, methodische Ordnung und Kohärenz stabilisiert hat. Sie artikuliert aufgrund dieser Eigenschaften einen qualifizierten Geltungsanspruch. Das heißt, ihre Orientierungspunkte sind allgemein anerkannt und besonders stabil, wenngleich nicht irreversibel. Für Wohlrapp bilden sie aufgrund dieser Eigenschaften den Inbegriff einer pragmatisch verstandenen Wahrheit: »Wissen ist wahr«.36 Doxaistische Theorie als zweites epistemisches Element verfügt dagegen nicht über dieselbe Stabilität. Unter Doxa versteht Wohlrapp anschließend an Aristoteles feste Meinungen, die zwar nicht alle, aber doch die meisten Menschen eines bestimmten Kollektivs oder Kulturkreises teilen. Allerdings sind Doxa für ihn insoweit mehr als einfach akzeptierte Meinungen, als dass ihre theoretischen Orientierungen bereits die Praxis stützen. Eine doxaistische Theorie muss also schon handlungsrelevant sein. Sie kann von den Argumentierenden daher nicht spontan als theoretische Basis einer Diskussion installiert werden. Zur so verstandenen doxaistischen Theorie zählt Wohlrapp insbesondere lebenspraktische Erfahrungen und religiöse Überzeugungen.37 Damit sind Doxa und Wissen als epistemische Theorieelemente begrifflich eingeführt. Die Begriffsverwendung ist freilich in beiden Fällen noch nicht völlig durchsichtig. Sie provoziert die Frage, was denn genau als Wissen und was als Doxa der verschiedenen Disziplinen zu qualifizieren sei, in denen argumentiert wird. Diese Unschärfen sieht auch Wohlrapp, wenn er für die Wissenskriterien deren »Prinzipiencharakter« hervorhebt und dazu auffordert, sie »feldspezifisch nach Bedarf zu konkretisieren.«38 Ich werde für das ›juridische Feld‹ weiter unten versuchen, in ihm Wissen und Doxa genauer anzugeben.39 Abschließend zu den ersten drei Stichworten – Pragmatik, Theorie und Episteme – möchte ich jetzt noch präzisieren, was die epistemische Theorie bei Wohlrapp für den Prozess der Argumentation austrägt. ____________ 35 Wohlrapp, ebd., 93 f. Dass Wohlrapp im Zitierten von »passen« spricht, scheint mir unglücklich. Das erweckt den Eindruck, neue Theorie könne dann und nur dann zu Wissen werden, wenn sie nicht mit alter Theorie konfligiert. Da allerdings Wohlrapp selbst nebst dem stabilen auch den transitorischen Charakter des Wissens erfassen will (Wohlrapp, ebd., 85 f.), habe ich vor dem Zitat die dynamischeren Formulierungen »sich koordinieren« bzw. »sich zusammenfügen« gewählt. 36 Wohlrapp, ebd., 337 und eingehend 97 f. 37 Wohlrapp, ebd., 48, 98–101. 38 Wohlrapp, ebd., 98. 39 Teil 2, nach Fn. 97.

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In der Episteme installiert Wohlrapp einerseits die theoretischen Elemente, von denen eine Argumentation ausgeht, während er dem argumentativen Prozess andererseits aufgibt, eine thetische Theorie zu prüfen. Folglich verbinden sich in einer Argumentation epistemische und thetische Theorie. Die Verbindung von alter und neuer Theorie ist pragmatisch gesehen deshalb bedeutsam, weil Theorie das Gelingen der Praxis stützen soll und epistemische Theorie eben dies bereits leistet. Der Bezug auf ortende epistemische Theorie verhindert somit, dass eine Argumentation gewissermaßen orientierungslos im Raum schwebt.40 Allerdings beginnen wir nach Wohlrapp erst dann zu argumentieren, wenn wir den sicheren Boden der Episteme verlassen. Er veranschaulicht das am Prozess der Wissensvermittlung wie folgt: In der Lehre wird bereits vorhandenes Wissen vermittelt. Der theoretische Geltungsanspruch von Wissen ist in der beschriebenen Weise qualifiziert eingelöst, er muss nicht mehr argumentativ gestützt werden. Deshalb hat die Begründung seiner Geltung bloß pädagogischen Charakter. Es gehe, so Wohlrapp, allenfalls um ›pädagogische Argumentation‹.41 Sobald wir das Wissen aber überschreiten und thetische Theorien bilden, forschen wir nach neuer Orientierung, deren Geltungsanspruch argumentativ zu begründen ist. Episteme bildet folglich die Ausgangspunkte, die gültige These demgegenüber einen Endpunkt der Argumentation.42 b) These, Dialog, Transsubjektivität These – Die These reflektiert bei Wohlrapp neue Orientierung. Wir stellen eine These somit nicht ohne Weiteres auf, sondern erst dann, wenn wir nicht (mehr) orientiert sind. Vor dem Hintergrund der epistemischen Theorie hebt sich die These also zunächst als ein bestimmtes Problem ab, das bedeutet als eine Situation, in der die notwendige Orientierung fehlt. Dieses Problem gilt es dann im argumentativen Prozess zu erforschen. Bloße Übungsaufgaben, Rätsel oder Streitereien führen dagegen nicht in den thetischen Bereich der Argumentation. Denn dabei geht es nicht um neue Orientierung, sondern um wenig hilfreiche Rechthaberei oder schlichte Wissensanwendung.43 Der Begriff eines Problems ist daher bei Wohlrapp verschärft und grenzt, wie jener des Wissens, den argumentativen Bereich ein. Diese Begrenzung des thetischen Redens trägt bei Wohlrapp die Überzeugung, »dass die Argumentationspraxis etwas ungemein Wichtiges und Kostbares ist. … Deshalb ist nicht jeder beliebige Dissens oder Streit Anlass für eine Argumentation, sondern das sind nur Situationen, in denen es wirklich darum geht, die Orientierung ____________ 40

Vgl. Wohlrapp, ebd., 203, 303, 484. Vgl. Wohlrapp, ebd., 201, 199, 195, 190, 101–103. 42 Vgl. Wohlrapp, ebd., 111, 140 f., 185. 43 Wohlrapp, ebd., 111–119. 41

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

zu prüfen und zu verbessern.«44 Anders gesagt, nur ›echte‹ Probleme verlangen nach einer im argumentativen Dialog geprüften These. Die Struktur dieses Dialogs soll nun näher betrachtet werden. Dialog – Als einen argumentativen Dialog oder schlicht Dialog bezeichnet Wohlrapp ein geordnetes argumentatives Gespräch zur Prüfung einer These. In ihm soll, so die Rollenverteilung, der Proponent eine von ihm behauptete These begründen, während der Opponent sie kritisiert. Damit sind schon die drei Grundoperationen der Argumentation genannt: Behaupten, Begründen und Kritisieren. Sie bilden gemäß Wohlrapp das ›thetische System‹.45 Mit dieser Konzeptualisierung fächert Wohlrapp den Argumentbegriff entscheidend auf: Argumentation ist auf der einen Seite nicht mehr die monologische Begründung von Thesen, wie etwa bei Toulmin, sondern sie wird dialogisch gefasst. Der Opponent wird zum realen, kritischen Dialogpartner. Auf der anderen Seite erschöpft sich das Argumentieren aber ebenso wenig in der Kritik, wie dies ein kritischer Rationalismus vertritt, nach dem Forschung lediglich darin besteht, Hypothesen zu falsifizieren.46 Vor diesem Hintergrund formuliert Wohlrapp seinen offenen Argumentbegriff, mit dem sich all die verschiedenen thetischen Operationen abdecken lassen: »Ein Argument ist ein beliebiger, kleinerer oder größerer Teil einer Argumentation, welcher eine identifizierbare Funktion innerhalb des Erweises der Geltung oder Nicht-Geltung der These hat. Ein Argument kann also irgendein Schritt in der Argumentation sein, aber auch eine Gruppe von mehreren Schritten, wenn sie zusammengenommen eine einheitliche Funktion … haben.«47

Ausgehend von diesem Argumentbegriff können die Grundoperationen des Dialogs weiter geklärt werden. Was das Behaupten anbelangt, ist schon vieles gesagt. So dürfte mittlerweile klar sein, dass nicht jede Behauptung thetisch ist, sondern nur jene, die eine Problemlösung vorstellt. Die thetische Behauptung lässt sich dann weiter von der Hypothese unterscheiden. Als solche versteht Wohlrapp eine kognitive Konstruktion, die sich jemand hinsichtlich eines Problems zurechtlegt, für die er sich jedoch noch nicht engagiert. Sie bildet bloß eine sachliche Annahme oder Vermutung. Erst wenn der Proponent sie als handlungsleitend vertritt, wird sie zur These. Eine thetische Behauptung setzt also, wie die Grenzziehung zur Hypothese kenntlich macht, Engagement voraus. Gleichzeitig verlangt sie dagegen, so Wohlrapp, vorsichtige Distanz zur eigenen These, denn man könne ja noch nicht wissen, ob sie gültig ist.48 ____________ 44

Wohlrapp, ebd., 115. Wohlrapp, ebd., 141, 188. 46 Wohlrapp, ebd., 231–235. 47 Wohlrapp, ebd., 192. 48 Wohlrapp, ebd., 192–194, 122. 45

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Um die Operation des Begründens näher zu erläutern, ist daran zu erinnern, dass die These notwendig einen Abstand zur epistemischen Argumentationsbasis setzt. Die argumentative Begründung kann diesen Abstand nicht beseitigen, da sie ja keine epistemische Theorie hervorbringt. Sie kann ihn jedoch ausfüllen, indem sie thetische Theorie konstruiert, die die These als theoretisch erreichbar ausweist. Diese thetische Konstruktion führt also zur These hin und fundiert sie gleichzeitig in der epistemischen Basis. Begründungen bestehen also jedenfalls aus zwei Komponenten: aus einer Basis und einem Übergang von der Basis zur These.49 Was ist hier mit Wohlrapp noch hinzuzudenken? Die Basis ist, wie bereits betont, wenn möglich epistemisch.50 Fehlt es an entsprechender Theorie, setzt die Begründung unmittelbar bei der Praxis an. Sie beginnt dann, wie Wohlrapp sagt, reflexiv. Im ersten Fall liegt dagegen ein rezeptiver Anfang vor. Rezipiert die Begründung epistemische Theorie, führt das zu einem Statuswechsel: Die epistemische Theorie wird aus ihrem praktischen Wirkungsfeld herausgelöst und erhält innerhalb der thetischen Konstruktion eine neue begründende Funktion.51 Ausgehend von der epistemischen Basis lässt sich anschließend die thetische Theorie mit weiteren epistemischen Elementen, aber ebenfalls ganz neuen Theorieteilen, Begriffen, Verbindungen oder gedanklichen Operationen schrittweise konstruieren, bis der Übergang zur These erstellt ist. Um die einzelnen Theorieteile der thetischen Konstruktion miteinander zu verbinden, werden dabei auch Elemente eingesetzt, die nicht inhaltlich, sondern formal oder halbformal sind. Zu ersteren zählt Wohlrapp namentlich solche der formalen Logik, zu letzteren Argumentationsfiguren wie die Analogie, das Beispiel, das Dammbruch- oder das Autoritätsargument.52 Die fertige thetische Konstruktion bildet einen Übergang von der Basis zur These. Dieser ist wie bei Toulmin, auf den sich Wohlrapp an dieser Stelle ausdrücklich bezieht, eine Schlussregel. Die Stützung für diesen inferentiellen Schritt hat aber – und darin liegt der entscheidende Unterschied zu Toulmin – nicht epistemischen, sondern thetischen Charakter. Sie ist die in der Begründung konstruierte thetische Theorie. Während wir bei Toulmin immer schon um die Schlussregel und ihre Stützung wissen, zeigt Wohlrapp somit einen Weg, wie substantielle Schlüsse möglich sind, die das Wissen

____________ 49

Wohlrapp, ebd., 127–129, 201–203. Teil 2, bei Fn. 40. 51 Wohlrapp, ebd., 203 f. 52 Wohlrapp, ebd., 127, 207 f. 50

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überschreiten und zu neuer Orientierung hinführen. Wohlrapp nennt das eine epagogische Begründung.53 Eine epagogische Begründung ermöglicht den argumentativen Übergang zur These, will ihn aber nicht erzwingen, wie etwa der logische Schluss. Subjektiv ist der Opponent daher stets frei, ob er die These nachvollziehen will. Die gültige thetische Konstruktion bietet insoweit lediglich einen einsichtigen Weg zur These. Wohlrapp distanziert sich so von der Idee eines »zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes«.54 Das ist konsequent gedacht, denn der Opponent soll ja eine kritische Instanz des Dialogs bilden und das kann er bei genauer Betrachtung nur sein, wenn man ihm die Freiheit zur skeptischen Distanz belässt.55 Gleichwohl kann eine solche epagogische Begründung nach Wohlrapp eine objektive Qualität erreichen und das ist ihre Geltung. So bedeutet für ihn Begründen denn auch, den Geltungsanspruch einer These einzulösen. – Wann eine These gültig ist, wird noch zu erläutern sein. Als Nächstes soll jetzt noch die letzte dialogische Grundoperation betrachtet werden: das Kritisieren.56 ›Kritik‹ leitet sich ab vom griechischen Krinein, was ›(unter-)scheiden, trennen‹ bedeutet. Ihr Begriff ist also nicht unbedingt negativ konnotiert, sondern zeigt allgemein eine Haltung an, die auf die nötigen Unterschiede achtet. Als Operation im argumentativen Dialog sorgt sie nach Wohlrapp dafür, »dass die Begründung sich klärt, dass sie sich in die Form einzelner Schritte begibt, die der Reihe nach zu vollbringen sind. Und dann verwirklicht sich die kritische Intention in der Forderung, dass jeder einzelne Schritt nachvollziehbar sein muss.«57 Wie die Begründung kann die Kritik in einzelnen Schritten erfolgen. Einen einzelnen Schritt bezeichnet Wohlrapp als Einwand. Zeigen die Einwände, dass die These insgesamt ungültig ist, so spricht er von Widerlegung. Eine Kritik braucht keine Behauptung zu sein, denn sie muss nicht selbst eine These aufstellen. Sie kann auch lediglich ____________ 53 ›Epagogisch‹, griechisch für ›hinführen‹. Diese an Aristoteles angelehnte Begriffssetzung stellt sich inhaltlich und terminologisch klar gegen die deduktive Begründung, hebt sich aber auch gegenüber ihrer induktiven und abduktiven Form ab. Siehe dazu im Einzelnen Wohlrapp, ebd., 204–207. 54 So bekanntlich Habermas, Wahrheitstheorien, 240; vgl. dazu Wohlrapp, ebd., 4 Fn. 1. Zur subjektiven Seite der Begründung ders., ebd., 211 und 478. 55 Hier liegt ein markanter Unterschied zur Diskurstheorie, wie sie etwa von Jürgen Habermas und Robert Alexy vertreten wird. Diese versuchen letztlich, den Skeptiker auf ein bestimmtes diskursives Regelsystem festzulegen, um ihn auf vernünftiges Argumentieren zu verpflichten (vgl. die erhellende Darstellung bei Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 58–82, insbes. 70 f. und 81 f.; deutliche Kritik auch bei Gamm, Flucht aus der Kategorie, 234, 289). 56 Siehe zu Geltung und Begründung Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 201; ausführlich zur argumentativen Geltung Teil 2, nach Fn. 69. 57 Wohlrapp, ebd., 214 und insgesamt 213 f.

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immanent ansetzen, indem sie die Begründung als zirkulär, widersprüchlich oder lückenhaft ausweist.58 Die Grundoperationen, wie sie bis jetzt dargestellt wurden, könnten glauben lassen, der argumentative Dialog verlaufe linear: Eine These wird zuerst behauptet, dann begründet und zuletzt kritisiert. Dass dem nicht so ist, zeigt die Argumentationspraxis immer wieder. Es gibt zwei zentrale Begriffe, mit denen Wohlrapp den Dialog als dynamisches Geschehen einfängt: retroflexive Struktur und thetische Dynamik. Mit der retroflexiven Struktur will Wohlrapp deutlich machen, dass sich die thetische Konstruktion während des Dialogs ändern kann, indem sich der Argumentationsprozess auf sich selbst zurückwendet. Basis, These und Übergang können sich ändern, wenn im Prozess beispielsweise neue thetische oder epistemische Theorie eingearbeitet oder ein stichhaltiger Einwand integriert wird. Zeigt sich am Ende gleichwohl eine lineare inferentielle Struktur, in der sich die These aus Basis und Übergang ergibt, so nicht deshalb, weil diese Struktur von vornherein da war, sondern weil sie in einem retroflexiven Prozess dahin gebracht wurde.59 Mit der thetischen Dynamik erfasst Wohlrapp dagegen die Dialogsituation, in der epistemische Theorie, die jemand als Begründung angibt, ganz oder teilweise kritisiert und deshalb thetisch wird. Sie ist nun zusätzlich zur eigentlichen These selbstständig zu begründen. Handelt es sich bei der epistemischen Theorie um Wissen, betrifft das neue argumentative Problem beide Dialogpartner. Geht es dagegen um doxaistische Theorie, liegt es beim Proponenten, ob er seine doxaistische Theorie dogmatisieren will oder die Einwände, die gegen sie vorgebracht werden, integriert oder widerlegt.60 Die thetische Dynamik reflektiert den argumentativen Dialog bei Wohlrapp also insgesamt als produktiv kritischen Prozess, in dem ein Subjekt seine thetische Theorie dem Wissen und der Perspektive des Anderen aussetzt. Das Subjekt überschreitet so seinen eigenen Wissenshorizont. In diesem Moment des argumentativen Dialogs ist bereits angedeutet, was Wohlrapp unter dem Begriff der Transsubjektivität näher ausführt. Sie gibt – nach These und Dialog – das nächste Stichwort. Transsubjektivität – Transsubjektivität entsteht Wohlrapp zufolge dann, wenn ein Subjekt sich dialogisch zur Disposition stellt. Das Subjekt distanziert sich während des Dialoges von sich selbst.61 Wie lässt sich diese dialogische Selbstdistanzierung bei Wohlrapp näher verstehen? Ich möchte sie so beschreiben, dass ein Subjekt sich zeitlich oder räumlich von seiner These ____________ 58

Wohlrapp, ebd., 214 f. Zu den drei Einwandfiguren Zirkelschluss, Widerspruch und Lücke ders., ebd., 217–222. 59 Wohlrapp, ebd., 312–316. 60 Wohlrapp, ebd., 201, 482–486. 61 Wohlrapp, ebd., 480.

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distanziert. Zeitlich blickt es auf seine eigene Geschichte und reflektiert darin seine gegenwärtige These, um sie aus der Distanz seiner Vergangenheit kritisieren zu können. Räumlich bildet sich die Distanz, indem das Subjekt seine Meinung oder Hypothese als These behauptet und sie auf diese Weise gewissermaßen in den Raum der Kritik stellt.62 In einem pragmatischen Theorieverständnis ist leicht einzusehen, weshalb diese Transsubjektivität Sinn ergibt. Das fragende Subjekt interessiert in einer Problemsituation nicht seine eigene Meinung, sondern es will sich optimal in jener orientieren. Das kann die eigene Meinung allein nicht leisten, denn »eine Problemlösung, die einfach meine Meinung ist, wird strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Problem haben. Sie zu verfolgen, wird dazu führen, daß ich das Problem früher oder später erneut habe. Daher liegt die ›gültige‹ [sc. optimale] Problemlösung mindestens der Möglichkeit nach außerhalb der Grenzen meines Subjektsystems. Darum, diese Möglichkeit zu eröffnen, darum geht es bei der Distanzierung.« 63

Das Prinzip der Transsubjektivität artikuliert somit mein eigenes Interesse, an verlässlichen Orientierungen für mein eigenes Handeln. Dieser pragmatische Gesichtspunkt lässt sich noch verdeutlichen. Soll mein Handeln mich ›in der Welt‹ orientieren, muss ich ihre Realität auch in die Problemlösung einbeziehen. Das hebt Wohlrapp an anderer Stelle ausdrücklich hervor: »Es ist ein Schein und eine Oberflächlichkeit, dass der Mensch einfach nur sich selbst wolle. Das Orientierungsbedürfnis ist etwas, das einerseits das partikulare menschliche Subjekt, der Einzelmensch und die besondere Gruppe hat. Insofern ist dieses Bedürfnis also etwas Subjektives. Orientierungen werden im Subjektsystem gebildet bzw. von ihm übernommen. Sie werden daher in der Regel so ausfallen, dass sie dessen habituelle Systematik fortschreiben. Dadurch aber, dass die Orientierungen auf der anderen Seite nicht nur zum Subjekt passen, sondern dass sie zu den Bedingungen des Lebens und der menschlichen Wirklichkeit passen müssen, ist das Orientierungsbedürfnis schon im Ansatz etwas ›Transsubjektives‹.«64

Kann ich nicht gleichwohl überzeugt sein, die Lösung selbst am besten zu wissen und deshalb auf eine dialogische Selbstdistanzierung verzichten? Die Frage verneint sich bereits von selbst, denn hätte ich das Wissen, müsste ich ____________ 62 Wohlrapp versteht als kritische Instanzen zum einen »das Wissen und die Perspektive des Anderen« (Wohlrapp, ebd., 484), zum anderen »das Urteil der Geschichte« (ders., ebd., 141). Weiter begreift er auch das »nachdenkende Mitsichzurategehen« als eine dialogische Struktur (ders., ebd., 15). Diese Hinweise dürften es erlauben, bei der dialogischen Selbstdistanzierung einen pragmatischen Unterschied zwischen räumlicher und zeitlicher Distanz anzunehmen. 63 Wohlrapp, ebd., 180. 64 Wohlrapp, ebd., 165. Am Rande ist darauf hinzuweisen, dass dieser pragmatische Zugang zur realen Welt ohne ontologische Voraussetzungen auskommt, da er nicht beansprucht, die Welt als Seiendes abzubilden (vgl. dazu ders., ebd., 65 f.).

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gar kein argumentatives Problem lösen. Es gibt allerdings noch einen tiefer liegenden Grund, den Wohlrapp mit den Begriffen Fokussieren, Sichtweise und Perspektive herausarbeitet. Damit ein Subjekt überhaupt etwas wahrnimmt, muss es fokussieren. Jeder Gegenstand wird somit ausschnittweise erfasst und so sind gewisse Möglichkeiten, ihn anders zu betrachten, ausgeschlossen. Was auch immer wahrgenommen, erfahren, thematisiert (usw.) wird, es wird als etwas wahrgenommen, erfahren, thematisiert. Fokussieren ermöglicht dem Subjekt etwas zu erkennen und sich daran zu orientieren, legt es dabei aber zugleich auf seine eigene Sichtweise fest. Die im eigenen Fokus entstehende Sichtweise ist also subjektiv.65 Von der Sichtweise hebt Wohlrapp die Perspektive ab. In der Perspektive ist eine Sichtweise objektiviert, weil sie geklärt hat, unter welchem Aspekt etwas betrachtet wird und welche anderen Betrachtungsmöglichkeiten dadurch ausgeschlossen sind. Diese Perspektive ist für das Subjekt allein nicht erreichbar: »Der eigene Blick ist nicht im Blickfeld … Wir fassen irgend etwas in einer verkehrten Weise auf, und das bleibt uns verborgen, weil wir zusammen mit unserem Auffassen nicht zugleich die Weise unseres Auffassens, unsere ›Sichtweise‹, bemerken können.«66 Dies impliziert, so spitzt Wohlrapp zu, ein doppeltes Nichtwissen: »Wir wissen nicht, was wir ausblenden und wir wissen nicht, dass wir das nicht wissen.«67 Die objektivierte Sichtweise auf uns, hat nur der Opponent als Anderer. Transsubjektivität mündet deshalb in die Forderung, den Anderen anzuerkennen. Er ermöglicht mir zum einen meine Sichtweise zu objektivieren, zum anderen verfügt er über Gesichtspunkte, die ich selber nicht habe und nicht haben kann, weil sie seiner Sichtweise entspringen, die für mich wiederum eine Perspektive ist. Für die Praxis der Argumentation bedeutet jene Forderung nach der Anerkennung des Anderen, seine Argumente aktiv zu reflektieren, seine Einwände zu integrieren oder zu widerlegen. Mit anderen Worten die thetische Dynamik nicht zu blockieren.68 Bedeutet, den Anderen anzuerkennen, ihm jedenfalls folgen zu müssen? Das zu bejahen, wäre in einem doppelten Sinne nicht richtig. Der normative Status jener Forderung ist zunächst nicht zwingend, sondern pragmatisch festgelegt. Sie wird von unserem eigenen Interesse gesteuert, uns in unserem Handeln optimal zu orientieren. Insoweit ist sie freiwillig. Mit demselben ____________ 65

Wohlrapp, ebd., 238 f., 247. Wohlrapp, ebd., 248 und insgesamt 247 f. 67 Wohlrapp, ebd., 248. Die Begriffe Fokus, Sichtweise und Perspektive verbinden sich bei Wohlrapp mit dem Begriff des Rahmens, mit dem er die Subjektivität in der Argumentation allgemein erfasst. Ich verzichte hier darauf, diesen Begriff einzuführen, da es für die in dieser Arbeit untersuchte Fragestellung nicht unbedingt notwendig erscheint (siehe eingehend zum Rahmenbegriff ders., ebd., 237–296). 68 Wohlrapp, ebd., 247, 491 und eingehend 486–492. 66

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Argument lässt sich aber auch verstehen, warum es für uns selbst wenig hilfreich wäre, sich dem Anderen kritiklos anzuschließen. Übernehme ich die Meinung eines anderen unbesehen, prüfe ich sie nicht auf ihren Orientierungsgehalt für das Problem. Demgegenüber verbindet rationale Argumentation oder thetische Vernunft, wie Wohlrapp auch sagt, das Vertrauen in die eigene Begründung mit der Kontrolle durch die Kritik. Und daher liegt die vernünftige transsubjektive Anerkennung des Anderen zuallererst darin, den argumentativen Dialog selbst ernst zu nehmen.69 c) Geltung, Relativität, Offenheit Geltung – Im Konzept der argumentativen Geltung ist das Argumentieren eine Tätigkeit, in der thetische Geltungsansprüche behauptet, begründet und kritisiert werden. Eingelöst ist dieser Geltungsanspruch, sofern er gültig begründet ist. Geltung oder Gültigkeit, wie Wohlrapp auch sagt, wird so zum argumentativen Fluchtpunkt. Entscheidend ist folglich die Frage, wann eine gültige Begründung vorliegt. Wohlrapp zufolge hat die Begründung epagogischen Charakter. Sie führt durch einen einsichtigen Lösungsweg zur Konklusion hin, erzwingt diese allerdings nicht. Selbst wenn der Opponent den argumentativen Schluss einsieht, braucht er nicht entsprechend dieser Einsicht zu handeln. Soll es für die argumentative Gültigkeit darauf ankommen, dass er die Konklusion deshalb nicht nur einsieht, sondern ihr überdies zustimmt? Wohlrapps Antwort fällt so überraschend, wie deutlich aus: Weder Einsicht noch Zustimmung sind ein hinreichendes oder auch nur notwendiges Kriterium der argumentativen Gültigkeit. Ich will die Begründung dieser Ansicht hier kurz nachzeichnen. Eine einsichtige Argumentation ermöglicht nach Wohlrapp, in einen Problembereich mit den ›Augen des Geistes‹ hineinzusehen. Einsicht begreift er somit intellektuell. Der Umstand, dass jemand eine Argumentation intellektuell durchdringt, möge zwar oftmals bestimmen, ob er die These tatsächlich akzeptiert. Gleichwohl erachtet Wohlrapp Einsicht nicht als ein taugliches Geltungskriterium. Zum einen indiziere fehlende Einsicht nicht zwingend eine fehlerhafte Begründung. Sie kann auch ausbleiben, weil dem Opponenten das intellektuelle Potential fehlt, eine Argumentation einzusehen. Zum anderen sei sie nicht deutlich gegen das Gefühl abzugrenzen. Sie biete also keine äußerlich überprüfbaren Merkmale für ihre Richtigkeit: »Auch wenn der Eindruck ›Ja, so ist es, so muss es sein!‹ sehr stark ist, wenn er Denken und Fühlen voll und ganz erfüllt, kann sich das alles als Irrtum und Illusion erweisen. Dies ist der Grund, weshalb die Einsicht, die für die Motivation zur Akzeptanz das Entscheidende sein kann (zumal wenn sie sich in der Ar____________ 69

Wohlrapp, ebd., 181, 339 f., 480 f.

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gumentation weitervermitteln lässt), nicht als Kriterium für die Geltung der These taugt.«70 Dass eine Argumentation gültig ist, sofern ihr zugestimmt werden kann, ist ebenfalls ein einleuchtender Gedanke. Er findet sich insbesondere in der Diskurstheorie.71 Doch Wohlrapp fragt an dieser Stelle richtigerweise nach, was es denn bedeute, wenn ein Opponent der Argumentation zustimmt: »Ist das etwas Erfreuliches? Das kommt darauf an, was ich eigentlich will. Wenn ich Mitstreiter oder Anhänger suche, weil ich mein Projekt nicht allein verfolgen möchte oder kann, dann habe ich Erfolg gehabt. Wenn ich aber etwa meine eigene Argumentation überprüfen will, habe ich mit dem Erreichen von bloßer Zustimmung wenig gewonnen.«72

Der Gedankengang lässt sich noch pointieren, indem man ihn pragmatisch weiterdenkt. Zustimmung vermittelt keine Information, ob eine Orientierung für das Handeln zweckmäßig ist oder nicht. Soll aber gerade das im argumentativen Dialog geprüft werden, ergibt die Zustimmung als Geltungskriterium keinen Sinn. In ähnlicher Richtung argumentiert Wohlrapp selbst, wenn er schreibt, das Faktum eines Konsenses könne zwar ein Normgefüge tragen, sei aber keine Begründung.73 Zustimmung ist nach ihm somit kein hinreichendes Kriterium für Geltung. Er betrachtet sie aber auch nicht als notwendig. Einerseits, da sie wie die Einsicht lediglich fehlen kann, weil der Opponent mit der Argumentation überfordert ist, andererseits, da sie auch bloß aus persönlichen und nicht sachlichen Gründen ausbleiben kann.74 Argumentative Geltung lässt sich Wohlrapp zufolge also weder über die Einsicht noch die Zustimmung zur These modellieren. Den einzigen Weg, sie zu objektivieren, sieht er darin, dass über die Argumente generalisiert wird: Eine gültige Begründung liegt vor, wenn nach dem aktuellen Stand der Argumentation keine Einwände gegen sie offen geblieben sind. ›Einwandfreiheit‹ relativ zum ›Argumentationsstand‹ lautet damit das von Wohlrapp vorgeschlagene Geltungskriterium.75 Sehen wir uns das noch etwas genauer an. Den Begriff des Argumentationsstandes erläutert Wohlrapp, indem er an eine Formulierung aus den Dialogen Platons anlehnt: »Lasst uns zusammenrechnen, was sich ergeben hat«. Der Argumentationsstand überblickt somit den tatsächlichen Stand der Argumente zu einem bestimmten Zeitpunkt des ____________ 70

Wohlrapp, ebd., 341 und insgesamt 340–347. Theoretisch angeleitet ist er von der Konsensustheorie der Wahrheit, wie sie namentlich von Habermas entwickelt wurde (vgl. Habermas, Wahrheitstheorien). Mit Alexy ging diese Theorie dann auch in die juristische Argumentation ein (vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 134–177). 72 Wohlrapp, ebd., 343. 73 Wohlrapp, ebd., 373. 74 Wohlrapp, ebd., 343. 75 Wohlrapp, ebd., 349. 71

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Dialogs. Er wird mit einem Dialogdiagramm systematisch erfasst. Mit ihm soll sich dann ermitteln lassen, ob die These theoretisch erreichbar ist. Diese Erreichbarkeit ist allerdings erst schlüssig zu beurteilen, wenn auch alle vom Opponenten vorgebrachten Einwände integriert oder widerlegt sind. Theoretische Erreichbarkeit ist deshalb lediglich eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung thetischer Gültigkeit: »Die theoretische Erreichbarkeit einer Konklusion muss also dialogisch komplettiert werden zur Freiheit von offenen Einwänden, zur ›Einwand-Freiheit‹. Einwandfreiheit ist das Kriterium für die thetische Geltung.«76 Gerade im Anschluss formuliert Wohlrapp: »Dass die Einsicht, die eine These u.U. vermittelt, seriös ist, dass sie keine bloße Illusion ist, genau dafür haben wir jetzt ein Kriterium: dass im Dialog um die These kein Einwand gegen sie offen geblieben ist.«77 Dies weist uns auf die pragmatische Funktion des auf diese Weise konzipierten Geltungskriteriums hin. Die einwandfreie Begründung vermittelt uns das Vertrauen, dass die These als neue Orientierung tauglich ist und wir uns für unser praktisches Handeln tatsächlich nach ihr richten können. Vertrauensbildung ist damit die pragmatische Funktion der argumentativen Geltung. Das ist ein wichtiger Punkt, denn im thetischen Bereich weiß man ja gerade noch nicht, ob die Orientierung tatsächlich verlässlich ist.78 Gerade deshalb hat es, so Wohlrapp, gravierende Konsequenzen, dass Einwandfreiheit ein flüchtiger Zustand ist, der sich jederzeit ändern kann: »In jedem Augenblick kann jemand mit einem neuen Argument auftreten. Dann ändert sich der Argumentationsstand. Das neue Argument kann sich als stichhaltiger Einwand erweisen und die These ist verloren. Aber: Solange das neue Argument nicht aufgetreten ist, haben wir eben nichts Besseres als die These und ihre [einwandfreie] Begründung. Das ist aber auch nicht nichts und wenn wir sie als Neue Orientierung nehmen, dann gehen wir so rational vor, wie wir überhaupt können.«79

Daraus sollte man jetzt nicht folgern, die Einwandfreiheit verflüchtige sich selbst als griffiges Geltungskriterium, da Einwände immer möglich seien. Denn nicht jeder Einwand geht einfach als stichhaltig durch, sondern er wird vom Proponenten auf seine theoretische Basis hinterfragt. Da solche nicht beliebig vorhanden ist, kann es sich auch um einen bloß leeren Zweifel handeln. Schließlich nimmt der Argumentationsstand auch nicht alle logisch

____________ 76

Wohlrapp, ebd., 349 und insgesamt 347–350, 359. Wohlrapp, ebd., 349. 78 Wohlrapp, ebd., 359 f. 79 Wohlrapp, ebd., 351. 77

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möglichen Argumente auf, sondern berücksichtigt nur jene, die zum spezifischen Problem tatsächlich vorgebracht werden könnten.80 Relativität – Geltung definiert sich somit relativ zu einem Argumentationsstand. Bringt diese Relativität gleichzeitig ein relativistisches Geltungskonzept hervor? So könnte man die Frage formulieren, die Wohlrapp sich vorlegt. Als Relativismus bestimmt er eine Position, »derzufolge alle Geltungsansprüche nur relativ zu einem ›System‹, in dem sie erhoben werden, einlösbar sind.«81 Die relativistische Position nimmt also einen Standpunkt außerhalb des Systems ein, um zu sagen, dass das System nur relative Geltungsansprüche erheben könne. Daher ließen sich diese Geltungsansprüche auch nicht auf andere Systeme übertragen. Sie sind und bleiben systemimmanent. Das grundlegende Problem des Relativismus ist nun aber, so Wohlrapp, dass er sich auf sich selbst anwenden muss, soweit er selbst gelten will: Der Relativismus gilt nur relativ zu seinem bestimmten System. Um gleichwohl für alle Systeme gelten zu können, müsste er also einen Standpunkt außerhalb des eigenen Systems innehaben, von dem aus er seine eigene Geltung bestätigen könnte. Einen solchen äußeren Standpunkt schließt er jedoch gerade aus.82 Der Relativismus verstrickt sich somit in eine Aporie – er behauptet etwas, das er nicht behaupten kann. Führt die These der argumentativen Geltung nicht in eben diese Aporie, indem sie Geltung als relativ zu einem bestimmten Argumentationsstand setzt? Behauptet sie auf diese Weise nicht ebenfalls, dass jede Geltung nur relativ zum Argumentationsstand eines Systems bestimmt ist? Das wäre der Fall, wenn diese spezifische Relativität hinsichtlich eines Argumentationsstandes zugleich den allgemeinen Standpunkt des Relativismus implizierte. Die Wohlrapp’sche These hätte sich dann das typisch spielerische Moment des Relativismus zu eigen gemacht, dass sich jede Argumentation jederzeit als ›ohnehin nur relativ gültig‹ apostrophieren und damit in Wahrheit als ungültig bezeichnen ließe. Entscheidend ist nun, dass Wohlrapp genau diesen, wie gesehen nicht einlösbaren, relativistischen Wahrheitsanspruch nicht geltend macht. Oder anders: seine These steht nicht auf dem relativistischen Standpunkt. Gleichwohl muss er angeben können, wie sich denn ein Argumentationsstand als relativ gültig herausstellt. Wie stellen wir uns demnach außerhalb des Argumentationsstandes, ohne uns gleichzeitig auf den relati____________ 80

Wohlrapp, ebd., 349 f. Damit ist das Problem, die möglichen Einwände zu begrenzen, freilich nur ansatzweise gelöst. Denn natürlich können logisch mögliche Einwände auch tatsächlich vorgebracht werden. Ich werde deshalb das Problem, die möglichen Einwände zu begrenzen, als Problem der verschiedenen Lesarten des Gesetzestextes nochmals aufgreifen und vertiefen (Teil 2, bei Fn. 130). 81 Wohlrapp, ebd., 374 – meine Hervorhebung, TC. 82 Wohlrapp, ebd.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

vistischen Standpunkt zu stellen? Das gelingt Wohlrapp, indem er an diese Stelle die Zeitlichkeit der Geltung einsetzt: »Einen Außenstandpunkt hat ein Beurteiler, der gegenüber dem erreichten Argumentationsstand über mindestens ein neues Argument verfügt. … Solch ein neues Argument erzeugt einen neuen Argumentationsstand zur Quaestio [sc. zum Problem] und dieser konstituiert einen wirklichen (nicht bloß spielerischen) Außenstandpunkt, von dem aus gesagt werden kann, dass die vorige Geltungsbeurteilung nur ›relativ gültig‹ war…«83

Im Kontext dieser Textstelle spricht Wohlrapp zwar nur die epistemischen Geltungsansprüche des Wissens ausdrücklich an und rekonstruiert so, wie er sagt, »das Wissen als etwas Werdendes«.84 Ich sehe jedoch keinen Grund, weshalb sich diese Denkbewegung nicht auf die thetischen Geltungsansprüche übertragen ließe. Auch dort ist der Außenstandpunkt nicht jederzeit, sondern erst dann erreicht, wenn ein neues Argument hinzutritt. Das Geltungskriterium der Einwandfreiheit bezüglich eines bestimmten Argumentationsstandes formuliert somit kein relativistisches Geltungskonzept. Mit der Zeitlichkeit der Geltung gewinnt Wohlrapp noch eine weitere Erklärung. Wie gesagt, können der relativistischen Position zufolge Systeme ihren Geltungsanspruch nur intern, nicht aber gegenüber anderen Systemen erheben. Geltung ist und bleibt systemimmanent, so der relativistische Geltungsanspruch. Über die Geltungszeit lässt sich dieses Verhältnis zwischen Geltungssystemen indessen neu bestimmen, ohne den absoluten Anspruch des Relativismus erheben zu müssen. Denn es ist jetzt möglich zu sagen, Geltungssysteme seien zurzeit noch nicht ineinander überführbar. Man kann deshalb nicht ab-schließend behaupten, so wie es die relativistische These impliziert, verschiedene Systeme seien zueinander inkommensurabel. Das Moment der Zeitlichkeit hält sie füreinander dialogisch offen.85 Offenheit – Ich möchte diese Offenheit der argumentativen Geltung noch akzentuieren, indem ich sie einerseits mit Wohlrapps Begriff des ›doppelten Nichtwissens‹, andererseits mit dem Beispiel verbinde, das Wittgenstein zur Erläuterung des Aspektsehens verwendet. In seinen Philosophischen Untersuchungen findet sich dazu folgende Abbildung:86

____________ 83

Wohlrapp, ebd., 382 – meine Hervorhebungen, TC. Siehe ferner ders., ebd., 359. Wohlrapp, ebd., 383. 85 Vgl. Wohlrapp, ebd., 383–385. Entlang dieser Offenheit ist auch die Symmetrie der Rechtskontexte zu verstehen (vgl. Teil 1, vor Fn. 148): Gleichwertigkeit vor und nach der Argumentation bedeutet keine relativistische Gleichsetzung, sondern eine argumentative Offenheit. 86 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 520. 84

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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Die Abbildung zeigt dem unbefangenen Betrachter einen Entenkopf. Sieht man sie allerdings bei Wittgenstein als ›Entenhasenkopf‹ bezeichnet, wird deutlich, dass sie sich noch unter einem weiteren Aspekt betrachten lässt. Nämlich, wenn man den Entenschnabel als die Ohren eines Hasen sieht. Entgegen der üblichen Leserichtung werden auf diese Weise die Dinge auf den Kopf gestellt oder – um es anders zu betrachten – auf die Seite gedreht. Sah man ›vor‹ Wittgenstein die Figur lediglich unter dem Entenaspekt, hat man, ohne es zu wissen, nicht gewusst, dass sie ebenso als ein Hase gesehen werden kann.87 An dieser Stelle verbindet sich das Aspektsehen mit dem doppelten oder, wie Wohlrapp auch sagt, potenzierten Nichtwissen, das er, wie gesehen, folgendermaßen beschreibt: »Wir wissen nicht, was wir ausblenden und wir wissen nicht, dass wir das nicht wissen.«88 Und in eben dieser Potenzierung liegt nun die gedankliche Schärfe seines Arguments. Sie übersteigt so die angebliche und oft leichthin zugegebene Einsicht in den eigenen ›blinden Fleck‹. Denn mit dieser Einsicht stellt man sich bereits wieder auf einen Standpunkt, von dem aus gesehen wird, dass man nicht weiß. Potenziertes Nichtwissen ist dagegen jenes, bei dem es keine andere Seite gibt, von der aus es sich feststellen ließe: »Das menschliche Erkennen und Verstehen, das Orientiertsein sowohl der einzelnen Person als auch der Menschheit insgesamt, hat bekanntlich Grenzen. Weniger allgemein bekannt ist, dass das ganz besondere Grenzen sind, Grenzen nämlich, die keine andere Seite haben.«89

Davon ausgehend möchte ich die Offenheit der argumentativen Geltung wie folgt bestimmen: Selbst wenn wir für eine Beurteilung alles Mögliche wissen, können wir eben nicht wissen, unter welchem anderen Aspekt wir ein ____________ 87

Wittgenstein selbst führt das Bild gerade den anderen Weg herum ein: »Und ich muß zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden. Das Bild mochte mir gezeigt worden sein, und ich darin nie etwas anderes als einen Hasen gesehen haben.« (ebd.) 88 Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 248 sowie Teil 2, bei Fn. 67. 89 Wohlrapp, ebd., 253; vgl. dazu Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 9. Anschließend an diese Stelle führt Wohlrapp selbst Wittgensteins ›Entenhasenkopf‹ ein. Er verwendet ihn dort, um die Subjektivität in der Argumentation näher zu erläutern (Wohlrapp, ebd., 254 f.).

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Problem auch noch betrachten könnten. In der oben beschriebenen Lesart von Wittgensteins ›Entenhasenkopf‹ heißt das: Wir sehen nur Enten – der Hase ist immer bereits entlaufen. Ohne dabei argumentative Geltung relativistisch aufzufassen, kann auf diese Weise ihre radikale Offenheit entdeckt werden, wie sie Derrida im Moment der Unentscheidbarkeit von Gerechtigkeit herausgearbeitet hat: Der Argumentationsstand ist nie abgeschlossen, er hat sich immer schon für den Anderen geöffnet. Und das entspricht schließlich ebenso dem Vernunftbegriff, wie ihn Wohlrapp für die Argumentation definiert: Die thetische Vernunft einer Argumentation ist die »Vernunft des Vorläufigen«.90 3. Argumentation und Argument Die Einleitung zu den Grundlagen der philosophischen Argumentationstheorie bestimmte das gültige Argument als einen Übergang von Prämissen zu einer Konklusion, der Wahrheit transportiert. Diese Definition lässt sich nun anhand dieser Grundlagen ausdifferenzieren. Es kann zunächst zwischen der Argumentation und den Argumenten unterschieden werden. Argumentation ist ein Dialog, in dem eine These auf ihre Geltung hin überprüft wird und Argumente sind jene Argumentationsteile, die sich funktional auf diese Geltungsprüfung beziehen. Was in der einleitenden Definition als Konklusion bezeichnet wird, entspricht somit dem Geltungsurteil zu einer These: Eine Argumentation beurteilt die thetische Gültigkeit aufgrund von Argumenten. Die Konklusion lässt sich allerdings nicht (logisch) aus vorgegebenen Übergängen und Prämissen ableiten. Prämissen und Übergang werden in einem retroflexiven Prozess als inferentielle Struktur erst konstruiert. Das bedeutet, es wird auf der Basis von epistemischer Theorie schrittweise eine thetische Konstruktion entwickelt. Gelingt das einwandfrei, weist sie einen gültigen Lösungsweg für das argumentative Problem. Die in den Dialog eingebrachten Argumente fügen sich zu einer gültigen Argumentation zusammen. Entgegen der einleitenden Definition vermittelt diese Argumentation allerdings ____________ 90

Wohlrapp, ebd., 339; zu Derrida eingehend Teil 1, bei Fn. 108, insbes. bei Fn. 118. Ganz kurz sei darauf hingewiesen, dass Wohlrapp den Begriff der Unentscheidbarkeit ebenfalls verwendet. Er bezeichnet damit eine dritte Stufe der Geltungsbeurteilung: Eine Argumentation ist gültig, ungültig oder unentscheidbar. Denn es gehöre »zu den Eigentümlichkeiten der thetischen Vernunft, dass sie nicht zweiwertig ist« (ders., ebd., 354). Mir scheint das eine nicht stimmige Differenzierung zu sein. Soll einem pragmatischen Verständnis zufolge eine These orientieren, ist sie entweder ein Wegweiser oder sie ist es (noch) nicht. Da Wohlrapp thetische Vernunft als die »Vernunft des Vorläufigen« versteht, hat er die notwendige Verschiebung der zweiwertigen Logik bereits vollzogen. Seine thetische Vernunft verfügt also über das Moment der Unentscheidbarkeit, aber es ist nicht in die Stufen der Geltungsbeurteilung zu integrieren, sondern als Vorläufigkeit oder Offenheit der thetischen Geltung zu verstehen.

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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keine Wahrheit. Denn erst Wissen ist wahr, ist bereits gültige Orientierung. Argumentation findet jedoch statt, weil man gerade nicht weiß, worin die gültige Orientierung besteht. Sie bildet deshalb Möglichkeiten, sich neu zu orientieren. So gesehen bringt sie die Wahrheit nicht hervor, sondern sucht nach ihr.91 Man könnte also vielleicht wie folgt formulieren: Eine gültige Argumentation ist ein argumentativ einwandfreier Übergang von Prämissen zu einer thetischen Konklusion, der neue Orientierung transportiert. III. Reformulierungen der juristischen Argumentation Nachdem die philosophischen Grundlagen gelegt sind, gilt es wie schon im ersten Teil, sie für das eigene Recht zu interpretieren. Wie wirken sich die philosophischen Theoreme auf die juristische Argumentation aus, lautet die Grundfrage. Eine mögliche Antwort geben die folgenden ›Reformulierungen der juristischen Argumentation‹. Sie sind in fünf Abschnitte gegliedert. In einem ersten werden sie zunächst programmatisch erläutert und anschließend in vier weiteren Abschnitten realisiert. 1. Die Reformulierungen im Überblick Die hier entwickelten Strukturen der juristischen Argumentation stellen, wie bereits gesagt, keinen universellen Anspruch. Sie setzen vielmehr lokal bestehende Grundstrukturen als ihren spezifischen rechtlichen Kontext voraus, den sie dann intern kommentieren. Wie im ersten Teil strukturiert dieser interne Kommentar somit nicht grundlegend neu, sondern er reformuliert seinen Kontext. Diese Reformulierungen untersuchen zwei größere Fragekreise: (1) Worin besteht die Funktion der juristischen Argumentation und wie gestaltet sich die Struktur und die Geltung der juristischen Begründung? (2) Welche Instrumente werden im eigenen Recht verwendet, um argumentative Probleme zu lösen – was sind, anders gefragt, die Argumentformen des eigenen Rechts? Für die Strukturierung der rechtsvergleichenden Argumentation werden es die Antworten zum ersten Fragekreis ermöglichen, das Motiv, die Normativität und die Funktionsweise der rechtsvergleichenden Argumentation zu bestimmen. Die Antworten zum zweiten Fragekreis werden dagegen vor allem hilfreich sein, um die Blackbox des rechtsvergleichenden Arguments zu entschlüsseln. Man kann diesem Programm freilich noch eine Frage vorausschicken: Warum sollte sich das rechtliche Argumentieren gerade mit den Theorien von Toulmin und Wohlrapp neu formulieren lassen? Bei beiden Theorien wird sich ihre Leistungsfähigkeit natürlich erst mit ihrer Interpretation voll entfalten. Doch bereits im ersten Zugriff erscheinen beide für eine Reformu____________ 91

Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 238.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

lierung nicht ungeeignet. Hinsichtlich Toulmin ist das nicht weiter erstaunlich, da er seine Theorie ausdrücklich am forensischen Modell ausrichtet. Er will ein Argumentationsschema entwickeln, »das nicht weniger kompliziert ist als das im Recht gebrauchte.«92 Dieser Fokus bringt aber eine Sichtweise mit sich, die gerade Wohlrapp als beschränkt kritisiert: »In Toulmins Schema geht es nicht allgemein um Argumentation, sondern nur um einen Teilbereich, nämlich das Begründen. Für diesen Teilbereich wird ein Muster vorgegeben. Das Muster ist nicht offen, nicht dynamisch, sondern gleichsam starr.«93 Vorliegend ist diese Kritik offensichtlich nicht zwingend. Sie lässt sich integrieren, indem die inferentielle Struktur des Schemas mit der dynamischen Theorie Wohlrapps aufgeladen wird. Genau in diesem Sinn wurden vorangehend die philosophischen Grundlagen gelegt. Sie zeigen auf, wie die Prämissen der Toulmin’schen Begründungsstruktur in einem dialogischen Argumentationsprozess entstehen und erlauben so eine dynamische Sichtweise der argumentativen rechtlichen Begründung. Was die Theorie Wohlrapps anbelangt, kann man feststellen, dass gerade die Unzulänglichkeiten der Toulmin’schen Theorie sie besonders anschlussfähig machen. Denn, weil er Toulmin zu überwinden versucht, konzipiert Wohlrapp seine Theorie äußerst umfassend. Er hält dazu fest: Könnte die Argumentationspraxis »mit einleuchtenden Gründen beschränkt werden, etwa auf das Diskutieren im Alltag, in Schulklassen oder wenigstens auf das rechtfertigende Reden über Normen in Moral, Politik und Recht, dann wäre die Aufgabe offenbar leichter. Nur denke ich, dass diese Abtrennungen künstlich wären und dass die Aspekte, die z.B. durch wissenschaftliches und philosophisches Argumentieren hinzukommen, intrinsisch zur Argumentationspraxis gehören und nur bei Strafe von Undifferenziertheit vernachlässigt werden könnten.«94 In diesem weiten Blickfeld entsteht ein argumentatives Modell, das somit vielfältig und flexibel genug ist, sich unterschiedlich kontextualisieren zu lassen. Das gilt auch für den rechtlichen Kontext, auf den Wohlrapp bereits selbst seine Theorie anwendet.95 Mit ihr sollen in den folgenden Reformulierungen die Funktion und Geltung der juristischen Argumentation erläutert werden. Das Toulmin’sche Schema möchte ich dagegen verwenden, um die inferentielle Struktur der rechtlichen Begründung aufzuklären.

____________ 92

Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 88. Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 23 f. 94 Wohlrapp, ebd., 48 f. 95 Vgl. Wohlrapp, ebd., 275–296, 399, 402, 406. 93

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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2. Die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation Die dekonstruktive Rechtstheorie hat die juristische Argumentation von der Suche nach einer gerechten, wahren oder richtigen Entscheidung entlastet, indem sie zeigte, dass sich eine solche Entscheidung teleologisch nicht ansteuern lässt.96 Das ist ein zentraler Punkt, besetzt aber die Funktion rechtlichen Argumentierens inhaltlich nicht neu. Die Wohlrapp’sche Theorie bietet jetzt eine positive Neubesetzung an. Ihrem pragmatischen Ansatz zufolge argumentieren wir, um in Praxisbereichen theoretisch neu oder besser orientiert zu sein, weil wir mit unserem bisherigen Wissen nicht weiterkommen. Das rückt die juristische Argumentation funktional in folgende Perspektive: Rechtsargumentation sucht neue Orientierung jenseits des rechtlichen Wissens. Sie bildet thetische Theorie, um bereits handlungswirksame epistemische Theorie zu verbessern oder zu ergänzen und auf diese Weise Orientierungspunkte für die Rechtspraxis bereitzustellen. Letztlich dient sie also dazu, die Gelingenssicherheit der rechtlichen Handlungspraxis zu erhöhen. Wie ist diese spezifische Orientierungsfunktion näher zu verstehen? Wissen wir, wie zu entscheiden ist, brauchen wir nicht zu argumentieren. Wenn wir etwas wissen, so könnte man anschließend an Wohlrapp formulieren, dann erklären wir und argumentieren nicht. Hier ist eher pädagogisches, nicht aber argumentatives Geschick gefragt. Beurteilt das Gericht einen Fall, in dem es einzig auf Gesetz und ständige Rechtsprechung hinweisen kann, erklärt es die Rechtslage. Erst wenn also die epistemischen Erklärungen erschöpft sind oder in die thetische Dynamik gezogen werden, müssen wir juristisch argumentieren. Das markiert zwei weitere Fragepunkte. Wie verhalten sich epistemische Erklärung und juristisches Argument präzise zueinander und wie verläuft die thetische Dynamik im rechtlichen Diskurs? Die Frage nach der thetischen Dynamik möchte ich bei der Geltung der juristischen Begründung, dagegen an dieser Stelle jene nach dem Verhältnis von Erklärung und Argument behandeln.97 ____________ 96

Siehe zum Verhältnis von Dekonstruktion, Rechtsargumentation und Gerechtigkeit Teil 1, nach Fn. 119 und weiterführend Teil 2, nach Fn. 2. 97 Neben diesen beiden Fragen noch zwei kleine terminologische Hinweise, die zum einen den Begriff der Erklärung und zum anderen jenen des Diskurses betreffen. Wohlrapp verwendet den Erklärungsbegriff, um die Genese eines Sachverhaltes von seiner Begründung zu unterscheiden, wohingegen mir dieser Begriff vor allem geeignet scheint, zu verdeutlichen, was Wohlrapp unter sog. ›pädagogischer Argumentation‹ versteht (siehe dazu Teil 2, bei Fn. 41 und zum Begriff der Erklärung Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 211–213). Der Diskursbegriff wird dagegen von Wohlrapp zugunsten des argumentativen Dialogs verabschiedet (ders., ebd., 141). Wenn in der Folge von Dialog die Rede ist, bezeichnet dies ebenfalls einen argumentativen Dialog, während Diskurs, sofern nicht weiter spezifiziert, beides erfasst: Erklärung wie Argumentation.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Die erklärende oder argumentative Exposition des Rechts stimmt zumindest in einem Punkt überein. Beides ist Zeichengebrauch der Rechtspraxis. Erklärung und Argument artikulieren holistische Zeichenbewegungen, in denen sich die Normativität des rechtlichen Kontextes konstituiert. Sie rekonstruieren ihn als normatives Sein und produzieren auf diese Weise das rechtliche Wissen. Die semiologisch gefasste Wissensproduktion lässt sich nun mit der philosophischen Argumentationstheorie weiter klären. Wohlrapp legt das Wissen, wie gesehen, aufgrund spezifischer Kriterien fest, um es insbesondere von den Doxa zu unterscheiden. Gleichwohl fasst er dann Wissen und Doxa als Episteme zusammen, was ebenfalls Wissen bedeutet. Diese wissentlichen Mehrfachbesetzungen sind jetzt wie folgt aufzulösen. Habe ich bisher davon gesprochen, dass rechtliches Wissen in holistischen Zeichenbewegungen produziert wird, bezeichnete dies, was Wohlrapp die Episteme nennt. Sich rechtliches Wissen zu erarbeiten, kann man mit seiner Terminologie somit differenzierter verstehen: Wir lernen beziehungsweise erklären vorhandene epistemische Theorie, die die rechtliche Praxis bereits orientiert oder wir forschen nach neuem normativen Wissen, indem wir argumentieren.98 Davon ausgehend lässt sich jetzt genauer zwischen Erklärung und Argument unterscheiden, indem man näher angibt, wie die rechtliche Episteme geordnet ist. Diese epistemische Ordnung ließe sich vielleicht folgendermaßen skizzieren: Zum rechtlichen Wissen gehören Rechtsinstitute wie etwa das strafrechtliche Institut des Notstandes oder das Institut der Aktiengesellschaft.99 Aber auch einzelne Rechtsprinzipien wie das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip zwischen Geschäfts- und Privatvermögen sind ihm zuzuordnen. Bekanntlich ist dieses Prinzip im Falle der Durchgriffshaftung aufgehoben, womit dieses Beispiel zugleich deutlich macht, dass ebenfalls eine gefestigte Rechtsprechung und Lehre als rechtliches Wissen qualifizieren kann. Dagegen bilden einzelne Präjudizien und Lehrmeinungen bestenfalls feste Meinungen, die (noch) nicht alle, aber doch die meisten teilen. Orientiert sich die Rechtspraxis an ihnen, wirken solche Leit- und Lehrsätze als doxaistische Theorie des rechtlichen Diskurses. Bewegt sich dieser Dis____________ 98 Bemerkenswert ist, dass die Dekonstruktion ihrerseits den Wissensbegriff bei Wohlrapp präzisiert. Rechtstheoretisch begreift sie das rechtliche Wissen als eine dynamische Struktur, die im Zeichengebrauch der Rechtspraxis selbst dann verändert wird, wenn man nicht argumentiert, sondern erklärt. Das bildet ein Produktionsmodell des Wissens (siehe Teil 1, nach Fn. 101). Bei Wohlrapp könnte man zuweilen ein (metaphysisches) Erkenntnismodell vermuten, obgleich er das Wissen ebenfalls dynamisch konzipiert und mit der Formel Sellars den »Mythos des Gegebenen« kritisiert (vgl. Teil 2, Fn. 35; Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 437). Die Dekonstruktion zeigt hier klarer, dass Wissen nie etwas Gegebenes ist, das sich identisch reproduzieren ließe. 99 Das erste Beispiel findet sich bei Wohlrapp selbst: »Notstand als Teil des Notrechts ist juristisches Wissen« (Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 402).

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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kurs im konkreten Fall somit lediglich auf den epistemischen Ebenen von rechtlichem Wissen und Doxa, wird das geltende Recht insoweit erarbeitet, als dass man es sich aneignet beziehungsweise erklärt. Die so erläuterte Unterscheidung zwischen epistemischer Erklärung und rechtlicher Argumentation macht auf zwei Besonderheiten des rechtlichen Diskurses aufmerksam: Erstens gerät mit ihr etwas in den Blick, was in der juristischen Methodologie gewöhnlich kaum beachtet wird. Nämlich, dass es eine Vielzahl von Standardfällen gibt, die von der Rechtspraxis anders bearbeitet werden, als jene, in denen sich ein echtes juristisches Problem stellt. Erst ›echte‹ Probleme verlangen Wohlrapp zufolge nach neuer Orientierung, die in einer Argumentation herauszubilden ist. In zahlreichen Fällen vor allem erster Gerichtsinstanzen genügen indessen rechtliche Erklärungen, die heutzutage sogar teilweise von Computerprogrammen vorformuliert werden. In der etwas konventionelleren Variante sind sie in den sog. ›Textbausteinen‹ der Gerichte enthalten, die die gängigen Urteile, Definitionen und theoretischen Konzepte zu einem Gesetzesartikel angeben. Auf der anderen Seite erhellt die rechtliche Perspektive einen Punkt in der Wohlrapp’schen Theorie, den dieser nicht klar thematisiert. Neue Orientierung kann auch ›Orientierung im Wissen‹ bedeuten. Man weiß zum Beispiel, dass es eine Gesetzesnorm oder ein Rechtsprinzip gibt, doch unklar ist, was diese im konkreten Fall bedeuten.100 In solchen Fällen muss die Argumentation thetische Orientierungspunkte setzen, die ermöglichen, sich im rechtlichen Wissen zu orientieren. Mit Wohlrapp ließe sich hier von ›kleiner Forschung‹ sprechen.101 Die Bedeutung solch kleiner Forschung im Recht wird von ihm allerdings verkürzt, wenn er »geltendes Recht« schlicht als »normatives Wissen« bestimmt.102 Oftmals konstruieren erst kleine Rechtsargumentationen die nötige thetische Theorie, um sich im geltenden Recht fallbezogen orientieren zu können. Darin zeigt sich die spezifische Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation. Orientierung durch juristische Argumentation hat aber nicht ausschließlich und auch nicht notwendigerweise diesen fallbezogenen Aspekt. Sie ist gemäß der dekonstruktiven Rechtstheorie eine Rekonstruktion des Rechts beziehungsweise verbindet nach der philosophischen Argumentationstheorie thetische Theorien mit einer epistemischen Basis.103 In diesen Bezügen auf epistemische Strukturen des Rechtskontextes geht sie jedenfalls über den Einzelfall hinaus. Das fallüberschreitende Moment rechtlichen Argumentie____________ 100 Die Bedeutung kann auch geklärt, aber umstritten sein. So etwa wenn ein Präjudiz die Rechtsfrage zwar klärt, aber in der thetischen Dynamik angezweifelt wird (zur Argumentationslage in der thetischen Dynamik des Rechts Teil 2, nach Fn. 110). 101 Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 116 f. 102 Wohlrapp, ebd., 97. 103 Teil 1, bei Fn. 92, 103 und Teil 2, bei Fn. 40.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

rens verdoppelt sich sogar, wenn nicht mit Blick auf einen konkreten Fall, sondern metakasuistisch argumentiert wird. Dieser Form der Argumentation entspricht typischerweise die Theoriebildung in der Rechtslehre. In ihr wird dann theoretisch ein Ausschnitt der Rechtspraxis reflektiert, der größer ist als der einzelne Fall. Rechtsargumentation bildet thetische Theorie, um die bereits handlungswirksame epistemische Theorie des Rechts zu verbessern oder zu ergänzen und so Orientierungspunkte für die rechtliche Praxis bereitzustellen. Diese pragmatische Verschiebung der juristischen Argumentation dürfte nun einigermaßen verständlich sein. Auf ihre spezifische Orientierungsfunktion wird wie gesagt bei der Geltung der juristischen Begründung zurückzukommen sein, wo ich die thetische Dynamik im rechtlichen Diskurs kurz bespreche. Zunächst soll aber die Inferenzstruktur der juristischen Begründung genauer betrachtet werden. 3. Die Inferenzstruktur der juristischen Begründung Eine Begründung hat bei Toulmin vier Strukturelemente: Datum, Schlussregel und Stützung sowie Konklusion. Er ordnet sie in seinem Schema so an, dass die Konklusion aus Datum und Schlussregel folgt, während die Stützung dazu dient, diese Übergangsregel abzusichern. Die Unterscheidung von Datum und Schlussregel liest er ausdrücklich an jener zwischen Tatsachenund Rechtsfragen ab.104 Das weist bereits darauf hin, wie die juristische Begründung zu strukturieren ist. So werde ich das Datum hier als Sachverhalt bezeichnen. Entscheidend scheint mir allerdings, Schlussregel und Stützung spezifisch auf den rechtlichen Kontext abzustimmen. Meine Interpretation des Toulmin’schen Schemas fokussiert seinen Aufbau somit auf die juristische Begründung, behält aber seine grundlegenden Strukturelemente bei. Mit Blick auf die juristische Begründung möchte ich das Schema so umbauen, dass ich anstelle der Schlussregel den Normtext des Gesetzes oder der bisherigen Präjudizien setze, dessen Bedeutung falls nötig im Diskussionsfeld der Stützung rechtlich erklärend oder argumentativ festgelegt wird. Anders als bei Toulmin wird dadurch die Schlussregel in der Begründungsstruktur zugunsten der Stützung schematisch verflacht. Sie erscheint nicht mehr als eigenes Feld, sondern nur noch als Übergang zwischen Sachverhalt und Konklusion (S→K). Im rechtlichen Diskurs kann sich dieser Übergang (→) von einem Sachverhalt zu einer rechtlichen Konklusion auf epistemische Erklärungen oder juristische Argumente stützen. Insgesamt ergibt das für die juristische Begründung die folgende inferentielle Struktur:

____________ 104

Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 91.

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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K (Konklusion)

S (Sachverhalt)

N (Normtext)

RD (Rechtsdiskurs)

Wie wäre das Schema für juristische Erklärung und Argument zu spezifizieren? Erfolgt die Begründung als rechtliche Erklärung, dann verbindet epistemische Theorie den Sachverhalt (S) mit einer rechtlichen Feststellung (F). Der Schluss (S→F) begründet sich also durch den Normtext (N) und seine rechtliche Erklärung (RE). Liegt dagegen eine Rechtsargumentation vor, ermöglicht eine gültige thetische Konstruktion von einem Sachverhalt (S) auf eine These (T) zu schließen. Der Schluss (S→T) begründet sich dann in der auf den Normtext (N) bezogenen Rechtsargumentation (RA). Entgegen dem Schema von Toulmin ist die Struktur des so erläuterten Schemas für den argumentativen Dialog offen. Für den Fall der Rechtsargumentation ist das offensichtlich, aber auch die epistemische Erklärung kann jederzeit in einen argumentativen Dialog umschlagen, wenn sie in die thetische Dynamik gerät. In ihren Grundzügen ist damit die inferentielle Struktur der juristischen Begründung nachvollzogen. Etwas näher begründen und ausführen möchte ich jetzt noch das Feld des Normtextes (N) als Medium des rechtlichen Diskurses. In der gegebenen Darstellung der juristischen Begründungsstruktur fällt sogleich die vorgerückte Position des Normtextes auf. Das zeichnet zuerst einmal die Rekonstruktion des Rechts nach, die den Text von Gesetzen und Präjudizien bereits als stabilen Bezugspunkt der juristischen Argumentation verständlich machte.105 Mit der philosophischen Argumentationstheorie lässt sich das nun pragmatisch verdeutlichen, indem man die zentrale Stellung des Normtextes als rechtliches Wissen des Rechtskontextes versteht: Die in Gesetzen und Präjudizien vertexteten Normen sind die epistemischen Orientierungspunkte des Rechtsdiskurses. Das zeigt sich darin, dass eine juristische Begründung gewöhnlich daran ansetzt, eine Schlussfolgerung mit dem ____________ 105

Teil 1, bei Fn. 123.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

epistemischen Hinweis auf den Gesetzestext oder ein Präjudiz zu erklären: »Das gilt, weil es im Gesetz steht« beziehungsweise »Das gilt, weil das Präjudiz es so bestimmt«. Der Normtext bildet somit zunächst ein Medium für rechtliche Erklärungen. Solche Erklärungen sind jedoch nicht in jedem Falle hinreichend. »Das kann man mit guten Gründen auch anders lesen«, vernimmt sich die Ouvertüre zur thetischen Dynamik, in der die auf einen Normtext gestützte epistemische Erklärung angezweifelt wird. Diesfalls zeichnet sich also vor dem epistemischen Hintergrund der vorhandenen Normtexte ein argumentatives Problem ab. Handelt es sich tatsächlich um ein juristisches Problem, setzt dann ein argumentativer Dialog ein. Man kann ihn in zwei grundlegende thetische Formen unterteilen: die Auslegung des Rechts und seine Fortbildung. Im ersten Fall geht es um die bereits erläuterte ›Orientierung im Wissen‹ eines Gesetzes oder Präjudizes. Dagegen behauptet die Argumentation, die nicht an den Gesetzestext oder ein bisheriges Präjudiz anschließt, eine Wissens-lücke. Auslegung und Rechtsfortbildung bleiben somit stets auf die Normtexte bezogen. Man kann deshalb diese Texte – anschließend an Luhmann – jetzt als das einheitliche Medium der juristischen Argumentation bezeichnen. »Die Schriftform des Textes garantiert nicht unbedingt Grenzen der Kühnheit des Interpretierens, wohl aber die Einheit des sozialen Zusammenhangs einer kommunikativen Episode. Sie konstituiert ein soziales Medium für das Gewinnen neuer Formen, nämlich guter Gründe für eine bestimmte Auslegung des Textes.«106

In der juristischen Begründungsstruktur verweist das Feld ›Rechtsdiskurs‹ somit auf den Normtext als Medium für rechtliche Erklärungen oder rechtliche Argumente. Der explikative Diskurs erläutert, wie von einem Sachverhalt zu einer rechtlichen Feststellung übergegangen werden kann. Dagegen soll der argumentative Diskurs mit guten Gründen klären, welche thetischen Übergänge sich mit dem vorhandenen Normtext konstruieren lassen. 4. Die argumentative Geltung der juristischen Begründung Eine gültige Begründung ermöglicht gemäß der erläuterten Inferenzstruktur, von einem Sachverhalt zu einer rechtlichen Konklusion überzugehen. Stützt sich dieser Schluss auf eine rechtliche Argumentation, ist er dann gültig, wenn auch diese Argumentation gilt. Wann gilt somit die rechtliche Argumentation? Auf den ersten Blick einleuchtend scheint die Idee, sich Habermas anzuschließen und diejenige Argumentation als gültig auszuzeichnen, der allein aufgrund des »zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes« zu____________ 106

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 364.

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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gestimmt werden muss.107 Gemäß dieser Philosophie ist Argumentation also funktional auf Konsens ausgerichtet. Namentlich Robert Alexy hat dann die juristische Argumentationstheorie danach konzipiert.108 Dagegen ist in der philosophischen Argumentationstheorie von Wohlrapp das Argumentieren auf Orientierung ausgelegt. Ausgehend von seinem pragmatischen Ansatz zeigt er, weshalb Zustimmung kein zweckmäßiges Geltungskriterium einer orientierungsbildenden Argumentation sein kann.109 Rational kann ihm zufolge neue Orientierung nur gebildet werden, indem man die theoretische Erreichbarkeit einer These dialogisch komplettiert. Die thetische Konstruktion muss sich einem argumentativen Dialog stellen und sämtliche Einwände, die in ihm gegen sie vorgebracht werden, widerlegen oder integrieren. Gelingt das, liegt eine einwandfreie und somit gültige Argumentation vor. Ist eine rechtliche Konklusion argumentativ gestützt, hängt ihre Geltung von jener der Argumentation ab. Argumentative Geltung wird zum zentralen Punkt. Interessant ist so die Frage, was es für die juristische Argumentation bedeutet, wenn man das von Wohlrapp entwickelte Geltungskonzept auf sie abbildet. Im Ansatz ist klar, damit für das Geltungskriterium nachzuvollziehen, was als die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation herausgearbeitet wurde. Diese zielt jener pragmatischen Verschiebung zufolge nicht mehr auf Gerechtigkeit oder Richtigkeit. Ihr Fluchtpunkt ist nicht Legitimität oder Legalität, sondern Orientierung. Funktional entsprechend ist ihre argumentative Gültigkeit zu gestalten. Dass sich das argumentative Ergebnis legitimieren ließe, weil man ihm zustimmen könnte, ist demnach für seine Geltung nicht entscheidend. Da wir im thetischen Dialog nicht wissen, ob eine Orientierung verlässlich ist, benötigen wir vielmehr ein Kriterium für thetische Geltung, das eine kritisch geprüfte Orientierung widerspiegelt. Und das ist: Einwandfreiheit relativ zum rechtlichen Argumentationsstand. Woher kommen die kritischen Einwände, die eine rational geprüfte These ermöglichen? Wohlrapp bringt die Antwort auf den Begriff der Transsubjektivität. Ich habe vorgeschlagen, sich in dem Konzept mit der Unterscheidung von zeitlicher und räumlicher Selbstdistanzierung zu orientieren. Eine These wird anhand der eigenen Geschichte kritisiert beziehungsweise in den Raum der Kritik gestellt. Für eine rechtliche These liegt nahe, die Rechtsgeschichte als zeitliche und die Rechtsvergleichung als räumliche Distanzierung zu betrachten. Das ist nicht falsch, erfasst aber die dialogische Selbstdistanzierung im Rechtskontext nur teilweise. So besetzen insbesondere auch Rechtsprechung und Lehre sowie die an einem Verfahren beteiligten Parteien den kritischen Raum. Beispielsweise richtet sich ein Gericht nach der höchstge____________ 107

Habermas, Wahrheitstheorien, 240. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. 109 Teil 2, nach Fn. 70. 108

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

richtlichen Rechtsprechung aus. Diese Rechtsprechung wird aber vielleicht in einem wissenschaftlichen Aufsatz kritisiert oder die Verfahrensparteien bringen Argumente gegen sie vor. All diese Momente von Transsubjektivität reichern den rechtlichen Dialog mit Argumenten an, die eine kritische Prüfung der These ermöglichen. Aus dem Blickwinkel einer pragmatisch konzipierten Rechtsargumentation ist nun entscheidend, dass sie die Reflexion all dieser Argumente normativ verlangt. Oder in der Formulierung der Ausgangspunkte: Die juristische Argumentation hat den gesamten normativen Relevanzhorizont einer Entscheidung zu berücksichtigen.110 Einwandfreie thetische Theorien führen einen gültigen Geltungsanspruch mit sich. Sie gelten als Orientierung für praktisches Handeln. Entwickelt ein Gericht etwa eine gültige Auslegung eines Gesetzesartikels, kann sich die Praxis für weitere Fälle an ihr orientieren. Geschieht das, wird diese Auslegung zum epistemischen Orientierungspunkt in der rechtlichen Normativität. Versucht man einen Fall mit ihr zu erklären, ist es allerdings wie bei einem Hinweis auf einen Normtext möglich, dass die thetische Dynamik einsetzt: »Das kann man auch anders lesen«. Allein deswegen schlägt der rechtliche Diskurs indes noch nicht in einen argumentativen Dialog um. Leere Zweifel machen epistemische Theorie nicht thetisch. Es genügt also nicht, wenn eine Rechtsschrift eine Rechtsprechung zu einem bestimmten Gesetzesartikel als unzweckmäßig kritisiert. Das Präjudiz verliert dadurch weder seine Geltung noch muss diese argumentativ gestützt werden. Die Argumentation beginnt erst, wenn die andere Lesart ›gute Gründe‹ vorbringt, sie den rechtlichen Argumentationsstand also um zumindest ein neues Argument erweitert. Der Zweck an und für sich ist, wie gezeigt, kein Argument. Er ist eine flüchtige Instanz, die selbst argumentativ zu erörtern ist.111 Ein neues Argument entfaltet die thetische Dynamik; das Argument muss jetzt wie die epistemische Theorie im rechtlichen Dialog geprüft werden. Darin zeigt sich eine Erweiterung der Orientierungsfunktion des rechtlichen Argumentierens. Rechtsargumentationen bilden nicht nur thetische Theorie, sondern prüfen ebenfalls die epistemischen Orientierungspunkte der Rechtspraxis. Sie stellen also die Frage, ob die bisherige Orientierung weiterhin als verlässlich gelten kann. Geltung wird im Recht durch diese jederzeit mögliche Infragestellung indessen nicht relativistisch. Relativität bezüglich eines Argumentationsstandes impliziert, wie Wohlrapp deutlich macht, eben keine relativistische Geltung, wenn man ein neues Argument verlangt, um sie hinterfragen zu können. Eine so konzipierte Geltung ist dann nicht beliebig, sondern zeitlich. Ihre Geltungszeit nimmt in den Blick, dass da immer noch Argumente kommen werden. Argumente, von denen wir noch nichts wissen, ____________ 110 111

Teil 2, nach Fn. 2 sowie bei Fn. 68. Teil 1, nach Fn. 99.

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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für die aber der argumentative Dialog offen zu halten ist. Neue Argumente sind somit, in den Worten Derridas, die »Zu-kunft« des Rechts.112 Und entsprechend formuliert Luhmann für die bisherigen: »Die letzten Gründe sind immer nur vorletzte Gründe.«113 5. Argumentformen des eigenen Rechts Eine juristische Entscheidung, die sich auf den Normtext stützt, weist für ihren Geltungsanspruch einen epistemischen Grund aus. In allen Fällen ist dieser Normbezug ein notwendiger, hingegen nur in wenigen auch ein hinreichender Grund für eine juristische Begründung. Denn vielfach begründen die Normtexte gerade jene thetische Dynamik, die sich in der bereits erwähnten Formulierung ankündigt: »Das kann man mit guten Gründen auch anders lesen«. Lässt sich dann nicht erklären, weshalb diese andere Lesart unbegründet ist, besteht ein juristisches Problem. In solchen Fällen wird der Normtext zum Medium der juristischen Argumentation und in dieser ist zu klären, was der Normtext bedeutet. An welcher Lesart soll die Entscheidung eines Gerichts sich orientieren? Sowohl die Rechtsprechung wie die Rechtslehre können auf diese Frage hin eine neu orientierende, thetische Theorie erarbeiten. Eine gültige thetische Orientierung muss gute Gründe beanspruchen können. Überlegen wir, was das Recht als guten Grund anerkennt, fragen wir danach, was ein rechtliches Argument ist. Das lässt sich nicht losgelöst von der Frage, was Recht ist, beantworten.114 Der erste Teil hat allerdings nahegelegt, dass wir davon absehen sollten, nach einer wirklichen Definition des Rechtsbegriffs zu suchen. Wittgenstein hat den dafür ausschlaggebenden sprachphilosophischen Punkt im Blue Book markiert: »Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ›Definition‹ haben.«115

Der Begriff des Rechts wurde deshalb als ein Zeichen beschrieben, das seine Bedeutung aus dem spezifischen Kontext erhält, auf den sein Gebrauch verweist. Recht erscheint als ein Rechtskontext, der sich im Zeichenge____________ 112

Derrida, Gesetzeskraft, 56 und dazu Teil 1, bei Fn. 118. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 406. 114 So zutreffend Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, 16. Zu dieser Frage nach dem maßgeblichen Rechtsbegriff gelangt man auch über jene nach den Quellen des Rechts. Werden alle rechtlichen Gründe als Rechtsquellen im weiteren Sinne bestimmt (so Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 59), ist ein Zirkelschluss zwischen rechtlichem Argument und Rechtsquelle nur zu vermeiden, indem man angibt, was Recht ist. 115 Wittgenstein, Das Blaue Buch, 49 und eingehend Teil 1, bei Fn. 106. 113

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

brauch der Rechtspraxis ausbildet und sich auf diese Weise stetig verändert. Dabei gestaltet sich rechtliches Argumentieren als eine Form dieses Zeichengebrauchs. Lässt sich aus dieser Beschreibung nun ableiten, was ein rechtliches Argument ist? Eben nicht in dem Sinne, als dass man seinen Begriff definieren könnte. Sie gibt aber einen Hinweis, indem sie das Recht als einen praktischen historischen Kontext verständlich macht. Diesen Rechtskontext kann man dann auf Argumentformen hin beobachten, die sich in den Kontinuitäten seines Zeichengebrauchs konventionalisieren.116 Der Rechtskontext wird so zum Lebensnerv der Argumente. Erneut mit Wittgenstein: »Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems [sc. Kontextes]. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente.« 117

Der für den vorliegenden Entwurf maßgebliche europäische Rechtskontext wurde schon mehrfach hinsichtlich seiner rechtlichen Argumentformen untersucht.118 Die umfassendste Untersuchung zur Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent stellt diesbezüglich zwar große Unterschiede in der wissenschaftlichen Benennung und Einteilung der Kriterien, Methoden, Elemente oder Kanones fest, mit denen die Gerichte argumentieren. Gleichwohl erkennt sie eine fundamentale Einheit in der gerichtlichen Praxis: »Insgesamt berücksichtigen die Gerichte in allen untersuchten Rechtsordnungen unabhängig von den verschiedenen Klassifizierungen den Wortlaut, die Geschichte, den systematischen Zusammenhang und den Zweck der zu interpretierenden Norm. Darüber hinaus werden überall außergesetzliche Wertungsmaßstäbe herangezogen.«119

____________ 116

Teil 1, bei Fn. 103. Wittgenstein, Über Gewißheit, Rn. 105. Die Untersuchung bestimmt an dieser Stelle somit die juristischen Argumente, obwohl sie die Grenzen des Systems, das die Argumente konstituiert, nicht bestimmen kann. Sie macht sich dadurch das Wittgenstein’sche Paradox zu eigen, unser System oder Weltbild, wie er auch sagt, als bestimmend und unbestimmt zugleich anzunehmen (Gamm, Flucht aus der Kategorie, 140). Man kann diese Paradoxie wie folgt auf den Punkt bringen: Unsere Rechtspraxis findet Halt im Haltlosen, Grund im Grundlosen. 118 Siehe insbesondere Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I–III; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I–II; Hager, Rechtsmethoden in Europa; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode. 119 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. II, 1255 und insgesamt 1254–1261, 1294–1308. 117

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Mit außergesetzlichen Wertungsmaßstäben fasst die Untersuchung Folgen-, Vernunft- und Gerechtigkeitsüberlegungen zusammen.120 Diese Kategorie lässt sich aufgrund einer weiteren Studie noch differenzieren. Legt man die zweite Studie über die vorangehende, fügt sie ihr logische Argumente hinzu, als die sie die speziellen Schlussformen des Umkehr-, Erst-Recht- und Analogieschlusses sowie die Sätze vom Widerspruch ansieht. Überdies erwähnt sie dogmatische Argumente als die Sachargumente einer Theorie.121 Daran anschließend will ich dogmatische Argumente in der Folge als theoretische Argumente bezeichnen, um so ein weites Dogmatikverständnis anzudeuten, das sich sowohl für das Civil law wie auch das Common law vertreten lässt. Ein Beispiel für eine solche theoretische Argumentation wäre der einleitend zitierte Fall Greatorex v. Greatorex, in dem das Gericht sein Argument aus dem Selbstbestimmungsrecht ableitet.122 Die zweite Studie unterscheidet darüber hinaus zwischen Autoritäts- und Sachargumenten. Als Autoritätsargumente betrachtet sie das Gesetz sowie seine gängigen Interpretationen geformt in Präjudizien oder herrschende Meinungen.123 Dahingegen lassen sich zusammen mit der ersten Studie als Sachargumente verstehen: der Wortlaut, die Geschichte, der Zusammenhang und der Zweck des Gesetzes sowie die soeben beschriebenen außergesetzlichen Wertungsmaßstäbe. Natürlich ließe sich die so gewonnene Übersicht zu den Argumentformen des eigenen Rechts nun erneut differenzieren. Insbesondere wäre zu untersuchen, ob sie auf Gesetz und Präjudiz als bindende Normen gleichermaßen anwendbar sind oder inwieweit im Common law von theoretischen Argumentationen gesprochen werden kann.124 Für den vorliegenden Entwurf ist es jedoch nicht erforderlich, all diese Differenzierungen aufzuzeigen. Es genügt eine historisch verlässlich abgestützte Landkarte der juristischen Argumentformen im eigenen Recht mit den Kategorien: Wortlaut, Geschichte, Zusammenhang, Zweck und außergesetzliche Wertungsmaßstäbe.

____________ 120

Vogenauer, ebd., 1260. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 544 f. und insgesamt 536–545. Die Grundsätze der Gesetzeskonkurrenz, die Fischer ebenfalls zu den logischen Argumenten zählt, erfasst Vogenauer über den Begriff des Zusammenhangs (vgl. Fischer, ebd., 545 und Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. II, 1257). 122 Einleitung, bei Fn. 2. 123 Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 543 f. 124 Dazu demnächst Martin Flohr, Rechtsdogmatik in England. 121

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

IV. Pragrammatologie der juristischen Argumentation Mit den eben nachgezeichneten Argumentformen sind die Reformulierungen der juristischen Argumentation abgeschlossen. Die Frage nach der Funktion, Struktur und Geltung in der Rechtsargumentation zum einen, sowie ihren grundlegenden argumentativen Instrumenten zum anderen sind für die weitere Untersuchung hinreichend geklärt. Was zu tun bleibt, ist die einzelnen Theorieteile, die bis dahin zur rechtlichen Argumentation erarbeitet wurden, miteinander zu verbinden. Das stellt folgende Aufgabe. Im ersten Teil habe ich das rechtliche Argumentieren ausgehend von der Philosophie der Dekonstruktion untersucht. Diese theoretischen Erörterungen basieren auf der Zeichentheorie, wie sie Derrida in seinem Leittext der Grammatologie programmatisch formulierte. Die theoretische Perspektive des aktuellen Teils beruht dagegen auf den pragmatischen Grundlagen der modernen philosophischen Argumentationstheorie sowie den argumentativen Strukturen eines spezifischen Rechtskontextes. Die in diesem verwendeten Argumentformen sowohl mit den pragmatischen wie den zeichentheoretischen Konzepten zusammenzudenken, wäre somit das Programm der Theorienverbindung. Man könnte es – angelehnt an einen Neologismus Derridas – als Pragrammatologie der juristischen Argumentation bezeichnen.125 Ich will dieses Programm hier knapp verfolgen, indem ich die einzelnen rechtlichen Argumentformen kurz kommentiere. Ausgehend vom pragmatischen Theorieverständnis bei Wohlrapp kann man die Argumentformen des Rechtskontextes zunächst als Orientierungsinstrumente der Rechtspraxis verstehen. Sich mit ihnen rational zu orientieren, verlangt jedoch, die grammatologischen Grenzen zu beachten, die ihnen als flüchtige Instanzen des Normsinns gezogen sind: Zweck, Zusammenhang, Geschichte oder außergesetzliche Wertungsmaßstäbe sind in einem argumentativen Dialog derart zu rekonstruieren, dass sie in ihren konkreten rechtlichen und tatsächlichen Bezügen sichtbar werden. Für die Gerechtigkeit hingegen, die im Rechtskontext auch als Rechtsargument fungiert, gilt anderes. Im Gegensatz zu den anderen flüchtigen Instanzen lässt sie sich gemäß der Dekonstruktion nicht argumentativ aufschlüsseln. Sie fordert die Normativität heraus und bildet folglich kein argumentatives Instrument, sich in ihr zu orientieren.126 An der dekonstruktiven Gerechtigkeit lässt sich ferner ablesen, dass mit den verschiedenen rechtlichen Argumentformen auch nicht (mehr) nach der gerechten, rechtmäßigen oder richtigen Entscheidung ____________ 125

Siehe Derrida, Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, 174. Damit ließe sich auch verstehen, weshalb Derrida die Gerechtigkeit nicht als regulative Idee im Sinne Kants verstehen möchte, an der man sich handlungsleitend orientieren kann (Derrida, Gesetzeskraft, 53). 126

B. Strukturen der juristischen Argumentation

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gesucht werden sollte. Anzusteuern ist mit ihnen – nun wieder pragmatisch – bloß die thetisch vernünftig orientierte Entscheidung.127 Die Konturen des pragrammatologischen Argumentationskonzepts lassen sich nun besonders über die im Rechtskontext verwendeten Autoritätsargumente schärfen. Ich werde die mit diesem Begriff aktualisierten Probleme in einem ersten Schritt anhand der Wohlrapp’schen Theorie kurz vorzeichnen und dann in einem zweiten Schritt pragrammatologisch vertiefen. Wohlrapp qualifiziert Autoritätsargumente nicht als inhaltliche Argumente, sondern als halbformale Konstruktionselemente von thetischen Theorien.128 Autoritäten sind ihm somit, knapp gesagt, Form und nicht Inhalt. Damit fragt sich für die rechtlichen Autoritäten von Gesetz, Präjudiz und herrschender Meinung, wieweit der Argumentbegriff hier inhaltlich noch trägt. Inwiefern haben die autoritativen Formen in der rechtlichen Argumentation auch eine inhaltlich argumentative Kraft? Die Antwort: Weder Gesetz, Präjudiz noch herrschende Meinung konstituieren als Autoritäten im rechtlichen Diskurs eine inhaltlich argumentative Kraft; sie erhalten ihre normative Kraft ausschließlich aus den einzelnen Sachargumenten. Oder noch kürzer: Sie sind Autoritäten, aber keine Autoritätsargumente. Ich will diese Antwort jetzt, wie angekündigt, noch erweitern. Betrachten wir zuerst die Autorität des Normtextes verstanden als Normbindung durch Gesetze und Präjudizien. Seine Autorität ist zweigeteilt: Der Normtext bildet zum einen den autoritativen Bezugspunkt des rechtlichen Diskurses, zum anderen hat sein Wortlaut selbst eine spezifische Autorität. Als zentraler Orientierungspunkt ist seine Autorität epistemisch begründet: Dass wir im eigenen Recht aus der Tatsache eines gesetzten Normtextes auf seine Geltung schließen und ihm damit eine verbindliche Autorität zuerkennen, gehört zum rechtlichen Wissen. Die Erklärung für diesen Schluss (Demokratieprinzip, Rechtssicherheit etc.) ist uns derart vertraut, dass wir gar nicht an einen naturalistischen Fehlschluss denken – den sie auch tatsächlich ausschließt. Man kann also die Praxis erklären, warum wir einer Norm zu folgen versuchen, wie erläutert aber nicht die Entscheidung begründen, der Norm zu folgen. Die Praxis, eine rechtliche Entscheidung erst einmal autoritativ mit dem Normtext zu erklären – in der typischen Form »Das gilt, weil der Normtext es vorsieht« –, hat also gute, jedoch nicht letzte Gründe für sich. Die letzten Gründe vernehmen wir nur als Nachhall der nicht endenden

____________ 127 Siehe insgesamt Teil 1, bei Fn. 99, bei/in Fn. 118 (Dekonstruktion) sowie Teil 2, bei Fn. 90, 96 (Argumentationstheorie). 128 Gleiches gilt für die logischen Argumente, die er als formale Konstruktionselemente einordnet (vgl. insgesamt Teil 2, nach Fn. 51).

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Frage des Warum, in der die unendliche Überforderung des Rechts durch die Gerechtigkeit sich manifestiert.129 Die verbindliche Autorität des Normtextes zeigt sich also zunächst darin, dass der rechtliche Diskurs auf ihn bezogen ist und mit ihm einsetzt. Gibt es aber auch eine spezifische Autorität seines Wortlautes? Ja, eine pragmatische Autorität, die sich folgendermaßen erläutern lässt: Die autoritative Erklärung »Das gilt, weil der Normtext es vorsieht« kann man bekanntlich mit guten Gründen oftmals bezweifeln, weil die einzelnen juristischen Sachargumente mehrere Lesarten eröffnen. In ganz seltenen Fällen gestattet allerdings die Sachargumentation einzig aus dem Wortlaut pragmatisch sinnvolle Argumente für eine bestimmte Lesart. Das heißt, es lassen sich gegen eine rein wörtliche Lesart keine Einwände bilden, ohne den Normtext als Orientierungsinstrument des eigenen Rechts grundsätzlich zu hinterfragen. In diesen Situationen fallen also autoritative Kraft des Normtextes und inhaltliche Kraft des Wortlautarguments zusammen.130 Doch auch hier darf man sich nicht täuschen lassen. Ohne ein transzendentales Signifikat kann eine solche pragmatische Autorität keine eindeutige Bedeutung des Textes erzwingen, mit der sie den eigenen rechtlichen Diskurs vor anderen abschließen könnte. Immerzu verbleibt Raum für andere Diskurse und Lesarten – für soziologische, philosophische, politische, literarische, psychoanalytische etc.131 Die pragmatische Autorität des Normtextes hebt also den grammatologischen Aspekt des Rechts nicht auf, verleiht ihm aber einen anderen Akzent. Nach dieser Pragrammatologie liest ihn der begründende Rechtsdiskurs als geltendes Recht und nicht als Gedicht oder Roman, weil er diese anderen Lesarten letztgültig ausschließen könnte, sondern um nicht von vornherein die Orientierung zu verlieren. Und um diese Orientierung in den Normtexten zu erlangen, verwendet er dann die rechtlichen Argumentformen. Rational kann die Orientierung mit diesen spezifisch rechtlichen Lesarten allerdings nur sein, wenn man in Rechnung stellt, dass sie sich letztlich von jenen anderen Lesarten nicht abgrenzen lassen. Dass also die philosophischen, politischen, soziologischen oder psychoanalytischen Lesarten in den Kontext des ____________ 129 Zur Frage des Warum als Forderung der Gerechtigkeit sowie zur Unmöglichkeit, die rechtliche Entscheidung begründen zu können, ausführlich Teil 1, bei Fn. 128; zum Problem von naturalistischem Fehlschluss und Autorität Einleitung, bei Fn. 27 und Teil 1, bei/in Fn. 97. 130 Vielfach ermöglichen und ergeben die Sachargumente jedoch divergierende Resultate, weil der Normtext unter teleologischen, historischen, wörtlichen oder systematischen Gesichtspunkten verschieden gelesen werden kann. Diese divergierenden Lesarten sind dann aber inhaltlich und nicht autoritativ zu koordinieren. Historisch-vergleichend zu dieser Vorrangproblematik im europäischen Rechtskontext Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. II, 1261–1294. 131 Teil 2, bei Fn. 1.

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Rechts hineinreichen.132 Die Pragrammatologie der rechtlichen Argumentation erhält sich also einen kritischen Abstand zur Rechtspraxis, in den sie neue Theorien des Rechts einsetzt, die dann Fragen wie die folgende ermöglichen: Ist es wirklich rational, wenn sich eine folgenorientierte Rechtsargumentation einzig ökonomisch ausrichtet?133 Gegenüber der Autorität des Gesetzes heben sich im Civil law das Präjudiz und die herrschende Meinung nun folgendermaßen ab. Klar ist zunächst, dass sie nicht im selben Maße wie das Gesetz epistemisch gesichert sind. Sie verfügen nicht über dieselbe zentrale Autoritätsposition im rechtlichen Diskurs, sind vielmehr auf das Gesetz bezogen. Das reformulierte Toulmin’sche Schema macht diesen Zusammenhang augenfällig. Präjudiz und herrschende Meinung stellen im Gegensatz zum Gesetzestext somit nie selbst ein Sachargument dar; vielmehr integrieren sie Sachargumente. So gesehen lässt sich ihre Autorität in der thetischen Dynamik leichter hinterfragen. Ihre insoweit untergeordnete Position hat freilich die Pointe, dass ihr Geltungsanspruch in der thetischen Dynamik letztlich stabiler ist als jener des nackten Gesetzeswortlautes. Sie können eben sämtliche Sachargumente integrieren und weisen diesfalls für ihre Geltung einen wesentlich differenzierteren rechtlichen Argumentationsstand auf. – Eine gefestigte Rechtsprechung argumentativ zu widerlegen, ist nicht leicht. Denn neue Argumente kann sie möglicherweise ebenfalls integrieren und so ihre argumentative Geltung behaupten. Ein wichtiger Punkt bleibt dieser pragrammatologischen Skizze entlang der Argumentformen des Rechtskontextes noch hinzuzufügen. Der erste Teil des Entwurfs hat die Normativität des Rechts gegenüber dem Positivismus grammatologisch ausgeweitet. So rückten namentlich systematische, historische, rechtsvergleichende und theoretische Argumente in den Blick. Diese Erweiterung der Normativität erhält nun mit dem Stichwort ›Orientierung‹ ihr eigenes normatives Fundament in der Pragmatik. Sie formuliert demnach das entscheidende Argument, warum die praktischen Argumentationsstrukturen des eigenen Rechts auch eine normative Bedeutung haben sollen. Mit den soeben gemachten Einschränkungen sind die Argumentformen des eigenen Rechts nämlich deshalb zum normativen Relevanzhorizont einer Entscheidung zu rechnen, weil sie die Rechtspraxis zwar nicht perfekt, aber so rational wie möglich orientieren. Zuletzt repräsentieren sie insgesamt somit eine Theorie der juristischen Argumentation, die das rechtliche Argumentie-

____________ 132

Derrida, Gesetzeskraft, 57 f. und eingehend Teil 1, bei Fn. 120. Entsprechend lesenswert: Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts; Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des Rechts. 133

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

ren im eigenen Recht als einen sachhaltigen und kritischen Dialog reformuliert.134

C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation Das theoretische Ganze einer Struktur der juristischen Argumentation ist damit soweit zusammengesetzt, um einige weitere Probleme der rechtsvergleichenden Argumentation lösen zu können. Im ersten Teil hatte sich gezeigt, dass das eigene Recht die Normen des anderen Rechts konstitutiv impliziert. Rechtsvergleichend zu argumentieren, bedeutet demnach also, die implizite Normativität des anderen im eigenen Recht wieder sichtbar zu machen. Die zentrale Frage einer Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation lässt sich daher auch so angeben: Wie macht man die implizite Normativität des anderen im eigenen Recht explizit? Die Explikation des Impliziten ist somit das Thema für die folgende Strukturierung der rechtsvergleichenden Argumentation. Diese Strukturen haben erkenntlich zu machen, warum und wie die im eigenen Recht erloschenen normativen Spuren des anderen Rechts nachvollzogen werden sollten. Angesprochen ist damit zum einen das Problem der normativen Normativität, zum anderen das Problem der Blackboxes der rechtsvergleichenden Argumentation. Die Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation werden so aufgebaut, dass sie zunächst das grundlegende Motiv analysieren, warum man rechtsvergleichend argumentieren sollte. Die rechtsvergleichende Argumentation wird somit erst einmal normativ motiviert. Das theoretische Stichwort dazu gibt die ›Transsubjektivität‹. Nachdem so geklärt ist, warum man die implizite Normativität des anderen Rechts explizieren sollte, wird danach untersucht, wie das zu geschehen hat. Es geht folglich um eine Explikationsstruktur für die rechtsvergleichende Argumentation sowie ihre Argumente. Mit ihr sind die Blackboxes zu entschlüsseln, wie die rechtsvergleichende innerhalb der allgemeinen juristischen Argumentation funktioniert und wie das einzelne rechtsvergleichende Argument strukturell aufgebaut ist. Die theoretischen Schlagworte lauten an der Stelle ›inferentielle Funktion‹ und ›Kontextverflechtung‹. Aber betrachten wir zunächst dasjenige Konzept, das die rechtsvergleichende Argumentation normativ motiviert.

____________ 134 Siehe zur Erweiterung der grammatologischen Normativität Teil 1, bei Fn. 97, nach Fn. 135 sowie zu ihrer normativen Fundierung in der Pragmatik Teil 2, bei/in Fn. 110. Für die rechtsvergleichenden Argumente wird diese Verbindung von Normativität und Pragmatik noch näher zu erläutern sein (Teil 2, bei Fn. 145).

C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation

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I. Transsubjektivität Transsubjektivität, als das grundlegende Motiv für die rechtsvergleichende Argumentation, lässt sich dadurch verständlich machen, dass man die Wohlrapp’schen Überlegungen zu Fokus, Sichtweise und Perspektive einerseits sowie Praxis andererseits zusammenbringt. Rekapitulieren wir zunächst kurz seinen Praxisbegriff: Eine Praxis ist »ein System oder ein Feld von Handlungen, die aufeinander bezogen sind, sich gegenseitig voraussetzen, ermöglichen, stützen, korrigieren, unter variierenden Umständen ersetzen und die geeigneten Gefüge oder Geflechte von Situationsumständen herstellen, zusammenhalten, sichern.«135 Oder kürzer noch: Praktiken bezwecken, das Gelingen von einzelnen Handlungen zu sichern, indem sie Handlungen schematisieren. Als ein Bereich, in dem sich Praktiken ausbilden, nennt Wohlrapp unter anderem die Entscheidfindung in der Rechtspflege.136 Ein Beispiel kann das verdeutlichen. Eine Praxis hat sich in diesem Rechtsbereich installiert, wenn die Entscheidung, ob ein bestimmtes Rechtsmittel zulässig ist, anhand eines spezifischen Schemas geprüft wird. Das allgemeine Schema sichert dann die einzelne Prüfungshandlung. Mitunter kann ein solches Prüfschema sehr ausgefeilt sein, beispielsweise wenn die bisherige Rechtsprechung zur Rechtsmittelzulässigkeit integriert wird. In dem Fall orientiert es die Rechtspraxis nicht nur implizit, sondern arbeitet sie theoretisch auf. Das Prüfschema verkörpert also handlungsleitende, epistemische Theorie, die die Praxis stützt. Das dürfte genügen, um mit Wohlrapp zu erkennen: Das Recht ist hinsichtlich seiner Gelingenssicherheiten notwendig geprägt von theoriegestützten Praktiken.137 Jetzt fokussieren sowohl die Praktiken wie ihre Theorie einen Rechtskontext; das heißt, sie thematisieren das Recht in einer bestimmten Weise. Sie legen wie das Subjekt einen Fokus auf ihren Gegenstand, um ihn überhaupt als etwas thematisieren zu können. Erst das Fokussieren ermöglicht somit, das Recht praktisch und theoretisch zu erfassen und sich in ihm zu orientieren. Mit diesem Fokus konstituieren die Praktiken und ihre Theorien für den einzelnen Rechtskontext, was Wohlrapp für das Subjekt als eine bestimmte Sichtweise bezeichnet. Diese Sichtweise ist subjektiv, schließt also notwendigerweise gewisse Möglichkeiten aus, wie sich etwas auch noch betrachten ____________ 135

Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 60 und eingehend Teil 2, nach Fn. 27. Wohlrapp, ebd., 61. 137 Um pragmatistische Illusionen zu vermeiden, ist allerdings zu betonen, dass eine Rechtspraxis, die nur noch ihre Praxis-Schemata lehrt und aufarbeitet, ohne sie rechtstheoretisch kritisch zu reflektieren, zu einer wenig erstrebenswerten juristischen Expertise verkümmert (siehe dazu Somek, Rechtliches Wissen, 39 und zur rechtstheoretischen Kritik als Pragrammatologie Teil 2, bei Fn. 132). 136

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

ließe. Zusammen mit der Gegebenheit, dass Praxis und Theorie notwendig sind, um die rechtliche Gelingenssicherheit zu garantieren, hat das eine einschneidende Konsequenz: Die im Fokus von Theorie und Praxis erarbeitete ›Rechtssicherheit‹ impliziert im Rechtssystem einen blinden Fleck. Man erkauft sich die erhöhte Gelingenssicherheit dadurch, dass ihr Fokus anderes ausblendet. Gegen die verkürzte Optik der Sichtweise bietet Wohlrapp den Begriff der Perspektive auf. Die Perspektive ist eine objektivierte Sichtweise, weil sie geklärt hat, unter welchem Aspekt sie etwas betrachtet. Auf der einen Seite ist diese Objektivierung erstrebenswert, da sie die habituelle Systematik des Subjektsystems unterbricht. Die Problemlösung, die dagegen lediglich eine subjektive Meinung wiedergibt, wird dem Problem strukturell ähnlich sein, weil sie diese habituelle Systematik fortschreibt. Eine dem eigenen Subjektsystem nachgebildete Problemlösung kann also dazu führen, dass sich das Problem früher oder später erneut stellt. Auf der anderen Seite ist eine andere Perspektive für das Subjekt auch deshalb vorteilhaft, weil diese ihm Gesichtspunkte vermitteln kann, über die es selbst nicht verfügt. Wohlrapp akzentuiert diese beiden Vorzüge der Perspektive mit dem Begriff des doppelten Nichtwissens. Das Subjekt weiß nicht, was es ausblendet und es weiß auch nicht, dass es das nicht weiß. Für eine objektivierte Sichtweise benötigt das Subjekt deshalb die Perspektive des Anderen.138 Das grundlegende Motiv, das sich aus diesen Zusammenhängen für eine rechtsvergleichende Argumentation ergibt, ist offensichtlich: Rechtsvergleichung erweitert die Sichtweise des eigenen Rechts um das Wissen und die Perspektive des anderen Rechts. Sie ermöglicht eine objektivierende Perspektive, denn das andere Recht produziert nicht denselben blinden Fleck wie das eigene. Kurz: Die Rechtsvergleichung ergänzt das eigene Recht um objektivierende Gesichtspunkte. Diese rechtsvergleichenden Gesichtspunkte lassen sich als Argumente einsetzen, um einerseits thetische Theorien zu begründen, andererseits um epistemische oder thetische Orientierungspunkte zu kritisieren. Somit übernimmt rechtsvergleichende Argumentation für das eigene Recht eine theorieaufbauende und eine theoriekritische Aufgabe. Sie kann für diese Aufgabe eine spezifische Kompetenz geltend machen. Ihre Kompetenz liegt darin, blinde Stellen des eigenen Rechtssystems aufdecken zu können, da sie argumentativ an ein anderes Rechtssystem anschließt. Das derart begründete Motiv, rechtsvergleichend zu argumentieren, ist grundsätzlich nicht neu. In der rechtsvergleichenden Literatur findet es sich in bekannten Wendungen, wie dass die Rechtsvergleichung den »Vorrat an Lösungen« erweitere sowie entgegen »nationaler Abschließung« eine »Rela____________ 138

Zum Ganzen Teil 2, bei Fn. 62–67.

C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation

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tivierung dogmatischer Zementierungen« bedeute.139 Mit den aufgearbeiteten theoretischen Instrumenten kommt dieses Motiv allerdings wesentlich differenzierter in den Blick. Seine vorliegende Rekonstruktion polemisiert nicht einfach gegen den ›dogmatischen Aufbau‹ des nationalen Rechts. Sie zeigt vielmehr, weshalb dieser pragmatisch notwendig ist, da die Theoriebildung die Gelingenssicherheit im eigenen Recht entscheidend stützt. Zwar impliziert diese theoretische Orientierung notwendigerweise blinde Stellen im eigenen Rechtskontext. Daraus ist indessen nicht zu folgern, die rechtsvergleichende Argumentation sei die einzige Möglichkeit, den blinden Fleck eines Rechtssystems zu erkennen. Es gibt, wie gesehen, noch andere Möglichkeiten der dialogischen Selbstdistanzierung. So können neue Argumente ebenfalls aus der eigenen Rechtsgeschichte oder Rechtslehre stammen.140 Es wäre der eigene blinde Fleck einer rechtsvergleichenden Argumentationstheorie, die nur sich selbst in der kritischen Distanz sieht. Gleichwohl hat die Rechtsvergleichung zu dieser Distanz einen bevorzugten Zugang, weil der andere Rechtskontext nicht in derselben habituellen Systematik steht.141 Aber auch hier greift man zu kurz, wenn rechtsvergleichendes Argumentieren theoretisch lediglich mit einer »Kontrollfunktion« motiviert wird.142 Die philosophische Argumentationstheorie stellt klar, dass Rechtsvergleichung sich nicht bloß zur Kritik an epistemischen und thetischen Orientierungspunkten des eigenen Rechts eignet. Sie lässt sich zudem einsetzen, um thetische Theorien des eigenen Rechts aufzubauen und erweitert auf diesem Weg den »Vorrat an Lösungen«.143 Die Grundintuition der bekannten Motive für eine rechtsvergleichende Argumentation ist somit durchaus richtig. Indessen ist problematisch, dass sie diese Intuition nicht auf eine theoretisch überzeugende Weise entfalten konnten. Transsubjektivität fundiert diese Motive dagegen in einem ganzheitlichen juristischen Argumentationskonzept. ____________ 139

Gemäß Rabel stammt die erste Wendung von Zitelmann (Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, 9; ähnlich unlängst Ponthoreau, L’argument fondé sur la comparaison dans le raisonnement juridique, 556). Die zweite Wendung findet sich bei Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3; ähnlich wie ebenda Legrand, Au lieu de soi, 13 sowie Muir Watt, La fonction subversive du droit comparé. 140 Zu weiteren Momenten rechtlicher Transsubjektivität Teil 2, vor Fn. 110. 141 Ebenso Frankenberg, Critical Comparisons, 448. 142 So indessen Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, 17; ebenfalls kritisch Reinhart, Rechtsvergleichung und richterliche Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Privatrechts, 614 f. 143 Im Ergebnis ähnlich Dölle, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, 406. Dölle kritisiert hier Zweigert, der die Rechtsvergleichung als »antidogmatische Methode« charakterisierte (siehe Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, 448). Kötz hat diese Kritik später für seinen Lehrer aufgenommen (siehe Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik); entsprechend vermittelnd Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 21; vgl. dazu auch Canaris, Theorienrezeption und Theorienstruktur, 74–77.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Das zeigt sich noch deutlicher, wenn man folgendem Gedanken nachgeht. Die nur aus dem eigenen Rechtssystem heraus entwickelte Antwort auf eine Rechtsfrage bindet sich mindestens der Möglichkeit nach an die habituelle Systematik dieses Rechtskontextes. Jetzt ist das Argument denkbar, die Lösung auf ein eigenes Problem ohnehin selbst am besten zu wissen. Es sei nur notwendig, sich des eigenen blinden Flecks bewusst zu sein. Das Wissen um das Problem der Eigensystematik kompensiere somit bereits die rechtsvergleichende Perspektive. Das klingt einleuchtend, wird aber vom Argument des doppelten Nichtwissens widerlegt. Denn die Figur des doppelten Nichtwissens verschärft das Problem des blinden Flecks entscheidend: Sie lässt keinen Raum für einen Standpunkt, von dem aus man um das eigene Unwissen wissen kann. Das ist ihr zentraler Punkt, der zu einer transsubjektiven Denkbewegung hinführt: Die eigene Sichtweise sieht nur der Andere. Oben habe ich dieses Argument mit der Offenheit des Argumentationsstandes verbunden und nahegelegt, die argumentative Geltung sei deshalb für die Argumente des Anderen zu öffnen. Für die Geltung des eigenen Rechts bedeutet dies, den Argumentationsstand nicht selbst-bewusst abzuschließen, sondern ihn für die Argumente des Anderen – auch des anderen Rechts – offen zu halten.144 All die in der Transsubjektivität gebündelten Gesichtspunkte für eine rechtsvergleichende Argumentation leisten aber noch keine normative Begründung für diese Denkbewegung. Man kann gegen ihre Motive das eben angeführte Argument leicht verändert erneut vorbringen. Denn es ließe sich behaupten, eine beschränkte Sichtweise sei, wenn auch unvermeidbar, so doch dem eigenen Recht normativ vorgegeben, da Theorien zum eigenen Recht auch nur aus dem eigenen Recht geformt sein sollen. Der normative Relevanzhorizont des eigenen Rechts müsse deshalb auf die rechtsvergleichende Perspektivierung durch das andere Recht verzichten. Auch in diesem Argument schimmert meines Erachtens ein richtiger Grundgedanke durch, der aber theoretisch nicht zutreffend expliziert wird. Man kann ihn so verstehen, dass ein argumentatives Problem des eigenen Rechts auch eine spezifische Lösung für das eigene Recht verlangt. Ich werde diese Spezifität weiter unten noch erläutern. Bereits an dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass sie kein prinzipielles Argument gegen eine rechtsvergleichende Argumentation abgibt. Ihr argumentativer Gehalt lässt sich integrieren, ohne die Rechtsvergleichung als Argumentationsform ausschließen zu müssen. Damit ist freilich die normative Begründung, warum man sie einsetzen sollte, noch immer nicht genannt. Das folgt als Nächstes.145 ____________ 144 145

Eingehend zu dieser Offenheit Teil 2, nach Fn. 85 und 64. Zum Problem der Spezifität Teil 2, nach Fn. 151.

C. Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation

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Begreift man die Rechtsargumentation als ein Instrument, um sich in einem rechtlichen Problem optimal zu orientieren, ist klar, dass diese Argumentation auf die kritischen und begründenden Argumente aus der Perspektive des anderen Rechts grundsätzlich nicht verzichten kann. Was Wohlrapp in der Forderung nach der Anerkennung des Anderen konzentriert, lässt sich somit rechtstheoretisch in die Anerkennung rechtsvergleichender Argumente übersetzen. Der normative Status dieser Forderung nach Transsubjektivität ist, wie erläutert, aber nicht zwingend, sondern pragmatisch festgelegt: Sie ist konsequent, sofern man die optimale Orientierung jenseits des sicheren Wissens als argumentatives Ziel betrachtet, bedeutet jedoch keine automatische oder kritiklose Übernahme einer anderen Perspektive.146 So gesehen bilden rechtsvergleichende Argumente normative Bestandteile des eigenen juristischen Relevanzhorizontes, die für die rationale Orientierungsbildung im eigenen Recht zu berücksichtigen sind. Damit ist das Problem der normativen Normativität teilweise gelöst: Es ist begründet, weshalb die implizite Normativität des anderen Rechts grundsätzlich auch normativ sein soll.147 II. Inferentielle Funktion Der Begriff ›inferentielle Funktion‹ klingt komplizierter als er ist. Er setzt ganz einfach Inferenzstruktur und Orientierungsfunktion der rechtlichen mit Blick auf die rechtsvergleichende Argumentation zusammen. Folglich fragt sein erster Teil danach, wo die rechtsvergleichende Argumentation in der inferentiellen Struktur der juristischen Begründung positioniert ist und sein zweiter Teil, wie sie in dieser Position funktioniert. Betrachten wir zunächst den ersten Begriffsteil. Für die Inferenzstruktur habe ich anschließend an die Theorie Toulmins zwischen Sachverhalt, Konklusion, Schlussregel und Stützung sowie für letztere nochmals zwischen Normtext und Rechtsdiskurs unterschieden. Der rechtliche Diskurs ist entweder argumentativ oder erklärend. Hinsichtlich der Rechtsargumentation wurde die Struktur somit dahingehend spezifiziert, dass eine gültige thetische Konstruktion ermöglicht, von einem Sachverhalt auf eine These zu schließen, wobei sich die Regel für diesen Schluss (S→T) in einer auf den Normtext bezogenen Rechtsargumentation begründet. Rechtsvergleichende Argumente fügen sich in diese Struktur wie folgt ein: Sie sind Elemente der argumentativen Rekonstruktion des geltenden Rechts und damit Elemente der auf den geltenden Normtext bezogenen Rechtsargumentation. Im reformulierten Toulmin’schen Schema sind sie dem Diskussionsfeld des Rechtsdiskurses – oder genauer: des Rechtsdialoges – zugewiesen. Das ist die in____________ 146 147

Zu dieser normativen Forderung allgemein Teil 2, bei Fn. 110 und 68. Zur normativen Kraft des rechtsvergleichenden Arguments Teil 2, nach Fn. 161.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

ferentielle Position von rechtsvergleichenden Argumenten, wenn rechtliche Thesen argumentativ begründet werden. Damit ist der erste Teil des Begriffs der inferentiellen Funktion erläutert. Sehen wir uns den zweiten Teil an, der sich auf die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation bezieht. Mit der Wohlrapp’schen Theorie habe ich diese Funktion dergestalt beschrieben, dass Rechtsargumentation die rechtliche Praxis orientiert, indem sie einerseits thetische Theorie bildet und andererseits epistemische Theorie überprüft. Sie erfüllt ihre Orientierungsfunktion also durch Theoriebildung und Theoriekritik. Gestützt darauf ist jetzt die Funktionsweise von rechtsvergleichenden Argumenten folgendermaßen zu erläutern: Auf der Stufe der Theoriebildung lassen sich rechtsvergleichende Argumente einsetzen, um die thetischen Konstruktionen von Schlussregeln (→) zu begründen oder zu kritisieren. Sie bilden dialogische Operationen hinsichtlich der Auslegung und Fortbildung der eigenen Normtexte. Auf der Stufe der Theoriekritik stellen sie neue Argumente dar, mit denen epistemische Theorie angezweifelt wird. Als neue Argumente eröffnen sie die thetische Dynamik und verwandeln einen epistemischen wieder in einen thetischen Geltungsanspruch. In der darauf folgenden argumentativen Prüfung dieses Geltungsanspruchs funktionieren weitere rechtsvergleichende Argumente dann genauso wie bei der Theoriebildung. Aus der so charakterisierten inferentiellen Funktion von rechtsvergleichenden Argumenten lassen sich zwei Konsequenzen ziehen. Die erste Konsequenz betrifft die Bindung durch das andere Recht. Das andere Recht geht in Form dialogischer Operationen innerhalb der rechtlichen Argumentation in die juristische Begründung ein. Diese rechtsvergleichenden Argumente beziehen sich wie die Rechtsargumentation insgesamt auf die Normtexte des eigenen Rechts. Dass die Argumentation hier auf die eigenen Normtexte fokussiert, hat wie gesehen zwei Gründe: Erstens konstituiert sich das argumentative Problem des rechtlichen Dialogs aus der Anwendung des eigenen Normtextes: seine Lesart ist umstritten oder unklar. Und zweitens kommt dem Normtext des eigenen Rechts als Medium der rechtlichen Argumentation eine epistemische Autorität zu: Er ist der zentrale epistemische Orientierungspunkt des Rechtsdiskurses. Die Rechtsargumentation ist folglich nicht an das andere Recht gebunden, sondern durch die Sachargumente, die sich aus seinem Vergleich mit dem eigenen Recht formulieren lassen. Die zweite Konsequenz, die anschließend an die erste gezogen werden kann, ist prozessualer Natur. Prozessrechtlich kann man ausländisches Recht bekanntlich als Rechts- oder Tatsachenfrage betrachten. Im Rahmen einer rechtsvergleichenden Argumentation integriert sich das andere Recht, wie soeben dargelegt, über die Rechtsargumentation in das eigene Recht. Diese Rechtsargumentation behandelt die Anwendung des eigenen Normtextes. Sie stellt die allgemeine Frage, welche Schlussregeln sich mit dem Normtext

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des eigenen Rechts konstruieren lassen. Als auf diese möglichen Konstruktionen ausgerichtete dialogische Operationen befinden rechtsvergleichende Argumente sich somit im Kontext einer traditionellen Rechtsfrage: Worin liegt die maßgebliche Anwendung des eigenen Rechts? Es ist daher folgerichtig die spezifische Auseinandersetzung mit anderem Recht hinsichtlich einer rechtsvergleichenden Argumentation ebenfalls als Rechtsfrage zu betrachten. III. Kontextverflechtung Die Kontextverflechtung erklärt die rechtsvergleichende Argumentation als die Verflechtung von verschiedenen Rechtskontexten. Ich werde sie folglich in drei Schritten erörtern. Zunächst beschreibe ich kurz die zu verflechtenden Kontexte, dann den Begriff der Verflechtung und schließlich, welche Prinzipen einzuhalten sind, will man die Kontexte des eigenen und anderen Rechts in einer rechtsvergleichenden Argumentation miteinander verflechten. 1. Die Kontexte Der erste Teil konzipierte die rechtsvergleichende Argumentation als eine Inbezugsetzung von verschiedenen dekonstruktiven Kontexten. Dieses Konzept erlaubte unter anderem eine bestimmte Deutung des eigenen Rechts. Es eröffnete eine kontextuelle Perspektive, in der die rechtliche Normativität gegenüber dem positivistischen Modell erweitert und so das andere Recht als normatives Element gedacht werden konnte, jedoch ohne die Bindung an das eigene Recht aufgeben zu müssen. Ausgerichtet am Vorbild eines europäischen Rechtsstaates hat der zweite Teil den Kontext des eigenen Rechts weiterverfolgt und versucht, für diesen eine neue Argumentationsstruktur zu entwickeln. Das Ergebnis war eine kleine Theorie der juristischen Argumentation. Sie reformulierte Funktion, Struktur, Geltung sowie die Instrumente der Rechtsargumentation. Zusammengenommen skizziert sie einen methodischen Kontext des eigenen Rechts. Dem lässt sich ein Sachkontext als inhaltlicher Teil gegenüberstellen, der die prozess- und materiellrechtlichen Normen des eigenen Rechts enthält. Methoden- und Sachkontext formieren für eine rechtsvergleichende Argumentation im eigenen Recht den maßgeblichen Ausgangskontext. Ausgehend von diesem Rechtskontext referenziert die rechtsvergleichende Argumentation einen fremden Rechtskontext. Ich möchte ihn Referenzkontext nennen. Die Struktur der rechtsvergleichenden Argumentation kennt somit zwei grundlegende Formen von Vergleichskontexten: einen Ausgangs- und einen Referenzkontext.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

2. Die Verflechtung Das Stichwort ›Verflechtung‹ verlangt zuerst einige begriffliche Klärungen. Die erste ist naheliegend. Weshalb spreche ich angesichts einer Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation nicht von Vergleichung? Der Grund ist folgender: Die Verflechtung adressiert das Problem, wie die Argumentation zwischen einzelnen Rechtskontexten strukturiert ist. Dagegen artikuliert die Vergleichung von Rechtskontexten das Problem, wie diese Argumentation methodisch zu gestalten ist. Ich halte deshalb den Vergleichungsbegriff für diesen Problembereich frei. Die zweite Klärung liegt weniger nahe. Es fragt sich, warum die Kontexte in der rechtsvergleichenden Argumentation nicht miteinander vernetzt, sondern verflochten werden. Das erklärt sich damit, dass die Netzmetapher ein unklares Bild von der dynamischen Struktur des Rechts vermittelt. Rechtskontexte bilden nicht systematische Netze aus festen Einzelpunkten, sondern ein vielschichtiges Gewebe von Spuren. Und mit diesem Derrida’schen Spurengewebe korrespondiert die Verflechtung von Kontexten wesentlich besser als ihre Vernetzung. Das zentrale Problem, dem sich die Kontextverflechtung stellt, ist jenes der Blackbox des einzelnen rechtsvergleichenden Arguments. Ihre Fragestellung lässt sich mit den vorangehenden begrifflichen Klärungen demnach wie folgt zuspitzen: Die Verflechtung fragt danach, wie das rechtsvergleichende Argument aus der Sicht des Ausgangskontextes zu strukturieren ist. Mit der soweit bereitgestellten Theorie ist es nunmehr ein kleiner Schritt, diese Frage zu beantworten. Die Formen rechtlicher Argumentation bilden im Ausgangskontext ein übersichtliches Instrumentarium. Sie bestehen aus folgenden Sachargumenten: dem Wortlaut, der Geschichte, dem Zweck und dem Zusammenhang eines Normtextes sowie den außergesetzlichen Wertungsmaßstäben, die sich in Folgen-, Vernunft- und theoretische Argumente aufgliedern lassen. Diese Sachargumente sind flüchtige Instanzen des Normsinns, das bedeutet, sie müssen selbst argumentativ ausgefüllt werden. Man kann sie deshalb als bestimmte Denk- oder Fragerichtungen verstehen, wie die eigenen rechtlichen Probleme des Ausgangskontextes angegangen werden können. Aus den genannten Fragerichtungen der Sachargumente setzt sich nun die Explikationsstruktur des rechtsvergleichenden Arguments zusammen. In ihr kommt die Explikation anderer rechtlicher Normativität so zustande, dass sie jene Fragen verdoppelt und hinsichtlich eines Referenzkontextes erneut stellt. Ein rechtsvergleichendes Argument untersucht somit, präzise formuliert, ob das eigene und das andere Recht mit Blick auf grammatische, historische, systematische, teleologische oder außergesetzliche Gesichtspunkte miteinander zu verflechten sind. Diesen Zusammenhang kann man auch so ausdrücken, dass ein einzelnes rechtsvergleichendes Argument aus der Perspektive des eigenen Rechts keine irgendwie geartete Auseinandersetzung

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mit anderem Recht darstellt, sondern die Erweiterung des rechtlichen Denkens basierend auf den Argumentformen des eigenen Rechtskontextes. Ein rechtsvergleichendes Argument ist also kein von diesen Argumentformen abgelöstes selbstständiges Instrument der rechtlichen Argumentation. Vielmehr konstituiert es sich als eine Verdoppelung der bekannten Denkrichtungen Grammatik, Historik, Systematik, Teleologie, Theorie, Vernunft- und Folgenüberlegung. Die so modellierte Struktur des rechtsvergleichenden Arguments ist aus zwei Gründen wertvoll. Erstens widerspiegelt sie die auf der Seite des Ausgangskontextes pragrammatologisch sinnvollen Fragerichtungen, mit denen die argumentativen Probleme des eigenen Rechts angegangen werden. Eine am Leitfaden dieser juristischen Fragerichtungen weitergedachte rechtsvergleichende Argumentation ergibt praktisch also deshalb Sinn, weil sie auf den praktisch sinnvollen Argumentformen des eigenen Rechts aufbaut. Der zweite hervorzuhebende Vorzug dieser Struktur liegt in der gedanklichen Übersicht, die sie vermittelt. Mit ihr verliert das rechtsvergleichende Argument seinen eigentümlichen Charakter einer Blackbox mit ihrem undurchschauten, diffusen Innenleben: Ein rechtsvergleichendes Argument ist kein seltsames Ding mehr, das sich irgendwo greifbar jenseits, diesseits oder inmitten von Rechtsordnungen findet. Es ist eine bestimmte Form rechtlichen Denkens, das die Klarheit seiner Form erhält, indem es an die geläufigen Argumentformen des rechtlichen Argumentationsprozesses anschließt. 3. Die Prinzipien der Kontextverflechtung In der rechtsvergleichenden Argumentation verflechten wir einen Ausgangsmit einem Referenzkontext. Dabei wird von bestimmten Fragerichtungen des Ausgangskontextes ausgegangen, um ein argumentatives Problem dieses Kontextes rechtsvergleichend zu erörtern und falls möglich eine rechtsvergleichend begründete Lösung vorzuschlagen. Das führt geradehin zur Frage, von welchen Prinzipien eine solche Verflechtung geleitet ist, damit eine für das eigene Recht akzeptable Lösung entsteht. Den Anknüpfungspunkt, um diese Prinzipien herzuleiten, bildet die asymmetrische Problemstellung einer rechtsvergleichenden Argumentation. Ich werde deshalb zunächst kurz darlegen, inwiefern dem rechtsvergleichenden Argument eine Asymmetrie der argumentativen Problemstellung zugrunde liegt. Von da aus lassen sich dann drei Prinzipien formulieren, die man mit Kohärenz, Orientierungssicherheit und Spezifität punktieren kann. Sie sind normative Prinzipien, die die Entwicklung von rechtsvergleichenden Lösungsvorschlägen binden, wobei auch diese Bindungskraft sich aus der Asymmetrie der rechtsvergleichenden Argumentation ableitet. Argumentative Asymmetrie – Argumentative Asymmetrie ist zugegebenermaßen eine etwas kryptische Beschreibung. Sie lässt sich allerdings mit

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

dem von Wohlrapp beschriebenen Zusammenhang zwischen epistemischer und thetischer Theorie leicht entschlüsseln. Ihm zufolge argumentieren wir immer für eine thetische Theorie und gehen dabei von einer bestimmten epistemischen Basis aus; unser argumentatives Problem setzt sich vor einem spezifischen epistemischen Hintergrund ab. Das hat die Entstehung eines Auslegungsproblems im eigenen Recht deutlich gezeigt: Ein argumentatives Rechtsproblem entsteht auf der Folie des eigenen Normtextes. Die Episteme fungiert somit, allgemein gesprochen, als die Kontrastfolie der Thetik. Dieser allgemeine Grundsatz lässt für das Problem einer rechtsvergleichenden Argumentation das Folgende erkennen: Das argumentative Problem des eigenen Rechts, von dem eine rechtsvergleichende Argumentation ausgeht, konstituiert sich nicht bloß aufgrund eines Blicks in den eigenen Normtext, sondern es kontrastiert mit dem gesamten eigenen Rechtskontext. Das Problem sieht sich in den spezifischen methodischen und sachlichen Gehalt des Ausgangskontextes gestellt. Wenn man jetzt diesen Ausgangskontext als den für die rechtsvergleichende Argumentation maßgeblichen betrachtet, zieht man so in das grundsätzlich symmetrische Verhältnis der Rechtskontexte eine argumentative Asymmetrie ein.148 Argumentative Asymmetrie bedeutet somit zweierlei: Zunächst folgt aus ihr eine unterschiedliche Gewichtung der an der Argumentation beteiligten Rechtskontexte, indem sie den Ausgangskontext als maßgeblich betrachtet. Jedoch ist diese asymmetrische Gewichtung nicht prinzipiell, sondern pragmatisch gesetzt.149 Sie ergibt sich aus der Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation im Ausgangskontext: Rechtsargumentation bezweckt die thetische Orientierung in der Episteme des eigenen Rechts und gibt diese Funktion als asymmetrische Problemstellung an die rechtsvergleichende Argumentation weiter. Eine rechtsvergleichende Argumentation hat, anders gesagt, vom Kontext des eigenen Rechts auszugehen, soll sie eine orientierende Wirkung entfalten können. Der eigene Rechtskontext erfährt auf diese Weise nicht nur ein höhere, sondern zugleich eine positive Gewichtung. Und darin besteht die zweite Bedeutung der argumentativen Asymmetrie: Wie gesehen, zeichnet sich ein argumentatives Problem auf der epistemischen Folie des eigenen Rechts ab. Diese Episteme hat eine spezifische habituelle Systematik, die die Asymmetrie als problembestimmend anerkennt. Sie bewertet die habituelle Systematik also nicht negativ – etwa als den blinden Fleck, den es zu überwinden gilt –, sondern positiv als die für die rechtsvergleichende Argumentation maßgebliche Systematik des eigenen Rechts mit ihrer besonderen inneren Schwerkraft. Pointiert ließe sich demnach sagen, ____________ 148

Im Ergebnis ähnlich Stoll, Rechtsvergleichung und zivilrechtliche Methodik, 833. Prinzipiell bleibt es beim symmetrischen Verständnis der Rechtskontexte (Teil 1, vor Fn. 148). 149

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Asymmetrie bedeute Respekt vor der eigenen Rechtskultur, während die im ersten Teil herausgestellte Symmetrie der Rechtskontexte Respekt vor anderen Rechtskulturen verlangt.150 Prinzipien der Kontextverflechtung – Argumentative Asymmetrie erzeugt für rechtsvergleichende Problemlösungen die bereits erwähnten normativen Prinzipien: Kohärenz, Orientierungssicherheit und Spezifität. Mit Kohärenz formuliert Wohlrapp eines von drei Kriterien, wann eine Theorie als Wissen gelten kann. Da Argumentationen ihm zufolge nach neuem Wissen forschen, haben sie Kohärenz mit dem bestehenden Wissen anzustreben. Das heißt, sie müssen ihre thetische Theorie mit den vorhandenen Theorien des Wissens koordinieren. Kohärenz und Asymmetrie bedeuten somit für die rechtsvergleichende Argumentation: Eine rechtsvergleichend begründete Theorie hat eine mit Blick auf den Ausgangskontext kohärente Position einzunehmen. Versteht man Kohärenz, wie ich das hier vorgeschlagen habe, als Koordinationsgebot, bleibt der Weg für rechtsvergleichende Innovationen einerseits offen. Andererseits aber ist klar, dass die epistemischen Ausgangspunkte des eigenen Rechts nicht einfach übergangen werden können. Argumentationen haben ihren Fluchtpunkt in der Gelingenssicherheit einer Praxis, die es zu orientieren gilt. Kohärenz mit dem eigenen Rechtskontext lässt sich daher zugleich als Orientierungssicherheit für die eigene Rechtspraxis begreifen. Rechtsvergleichende Argumente sollen die Orientierung im eigenen Recht verbessern, nicht verunsichern.151 Spezifität nimmt den bereits angedeuteten Grundgedanken auf, dass die Vergleichskontexte in einer rechtsvergleichenden Argumentation bezüglich eines bestimmten Problems des Ausgangskontextes miteinander verflochten werden. Folglich verlangt diese spezifische Problemstellung auch nach einer für den Ausgangskontext spezifischen Problemlösung. – Spezifität ist somit grundsätzlich eine einfache Sache. Interessant ist indessen die Frage, wie sie den rechtsvergleichenden Blick im Referenzkontext lenkt. Sie macht nämlich darauf aufmerksam, dass die für den Ausgangskontext optimale Lösung des Problems nicht notwendigerweise in der Antwort liegen muss, die ihm die herrschende oder tatsächlich praktizierte Rechtsauffassung im Referenz____________ 150 Siehe zur Symmetrie der Rechtskontexte Teil 1, vor Fn. 148 und Teil 2, Fn. 85. Die Wichtigkeit kultureller Selbstachtung betont ebenfalls Großfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 76 f. 151 Siehe zur Kohärenz als Wissenskriterium Teil 2, vor/in Fn. 35. Den Gedanken der Kohärenz kann man ebenfalls bei Zweigert entdecken, wenn er davon spricht, die rechtsvergleichende Auslegung sei durch die »konstruktiven Grundzusammenhänge« nationaler Rechtsordnungen begrenzt (Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, 15; vgl. auch Schulze, Vergleichende Gesetzesauslegung und Rechtsangleichung, 194 f.). Damit formuliert Zweigert aber meines Erachtens eine zu weitgreifende Koordinationspflicht (ebenso Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 439).

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

kontext entwirft. Die für den Ausgangskontext zweckmäßige Lösung kann ebenfalls in einer gerichtlich nicht rezipierten Minderheitsmeinung eines einzelnen Referenzkontextes liegen.152 Die so konzipierte Spezifität sieht sich freilich der Nachfrage ausgesetzt, wie sich eine herrschende Auffassung unter den Vergleichskontexten auf die rechtsvergleichende Argumentation auswirkt. Die grundlegende Antwort ist im normativen Status der Forderung, den Anderen anzuerkennen, angelegt. Ihrem pragmatischen Charakter zufolge ist dem anderen Recht nicht kritiklos zu folgen. Sie enthält also keine normative Richtung, ob Rechtskontexte zueinander konvergieren oder divergieren sollten. Auch wenn die Referenzkontexte in einer Problemlösung mehrheitlich übereinstimmen, ist diese somit nicht zwingend auf den Ausgangskontext zu übertragen. Vielmehr muss selbstständig begründet werden, warum man einer Mehrheitsmeinung folgen möchte – womit zugleich auch der einleitend beschriebene naturalistische Fehlschluss vermieden wird.153 Eine Mehrheitsmeinung unter den Referenzkontexten verschiebt grundsätzlich also bloß die Argumentationslast. Das begründet entsprechend der hier reformulierten Argumentationstheorie allerdings weder die Vermutung für die Richtigkeit der Mehrheitsmeinung in den Referenzkontexten, noch hat deren Zahl selbst argumentative Autorität. Ebenso wenig impliziert eine Mehrheitsmeinung eine Begründungspflicht, die für eine abweichende Entscheidung triftige Gründe oder eine besonders intensive Begründung verlangt. Autorität und Intensität der Argumentation ergeben sich ganz einfach daraus, dass eine Mehrheitsmeinung ein Mehr an Sachargumenten integrieren kann: Es sind die Sachargumente, die die argumentativen Gewichte für eine gültige, das heißt einwandfreie Entscheidung verschieben.154

D. Blick zurück und nach vorne Erneut ist es Zeit, kurz zurück und nach vorne zu blicken. Der zweite Teil des Entwurfs war insbesondere durch seinen holistischen Ansatz geprägt. Er erörterte die Strukturen der rechtsvergleichenden Argumentation ausgehend ____________ 152

Im Ergebnis ähnlich Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 302 f. Er verbindet diese Feststellung allerdings mit nicht unproblematischen methodischen Folgerungen. Ich werde die methodischen Probleme der Spezifität eingehend im nächsten Teil erörtern (Teil 3, bei Fn. 26). 153 Einleitung, bei Fn. 27. 154 Diese Überlegungen zur Spezifität stützen eine These argumentativ neu ab, die ich erstmals im Juli 2010 am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg vorgestellt habe. An dieser Stelle möchte ich den Teilnehmenden der Vortragsdiskussion für ihre zahlreichen Anregungen danken.

D. Blick zurück und nach vorne

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von jenen der juristischen und diese wiederum auf der Basis der Grundlagen der philosophischen Theorie der Argumentation. Ich werde die Tragweite dieses holistischen Ansatzes illustrieren, indem ich Textstellen bespreche, die den eher technischen Forschungsstand zur Theorie rechtsvergleichender Argumentation paradigmatisch wiedergeben. Diese Illustrationen bilden den ersten Teil des Rückblicks. Etwas allgemeiner will ich danach die bisherigen Ausführungen über die Frage rekapitulieren: Was macht das rechtsvergleichende Argumentieren zu einem vernünftigen Unternehmen? Anschließend wird der Blick nach vorne gerichtet. Wie im ersten Teil möchte ich hier ein Problem skizzieren, das man in die Argumentation des zweiten Teils hineinlesen könnte. Erneut ist zu zeigen, warum man sich damit verlesen hätte und wie sich gleichzeitig in diesem Scheinproblem das Thema des dritten und letzten Teils ankündigt. I. Illustrationen Die Tragweite des in diesem zweiten Teil ausformulierten holistischen Ansatzes lässt sich gut anhand der aktuellen Untersuchungen zur rechtsvergleichenden Argumentationstheorie illustrieren. Paradigmatisch für ihre theoretische Analyse sind die folgenden Ausführungen einer neueren Studie. Über die Voraussetzungen für eine methodische Relevanz rechtsvergleichender Argumente schreibt sie zunächst: »Der klare Inhalt nationaler Gesetze kann auch mit rechtsvergleichenden Argumenten grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Dieser Inhalt ergibt sich aus dem ›lege artis‹ ausgelegten Wortsinn des Gesetzes. Rechtsvergleichende Argumente können erst bei einer den Wortsinn übersteigenden Rechtsfortbildung praeter legem in gewissem Maße bedeutsam werden. An dieser prinzipiellen Einschränkung ist festzuhalten, obwohl es natürlich zutrifft, dass Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung sich nicht exakt gegeneinander abgrenzen lassen.«155

Vor diesem methodischen Hintergrund werden dann rechtsvergleichende Argumente funktional als unverbindliche Abwägungsfaktoren der Rechtsfortbildung bestimmt: »Rechtsvergleichende Argumente sind keinesfalls ›bindend‹. Sie treten vielmehr in Konkurrenz zu anderen, im nationalen Recht als relevant anerkannten Faktoren der Rechtsfortbildung und sind gegen diese Faktoren in ihrem Gewicht und ihrer Überzeugungskraft abzuwägen. Der hierbei maßgebliche Prozess des Diskurses oder Dialoges mag dem von

____________ 155

Stoll, Rechtsvergleichung und zivilrechtliche Methodik, 834; ähnlich Berger, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung, 54; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 16.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Wilburg entwickelten ›beweglichen System‹ ähneln, lässt sich aber nicht näher konturieren. Es handelt sich hierbei um eine bestimmte Form ›topischen Denkens‹.«156

Implizit argumentiert die Studie ebenfalls holistisch, indem sie die einzelnen Folgerungen zur rechtsvergleichenden Argumentation auf ein spezifisches methodisches Konzept bezieht. Sie markiert damit einen wichtigen Punkt. Überzeugend lässt sich die Idee einer rechtsvergleichenden Argumentation nur begründen, wenn sie sich eingehend mit den allgemeinen Standards der juristischen Argumentation auseinandersetzt. Vielleicht lag es daran, dass sich ihre frühen theoretischen Postulate wie etwa bei Zweigert nicht verwirklichten, weil sie, argumentationstheoretisch gesprochen, diese These nicht hinreichend mit der vorhandenen epistemischen Basis koordinierten. Mit Blick auf Zweigert hat das gerade auch Stoll völlig richtig festgestellt: »Die Wege der Einflußnahme ausländischen Rechts auf die Entwicklung und Anwendung inländischen Rechts sind verwickelter und mit der simplen Empfehlung, die Rechtsvergleichung als ›universale Interpretationsmethode‹ anzuerkennen, nicht zu erfassen.«157 Heikel an der zitierten Studie sind somit weder ihr holistischer Zugriff noch die Schlüsse, die sie aus dem zugrunde gelegten methodischen Konzept für die rechtsvergleichende Argumentation zieht. Das scheint mir soweit alles richtig zu sein. Als problematisch erachte ich sie, weil ihr methodisches Konzept hinter dem argumentationstheoretischen Diskussionsstand zurückbleibt. Denn bestimmt das Ganze eines rechtstheoretischen Konzepts die einzelnen Folgerungen ebenso zur rechtsvergleichenden Argumentation, wird damit ihre Funktionsweise rechtstheoretisch unterkomplex analysiert. Die theoretische Erläuterung, rechtsvergleichende Argumente seien unverbindliche, topische Abwägungsfaktoren in einem nicht näher zu konturierenden Dialog der Rechtsfortbildung, ist dementsprechend schmal. Ich halte sie zudem für enttäuschend, weil sie vor zwei zentralen Fragen zurücksteht. Sie erklärt nicht, wie die rechtsvergleichenden Argumente in der juristischen Argumentation näher funktionieren und sie unternimmt es ebenfalls nicht, solche Argumente normativ zu begründen, sondern belässt sie in der argumentativen Unverbindlichkeit. Die Intentionen der Studie scheinen mir jedoch in beiden Fragen gerade in die gegenläufige Richtung zu gehen. Deshalb dürften ihre theoretischen Schlussfolgerungen lediglich das Symptom einer nicht verfügbaren theoreti____________ 156

Stoll, ebd.; ähnlich schon ders., Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 440 f. Auch die neuste Studie über rechtsvergleichende Argumente operiert theoretisch mit ihrer Unverbindlichkeit und Überzeugungskraft: Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 241–243; davor bereits Glenn, Persuasive Authority; Harding, Comparative Reasoning and Judicial Review, 463. 157 Stoll, Zur Legitimität und normativen Relevanz rechtsvergleichender Argumente im Zivilrecht, 437.

D. Blick zurück und nach vorne

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schen Basis sein. Es lohnt sich, das genauer anzusehen. Die Studie möchte rechtsvergleichende Argumente über den klaren Inhalt nationaler Gesetze begrenzen. Sie schreibt, dieser ergebe sich aus dem kunstgerecht ausgelegten Wortsinn des Gesetzes. Bereits darin liegt eine argumentative Schlüsselstelle. Entweder behandelt sie nun diesen Wortsinn als ein transzendentales Signifikat, das den Gesetzesinhalt deus ex machina eindeutig klarlegt oder sie geht davon aus, dass man den Wortsinn über die rechtlichen Argumente erst klären muss. In diesem Fall verschwindet er indessen als vor-gegebene Grenze. Die Grenze wird eben erst hergestellt.158 Damit steht aber der klare Gesetzesinhalt als Grenze der rechtsvergleichenden Argumentation erneut zur Diskussion, weil man nun prüfen sollte, wie sich eine kunstgerechte Auslegung gestaltet und wie rechtsvergleichende Argumente in ihr allenfalls funktionieren könnten. Die Studie scheint sich an dieser Stelle nicht bewusst zu sein, wählen zu müssen. Sie behauptet anscheinend beides: Eine vorgegebene Grenze, die hergestellt wird. Dieses Paradox ist, wie gesagt, in zwei Richtungen aufzulösen. Entweder unterstellt man ein transzendentales Signifikat oder es wird auf die vorgegebene Grenze verzichtet. Nachdem ich argumentiert habe, die rechtliche Argumentation ohne transzendentale Signifikate zu rekonstruieren, möchte ich empfehlen, den zweiten Weg zu wählen. Das stellt die theoretische Aufgabe, das Bedürfnis, das jene Grenze artikuliert, so zu integrieren, dass man sie verabschieden kann. Das zentrale Anliegen dieser »prinzipiellen Einschränkung«, die die Studie geltend macht, scheint mir darin zu bestehen, das eigene Recht im argumentativen Zentrum zu halten. Es gleicht dem in diesem zweiten Teil bereits angesprochenen Argument, das eigene Recht sei nur aus dem eigenen Recht zu entwickeln. Dieser zutreffende Grundgedanke ist aber nicht über einen prinzipiellen Ausschluss rechtsvergleichender Argumente zu realisieren. Es genügt, die Orientierungsfunktion der juristischen Argumentation für die rechtsvergleichende Argumentation fortzuschreiben. Dann ergibt sich für sie eine asymmetrische Problemstellung, die nach den normativen Prinzipien Kohärenz, Orientierungssicherheit und Spezifität organisiert ist. Diese Prinzipien bestimmen die Herstellung rechtsvergleichender Problemlösungen zum eigenen Recht und sichern diesem so das argumentative Zentrum. Das Konzept der Asymmetrie stellt somit klar, dass es bei der rechtsvergleichenden Argumentation niemals darum geht, die Episteme des eigenen Rechts gegen jene des anderen Rechts auszuspielen. Diesem Ergebnis würde die zitierte Studie zweifelsohne zustimmen. Der Vorteil seiner vorliegenden ____________ 158

Auf diesen Zusammenhang hatte bereits die Heidelberger Schule des Nachpositivismus immer wieder hingewiesen (siehe nur Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 538–548).

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

Rekonstruktion liegt jedoch darin, dass sie keine prinzipielle Differenz zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung einführen muss und rechtsvergleichende Argumente auf diesen Bereich begrenzt. So rückt die Anschlussfrage ins Blickfeld, wie rechtsvergleichende Argumente bei einer kunstgerechten Auslegung des Gesetzes funktionieren. Die ›inferentielle Funktion‹ macht hier einiges an rechtstheoretischem Boden gut. Sie kann rechtsvergleichende Argumente als dialogische Operationen auf zwei verschiedenen Argumentationsstufen charakterisieren. Auf der Stufe rechtlicher Theoriebildung treten rechtsvergleichende Argumente auf, um thetische Theorien zu begründen oder zu kritisieren. Sie sind dialogische Operationen hinsichtlich der Auslegung und Fortbildung des eigenen Rechts. Dagegen bilden sie auf der Stufe der Rechtskritik neue Argumente, mit denen die epistemische Theorie zum eigenen Recht herausgefordert wird. Die inferentielle Funktion macht gleichzeitig den ersten Schritt, mit der Vorstellung aufzuräumen, rechtsvergleichende Argumente seien keinesfalls bindend. Sie stellt die erforderliche theoretische Differenzierung her, mit der sich begreifen lässt, weshalb die rechtsvergleichende Argumentation keine Bindung an anderes Recht ausbuchstabiert: Das andere Recht geht in Form dialogischer Operationen in der rechtlichen Argumentation in die juristische Begründung ein. Das bedeutet, dass rechtsvergleichende Argumente sich so wie die juristische Argumentation insgesamt auf den Normtext des eigenen Rechts beziehen. Folglich ist die Rechtsargumentation nicht an das andere Recht gebunden, sondern durch die Sachargumente, die sich aus seinem Vergleich mit dem eigenen Recht formulieren lassen. Der zweite Schritt besteht anschließend darin, diese Bindungswirkung normativ zu erläutern. Das habe ich unter dem Stichwort ›Transsubjektivität‹ getan. Die Forderung zur Anerkennung rechtsvergleichender Argumente wird begründet, indem man diese als Elemente einer optimalen Orientierungsbildung im eigenen Recht verständlich macht. Sie gehören dann zum normativen Relevanzhorizont einer juristischen Entscheidung beziehungsweise sie sind Rekonstruktionselemente des geltenden Rechts. Die Vorstellung, rechtsvergleichende Argumente seien nicht bindend, ist vor diesem theoretischen Hintergrund nicht aufrechtzuerhalten. Technisch formuliert gestaltet sich ihre normative Wirkung so, dass sie als Bestandteile eines rechtlichen Argumentationsstandes bestimmen, ob eine argumentativ gültige juristische Begründung vorliegt. Mit dieser Tatsache ist nun gleichzeitig die Kritik an einer Auffassung eingeleitet, die die zitierte Studie ebenfalls enthält: Nämlich die Auffassung, rechtsvergleichende Argumente seien nach ihrem Gewicht oder ihrer Überzeugungskraft gegen andere Argumente abzuwägen, die für und wider eine rechtliche These vorgebracht werden. Denn die Theorie der argumentativen Geltung stellt sich ausdrücklich gegen ein solches Denken. Um das nachvollziehbar zu machen, muss ich an dieser

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Stelle die von Wohlrapp dazu entwickelte Position kurz wiedergeben. Seine Kritik steht im Kontext der Frage, wie eine Pro-und-Contra-Argumentation sich theoretisch aufbaut. Zum argumentationstheoretischen Diskussionstand hält er fest: »Dass dann Argumente auch ein ›Gewicht‹ haben sollen (A1 wiegt schwerer als A2) oder eine ›Kraft‹ (A1 ist stärker als A2), das ist eine Metaphorik, zu deren direkter Bedeutung kaum jemals etwas Genaueres zu hören ist. … Solange für die Pro-und-Contra-Diskussion keine argumentationstheoretischen Instrumente verfügbar sind, dienen Redeweisen von Anzahl und Gewicht eher dazu, einem undurchschauten und partiell auch einfach willkürlichen Vorgehen eine scheinbare Objektivität zu verleihen.«159

Welche theoretischen Instrumente macht nun Wohlrapp selbst für die Pround-Contra-Argumentation verfügbar? Ich will das anhand des Begriffs des Argumentationsstandes kurz skizzieren. Der Argumentationsstand reflektiert die Argumente, die sich im Dialog für und wider eine These ansammeln. Nach dem Sammeln der Argumente ist aber, so Wohlrapp, nicht einfach zu ihrer Abwägung überzugehen. Vielmehr ist der Argumentationsstand auszudiskutieren. Das Ausdiskutieren lässt sich zusammen mit Wohlrapp folgendermaßen beschreiben. Erstens sind Pro- und Contra-Argumente nicht bloß einander gegenüberzustellen, sondern inhaltlich aufeinander zu beziehen und gegebenenfalls zu ergänzen. Findet sich zu einem Pro-Argument inhaltlich kein Contra-Argument, ist zu überlegen, ob sich ein solches anführen lässt und umgekehrt. Zweitens sind Argumente auf ihre theoretische Basis zu hinterfragen: Ist die Basis bloß doxaistisch oder sogar nur thetisch und daher selbstständig zu begründen? Drittens ist mit dem so aufbereiteten Argumentationsstand zu prüfen, ob die These theoretisch gültig zu erreichen ist. Dazu bleibt unter anderem zu klären, welche Argumente sich integrieren oder widerlegen lassen und ob Einwände offen geblieben sind.160 Wohlrapp betont, dass durch diese Strategie nicht zwingend eine gültige Konklusion zu erreichen ist.161 Das ist gerade auch im rechtlichen Kontext bedeutsam. Am Ende müssen die Gerichte entscheiden – selbst wenn keine gültige These zum argumentativen Problem vorliegt. Trotzdem kommt seine Strategie der Idee einer vernünftigen Entscheidungsfindung wesentlich näher als jene eines Abwägungsverfahrens. Sie hält die Argumente inhaltlich im Spiel und verhindert, dass sich einzelne bloß wegen ihrem angeblichen Gewicht oder einer undurchsichtigen Überzeugungskraft durchsetzen. Jene Argumente, die nicht integriert oder widerlegt sind, bleiben inhaltlich offene Punkte des Argumentationsstandes und stehen so der argumentativen Gül____________ 159 Wohlrapp, Der Begriff des Arguments, 317. Diese kritischen Bemerkungen werden von ihm ausführlich begründet (siehe ders., ebd., 316–333). 160 Vgl. Wohlrapp, ebd., 328 f. 161 Wohlrapp, ebd., 331, 334.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

tigkeit entgegen. Für das Problem der normativen Kraft von rechtsvergleichenden Argumenten bedeutet dies: Rechtsvergleichende Argumente binden die Argumentation zum eigenen Recht inhaltlich, da auch sie die Geltung einer rechtlichen Begründung ausschließen, solange sie nicht integriert oder widerlegt sind. Die normative Kraft von rechtsvergleichenden Argumenten wird dadurch aus ihrem sachlich argumentativen Gehalt heraus begründet: Schlechte Argumente vergehen, gute Argumente bestehen als offene Punkte des Argumentationsstandes. Sicherlich können diese knappen Hinweise nicht alle offenen Punkte zur rechtlichen Pro-und-Contra-Argumentation klären. Sie dürften jedoch genügen, zum einen die inhaltliche Kraft von rechtsvergleichenden Argumenten zu erhellen und zum anderen die von der zitierten Studie aufgestellte Behauptung zurückzuweisen, dass das dialogische Zusammenspiel rechtlicher Argumente sich nicht weiter konturieren lasse. Und im Übrigen kann man gestützt auf diese Erkenntnisse nur nachdrücklich empfehlen, die weiteren Forschungen zur rechtsvergleichenden Argumentationstheorie nicht auf den Begriffen des Argumentgewichts oder der Überzeugungskraft (persuasive authority) aufzubauen.162 Damit sind – bis auf eines – alle theoretischen Postulate der eingangs zitierten Textstellen besprochen. Was fehlt? Es ist die Behauptung, dass rechtsvergleichende Argumente als konkurrierende Faktoren zu den im nationalen Recht anerkannten Rechtsfortbildungsfaktoren hinzutreten. Ich werde dieses Postulat in die Frage integrieren, die den zweiten Teil dieses Rückblicks zusammenhält: Was macht rechtsvergleichende Argumentation eigentlich zu einem vernünftigen Unternehmen? II. Die Rationalität rechtsvergleichenden Argumentierens Das Stichwort ›rational‹ ist am Ende des ersten Teils bereits einmal aufgetaucht. Dort heißt es, in der Dekonstruktion äußere sich ein Verständnis der rechtlichen Identität, das die eigenen Normen auch als die Normen der Anderen erkenntlich macht. Und diese Veranderung des Rechts zeige an, weshalb es rational sei, die eigene normative Orientierung vom anderen Recht her zu suchen. Den zweiten Teil dieses Entwurfs kann man daher als einen Versuch lesen, diesen noch etwas mystischen Wegweiser theoretisch zu erläutern und so lässt sich seine zentrale Fragestellung auch folgendermaßen ____________ 162

Die Verbindung zur Topik, die die zitierte Studie auch noch erwähnt, findet dagegen in einer Fußnote Platz. Man kann sicherlich sagen, dass rechtsvergleichende Argumentation insoweit topisch arbeite, als sie den »Vorrat an Lösungen« erweitert (so bereits Kramer, Topik und Rechtsvergleichung, 5). Gleichwohl halte ich diese Redeweise nicht für ratsam, da sie nahelegt, solche Argumente seien weder dogmatisch bedeutsam, noch normativ verbindlich. Dass gerade das Gegenteil zutrifft, wurde bei der ›Transsubjektivität‹ eingehend erörtert.

D. Blick zurück und nach vorne

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formulieren: Worin besteht die Rationalität einer in der rechtsvergleichenden Argumentation nach-vollzogenen Veranderung des Rechts? Der zweite Teil entwirft dieser Frage eine Antwort, die aus zwei Momenten besteht: Vernünftig ist rechtsvergleichendes Argumentieren dann, wenn sich begründen lässt, warum man sich dieser Argumentform bedienen sollte und wenn sich geklärt hat, wie das rechtsvergleichende Argument in der allgemeinen juristischen Argumentation funktioniert. Das erste Moment beschäftigt sich mit dem Motiv der rechtsvergleichenden Argumentation, das zweite dagegen mit ihrer Funktionsweise. Das grundlegende Motiv, weshalb man das rechtsvergleichende Denken als vernünftig betrachten kann, hat die Transsubjektivität ausgeführt. Zusammengefasst sieht sie in ihm eine Möglichkeit, die Sichtweise des eigenen Rechts in der Perspektive des anderen zu objektivieren, indem es blinde Stellen und Anachronismen des eigenen Rechts aufdeckt und soweit möglich um weiterführende theoretische Überlegungen ergänzt. Von der Funktionsweise der rechtsvergleichenden Argumentation hat die Explikationsstruktur gehandelt: Wie ist die implizite Normativität des anderen Rechts im eigenen in der rechtlichen Argumentation wieder zu explizieren, so ihre Fragestellung. Strukturbildend wirkten hier zum einen die inferentielle Funktion, zum anderen die Kontextverflechtung mit ihren normativen Prinzipien Kohärenz, Orientierungssicherheit und Spezifität. Alle diese Aspekte – von der Transsubjektivität bis zur Spezifität – lassen sich demzufolge in den Zusammenhang stellen, rechtsvergleichendes Argumentieren als ein vernünftiges Vorhaben zu erläutern. Weshalb theoretische Klarheit in den Fragen von Motiv und Funktionsweise der rechtsvergleichenden Argumentation wichtig ist, möchte ich abschließend am Beispiel der Kontextverflechtung verdeutlichen. Gefragt war da, wie das einzelne rechtsvergleichende Argument strukturiert sei: Wie gestaltet sich seine Explikationsstruktur? Dass in diesem Zusammenhang ein Strukturproblem besteht, thematisieren die bisherigen Untersuchungen nicht ausdrücklich. Man kann es jedoch als einen Strukturierungsansatz verstehen, dass rechtsvergleichende Argumente als konkurrierende Faktoren zu den im nationalen Recht anerkannten Rechtsfortbildungsfaktoren hinzutreten. Dann erscheinen sie als selbstständige Elemente des rechtlichen Dialoges.163 Ein weiterer Strukturierungsansatz ist darin auszumachen, dass ein Topoikatalog entworfen wird, wann eine rechtsvergleichende Argumentation stattzufinden habe: (1) When the court has to discover ›common principles of law‹; (2) When local law presents a gap, ambiguity, or is in obvious need of modernisation, and guidance would be welcome; (3) When a problem is encountered in many similar systems and it is desirable to have a harmonised response; (4) When foreign experience (aided by empirically collected

____________ 163

Teil 2, nach Fn. 162 und vor Fn. 156.

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Teil 2: Strukturen der Argumentation

evidence) can help disprove locally expressed fears about the consequences of a particular legal solution; (5) When the foreign law provides ›additional‹ evidence that a proposed solution has ›worked‹ in other systems; (6) When the statute that is interpreted comes from another legal system or has its origins in an international instrument; (7) When a court is confronted with law regulating highly technical matters rather than value-laden issues.164

Beide Ansätze scheinen mir unsicher. Mit dem ersten erscheinen rechtsvergleichende Argumente als monolithische Gebilde, von denen wir nicht näher wissen, wie sie funktionieren oder welche Fragestellungen sie abdecken. Im zweiten kann man zwar partiell vom Wann der Argumentation auf das Wie zurückschließen, doch ergibt sich daraus eher eine zufällige Korrelation als eine systematische Perspektive der relevanten Fragen. Strukturiert man dagegen rechtsvergleichende Argumente als die Verdoppelung der im eigenen Recht bekannten Argumentformen, so schließt man damit nicht nur an die praktisch relevanten Fragen an, mit denen die argumentativen Probleme im eigenen Recht angegangen werden, sondern erhält zugleich einen systematischen Überblick zu den Fragerichtungen eines rechtsvergleichenden Arguments. Die auf diese Weise gestaltete Explikationsstruktur schärft die Rationalität des rechtsvergleichenden Argumentierens also deshalb, weil sie uns gezielt über jene Fragen orientiert, die wir stellen, wann immer wir rechtsvergleichend argumentieren. Sie zeigt uns, von welchen Überlegungen wir ausgehen, wenn wir uns im rechtlichen Dialog nach rechtsvergleichenden Argumenten umsehen. III. Das Problem des Ethnozentrismus Der zweite Teil dieses Entwurfs hat das rechtsvergleichende Argumentieren mit einem Anspruch der Rationalität sowie den Argumentformen verbunden, wie sie im europäischen Kontext anzutreffen sind. Es liegt nahe, daraus auf eine ethnozentristische Konzeption der hier entworfenen rechtsvergleichenden Argumentationstheorie zu schließen. Der Entwurf basiere somit auf dem naiven Gedanken, die Idee einer rationalen Rechtsfindung, die sich argumentativer Instrumente wie Systematik, Grammatik, Historik (etc.) bedient, ließe sich selbstverständlich auch außerhalb des eigenen Rechts finden. Das andere Recht werde so am eigenen Rechtsverständnis gemessen und dieses unterschwellig als überlegen verstanden – also eine typisch ethnozentrische Geste auf der ganzen negativen Bedeutungslinie dieser Bezeichnung. Ein solcher Schluss aber wäre voreilig; denn er übersieht, dass der zweite Teil zwischen der Verflechtung und Vergleichung von eigenen und fremden Rechtskontexten unterscheidet. So fragt die Verflechtung nach der Struktur ____________ 164 So die Zusammenstellung bei Markesinis/Fedtke, Judicial Recourse to Foreign Law, 109–138.

D. Blick zurück und nach vorne

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eines einzelnen rechtsvergleichenden Arguments, während die Vergleichung erörtert, nach welchen methodischen Regeln diese Argumente aus dem anderen Recht zu gewinnen sind. Die (fraglos) europäische Strukturierung der Verflechtung macht somit noch keine methodische Aussage, wie einzelne Rechtskontexte miteinander zu vergleichen sind. Plastisch ausgedrückt, gibt sie die Ausgangs- und Zielpunkte, nicht aber die Wegmarken des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses an. Die Verflechtung führt also nicht unausweichlich in einen Ethnozentrismus. Näher betrachtet, arbeitet sie ihm vielmehr entgegen: Die rechtsvergleichende Argumentation von seinem eigenen Rechtskontext her zu strukturieren, bedeutet auch, die immer schon vorhandene Prägung durch die eigene Rechtskultur theoretisch bewusst zu reflektieren. So gesehen lässt sich für die Verflechtung hermeneutisch argumentieren. Sie macht die vor-gegebenen eigenen Grenzen deutlich, um ihre Überschreitung zu ermöglichen. Gleichwohl ist wichtig zu sehen, dass darin allenfalls ein erster Schritt gegen ethnozentristische Kurzsichtigkeit liegt. Die Vergleichung hat, um die Metapher fortzuführen, die von der Verflechtung begonnene Überschreitung somit in weiteren Schritten fortzugehen und methodisch zu profilieren. Der Raum rechtsvergleichenden Denkens (Teil 1) ist folglich nicht nur argumentationstheoretisch (Teil 2), sondern auch methodisch zu strukturieren. Das Problem des Ethnozentrismus weist so den Weg zur Thematik des dritten und letzten Teils des Entwurfs: den Strukturen der Methode von Rechtsvergleichung und rechtsvergleichender Argumentation.

Teil 3

Strukturen der Methode

A. Grenzüberschreitung Nachdem der erste Teil die Grenzziehung zwischen eigenem und anderem Recht dekonstruiert hatte, war es dem zweiten Teil aufgegeben, diese Grenze wieder zu rekonstruieren, ohne dabei hinter den erreichten Diskussionsstand zurückzufallen. Die Rekonstruktionen versuchten dem positivistischen Skeptiker zu zeigen, dass es bei einer klar strukturierten Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation unbegründet ist, die Idee einer normativen Rechtsvergleichung als eine grundsätzliche Bedrohung des eigenen Rechts zu empfinden. Im Gegenteil: Die Grenzrekonstruktionen des zweiten Teils vermochten nachzuweisen, dass rechtsvergleichende Argumente die Rechtsfindung im eigenen Recht rationalisieren können. Das mag ein Gericht oder die zum eigenen Recht arbeitende Juristin soweit überzeugen, dass sie bei dem einen oder anderen argumentativen Problem zum eigenen Recht tatsächlich erwägen, die Grenze zum anderen Recht praktisch zu überschreiten. Ein hartnäckiger Skeptiker der rechtsvergleichenden Argumentation wird sich zu einer solchen Grenzüberschreitung möglicherweise aber noch immer nicht aufraffen können. Und für seine Einstellung verbleibt ihm ein letztes, wichtiges Argument: Das Risiko, das andere Recht falsch zu verstehen und deshalb folgenreiche Missverständnisse für das eigene zu produzieren, ist praktisch nicht zu kontrollieren. Folglich verbietet sich rechtsvergleichendes Argumentieren letztlich doch, ganz unabhängig davon wie wünschenswert und wohl begründet es theoretisch sein mag. Auch in diesem Punkt ist der Skeptiker einer normativen Rechtsvergleichung ernst zu nehmen. Denn ohne eine methodische Struktur, die aufzeigt, wie sich die mit einer rechtsvergleichenden Argumentation verbundenen methodischen Risiken praktisch kontrollieren lassen, verbleibt eine rechtsvergleichende Argumentationstheorie vielleicht in der Tat besser eine theoretische Spekulation. Der dritte Teil entwirft deshalb eine risikobezogene Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation. Er beschäftigt sich also vor allem mit dem einleitend beschriebenen Problem des methodischen Risikos. Sein theoretischer Vorspann ist wesentlich kürzer, da er die bis hierher erarbeiteten Grundlagen übernimmt und direkt mit der Methodentheorie der Rechtsvergleichung einsetzt. Anschließend an deren Strukturen lässt sich demnach bereits über eine Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation nachdenken. Diese thematisiert vorweg, warum rechtsvergleichendes Argumentieren ein ernstzunehmendes methodisches Risiko impliziert und erörtert dann Möglichkeiten, wie man diese Risiken praktisch beherrschen könnte. Überlegungen zur Frage, wann eine vergleichende Argumentation beginnt, vervollständigen die Methodenstruktur, was danach eine abschließende Betrachtung ermöglicht, ob rechtliche Grenzen in rechtsvergleichenden Argumentationen wirklich überschritten werden sollten.

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Teil 3: Strukturen der Methode

B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung Etwas über die Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung sagen zu wollen, verlangt, sich mit der Suche nach einer Methode der Rechtsvergleichung auseinanderzusetzen. Diese Suche schien einmal bereits ihr Ende gefunden zu haben. An dieses Ende setzten Zweigert und Kötz vor über vierzig Jahren optimistisch die funktionale Methode der Rechtsvergleichung: »Das methodische Grundprinzip der gesamten Rechtsvergleichung, aus dem sich alle anderen Methodenlehrsätze – Auswahl der zu vergleichenden Rechte, Spannweite der Untersuchung, Systembildung etc. – ergeben, ist das der Funktionalität. Unvergleichbares kann man nicht sinnvoll vergleichen, und vergleichbar ist im Recht nur, was dieselbe Aufgabe, dieselbe Funktion erfüllt.«1 Man kann sicherlich sagen, dass die damit postulierte funktionale Methode sich nachhaltig auf den methodischen Diskurs in der Rechtsvergleichung auswirkte. Sie wird als Kreuzungspunkt fast aller Diskussionen bestimmt, von denen das Feld der Rechtsvergleichung geprägt ist oder als ein Teil jener angeblich unbestreitbaren Weisheiten, die dieses Feld beherrschen.2 Ans Ende der Suche hat sie allerdings nicht geführt. Vielmehr hat gerade ihre Kritik die möglichen Methoden der Rechtsvergleichung weit aufgefächert. Wenn man der funktionalen Methode und ihrer Kritik nachgeht, lässt sich somit vieles darüber erfahren, wie jene methodologische Suche bis heute verläuft. Genau das will ich nun tun.3 I. Funktionale Methode Die funktionale Methode vertritt das folgende rechtliche Grundverständnis: Sie sieht die Funktion von rechtlichen Institutionen darin, bestimmte gesellschaftliche Probleme zu lösen. Sie basiert somit auf drei Grundelementen: Problemen, Institutionen und Funktionen. Die Probleme gehen dabei vom Gesellschaftssystem aus, während die Institutionen dem gesellschaftlichen Subsystem des Rechts angehören. Die so getrennten Systeme sind dann über die Funktion miteinander verbunden: Das Recht funktioniert mit seinen in____________ 1 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 33 (Der Text der vorliegend zitierten dritten Auflage entspricht exakt demjenigen der ersten Auflage von 1971). 2 Michaels, The Functional Method of Comparative Law, 340; Legrand, Paradoxically, 644. 3 »Vieles« ist nicht »alles«: Sowohl die funktionale Methode wie auch ihre Kritik lassen sich in zahlreiche Formen differenzieren. Gleichwohl haben auch Rechtshistoriker die Entwicklung der Rechtsvergleichung mit diesen zwei Strängen verbunden (dazu Husa, Methodology of Comparative Law Today, 1097–1099). Mit der nachfolgenden Skizze sind somit die zentralen Momente der methodologischen Suche abgedeckt (für eine detaillierte Darstellung siehe Chodosh, Comparing Comparisons: In Search of Methodology).

B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung

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stitutionellen Lösungen als eine Antwort auf gesellschaftliche Probleme. In der Rechtsvergleichung wird dieses Grundmodell anschließend dadurch universalisiert, dass die Funktionalisten es anwenden, um sowohl das eigene wie das fremde Recht zu erklären. Ihre Annahme lautet also: Eigenes und fremdes Recht treffen sich in ihrer Funktionalität. Die Rechtsordnungen von verschiedenen Gesellschaften stimmen in ihrem funktionalen Ansatz überein. Somit verbindet die Funktion nicht nur eine Gesellschaft mit ihrem Recht, sondern sie führt auch die Rechte von verschiedenen Gesellschaften in einem universellen Bezugspunkt zusammen – der Funktion.4 Mit der Funktion allein sind die verschiedenen Rechtsinstitutionen allerdings für die Funktionalisten noch nicht vergleichbar. Institutionen müssen sich zudem auf das gleiche Problem beziehen: »In der Rechtsvergleichung ist seit langem anerkannt, daß vergleichbar nur diejenigen Regeln sind, die in verschiedenen Rechtsordnungen dieselbe Funktion erfüllen, nämlich den gleichen als problematisch empfundenen Lebenssachverhalt oder Interessenkonflikt ordnen wollen.«5 Zur Universalität der Funktion tritt somit die Universalität der Probleme hinzu. Folglich wird behauptet, dass »jede Gesellschaft ihrem Recht im wesentlichen die gleichen Probleme aufgibt«.6 Mit diesen Universalisierungen können die Funktionalisten dann die funktionale Gleichwertigkeit von rechtlichen Institutionen in verschiedenen Rechtsordnungen angeben: Institutionen, die sich funktional auf das gleiche Problem beziehen, bilden funktionale Äquivalente. Ihre Gleichheit geht jedoch nicht über diese eine Funktion hinaus. Funktionalisten vergleichen immer noch unterschiedliche Rechtsinstitutionen, die aber eine Funktion teilen, weil sie das gleiche Problem lösen.7 Man kann an den skizzierten theoretischen Annahmen ein Interesse der funktionalen Methode bereits deutlich ablesen. Ihr geht es darum, die funktionalen Äquivalente zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen aufzuspüren. Dieses Interesse wird bei Zweigert und Kötz mit der sogenannten praesumtio similitudinis noch unterstrichen: Man stelle »immer wieder fest, daß gleiche Bedürfnisse des Rechtsverkehrs in allen entwickelten Rechtsordnungen der Welt auf gleiche oder sehr ähnliche Weise gelöst werden. Man möchte insoweit geradezu von einer ›praesumtio similitudinis‹ sprechen, von einer Vermutung für die Ähnlichkeit der praktischen Lösungen.«8 In den fremden Rechtsordnungen funktionale Äquivalente zu vermuten, habe zwei methodische Konsequenzen: Zuerst sei das fremde Recht »mit dem ____________ 4 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 33; Michaels, The Functional Method of Comparative Law, 342; Frankenberg, Critical Comparisons, 435 f. 5 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 11. 6 Zweigert/Kötz, ebd., 33. 7 Michaels, The Functional Method of Comparative Law, 369. 8 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 39.

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Teil 3: Strukturen der Methode

Ziel möglicher Gleichartigkeit der praktischen Lösungen« zu untersuchen. Stelle der Forscher dann im Ergebnis gleichwohl »Verschiedenheiten oder gar völlige Gegensätze in den praktischen Lösungen fest, so sollte ihn dies aufmerken lassen und zu einer nochmaligen Prüfung auffordern, ob er die Frage nach der Funktion der Rechtsfiguren richtig und radikal genug gestellt, ob er den Umfang seiner Untersuchung weit genug gespannt hat.«9 II. Die Kritik Der Funktionalismus verteilt Gesellschaft und Recht auf zwei getrennte Systeme und lässt das Recht funktional mit gesellschaftlichen Bedürfnissen interagieren. Die Kritik weist sowohl die Auftrennung in Recht und Gesellschaft als auch die Vorstellung zurück, Gesellschaftsentwicklung und Recht würden sich einfach wechselseitig steuern. Das Recht sei mit dem gesellschaftlichen Leben derart eng verwoben, dass es nicht überzeuge, sie als getrennte Größen gegenüberzustellen. Recht werde der Gesellschaft nicht nachträglich hinzugefügt, sondern bilde für sie vielmehr ein konstituierendes Element. Missachte man dies, so übersehe man auch, dass viele rechtliche Normen und Theorien sich nicht funktional auf das gesellschaftliche Leben beziehen. Sie sind keine technischen Problemlösungen für gesellschaftliche Bedürfnisse, sondern Mythen, Rituale, Ausdruck von Gerechtigkeitsvorstellungen oder politischer Machtverteilung. In solchen Fällen spiegelt Recht nicht lediglich die Gesellschaft, sondern ist mit ihr kulturell verwoben. Man könne das Recht somit nicht als ein funktionales Epiphänomen an der Peripherie der Gesellschaft verstehen.10 An den Universalisierungen der Funktion und der Probleme, von denen die funktionale Methode ausgeht, setzt sich die Kritik fort. Anzunehmen, man könne das fremde Recht wie das eigene mit einem funktionalen Ansatz beschreiben, zeige ein fehlendes Bewusstsein dafür, dass es sich hierbei um ein ganz spezifisches Rechtsverständnis handle: ein formal technisches, regulatorisches Rechtsverständnis, das von der eigenen nationalen Rechtskultur informiert ist. Während sich ein solches Rechtskonzept im eigenen Recht vielleicht durchhalten ließe, wenn es von der Mehrheit seiner Juristen getragen werde, sei es auf das andere Recht nur mit einer ethnozentristischen Geste zu übertragen.11 Die Universalität von Problemen wird dann ebenso als mangelnde kulturelle Sensibilität gedeutet: Rechtliche Probleme und ihre Lösungen ließen sich nur universal verstehen, indem man sie losgelöst vom ____________ 9

Zweigert/Kötz, ebd. Frankenberg, Critical Comparisons, 423 f., 437 f.; Gordon, Critical Legal Histories, 102–109; Graziadei, The functionalist heritage, 110, 118–125; Nelken, Comparatists and Transferability, 446–452. 11 Frankenberg, ebd., 421 f., 437 f.; Samuel, Dépasser le fonctionnalisme, 409. 10

B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung

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kulturellen Umfeld betrachte, das sie hervorbringt. Soziale Probleme und ihre rechtliche Behandlung werden so in ein kulturelles Vakuum gestellt, das historische, gesellschaftliche, politische und psychologische Gegebenheiten ausklammere. Berücksichtige man hingegen die kulturelle Dimension von rechtlichen Problemen, ließe sich ihre Universalität nicht aufrechterhalten. Vielmehr wird selbst zum Problem, was ein Problem ist.12 Am schärfsten haben die Kritiker wohl auf die praesumtio similitudinis reagiert. Zunächst mit dem an das wissenschaftliche Ideal des kritischen Rationalismus angelehnten Argument, nach dem Forschende ihre Hypothesen nicht zu bestätigen, sondern zu widerlegen suchen: Man dürfe die Ergebnisse rechtsvergleichender Forschung nicht einfach als gleich vermuten, sondern müsse nach Kräften versuchen, seine Hypothesen zu falsifizieren.13 Noch grundsätzlicher setzt die Kritik an, die die praesumtio in eine Politik rechtsvergleichenden Gleichmachens einzeichnet. Der in der Rechtsvergleichung dominierende Diskurs privilegiere die Übereinstimmungen und unterdrücke die Unterschiede. Die praesumtio institutionalisiere diese Politik derart extravagant, dass sie sogar dazu auffordere, die Untersuchung von vorne zu beginnen, sollten sich Unterschiede ergeben. Eine solche Politik der Gleichheiten ließe sich allerdings nur behaupten, indem man die kulturelle Dimension des Rechts künstlich ausblende. Das führe indessen in einen unethischen, totalitären Diskurs des Gleichen, der das andere Recht nicht respektiere und den rechtsvergleichenden Diskurs letztlich in einer Einheit auflösen wolle. Rechtsvergleichende müssten daher nicht nur das Recht als kulturelles Phänomen akzeptieren, sondern bewusst die daraus folgenden Unterschiede privilegieren – hin zu einem principium individuationis.14 III. Methodentheorie nach dem cultural turn Der kritische Diskurs in der Rechtsvergleichung hat sämtliche Voraussetzungen der funktionalen Methode in Zweifel gezogen. Das führte einerseits zur Einsicht, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Auf der anderen Seite hat die Kritik aber nicht hinreichend geklärt, wie es weitergehen soll. Allenfalls weist sie auf Ansatzpunkte hin, worin eine neu ausgerichtete Methode der Rechtsvergleichung bestehen könnte. Ihr Schlüsselbegriff ist dabei selbst in einer kurzen Darstellung wie oben unschwer erkennbar. Er lautet ____________ 12

Legrand, The same and the different, 276 f.; Curran, Cultural Immersion, Difference and Categories in U.S. Comparative Law, 66, 71; Hill, Comparative Law, Law Reform and Legal Theory, 108. 13 Siehe dazu v. Benda-Beckmann, Einige Bemerkungen über die Beziehungen zwischen Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 57. 14 Legrand, The same and the different, 246, 249, 262, 264, 271 f., 284, 288, 303; ders., The Impossibility of ›Legal Transplants‹, 123; ders., Paradoxically, 706 f.

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Teil 3: Strukturen der Methode

Kultur. – Rechtskultur wird insbesondere über die Kritik an der funktionalen Methode zu einem zentralen Stichwort in der rechtsvergleichenden Methodendiskussion. Pointiert könnte man sagen, der functionalist turn sei in der Methodentheorie der Rechtsvergleichung durch einen cultural turn abgelöst worden.15 Das kulturelle Rechtsverständnis erweitert die Perspektive in der Methodendiskussion insoweit, als sie das Recht in einen vielfältigen kulturellen Kontext einbettet und so geltend macht, dass man über das Recht auch noch ganz anders als funktional nachdenken kann. Die Kritik weist dadurch über die regulatorische Instrumentalisierung des Rechts für gesellschaftliche Bedürfnisse hinaus. Dass hingegen der kulturelle Kontext zu berücksichtigen sei, wenn man fremdes Recht untersucht, ist ein methodischer Hinweis, der sich ebenfalls in der funktionalen Methodentheorie ausmachen lässt.16 In diesem Punkt wird die Methode durch die Kritik somit nicht grundlegend erweitert, sondern vielmehr anders akzentuiert: In der funktionalen Methode soll die kulturelle Analyse die funktionalen Gleichheiten in den Rechtsordnungen definieren, wohingegen die Kritik auf diese Weise vor allem deren Unterschiedlichkeit betonen will. Während jedoch die funktionale Methode den kulturellen Aspekt in ein zumindest praktikables Methodenkonzept einbezieht, bleiben die methodischen Anweisungen der Kritik zu wenig deutlich: Rechtsvergleichende hätten ein »tiefes oder dichtes Verständnis« oder eine »kulturelle Immersion« mit dem fremden Recht anzustreben. Was das genau bedeutet, wird nicht näher expliziert.17 Die Suche nach einer Methode der Rechtsvergleichung verlängert sich somit über den cultural turn hinaus. Die Ansätze, wie es weitergehen soll, sind freilich verschieden. Einige sehen in der funktionalen Methode nach wie vor den vielversprechendsten Weg. Sie nehmen die an ihr geübte Kritik auf und entwickeln den funktionalen Ansatz wissenschaftstheoretisch oder ökonomistisch weiter.18 Andere wollen dagegen sämtliche Grundannahmen des Funktionalismus abbauen und anstelle von Funktionen Konzepte mitei____________ 15 Ralf Michaels spricht ausdrücklich von einem »›functionalist turn‹« (Michaels, The Functional Method of Comparative Law, 344) und Graziadei weist darauf hin: »The catchword ›culture‹ has been recently used to express dissatisfaction with functional comparisons« (Graziadei, The functionalist heritage, 126). Zur Entwicklung der Rechtskultur als methodischem Konzept in der Rechtsvergleichung siehe Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, 710 f. 16 Zweigert, Des solutions identiques par des voies différentes, 13 f. 17 Zum ersten Hinweis Legrand, Econocentrism, 221, der damit Geertz, Thick Description, referenziert, und zum zweiten Hinweis Curran, Cultural Immersion, Difference and Categories in U.S. Comparative Law, 51. 18 Michaels, Two Paradigms of Jurisdiction, bezieht sich auf Kuhns Paradigmentheorie; de Coninck, The Functional Method of Comparative Law, wendet Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomik an.

B. Strukturen einer Methode der Rechtsvergleichung

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nander vergleichen.19 Dazwischen finden sich Autoren, die die Methodentheorie flexibilisieren möchten, indem sie den Funktionalismus zwar nicht verabschieden, jedoch hervorheben, dass er sich um andere methodische Ansätze ergänzen lässt.20 An dieser Stelle geht es nicht darum, sich für eine dieser Optionen zu entscheiden. Vielmehr will ich die Wegskizze zur methodologischen Suche nun abschließen, indem ich einige für die Methodentheorie nach dem cultural turn sowie die folgenden Überlegungen wichtige Punkte festhalte. Ein erster Punkt scheint mir die Idee eines methodischen Gleichgewichts zu sein. Damit meine ich, dass die methodische Komplexität der Rechtsvergleichung nicht zu unterschätzen, aber auch nicht zu überschätzen ist. Man kann dieses methodische Gleichgewicht mit van Hoecke als jenes zwischen einem epistemologischen Optimismus und einem epistemologischen Pessimismus beschreiben. Weder ist also davon auszugehen, verschiedene Rechte ließen sich ganz gut ohne spezifische methodische Maßstäbe vergleichen, noch ist zutreffend, die Schwierigkeiten fremdes Recht zu verstehen, führten in eine letztlich fiktionale Rechtsvergleichung, weil man das andere Recht nie wirklich verstehen könne. Beide Positionen zeichnen ein ebenso naives wie verzerrtes Bild der Realität.21 Sie führen, anders gesagt, in theoretische Ungleichgewichtslagen, indem sie die methodische Komplexität entweder zu hoch oder zu tief einschätzen. Entsprechend können ihre methodischen Folgerungen insgesamt nicht überzeugen. Aus der Entwicklung der bisherigen Methodentheorie ergibt sich mit dem methodischen Gleichgewicht also ein erster Orientierungspunkt für die weitere Methodendiskussion. Einen zweiten zentralen Punkt sehe ich darin, die Suche nach einer Methode der Rechtsvergleichung aufzugeben. Das bedeutet insbesondere auf die Wende von der Funktion zur Kultur nicht mit weiteren Wenden – beispielsweise einem pragmatical oder economic turn – zu reagieren. Denn tatsächlich über einen turn hinauszudenken, bedeutet auch in der Rechtsvergleichung nicht einfach von einer Wende zur nächsten überzugehen, sondern die wichtigsten Standpunkte auf einer Kreislinie möglicher Methoden auszuarbeiten. So lassen sich nicht nur einzelne Standpunkte des methodischen Kreises stabilisieren, sondern das Abschreiten der Kreisbahn behält die einzelnen methodischen Standpunkte jeweils im kritischen Blick der andern.22 ____________ 19

Brand, Conceptual Comparisons, 435. Husa, Farewell to Functionalism or Methodological Tolerance?, 446 f.; ders., Methodology of Comparative Law Today, 1110–1116; Samuel, Dépasser le fonctionnalisme; Örücü, Methodological Aspects of Comparative Law. 21 Vgl. v. Hoecke, Deep Level Comparative Law, 172–174. 22 Das Denken in Wenden ist vom linguistic turn in der Sprachphilosophie geprägt und so geht seine an dieser Stelle vorgestellte Auflösung ebenfalls auf sie zurück (Bertram/Lauer/Liptow/Seel, In der Welt der Sprache, 21 f.). 20

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Teil 3: Strukturen der Methode

Aus dem Gedanken eines methodischen Kreises ergibt sich zusammen mit der Idee eines methodischen Gleichgewichts noch ein dritter Punkt: Wenn es in der Rechtsvergleichung wichtig ist, verschiedene methodische Standpunkte im Spiel zu halten, dann sollte man die methodische Komplexität nicht dadurch reduzieren, dass man die auf der methodischen Suche erkannten theoretischen Probleme einfach ignoriert. Eine Methodentheorie sollte in diesem Sinne nicht reduktionistisch sein.

C. Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation Die Frage nach den Methoden der Rechtsvergleichung wird vorliegend auf dem Boden der rechtsvergleichenden Argumentation reformuliert. Da aber rechtsvergleichende Argumente ihrerseits methodisch zutreffend aufzubauen sind, gilt das Gleiche auch umgekehrt: Rechtsvergleichende Argumentation basiert auf den Methoden der Rechtsvergleichung. Nachdem dieser Entwurf jedoch auf das Problem der rechtsvergleichenden Argumentation ausgerichtet ist, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die methodischen Besonderheiten solcher Argumente. Sie entwickeln also nicht eine Methode der Rechtsvergleichung, sondern behandeln einzelne methodische Aspekte der rechtsvergleichenden Argumentation. Über den Begriff der ›Methodenstruktur‹ kann man das folgendermaßen ausdrücken: Die Methodenstruktur blickt von der rechtsvergleichenden Argumentationstheorie auf die Methodendiskussion in der Rechtsvergleichung. Sie bleibt so auf dem Boden der rechtsvergleichenden Argumentation, verbindet diese jedoch mit der methodischen Problemstellung und den Schwierigkeiten, die die Suche nach einer Methode der Rechtsvergleichung deutlich gemacht hat. Ich will die Methodenstruktur in drei Schritten entwickeln. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die in den ersten beiden Teilen angestellten Überlegungen unter dem methodischen Gesichtspunkt nochmals aufzunehmen. Im Vordergrund stehen dabei die Begriffe Rechtskontext und Pragmatik. Mit ihnen lässt sich klären, warum es prinzipiell wichtig ist, sich um ein möglichst richtiges Verständnis des anderen Rechts zu bemühen. Das zutreffende Verständnis des anderen Rechts wird danach zum Ausgangspunkt des zweiten Schritts. An dieser Stelle interessiert die Frage, wie der Arbeitsprozess der Rechtsvergleichung personell und institutionell zu strukturieren ist, damit rechtsvergleichende Argumente für das eigene Recht nicht zur theoretischen Hypothek werden. Welche strategisch wichtigen Punkte sind somit beim rechtsvergleichenden Argumentieren im Auge zu behalten, um solche Argumente inhaltlich kontrollieren zu können? Die Antwort auf diese Frage führt zum dritten Schritt. Rechtsvergleichendes Argumentieren bewegt sich in einer bestimmten personellen und institutionellen Struktur, doch welche

C. Methodenstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation

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methodischen Minimalanforderungen sind an den konkreten rechtsvergleichenden Arbeitsprozess zu stellen? Ein grundlegender Vergleichungsbegriff bildet das argumentative Zentrum dieses dritten Schrittes. I. Pragrammatologie der Vergleichung Pragrammatologie bezeichnet wie schon im vorangehenden Teil die Verbindung von Dekonstruktion und Pragmatik. An dieser Stelle wird mit der pragrammatologischen Perspektive aber nicht die juristische Argumentation erfasst, sondern die Methode der Rechtsvergleichung. Das formuliert erneut eine weitreichende Aufgabe der Theorienverbindung, die sich hier nicht in den Einzelheiten ausarbeiten lässt. Vorliegend soll nur ein für die rechtsvergleichende Argumentation methodisch zentraler Gesichtspunkt pragrammatologisch diskutiert werden: das Verständnis des anderen Rechts. Ausgehend vom Begriff einer Rechtskontextvergleichung sind zuerst die methodischen Schwierigkeiten, das andere Recht zu verstehen, aufzuzeigen. Anschließend will ich der möglicherweise etwas überraschenden Frage nachgehen, ob bei der rechtsvergleichenden Argumentation überhaupt ein richtiges Verständnis des anderen Rechts anzustreben sei. Die Antwort auf diese Frage wird dem im zweiten Teil erlangten Pragmatikverständnis die zentrale Rolle zuweisen. 1. Rechtskontextvergleichung als paradoxe Spiegelung Das Modell des Rechtskontextes hat die Komplexität, wie man das normative Geschehen im eigenen Recht untersuchen kann, deutlich erhöht. Recht wird bestimmt als dynamisch strukturierter Kontext, der sich im Zeichengebrauch der Rechtspraxis ständig verändert. Seine holistischen Verweisungen von Spuren beachten Normen und Fakten als Basis für die rechtliche Normativitätsbildung gleichermaßen. Damit rücken für den eigenen Rechtskontext außergesetzliche Wertungsmaßstäbe, theoretische Argumente oder Präjudizien ebenso in den Blickpunkt des normativen Geschehens wie der Normtext. Da sich aus der Perspektive eines spezifischen Kontextes zudem kein außerhalb des Kontextes denken lässt, vervielfacht sich diese Komplexität noch einmal – es treten ethische, historische, politische, ökonomische, soziologische, literarische (etc.) Gesichtspunkte zum Rechtskontext hinzu. All diese Zusammenhänge erläuterte der erste Teil anhand der Philosophie der Dekonstruktion. Das methodische Angebot einer Rechtskontextvergleichung lautet jetzt, das andere Recht ebenfalls als dekonstruktiven Rechtskontext zu verstehen. Angeboten wird also zunächst eine Denkbewegung, nämlich die Komplexität von eigenem und anderem Recht wechselseitig zu spiegeln: Das andere Recht ist mindestens so komplex wie das eigene Recht und umgekehrt. Man kann diese Denkbewegung bereits in einer jüngeren Studie ausmachen.

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Teil 3: Strukturen der Methode

»If understanding law implies much more when studying a foreign legal system compared to the study of the domestic legal system, it means that there are many elements which are implicitly and unconsciously determining the way law is perceived, interpreted and applied in one’s own legal system as well. If we can discover such elements, we may well be moving toward a complete agenda for comparative law. Moreover, this is also valid the other way around: comparative law makes us aware of the elements which are influencing the law at all levels, it confronts us with our hidden conceptual, ideological framework.«23

Die Studie will die impliziten rechtlichen Elemente im eigenen Recht entdecken, um daraus das Programm der Rechtsvergleichung zu bestimmen. Doch kehrt sie diese Bewegung anschließend ebenso in die Gegenrichtung: von der Rechtsvergleichung zurück zum eigenen Recht. Genauso führt vorliegend die Entdeckung des dekonstruktiven Rechtskontextes im eigenen Recht zum dekonstruktiven Rechtskontext des anderen Rechts. Und für die Rückwärtsbewegung gilt: Es ist die Thematik der rechtsvergleichenden Argumentation, die uns auf die vielschichtigen Strukturen im eigenen Recht aufmerksam macht. – Das methodische Angebot der Rechtskontextvergleichung ist nun mit den Stichworten Komplexität, interner Kommentar und der epistemischen Grenze zu präzisieren. Komplexität – Die Komplexität fixiert den scheinbar selbstverständlichen methodischen Hinweis, dass die Vergleichung so einfach nicht ist. Die Vielschichtigkeit, mit der die Dekonstruktion das normative Geschehen im eigenen Recht beschreibt, macht die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten gegenüber fremdem Recht unschwer einsichtig. Die Kritik an der funktionalen Methode hat allerdings deutlich gezeigt, dass man vorsichtig sein sollte, diese methodische Komplexität der Rechtsvergleichung für selbstverständlich zu halten. Vielmehr lässt sich sagen, dass die Kritik im Kern gerade geltend macht, die funktionale Methode habe diese Komplexität massiv unterschätzt, insbesondere wenn sie davon ausgeht, es lasse sich über (anderes) Recht nur funktional sinnvoll nachdenken. Im Sinne der oben genannten Idee eines methodischen Gleichgewichts ist es somit durchaus berechtigt, die Komplexität der Vergleichung theoretisch zu unterstreichen.24 Interner Kommentar – Die Komplexität von eigenem und fremdem Recht wird in der Rechtskontextvergleichung also wechselseitig gespiegelt. Diese Spiegelung ist freilich paradox. Denn sie besagt, dass im Spiegelbild alles anders sein kann, als das gespiegelte Objekt vorgibt. Methodisch führt das die Vergleichung mit dem anderen Recht zu einem internen Kommentar. Die interne Kommentierung bedeutet auch hier, dass eine Interpretation am ____________ 23

So v. Hoecke/Warrington, Legal Cultures, Legal Paradigms and Legal Doctrine, 497. Die Rechtskontextvergleichung kreuzt sich hier klar mit den Stimmen der Kritik. Das ist wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, dass diese manchmal auch als Kontextualisten bezeichnet werden (Husa, Methodology of Comparative Law Today, 1097–1099 und ausdrücklich in Fn. 71). 24

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spezifischen Kontext anzusetzen hat. Das Verständnis des anderen Rechtskontexts ist aus ihm selbst heraus zu entwickeln, weil er grundsätzlich völlig verschieden sein kann. Ein gutes Beispiel das zu verdeutlichen, haben wir bereits im zweiten Teil kennengelernt. Die dort entwickelte Explikationsstruktur der rechtsvergleichenden Argumentation ging von bestimmten Fragerichtungen des Ausgangskontextes aus. Das heißt nun natürlich nicht, man könne an den zu untersuchenden Referenzkontext dieselben Fragen richten. Es ist das andere Recht, das die relevanten Fragen kontextspezifisch definiert – womit zugleich gesagt ist, dass solche methodischen Regeln auch fehlen können.25 Epistemische Grenze – Mit dem Stichwort der epistemischen Grenze möchte ich das bisher Gesagte nochmals ein wenig anders beleuchten. Der zweite Teil hat zwischen thetischer und epistemischer Theorie unterschieden. Die rechtliche Episteme teilte er dann in Wissen und Doxa auf, von denen sowohl die rechtlichen Erklärungen wie die juristischen Argumentationen ausgehen – die epistemische Theorie wirkt handlungsleitend, so lautete sein pragmatisches Theorieverständnis. Überträgt man das auf den Rechtskontextbegriff, ergibt sich Folgendes: Episteme strukturiert die Praxis des Rechtskontextes; sie bildet dessen handlungsleitende Strukturen. Als Elemente des Rechtskontextes wird aber für solche epistemischen Strukturen deutlich, dass sie nicht nur mit rechtlichen, sondern ebenso mit politischen, sozialen, religiösen, historischen (usw.) Elementen komplex verwoben sind. All diese Verwebungen spielen für die im eigenen Recht sozialisierte und tätige Juristin in ihr Verständnis des Rechts und seine Anwendung hinein. Als Rechtsvergleicherin fehlen ihr hingegen die entsprechenden epistemischen Verwebungen zum anderen Recht. Da diese für sein Verständnis jedoch vorausgesetzt sind, ziehen sie ihrem Verständnis im Falle der Rechtsvergleichung eine epistemische Grenze. Es ist diese epistemische Grenze, die die Rechtsvergleicherin durch eine interne Kommentierung des anderen Rechts überwinden muss, will sie dieses andere Recht verstehen. 2. Pragmatistische oder hermeneutische Verknappung? Anderes Recht verstehen zu können, ist somit von nicht geringen methodischen Schwierigkeiten begleitet. Sind aber die methodischen Anforderungen bei der rechtsvergleichenden Argumentation möglicherweise herabgesetzt? Benötigt diese Argumentationsform tatsächlich ein zutreffendes Verständnis des anderen Rechts oder genügt es ihr, für die eigene Rechtsanwendung von ____________ 25 Der interne Kommentar hat also Züge einer »kulturellen Immersion« (vgl. Curran, Cultural Immersion, Difference and Categories in U.S. Comparative Law). Für das gewählte Beispiel der Rechtsmethodik schimmert dieser Ansatz jedoch auch bei Funktionalisten durch (vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 34).

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Teil 3: Strukturen der Methode

einer Lösung des anderen Rechts inspiriert zu sein, unbeachtet, ob das andere Recht sie tatsächlich kennt? Diese Fragen sind nicht so abwegig, wie sie zunächst klingen. Berücksichtigt man, dass sich die Methode jeweils nach dem Zweck einer rechtsvergleichenden Untersuchung richtet,26 ist eine entsprechende methodische Modifikation im Rahmen der rechtsvergleichenden Argumentation grundsätzlich denkbar. Begründen ließe sich diese Modifizierung möglicherweise mit der beschriebenen Spezifität des rechtsvergleichenden Argumentierens.27 Zielt rechtsvergleichende Argumentation auf die spezifische Lösung für ein Problem des Ausgangskontextes, so bestimmt das Interesse an einer für diesen Kontext ›guten‹ Problemlösung zugleich das methodische Vorgehen. Entscheidend wäre demnach die nützliche Inspiration durch anderes Recht, nicht zwingend aber seine objektive Darstellung. Genau so lauten die Formulierungen in einer neuen Studie: »Secondly, the process [of judicial comparison] is pragmatic, not scientific. It is about obtaining ideas and finding inspiration, not about the ›objective‹ scientific truth. A judge or a court can become inspired usefully and for the future workably even if completely misreading the foreign model. What is needed is an idea presumably compatible with the domestic legal environment. Whether such a distilled idea is indeed present in another legal system is of little relevance, provided the judge looks for functional inspiration, not foreign authority for the purpose of representation.« 28

Der pragmatische Charakter des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses soll also die methodische Genauigkeit herabsetzen. Diese Schlussfolgerung ist auch noch auf einem zweiten Weg zu erreichen. Es ließe sich das hermeneutische Argument, man könne das andere Recht aufgrund kultureller Differenzen niemals ›wirklich‹ verstehen,29 dahingehend radikalisieren, dass es nicht mehr auf sein richtiges Verständnis ankomme. Methodischer Fluchtpunkt sei deshalb ebenfalls nur noch, ob das andere Recht die eigene Rechtsanwendung zu einer praktisch brauchbaren Lösung inspiriert. Gleichermaßen wird also auf diesem Weg die methodische Genauigkeit des rechtsvergleichenden Prozesses verknappt. Dementsprechend bezeichne ich diese zweite Argumentationslinie als hermeneutische, die erste dagegen als pragmatistische Verknappung. ____________ 26

Vgl. Örücü, Methodological Aspects of Comparative Law, 31; Husa, Methodology of Comparative Law Today, 1115; Michaels, Im Westen nichts Neues?, 114. 27 Teil 2, nach Fn. 151. 28 Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 302 f. Basil Markesinis geht sogar noch einen methodischen Schritt weiter, wenn er die »kunstvolle (und wohlmeinende) Manipulation« vorschlägt, um die Vergleichbarkeit verschiedener Rechte herzustellen (so Markesinis, Why a code is not the best way to advance the cause of European legal unity, 520 – meine Übersetzung, TC). 29 So Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, 74–78.

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Beide Argumentationslinien scheinen mir nicht richtig zu sein. Bei der hermeneutischen Verknappung ist die Unstimmigkeit leicht ersichtlich. Sie beruht auf einem naiven epistemologischen Pessimismus und potenziert deshalb lediglich eine fehlerhafte Annahme, indem sie sie für ihre methodischen Schlussfolgerungen fortschreibt. Sie gerät, anders gesagt, in ein methodisches Ungleichgewicht, das es zu vermeiden gilt.30 Etwas komplizierter liegen die Dinge bei der pragmatistischen Verknappung. Die zitierte Studie schreibt, der rechtsvergleichende Prozess sei pragmatisch und nicht wissenschaftlich. Es gehe darum, Ideen und Inspiration, nicht aber ›objektive‹ wissenschaftliche Wahrheit zu erlangen. Notwendig sei eine Idee, die vermutlich zum eigenen Recht passe. Aus diesen Annahmen schließt die Studie folgerichtig, dass ein Gericht selbst dann nützlich inspiriert sein kann, wenn es ein ausländisches Modell vollkommen missversteht und es ebenso wenig bedeutsam sei, ob eine Idee in einem anderen Rechtssystem tatsächlich existiere. Die pragmatistische Verknappung bietet also einen fröhlichen rechtsvergleichenden Eklektizismus an. Ganz nach der vulgärpragmatischen Maxime »Wahr ist, was nützt« variiert sie: »Das andere Recht ist so, wie es nützt«.31 Was ist der pragmatistischen Verknappung entgegenzuhalten? Zweifelsohne würde Pierre Legrand in ihr eine unethische Instrumentalisierung des anderen Rechts erblicken. Wenn man dieses Argument aus dem Getöse herausfiltert, mit dem es Legrand bekanntlich vorträgt und in seiner Schlichtheit betrachtet, so wird man ihm Recht geben können und müssen.32 Aber es ist nicht einmal notwendig, dieses Gegenargument eingehend weiterzuverfolgen, um den rechtsvergleichenden Eklektiker in Verlegenheit zu bringen. Allein die bescheidene Nachfrage genügt, weshalb die Richterin sich nicht genauso gut in moralphilosophischen, religiösen oder psychoanalytischen Schriften umsehen sollte, wenn es letztlich nicht auf die tatsächliche, sondern bloß auf die nützliche Inspirationsquelle ankomme. Der rechtsvergleichende Eklektiker möchte das vielleicht als eine absurde Deutung seiner methodischen Vorstellungen abtun, doch er kann dies nur begründen, wenn er sein Pragmatikverständnis ändert. Er muss Pragmatik nicht mehr als ein Instrument der Nutzenmaximierung, sondern der Orientierung verstehen. So

____________ 30

Teil 3, bei Fn. 21. Die letzten Zeilen profitieren sprachlich und gedanklich von einer Kritik an dem von Richard Rorty vertretenen Pragmatismus (Bertram, Wovor weicht die Dekonstruktion nicht aus? oder Ist das Unzeitgemäße unumgänglich?, 214). Zum Verhältnis von Wohlrapps und Rortys Pragmatikverständnis siehe Teil 2, Fn. 26. 32 Rhetorisch und inhaltlich repräsentativ hierzu sind die meisten seiner Schriften, insbesondere aber Legrand, Paradoxically. 31

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Teil 3: Strukturen der Methode

kann er erklären, warum die Richterin zuallererst mit dem eigenen Normtext und zusätzlich vielleicht auch rechtsvergleichend argumentiert.33 Verschiebt sich das Pragmatikverständnis von Nützlichkeit auf Orientierung, wird allerdings eine Prämisse, von der die zitierte Studie ausgeht, fragwürdig. Nützliche Inspiration lässt sich nicht mehr den ›objektiven‹ wissenschaftlichen Wahrheiten gegenüberstellen, denn in einer differenzierten Pragmatik sind auch diese Wahrheiten pragmatisch. Sie sind das Wissen, das die Praxis orientiert.34 In diesem Pragmatikverständnis kann man Wissenschaft und Pragmatik somit nicht mehr antithetisch gegenüberstellen. Mit dieser Prämisse entfallen dann auch die Folgerungen, es komme weder auf die tatsächliche Existenz noch auf das richtige Verständnis des anderen Rechts an. Die orientierende Pragmatik weist gerade in die gegenläufige Richtung: Sie begründet rechtsvergleichendes Argumentieren als eine Möglichkeit, sich im eigenen Recht besser zu orientieren, weil dieses dem Wissen und der Perspektive des anderen Rechts ausgesetzt wird.35 Sind aber das andere Wissen und die andere Perspektive entscheidend, muss man folglich versuchen, dieses Andere soweit wie möglich als anderes zu verstehen. Ein Eklektizismus, der die tatsächliche Inspirationsquelle als letztlich wenig bedeutsam erklärt, läuft diesem methodischen Grundsatz augenscheinlich entgegen. Was sind die Konsequenzen, wenn man die rechtsvergleichende Methode auf die nützliche Inspiration und nicht auf das tatsächliche Verständnis des anderen Rechts ausrichtet? Ganz einfach: man verschenkt sich das Potential des anderen Rechts und übernimmt lediglich das Risiko unklarer theoretischer Hypotheken. Mit dem Gedanken der Transsubjektivität lässt sich das noch verdeutlichen. Er hatte im zweiten Teil auf eine spezifische Kompetenz des rechtsvergleichenden Argumentierens aufmerksam gemacht: Die rechtsvergleichende Argumentation kann blinde Stellen im eigenen Recht aufdecken, weil sie argumentativ an ein anderes Rechtssystem anschließt und so die habituelle Systematik des eigenen Rechts zu unterbrechen vermag.36 Diese Kompetenz kommt aber nur dann zum Tragen, wenn man das andere Recht auch als anderes Recht zu verstehen sucht. Ohne diese methodische Ergänzung bleibt sie kraftlos. Doch gerade diese Ergänzung findet im methodischen Schnellzug des Eklektizismus keinen Platz. Bei ihm besteht deshalb das Risiko, dass die eigenen blinden Stellen im anderen Recht fortgeschrieben werden. So geht es am Ende nicht mehr um die Vergleichung des Rechts, sondern seine Verselbigung. ____________ 33

Eingehend dazu Teil 2, vor/nach Fn. 129. Teil 2, bei Fn. 36. 35 Eingehend dazu Teil 2, bei Fn. 135. 36 Teil 2, bei Fn. 141. 34

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Endet eine Theorie der rechtsvergleichenden bei einer rechtsverselbigenden Argumentation, wurde irgendwo eine argumentative Abzweigung verpasst. Bei der zitierten Studie lässt sich dies auf einen reduktionistischen Methodenansatz zurückführen. Sie sieht die Probleme nicht bei der unpräzisen rechtsvergleichenden Praxis, sondern in den überhöhten methodentheoretischen Maßstäben. Und so versucht sie, diese Probleme verschwinden zu lassen, indem sie die Maßstäbe reduziert.37 Darin liegt ihr pragmatistischer Ausweg: Sie nimmt die Erkenntnisse der rechtsvergleichenden Methodendiskussion theoretisch nicht mehr auf und legt diese Diskussion mit dem Denken zu den Akten. – Ein differenziertes Pragmatikverständnis weist hingegen, wie gesehen, einen anderen Weg und zeigt überdies, dass nicht die Figur der rechtsvergleichenden Pragmatistin verfehlt ist. Lediglich jene des rechtsvergleichenden Eklektikers gilt es zu verabschieden.38 Die Bedeutung der pragmatischen Weichenstellung zwischen Nützlichkeit und Orientierung lässt sich noch besser erkennen, wenn man mit der zitierten Studie schon einige Zeilen früher einsetzt. Sie charakterisiert da den rechtsvergleichenden Argumentationsprozess folgendermaßen: »[The process of judicial comparison] is concerned with finding inspiration for a workable and, for the domestic framework, acceptable solution, which could be introduced into the domestic normative environment.«39

Das umreißt zutreffend den Grundgedanken der Spezifität: Die Vergleichskontexte werden mit Blick auf ein Problem des Ausgangskontextes miteinander verflochten und diese spezifische Problemstellung verlangt nach einer für den Ausgangskontext spezifischen Problemlösung. Diese Spezifität weist in der Tat darauf hin, dass die für den Ausgangskontext zweckmäßige Lösung des Problems nicht zwingend in der Antwort liegen muss, die ihm die herrschende oder tatsächlich praktizierte Rechtsauffassung im Referenzkontext entwirft. Die passende Lösung kann ebenso in einer gerichtlich nicht rezipierten Minderheitsmeinung eines Referenzkontextes bestehen.40 Dieses durchaus pragmatische Interesse an einer zweckmäßigen, passenden, opti____________ 37

Auf diese Weise löst die Studie letztlich die von ihr gestellte Ausgangsfrage zur methodischen Genauigkeit des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses, die ausdrücklich lautet: »Blurred Methodology or Blurred Yardsticks?« (Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 297–305). Zum Problem einer reduktionistischen Methodentheorie der Rechtsvergleichung siehe Teil 3, nach Fn. 22 und zur folgenden Pragmatismuskritik Bertram, Wovor weicht die Dekonstruktion nicht aus? oder Ist das Unzeitgemäße unumgänglich?, 200. 38 Auch wenn sie methodentheoretisch eine so beliebte Figur ist (vgl. beispielsweise Markesinis, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, 215; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 17). 39 Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 302. 40 Teil 2, nach Fn. 151.

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Teil 3: Strukturen der Methode

malen (etc.) Problemlösung impliziert aber keine methodische Beliebigkeit, wenn Pragmatik nicht als Nützlichkeitsdenken, sondern als Orientierung im Denken verstanden wird. In diesem Pragmatikverständnis bleibt es wichtig, was das andere Recht tatsächlich ausmacht. Dass die zweckmäßigste rechtsvergleichende Lösung nicht zwingend eine im Referenzkontext tatsächlich praktizierte sein muss, bedeutet daher nicht, man könnte die methodischen Anforderungen bei der Untersuchung des anderen Rechts reduzieren. Dass die zitierte Studie zu einem anderen Ergebnis kommt, liegt folglich wiederum an einem nicht hinreichend reflektierten Pragmatikverständnis. II. Strukturen der Vergleichung Die Pragrammatologie der Vergleichung verlangt von den Rechtsvergleichenden, sich um ein richtiges Verständnis des anderen Rechts zu bemühen. Gleichzeitig weist sie jedoch auf die methodischen Schwierigkeiten dieses Vergleichs hin. Missverständnisse hinsichtlich des anderen Rechts lassen sich niemals gänzlich ausschließen, so lautet ihre methodische Schlussfolgerung. Rechtsvergleichende Argumentation ist somit von einem grundsätzlichen methodischen Risiko belastet. Argumentiert die Richterin oder Juristin rechtsvergleichend, dann entscheidet sie sich für dieses methodische Risiko. Sie ist bereit, normative Konsequenzen aus ihrem Vergleich zu ziehen, obwohl sie die Komplexität des anderen Rechts vielleicht nicht vollständig überblickt: »Lawyers who choose to govern a given transaction by adopting legal techniques developed in a different cultural milieu act … at their own risk, of course.«41 Natürlich trifft zu, dass selbst eine Fehlinterpretation des anderen Rechts für das eigene produktiv sein kann.42 Doch die Möglichkeit von produktiven Missverständnissen sollte ebenso wenig wie die Spezifität zu methodischen Vereinfachungen verleiten. Pragmatisch gesehen bleibt es wichtig, sich methodisch am richtigen Verständnis des anderen Rechts zu orientieren. Die rechtsvergleichende Argumentation kann nicht bloß auf den glücklichen Zufall (des produktiven Missverständnisses) vertrauen. Und das muss sie auch nicht. Erneut kann man im Sinne eines methodischen Gleichgewichts formulieren: Das methodische Risiko der rechtsvergleichenden Argumentation ist irreduzibel, entzieht sich aber nicht jeglichem methodischen Kalkül. Die ›Strukturen der Vergleichung‹ verfolgen die Idee eines solchen methodischen Kalküls. Sie fragen danach, wie man den rechtsvergleichenden Argumentationsprozess personell und institutionell strukturieren könnte, um ____________ 41

Graziadei, The functionalist heritage, 113 – meine Hervorhebung, TC. Vgl. Frankenberg, Critical Comparisons, 445. Bekanntlich spielt die Figur des produktiven Missverständnisses auch in der Rechtsgeschichte eine Rolle (dazu Pichonnaz, Le malentendu productif, 167–169). 42

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die Risiken dieses Prozesses zu verringern. Entworfen wird also ein Grundschema, wie sich der rechtsvergleichende Arbeitsprozess organisieren ließe. Dieser Entwurf will nicht Einzelprobleme lösen, sondern die wesentlichen strategischen Abgrenzungen und Überlegungen systematisieren, die für den Prozess der rechtsvergleichenden Argumentation aus methodischer Sicht zu beachten sind. Die Strukturen der Vergleichung beziehungsweise kurz die ›Vergleichungsstruktur‹ ist folglich ein pragmatischer Entwurf: Sie versucht eine strukturelle Übersicht des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses zu schaffen, der diesen mit Blick auf seine methodischen Risiken orientiert. 1. Grundriss der Vergleichungsstruktur Die im zweiten Teil entwickelte Struktur des rechtsvergleichenden Arguments hat deutlich gemacht, dass Vergleichskontexte hinsichtlich sehr unterschiedlicher Fragen aufeinander bezogen werden können. Ihr zufolge fallen als rechtsvergleichende Argumente sowohl grammatische, historische, systematische, teleologische wie außergesetzliche Gesichtspunkte in Betracht. Daran schließt die Vergleichungsstruktur insoweit an, als sie davon ausgeht, dass diese Fragerichtungen ebenfalls sehr unterschiedliche Untersuchungsdichten auslösen können. Kennen zwei verschiedene Rechtsordnungen eine wortgleiche Norm, sind sie unter grammatischen Gesichtspunkten allenfalls leichter zu vergleichen, als wenn die systematische Stellung dieser Norm in beiden Rechten oder eine für sie im anderen Recht konzipierte dogmatische Theorie erörtert wird. Noch komplizierter mag sich die Situation darstellen, wenn das Folgenargument einer anderen Rechtsordnung analysiert wird, um daraus Schlüsse für die eigene Rechtsanwendung zu ziehen. Der Begriff der Untersuchungsdichte basiert somit auf der Annahme, dass die für ein rechtsvergleichendes Argument methodisch erforderliche Auseinandersetzung mit dem anderen Recht unterschiedlich intensiv sein kann. Damit ein rechtsvergleichendes Argument methodisch gültig ist, muss es die für dieses Argument geforderte Untersuchungsdichte aufweisen. Daran möchte ich eine erste pragmatische Unterscheidung knüpfen, indem ich zwischen kleinen und großen rechtsvergleichenden Argumentationsvorhaben differenziere. Kleine rechtsvergleichende Argumentationen sind auf eine geringe Untersuchungsdichte beschränkt, während große Argumentationen all jene Vorhaben abdecken, die eine tiefergehende Untersuchung voraussetzen. Für die kleinen rechtsvergleichenden Argumentationen fragt sich sogleich, wie sie sich zu den kleinen Rechtsargumentationen verhalten, von denen im zweiten Teil die Rede war.43 Die beiden Kategorien sind nicht logisch miteinander verbunden, sodass sie sich wechselseitig implizierten. Eine kleine ____________ 43

Teil 2, bei Fn. 101.

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juristische indiziert allenfalls eine kleine rechtsvergleichende Argumentation. Da aber noch weitere Momente hinzutreten, um eine Argumentation als ›kleines rechtsvergleichendes Forschungsprojekt‹ zu qualifizieren, sind diese beiden Kategorien mehr als selbstständige Größen denn in ihrem Zusammenspiel bedeutsam. Zwischen kleinen und großen rechtsvergleichenden Argumentationen zu unterscheiden, wird den feinen Abstufungen, die sich für die Auseinandersetzung mit dem fremden Recht denken lassen, offensichtlich nicht gerecht. Allein die vorhin genannten Beispiele könnten je mit einer eigenständigen Untersuchungsdichte verbunden werden. Auch innerhalb einer bestimmten Fragerichtung lassen sich unterschiedliche Untersuchungsdichten annehmen. So kann man sich eine theoretische Argumentation ebenso gut als kleines wie großes rechtsvergleichendes Forschungsprojekt vorstellen. Diese Differenzierung gleichwohl einzuführen, ergibt daher nur Sinn, wenn man sie um eine weitere pragmatische Unterscheidung ergänzt. Deshalb werde ich zusätzlich danach unterscheiden, ob das Gericht die rechtsvergleichende Argumentation selbst durchführt oder eine weitere Instanz in den Vergleichungsprozess einbezieht. Letzteres ist etwa der Fall, wenn sich das Gericht auf die rechtsvergleichenden Vorarbeiten aus der Wissenschaft stützt. Im ersten Fall spreche ich von dialogischer, im zweiten dagegen von trialogischer Rechtsvergleichung. Die Unterscheidung zwischen dialogischer und trialogischer Rechtsvergleichung führt neben dem entscheidenden Gericht weitere Instanzen in den rechtsvergleichenden Argumentationsprozess ein. Sie sollen die Probleme der Vergleichung bewältigen, wenn das Gericht die methodisch geforderte Untersuchungsdichte nicht selbst erreichen kann. Die trialogische Rechtsvergleichung kommt somit immer zur Anwendung, wenn ein großes rechtsvergleichendes Argumentationsvorhaben ansteht. Demgegenüber können die kleinen rechtsvergleichenden Argumentationen sowohl dialogisch wie auch trialogisch erarbeitet werden. Zusammengenommen gehen die beiden Unterscheidungen folglich davon aus, dass das Gericht kleine rechtsvergleichende Argumentationen wegen ihrer geringeren Untersuchungsdichte selbst durchführen kann. Für die tiefergehenden Analysen in großen rechtsvergleichenden Argumentationsvorhaben ist dagegen eine prozessunterstützende Instanz notwendig. Die zwei entscheidenden Fragen der Vergleichungsstruktur sind damit: Wann wendet die Richterin die dialogische Rechtsvergleichung an? Und: auf welche Instanzen kann sie im Trialog zurückgreifen? Auf diese beiden Fragen ist jetzt einzugehen. 2. Dialogische Rechtsvergleichung Die folgenden Ausführungen versuchen genauer anzugeben, wann die Richterin eine dialogische Rechtsvergleichung durchführen kann. Vorab will ich

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jedoch die Funktion dieser Argumentationskategorie noch etwas näher beschreiben. Wie der zweite Teil gezeigt hat, ist Rechtsargumentation dialogisch angelegt. Rechtliche Thesen werden im argumentativen Dialog auf ihre Geltung geprüft. Die Prüfung schließt unter anderem eine zeitliche und räumliche Selbstdistanzierung zur These ein. Entscheidet sich die Richterin, rechtsvergleichend zu argumentieren, distanziert sie sich zu ihrer These, indem sie diese um das Wissen und eine Kritik durch das andere Recht ergänzt. Nimmt sie diese transsubjektive Bewegung selbstständig vor, handelt es sich um dialogische Rechtsvergleichung. Ein solcher Alleingang hat drei wichtige Konsequenzen. Erstens ist zu beachten, dass aufgrund der methodischen Schwierigkeiten und der im Gerichtsverfahren notwendig begrenzten Zeit allein kleine rechtsvergleichende Forschungsprojekte dialogisch durchgeführt werden können. Zweitens hat sich die Richterin bewusst zu sein, in dieser Argumentationskategorie die methodischen Schwierigkeiten der Vergleichung selbst bewältigen zu müssen. Die dritte Konsequenz schließlich ist systematischer Natur. Eine rechtsvergleichende Argumentation, die über ein kleines Argumentationsvorhaben hinausgeht oder zu der sich die Richterin nicht in der Lage sieht, wechselt die Kategorie der Argumentation. Das bedeutet, die Argumentation hat dann nicht dialogisch, sondern trialogisch zu erfolgen. Diese letzte Konsequenz betont noch einmal den pragmatischen Charakter der hier entworfenen Vergleichungsstruktur. Die ihr zugrunde liegenden Kategorien – ›kleine‹ und ›große‹ sowie ›dialogische‹ und ›trialogische‹ Rechtsvergleichung – sollen nicht ordnen, sondern orientieren. Sie dienen als strategische Kategorien, um die Risiken rechtsvergleichender Argumentationen gezielt zu reduzieren. Dabei haben sich bis jetzt zwei Momente herauskristallisiert, die offenbar die Situation einer dialogischen Rechtsvergleichung anzeigen: Das erste ist das konkrete rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben, das zweite die Person, die die Rechtsvergleichung durchführt. Ich werde in einem ersten Schritt das Moment des Argumentationsvorhabens näher betrachten und die dabei angestellten Überlegungen in einem zweiten Schritt auf das personelle Moment erweitern. a) Kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben Die dialogische Rechtsvergleichung betrifft kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben. Wie lassen sich diese näher definieren? Als ein bestimmendes Moment wurde die kleine juristische Argumentation genannt. Kleine Rechtsargumentationen markieren argumentative Probleme im eigenen Recht, für deren Lösung schon verhältnismäßig viel epistemische Theorie bereitsteht. Gleichwohl sind aber einzelne thetische Orientierungspunkte zu setzen, um jene epistemischen Grundlagen anzuwenden. Die Problemlage ist also insoweit überschaubar, als dass ein dichtes rechtliches Vorwissen

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zum eigenen Recht existiert und sich die Argumentation auf Einzelpunkte beschränkt. Diese Situation besteht typischerweise bei der Präzisierung einer bestehenden Rechtsprechung aufgrund eines aktuellen Falles. Ich sagte, entsprechende Situationen indizierten eine kleine rechtsvergleichende Argumentation. Dahinter steht die Überlegung, dass der überschaubare Kontext einer kleinen Rechtsargumentation den rechtsvergleichenden Argumentationsprozess stabilisiert: Weil man die Problemlage im eigenen Recht besser überblickt, lässt sich leichter einschätzen, ob sie sich mit einem spezifischen rechtsvergleichenden Argument verträgt. Man kann somit das methodische Risiko einer rechtsvergleichenden Argumentation genauer kalkulieren und das erhöht den Spielraum für eine dialogische Rechtsvergleichung. Selbstverständlich lässt sich das methodische Risiko eines rechtsvergleichenden Arguments nicht gut abschätzen, wenn man nicht auch das andere Recht versteht. Aber hier hilft die Indizwirkung der kleinen Rechtsargumentation im eigenen Recht nicht weiter. Um von einem kleinen rechtsvergleichenden Argumentationsvorhaben auszugehen, muss vielmehr hinsichtlich des anderen Rechts selbst eine überschaubare Situation vorliegen. Die entscheidende Frage liegt dann darin, was diese Überschaubarkeit ausmacht. Das zentrale Moment dürfte sein, dass eigenes und fremdes Recht ›epistemisch miteinander verwoben‹ sind. Was ist damit gemeint? Wie oben beschrieben, kann man zwischen den Vergleichskontexten eine epistemische Grenze einzeichnen, die das Verständnis des anderen Rechts einschränkt.44 Durch epistemische Verwebungen wird diese Grenze nun (teilweise) überwunden. Eigenes und fremdes Recht überlagern sich epistemisch und sind daher leichter füreinander zugänglich. Beispiele für solche epistemischen Verwebungen wären etwa Rezeptionsvorgänge, eine vergleichbare Rechtsmethodik, historische Bezüge oder ein ähnlicher sozio-kultureller Kontext. Es sind somit die vorbestehenden kulturellen Verbindungen zwischen dem eigenen und dem anderen Recht, die letztlich die geringere Untersuchungsdichte einer kleinen rechtsvergleichenden Argumentation ermöglichen. Man kann kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben deshalb auch als intra-kulturelle Rechtsvergleichung apostrophieren.45 ____________ 44

Teil 3, nach Fn. 25. Der Gedanke, dass sich kultureller Abstand und Untersuchungsdichte beeinflussen, findet sich ebenso bei Brand, Conceptual Comparisons, 457; vgl. auch Örücü, Methodological Aspects of Comparative Law, 31 f. Zum Konzept intra- und trans-kultureller Rechtsvergleichung siehe die Studie von v. Hoecke/Warrington, Legal Cultures, Legal Paradigms and Legal Doctrine. Dagegen verwenden Zweigert und Kötz anstelle des Begriffs der Kultur jenen des Stils. In der Sache führt das aber zu keinen Unterschieden. Mit ihnen könnte man also formulieren: Kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben beziehen sich auf Rechtsordnungen, die demselben Stil angehören (vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 67–71). 45

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b) Die Richterin und ihr Argumentationsvorhaben Für das Programm der Rechtsvergleichung gilt allgemein, dass es zum einen über die persönlichen Fähigkeiten der Rechtsvergleichenden, zum anderen durch extrinsische Faktoren begrenzt wird.46 Bei der dialogischen Rechtsvergleichung bildet das kleine rechtsvergleichende Argumentationsvorhaben die extrinsischen Faktoren ab. In welcher Zeit, Qualität sowie Komplexität anderes Recht erfasst und argumentativ in das eigene Recht eingeflochten werden kann, hängt aber zweifellos auch davon ab, wer rechtsvergleichend argumentiert. Damit sind die intrinsischen Faktoren angesprochen. Ob also der methodische Alleingang der dialogischen Rechtsvergleichung praktisch möglich ist, richtet sich nicht nur nach dem spezifischen Argumentationsvorhaben, sondern ebenso nach den persönlichen Fähigkeiten der Richterin. Für die Frage, ob man eine dialogische Rechtsvergleichung durchführen kann, ist jedoch auch das Zusammenspiel zwischen extrinsischen und intrinsischen Faktoren von Bedeutung. So sind die epistemischen Verwebungen, die für die kleine rechtsvergleichende Argumentation sprechen, soweit (wie) möglich personell nachzuvollziehen. Es genügt nicht, wenn sie bloß extrinsisch hinsichtlich eines rechtsvergleichenden Argumentationsvorhabens bestehen, sie müssen bei der Richterin gleichzeitig intrinsisch vorausgesetzt werden – als dialogische Rechtsvergleicherin hat sie nicht nur die nötigen Sprachkenntnisse mitzubringen, sondern zum Beispiel auch die historischen Beziehungen zwischen dem eigenen und anderen Recht oder dessen soziokulturellen Kontext zu kennen. Nimmt man extrinsische und intrinsische Faktoren zusammen, führen sie bei der Richterin zu einer kritischen Selbstbefragung: Die Richterin hat sich die zentrale Frage vorzulegen, ob sie mit dem Referenzkontext sprachlich, rechtlich und sozio-kulturell hinreichend vertraut ist, um die nicht unerheblichen methodischen Schwierigkeiten der Vergleichung selbst bewältigen zu können.47 Dabei sind Situationen dialogischer Rechtsvergleichung sicherlich nicht leichthin anzunehmen. Zu viele Aspekte kommen in dieser methodischen Kategorie zusammen. Das lässt sich an einer idealen Beispielsituation für eine dialogische Rechtsvergleichung illustrieren: Man denke an einen in Deutschland ausgebildeten Rechtsprofessor, der an einer schweizerischen Universität als Ordinarius schweizerisches Schuldrecht unterrichtet und zudem ein Schiedsverfahren leitet, in dem das schweizerische Obligationenrecht anzuwenden ist. ____________ 46

Vgl. dazu Örücü, The Enigma of Comparative Law, 161–170. Ähnlich Husa: It »would be quite healthy for a comparative lawyer or comparative legal researcher to think about what she is methodologically equipped to do and what she is not« (Husa, Methodology of Comparative Law Today, 1116). 47

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3. Trialogische Rechtsvergleichung Rechtsvergleichende Argumentationen, die sich nicht dialogisch realisieren lassen, wechseln in die methodische Kategorie der trialogischen Rechtsvergleichung. Die Strukturen der Vergleichung sind somit methodisch flexibel angelegt und entsprechen so dem Grundgedanken, dass eine aussichtsreiche Methode der Rechtsvergleichung beweglich zu gestalten ist: »In a word, late modern comparative law needs a flexible understanding of comparative methodology. The idea of flexibility, methodological scale and teamwork would facilitate ruling out the need to limit research-questions just because one would lack certain methodological skill. This would open-up a far better vision for comparative study of law than outdated soloism…«48

Rechtsvergleichende Argumentationsprojekte brauchen also nicht zurückgestellt zu werden, wenn sich ein Gericht allein den methodischen Herausforderungen nicht gewachsen sieht. Indessen setzt das voraus, dass sich der Argumentationsprozess um Instanzen ergänzen lässt, die seine methodischen Risiken tatsächlich abfedern können. In der bisherigen Diskussion ist man sich durchaus bewusst, den rechtsvergleichenden Argumentationsprozess institutionell erweitern zu müssen. Allerdings werden solche Erweiterungen nicht immer mit einem tieferliegenden methodischen Problembewusstsein verbunden. Sie scheinen zuweilen bloß dadurch motiviert, die rechtsvergleichende Argumentation irgendwie praktikabel zu gestalten. In diesen Ansätzen steht also eher das Bedürfnis im Vordergrund, dass rechtsvergleichend argumentiert wird, nicht so sehr aber die Frage, wie das methodisch rational anzugehen ist. Das klingt dann etwa so: »Mein Aufsatz über die Greatorex-Entscheidung beruhte auf der Überzeugung, dass fremdes Recht am besten fruchtbar gemacht werden kann, wenn Wissenschaftler sinnvoll ausgewähltes fremdes Material für Rechtsanwälte zugänglich machen – die es dann ihrerseits im Gerichtssaal zur Gestaltung des nationalen Rechts benutzen, wenn es in seiner aktuellen Form entweder unklar, widersprüchlich oder in anderer Form unbefriedigend ist. Greatorex hat gezeigt, wie fremdes Recht in das nationale Recht hineingleiten kann, wenn es richtig aufbereitet und verpackt wird.«49

Der Fokus der hier entwickelten Vergleichungsstruktur ist ein anderer. Sie fragt, wie den methodischen Risiken der rechtsvergleichenden Argumentation praktisch begegnet werden könnte. Dazu trage ich nachfolgend zuerst die ____________ 48

Husa, Methodology of Comparative Law Today, 1116 f. Markesinis, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, 46 und öfter, insbes. 35–37, 153–156, 213 (ebenfalls kritisch dazu Ponthoreau, L’argument fondé sur la comparaison dans le raisonnement juridique, 541; zum Greatorex-Fall siehe Einleitung, bei Fn. 2); ähnlich Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, 18 f.; wesentlich näher am methodischen Problem dagegen Kötz, Der Bundesgerichtshof und die Rechtsvergleichung, 840–842. 49

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verschiedenen unterstützenden Instanzen zusammen, die ich anschließend auf ihre Möglichkeit befrage, inwieweit sie den methodischen Problemen tatsächlich begegnen können. a) Instanzen Die Instanzen, auf die die Richterin für eine trialogische Rechtsvergleichung zurückgreifen kann, lassen sich in vier größere Kategorien einteilen: Parteien, Rechtswissenschaft, Gutachten und Modellregeln. Sie alle können innerhalb des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses für das Gericht eine methodische Rolle spielen. Ich will die einzelnen Kategorien je kurz einführen, zunächst ohne ihre spezifischen methodischen Vor- und Nachteile zu diskutieren. Diese Diskussion folgt im anschließenden Abschnitt. Parteien – Eine erste Instanz, das Gericht methodisch zu unterstützen, könnte in den am jeweiligen Verfahren beteiligten Parteien beziehungsweise ihren rechtlichen Vertretern gesehen werden. Die Richterin könne, so wird vorgeschlagen, gestützt auf die prozessrechtlichen Vorschriften des nationalen Rechts die Parteien auffordern, ihr das erwünschte rechtsvergleichende Material vorzulegen. Und dies solle auch dort möglich sein, wo die Regel iura novit curia gelte.50 Rechtswissenschaft – Die Rechtswissenschaft zum eigenen Recht lässt sich als weitere Instanz denken, die dem Gericht für eine rechtsvergleichende Argumentation vorarbeiten kann. Es gibt zahllose Untersuchungen, die Probleme des eigenen Rechts in einer rechtsvergleichenden Perspektive erörtern und gestützt darauf neue Lösungen für das eigene Recht entwickeln.51 Basierend auf solchen Vorüberlegungen mag das Gericht anschließend seine eigene rechtsvergleichende Argumentation aufbauen.52 Bei dieser Kategorie von einem besonderen methodischen Vorgehen zu sprechen, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zur anderen Hälfte überschneidet sie sich nämlich mit der vorbereitenden theoretischen Argumentation zum eigenen Recht, die nicht rechtsvergleichend ansetzt. Dass die Rechtswissenschaft zum eigenen Recht die Gerichte auf diese Weise theoretisch unterstützt, ist bekanntlich nichts Außergewöhnliches, sondern ein vertrautes methodisches Vorgehen. Gutachten – Im Gegensatz zu den Vorarbeiten der Rechtswissenschaft fasse ich unter Gutachten wissenschaftliche Stellungnahmen zu konkreten ____________ 50 Kötz, Der Bundesgerichtshof und die Rechtsvergleichung, 841 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 19. Ein praktisches Beispiel dafür bietet die bei Markesinis diskutierte Greatorex-Entscheidung (siehe Markesinis, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, 167). 51 Vgl. nur die Hinweise bei Ranieri, Die Rechtsvergleichung und das deutsche Zivilrecht im 20. Jahrhundert, 794 f. 52 Vgl. die umfassenden empirischen Untersuchungen bei Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts.

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Teil 3: Strukturen der Methode

Fragen in einem laufenden Gerichtsverfahren zusammen. Genauer: Das Gericht verschafft sich den für seine Argumentation nötigen rechtsvergleichenden Sachverstand, indem es für bestimmte Fragen rechtsvergleichende Experten einbezieht. Man kann diese Kategorie in drei weitere aufschlüsseln. Es lässt sich zunächst danach unterscheiden, ob das Gericht inländische oder ausländische Experten anfragt. Für die inländische gutachterliche Tätigkeit ist dann weiter organisatorisch zu differenzieren. Das Gericht kann damit entweder eine externe Institution oder, soweit vorhanden, eine spezifische gerichtsinterne Fachstelle beauftragen.53 Auch diese Kategorien können mit vertrauten Institutionen erläutert werden. So lässt sich die Unterstützung durch interne Fachstellen analog zu den rechtsvergleichenden Vorarbeiten bei Rechtssetzungsprojekten denken, soweit diese institutionell abgestützt erfolgen. Da man entsprechende Vorarbeiten in der Rechtssetzung auch an externe Institutionen überträgt, dehnt sich diese Analogie zudem auf die externen Gutachten der rechtsvergleichenden Argumentation aus.54 Für diese externen inländischen und ausländischen Gutachten zuhanden der Gerichte kann man überdies die Parallele zu den Sachverständigengutachten nach prozessrechtlichen Bestimmungen ziehen. Die gutachterlichen Arbeitsformen zur rechtsvergleichenden Argumentation in Gerichten sind also nicht derart ausgefallen, wie man zunächst denken könnte. Modellregeln – Als methodische Option des rechtsvergleichenden Argumentierens haben internationale Modellregeln schon einige wissenschaftliche Beachtung gefunden.55 Zu den gegenwärtig einschlägigen Regelwerken gehören die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts (PICC), die Principles of European Contract Law (PECL) sowie der Draft Common Frame of Reference (DCFR).56 Sie alle beruhen auf den rechtsvergleichenden Vorarbeiten von internationalen Arbeitsgruppen. Die PICC sind thematisch auf das internationale Wirtschaftsvertragsrecht ausgelegt, während die PECL und der DCFR auf den europäischen Kontext fokussieren. Die Modellregeln für die Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts einzusetzen, wird entsprechend mit der Überlegung begründet, dass sie den ____________ 53 Beispiele in der Gerichtspraxis für solch expertengestützte rechtsvergleichende Argumentation finden sich sowohl für interne wie externe inländische Gutachten (vgl. Bobek, Comparative Reasoning in European Supreme Courts, 1; Drobnig, Rechtsvergleichung in der deutschen Rechtsprechung, 626 f.). 54 Siehe zur unterstützenden Funktion der Rechtsvergleichung in der Rechtssetzung etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 14–16. 55 Siehe etwa Kramer, Konvergenz und Internationalisierung der juristischen Methode, 82 sowie Canaris, Die Stellung der »UNIDROIT Principles« und der »Principles of European Contract Law« im System der Rechtsquellen. 56 Eine Übersicht bietet Zimmermann, Textstufen in der modernen Entwicklung des europäischen Privatrechts.

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nationalen Gerichten die notwendige rechtsvergleichende Bezugsgröße verfügbar machen, um eine europäische Rechtsharmonisierung organisch herbeizuführen beziehungsweise eine interessengerechte Regelung für grenzüberschreitende Transaktionen zu ermöglichen.57 b) Diskussion Für jede Kategorie der unterstützenden Instanzen finden sich Beispiele aus der Gerichtspraxis. Fest steht damit, dass die Gerichte sie einsetzen, um rechtsvergleichend zu argumentieren. Unklar bleibt, wieweit dieses methodische Vorgehen für die einzelnen Kategorien trägt. Die theoretische Herausforderung ist also weniger, die möglichen Instanzen zu bestimmen, als vielmehr sie mit Blick auf die methodische Problemstellung kritisch durchzusehen. Kann man mit ihnen die methodischen Risiken rechtsvergleichenden Argumentierens tatsächlich kontrollieren? Ich gehe die Frage für die einzelnen Instanzen der Reihe nach durch und schließe sie mit einem Fazit ab. Parteien – Bei den Parteien lässt sich aus verschiedenen Gründen zweifeln, ob sie die methodischen Probleme für das Gericht kompensieren. Es ist bereits fraglich, inwiefern sie hinsichtlich verfügbarer Zeit und Fähigkeiten in einer grundsätzlich vorteilhafteren Position sein sollten als die Gerichte. Gegen die Annahme, in ihnen eine methodisch verlässliche Instanz zu sehen, spricht aber noch grundlegender ihre naturgemäß interessengebundene Argumentation vor Gericht. Sofern Anwälte die juristische Argumentation für ihre Parteien übernehmen, sind sie auf eine entsprechende Interessenwahrung sogar verpflichtet. Unter der methodischen Annahme zu arbeiten, die Parteien und ihre Vertreter würden ein ihrem Rechtsstandpunkt nützliches, aber vielleicht nicht richtiges rechtsvergleichendes Argument auf dem Altar der wissenschaftlich objektiven Forschung opfern, wäre genauso naiv, wie es für die Parteien legitim ist, den für sie günstigsten Rechtsstandpunkt zu vertreten. Die Parteien beziehungsweise ihre Rechtsanwälte können für die rechtsvergleichende Argumentation die wichtige Funktion übernehmen, das Gericht auf entsprechende Argumentationslinien hinzuweisen. Man soll von ihnen jedoch nicht erwarten, diesen Argumentationsprozess methodisch abzusichern. Rechtswissenschaft – Die Rechtswissenschaft des eigenen Rechts ist wohl die klassische unterstützende Instanz einer rechtsvergleichenden Argumen____________ 57

Für die PECL vertritt diesen Gedankengang Zimmermann, Die Europäisierung des Privatrechts und die Rechtsvergleichung, 39 f.; ders., Ius commune and the Principles of European Contract Law, 37 f., mit Hinweisen auf Rechtsprechung; zu den PICC Berger, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung, insbes. 59–61, 64, mit Hinweisen auf die schiedsgerichtliche Rechtsprechung.

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tation durch das Gericht. Sie kann für diese Aufgabe die Zeit und zumindest auch das fachliche Potential aufbringen. Ob sich dieses Potential in rechtsvergleichenden Argumenten tatsächlich realisiert, hängt indessen von denselben Schwierigkeiten ab, denen die Rechtsvergleichung allgemein ausgesetzt ist. Diese zu Beginn des dritten Teils beschriebenen methodischen Probleme können, so habe ich argumentiert, nicht über die spezifische Zielsetzung der rechtsvergleichenden Argumentation unterlaufen werden. Auch sie muss versuchen, das andere Recht als anderes Recht zu verstehen. So bleibt auch die bei der dialogischen Rechtsvergleichung geschilderte kritische Selbstbefragung erhalten. Einzig hat sich nun die Rechtsvergleicherin anstelle der Richterin über ihre methodischen Möglichkeiten Rechenschaft abzulegen. Für die Richterin wird in der trialogischen Situation dagegen eine andere Frage dringlich: Wie kann sie beurteilen, ob eine wissenschaftliche Untersuchung die methodischen Probleme eines rechtsvergleichenden Ansatzes bewältigt? Rechtsvergleichende Arbeiten unterscheiden sich hier in einem wichtigen Punkt von nicht rechtsvergleichend erarbeiteten Theorievorschlägen der Rechtswissenschaft. Diese kann das Gericht wesentlich leichter auf ihren argumentativen Gehalt überprüfen, weil sie von einem ihm vertrauten Rechtskontext ausgehen. Mit Blick auf die inhaltliche Stimmigkeit einer rechtsvergleichenden Argumentation ist die Prüfung ungleich schwieriger, da das Gericht einen zugrunde gelegten Referenzkontext nicht kennen muss. Fehlen dem Gericht entsprechende Kenntnisse, verschiebt sich die Überprüfungsmöglichkeit deshalb tendenziell von inhaltlichen auf formale Aspekte. Die Untersuchungen sind dann nebst ihrem argumentativen Gehalt auf Methoden, Differenzierungsgrad, Aktualität, ersichtliche Forschungsaufenthalte vor Ort oder an rechtsvergleichenden Instituten (etc.) durchzusehen. Anders gesagt: Die Prüfung wird auf »Randgänge« gelenkt.58 Gutachten – Bei dieser Kategorie scheint die naheliegendste Frage nicht zu sein, ob sie den methodischen Schwierigkeiten begegnen kann, sondern ob sie sich nicht aufgrund ihrer Kosten ausschließt. Ich will es diesbezüglich bei den gegebenen praktischen Hinweisen belassen59 und bei der Ausgangsfrage bleiben: Sind Gutachten eine verlässliche unterstützende Instanz des rechtsvergleichenden Argumentationsprozesses? Das ist nicht ohne Weiteres klar. Was den zeitlichen Aspekt anlangt, sind sie ambivalent. Auf der einen ____________ 58

Derrida, Randgänge der Philosophie. Ähnlich empfiehlt Frankenberg: »To cope with ethnocentrism, we have to analyze and unravel the cultural ties that bind us to the domestic legal regime. A practical and rather fascinating beginning could be a deviant reading of comparative legal literature focusing on the marginal stuff that is normally skipped for lack of relevance. Forewords and prefaces have interesting stories to tell…« (Frankenberg, Critical Comparisons, 443). 59 Siehe die Nachweise in Teil 3, Fn. 53.

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Seite erfolgen sie hinsichtlich eines aktuellen Falles und befinden sich damit auf der Höhe der Zeit. Andererseits schränkt gerade dieser Fallbezug den rechtsvergleichenden Prozess zeitlich ein. Zwar kann das Fachwissen der Experten diese zeitliche Eingrenzung grundsätzlich kompensieren. Jedoch sind bei inländischen Gutachten die methodisch erforderlichen Kompetenzen nicht selbstverständlich vorausgesetzt. Vielmehr unterliegt der Gutachter derselben selbstkritischen Fragestellung wie vorhin die Richterin und die Rechtsvergleicherin. Bei ausländischen Gutachten ist die Schwierigkeit dagegen eine kommunikative. Der Austausch von rechtsvergleichenden Fragen und Antworten zwischen Ausgangs- und Referenzkontext führt über epistemische Grenzen, womit nicht in jedem Fall gewährleistet ist, dass eine gutachterliche Antwort ihre Ausgangsfrage wiederfindet. Dieses Problem gilt natürlich genauso für die Kategorie ›Parteien‹, soweit hier Parteigutachter eingesetzt werden. Modellregeln – Internationale Modellregeln bieten auf den ersten Blick eine ideale Lösung, weil sie über einen längeren Zeitraum von Forschungsgruppen ausgearbeitet werden, die sich aus Juristen verschiedener Rechtsordnungen zusammensetzen. In diesem Vorgehen vereinen sich also Vorteile der Kategorien von Rechtswissenschaft und Gutachten. Doch auch für die Modellregeln ist eine nähere Betrachtung angezeigt. Es gilt die zentrale Unterscheidung zu beachten, dass solche Modellregeln sich nicht nur trialogisch, sondern auch dialogisch einsetzen lassen. Im ersten Fall verwendet sie das Gericht, um die Rechtslage in einem bestimmten anderen Recht zu ermitteln. Insofern ist jedoch klar, dass die Modellregeln diese Rechtslage gerade nicht vermitteln, denn sie repräsentieren ja eine Lösung für rechtliche Probleme, die sich aus verschiedenen Rechten zusammensetzt. Trialogisch sind sie deshalb nur soweit von Bedeutung, als sie über rechtsvergleichende Anmerkungen (»Notes«) verfügen, die einen ersten (aber nicht einen vollständigen) Zugang zu ausländischem Material herstellen.60 Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Modellregeln als einen selbstständigen Referenzkontext zu betrachten. In diesem Fall handelt es sich aber um eine dialogische Rechtsvergleichung, die nicht mehr der hier verfolgten Fragestellung entspricht. Ich beschränke mich deshalb auf einige knappe Hinweise. – In der dialogischen Situation stellt sich vor allem die Frage, weshalb man eine Modellregel zum Referenzkontext wählen sollte. Im Ansatz lässt sich das mit der oben erwähnten Überlegung einer europäischen oder transnationalen Systembildung begründen.61 Schließt sich eine rechtsvergleichende Argumentation tatsächlich an Modellregeln an, sind dann na____________ 60

Im Ergebnis ebenso Smits, Comparative Law and its Influence on National Legal Systems, 536. 61 Teil 3, bei Fn. 57.

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mentlich drei Dinge zu beachten. Zuerst: Selbst wenn einzelne der in ihnen enthaltenen Regeln einen common core reflektieren, sind sie nicht zwingend die für den Ausgangskontext zweckmäßigste Lösung.62 Zweitens verkörpern die einzelnen Modellregeln auch für sich genommen nicht unbedingt die besten Lösungen, wenn ihr rechtsvergleichender Erarbeitungsprozess strukturelle Schwächen aufweist.63 Und schließlich ist im Auge zu behalten, dass diese Modellregeln zumeist nur Regeln, nicht aber juristische Argumente enthalten, die sie begründen.64 Ihre Bedeutung als Quelle für rechtsvergleichende Argumente ist somit nicht zu überschätzen. Fazit – Die Ausführungen dieses Abschnitts sind der Frage nachgegangen, inwieweit die vorgestellten unterstützenden Instanzen die methodischen Risiken der rechtsvergleichenden Argumentation kontrollieren können. Eine eindeutige Antwort ließ sich nicht finden. Eine Richtungsangabe ist gleichwohl möglich. So vermitteln Parteien und Modellregeln einzelne Orientierungspunkte, wie rechtsvergleichend argumentiert werden könnte. Sie vermögen diesen Argumentationsprozess jedoch nicht methodisch abzusichern. Gutachten und Rechtswissenschaft garantieren die methodische Korrektheit zwar ebenfalls nicht und dennoch reichen ihre methodischen Möglichkeiten wesentlich weiter. Die sorgfältige Prüfung des konkreten rechtsvergleichenden Beitrages durch das Gericht mag hier folglich das methodische Risiko einer rechtsvergleichenden Argumentation zu einem kalkulierten methodischen Risiko werden lassen. III. Wann beginnt Vergleichung? Mit der Frage, wann eine vergleichende Argumentation beginnt, erfolgt der letzte Schritt in der methodischen Strukturierung der rechtsvergleichenden Argumentation. Was bleibt noch zu klären? Die vorangehenden Überlegungen haben den Prozess der rechtsvergleichenden Argumentation in eine bestimmte personelle und institutionelle Struktur eingebettet. Sie taten dies mit Blick auf die methodischen Risiken dieses Argumentationsprozesses. Damit sind jedoch die methodischen Aspekte einer einzelnen rechtsvergleichenden Argumentation noch nicht thematisiert. Die Frage, mit der sich die Methodenstruktur deshalb abschließend auseinandersetzt, lautet: Welche sind die methodischen Minimalanforderungen, die eine rechtliche Argumentation zu einer rechtsvergleichenden machen? Kurz: Wann beginnt Vergleichung? Die folgenden Ausführungen kreisen demnach um einen grundlegenden Vergleichungsbegriff der rechtsvergleichenden Argumentation. ____________ 62

Teil 2, nach Fn. 152. Siehe dazu Doralt, Strukturelle Schwächen in der Europäisierung des Privatrechts. 64 Jansen/Zimmermann, Was ist und wozu der DCFR?, 3406. 63

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Rechtskontext-Vergleichung – Rechtskontextvergleichung beschreibt die rechtsvergleichende Argumentation mit den Elementen des Rechtskontextes einerseits sowie der Vergleichung andererseits. Im ersten Teil habe ich mit dem Begriff des Rechtskontextes die Möglichkeit normativer Beziehungen zwischen eigenem und anderem Recht erklärt. Im zweiten Teil stellte er den Ausgangspunkt, um die Struktur des rechtsvergleichenden Arguments zu bestimmen. Das führte zum Strukturbegriff der Kontextverflechtung. Die Verflechtung, so habe ich gesagt, adressiere das Problem, wie Argumentationen zwischen einzelnen Rechtskontexten strukturiert sind. Die Vergleichung von Rechtskontexten behandle dagegen, wie sich diese Argumentationen methodisch strukturieren. Die Rechtskontext-Verflechtung ist, so gesehen, ein begrifflicher Zwischenschritt im Konzept der Rechtskontext-Vergleichung. Der aktuelle dritte Teil beschäftigt sich deshalb damit, dieses Konzept um das noch fehlende Vergleichungsmoment zu ergänzen.65 Die Bedeutung dieser konzeptuellen Ergänzung ist anhand der Beispiele aus der Einleitung wie folgt zu verstehen: In ihnen übernahm das Gericht das Argument eines ausländischen Urteils beziehungsweise bezog sich für eine Begriffsdefinition auf einen ausländischen Gesetzeskommentar.66 Bezüge dieser Art auf anderes Recht sind sowohl für den gerichtlichen wie den wissenschaftlichen Diskurs typisch. Umso wichtiger daher die Frage: Kann man bei solchen Bezügen überhaupt von einem vergleichenden Vorgehen sprechen? Oder prägnanter: Geht es in solchen Fällen wirklich noch um eine rechtsvergleichende Argumentation? Mit der bis dahin entwickelten Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation könnte man geneigt sein, dies zu bejahen – denn entsprechende Bezüge ließen sich als eine Verflechtung von Vergleichskontexten deuten. Zweifelhaft wird diese Schlussfolgerung allerdings, wenn sie der traditionellen Auffassung gegenübergestellt wird, nach der eine Vergleichung zumindest darin besteht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede rechtlicher Lösungen herauszuarbeiten.67 Die bloße Übernahme eines anderen Rechtsarguments wäre also keine Vergleichung und somit ließe sich auch nicht von einer rechtsvergleichenden Argumentation sprechen. Soll die bloße Übernahme nicht als vergleichende Argumentation gelten, hat sich die Vergleichung begrifflich und inhaltlich von der Übernahme abzusetzen. Genau dafür werde ich im Folgenden argumentieren. Das verlangt indessen nach einer weiteren terminologischen Ergänzung, will der vorliegende Entwurf konsistent bleiben: Wer einerseits die Vergleichung von der Übernahme differenziert, andererseits aber im zweiten Fall aufgrund der bis ____________ 65

Zur Rechtskontextvergleichung bereits Teil 3, vor/nach Fn. 23. Siehe Einleitung, bei Fn. 1. 67 Siehe etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 42 f. 66

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dahin entwickelten Theorie weiterhin von rechtsvergleichender Argumentation spricht, begeht einen Kategorienfehler. Er ordnet die Übernahme eines rechtlichen Arguments in eine vergleichende Kategorie ein, nachdem er sie von dieser kategorisch getrennt hat. Diese Unstimmigkeit ist zu vermeiden, indem man eine Kategorie definiert, die jene Fälle erfasst, die keine rechtsvergleichenden Argumentationen bilden, obwohl sie deren Argumentationsstruktur entsprechen. Ich bezeichne diese Kategorie als rezipierende Rechtsargumentation. Rezipierende Rechtsargumentation – Eine rezipierende Rechtsargumentation ist eine juristische Argumentation, die in einem trivialen Sinn die Grenze zwischen eigenem und anderem Recht überschreitet. Sie zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass sie sich mit Blick auf ein argumentatives Problem des eigenen Rechts in einem anderen Rechtskontext umsieht. Obwohl ihr somit das Moment der Vergleichung fehlt, kann man sie weitgehend in den Begriffen der rechtsvergleichenden Argumentationsstruktur rekonstruieren. So lässt sich sagen, dass bei einer rezipierenden ebenso wie bei rechtsvergleichenden Argumentationen verschiedene Rechtskontexte miteinander verflochten werden. Die rezipierende Rechtsargumentation bezieht den Ausgangskontext hinsichtlich spezifischer rechtlicher Argumentformen auf einen Referenzkontext und geht so über jenen hinaus. Für die so definierte rezipierende Rechtsargumentation ist klar, dass sie auch jene Fälle erfasst, in denen das eigene Recht mit einem beliebigen einzelnen Argument eines fremden Rechtskontextes durchsetzt wird. Jegliche Einflechtung von Argumenten aus einem anderen Recht als grammatikalische, historische, systematische, teleologische oder außergesetzliche Argumente innerhalb des eigenen Rechtskontextes entspricht einer rezipierenden Argumentation, da die Juristin argumentativ über das eigene Recht hinausgreift. Es genügt also, wenn sie ein aus ihrer Sicht inspirierendes oder nützliches Argument ins eigene Recht übernimmt. Entgegen dieser rezipierenden Rechtsargumentation hat jetzt ein grundlegender Vergleichungsbegriff zu zeigen, mit welcher zusätzlichen Bedingung entsprechende Übernahmen zu rechtsvergleichenden Argumentationen werden. Vergleichung als reflektierte Distanzierung – Die rezipierende Rechtsargumentation trägt unübersehbar die Charakterzüge der erörterten pragmatistischen Verknappung des rechtsvergleichenden Argumentierens. Man kann diesen Zusammenhang folgendermaßen formulieren: Wählt man den methodischen Weg, den die pragmatistische Verknappung einschlägt, endet man in der rezipierenden Rechtsargumentation. Liegt der argumentative Fluchtpunkt nicht im zutreffenden, sondern im nützlichen Verständnis des anderen Rechts, ist es für die eigene Argumentation hinreichend, die gemäß eigener Sichtweise inspirierenden oder brauchbaren Argumente des anderen Rechts zu übernehmen. Indem aber die Vergleichung solche rezipierenden von ver-

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gleichenden Argumentationen abgrenzt, erweist sie sich als ein kritischer Begriff, der sich gegen eine pragmatistisch verknappte Methode des rechtsvergleichenden Argumentierens stellt. Gerade weil zwischen rezipierenden und vergleichenden Argumentationen oberflächlich eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit besteht, kann man diese Kritik des Vergleichungsbegriffs nicht genug betonen: Vieles, was auf den ersten Blick eine rechtsvergleichende Argumentation zu sein scheint und als solche bezeichnet wird, ist bei kritischer Betrachtung nichts anderes als eine unreflektierte Rezeption anderen Rechts.68 Worin besteht jetzt aber die Operation des Vergleichens? Einen versteckten Hinweis gibt eine bereits einleitend zitierte Textstelle zur Theorie der rechtsvergleichenden Argumentation: »…it is not so much foreign law as such that is taken over by a national lawmaker or court, but the argument expressed in foreign legislation, or in a foreign court decision. That argument itself, however, is not specifically ›foreign‹: it has persuasive authority because of its inherent quality, not because it is used in another country.« 69

Man kann diese Textstelle aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Für den Vergleichungsbegriff unterstreiche ich mir: »That argument itself, however, is not specifically ›foreign‹«. Sind Argumente des anderen Rechts nicht mehr spezifisch andere Argumente, wenn man rechtsvergleichend argumentiert? Das ist exakt die Frage, bei der die Kritik der Vergleichung einsetzt. Noch vor der weiterführenden Überlegung, in welchen Schritten der Vergleichungsprozess im Einzelnen verläuft,70 setzt sie ihre minimale Anforderung: Vergleichen heißt, zumindest versuchen, das Andere als anderes zu verstehen. Das bedeutet für die rechtsvergleichende Argumentation: Die Argumente des anderen Rechts sind spezifisch andere Argumente. Sie entstammen einem anderen Rechtskontext und sie vergleichend heranzuziehen, verlangt, ihre andere Kontextualisierung bewusst zu reflektieren. Das gilt gerade auch dann, wenn sie als einzelne Argumente ins eigene Recht eingefügt werden. Wie lässt sich die Vergleichsformel »Anderes als anderes« weiter entwickeln? Dazu ist an die Transsubjektivität zu erinnern, mit der ich zu beschreiben versuchte, weshalb man rechtsvergleichendes Argumentieren als sinnvoll betrachten kann. Dieses Leitmotiv sieht in der rechtsvergleichenden ____________ 68 Ebenfalls kritisch äußert Schwenzer: »Rezeption ohne Rechtsvergleichung aber trägt den Charakter des Willkürlichen, sie ist eher geeignet, Wertungen zu verdecken denn offen zu legen.« (Schwenzer, Rezeption deutschen Rechtsdenkens im schweizerischen Obligationenrecht, 81) 69 Smits, Comparative Law and its Influence on National Legal Systems, 536 – zur folgenden Kommentierung dieser Textstelle vgl. Einleitung, vor/nach Fn. 29. 70 Siehe dazu etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 42 f. und die Kritik bei Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, 223–225, 228.

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Teil 3: Strukturen der Methode

Argumentation eine Möglichkeit, die Sichtweise des eigenen Rechts in der Perspektive des anderen zu objektivieren, indem sie es um das Wissen und die Kritik des anderen Rechts ergänzt. Etwas weniger technisch ließe sich formulieren: Der wesentliche Grund, rechtsvergleichend zu argumentieren, besteht darin, von den Anderen lernen zu können, indem man sich von sich selbst distanziert. Diese Selbstdistanzierung gegenüber dem eigenen Recht beginnt aber nicht bereits dann, wenn wir uns mit anderem Recht auseinandersetzen. Und selbst den anderen Rechtskontext umfassend zu studieren, reicht allein noch nicht aus. Rechtskontextvergleichung setzt zusätzlich voraus, die Art und Weise, wie man das Andere begreift, als von den eigenen Begriffen geprägt zu sehen, denn während des Vergleichungsprozesses gehen wir ja immer auch in den Spuren des eigenen Rechtskontextes. Pointiert würde ich Vergleichung daher als eine reflektierte Distanzierung beschreiben: Vergleichen, das bedeutet zumindest eine fortlaufend reflektierte Distanzierung zum eigenen Recht, die das andere Recht im eigenen Verstehen als anderes Recht ankommen lässt.

D. Schluss Ziel und These des vorgelegten Textes war es, ein theoretisches Konzept zu entwerfen, das die Probleme der rechtsvergleichenden Argumentation ganzheitlich erörtert, um den gerichtlichen und wissenschaftlichen Diskurs zu orientieren. Von Beginn an leitend war die in der bisherigen Lehre formulierte Normativitätsthese: Die rechtsvergleichenden Argumente sollen an der Rechtsfindung zum geltenden Recht teilhaben. Ich habe diese These aufgenommen und sie gegen die Figur des positivistischen Skeptikers verteidigt, der eine logisch klare Grenze zwischen eigenem und anderem Recht ziehen möchte. Mein Eröffnungszug war folglich, seine positivistische Logik zu dekonstruieren und zu zeigen, dass die Idee eines eigenen Rechts irreduzibel seine Veranderung durch anderes Recht impliziert. Mit dem Aufweis dieser impliziten Normativität des anderen im eigenen Recht hatte die Analyse freilich gerade einmal begonnen. Erst viele argumentative Züge später konnte gezeigt werden, weshalb normative rechtsvergleichende Argumente das eigene Recht nicht durchkreuzen, sondern zu rationalisieren vermögen. Vervollständigt hat das Vorhaben einer normativen Rechtsvergleichung allerdings erst der dritte Teil. Denn ohne eine klare methodische Strukturierung ließen sich ihre methodischen Risiken weder abschätzen noch kontrollieren und die Rationalität einer rechtsvergleichenden Argumentation bliebe dem Zufall überlassen. Aufgabe war es deshalb, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man die methodischen Risiken personell, institutionell und intellektuell kontrollieren könnte. Vielleicht konnte damit zu guter Letzt auch der hartnäcki-

D. Schluss

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ge Skeptiker von rechtsvergleichenden Argumenten davon überzeugt werden, dass man die Grenzüberschreitung zwischen eigenem und anderem Recht tatsächlich wagen kann. Und zwar ganz einfach deshalb, weil nun in den Grundlagen wesentlich klarer sein mag als zuvor, worin die Arbeit der rechtsvergleichenden Argumentation besteht: Die rechtsvergleichende Arbeit am geltenden Recht besteht in einer beständigen Überschreitung: alles tun, um das eigene Recht als seine ethnozentrische oder geographische Grenze anzuerkennen, aber auch, um sie zu überwinden, ohne sie zwangsläufig zu verraten.

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–: »Il n’y a pas de hors-texte:« Intimations of Jacques Derrida as a Comparatist-at-Law, in: Peter Goodrich, Florian Hoffmann, Michel Rosenfeld, Cornelia Vismann (Hg.): Derrida and Legal Philosophy, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, 125–151 –: Paradoxically, Derrida: For a Comparative Legal Studies, Cardozo Law Review 27 (2005), 631–717 –: Siting Foreign Law: How Derrida can help, Duke Journal of Comparative & International Law, 21 (2011), 595–629 –: The Impossibility of ›Legal Transplants‹, Maastricht Journal of European & Comparative Law 4 (1997), 111–124 –: The same and the different, in: Pierre Legrand, Roderick Munday (Hg.): Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, Cambridge: Cambridge University Press 2003, 240–311 Lueken, Geert-Lueke: Paradigmen einer Philosophie des Argumentierens, in: Geert-Lueke Lueken (Hg.): Formen der Argumentation, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2000, 13–51 Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 6. Aufl., Wien: Passagen 2009 –: »Nach« Wittgenstein, in: Jean-François Lyotard: Grabmal des Intellektuellen, 2. Aufl., Wien: Passagen 2007, 65–70 Markesinis, Basil: Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, München: Sellier 2004 –: Why a code is not the best way to advance the cause of European legal unity, European Review of Private Law 5 (1997), 519–524 Markesinis, Basil; Fedtke, Jörg: Judicial recourse to foreign law. A new source of inspiration?, London: UCL Press 2006 Mayer, Verena: Semantischer Holismus. Eine Einführung, Berlin: Akademie 1997 Meier-Hayoz, Arthur: Der Richter als Gesetzgeber. Eine Besinnung auf die von den Gerichten befolgten Verfahrensgrundsätze im Bereiche der freien richterlichen Rechtsfindung gemäss Art. 1 Abs. 2 des schweizerischen Zivilgesetzbuches, Zürich: Juris 1951 Michaels, Ralf: Im Westen nichts Neues? – 100 Jahre Pariser Kongreß für Rechtsvergleichung – Gedanken anläßlich einer Jubiläumskonferenz in New Orleans, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 66 (2002), 97–115 –: The Functional Method of Comparative Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.): The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford: Oxford University Press 2006, 339–382 –: Two Paradigms of Jurisdiction, Michigan Journal of International Law 27 (2006), 1003– 1069 Mössner, Jörg Manfred: Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, Archiv des öffentlichen Rechts 99 (1974), 193–242 Muir Watt, Horatia: La fonction subversive du droit comparé, Revue internationale de droit comparé 52 (2000), 503–527 Müller, Friedrich; Christensen, Ralph: Juristische Methodik, Band I (Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis), 10. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 2009 Nelken, David: Comparatists and Transferability, in: Pierre Legrand, Roderick Munday (Hg.): Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, Cambridge: Cambridge University Press 2003, 437–466 Neumann, Ulfrid: Juristische Argumentationslehre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986

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Literatur

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–: Tractatus logico-philosophicus, in: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Band 1 (Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 7–85 –: Über Gewißheit, in: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Band 8 (Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, 113–257 Wohlrapp, Harald: Argumentative Geltung, in: Harald Wohlrapp (Hg.): Wege der Argumentationsforschung, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1995, 280–305 –: Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, 2. Aufl., Würzburg: Königshausen & Neumann 2009 –: Toulmin’s Theory and the Dynamics of Argumentation, in: Frans H. van Eemeren, Rob Grootendorst, J. Anthony Blair, Charles A. Willard (Hg.): Argumentation: Perspectives and Approaches. Proceedings of the Conference on Argumentation 1986, Dordrecht: Foris 1987, 327–335 Wortham, Simon Morgan: The Derrida Dictionary, London: Continuum 2010 Zimmermann, Reinhard: Die Europäisierung des Privatrechts und die Rechtsvergleichung, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 179, Berlin: De Gruyter 2006 –: Ius commune and the Principles of European Contract Law: Contemporary Renewal of an Old Idea, in: Hector L. MacQueen, Reinhard Zimmermann (Hg.): European Contract Law: Scots and South African Perspectives, Edinburgh: Edinburgh University Press 2006, 1–42 –: Textstufen in der modernen Entwicklung des europäischen Privatrechts, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 20 (2009), 319–323 Zweigert, Konrad: Des solutions identiques par des voies différentes. Quelques observations en matière de droit comparé, Revue internationale de droit comparé 18 (1966), 5– 18 –: Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 15 (1949/50), 5–21 –: Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in: Karl August Bettermann und Albrecht Zeuner (Hg.): Festschrift für Eduard Bötticher zum 70. Geburtstag am 29. Dezember 1969, Berlin: Duncker & Humblot 1969, 443–449 Zweigert, Konrad; Kötz, Hein: Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 1996

Namenregister Aarnio, A. 64 Alexy, R. 58, 73, 89, 91, 104, 109, 123 Andenas, M. 10 Aristoteles 100, 104 Aubin, B. 8 Augsberg, I. 131

Eberl, O. 71 Elwan, O. 94 Engelmann, P. 29, 31, 44, 54, 56 Engländer, A. 89 Erp, S. v. 10 Esser, J. 13 f.

Bar, C. v. 12 Benda-Beckmann, K. v. 161 Bennington, G. 34 f., 40, 43 f. Berger, K. P. 145, 181 Bertram, G. W. 29 f., 32–39, 41–44, 48– 53, 55, 63 f., 67 f., 83, 90, 163, 169, 171 Bieri, P. 90 Bobek, M. 4, 7, 10, 16, 28, 74, 144, 146, 168, 171, 179 f. Brand, O. 163, 176 Brandom, R. B. 53 Bucher, E. 12 Buckel, S. 131 Bydlinski, F. 10, 12, 14

Fairgrieve, D. 10 Fedtke, J. 10, 152 Fikentscher, W. 126 Fischer, C. 127 Fischer-Lescano, A. 131 Flohr, M. 127 Forgó, N. 89 Foucault, M. 87 Frankenberg, G. 135, 159 f., 172, 182 Frege, G. 40

Canaris, C.-W. 135, 180 Canivet, G. 10 Chodosh, H. E. 158 Christensen, R. 12, 58, 71, 73 f., 83, 90 f., 94, 104, 131, 147 Coninck, J. de 162 Cotterrell, R. 162 Curran, V. G. 161 f., 167 Derrida, J. V f., 29–48, 51, 53–64, 66– 70, 72, 76 f., 79–81, 84, 87, 89 f., 114, 125, 128, 131, 140, 182 Dölle, H. 11, 135 Doralt, W. 184 Dreisholtkamp, U. 34 f., 38 f., 41, 44 Drobnig, U. 8, 10 f., 180 Düttmann, A. G. 33, 53, 56, 67

Gadamer, H.-G. 53, 55 Gamm, G. 15, 30, 35, 48, 64, 67, 104, 126 Geertz, C. 162 Glenn, P. H. 16, 146 Goodrich, P. 57 Gordley, J. 5 Gordon, R. W. 160 Graziadei, M. 5, 160, 162, 172 Großfeld, B. 143 Habermas, J. 71, 89, 104, 109, 122 f. Hager, G. 126 Harding, S. K. 146 Hart, H. L. A. 65, 71 Hegel, G. W. F. 29, 33 f., 37–39, 52, 92 Heidegger, M. 48, 59 Henninger, T. 126 Hilgendorf, E. 93 Hill, J. 161 Hoecke, M. v. 163, 166, 176 Hoffmann, F. 57

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Namenregister

Honsell, H. 94 Höpfner, C. 8 Hume, D. 58 f. Husa, J. 158, 163, 166, 168, 177 f. Husserl, E. 40 Jansen, N. 184 Kant, I. 9, 37, 59, 61, 97, 128 Kaufmann, A. 13 Kelsen, H. 71, 73 Kern, A. 48, 59, 69 Kötz, H. 135, 145, 158–160, 167, 171, 176, 178–180, 185, 187 Kramer, E. A. 7, 10, 150, 180 Kudlich, H. 12, 58, 71, 74, 83, 90 f., 94, 104 Kuhn, T. S. 162 Larenz, K. 89 Lauer, D. 34, 43, 52, 163 Lee, K. I. 57 Legrand, P. 11, 57, 135, 158, 161 f., 168 f. Liptow, J. 34, 43, 49, 52, 163 Lueken, G.-L. 92 Luhmann, N. 57, 67, 122, 125 Lyotard, J.-F. 64 Markesinis, B. 3 f., 10, 152, 168, 171, 178 f. Mayer, V. 49 Meier-Hayoz, A. 7 Menke, C. 48 Michaels, R. 158 f., 162, 168 Moore, G. E. 59 Mössner, J. M. 27, 187 Muir Watt, H. 135 Müller, F. 147 Nelken, D. 160 Neumann, U. 89, 92 f. Niesen, P. 71 Örücü, E. 163, 168, 176 f. Peczenik, A. 125 Peirce, Ch. S. 97 Perelman, C. 125 Pichonnaz, P. 172

Platon 109 Ponthoreau, M.-C. 12, 14, 135, 178 Prior, A. N. 59 Rabel, E. 135 Ranieri, F. 6, 11, 179 Reimann, M. 5 Reinhart, G. 135 Röhl, H. C. 74 Röhl, K. F. 74 Rorty, R. 97, 169 Rosenfeld, M. 57 Saleilles, R. V f., 14 Samuel, G. 160, 163 Sandrock, O. 10, 14 Saussure, F. de 30–33 Schluep, W. R. 11 Schmitt, C. 67 Schulze, R. 143 Schwenzer, I. 187 Seel, M. 34, 43, 50, 52, 83, 163 Seibert, T.-M. 57 Sellars, W. 118 Sloterdijk, P. 34, 56 Smits, J. M. 5, 12, 15 f., 183, 187 Somek, A. 73, 89 f., 133 Stoll, H. 10–12, 142 f., 145 f. Teubner, G. 57, 67–69, 71, 79 Toulmin, S. 90–96, 102 f., 115 f., 120 f., 131, 137 Uyterhoeven, H. 7 Vismann, C. 57 Vogenauer, S. 5, 126 f., 130 Walter, G. 3 Walter, H. P. 7 Warrington, M. 166, 176 Wendehorst, C. C. 7 Wittgenstein, L. 51, 53, 64, 71, 112–114, 125 f. Wohlrapp, H. 90–119, 123 f., 128 f., 133 f., 137 f., 142 f., 149, 169 Wortham, S. M. 33 Zimmermann, R. 5, 180 f., 184 Zitelmann, E. 135

Namenregister Zweigert, K. V f., 7, 10, 12, 82, 135, 143, 145 f., 158–160, 162, 167, 171, 176, 178–180, 185, 187

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