Im Horizont des Allgemeinen: Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne 9783495999219, 9783495999202


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Einleitung
1. Im Horizont des Allgemeinen
Die anthropologische Dimension. Zersplitterung der Sorge
Die ethische Dimension: der Widerstreit der Lebensformen
Die politische Dimension: vom Argument zur Erzählung
2. Über das Soziale in den Räumen der Verletzbarkeit
3. Das Weltverhältnis der Sozialen Arbeit
4. Gewalt in den Geografien der Verletzbarkeit
5. Lebensformen im Widerstreit
6. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Methodologische Überlegungen zum Weltbezug der helfenden Professionen
Erster Teil: Die anthropologische Dimension
I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht
II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.
1. Der Diskurs um die Sorge
2. Dimensionen der Sorge: Trauma und Heilung
3. Die soziale Einbettung des Negativen
III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.
1. Transnationale Familien
2. Theorie der Migration
3. Ethik der Migration
4. Soziale Arbeit mit Geflüchteten
IV. Armut im 21. Jahrhundert
Einleitung
1. Die Pädagogik der Unterdrückten
2. Die Politik der Würde: zwischen Umverteilung und Anerkennung
3. Vom Begriff der Armut zur sozialen Ausgrenzung
4. Eine große Transformation?
Zweiter Teil: Die ethische Dimension: Bruchlinien, Kontroversen, Krisen
V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte
Einleitung
1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt
2. Eine neue Unübersichtlichkeit
3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit. Konstellationen im Schatten der Moderne.
VI. Was bedeutet Eurozentrismus?
Einleitung. Über Narrative und Werte. Die Zivilisation des Westens und die Dimension des Anderen.
1. Das Fundament des Universalismus
2. Die Unterwerfung der Welt
3. Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden
VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt
Einleitung. Über die Schwierigkeit mit dem Begriff des Kulturellen
1. Vektoren des Fremden
2. Der koloniale Blick: Politische Imagination und Eurozentrismus
3. Gewalt und Sprache
4. Die Kultur der Differenz
VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus
Einleitung
1. Die Leidenschaft des Bildes
2. In der Schule des Sehens
3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration
IX. Der Eigensinn der religiösen Praxis.
Einleitung
1. Kontroversen über die postsäkulare Situation
2. Interkulturelle Praxis
3. Kultursensible Praxis jenseits der Funktion
Dritter Teil: Das kosmopolitische Fundament der helfenden Professionen
X. Der Weltbezug der helfenden Professionen
XI. Fundamentalismus in den Ambivalenzen der Moderne.
XII. Herrschaft und Macht
XIII. Der Begriff des Politischen
XIV. Eine politische Theorie der Moderne?
Lebensformen im Widerstreit
Prozedurale und negativistische Vernunft
Der Bereich des Vorpolitischen
XV. Verlust und Wiedergewinn des Politischen
Vierter Teil: Frieden und Krieg im sozialpädagogischen Diskurs der Moderne
XVI. Gesichter der Gewalt
1. Phänomenologie der Gewalt
2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts
2.1 Der Widerstand der Sprache
2.2 Zeit und Vertrauen
2.3 Der Beitrag der helfenden Professionen
XVII. Die historische Kategorie des Gewaltraums
1. Kategorien und Aporien
1.1 Die Bewältigung desaströser Gewalt
1.2 Weltbürgerkriege und neue Kriege
1.3 Geopolitik in altem und neuem Gewand
1.4 Grenzen und Identitäten
1.5 Der fundamentalanthropologische Blick. Gewalträume in der conditio humana
XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne. Die Politik der Menschenrechte und die internationale Soziale Arbeit
1. Von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik
2. Der Weltbezug der helfenden Professionen
3. Die Politik der Menschenrechte
XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg
1. Zur Philosophie des Friedens
2. Ethische Grundlage: die Gewaltfreiheit der Kommunikation
3. Das Ideal der Friedens-Ordnung
4. Peace-Building in unsicheren Gesellschaften
XX. Epilog. Die globale Dimension der Sozialen Arbeit
Literaturverzeichnis
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Im Horizont des Allgemeinen: Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne
 9783495999219, 9783495999202

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Pädagogik und Philosophie

11

Christian Wevelsiep

Im Horizont des Allgemeinen Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne

https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Pädagogik und Philosophie Wissenschaftlicher Beirat Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz

11

https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Christian Wevelsiep

Im Horizont des Allgemeinen Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne

https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99920-2 (Print) ISBN 978-3-495-99921-9 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im Horizont des Allgemeinen . . . . . . . . . . . Die anthropologische Dimension. Zersplitterung der Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ethische Dimension: der Widerstreit der Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Dimension: vom Argument zur Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11

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15

2. Über das Soziale in den Räumen der Verletzbarkeit . .

17

3. Das Weltverhältnis der Sozialen Arbeit . . . . . . . .

20

4. Gewalt in den Geografien der Verletzbarkeit . . . . .

22

5. Lebensformen im Widerstreit

. . . . . . . . . . . .

25

6. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Methodologische Überlegungen zum Weltbezug der helfenden Professionen . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Erster Teil: Die anthropologische Dimension . . . . . .

39

I.

Sorgeverhältnisse im Zwielicht

. . . . . . . . . .

41

II.

Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

1. Der Diskurs um die Sorge

. . . . . . . . . . . . . .

2. Dimensionen der Sorge: Trauma und Heilung

. . . .

60

. . . . . . . .

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Transnationale Welten, transkulturelle Räume. .

73

3. Die soziale Einbettung des Negativen

III.

54

1. Transnationale Familien 2. Theorie der Migration

. . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . .

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5 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Inhaltsverzeichnis

3. Ethik der Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

4. Soziale Arbeit mit Geflüchteten

. . . . . . . . . . .

86

Armut im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .

91

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

1. Die Pädagogik der Unterdrückten . . . . . . . . . . .

93

2. Die Politik der Würde: zwischen Umverteilung und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

3. Vom Begriff der Armut zur sozialen Ausgrenzung . .

101

4. Eine große Transformation?

. . . . . . . . . . . . .

104

Zweiter Teil: Die ethische Dimension: Bruchlinien, Kontroversen, Krisen . . . . . . . . . . . .

109

V.

Alte und neue Bruchlinienkonflikte . . . . . . . .

111

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt . . . . . . . . .

115

2. Eine neue Unübersichtlichkeit . . . . . . . . . . . .

121

3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit. Konstellationen im Schatten der Moderne. . . . . . .

127

Was bedeutet Eurozentrismus? . . . . . . . . . .

133

Einleitung. Über Narrative und Werte. Die Zivilisation des Westens und die Dimension des Anderen. . . . . . . . .

133

1. Das Fundament des Universalismus . . . . . . . . .

134

2. Die Unterwerfung der Welt . . . . . . . . . . . . . .

137

3. Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden

. .

142

VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Einleitung. Über die Schwierigkeit mit dem Begriff des Kulturellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

1. Vektoren des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . .

149

IV.

VI.

6 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Inhaltsverzeichnis

2. Der koloniale Blick: Politische Imagination und Eurozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

3. Gewalt und Sprache

. . . . . . . . . . . . . . . . .

155

4. Die Kultur der Differenz . . . . . . . . . . . . . . .

160

VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

1. Die Leidenschaft des Bildes . . . . . . . . . . . . . .

171

2. In der Schule des Sehens . . . . . . . . . . . . . . .

176

3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration . . .

180

Der Eigensinn der religiösen Praxis. . . . . . . . .

187

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

1. Kontroversen über die postsäkulare Situation

. . . .

190

2. Interkulturelle Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . .

194

3. Kultursensible Praxis jenseits der Funktion . . . . . .

196

Dritter Teil: Das kosmopolitische Fundament der helfenden Professionen . . . . . . . . . .

203

X.

Der Weltbezug der helfenden Professionen

. . .

205

XI.

Fundamentalismus in den Ambivalenzen der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

IX.

XII. Herrschaft und Macht

. . . . . . . . . . . . . . .

223

XIII. Der Begriff des Politischen . . . . . . . . . . . . .

231

XIV. Eine politische Theorie der Moderne? . . . . . . .

245

Lebensformen im Widerstreit . . . . . . . . . . . . . .

247

Prozedurale und negativistische Vernunft . . . . . . . .

249

Der Bereich des Vorpolitischen . . . . . . . . . . . . . .

255

7 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Inhaltsverzeichnis

XV.

Verlust und Wiedergewinn des Politischen . . . .

263

Vierter Teil: Frieden und Krieg im sozialpädagogischen Diskurs der Moderne . . . . . . . . . . . .

277

XVI. Gesichter der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . .

279

1. Phänomenologie der Gewalt . . . . . . . . . . . . .

283

2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts . . . . . 2.1 Der Widerstand der Sprache . . . . . . 2.2 Zeit und Vertrauen . . . . . . . . . . . 2.3 Der Beitrag der helfenden Professionen

. . . .

291 291 295 300

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne. Die Politik der Menschenrechte und die internationale Soziale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

1. Von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik . . . .

325

2. Der Weltbezug der helfenden Professionen . . . . . .

329

3. Die Politik der Menschenrechte . . . . . . . . . . . .

333

XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

1. Zur Philosophie des Friedens . . . . . . . . . . . . .

339

2. Ethische Grundlage: die Gewaltfreiheit der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

3. Das Ideal der Friedens-Ordnung . . . . . . . . . . .

346

4. Peace-Building in unsicheren Gesellschaften . . . . .

348

. . . .

. . . .

XVII. Die historische Kategorie des Gewaltraums 1. Kategorien und Aporien . . . . . . . . . . 1.1 Die Bewältigung desaströser Gewalt . . 1.2 Weltbürgerkriege und neue Kriege . . . 1.3 Geopolitik in altem und neuem Gewand 1.4 Grenzen und Identitäten . . . . . . . . 1.5 Der fundamentalanthropologische Blick. Gewalträume in der conditio humana .

. . . . .

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. . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

Inhaltsverzeichnis

XX. Epilog. Die globale Dimension der Sozialen Arbeit

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

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Einleitung

1. Im Horizont des Allgemeinen Die Möglichkeit des Wissens vom Ganzen zählt zu den Vorzügen unserer Zeit. Grenzen sind überschritten und die Welt ist mehr­ fach verwandelt worden. Die älteren Bruchlinien liegen deutlich vor Augen, aber wir leben zugleich mit dem Vorteil einer Weltbeziehung, die in anderen Zeiten undenkbar war. Horizonte des Allgemeinen sind erschlossen worden, die mehr und anderes bedeuten als die »Tendenz zur Überschreitung des Örtlichen«1. Räume des Wissens und des Zusammenhandelns, der Verständigung und der Hilfe erfül­ len diesen Horizont, der sich niemals endgültig zu einer Einheit zusammenschließt und doch immer wieder die Möglichkeit des Geschichte-Schreibens aufblendet. Philosophen würden in diesen Sätzen ein stilles Gedenken an das Zeitalter Hegels vermuten. Aber sie würden – sehr zur Recht – dem Allgemeinen keinen höheren Wert zusprechen, Historiker würden wiederum insistieren, dass die Geschichte längst als Weltgeschichte geschrieben wurde und dass wir an die Grundtatsache eines »dicht gesponnenen planetarischen Netzes von Verbindungen«2 gewohnt sind – so dass der Bezug auf das Allgemeine kaum noch überraschen könnte. Andere wiederum würden dem Begriff des Allgemeinen mit großer wie berechtigter Skepsis entgegentreten. Das Allgemeine wäre nur ein schwacher Ersatz für Prozesse, die mit anderen Kategorien belegt werden und seit längerem den Diskurs beherrschen: transkon­ tinentale und transnationale Muster prägen das Antlitz der Moderne; transkulturelle und transmigrantische Phänomene das soziale Leben. Indes werden die Horizonte des Allgemeinen in einer anderen Sichtweise plausibel. Sie umschreiben nichts mehr und nichts weniger als den Diskurs der Sozialpädagogik der Moderne und beanspruchen 1 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahr­ hunderts. München: C. H. Beck 2015, Jubiläumsedition, S. 13. 2 Ebd., S.

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Einleitung

insofern Relevanz. Denn dieser Diskurs ist nicht einer unter vie­ len, sondern von allgemeinem Interesse. Er richtet sich nicht allein an Fachtheoretiker und Disziplinvertreter, sondern an eine undefi­ nierte Leserschaft. Anstelle einer seriösen Einleitung, die alle wissenschaftlichen Register zieht, soll der Fortgang der Reflexion auf wenige Argumente reduziert werden. Der sozialpädagogische Diskurs- bzw. das, was im folgenden darunter verstanden wird, findet sein primäres Motiv in der Zersplitterung des Ganzen. Die Stichworte des postkolonialen Diskurses oder die Kritik des Eurozentrismus können nur teilweise für die Reichweite dieses Bruchs aufkommen. Das Ganze ist aus den Fugen und es bedarf einer gründlichen Kärrnerarbeit, um über­ haupt gehaltvolle Aussagen über die mannigfaltigen Brüche der Zeit tätigen zu können. In den Wissensformen und den Epistemen, dem Kulturellen und dem Politischen, noch dazu im vagen Begriff des Sozialen finden sich Anzeichen einer fundamentalen Entzweiung, die durch keinen Bezug auf ein Allgemeines gemildert wird. Worin der Widerstreit und die Zerrissenheit im einzelnen besteht, dies wird im folgenden, aber vor allem im Verlauf der Reflexion deutlich werden. Die Bruchlinien sind vielschichtig, weitläufig und tiefgreifend, und somit nicht erschöpfend zu erfassen; aber sie dienen hier vor allem einem Erkenntnisinteresse. Sozialpädagogisch zu denken meint im vorliegenden Fall ethische, anthropologische, politische und zivilisa­ torische Fluchtlinien zusammen zu führen. Daher sollen nicht nur Panoramen der Krise entworfen werden, sondern zugleich Denkwege erschlossen werden, die der Tiefe der Entzweiung angemessen sind. Natürlich geht es dabei nicht um eine letzte Quelle, eine höchste Autorität oder um den Appell an eine allen Menschen gemeinsame Vernunft. Sondern um den Vorzug der negativistischen Philosophie, die nach Meinung des Autors als einzige Perspektive in der Lage ist, die Horizonte des Allgemeinen gedanklich zu durchdringen.

Die anthropologische Dimension. Zersplitterung der Sorge Nehmen wir einleitend den Begriff der Sorge: eine Kategorie von exis­ tentieller Bedeutung und politischer Relevanz. Aber der Begriff lässt sich weder auf sozialpolitische Diskurse noch auf zwischenmensch­ liche Beziehungen reduzieren. Als Angelhakenbegriff umfasst er

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1. Im Horizont des Allgemeinen

psychodynamische und ethische, historische und politische, anthro­ pologische und pädagogische Facetten. Die Sorge ist in die Alltäglichkeit unserer Handlungsvollzüge eingebettet; sorgend kümmern wir uns um Sorgebedürftige; zugleich empfangen wir Sorge von Anderen. Die Nähe zwischen sich sorgen­ den Menschen wird durch höherstufige Sorgesysteme umgriffen, überindividuell organisiert und in Institutionen praktisch vollzogen. Aber schon an diesem Punkt versagt die einfache Lesart, dass wir Sorge vom Anfang bis zum Lebensende, streng institutionalisiert und vollkommen perfektioniert erwarten dürften. Verschiedene Sozi­ alräume, Praktiken, kulturelle Muster sind vielmehr zu beachten, um Sorge als weltweites Phänomen zu begreifen. Sorge hat mit Spielräumen und mit Knappheiten zu tun; im glo­ balen Maßstab ist es die gravierende soziale Ungleichheit, die einen globalen Begriff der Sorge ad absurdum führt. Sorgende Interventio­ nen und sorgende Verhältnisse sind in historischer und synchroner Perspektive aufgefächert, gleichsam zersplittert. Was wir im näheren Sinne unter Sorge verstehen dürfen, ist kulturell überformt, normiert und doch immer bezweifelt worden. Wie beispielhaft in mittelalter­ lichen Ordnungen zwischen den Ständen miteinander umgegangen wurde, inwieweit etwa Armut als Aufgabe verstanden wurde, ist mit heutigen Kategorien nicht mehr zu erfassen. In einer vergleichenden Sicht haben sich die Sorgeverhältnisse weiter ausdifferenziert. Als weltpolitisches Thema gilt die Sorge um die Lebensgrundlagen aller Menschen, als sozialpolitisches die man­ gelnde Versorgung der meisten Menschen auf dem Planeten. Zudem lassen sich rehabilitative, sonderpädagogische und sozialpädagogische Beschreibungen anführen, die auf die Grenzen des Begriffs der »FürSorge« verweisen. Hier stehen zwei irreduzible Einsichten in einem komplexen Verhältnis: die Sorge um vulnerable Personen, deren Würde und leibliche Integrität bedroht ist; ferner liegt das Augenmerk auf der Dynamik der Sorgebeziehungen – wenn das Machtungleich­ gewicht unerträglich wird und die Positionen zwischen Gebenden und Empfangenden der Sorge starr werden3. So betrachtet verengen sich die Spielräume für eine verbindliche Erzählung. Jede traditionell, lokal oder nationalstaatlich gebundene Erzählung hat nur eine vordergründige, oberflächliche Bedeutung. 3 Cornelie Dietrich/Niels Uhlendorf/Frank Beiler/Olaf Sanders (Hg.): Anthropolo­ gien der Sorge im Pädagogischen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2020.

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Einleitung

Solche Erzählungen, so schreibt die Mehrheit der Soziologinnen und Soziologen, können nicht den Anspruch aufrecht erhalten, eine Reflexion im globalen Maßstab zu vermitteln. Der Erzählrahmen des Partikularen überzeugt nicht, auch wenn er einen »Erzählbogen« bereit stellt4, dem man gerne folgen würde. Die Geschichten über Soziale Arbeit hier und dort sind nur als grenzüberschreitende Pro­ jekte zu verstehen. Damit schließt sich auf den ersten Blick der ordnende Rahmen aus; alles was wir wissen und erkennen können, ist im Pluralen und Differenten verortet. Eine Vielfalt, die man begrüßen könnte, die aber Ungleichzeitigkeiten, Widersprüche und Konflikte mit sich führt. Welcher Erzählrahmen böte sich also an, um alle Dimensionen von Sorge und Hilfe zu umfassen? Sollte man vom nationalstaatlichen Rahmen ausgehen, um von dort aus zunehmende Grenzüberschrei­ tungen und intensivere Verflechtungen zu sichten? Sollte man sofort den unabhängigen Standort der globalisierten Spätmoderne einneh­ men, um das Miteinander und Gegeneinander sozialer Lebensformen zu beschreiben? Beide Perspektiven haben Vorteile und Grenzen.

Die ethische Dimension: der Widerstreit der Lebensformen Eine bislang noch wenig beachtete Perspektive erschließt den Zusam­ menhang der fundamentalen Angewiesenheit des Menschen auf seinesgleichen und seiner politischen, sozialen und kulturellen Welt auf spezifische Weise. Wenn man von einem fundamental-anthropo­ logischen Standpunkt ausgeht, vermeidet man – so die Leitthese – die Kurzatmigkeit eines Machtdiskurses, der in allen gesellschaftli­ chen Bezügen Ausprägungen des falschen Lebens erkennt. Zugleich eröffnet man eine kritische Sicht auf die fundamentalen »Themen« menschlicher Daseinsvollzüge. Als zentrale Kategorie einer solchen Perspektive erweist sich die Kategorie der Verletzlichkeit und Fragili­ tät. Sie ist zugleich durch vorgelagerte Einsichten über die Dimension von Zeit und Raum, Geschichtlichkeit und Transzendenz, Zwischen­ menschlichkeit und Zwischenleiblichkeit zu verstehen. Diese hoch ansetzenden philosophischen Grundbegriffe erschweren den Zugang 4 Günther Graßhoff/Hans Günther Homfeld/Wolfgang Schröer: Internationale Soziale Arbeit. Grenzüberschreitende Verflechtungen, globale Herausforderungen und transnationale Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2016, S. 7.

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1. Im Horizont des Allgemeinen

zu Phänomenen, die aus Sicht der helfenden Professionen vorrangig als politische wahrgenommen werden. Sie werden hier keineswegs negiert, aber in einem anderen Rahmen erörtert. Der Vorteil fundamental-anthropologischen Denkens erweist sich in der Perspektive der internationalen und globalen Dimension auf einem Umweg, bzw. durch einen Rückzug auf den Menschen selbst. Dieser Schritt der Theorie – auf den Menschen selbst – darf nicht als Rückschritt verstanden werden, insofern ist er begründungs­ bedürftig. Dass Menschen im Zentrum einer helfenden und sozialen Profession stehen, ist wenig überraschend. Als Reflexionsdisziplin kommt der Sozialen Arbeit zudem eine humanwissenschaftliche Ori­ entierung zu; der Erwartungshorizont ist somit in Sicht. Die Schwie­ rigkeiten beginnen offensichtlich an dem Punkt, an dem man über die Isolierung des Einzelmenschen hinausdenken und genuin soziolo­ gische und politologische Unterscheidungen einbeziehen muss. Die humane Welt ist trivialerweise keine Ansammlung von Menschen, die einander unvermittelt begegnen und sich gemeinsam zu Willens­ gemeinschaften zusammenschließen. Sondern sie ist nur im Horizont von Reflexionskategorien zu begreifen: Zeit und Raum, Zeitbilder und Raumvorstellungen, kulturell, sozial und historisch geformte Strukturen prägen das, was wir im allgemeinen unter der conditio humana verstehen dürfen.

Die politische Dimension: vom Argument zur Erzählung Man kann sinnvollerweise ergänzen: die menschliche Lebenswelt ist mit Sinndimensionen verbunden, die ebenso kritisch und spannungs­ voll wie auch bedeutsam sind. Diese Spannungen lassen sich abbilden in einem oben und einem unten des politischen Raums, in der Differenz von Zentrum und Peripherie menschlicher Lebensräume, in geschlechtlichen Kategorien und Machtverhältnissen, ferner in Verhältnissen zwischen Feindschaft und Freundschaft, Immanenz und Transzendenz. Es sind Spannungen, die menschliche Lebensformen in Geschichte und Gegenwart bedingen und nach Lösungen verlan­ gen. In der Form von Sinnkonzepten lassen sie sich in spezifischer Weise bewältigen: soziale Gegensätze müssen in lebbare Verhältnisse verwandelt werden, Anerkennung zwischen Ungleichen muss geför­ dert und Gewaltfähigkeit begrenzt werden. Es ist der undeutliche Begriff der Kultur, der diese Leistungen erst garantiert, indem er

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Einleitung

das menschliche Leben als dauerhafte Auseinandersetzung bestimmt. In der historischen Dimension ließe sich eine Fortschrittserzählung konstruieren: menschliche Geschichte bewegt sich nach vorn; die Anerkennung des Anderen, die Legitimität sozialer und politischer Lebensformen, Auskömmlichkeit, Frieden und Gewaltverzicht sind als Möglichkeiten grundsätzlich gegeben. Die materiale Geschichte scheint sich auf universale und fundamentale Eigenschaften zurück­ führen zu lassen, die eine Richtung aufweist. Die Gegensätzlichkeiten lösen sich zwar nicht auf, aber sie werden in lebbare Verhältnisse überführt und die menschliche Kultur hilft dem Menschen über die Gewaltverhältnisse hinweg, indem sie Welt- und Lebensordnungen mit menschlichen Zielvorstellungen in Einklang bringt. Dies aber ist nur eine denkbare Lesart einer universalhistori­ schen Konzeption. Festzuhalten bleibt der anthropologische Gesichts­ punkt, dass historische Kulturen zu Selbstdeutung des Menschen und somit zur Lebensbewältigung beitragen. Gleichwohl steht der Höhe einer Menschheitsqualifikation die Einsicht entgegen, dass Kulturen immer auch zur Doppelmoral neigen, dass sie Abgrenzung und Selbsterhöhung, Distanzierung und Zugehörigkeit zugleich ermög­ lichen. Ein vorschneller Zugriff auf die Idee der Menschheit wäre insofern fahrlässig. Die grundlegende Frage nach der Humanisie­ rung in vorgegebenen Welt- und Lebensordnungen ist damit noch nicht beantwortet. Wenn man sich die erwähnten einzelnen Kategorienpaare betrachtet, kommt man unter Umständen zu dem Urteil, dass die Welt sich mit Bezug auf diese Unterscheidungen in eine Vielzahl von entwickelten und wenig entwickelten Welten aufgefächert hat. Dieser Gesichtspunkt ist nicht nur klassisch »eurozentrisch«, sondern er bestimmt das Denken grundlegend. Mit ganz einfachen Worten ließe sich fragen: an welchem Punkt einer kulturellen oder sozia­ len Entwicklung stehen wir, wenn wir über den eigenen Horizont hinausblicken? An welcher Stelle sozialer, geschlechtlicher, kulturel­ ler Konflikte wird etwas beurteilt, wenn man bestimmte Kulturen und Gesellschaften vergleicht? Und somit ist im gleichen Maße zu fragen: Woher erhält man den Maßstab, um abzuschätzen, woher die Grundlage dessen stammt, was als förderlich oder schädlich zu bewerten wäre?

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2. Über das Soziale in den Räumen der Verletzbarkeit

Setzen wir an diesem abstrakten Gedanken an, um den Vorteil einer fundamental-anthropologischen Sicht unter Beweis zu stellen5.

2. Über das Soziale in den Räumen der Verletzbarkeit In einer Psychiatrie in Ansbach im Mai 2013. Einen Tag nach einem Abschiebeversuch wurde Leila Magomadowa hier eingewiesen; sie zeigte alle Symptome einer suizidalen Gefährdung, ausgelöst von Misshandlungserfahrungen in ihrer tschetschenischen Heimat. Ihre Biografie ist von Erfahrungen handfester und struktureller Gewalt geprägt. Die Versehrungen in den umkämpften Räumen in Tsche­ tschenien sind die eine unauslöschliche Erfahrung; eine andere war es, in einem kalten juristischen Verfahren von der Familie getrennt zu werden. Die Gewalt in dem einen Raum wurde von den Bestimmun­ gen des Rechts im anderen Raum ersetzt6. Hinter dem Namen Magomadowa steht eine Geschichte, hin­ ter dieser Geschichte stehen andere vergleichbare Geschichten, die zum Antlitz unserer Zeit gehören. Flucht- und Gewalterfahrungen, Ankunft und drohende Abschiebung, ein Leben zwischen Grenzen, Kulturen und Nationen – Erfahrungen, die Andere gemacht haben, die bisweilen an die Öffentlichkeit gelangen, die zu erzählen sind oder die stumm bleiben. Es sind Geschichten inmitten der Gesellschaft mit vielen Gesich­ tern. Behörden, die einen Fall bearbeiten, Helferinnen, die vermitteln wollen, Beamte, die Gesetze durchsetzen müssen. Leila Magomadowa wird diese Gesichter erinnern und sie nach ihren eigenen Vorstell­ ungen sortieren. Für den entfernten Beobachter zeigt sich aber eine Ambivalenz, die sich nicht auflösen will. Die Geschichte der Familie aus Tschetschenien führt über die nationalen Grenzen hinaus, in ein Flüchtlingslager in Polen, an die Außengrenzen der europäischen Union. Sie führt aber zugleich ins Innere der europäischen Gesell­ schaft, ihrer moralischen Ordnungen und Gesetze. Zugleich führt sie 5 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und Praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Ders.: Die Kultur der Differenz. Negative Ethik, Relativismus und die Bedingungen universalistischer Rationalität. In: Ders.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2000, S. 96–121. 6 ZEIT online: Grenzen der Barmherzigkeit. Unter: https://www.zeit.de/2013/24/ asyl-gesetze-abschiebung/komplellansicht, abgerufen am 02. 06. 2020.

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Einleitung

in das Innere einer Profession, zu deren Selbstverständnis es gehört, die Sorge um das Wohl jener Menschen zu übernehmen, die an den Grenzen der europäischen Welt scheitern. Die Haltung, mit der man eine solche Geschichte aufnimmt, ist von einer gewissen Demut geprägt. Das europäische Recht erweist sich als Mühlstein der Macht, die Behörden folgen dem rationalen Kalkül, die Helferinnen und Helfer sind zur Ohnmacht verurteilt. Eine Maschinerie der Verschiebung kommt in Gang, an der niemand kurzfristig etwas ändert. Wo steht bei all dem die Profession der Sozialen Arbeit? Das ist eine zugegebenermaßen suggestive Frage, die nahelegt, dass sich jene Profession irgendwie außerhalb der Gesellschaft befinden könnte, dass sie also in der Lage wäre, den gewöhnlichen Gang der gesellschaftlichen Ordnungen einfach zu verlassen. Wozu sie natürlich nicht in der Lage ist. Die Soziale Arbeit ist eine Konfliktdisziplin. Sie steht inmitten von Widersprüchen, zu denen sie Stellung nehmen muss. Sie ist Teil einer Ordnung und befindet sich zugleich im stärksten Widerstand gegen die Verfügungen dieser Ordnung. Soziale Arbeit findet an Orten statt, die manche als Festung bezeichnen; sie ist Gefangene und doch Anteil einer Ordnung, sie ist dafür und dagegen, universal und partikularistisch orientiert. Sie ist somit im tieferen Sinn der Hobbe­ sianischen Situation ausgesetzt, von einem ständigen Kampf umgrif­ fen. Zum engeren Selbstverständnis der Sozialen Arbeit zählt das Gespür für Dissonanzen und Brüche. Ansprüche und Realitäten klaf­ fen auseinander. Der Kerngedanke der Profession ist die Aufrichtung des Menschen; ihre Bestimmung ist die Entwicklung eines Maßstabs einer lebensdienlichen Ordnung. Das Gefühl für Dissonanz entsteht, wenn man diese Maßstäbe mit den Realitäten zusammenführt, denen Andere ausgesetzt sind. Die Dinge fügen sich nicht zusammen, etwas entzieht sich dem erwarteten Gang der Geschichte. Das Recht der europäischen Welt – sollte es nicht ein kosmopolitisches Recht sein, das zuallererst dem Schutz der Würde des Einzelnen dient? Die Politik der Staaten – sollten hier nicht jene Hoffnungen eingelöst werden, wie sie in den offiziellen Verlautbarungen geschrieben stehen? Und steht über all dem nicht eine Moral einer neuen, strahlenden, kosmopoliti­ schen Welt? Offenbar scheint es sich bei dem Begriff des Kosmopolitischen um eine Täuschung zu halten. Die Welt, in der Menschen buchstäblich um ihr Überleben, ihre Würde oder ihre Identität kämpfen, ist eine

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2. Über das Soziale in den Räumen der Verletzbarkeit

Welt der Konflikte und der Gewalt. Die Widersprüche lösen sich nicht auf, das Leiden setzt sich fort. Daher heißt Parteinahme auch, Wider­ stände zu mobilisieren, sich gemeinsam mit Anderen zu »entrüsten«. Die Arbeitsbündnisse, die fallweise geschlossen werden, schließen sich gegen eine Umwelt zusammen, in der Recht nur als national­ staatlich konfiguriertes Recht gesprochen wird, in der Bürger gegen Staatenlose stehen. Die Akteure der Sozialen Arbeit, die sich um die Belange ihrer Adressaten kümmern, werden damit zu Vollstreckern einer Ordnung, die nicht die ihre ist. Sind sie somit »Handlangerin­ nen« eines Staates, der ihnen als anonymer Auftraggeber erscheint und sie unbarmherzig in Exklusionsordnungen verstrickt?7 In Frage steht hier nicht, was die Soziale Arbeit ausmacht, wel­ chen Normen sie folgt und welches Bild ihrer selbst sie repräsentiert. In Frage steht nichts weniger als die Weltbeziehung, in die profes­ sionelle Soziale Arbeit und insgesamt die helfenden Professionen eingebettet sind. Ihrer Herkunft nach ist die Profession Ausdruck einer anthropologisch und historisch tiefreichenden Sorge. Sie blickt zurück auf Urkategorien der Pflege und der Anerkennung von Men­ schen in Notlagen; sie hat bekanntlich theologische Wurzeln, die sich weit verzweigen, ihre Geschichte umfasst die Systeme der Fürsorge in allen denkbaren historischen Konstellationen8. In der Gegenwart hat sich das Fach, was die ethischen Grundla­ gen, die rechtlichen Kodifizierungen, die Konzepte, Ziele und Metho­ den betrifft, gründlich konsolidiert. Sie ist ein Fach des Partikularen, lebensweltlich verankert, mit dem klaren Gespür für die Sorgeverhält­ nisse in den unteren, inferioren Bezügen. Zugleich ist Soziale Arbeit eine grenzüberschreitende Profession. Einer Pluralität von Welten ausgesetzt, die zwar im konkreten Raum erscheinen, erblickt sie immer nur Ausschnitte einer nicht zu bewältigenden Komplexität. Dieses Übermaß an Weltkomplexität hat mit Phänomenen zu tun, die wohl jedem vertraut erscheinen: mit Globalisierungsprozessen, die mit politischer Ohnmacht einhergehen, aber auch mit politischer Regression; mit Schüben von Migration, Flucht und Vertreibung, die 7 Nivedita Prasad: Statt einer Einführung: Menschenrechtsbasierte, professionelle und rassismuskritische Soziale Arbeit mit Geflüchteten. In: Dies. (Hg.): Soziale Arbeit mit Geflüchteten, Opladen und Toronto: Budrich 2018, S. 9–33, hier S. 9. 8 U. a.: Johannes Schilling/Sebastian Klus: Soziale Arbeit. Geschichte-Theorie-Pro­ fession. München: Reinhardt 2018 (7). Streng genommen können wir niemals von der Sozialen Arbeit an sich sprechen, sondern von einer Einheit in der Vielheit, mit einer Fülle von sozialen Problemen, politischen Entwicklungen, kulturellen Bezügen.

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Einleitung

einer lange verdrängten Gewalt entspringen, mit weiterhin bestehen­ den weltweiten Ungleichheiten. In jeder Begegnung, die als soziale Hilfe überschrieben wird, kommen diese Grenzphänomene zum Aus­ druck, mal offensiv, mal versteckt. Insofern ist zu begründen, inwiefern die Weltbeziehung der Sozialen Arbeit als Profession überhaupt in Frage steht. Denn die Orientierung an den Menschenrechten führt ja zumindest zu einer gründlichen Abwägung mit Blick auf das jeweilige Mandat, das übernommen wird. Sowohl auf der Ebene der einzelnen Handelnden als auch auf der höchsten Selbstbeschreibungsebene scheint doch eine entsprechende Sensitivität und Reflexion gegeben zu sein. Entspre­ chende Publikationen zeugen davon, wenn sie sich weder auf die Darstellung eines typischen Konflikts reduzieren lassen, noch sich damit begnügen, auf die menschenrechtliche Basis zu verweisen. Die Reflexion umfasst in mancher Hinsicht noch die unausgeschöpften Potentiale einer widerständigen Praxis, für die es seltene wie kostbare Belege gibt9.

3. Das Weltverhältnis der Sozialen Arbeit Was meint indes »die Welt«? Ist es die entgrenzte Welt, in der alles miteinander vernetzt und in einem ständigen Fluss begriffen ist? Eine Welt, die einen umfassenden Horizont meint, mehr oder weniger allen verfügbar? Oder meint Welt nicht vielmehr jenen Anblick aus der Höhe, aus der sich vor allem die Signaturen der Macht auf­ drängen? Von einem erhöhten Standpunkt aus erkennen wir keinen offenen Raum, sondern geschlossene Territorien, Mauern mit greller Präsenz, lokale Räume mit dem Willen zur Selbsteinschließung, Stadtteile, die von Sperranlagen zerteilt werden. Das, was sich konkret im sozialen Raum abspielt, bedarf einer Klarheit. Welcher Art ist die Welt, die wir mal als gegeben vorausset­ zen und mal als einen umkämpften Raum verstehen? Und genauer gefragt, auf welchen Weltbegriff ist die Soziale Arbeit verwiesen, zu deren Selbstverständnis es zählt, das Wohlergehen des Einzelnen zu beachten wie auch den Zustand der Welt im Ganzen positiv zu gestalten? 9

Prasad 2018, S. 24 f.

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3. Das Weltverhältnis der Sozialen Arbeit

Die Welt ist offensichtlich mehr als nur eine geologische Tatsache und auch mehr als nur ein physikalisches Vorkommnis. Sie umfasst tiefere Konflikte, den Kampf der Begriffe und der Ordnungen. Die Welt, in der Soziale Arbeit verortet wird, liegt also deutlich vor Augen: Denn es kann sich sowohl in der theoretischen Reflexion wie in der praktischen Ausübung um nichts weniger als die ganze Welt handeln. Dies gilt umso mehr, seit die staatlichen Grenzen sich auflösen und Phänomene jenseits des Nationalen beschrieben werden; es gilt ferner im Horizont von Fluchtbewegungen, die im Grunde schon immer zum Zusammenfluss der Kulturen geführt haben. Die Welt der Sozialen Arbeit ist in der Totalität der sozialen Situationen abgebildet, in der sich menschliches Leiden artikuliert. Gleichwohl wäre zu fragen, warum diese Schlussfolgerung nicht selbstverständlich ist, sondern einer diskursiven Vermittlung bedarf. Der Grund liegt offensichtlich an dem Standpunkt, von dem aus man den Begriff der Welt an sich in Augenschein nimmt. Wir leben in einer gemeinsamen Welt; aber die Bedingungen der Weltverhältnisse sind unterschiedlich. Wir sind uns einander verbunden, aber leben unter verschiedenen Vorausset­ zungen. Alles kommt insofern auf die Qualität des Weltbegriffs an, mit dem man Aussagen über die Bedingungen des Sozialen, des Politischen und des Ethischen tätigt. Worum geht es in der politischen Dimension der Sozialen Arbeit? Man tut den Verhältnissen keine Gewalt an, wenn man von einem stillen Vorrang des Negativen ausgeht. Der Stachel des Negativen, entzündet am Unrecht und permanentem Leiden in der Welt, sitzt tief. Die Armutslagen, die sozialen Konflikte und der elementare Mangel in menschlichen Situationen »weltweit« bilden legitimerweise den Anlass für skeptische und kritische Reflexion. Das ist verdienstvoll und gerechtfertigt, aber es verengt schließlich den Blick auf die Bedingungen der politischen Welt. Die Soziale Arbeit hat nun bekanntlich mit jenen Personen zu tun, die in dieser Situation diversen Formen der Entwürdigung unterliegen. Sie aufzurichten und ihnen einen Teil dieser Würde zurückzugeben, darin besteht ein großer Teil der professionellen Bestimmung. Zugleich erkennen wir die politische Dimension, die zwischen den Adressaten der Sozialen Arbeit und den politischen Zuständen besteht. Es scheint, als wäre mit dieser Beschreibung zugleich ein Ein­ geständnis verbunden, dass die Soziale Arbeit angesichts der Welt­ komplexität nur eine marginale Rolle spielen wird und dass sie

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Einleitung

in allen Handlungsbezügen, in denen sie gefordert wird, versagen muss. Einer Profession, die einen Plan anfertigen soll und das eigene Handeln nicht nur rechtfertigen, sondern verteidigen müsste, werden die Hände gebunden durch Kräfte, die sich als größer erweisen. Man könnte sich damit begnügen und darauf setzen, dass die konkrete Arbeit ohne große Illusionen weitergeführt wird, dass man noch den kleinsten Erfolg als das Menschenmögliche anerkennt. Aber die Schlussfolgerungen, um die es hier geht, übersteigen diese Pragmatik. Sie fragen explizit nach der einen Welt und darüber hinaus nach einer verbindlichen Weltbeschreibung, die den Titel Ethos verdient.

4. Gewalt in den Geografien der Verletzbarkeit Dazu freilich ist es notwendig, die Gewalt, die in jedem historischen Kontext und in jeder politischen Situation vorhanden ist, genauer zu betrachten und einzuordnen. Jede Geschichte unterliegt schlichtweg einer Unterteilung der Welt und jeder sinnstiftenden Erzählung liegt eine besondere Art des In-der-Welt-Seins zugrunde. Trugbilder der Feindschaft, auferlegte Grenzen und Fermente des Hasses, so Marc Crepon, haben an diesem Weltverhältnis Anteil. »Wir wissen, dass wir auf beiden Seiten der jeweiligen Grenze nicht denselben Bezug zur Welt haben, weil die Ereignisse, die uns auf der einen wie auf der anderen Seite verletzt haben und die weiterhin unsere geteilten Erinnerungen beeinträchtigen, uns nicht auf dieselbe Weise erzählt worden sind.«10 Hier geht es nicht mehr um die Vergegenwärtigung des tota­ litaristischen Bösen, das sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat, an dessen Kern kein Zweifel besteht. Sondern um die vermeintliche Politik der Wahrheit, die vom Staat erzählt und mit affektiven Mitteln verinnerlicht werde. Der Staat, um den es hier geht, ist eine höchst abstrakte Größe, die über die Macht der Ein­ schreibung verfügt: zeitgeschichtliche Bilder werden erzeugt, um in den Köpfen und in den Herzen eine Realität zu bilden. Die erste Person Singular geht aus der erschütternden Niederlage, dem moralischen Sieg oder einem Akt der politischen Selbstbemächtigung hervor. Marc Crepon: Geografien der Verletzlichkeit. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 271– 285, hier S. 280.

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4. Gewalt in den Geografien der Verletzbarkeit

Die »staatliche« Wahrheit ist nicht einfach nur ein verzerrtes Bild, sondern umfassende »Dezentrierung« und »Enteignung«11. Aus ihr geht das Subjekt hervor, das die Welt so und nicht anders denken und beurteilen kann. Das kritische Denken zielt auf den alles umfassenden großen Widerspruch der Geschichte: Leben auf der einen Seite steht gegen die Verdinglichung und die Camouflage, gegen eine Form der Herrschaft, die so subtil in ihrem Auftreten ist. Das Leben an sich ist dieser Macht unterworfen; es wird in die Zonen der Wahrnehmung eingefügt: zwischen (an)erkennbarem und unerkanntem Leben. Die erwähnten Narrative stützen diese scheinbar unumgängliche Formie­ rung des Realen – ob wir Leben als Leben anerkennen, oder ob die Raster der Macht zweierlei Leben und zweierlei Leiden erzeugen12. Anders formuliert: die Welt ist nicht das, als was sie uns erscheint, sondern sie wird von Instanzen geformt und gebildet. Eine problematische Behauptung, wenn wir von universellen Begriffen ausgehen, die zu einem ethischen Selbstverständnis beitragen, das über alle Kritik erhaben wäre. Denken wir etwa an die Rede vom »Westen« und dessen verführerische Mehrdeutigkeit. Der »Westen« ist Himmelsrichtung und Sammelbezeichnung verschiedener Staats­ formen, ein historischer Ort und eine kulturelle Größe, zugleich eine versteckte oder offene Art der Parteinahme. Die Kritik an jenem Selbstbild, das einen so langen Schatten wirft, ist naheliegend. Euro­ zentrismus – dies hieß immer Kritik an der Selbstüberhöhung. Im Westen war der Ort der Zivilisation zu finden, hier vermutete man die überhistorische Größe, die sich auf der ganzen Welt verbreiten sollte. Der moderne Bezug auf den Westen ist für die folgenden Überlegungen hilfreich. Denn er bezeichnet mehr als nur einen geografischen Ort. Er »soll« zugleich ein Zentrum und eine kulturelle Adresse sein, ohne eindeutig markierbar zu sein. Es ist ein Konzept und eine Idee, die Gegnerschaft erzeugt und politisch-moralische Gräben aushebt. Als eine Figur der Asymmetrie steht der Name weiterhin für offene und verschwiegene Gegnerschaft, die sich aus der historischen Entwicklung erklären lässt. Dabei liegt die Historie doch deutlich vor Augen. Jenes Europa von kulturhistorischem Rang ist ein Phänomen, das zuerst im 17. Jahrhundert deutliche Umrisse erhalten hatte. Die anhaltenden religiösen Bürgerkriege endeten im Ebd., S. 281. Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt aus dem Englichen v. K. Wördemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 11

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Moment der staatlichen Arrondierung im Westfälischen Frieden – seitdem sprach man von europäischen Mächten, die im Rahmen einer neuen Einheit auftraten. Mit den politischen Grundlagen wurde das Religiöse zurückgedrängt und die Gewalt monopolisiert; es entstand das Bild von Europa, verfasst in allegorischen und mythischen Bil­ dern. Was von diesem Europa gedacht und verwirklicht worden ist, ist oft genug erzählt worden. Die Berechtigung der Kritik an der faktischen Gewalt bleibt natürlich bestehen. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff des Westens, wenn er beansprucht, mehr als eine Himmelsrichtung zu sein? Zumindest ist der Westen eine Idee der Ambivalenz. Er setzt die Expansion Europas voraus und findet sich im Moment des Bündnisses wieder, das uns in der transatlantischen Dimension vor Augen liegt. Mit diesem Blick aber entsteht zugleich jene Asymmetrie der Begriffe, die für manchen mit der Konfliktstruk­ tur unserer Zeit gleichzusetzen ist. Asymmetrische Gegenbegriffe enthalten einen begrifflichen Kern, der das Unterschiedene abwer­ tet13. Sie sind nicht neutral, sondern wertend. Sie zeigen auf das Gefälle, das zwischen uns und anderen besteht. Solcher Hochmut kann in »Larmoyanz«14 umkippen; er scheint nicht in der Lage zu sein, die Kulturen zusammen zu führen. Man kann sich der überlege­ nen Zivilisation anschließen oder man bleibt als das Unterschiedene außen vor. Damit schließt sich ein Kreis, der doch so viel Unstimmigkeit hervortreibt. Alles kommt darauf an, wie wir die geschichtlichen Ereignisse erzählen und unter welchen Bedingungen man von einem Wir und einem Sie Gebrauch macht. Die Erinnerung benötigt den Erzählerstandpunkt der ersten Person. Die naheliegende Konsequenz wäre es, die Geschichte von einem »nicht-westlichen« Standpunkt des Anderen zu erzählen. Aber dies ist zu einfach gedacht – denn man würde einfach einen weiteren Standpunkt wählen, der ordnend,

13 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegen­ begriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frank­ furt a. M.: Suhrkamp 1985 (1979), S. 211–259; Ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M. Suhr­ kamp 2006. 14 Jürgen Osterhammel: Was war und ist der Westen? Zur Mehrdeutigkeit eines Konfrontationsbegriffs. In: Ders: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur glo­ balen Gegenwart. München: Beck 2017, S. 101–115, hier 105.

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bewertend und verurteilend etwas oder jemanden erkennt und ande­ res verkennt. Erst mit dem Gespür für die Gesamtheit der historisierenden Verfahren, der Rhetorik der Diskurse und der Montage der Bilder können wir verstehen, wie Geschichte geschrieben wird. Das setzt den erhöhten Blick auf die Geschichte voraus, ohne sich einer besonderen Partei anzuschließen – der vollkommen unverzerrte Blick auf die Gegenwart bleibt eine Illusion, denn zu eng verklammert sind die souveränen Instanzen mit den Bildern des Feindes. In Frage steht also, ob wir die Geschichte vom Standort der Geografie der Verletzlichkeit so erzählen können, ohne uns dabei in neue Abhängigkeiten von Ideen und Ideologien zu begeben. Vor jeder Engführung unserer Geschichte steht der überlegene Blick auf die Fragilität aller Verhältnisse und die Verletzbarkeit aller Bezüge. Der vorliegende Bezug auf die Geografien der Verletzlichkeit ist hilfreich, weil er die Schwierigkeit aufweist, das Leben eines Anderen als wirkliches Leben zu begreifen. Der Versuch soll gemacht werden, ohne sich zugleich in der Unendlichkeit der desaströsen Landschaften, der Zonen des Elends und der Ungerechtigkeit zu verlieren.

5. Lebensformen im Widerstreit Ein Grundwiderspruch ist zu beschreiben, der die vorliegende Refle­ xion vorantreibt. Zwei Formen der Ethik stehen zur Disposition: der Bezug auf die Gleichheit als oberste Norm und der Bezug auf das Besondere und Individuelle. Moralphilosophisch öffnet sich mit diesem Topos nichts weniger als ein philosophisches Universum. Zahlreiche Denker haben sich diesem Grundgedanken buchstäblich verschrieben und keine der Positionen, die man zum Gedanken der Gleichheit heranziehen könnte, ist zu übergehen15. Der Grundge­ danke ist folgender: Der moderne Anspruch auf Gleichheit ist für sich betrachtet unzulänglich. Er bedarf einer Befragung, Begrenzung und Bestimmung durch das Besondere und Individuelle. Die Spannung zwischen dem Gleichen und dem Gerechten, zwischen der modernen Idee der Gleichheit und der zeitgenössischen Ethik der Singularität ist Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; John Rawls: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; Jürgen Haber­ mas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.

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Ausdruck ernster philosophischer Auseinandersetzungen. Aber er ist ebenso Spiegelbild einer Praxis des Widerstreits. Wie so oft schließen sich beide Ebenen nicht zusammen, eher scheinen sich die Abstände zu vergrößern. Worin besteht die praktische Relevanz eines solchen Konflikts, wenn er denn tatsächlich so virulent ist? Zahlreiche Situationen wären zu nennen, in denen die Konflikte nicht gelöst und die Gewalt nicht geringer wird. Syndrome ließen sich benennen, die uns mit einer Unversöhnlichkeit konfrontieren und auf einen scheinbar abgrundtie­ fen Hass zeigen. Syndrome, die man als menschenfeindlich, gewalt­ sam, negatorisch bezeichnen kann und die sich nicht still stellen lassen. Aber der Grundgedanke des Folgenden erschöpft sich nicht in diesen negativen Phänomenen, sondern eher in der mangelnden Wirkungskraft einer überzeugenden Gegenerzählung. Man möchte mit guten Gründen davon ausgehen, dass gegen den Hass die Politik der Freundschaft verfolgt werden könnte und dass gegen alle Symptome der Abwertung Diskurse der Gewaltfreiheit aufgeboten würden. Wo dies geschieht, ist es unbedingt zu würdigen. Der Grundwiderspruch, um den es hier geht, meint hingegen keine Konfrontation zwischen rivalisierenden Größen, als hätten wir nur noch die Wahl zwischen gut und böse, zwischen Hass und Courtoisie, Abwertung oder bedingungsloser Inklusion. Der Grundkonflikt ist eher auf der Ebene der Gleichheit selbst zu finden. Nicht alles, was wir unter dem Etikett der erlittenen Gewalt versammeln, lässt sich zusammenfügen oder gleichmachen. Diese Einsicht erscheint trivial. Jede Gewalterfahrung, jede Form der Demü­ tigung, jede abwertende Geste und jede Exklusion ist einzigartig. Wir können den Formen erlittener Gewalt nachspüren und sie kraft der Imagination behandeln, als wären wir dabei gewesen. Aber es bleiben Ansprüche auf Unvertretbarkeit und Einmaligkeit, die das Denken und Handeln stets begleiten. In dieser Form kann man sich den sozialen Phänomenen nähern, die sich in jüngster Zeit als Gegen­ narrative zu etablieren versuchen. Das Feld der erlittenen Gewalt umfasst etwa: die Tendenzen der Menschenfeindlichkeit, die sich in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft ausbreiten und sich gegen Minoritäten jedweder Gestalt wenden16. Es umfasst neue Formen des Antisemitismus, in wissenschaftlichen Diskursen ebenso wie in Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Band 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

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der Anonymität der Netzgemeinde; Auswüchse von Gewalt gegen »Andere«, deren Andersheit »kulturell« oder »ethnisch« umschrieben wird. Neue und alte Linien der Feindschaft werden gezogen und es ist oft schwer zu sagen, wer im nächsten Moment in den Mittelpunkt gestellt wird. Erschwerend kommt in dieser Situation hinzu, dass die Eindeu­ tigkeit der Verneinung, die wir theoretisch dieser Gewalt entgegen­ stellen, in der Praxis keine Übereinstimmung findet. Die Gegenbe­ wegungen gegen erlittene Gewalt finden nicht zu einer universalen Erzählung zusammen. Vielmehr bilden sich fragile Koalitionen und eine Form der Gegnerschaft, die offensiv auftritt und in bestimmter Hinsicht den Horizont des Allgemeinen aus dem Blick verliert. Dies unter Beweis zu stellen ist schwierig, weil es immer zuerst auf die Artikulation des Schmerzes und die Dringlichkeit des Leidens ankommt. Die Öffnung auf den Horizont der Gleichheit aber bleibt aus – und dies ist bei aller Solidarisierung das entscheidende Motiv unserer Zeit. Sie ist durchdrungen von der Ahnung, dass etwas fehlt. Was fehlt, das kann man aus der Perspektive der Betroffenen erkunden und darstellen. Von unten die Dinge zu betrachten, heißt etwas zur Sprache zu bringen, das ungesagt war, etwas in ein Licht zu rücken, das verdunkelt wurde. Die Menschen im Krieg hätten – um ein Beispiel aus der Historie aufzugreifen – dann ebenso das Recht auf Gehör wie es die großen Männer auf der historischen Bühne schon immer für sich reklamier­ ten. Der Blick in den Schatten der Geschichte meint: Menschen in existentiellen Situationen zu erkennen, deren Erinnerungen einen Wert darstellen und einen zu oft vergessenen Teil der Geschichte bil­ den. Das Gleiche gilt wohl in einem übertragenen Sinn für die Position der Hilfebedürftigen und Marginalisierten der Gegenwart. Auch ihre Stimmen wurden zu oft überhört und auch ihre Existenz bedarf der Anerkennung. Doch so einfach sich der Zusammenhang darstellt: es bleiben Dissonanzen. Wenn man den Gedanken einer universalisti­ schen Orientierung ernst nimmt, dann darf die Beachtung der Ande­ ren nicht an einem beliebigen Punkt aufhören, sondern sie muss sich auf das gesamte soziale Feld zwischen Macht und Gewalt erstrecken, somit auch auf jene Gruppen, die in bestimmter Hinsicht aus dem Register der Anerkennbarkeit herausfallen. Auch hierzu ist viel gesagt und geschrieben worden; Judith Butler wäre wohl als eine der ersten

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Einleitung

Stimmen zu nennen, die den Kontext von sozialer Wahrnehmung, Anerkennung und Verkennung durchdrungen haben17. Die Theorie widmet sich hier nicht der sozialen Anerkennung, sondern den Lebensformen, deren Status höchst fragil und brüchig ist. Dementsprechend ist das Leben als solches ausgesetzt und gefährdet. Man kann die Frage, ab wann bestimmtes Leben als solches erkannt und ab wann es aus dem Horizont der Gleichheit ausgeschlossen wird, durchaus mit der Kritik an der »white Supremacy« vergleichen18. Neuere kritische Theorien wenden sich in diesem Sinne gegen die subtilen Mechanismen des virulenten Rassismus. Sie kritisieren nicht allein die Vorherrschaft vermeintlich »weißer« Interessen oder die Hegemonie einer Klasse, sondern sie hinterfragen die Art und Weise, in bestimmter Weise positioniert zu werden. Es sind nicht allein die konkreten Demütigungen, die ethnische Klassifikation oder Dis­ kriminierung, die dieses Denken umtreibt, sondern die existentielle Frage nach dem Verlust eines Teils der Vergangenheit. Die Erfahrung, schwarz zu sein, hat demnach keine Entsprechung zu anderen sozia­ len Erfahrungen, weil sie ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis und somit ohne Halt ist19. Die ästhetisch-literarischen Versuche, dieser Erfahrung gerecht zu werden, sind somit als eine Möglichkeit zu bewerten, den Horizont der Gleichheit zu hinterfragen. Wer keine Stimme hat und keinen Bezug zur Vergangenheit, der kann sich auch in der Gegenwart nicht behaupten. Der Bezug auf die Gleichheit Aller wäre demnach auf eine neue Weise zu problematisieren. Als moderne Idee liegt zuerst der Bezug auf die gleiche Berücksichtigung in einem praktischen Sinne nahe. Freilich ist der Gleichheitsbegriff nicht unproblematisch: er suggeriert eine Klarheit und Präzision, die sich in der gesellschaftlichen Praxis verliert. Denn was meint »Gleichheit« an und für sich? Jeden und jede immer und in jedweder Hinsicht zu beachten, einzubeziehen, anzuerkennen und ihm ein »Gewicht« zu verleihen? Unter welchen Bedingungen käme man zu einer Bestimmung der Gleichheit, ohne 17 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt aus dem Englischen v. K. Wördemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 18 Frank Wilderson: Afropessimism. New York: Liveright Publishing Corpora­ tion 2020. 19 Ibrahim X. Kendi: Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Ame­ rika. Übersetzung Susanne Röckel, Heike Schlatterer. München: C. H. Beck 2017; Ders.: How to be an Antiracist. New York: One World 2019.

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das Verschiedene und Heterogene auszuschließen? Die moderne Idee der Gleichheit hat ihren Wert in der besonderen Personauffassung, die als Anstoß und Korrektiv der Politik der Gleichheit zu verstehen ist. Dieser Person können Rechte zugesprochen werden, sie kann als Träger und Inhaber eines solchen Rechts gelten oder als jemand, der diese Rechte in einem konkreten Rechtsverhältnis »begehrt« und es sich erst noch »verdienen« muss (denken wir an die aktuellen Bestimmungen für Geflüchtete in Europa). Die Geschichte der Gleichheit ist mit der Geschichte der Per­ son-Auffassung eng verknüpft20. Dass der Bezug auf die Gleichheit einem historischen Ereignis gleichkommt, in dem mit einem mal etwas Neuartiges artikuliert wird, heißt nicht, dass diese Gleichheit »gefunden« wurde. Das Pathos revolutionärer Brüche stiftet eine neue Wirklichkeitsauffassung: den Einbezug Aller als bestimmte Personen. Andere waren in vorhergehenden Zeiten fremde Andere, Andersgläubige, Abtrünnige, Häretiker, Barbaren. Sie werden nun zu Adressaten, die in bestimmter Hinsicht »wie wir« sind21. Das Verhältnis von der Idee der Gleichheit und der besonderen Person-Auffassung ist ein entscheidendes Merkmal der Modernität auch im politischen Sinne. Man könnte meinen, dass es lange ein­ gespielt ist und nichts Überraschendes mehr bietet. Aber es ist ein Prinzip, das unaufhörlich in Konflikte eingezogen wird: welche Auf­ fassung im religiösen, säkularen oder liberalen Sinne etwa zu Grunde gelegt wird, ist scheinbar immer umstritten. Wenden wir die oben angedeutete Kritik der bestehenden Macht­ verhältnisse auf diese Kontroverse um die Gleichheit an, dann scheint sich ein Prozess unaufhörlicher Überprüfungen und Revisionen abzu­ zeichnen. Die Perspektive der Personen, die aus diversen Gründen den Bestimmungen der Gleichheit nicht unterliegen, zählt zu eben jenen notwendigen Revisionen. Problematisch wäre es, würde man jenen Gruppen ein nur »partikulares« Anliegen andichten, als müsste man sie zusätzlich dem bestehenden Horizont der Allgemeinheit einordnen; sie gewissermaßen »hinzufügen«. Welche Fallstricke die Sprache an diesem Punkt auch immer hier beachten müsste – es geht nicht um die nachträgliche Einbeziehung Aller inklusive einer Minderheit. Sondern es geht, wie angedeutet, um den Widerstreit von Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 50–56; Hans Joas: Die Sakralität der Person. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. 21 Menke 2004, S. 52. 20

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Lebensformen, die von allen nur denkbaren Positionen her einen Sta­ tus als Person behaupten oder erwerben, verteidigen oder bestreiten, einklagen oder revidieren müssen. Ob man als Rechtloser dem beste­ henden Recht gegenüber tritt, als Marginalisierter einer Mehrheit, ob man als Geflüchteter einen rechtlichen Rang erwerben will oder als Mensch mit Behinderung einen Platz in einer Bildungsgemeinschaft; aber auch, ob man sein Leiden artikulieren will oder auf die Formen der Verkennung hinweisen – immer handelt es sich um einen unab­ geschlossenen Prozess hinterfragter Gleichheitsvorstellungen. Es fällt vermutlich nicht schwer, die Perspektive der Personen zu verstehen, deren Status als Person umstritten, deren persönliche Vergangenheit verdunkelt und deren Existenz bedroht ist. Gewalt und Unterdrückung wären demnach die entscheidenden Motive, um die Befragung der Gleichheit voranzutreiben. Aber zumindest dies muss erwähnt werden: je weiter wir den Kreis der Personen ziehen, je mehr Grenzen überschritten und je mehr Gewalt enthüllt wird – um so schwieriger erweisen sich die Kämpfe um Anerkennung. Dies eben ist der genuine Raum der sozialen und helfenden Professionen, der Sozialen Arbeit im weitesten Sinne. Aber was genau die Aufgabe der Disziplinen ist, die sich an diesem Prozess in aktivierender Weise beteiligen, ist erst noch zu bestimmen. Die Richtung der normativen Bestimmungen ist eindeutig, die Mittel, die zur Erreichung der Ziele bereit stehen, sind erprobt. Trotz allem bleiben die Bedingungen zu klären, unter denen die berechtigten Klagen angehört und die abstrakten Ansprüche in konkrete Verhältnisse überführt werden. Der Logik der folgenden Reflexion entspricht der Begriff des offenen Visiers. Es sollen nicht all jene Errungenschaften wiederholt werden, die zu dem moralischen Inventar unserer Zeit gehören; sie werden genügend Raum einnehmen. Die Konflikte unserer Zeit sollen genauer betrachtet werden, ohne sie in irgendeiner Weise zu verschärfen. Die Kontroversen um die Lebensformen, die angeblich unversöhnlich einander gegenüber stehen, bilden einen wesentlichen Gesichtspunkt. Dazu bedarf es eines längeren Weges der Argumen­ tation. Die pragmatischen Überlegungen, wie zum Beispiel eine Praxis der Integration gelingen kann, wie Andere ohne Gewalt einem bestehenden Machtverhältnis einbezogen werden – diese konkreten Aufgaben stehen am Ende einer langen Auseinandersetzung. Zu Beginn geht es darum, das Antlitz unserer Zeit zu skizzieren mitsamt aller inhaltlichen und normativen Streitpunkte. Konfliktlinien werden

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6. Methodologische Überlegungen zum Weltbezug der helfenden Professionen

nachgezogen, die alles andere als harmlos sind, die sich darüber hinaus einer tragfähigen Lösung entziehen. Nicht alle ungelösten Probleme der Welt beginnen im Westen oder in Europa. Gleichwohl soll die europäische Perspektive an den Beginn gestellt werden, um danach die vielen Bruchlinien nachzu­ ziehen, die sich in der Welt ansammeln. Jeweils wird der Gedanke zugrunde gelegt, dass wir bei dem selbstverständlichen Bezug auf Gleichheit und Anerkennung eine Befragung ebenjener Ideen mit­ vollziehen müssen.

6. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Methodologische Überlegungen zum Weltbezug der helfenden Professionen Versuchen wir diese Überlegungen von praktischen Beispielen her zu vertiefen. Der Moment der Begegnung zwischen einander Fremden ist von einer spezifischen Komplexität gekennzeichnet. Es stehen sich ein Jemand und ein Anderer gegenüber, ohne dass das Wissen über den Anderen, über die Situation und über die Bedingungen der Zusammenkunft vollkommen verfügbar wäre. Was aus einer solchen Begegnung gleichsam »gemacht« wird, ist eine offene Frage. Und wie sich diese Begegnung entwickelt, ob aus Fremdheit Nähe oder aus Alterität Freundschaft wird, wäre die sicherlich interessantere Frage. Um im positiven Bild zu bleiben, könnte man in einer Begegnung unter Fremden Gesten der Solidarität erkennen, Zwischenmensch­ lichkeit, vielleicht sogar eine Form der Willkommenskultur. In diesem Falle wäre man berechtigt, die Wirklichkeit dieser Erfahrung einer hergebrachten Theorie entgegen zu stellen, die besagt, dass Fremde fremd bleiben müssen und dass Solidarität eine schwindende Res­ source wäre. Das Beispiel der Begegnung zwischen Fremden ist in verschie­ dener Hinsicht lehrreich. Es führt zum einen in die Richtung einer Disziplin mit einem unabweisbaren Weltbezug, der man sich behut­ sam nähern müsste, ganz einfach weil sie eine massive Komplexität aufweist. Die Internationale Soziale Arbeit wäre an diesem Punkt als eine Theorieperspektive zu nennen, die eine Fülle von sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen aufweist und sich durch eine ebenso große Vielfalt von grenzüberschreitenden Themen und Diskursen auszeichnet. Um dieser wahrhaftig überwältigenden Weltkomplexität

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Einleitung

gerecht zu werden, empfiehlt es sich, deutlich erkennbare Kriterien einer solchen Disziplin zu benennen. Das Spannungsverhältnis zwischen der lokalen Praxis und der Globalisierungsperspektive wäre an erster Stelle zu nennen22. Wider­ sprüche und Brüche bedingen dieses Spannungsfeld: Globalisierung meint nicht nur jenen Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Verflechtung, sondern eine Form des Zusammenwachsens, der von den Geisteswissenschaften schon seit 200 Jahren beobachtet wurde. Nicht nur Immanuel Kant hatte im Zeitalter der Aufklärung bereits erkannt, dass die Menschen es auf einer immer enger werdenden Erde fortan miteinander aushalten müssen. Globalität und Lokalität bilden einen Zusammenhang, der seit langem heftig diskutiert wird. Zum einen sind globale Verflechtungen nicht von der Hand zu weisen; Wirtschaft, Transport, technologische und kommunikative Innovationen lassen die Welt zusammenwach­ sen. Auch mit Bezug auf die Disziplin der Sozialen Arbeit kommt es zu einem professionellen Austausch der Ideen, Konzepte und Werte auf den Ebenen der Forschung, der Lehre und der Praxis. Ab hier wird freilich die Luft für einen quasi natürlichen Fortschrittsprozess dünn, denn die spezifischen individuellen Kontexte und die allgemei­ nen Bezüge müssen vermittelt werden. Hier deutet sich eine erste Konfliktlinie an: Das Besondere einer jeweiligen Praxis im Lokalen findet seine Beachtung, aber ebenso lassen sich übergreifende Prinzi­ pien ausweisen, die über den Kontext hinaus gültig sein sollten: die Orientierung an basalen Menschenrechten zählt hierzu, spezifische Standards für die Praxis und die Ausbildung; ferner die Beachtung der Diversität, ökologischer Werte oder einer nachhaltigen Entwicklung. Dass sich die Weltgemeinschaft im Hinblick auf diese hier nur angedeuteten Punkte durch massive Ungleichheiten auszeichnet, wird niemanden überraschen. In Frage steht dabei, in welche Richtung sich die Disziplin der Internationalen Sozialen Arbeit hin entwickelt – ebenso wie fraglich ist, in welche Richtung sich die globalisierte Moderne entwickelt. Ungünstige Prognosen und düstere Szenarien hierzu werden zuhauf abgegeben. L. Healy: Global education for social work: old debates and future directions for international social work. In: Nobel, C./Strauss, H./Littelchild, B. (Hrsg.). Global Social Work, Crossing borders, blurring boundaries. Sydney: Sydney University Press 2014, S. 369–380; Homfeldt, H. G./Reutlinger, C. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziale Entwicklung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2009, S. 25–46.

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Verbleiben wir bei der Frage, wohin sich die Soziale Arbeit in der globalen Perspektive entwickelt23. Denkbar wäre das folgende optimistische Szenario: Durch die Disziplin werden universale Prin­ zipien verbreitet und weiter entwickelt, vertieft und intensiviert. Dem Fach käme insofern die größte Verantwortung zu, an der Verwandlung der Welt in positiver Absicht mitzuarbeiten. Diese Disziplin wäre und »hätte« demnach eine Gestaltungsmacht, die ansonsten eher der Politik oder der Wirtschaft zugesprochen wird. Konkret wäre der Gestaltungsanspruch auf verschiedenen Ebenen zu vollziehen: auf der Ebene der Verbreitung eines Wissens, das sich fortan in Praxis und Ausbildung fortsetzen lässt. Ferner auf der Ebene der politischen Handlungen, wobei die Rolle der Sozialen Arbeit ambivalent aus­ fällt – sie soll mehr als nur eine Berufstätigkeit im engen Kontext gewährleisten, sondern immer auch mit Einmischung verbunden sein. Internationale Soziale Arbeit wäre dementsprechend immer mit einem hohen Anspruch verbunden, die globale Politikentwicklung zu formen und voran zu treiben. Wie groß der Widerspruch, bzw. die Kluft ist, die zwischen dem Weltzustand an sich und der Profession besteht, muss ohne falsche Scheuklappen ausgesagt werden. Dabei ist es jedoch unerlässlich, Differenzierungen zu beachten, ohne die jede Kritik der Wirklichkeit nicht bestehen kann. Wir leben in einfachen Worten in einer globalen Welt mit einem granitenen Fundament. Gesellschaftliche und soziale Ungleichheiten bestehen in dieser Welt, die einen Stachel im Weltge­ wissen bilden. Die strukturelle Gewalt ist oft beschrieben worden, verändert oder gemildert worden ist sie nicht. Es ist nun einerseits klar, dass die Soziale Arbeit an der breiten Spanne der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede ansetzen muss. Ihr Auftrag und Selbstverständnis ist hier zu finden; als Disziplin, als Fach und als konkrete Profession ist sie Anwältin jener Menschen, die sich in Positionen der Ohnmacht oder der Randständigkeit befinden. Gleichwohl wäre zu fragen, unter welchen Bedingungen man die dringende kritische Diskussion führen kann. Die Soziale Arbeit ist notwendigerweise globalisierungskri­ tisch. Sie muss zur Kenntnis nehmen, dass die Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West, zwischen den wohlhabenden und den 23 Ute Straub: Definitionen Sozialer Arbeit. In: Leonie Wagner/Ronald Lutz/Chris­ tine Rehklau/Friso Ross (Hg.): Handbuch Internationale Soziale Arbeit. Dimensio­ nen – Konflikte – Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2018, S. 22–35.

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Einleitung

inferioren Welten faktisch bestehen. Und sie sollte an dem politischen Diskus teilnehmen, der sich an der extremen Ungleichheit in der Welt entzündet. Das bedeutet zum einen, dass sich die Soziale Arbeit selbst hin­ terfragen muss. Welche Rolle spielten die Akteure der Sozialen Arbeit in den Zeiten des Kolonialismus und inwiefern hat die Profession an der großen Erzählung teilgenommen, die vom Westen her erzählt wurde – dass nämlich alle Teile der Welt früher oder später von der in Europa aus in Gang gesetzten universalen Moderne erfasst werden sollten? Welchen »Anteil« hat die als eurozentrisch über­ schriebene Welt an der Ungerechtigkeit der heutigen Verhältnisse? Eine internationale Ausrichtung muss sich diesen selbstkritischen Fragen stellen – aber es gilt eine Kurzschlüssigkeit zu vermeiden. Wenn wir davon ausgingen, dass alles Elend auf der Welt auf den einen gewaltsamen Prozess der Kolonisierung zurück ginge, dass ferner alle Ungerechtigkeiten auf ungleiche Machtverhältnisse im Westen zurückführen, dann wäre diese eurozentrische Selbstkritik nicht mehr zielführend24. Konstruktiver wäre es, die Gewalt genauer zu betrachten und die Diskurse, die den Finger auf die Wunde legen, detailliert nachvollziehen. Geboten erscheint es also, sowohl die kritischen Perspektiven im Auge zu behalten wie auch konstruktive, gleichsam lebensdienliche Bedingungen zu fördern. Es wäre zu fra­ gen, worin die Folgen für die Betroffenen liegen, die sich auf die jeweilige nachkoloniale Vergangenheit beziehen; diese Folgen wären überhaupt erst sichtbar zu machen und müssten kritisch thematisiert werden – gerade im Horizont der bekannten historischen Brüche von Imperialismus und Kolonialismus25. Zugleich muss mit Blick auf die gegenwärtige Praxis gefragt werden, unter welchen Bedingungen die nachkolonialen Gesellschaften Ansprüche auf Veränderung geltend machen können. Dass diese Veränderung und Verbesserung zum Teil schockierender miserabler Verhältnisse zwar von außen »ange­ stoßen« und unterstützt werden muss, dabei aber von den Betroffenen mitgetragen werden sollte (oder in radikaler Diktion von unten her 24 Leonie Wagner und Ronald Lutz: Internationale Soziale Arbeit zwischen Kolonia­ lismus und Befreiung. In: Leonie Wagner/Ronald Lutz/Christine Rehklau/Friso Ross (Hg.): Handbuch Internationale Soziale Arbeit. Dimensionen – Konflikte – Posi­ tionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2018, S. 7–22. 25 Ronald Lutz und Alexander Stauss: Sozialarbeit des Südens. Themen und Praxen. In: Wagner/Lutz/ Rehklau/ Ross 2018, S. 258–273.

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ermöglicht wird) – dieser Konflikt zählt zu den größten Widersprü­ chen, mit denen die Internationale Soziale Arbeit zu tun hat. Das normative Fundament der Internationalen Sozialen Arbeit besteht also aus einem Widerspruch. Auf der einen Seite stehen kriti­ sche Positionen, für die sich die Sammelbezeichnung Postkolonialis­ mus eingebürgert hat26, auf der anderen Seite stehen Perspektiven der Befreiung und Emanzipation, die pädagogische und sozialtheo­ retische Freiräume denken und darstellen müssten. Um nun aber nicht stets auf die Erzählung der Unterwerfung der Welt vom Westen her zurück zu fallen, bietet es sich an, diese Polarität in diversen Themengebieten abzubilden. Sowohl in der abstrakten Theorie als auch in der realen Begeg­ nung konfrontiert die Soziale Arbeit die negativen Aspekte der Moderne. Das »Negative« lässt sich gleichsam als Entzug fundamen­ taler und programmatischer Rechte bezeichnen, mit denen Menschen weltweit zurecht kommen müssen. Kein freier Zugang zu sauberem Wasser, keine ausreichende medizinische Versorgung, mangelhafte Nahrung, Elend und Armut zählen zu den Bedingungen, die zu ändern sind, sowohl von der globalen Entwicklungshilfe wie auch von den sozialen Professionen. Aber die eigentlichen Perspektiven Internationaler Sozialer Arbeit können natürlich nur dann eröffnet und erweitert werden, wenn man an Schlüsselthemen ansetzt, die eher einen programmatischen Charakter haben, Themen wie Armut, Bildung, Geschlechterbeziehungen, das Leben unter den Bedingun­ gen des Lagers und die Erfahrung und Bewältigung der Gewalt. Eine der größten Herausforderungen stellt sich unmittelbar mit Blick auf die Totalität der miserablen Situation. Eine entwicklungsbezogene Perspektive muss immer von einem Maßstab ausgehen, der als nor­ mal oder relativ erscheint. Denken wir an das Beispiel der Armut – in den westlichen, demo­ kratisch verfassten Gesellschaften geht es um den Umgang mit relati­ ver Armut. Menschen am Rande der Gesellschaft fehlt es an Teilhabe, an materiellen Mitteln, um sich in kulturellen, sozialen, gesellschaft­ lichen und ökonomischen Dimensionen zu behaupten27. Hier geht es 26 Andreas Eckert: Kolonialismus. Frankfurt am Main: Fischer 2006; Ina Kerner: Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius 2012. 27 Ronald Lutz: Armut. In: Wagner/Lutz/ Rehklau/Ross 2018, S. 100–120; Stefan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihre Praxis. Berlin: Carl Hanser 2017.

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schlichtweg um die Ermöglichung einer gesellschaftlichen Position in einer Lebenswelt, die von Exklusionsrisiken erschwert wird. Absolute Armut hingegen verschiebt den Fokus der Hilfe. Sie ist mit Fragen des existentiellen Überlebens verbunden. Die Position des fernen Beobachters oder des involvierten Akteurs ist radikal asymmetrisch, ob man will oder nicht: Man empfängt Informationen über die schrecklichen Bedingungen, unter denen »Andere« leben, aber man verfügt doch äußerst selten über einen vergleichbaren eigenen Erfahrungshorizont. Welche Schlussfolgerungen aus diesem Zusammenhang für die Disziplin zu ziehen sind, kann nicht mit einem Satz geklärt werden. Vorrangig geht es darum, von sozialen Gepflogenheiten und von den überlieferten Narrativen Abstand zu nehmen. Das Überleben zu sichern – dass diesem normativen Satz in jedem Fall und in jeder Situation ein Vorrang gebührt, muss nicht begründet werden. Entscheidend für das Profil der Sozialen Arbeit ist darüber hinaus aber die Tragfähigkeit für Alterität. Der Begriff der Alterität meint im herkömmlichen Verständnis das Andere und Fremde in diachroner und synchroner Dimension. Wir stehen Anderen in Raum und in Zeit als Unbekannte gegen­ über. Hier meint der Begriff weniger den Umgang mit kultureller Andersartigkeit, sondern den Umstand, dass wir in allen sozialen Begegnungen mit Anderen und Fremden konfrontiert werden, die sich nicht dem Schema der Assimilation und Normalisierung fügen. Dies trifft in besonderem Maße auf die Soziale Arbeit unter Bedingungen ungleicher Entwicklung zu. Kindheiten, die auf der Straße, in Slums oder in militärischen Gruppen unter Zwang erfahren werden, finden keinen logischen Anschluss zu einer Kindheit in relativ wohlhaben­ den Bezirken. Geschlechterbeziehungen, die von mehrdimensionaler Gewalt durchdrungen sind, haben mit den eigenen Beziehungen wenig zu tun. Kulturelle Traditionen und Lebensweisen, die unter der Voraussetzung absoluter Armut bewahrt wurden, haben einen anderen Stellenwert in der interexistentiellen Perspektive. Diese Beispiele deuten an, worum es in erster Linie geht. Wie man es auch wendet, die Befreiung aus den bestehenden Verhältnis­ sen ist das Ziel jeglicher Hilfe. Aber diese Befreiung ist nicht eindi­ mensional und nicht mechanisch, so als könnte man das Schicksal »in die eigenen Hände nehmen« und sich seiner Situation »bemäch­ tigen«. Die Slogans von Empowerment versagen an dieser Stelle, auch wenn ihre prinzipielle Bedeutung nicht bezweifelt werden soll.

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6. Methodologische Überlegungen zum Weltbezug der helfenden Professionen

Entscheidend ist vielmehr die Frage, in welche Richtungen man das Ziel der Befreiung lenkt und ausdeutet. Befreiung – der Begriff erinnert an die sozialrevolutionäre Spra­ che des vergangenen Jahrhunderts. Der Existentialismus vor allem französischer Prägung hatte sich dem Begriff gleichsam »verschrie­ ben« und die Revolte des Menschen in einer Welt der Entfremdung und Erniedrigung ins Auge gefasst. Die Sprache solcher philosophi­ schen Entwürfe ist nicht verhallt, aber sie ist wohl gegenwärtig unter anderen Umständen zu wiederholen. Die Befreiung zielt heute auf unterschiedliche polare Spannungen, die einem Kraftfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft gleichen. Nicht mehr in der Sprache der Umwälzung oder der Revolution ist eine Befreiung zu erfassen, son­ dern im Horizont unterschiedlichster Grenzüberschreitungen. Und nur in diesem Sinne können die helfenden Professionen ihren Beitrag leisten. Grenzüberschreitung meint zunächst, die Kluft zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zu verstehen. Mit großem Selbstverständnis sprechen wir von »entwickelten« und »unterent­ wickelten« Regionen der Welt; die eurozentrisch geprägte Soziale Arbeit versteht sich als eine mögliche Antwort auf die drängendsten Fragen der »unterentwickelten«, anderen Welt28. Es ist ein Verhältnis schärfster Asymmetrie, dem man wenig Tröstliches abgewinnt. Der erste Schritt zu einer wahrhaftigen Grenzüberschreitung wäre daher ein dialektischer: es gilt, die Hegemonie des Globalen Nordens anzu­ erkennen und seine Rolle an der Produktion jener Schieflage, die im Zeitalter des Kolonialismus entstanden ist. Im Zuge der Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert29 war das Selbstverständnis der Ersten Welt entstanden, ein Prozess, der den Führungsanspruch des Westens mit Gewalt vorangetrieben hatte. Welche Position kann die Soziale Arbeit einnehmen, wenn sie sich auf all jene Themen bezieht, die in unmittelbarem Zusammen­ hang mit diesem gewaltsamen Prozess stehen? Es kann nur eine Position sein, die sich konstruktiv und sozialkritisch versteht und sich zugleich an eine umfassende moralische Grammatik des gemein­ samen Lebens zurückbinden lässt. Die Auseinandersetzungen um Flucht und Migration, Gewalt und Krieg, Ungleichheit und Leiden sind nicht von einem neutralen Standpunkt aus zu führen, sondern Wagner/Lutz 2018, S. 9 ff. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhun­ derts. München: Beck 2011.

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Einleitung

sie müssten vielmehr das Bewusstsein eines Standortes inmitten jener Gewalt formieren. Für solche eine sozialkritische Position sind zunächst die Grund­ lagen zu schaffen. Sie führen auf verzweigte Wege und unübersichtli­ che Diskursfelder. Die Einteilung in verschiedene anthropologische, politische und ethische Dimension sollen den folgenden Reflexionen eine zumindest minimale Struktur verleihen.

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Erster Teil: Die anthropologische Dimension

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

In einer Ausgabe des Philosophie Magazins sprachen der Publizist Wolfram Eilenberger und die Aktivistin Luisa Neubauer über das Spannungsverhältnis von Visionen, Freiheit und Notwendigkeit30. Wie können Freiheit und kollektives Handeln miteinander in Ein­ klang gebracht werden, wie Einsicht in die Notwendigkeit mit Aktivis­ mus verzahnt werden? Die Sorge um die Lebensgrundlagen auf dem Planeten einte die Gesprächspartner, aber die Schlussfolgerungen wiesen doch in höchst unterschiedliche Richtungen. Die aktivische Bewältigung der Klimakrise benötige, so Neubauer, eine Gemein­ schaft, denkende Menschen, die Entscheidungen treffen, Widerstand leisten und somit ein »starkes Wir« im Diskurs um Klimagerechtig­ keit formieren. Dem widersprach Eilenberger im Wissen um die Viru­ lenz ideologischer Bewegungen; unter kulturhistorischer Perspektive wäre es doch zu kurzatmig, von der wissenschaftlichen Einsicht auf die Mechanik der Mobilmachung zu schließen. Geschichtliche Skepsis umfasst notwendigerweise auch die Sorge um die totalitäre Drift, die immer als Möglichkeit zu bedenken wäre; die Sorge um das Klima schließt insofern nicht die Menschen zusammen, sondern erzeugt neue, kaum berechenbare Dynamiken, neue Resonanzräume, neue Ideologien, neue politische Mobilmachungsbewegungen. Ob sich darin die Motive der Vergangenheit wiederfinden werden, bleibe abzuwarten, so Eilenberger. Es gibt wohl wenige Begriffe, die geeigneter wären, das Thema unserer Zeit zum Ausdruck zu bringen, als den Begriff der Sorge. Allerdings ist Sorge vielschichtig und damit ambivalent: auf die Welt als ganzes, auf Lebenswelt und Nahwelt zugleich gerichtet. Die Sorge zielt nach außen, aber immer auch nach innen. Als Selbstsorge ist der Begriff zudem von einer tiefreichenden psychodynamischen und philosophischen Qualität. Die philosophische Ausgangsfrage verweist indes auf ein Leit­ motiv, das von grundlegender anthropologischer Bedeutung ist. Denn 30

Philosophie Magazin Nr. 01/2021 Philomagazin Verlag GmbH Berlin, S. 16–21.

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verkürzt wäre die Kategorie der Sorge, wenn sie in der monologi­ schen Form der Selbstsorge alle Dimensionen der globalen Sorge umfasst. Vielleicht ist es dieser Gedanke, der die politischen und sozialen Probleme auf einen entscheidenden Punkt bringt: der von der Selbstsorge getriebene Einzelmensch »erfindet« gleichsam Prinzipien der Universalität und Partnerschaftlichkeit, realisiert die Notwendig­ keit der Erziehung und Disziplinierung von seinesgleichen, entwirft humanistische Programme und legt sich Rechenschaft ab über sein Tun. Bei aller wohlmeinenden Rhetorik bleibt ein Kategorienfehler zu beachten, der nicht in einer vermeintlich abgedunkelten Seite des Menschseins besteht, sondern in der Illusion vollkommener Selbster­ mächtigung. Vollkommen ist die Selbstbehauptung deswegen nicht, weil sie unweigerlich als Machtdiskurs erscheint. Die Rede von einem neuen Bewusstsein, gar von einer globalen Sorgekultur ist zwiespältig. Kaum von der Hand zu weisen ist das advokatorische Prinzip: Diskurse über Armut, Migration und Klima werden im Namen einer verantwortlichen Instanz geführt: dem bes­ sergestellten Teil der Menschheit. Verantwortung ist in aller Munde, aber unklar bleibt doch, wie man den bestehenden Ungleichheiten und Asymmetrien begegnen will. So bleibt vorerst der advokatorische Impuls, auf die globale Dringlichkeit zu verweisen, aber dies immer aus der Perspektive einer »Zitadellenkultur«, die sich vor drohenden Gefahren hüten will31. Die kritisch-anthropologische Perspektive muss insofern an den Wesenskern des Phänomens gelangen: Der Einzelmensch, der sich sorgend mit Andcren zusammenschließt, ist ein Fehlschluss. Denn diese Idee verfehlt die anspruchsvolle Beschreibung der interexis­ tentiellen Dimensionen, die eine menschliche Welt bedingen. Die Vorstellung, dass der Mensch ein Wesen sei, das selbstmächtig seine Zukunft entwirft, ist unter philosophischem Gesichtspunkt revidiert worden. Geschichte und Handeln sind nicht in eine gedankliche Konvergenz zu zwingen; der Mensch fasst zwar Pläne, prognostiziert Entwicklungen und erhält Einblick in die Dynamik seiner Entwick­ lung. Er kann also Nebenfolgen seines Handelns durchaus erkennen. Der Kategorienfehler liegt in der Illusion des Geschichte-Machens. 31 Lothar Böhnisch: Sorge als europäischer Diskurs mit potentieller globaler Aus­ strahlung. In Christiane Bähr/Hans Günther Homfeld/Christian Schröder/Wolf­ gang Schroer/Cornelia Schweppe (Hg.): Weltatlas Soziale Arbeit. Jenseits aller Ver­ messungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014, S. 404–417, hier S. 404.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Übersteigerte politische Visionen haben die Geschichten der Vergan­ genheit des 20. Jahrhundert in diesem Sinne geprägt: in der Verwechs­ lung von Geschichte und »herstellendem« Machen offenbarte sich die Kardinalsünde der Politischen Philosophie des Abendlandes, so Hannah Arendt32. Geschichte habe weniger mit der Ausführung eines Handlungsplans, als vielmehr mit dem zu tun, was uns geschieht und uns zustößt. Geschichte ist anders formuliert immer als Grenzgesche­ hen aller Handlungsmacht sinnvoll erzählbar.33 Die Sorge hat eine geschichtliche Dimension, die spannungsvoll wie auch bedeutsam ist. Sorgedynamiken lassen sich abbilden in einem oben und einem unten des politischen Raums, in der Diffe­ renz von Zentrum und Peripherie menschlicher Lebensräume, in geschlechtlichen Kategorien oder in Machtverhältnissen. Die polaren Spannungen umgeben den historischen Möglichkeitsraum der Sorge. Anthropologische Bestimmungen, die unabhängig von jeglichen Kri­ senbewusstsein bestehen, lassen sich in Kategorienpaare übersetzen, die sich von der Zentrierung auf den Einzelmenschen weit entfernen. Anthropologische Bestimmungen der Sorge bilden den äußers­ ten Rahmen von allen denkbaren Sorgeverhältnissen. Verhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten müssen austariert, Anerken­ nung zwischen ungleichen Lebensformen gefördert und Gewaltfähig­ keit muss begrenzt werden. Soziale Gegensätze und geschlechtliche Spannungen sollten in lebbare Verhältnisse überführt werden. Die Beziehungen der Sorge sind in jedem Fall in polare Spannungen eingefasst, die artikuliert und bewältigt werden müssen. Einer der schwierigeren Aspekte der Sorge liegt in der psy­ chodynamischen Verdeckung der Sorgebeziehungen. Auch hier gilt es zwischen oben und unten, Macht und Machtlosigkeit zu unter­ scheiden. Zu den skeptischen Einsichten zählt, wie zu zeigen sein wird, die Bestimmung der Sorge als anthropologische Konstante in interexistentieller Perspektive. Die politischen Diskurse zeigen auf 32 Hannah Arendt: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1957, S. 102. 33 Emil Angehrn: Konstruktion und Grenzen der Konstruierbarkeit. Sinn und Geschichte in der menschlichen Lebensform. In: Günther Dux/Jörn Rüsen (Hg.): Strukturen des Denkens. Studien zur Geschichte des Geistes. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 219–235; Ders.: Die Herausforderung des Negativen. Zwischen Sinnver­ langen und Sinnentzug. Basel: Schwabe reflexe 2015 Kurt Bayertz: Einleitung. Was könnte mit der These gemeint sein, dass der Mensch die Geschichte macht? In: Kurt Bayertz, Matthias Hoesch (Hg.): Die Gestaltbarkeit der Geschichte. Hamburg: Felix Meiner 2019, S. 19–39.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Machtasymmetrien, die bislang nicht verändert werden konnten. In der Mitte von humanen Grundsituationen aber zeigen sich ganz andere Bedürfniskonstellationen und Sorgebeziehungen, die nicht auf politische Bestimmungen verkürzt werden sollten. Zunächst ist festzuhalten: die Soziale Arbeit ist in der europä­ ischen Dimension eng mit feministischen Bewegungen verbunden. Denken wir an die herausragenden Frauengestalten der Jahrhundert­ wende wie etwa Alice Salomon; eine Vordenkerin Sozialer Arbeit und Kämpferin für Frauenrechte. Ihre Bestrebungen galten der Umgestal­ tung der klassischen Armenpflege in soziale Fürsorge, aber zugleich trieb sie die feministischen Bewegungen voran, freilich nicht ohne Widersprüche. Die sich entfaltende soziale Arbeit sollte eng mit der beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung der bürgerlichen Frauen verknüpft werden; die geschlechtsrollenspezifischen Benach­ teiligungen im gesellschaftlichen und sozialen Leben nach Möglich­ keit beseitigt werden. Der Wirkungskreis Salomons umfasste zwei soziale Phänomene: die Notlagen der Armen und sozial Deklassier­ ten, denen neue Perspektiven geschaffen werden sollten und die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen, die sich nun selbstbe­ wusster eine Domäne außerhalb des eigenen Hausstands erschlie­ ßen konnten34. Dabei war die Rechtfertigung der Protagonistinnen nicht frei von Widersprüchen. Die ursprüngliche Argumentation der Gegner der Frauenbewegungen wurde ins Gegenteil verkehrt: Frauen, die vorran­ gig an bestimmte Bereiche des häuslichen Umfeldes gebunden wur­ den, sollten aufgrund ihrer vermeintlichen weiblichen Qualitäten nun auch für außerhäusige Tätigkeiten gefordert werden. Das Argument der »Mütterlichkeit« wurde ins Spiel gebracht, mit Konnotationen, die man im Kontext der Zeit betrachten muss. Solche Weiblichkeit richtete sich dabei gegen die vorherrschenden »männlichen Prinzi­ pien«, gegen Eigennutz, Gewinnstreben und Macht. Der Blick auf solche Qualitäten einte die sozialen Bewegungen im europäischen und überseeischen Kontext. Der Familien- und Geschlechterdiskurs, der hier in Gang gebracht wurde, ist bis heute nicht stillgestellt. Er steht freilich gegen­ wärtig im Brennpunkt von Sozialstaatsdiskursen, die von anderen Leitgedanken ausgehen. Sozialstaatlich und sozialpolitisch ist die Ernst Engelke, Stefan Borrmann, Christian Spatscheck: Theorien der Sozialen Arbeit. Freiburg i. Br. Lambertus 2018, S. 224–242.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Unterscheidung von öffentlicher und privater Sorge maßgeblich; die kritische Geschlechterperspektive versucht hingegen seit langem, den Dualismus zu überwinden. Lothar Bönisch betont zu Recht, dass die einzelnen Dimensionen der Sorge unterschieden werden müssen35. Anthropologische, interaktive und gesellschaftliche Aspekte bedin­ gen das Phänomen. Zuerst die anthropologische Dimension ist mit primären basalen Bindungsaspekten verbunden. In der anthropologischen Sorge zeigt sich eine unvermeidliche Asymmetrie menschlichen Lebens. Existen­ tialistisch betrachtet ist vom Geworfen-Sein des Menschen die Rede, aber eine ebenso große Rolle spielt das Geborenwerden von einer Mutter – in der Sprache, die man nicht vorschnell politisch instrumen­ talisieren sollte. Vielmehr handelt es sich bei der primären Bindung – hier als Sorge artikuliert – um eine unabweisbare Form menschlicher Weltorientierung. Die Sorge tritt nicht einfach von außen an das Leben in monologischer Einsamkeit hinzu, so wie etwa ein Fremder in ein Leben »eindringen« würde. Sondern die Struktur menschlicher Sorge ist bereits im Vornherein als Mit-Sein mit Anderen richtig verstanden. Menschliche Sorge – und darin die Selbstverständlich­ keit menschlicher Bindungsfähigkeit – ermöglicht praktische Sinn­ entwürfe mit unablösbaren Erfüllungsgestalten36. Dies schließt in der Perspektive einer humanen Grundsituation durchaus den Begriff der Mütterlichkeit ein, aber wohlbedacht ohne jeden instrumentellen und politischen Gesichtspunkt. Von der philosophischen Beschreibung der humanen Grundsi­ tuation kann man dann in einem zweiten Schritt zur Analyse politi­ scher und gesellschaftlicher Verhältnisse gelangen. Genauer gesagt ist es die kulturhistorische Entwicklung, deren Engführung zu reflek­ tieren wären. »Sorge« ist ein kompliziertes Motiv der Moderne. Denn Modernität vereint Widersprüchlichkeiten im Horizont belasteter Lebenswelten, welche sich in anderen Bezügen gar nicht stellen. Die Soziologie spricht von Kindern der Freiheit, von der Gesellschaft mit vielen Optionen und Chancen, von einer Epoche, in der der

Böhnisch 2014, S. 402 ff. Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 143–146.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Mensch gleichsam freigesetzt und neu erfunden wird37. Freisetzung heißt freilich auch Entbettung und Aussetzung; Chancen gehen mit Risiken einher, die Moderne fordert zudem Kompetenzen, die nicht jedem zur Verfügung stehen. Die Sorgeverhältnisse sind insgesamt durch die scheinbar alternativlosen Rahmungen der Spätmoderne eingeengt: der moderne Mensch muss sich eine Fitness erwerben, um den Umgang mit wechselnden Kontexten, Rollenzumutungen, Identitätskonstruktionen zu lernen. Er soll Lebenssouveränität erlan­ gen, aber ist auf eine undeutliche Bastelbiographie verwiesen (U. Beck). Die Umbrucherfahrungen in der Moderne haben zuallererst mit einem Entzug zu tun: Subjekte sind den Verhältnissen ausgesetzt, ihre positive Freiheit muss erst richtig verstanden werden. Ihnen werden vorgegebene Muster der richtigen Lebensführung entzogen, ihre Identität bleibt vage. Erfahrungen aus zweiter Hand und allge­ genwärtige Virtualisierung prägen das Aufwachsen. Das Zeitgefühl für die Gegenwart schrumpft, während sich Lebenswelten zu anony­ men Lebensräumen entwickeln38. Die Spielräume der Sorgeverhältnisse verengen sich; Bindungen werden insofern nötiger als je zuvor. Aber in welchen gesellschaftli­ chen Segmenten können sich Individuen versammeln, wenn diese Moderne gleichsam in sich gespalten ist und somit unfähig, den vielen verunsicherten Einzelnen ein sinnvolles »Angebot« zu machen, wie sie ihr Leben sinnvoll führen könnten? Die Kulturhistorie erkennt in dieser Situation ein wiederkehrendes Motiv39. In den ersten Jahrzehn­ ten des 20. Jahrhunderts begann man die ontologische Bodenlosigkeit zu spüren, die sich in neuen Bewegungen mit existentialistischem Ton ausdrückten; die Vereinzelung mündete in kollektiven Visionen und Resonanzräumen mit totalitaristischen Zügen. Diese Dinge müssen sich nicht wiederholen. Aber es zeigt sich doch in aller Schärfe Ulrich Beck: Kinder der Freiheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; Ders.: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 38 Heiner Keupp/R. Höfer (Hg.): Identitätsarbeit heute. Frankfurt am Main 1997; Heiner Keupp: Eine Gesellschaft der Ichlinge? Zum bürgerlichen Engagement Her­ anwachsender. München 2000; Ders.: Identitätsbildung in der Netzwerkgesellschaft: welche Ressourcen werden benötigt und wie können sie befördert werden? In: Ute Finger-Trescher/Heinz Krebs (Hg.): Bindungsstörungen und Entwicklungschancen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 15–51. 39 Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer: Das große Jahrzehnt der Philosophie. 1919–1929, Stuttgart: Klett-Cotta 2018; Ders.: Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. (1933–1943), Stuttgart Klett-Cotta 2020. 37

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

die Dringlichkeit, das Bewusstsein der menschlichen Anfälligkeit für ideologische Verstrickungen wach zu halten. Wenn Individuen und Gruppen massenhaft entbettet werden, kippt die Freiheit der Moderne in jene riskante Moderne, vor der U. Beck und Andere seit langem warnen. Es ist also die Frage (ohne diese hier beantworten zu können), wie sich die Einsicht in die anthropologische Grundsituation des Men­ schen mit den sozialen und gesellschaftlichen Erzählungen zusam­ menschließen ließe. Die Bindungsbedürftigkeit des Menschen steht außer Frage, aber welche lebensdienlichen Formen von Sorgebezie­ hungen sind zu denken oder zu schaffen? Schließlich die gesellschaftliche Dimension. Sie ist insofern den meisten Menschen vertraut, weil sie mit persönlichen Erfahrungen verbunden ist; sie ist zudem aber undeutlich, weil sich machtpoliti­ sche, private, öffentliche und sogar transkulturelle Aspekte ungut vermischen können. Dies ist, wie wir sehen werden, darauf zurück­ zuführen, dass Sorge immer auch »psychodynamisch verdeckt«40 ist und somit schwer analytisch einzuholen. Das Ziel der folgenden Reflexionen wäre es insofern, grundlegende anthropologiekritische Existentiale von gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu lösen, um einen freien Blick auf beide Phänomene zu erlangen. Eine letzte Dimension ist zu beachten, die bislang kaum Erwäh­ nung fand: die ethische Dimension. Dass Menschen auf Sorgebe­ ziehungen verwiesen sind, steht außer Frage. Aber auf welchem erkenntnistheoretischen Grund können wir diese Sorge festigen? Die Sozialethik ist nichts schlichtweg Vorgefertigtes; das Denken über Sorgebeziehungen überspannt ein weites Feld, das von utilitaristi­ schen Konzepten bis zur Ethik des Anderen reicht. Unabweisbar ist bei allen wissenschaftstheoretischen Varianten aber die Sorgebedürf­ tigkeit des Menschen. Sie drückt sich in interaktiven Verhältnissen aus, die verschiedene systemische und gesellschaftliche Gestalten annehmen kann. Alle notwendigen Reflexionen führen dabei in die Tiefe: in die Tiefe des einzelnen Subjekts mitsamt aller basalen Erfah­ rungen, ebenso in die Tiefe der Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen und machtpolitischer Verhältnisse. Und es ist eben genau diese Tiefe, die vielleicht erklärt, warum die Sorgeverhältnisse scheinbar so verkrustet erscheinen. 40

Böhnisch 2014, S. 402.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Es sind zwei Motive im folgenden darzulegen, die unter Umstän­ den dazu beitragen können, die Care-Diskurse aus den nach wie vor bestehenden Engführungen zu befreien – die Entwicklung einer Leit­ vorstellung von Sorgeverhältnissen zwischen öffentlich und privat sowie die intensivere Beachtung transmigrantischer Lebensverhält­ nisse. Die erwähnte psychodynamische Verdeckung der Sorgebezie­ hungen ist genauer zu beschreiben. Die fundamentale Ebene der ers­ ten Dyade ist tief in die menschliche Psyche eingeschrieben; Probleme entstehen, wenn die unverfügbare Sorgebeziehung zur Angelegen­ heit öffentlichen Interesses wird. Dann könnten im schlechteren Fall wirksame Beziehungskategorien mit Machtbeziehungen vermengt werden. Das Wesen der mütterlichen Sorge wäre demnach ein Ins­ trument, um bestehende öffentliche Asymmetrien zu begründen. Um dieser Problematik zu begegnen, ist nicht nur ein kritischer Machtdiskurs erforderlich, sondern auch eine Revision der gesell­ schaftlichen Sozialisationsvorstellungen. In Frage steht, auf welchem Wege sich ein neues sozialpolitisches Regime etablieren ließe, das den sorgenden Arbeits- und Lebensverhältnissen in jeder Hinsicht Anerkennung verschafft. Die Ausgangssituation ist insofern komplex, weil die Asymme­ trie der Sorgebeziehungen scheinbar durch neue Verhältnisse fakti­ scher und stellvertretender Inklusion abgefedert wird. Von Beginn an sind menschliche Wesen aufeinander angewiesen – und es scheint, dass dieses Angewiesen-Sein in der Moderne bereits restlos in insti­ tutionelle Formen eingegangen ist. In einzelnen Kontexten mag dies zutreffen; aber im Rahmen kapitalistisch verfasster Gesellschaften handelt es sich hier um eine prekäre Dialektik von Freisetzung und Entgrenzung. Neokapitalistische Prozesse der sozialen Entbet­ tung und der Verlust sozialstaatlicher Sicherheiten werden vom Marktgeschehen in »konsumtive Gestaltungsbezüge« transformiert, so Lothar Bönisch. Sorge wird kommerziell angeeignet, sie erhält einen »Warencharakter«, der durch eine prosoziale Semantik über­ deckt wird41. Es ist nicht ganz einfach, diese Mechanismen zu »entlarven«, insofern sich eine subtile Symbolik längst entfaltet hat, der man sich nicht entziehen will. Die Inklusion der Anderen, die Begrüßung von Getriebenen und Fremden in einer Willkommenskultur oder die 41

Böhnisch 2014, S. 403.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

allgegenwärtige Sorge im globalen Maßstab lässt keinen Widerspruch zu. Umso dringlicher scheint es, die Dynamik der Sorgeverhältnisse differenzierter abzubilden. Der erste notwendige Schritt bestünde in der Wahrnehmung des­ sen, was unter sozialpolitischen Gesichtspunkten aktuell geschieht: die Verlagerung der öffentlichen Sorgeverantwortung in den privaten Raum und die Transformation der Fürsorge in Selbstsorge. In den intimen Zonen familiärer Nähebeziehungen wird faktisch Sorgearbeit geleistet. Zugleich verlagern sich Verantwortung und Zuständigkei­ ten vom Staat auf den Markt. Die Szenarien zukünftiger Sozialord­ nungen sind dementsprechend düster: Risiken werden privatisiert und der gelingende Lebensentwurf dem Vermögen des Individuums überstellt; diffuse Ängste vor sozialem Abstieg quer durch alle Lebenslagen vermengen sich mit neuen biographischen Lebensla­ gen42. Wenn man also davon ausgeht, dass intime Sorgebeziehungen der kapitalistischen Vergesellschaftung überantwortet werden, blei­ ben gleichwohl konstruktive Perspektiven bestehen. Denn nichts spricht zunächst gegen den Gedanken, den Bereich der Sorge in intime Verhältnisse zurück zu verlagern, also dorthin, wo er anthropologisch gesehen sein Herkommen hat. Erst das Zusammenspiel von Privati­ sierung und Vermarktlichung gibt diesen Prozessen eine negative Drift. Denn die lebensweltliche, wenn man so will, »humane« Sorge ist keine Kategorie in einem Vertragsverhältnis, sie beruht nicht expli­ zit auf dem gesellschaftlichen Tausch. Sie ist »Verausgabung« und einseitige »Gabe« in dem Sinne, dass nichts erwartet oder eingefordert werden kann und doch alles gleichsam empfangen wird – wenn wir die Sorge um nahestehende Menschen als interexistentielles Verhältnis ernst nehmen. Diese Asymmetrie ist nicht zu bekämpfen und nicht zu »dekonstruieren«. Zu verfolgen wäre vielmehr in langfristiger Perspektive die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft, die sich an einer Leitvor­ stellung der Sorge ausrichtet. Dies aber erfordert die Entwicklung einer Leitvorstellung der Sorge, die in kritischer Distanz zur Logik der Kapitalisierung steht; die zugleich das Motiv der Sorge von der fixierten weiblichen Selbstbeschreibung ablöst.

42 Ulrich Beck/A. Poferl (Hrsg.): Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationa­ lisierung sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Es handelt sich offenbar um eine Gratwanderung. Ein, wenn man so will, »uraltes« Konfliktthema bedarf einer Neubestimmung. Ökonomie, Sorge und Geschlechtsrollen treten in ein neues Verhält­ nis, aber die gesellschaftlichen Beharrungskräfte stehen dem entge­ gen. Ein neues gesellschaftliches Care-Regime müsste familiale und öffentliche Sorge aus den bestehenden Engführungen befreien und dies würde zum einen bedeuten: den Aspekt der Sorge als geschlechts­ übergreifende Kategorie zu verstehen43. An diesem Punkt könnte man durchaus minimale, wenn auch ungenügende Fortschritte erkennen. Sie werden aber nach wie vor verstellt durch die Logik des Sachzwangs des »männlich konnotierten« Normalarbeitsverhältnisses44. Grundlage dieses Zukunftsentwurfs ist die Kritik an der Domi­ nanz und Festschreibung: Care wird als weibliche Selbstbindung missverstanden; anonyme Wirtschaftsimperative könnten in dieser Logik den Rückzug von Frauen aus dem gesellschaftlichen Arbeits­ prozess fördern. Die Privatisierung der Sorge in den familiären Bereich fordert dementsprechend Opfer und mündet in einem Verde­ ckungszusammenhang. Die Lösung ist zugleich simpel wie in weiter Ferne: ein gesellschaftlicher Neuentwurf setzt ausdrücklich nicht an einem falsch verstandenen Pathos des Empowerments an, sondern an Selbstbeschreibungen, nicht am »Herz« sondern am Verstand. Dies soll heißen: Die Tendenz zur Privatisierung von Sorgebe­ ziehungen, die Sorgetätigkeiten an neoliberale Erzählungen bindet, löst sich erst im Blick auf neue Erzählungen: mit Blick auf ein zivilgesellschaftliches Regime, in dem die gesellschaftliche Gleichset­ zung von Arbeit und Liebe nicht mehr nur für ein Geschlecht gilt. In der spätmodernen Situation würde der lange gehegte Zweifel an Wachstumsideologien zu einer Gewissheit; Kapital- und Wirt­ schaftsinteressen müssten neu austariert werde. Aufzuwerten wäre die geschlechtsunabhängige familiale Arbeit ebenso wie Ehrenamt und Zivilgesellschaft, ohne eines dieser Motive herauszuheben. Es sind Leitgrößen, die eben nicht in der Sprache der ersten Moderne verstanden werden können. 43 Margrit Brückner: Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Liebe, Für­ sorge und Gewalt. In: Margrit Brückner/Lothar Böhnisch: (Hg.) Geschlechterver­ hältnisse. Weinheim und München: Juventa 2000, S. 119–178; Stefan Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen: der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld. Tran­ script 2008. 44 Böhnisch 2014, S. 408.

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I. Sorgeverhältnisse im Zwielicht

Entwicklungsdiskurse behandeln Themen wie Wohlfahrt und Armut. Im Hintergrund stehen immer Vorstellungen, wie sich Gerechtigkeit erreichen ließe oder wie sich die Verhältnisse als annehmbar erweisen können. Sobald man über eine nüch­ terne Bestandsaufnahme hinausdenkt, ergeben sich Schwierigkeiten sprachlicher, kultureller und sozialer Natur. Was meint etwa der Gedanke der Wohlfahrt, wenn er in komparativer Perspektive hinter­ fragt wird? Schon die Sprache hält Barrieren bereit, die eine zwanglose Übersetzbarkeit verhindern. Normenbesetzte Dinge können einen gleichen Namen haben, aber auf unterschiedliche Bedeutungen ver­ wiesen sein. Die Funktion eines »Wohlfahrts-Regimes« im europä­ ischen und im asiatischen Raum etwa ist auf ganz unterschiedliche historische Verläufe zurück zu führen. Selbst im europäischen Raum sind Akzente zu setzen, ob es vorrangig um Arbeiter- und Klassen­ fragen, um familiäre Probleme oder Armutsperspektiven geht; jede dieser Geltungsbereiche verweist auf einen Kampfplatz von Interes­ sen.

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II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.

Gesundheit ist ein Wert, der anscheinend immer gefährdet ist. Zugleich umschreibt der Begriff ein Phänomen, das schwer greifbar ist, einen Zustand des Wohlbefindens, den man anstrebt, aber nie endgültig erreicht. Gesundheit ist offensichtlich ein Ideal, das Men­ schen in jeglicher Hinsicht mobil macht. Denn zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit bestehen bekanntlich große Abstände. Soziale, politische, zeitgeschichtliche und technische Faktoren bedingen die Art und Weise, wie wir Gesundheit definieren und beurteilen. Diese ganz allgemeinen Aussagen werden präzise, wenn man einen historischen Rückblick vornimmt. Denken wir etwa an die Situation »nach 1945«. Millionen von Menschen zogen auf der Flucht über den europäischen Kontinent. In zerrütteten Landschaften muss­ ten sie die Folgen von Mangelernährung, körperlichen Versehrungen, von Gewalt, Zerstörung und Traumatisierungen ertragen. Die Welt­ gesundheitsorganisation WHO, die im Begriff war, sich als globale Institution zu etablieren, definierte in diesem Kontext Gesundheit als »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.«45 Es ist eine bemer­ kenswerte Beschreibung, weil sie einerseits den biomedizinischen Horizont verlässt – Gesundheit ist also mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Andererseits umschreibt diese Definition einen Zustand, den zu diesem Zeitpunkt Millionen von Menschen nur als eine vage Vorstellung erahnen konnten. Es wäre leichtfertig, an diesem Punkt zu behaupten, dass es vergangene Zeiten des Weltkrieges waren, die heute keine Bedeu­ tung mehr haben. Natürlich leben auch gegenwärtig noch Menschen auf der Flucht in Folge von Krieg und Vertreibung. Weiterhin gehö­ World Health Organization (1948): Constitution of the World Health Organiza­ tion as adopted by the International Health Conference. New York, 19–22. June 1946, signed on 22. July, 1946 by the representatives of 61 states and entered into force on 7. April 1948, S. 1. 45

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II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.

ren Kriege zur Wirklichkeit der politischen Staatenwelt so wie die bekannten Folgen der Gewalt die Betroffenen berühren und verseh­ ren. Aber man kann durchaus behaupten, dass die sozialen, kommu­ nikativen und politischen Bedingungen, unter denen Gesundheit definiert wird, sich im Wandel befinden. Um diesen Wandel des Verständnisses von Gesundheit soll es im folgenden gehen. Das Ziel der Überlegungen ist weitausgreifend: welche sozialen, politischen und ethischen Bedingungen müssen reflektiert werden, um einen Umriss einer globalen Gesundheitspolitik zu erhalten? Es ist ein idealistisches Vorhaben, weil es sich vorrangig auf funda­ mentale Kriterien bezieht, die im Allgemeinen im Leben der Men­ schen Gültigkeit beanspruchen. Dass Gesundheit insofern fragil und gefährdet ist, weil der Klimawandel, Kriege und die soziale Ungleich­ heit bestehen, soll vorausgesetzt werden. Aber welche mentalen und psychosozialen Zusammenhänge müssen wir darüber hinaus in Rechnung stellen? Die Antworten umfassen ein weites Feld; sie benennen die Dimensionen der Sorge im modernen Kapitalismus (1). Sie fragen ferner nach dem möglichen Umgang und der Bewältigung von Traumatisierung (2). Und sie führen schließlich zu einem Entwurf eines Konzepts der psychosozialen Einbettung in der Risiko-Gesell­ schaft (3).

1. Der Diskurs um die Sorge Es ist relativ einfach zu definieren, was Gesundheitsförderung im Allgemeinen umfasst. Damit Menschen ein angemessenes Maß an körperlichem, seelischem und sozialem Wohlbefinden erlangen, müs­ sen förderliche Aspekte auf verschiedenen Ebenen beachtet werden. Eine gesellschaftspolitische Ebene: hier geht es um Grundprinzipien in Wohlfahrtsgesellschaften, die gerechte Verteilung von kollektiven Gütern und anderes. Aber auch die Ebenen des Gemeinwesens und der individuellen Person müssen integriert werden. Das heißt, es müssen konkrete Fragen gestellt werden, in welcher Hinsicht etwa ein Quartier oder eine Gemeinde in der Lage ist, Zugang zu medizini­ schen Diensten zu gewährleisten. Und es muss gefragt werden, in wel­ cher Art und Weise Individuen und bestimmte Bevölkerungsgruppen ihre gesundheitlichen Bedürfnisse in ihr Leben integrieren. Auf jeder dieser Ebenen kann man zu Aussagen gelangen, die unter Umständen

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1. Der Diskurs um die Sorge

Missstände aufdecken und vielleicht den Staat oder die Gemeinde zur Verantwortung ziehen. Aber die eigentliche Schwierigkeit entsteht, wenn man die möglichen Verengungen auf der diskursiven Ebene genauer analysiert. Wenn wir von einer negativen Ausgangslage ausgehen, dass Menschen weltweit ihre Gesundheit gefährden, aus welchen Gründen auch immer, dann legt sich eine politische Schlussfolgerung nahe: allen Bevölkerungsgruppen in allen sozialen Situationen die Teilhabe an Gesundheit zu ermöglichen. Wenn wir aber genauer hinterfragen, unter welchen sozialen und sozialpsychologischen Bedingungen diese Prinzipien zu verfolgen sind, erkennen wir verschiedene Verkürzun­ gen im Gesundheitsdiskurs; genauer gesagt, müsste man hier von der Gefahr der diskursiven und gesellschaftspolitischen Verkürzung spre­ chen. Fragen wir einleitend nach den spezifischen Bedingungen der Gesundheitsförderung. Es handelt sich um ein Thema, das weltweit Beachtung findet. In jeder Gesellschaft existieren unterschiedliche soziale, materielle und soziokulturelle Bedingungen, die das Gelin­ gen oder das Scheitern der Förderung der Gesundheit bedingen. Es ist nun die Frage, ob es in diesem Rahmen darum geht, ob die Leitgedanken der Weltgesundheitsorganisation Einlass in nationale Gesundheitspolitik gefunden haben. In diesem Fall könne man in jedem Staat und jedem Gemeinwesen nach Anzeichen suchen, ob die vermeintlich weltweit gültigen Standards beachtet werden; ob der Staat gewissermaßen »seine Hausaufgaben gemacht« hat. Vor über 30 Jahren, genauer gesagt 1986, definierte die Charta von Ottawa Gesundheitsförderung als einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.«46 Hier klingen Werte an, die in der internationalen Sozialen Arbeit Bedeutung erlangt haben: Selbstbestimmung, Befähigung, Ermögli­ chung von Chancen. Gesundheit meint dementsprechend nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Zustände, es meint ferner die dynami­ schen Beziehungen zwischen körperlichen, sozialen und seelischen

World Health Organization (WHO): Ottawa Charta zur Gesundheitsversorgung. Genf WHO, online unter: www.euro.who.int/data/assets/pdf-file/0006/129534/ Ottawa .Charter-G.pdf).

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II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.

Zuständen – und vor allem die Wahrnehmung der Umweltfaktoren, die bestimmte Möglichkeiten eröffnen oder verhindern47. Damit ist eine scharfe Linie gezogen, die von der Ebene der individuellen Person bis hin zu den Leitlinien der jeweiligen politi­ schen Programme führt. Aber diese Linien verzweigen sich, sobald sie durch das Nadelöhr der nationalen Gesundheitsförderung geführt werden. Dann stellt sich die Frage, welche der verschiedenen Bedin­ gungsfaktoren stärker in den Fokus rücken. Es ist ferner die Frage, unter welchen sozio-kulturellen Bedingungen die Determinanten der Gesundheit überhaupt wahrgenommen werden. Sehr vereinfacht gesprochen geht es dabei vor allem um den Unterschied zwischen den allgemeinen sozio-ökonomischen Bedingungen und den jeweiligen Lebensstilen. Auf der einen Ebene kann man kraftvolle nationale Anstrengungen verkünden; auf der anderen Ebene sind die Dinge subtiler: dort geht es um das diffizile Zusammenwirken von Selbst­ wahrnehmung und Disziplinierung, also um die Bedingungen der Selbstsorge in jeweiligen Lebenswelten. Diese Formen der Selbstsorge zu verbessern – dazu benötigt man bekanntlich besondere landesweite Strategien. Selbstsorge ist in einem Bedingungsgefüge zu betrachten, das eine intakte Umwelt, die Verfügbarkeit von Nährstoffen oder eine gewaltfreie Lebenswelt umfasst. Weitere Bedingungen wären zu nennen, darunter die Exis­ tenz von Arbeitsplätzen, die Gesundheit nicht gefährden oder das Zusammenwirken von sozialen und medizinischen Diensten. In jedem Kontext, den man hinsichtlich dieser Faktoren betrachtet, würde man folglich zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kom­ men. Dass in vermutlich jedem Staat und jeder Kultur der Abbau gesundheitlicher Ungleichheit gefordert wird oder als notwendig anerkannt wird, ist nicht weiter zu begründen. Und es wäre vermutlich wenig zielführend, einen globalen Maßstab der richtigen oder ange­ messenen Gesundheitspolitik zu Grunde zu legen, an dem sich dann alle nationalen oder politischen Einheiten ausrichten müssten. Zu divers sind die jeweiligen kulturellen und materiellen Bedingungen, Dahlgren, G./Whitehead, M.: Policies and Strategies to promote social equity in health. Stockholm: Institute for future studies 1991; Hans Günther Homfeld/Silke Birgitta Gahleitner: Gesundheitsförderung und psychosoziale Traumaarbeit. In: Christiane Bähr/Hans Günther Homfeld/Christian Schröder/Wolfgang Schröer/ Cornelia Schweppe (Hg.): Weltatlas Soziale Arbeit. Jenseits aller Vermessungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014, S. 280–296. 47

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1. Der Diskurs um die Sorge

die beispielsweise in der Gesundheitspolitik der USA, in nordeuro­ päischen, bzw. skandinavischen Ländern, in den westeuropäischen Regionen oder eben in Schwellenländern herrschen48. Ganz zu schweigen von den unsäglichen Bedingungen, die in jenen Regionen herrschen, die man als staatsfern oder als zerrüttet bezeichnet. Man »endet« möglicherweise bei einer Formel, die einen gewis­ sermaßen universellen Klang besitzt, die aber wenig substantielle Erkenntnisse fördert: dass sozial gerechtere Gesellschaften in den meisten Fällen auch gesündere Gesellschaften sind, wie sie eben den Zusammenhang von Sterblichkeit/Krankheit und sozialer Ungleich­ heit in ihre politischen Programme integrieren. Weitere Erkenntnisse wird man erlangen, wenn man den lebensweltlichen Dimensionen verstärkt Aufmerksamkeit widmet. Die triviale Einsicht lautet: der jeweilige Lebensstil entscheidet über unsere gesundheitlichen Risi­ ken. Einen Schritt weiter gelangt man, wenn man die Beziehun­ gen betrachtet, die insgesamt das Dispositiv der Gesundheitsselbst­ hilfe bilden. Dispositiv (der Begriff stammt bekanntlich von Michel Foucault in einem anderen sozialtheoretischen Zusammenhang) meint hier: es existieren Netzwerke, die systemische, lebensweltliche, politische und individualistische Faktoren zusammenfügen. Ein Lebensstil ist bekanntlich individualistisch. Er wird gewählt und praktiziert. Er umfasst die Perspektive des self care: der gesundheitsbezogenen Akti­ vitäten von Einzelnen, Nachbarn, Familien, Nachbarn, usw.; zugleich bezeichnet er einen Anspruch, dass Gesundheitsselbsthilfe und Erste Hilfe im Alltagsleben wahrgenommen und praktiziert werden sollte. Die Gefahr, auf die eingangs hingewiesen wurde, ist deutlich zu benennen. Die Ausrichtung auf den Lebensstil kann von einer kraftvollen politischen Semantik ummäntelt werden und gewisser­ maßen eine Eigendynamik entwickeln. Gesundheitsförderung wird unmittelbar in den Verantwortungsbereich des Einzelnen verlegt49. 48 Für die USA müsste man exemplarisch die Fortschritte (und Rückschläge) der nationalen Bemühungen benennen, die dem langfristigen Abbau gesundheitlicher Ungleichheit dienen sollten, denken wir etwa an den »Patient Protection and Afforda­ bility Care Act«. Dessen Funktion lag in der Verringerung der Zahl der Unversicherten und der Eröffnung vo Zugängen zu privaten Krankenversicherungen, an denen sich der Staat beteiligen sollte. Homfeld/Gahleitner 2014, S. 284. 49 Eine starke Ausrichtung auf den Lebensstil wird als »Healthismus« bezeichnet, hierzu: Kühn, H.: Healthismus. Eine Analyse der Präventionspolitik und Gesundheits­ förderung in den USA. Berlin: edition sigma 1993.

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II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.

Was meint die Ausrichtung auf den Lebensstil als Prinzip? Man kann unterschiedliche Akzente setzen. Der Lebensstil ist gewisserma­ ßen ein Faktor, der die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der Lebenswelt ergänzt. In diesem Fall wäre ein Stil eine Wahl: eine Lebensform, die sich man unter den gegebenen Umständen aussucht. Wie frei diese Wahl ist, steht jedoch in Frage. Ein Jugendlicher, der zum Beispiel auf den Philippinen unter extremsten Umständen ein »Leben führen« muss, hat die Wahl, Drogen zu konsumieren oder nicht. Ein Arbeiter in den Vorstädten der großen Metropolen hat die Wahl, eine Arbeit unter gesundheitsschädigenden Bedingungen auszuüben oder nicht. Und ein Heranwachsender in der westlichen Wohlstandsgesellschaft hat die Wahl, einen Lebensstil mit Sinn aus­ zufüllen, der mit extremen Risiken verbunden ist oder der eher dem Trend zur Selbstvorsorge entspricht. Anders formuliert: ein Lebensstil ist trivialerweise ein Gefüge aus individuellen und überindividuel­ len Faktoren. Die politische Semantik ist in diesem Fall entscheidend. Die Ausrichtung an dem konkreten Verhalten der Menschen macht Sinn; es ist eine Orientierung, die neben dem Abbau gesundheitlicher Ungleichheit ihr Eigenrecht hat. Die Sorge um das Wohl der Men­ schen einer Gesellschaft umfasst die Selbstsorge, sie ist eine Art von Weichenstellung unter besonderen Umständen. Aber die Kehrseite muss in gebührendem Maß beachtet werden. Missverständlich wird das Programm der Gesundheitsselbstversorgung, wenn sich prinzipi­ ell alles auf die persönlich zu verantwortenden Aktivitäten zentriert. Wie kann man der Gefahr der Vereinseitigung entgehen? Gesundheit wäre in einem ersten Schritt als etwas zu verstehen, das uns nicht primär verfügbar ist. Sie ist kein Gegenstand, den wir aufgrund einer moralisch ausgezeichneten Wahl erwerben und fortan mit uns führen wie einen materiellen Besitz. Wir müssen statt dessen vom Gegenteil ausgehen: von Beginn an ist unser Leben fragil und gefährdet, von Risiken und Brüchen geprägt. Wir sorgen uns um die Integrität unseres Selbst und streben im Allgemeinen einen Zustand des körperlichen und seelischen Wohlbefindens an. Aber diese anthropologische Konstante wird immer durch materielle, endliche und fragile Bedingungen durchbrochen. Sobald man diesen unteilbaren Horizont vergisst, verselbständigen sich die politischen Parolen. Die Krankheit wird mit Schuld und Moralität aufgeladen. Dem Lebensstil, dessen individuelle und soziale Teile sich nicht

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1. Der Diskurs um die Sorge

auseinanderdividieren lassen, werden dann alle kausalen Lasten auf­ gebürdet. Es hilft also weiter, wenn man die politischen und die subjektiven Ebenen differenziert. Programme, die sich als aktivierend verstehen, haben eine begrenzte Legitimität wie alle pädagogischen Lehren. Es ist die Frage, inwieweit Reformprogramme eine Tendenz zur Inklu­ sion aufweisen oder ob sie ungewollt einen Zirkel von Selbstzwang und Kommerzialisierung in Gang bringen. Die Kritik am Healthismus in den Vereinigten Staaten wäre hier beispielhaft zu nennen. Kritisiert wird das Streben nach Gesundheit, »das die zugewiesene Verhaltens­ last und Schuld zu Selbstzwängen verinnerlicht und zum Bedürfnis und freien Willen« verkürzt.50 Erst in einer voraussetzungsvollen philosophischen Perspektive kann man aus den Engführungen dieser Position herauskommen. Und eine solche »Philosophie« müsste zumindest zweierlei leisten. Sie müsste konstruktive Wege eröffnen, die aufzeigen, dass ein anderer Lebensstil als der gewählte aus dem inneren Erleben des Betroffenen Sinn macht und einsichtig ist, ohne dass dies als eine leere »Theorie« oder als ein Diktum von oben erscheint. Es ist die genuine Aufgabe der Sozialpädagogik, diese Zugänge zu eröffnen und sie nicht vorschnell zu verstellen. Freilich ist es nahezu unmöglich, einen Schlüssel anzu­ fertigen, mit dem man diese Türöffnung erleichtern könnte. Es gibt keine Garantien, die in diesem Sinne den einmal geebneten Weg bis an das Ziel des »guten Lebens« fortführen. Ein weiteres müsste von solcher Philosophie geleistet werden. Vor der konkreten Beschäftigung mit dem jeweiligen Fall steht die fundamentale Einsicht in die Gebrochenheit unserer Bezüge und die fragile Konstitution unserer Existenz. Die philosophische Reflexion zentriert sich folglich um die Anthropologie der Sorgeverhältnisse. Missverständlich bliebe diese Kategorie der Sorge, wenn sie indivi­ dualistisch verkürzt wird: wenn es einzig dem Einzelnen obliegt, sich um seine Belange zu sorgen. Erst von der fundamentalen Position menschlichen Daseins aus wird der Sorgediskurs den Ansprüchen gerecht: von der Einsicht in die Verletzbarkeit und den eingeschrie­ benen Zwang zur Selbstsorge erlangen wir ein Verständnis der unab­ weisbaren Legitimität sozialpädagogischer Einrichtungen der Sorge51. Ebd., S. 33. Cornelie Dietrich/Niels Uhlendorf/Frank Beiler/Olaf Sanders (Hg.): Anthropolo­ gien der Sorge im Pädagogischen. Weinheim: Beltz Juventa 2020.

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II. Globale Care-Ethik. Bausteine einer globalen Gesundheitspolitik.

2. Dimensionen der Sorge: Trauma und Heilung Ein weiterer Gesichtspunkt der internationalen Dimension rückt in den Mittelpunkt, wenn wir die Begriffe von Trauma und Vulnerabilität hinzuziehen. Trauma – dieser Begriff ist von beklemmender Aktuali­ tät. Die Frage »unserer Zeit« ist: Wie begegnen wohlhabende Gesell­ schaften anderen Menschen, die Flucht- und Gewalterfahrungen gemacht haben, die den Krieg und Zerstörung mitansehen mussten? Für diese Frage gibt es natürlich keine fertigen Antworten und keine befriedigenden Lösungen. Auch in diesem Punkt sind die Perspekti­ ven von einem sozialtheoretischen Standpunkt aus zu entschlüsseln. Einleitend macht es Sinn, sich die Phänomenologie einer trau­ matischen Störung vor Augen zu halten. Ein Trauma ist der Sache nach eine Folgewirkung einer Verletzung. Eine Form einbrechender Gewalt hat die Integrität eines Lebens außer Kraft gesetzt. Die Fol­ gen »tragen« die Betroffenen mit sich; und wie sich die jeweilige Traumatisierung ausdrückt, ist differenziert zu betrachten. Es handelt sich um ein komplexes Thema, das mit den einfachen Antworten der medial zirkulierenden Diskurse nicht beantwortet werden kann. Suggeriert wird ein Szenario, in dem eine ungeheure Menge von traumatisierten und versehrten Personen Einlass in die Gesellschaften des Westens findet; das Ausmaß und die Tiefe der Verletzungen sind dabei so schwerwiegend, dass die pädagogischen, sozialen und thera­ peutischen Systeme bildlich gesprochen: unter einer Last zusammen­ brechen. Die Schlussfolgerungen bleiben einem Publikum überlassen: ob man deswegen alle Ressourcen aktiviert, die angeblich längst erschöpft sind oder ob man die Türen zu anderen Ländern weiter verriegelt und dem Trend zur Abschottung folgt. Jenseits aller dieser Diskurse, die eine ausführlichere Auseinandersetzung verdienten, gibt es aber prinzipiell starke Differenzen in der Art und Weise, wie man eine Traumatisierung wahrnimmt und in die Ordnungen der Diskurse einfügt. Diese Unterschiede sollten nicht verabsolutiert werden. Es wäre wohl irreführend, einen Königsweg zur Heilung eines Selbst anzugeben und andere, vielleicht verschlungenere Weg zu diskre­ ditieren. Zwischen den Alternativen, die im folgenden aufgezeigt werden, bestehen vielschichtige und immer kontroverse Auswege und Umwege. Aber: prinzipiell ist zu vergegenwärtigen, dass sich der Umgang mit Trauma auf das Paradigma der Rehabilitation und die Alterna­

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2. Dimensionen der Sorge: Trauma und Heilung

tive der sogenannten »Recovery« zurückführen lässt. Der Ansatz der Rehabilitation ist, vereinfacht gesprochen, im Gefüge der west­ lichen Gesundheitsversorgung zu betrachten. Rehabilitation meint berechtigterweise das Ziel der Rückgewinnung einer aktiven und selbstbestimmten Lebensweise: jemand wird wieder eingegliedert und befähigt, sein Leben zu führen. Aber Differenzierungen sind unausweichlich: in einem Fall wird das Vermögen, das aus unter­ schiedlichsten Gründen verloren gegangen ist, wiederhergestellt – in einem anderen Fall lernen die Betroffenen, mit einem fundamentalen Entzug zu leben. Die berechtigte Kritik konzentriert sich dabei auf den Gedanken der Herstellbarkeit. Denn: der Gedanke der Herstel­ lung ist insofern problematisch, weil er eine technische Kategorie auf eine soziale und interexistentielle Realität überträgt. Es gibt keine Herstellung eines Gesundheitszustands oder eines vollkommen selbstmächtigen Selbst – hier geht es vielmehr um eine Differenzsen­ sibilität, die an den Bedingungen eines verletzten oder beschädigten Lebens ansetzt. Versuchen wir einen Einblick in eine mögliche Situation der Verletzung zu erhalten, die im weitesten Sinne der zeitgeschicht­ lichen Erfahrung entspricht52. Traumatisierungen können höchst unterschiedliche »Gründe« haben. Einer der gravierendsten Aspekte ist die Erfahrung des Lebens und Überlebens in einem Gewaltraum. Personen, die den Krieg aus der Nähe erlebt haben, leiden fortan – in den meisten Fällen – unter der Umkehrung ihres Weltbezugs. Dieses Leiden hat eine mehr oder weniger objektive Seite: es drückt sich in Symptomen aus, die den Alltag erschweren und die Betroffenen in Mitleidenschaft ziehen. Es hat aber auch eine subjektive Seite, die nicht von außen her bestimmt werden kann. Eine Phänomenologie des Pathischen hilft an diesem Punkt weiter, um zu verstehen, was genau mit dem Begriff erlittener Gewalt gemeint ist. Denn es ist vermutlich unzulänglich, auf die Existenz von Symptomen hinzuweisen, die etwas anzeigen; andauernder Kopf­ schmerz, Schlaflosigkeit, erhöhte Sensitivität, usw.. Erst mit der Rekonstruktion dessen, was erlitten wurde, zeigt sich, wie vielschich­ Der Begriff »zeitgeschichtlich« zielt hier auf die Phänomenologie der »Neuen Kriege«, die zwar intensiv in den Sozial- und Politikwissenschaften diskutiert werden, deren Folgen für die »westlichen« Gesellschaften stets im Dunklen zu bleiben schei­ nen. Hierzu: Vf.: In der Fremde. Über die Möglichkeit der Solidarität aus den Quellen der europäischen Geschichte. Duisburg: Athena 2019. 52

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tig diese Gewalterfahrungen sind. Gewalt zu erleiden, bedeutet, dass die Welt als eine verlässliche Größe einen anderen Charakter erhalten hat. Menschen leben fortan mit dem Gefühl, den Widerfahrnissen in der Welt ausgesetzt zu sein. Sie sind nicht mehr die aktiven, selbstmächtigen Subjekte ihrer Lebenswelt, sondern sie werden einer Gewaltsamkeit unterworfen. Verschiedene Modi der Gewalt unter dem Zeichen des Krieges sind dabei denkbar: raptive Gewalt, die den Körper des Opfers gleichsam besitzen will, lozierende Gewalt, die den Anderen von einem Ort wegschaffen will; schließlich auch die autotelische Gewalt, die wie ein Furor erlebt wird, irrlichternd und ohne jeden erkennbaren Sinn53. Vom Standpunkt des Betroffenen kann man ferner die einbre­ chende und die ausschließende Gewalt unterscheiden. Menschen, die von ausschließender Gewalt getroffen werden, erfahren eine Verlet­ zung ihrer vertrauten Beziehungen zur Umwelt. Die lebensweltliche Integrität wird zerstört und die Lebenswelt selbst ist fortan nicht mehr in der gleichen Weise bewohnbar. Der Ausschluss kann sich auf vielfältige Weise ausdrücken: als Verbannung oder Vertreibung, als Zwang zur Flucht oder als Androhung von Gewalt. Die Art der Verletzung geht in allen diesen Fällen mit dem Verlust der intimen und vertrauten Beziehungen einher: Ausschluss aus der sprachlichen Kommunikation, Ausschluss aus dem Raum des Politi­ schen, Ausschluss aus dem Gehäuse des Rechts. Die Stimmen der Betroffenen haben fortan keine Wirkungen mehr, sie verhallen oder werden nicht mehr berücksichtigt54. Es ist wichtig zu betonen, dass die Erfahrung der Gewalt nicht auf den einen Moment zu reduzieren ist, in dem etwas Außergewöhn­ liches geschieht. Der Krieg kann beispielsweise als eine Form der einbrechenden Gewalt erlebt werden: etwas Fremdes bricht in die Normalität des Alltags ein; Grenzen werden durchbrochen, die bis dahin intakt waren. Aber der Prozess der Gewalterfahrung geht eben nicht in der Plötzlichkeit eines einmaligen Ausbruchs auf. Wenn man die Perspektive der Betroffenen ernst nimmt, das heißt von Menschen, die sich auf der Flucht vor der Gewalt befinden, dann müssen weite Horizonte des Erleidens in den Blick kommen. Auf 53 Jan Phillip Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Kon­ stellation der Moderne. Hamburg: edition sigma 2006. 54 Pascal Delhom: Phänomenologie der erlittenen Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 155–175, hier 169 ff.

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einen Punkt gebracht ist es nicht so, dass die einmal erlebte Gewalt bewältigt wird, dass sich der jeweilige Lebenshorizont »lichtet« im Moment der Aufnahme in einem fremden Staat. Noch ist es so, dass sich die Traumatisierungen in einem therapeutischen Prozess »beherrschen« lassen. Vielmehr kommt es zu einer dauerhaften Des­ integration zwischen dem, was von Betroffenen erfahren wird und dem, was in einer sozialen und gesellschaftlichen Umwelt getan wird. In verschiedener Hinsicht kann es zu einer Diskrepanz im Erleben der Betroffenen kommen. Im einen Fall wird das Trauma einer Behandlung zugeführt, die dem fremden Kulturverständnis unterliegt. Traumatisierung ist im westlichen Medizinverständnis ein Ereignis, das eine besondere Behandlung nahelegt. Ereignisse von größter Wucht und einbrechender Gewalt bilden den Anlass des Leidens. Die Symptome, die die Betroffenen fortan zeigen, lassen sich konkret überprüfen; die ICD 10 spricht von langanhaltenden Störungen, von erhöhter Sensitivität, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Depressionen. Diese Symptome sind tiefgreifend und dauerhaft und sie führen zu Einschränkungen eines gewöhnlichen Lebens. Erst wenn sie aber mit einer offiziellen Diagnose verknüpft werden, sind sie in der westlichen Gesellschaft anerkannt. Sie werden dann in das Ras­ ter aller modernen medizinischen Verfahren eingefügt: Diagnosen werden erstellt, therapeutische Hilfen in Gang gesetzt; die Störun­ gen werden klassifiziert – das Entsetzliche erhält gewissermaßen einen Namen. An diesem Umgang mit Trauma im Kontext der Flucht hat sich zuletzt massive Kritik entzündet55. Natürlich wird nicht in Abrede gestellt, dass den Betroffenen geholfen werden muss und dass es sich um komplexe Situationen handelt, denen Menschen ausgesetzt sind. Es ist also einerseits zu bedenken, dass Schmerz, Leiden, Angst, psychische und körperliche Grenzüberschreitungen, usw. allgemeine anthropologische Phänomene sind. Niemand bleibt von dieser Gewalt prinzipiell unberührt und niemand wird die Perspektive des Erleidens Astride Velho: Trauma als Konzept der Diagnose, Verdeckung und Skandalisierung in der Sozialen Arbeit im Kontext Flucht – rassismuskritische und menschenrechtliche Perspektiven. In: Nivedita Prasad (Hg.): Soziale Arbeit mit Geflüchteten. Rassismus­ kritisch, professionell, menschenrechtsorientiert. Opladen und Toronto: Budrich 2018, S. 97–116; Peter Mosser: Trauma-Diagnosen und wozu sie gut sind. Diagnose als Instrument in der Abschiebepraxis. In: Hinterland, 33, 2016, S. 57–61; David Becker: Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Freiburg: Edition Frei­ tag 2006; David Becker: Traumageschichten. In: Supervision 30, Heft 2, S. 4–30. 55

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Anderer als mögliches Phänomen negieren. Aber unter welchen Bedingungen geht man mit einer solchen denkbaren Erfahrung um? Gibt es Alternativen zu den Konzepten der westlichen Medizin, die allem Übel einen Namen gibt und jedes Leiden medizinisch inthronisiert? Differenzierungen sind unabweisbar: Gewalterfahrun­ gen müssen bewältigt werden, sie müssen in jeder Situation in lebbare Verhältnisse überführt werden. Einer der vielen Wege ist der Weg der Therapie, ein anderer Weg verweist auf die Klassifikationen der Psychopathologie. Damit werden aber die sozialen und politischen Bedingungen ausgeblendet, obwohl diesen eine ebenso große Bedeu­ tung zukommen sollte. Trauma verlangt – zugespitzt formuliert – nach Psychopatho­ logie und sonst nichts, es ist ein Problem eines Einzelnen, dem Schlimmes widerfahren ist. Die Alternative zu diesem Denken wäre die Rekonstruktion einer Biografie, die sich durch einbrechende und ausschließende Gewalt auszeichnet und die sich nicht auf ein einzelnes traumatisches Ereignis reduzieren lässt. Was eine solche Rekonstruktion umfassen würde, kann hier nur angedeutet werden: Die Umstände der Migration sind schwer mit rationalen Begriffen zu erfassen, sie sind zumindest nicht auf eine autonome Entscheidung zurück zu führen. Die Erfahrung der Entfremdung wäre auf mehreren Ebenen nachzuvollziehen: man wird durch enge Korridore des Rechts geführt, anstatt sich einen eigenen Weg zu suchen. Man wird aufge­ nommen oder zurückgewiesen, ohne dass die Gründe den Betroffenen jeweils transparent sind. Man ist der Willkür, polizeilicher Gewalt und den Limitierungen des Rechts ausgesetzt. Am Zielort, an dem subsi­ diäres Recht herrscht, wird man wiederum als jemand behandelt, dem ein partielles Recht auf Zeit zugestanden wird. Das alles wird flankiert von Rassismuserfahrungen, die zwischen offener Ablehnung, gesell­ schaftlichen Diskursen und versteckten Leugnungen changieren und eine ebenso große Bedeutung für die Situation der Betroffenen haben. Dies alles deutet darauf hin, dass die betroffenen Menschen sich nicht als Subjekte verstehen, sondern als Getriebene, als Personen, die bedrohlichen Umwelten ausgesetzt sind. An diesem Punkt ist im Schnittfeld von medizinischen Diensten und sozialer Arbeit anzu­ setzen. Zwei Wege des Umgangs mit Trauma wurden angedeutet: der erste Weg führte über die offizielle Einrastung in die Verfahren der Medizin. Ausgehend von einer klinischen Diagnose soll ein Zustand der Gesundheit erreicht oder gar hergestellt werden, in dem sich keine Symptome mehr zeigen. Dazu bedarf es klinischer und

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therapeutischer Interventionen, deren Wert natürlich nicht in Abrede zu stellen ist (und die im Horizont der jeweiligen Fachdisziplinen differenziert darzustellen wären). Die Alternative ist nicht radikal, sondern als eine Erweiterung zu verstehen. Die therapeutischen und pädagogischen Programme werden von einem konstruktivistischen Verstehensprozess umrahmt. Symptome und Einschränkungen zählen in dieser konstruktivisti­ schen Sicht zur Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Die Entfernung der Symptome ist ein legitimes Ziel, aber ebenso denkbar sind Lebensweisen, in denen krankhafte und gesunde, gestörte und angepasste Momente in einem Gleichgewicht bestehen. Anders formuliert: der Zustand vollkommener mentaler und physischer Gesundheit wird nicht absolut gesetzt, sondern ein Leben mit allen Einschränkungen, Brüchen, Defiziten und Schädigungen wird als Möglichkeit zugelassen. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist porös: nicht jede krankheitsbedingte Einschränkung ist überwindbar, nicht jedes Leiden ist pathologisch zu nennen, nicht jedes Symptom lässt sich aus dem Leben auslöschen. Dieser Gedanke ist dann wertvoll, wenn er mit dem gebotenen Ernst verbunden wird, die die Situation der Hilfesuchenden verlangt. Der primäre Gedanke ist hier einer der wichtigsten Aspekte der helfenden Professionen: die Orientierung an der Selbstmächtigkeit, an »agency«. Das Bild des Klienten ist hier voraussetzungsvoll: er ist nicht nur Patient im Sinne eines Leidenden, sondern immer auch Gestalter seines Lebens. Die Zentrierung auf das Trauma korrumpiert gewisser­ maßen seine Fähigkeit, konstruktive Kräfte zu entfalten. Erfahrungen der Gewalt sind nicht zu leugnen oder zu überspielen, sondern sie sind in den Lebensvollzug zu integrieren. Dazu kann die Soziale Arbeit einen Beitrag leisten, indem sie die betroffene Person als einen kreativen Akteur mit einer eigenen Biografie versteht. Jenseits der Etikettierung des krankhaften Menschen müssten Freiräume geschaffen werden, in denen ein eingeschränktes Leben unter großen Anstrengungen gelingen kann56. An diesem Punkt kann keine exakte Anleitung gegeben werden, wie man sich den angemessenen Umgang mit Trauma vorstellen sollte. Es gibt keine fertigen Rezeptologien, die verfügbar wären, um die überaus komplexen und belastenden Situationen zu beherrschen. 56 Homfeld/Gahleitner 2014, S. 286 ff.; Ulrike Brizay: Gesundheitspolitik. In: Wag­ ner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 155–167.

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Andeutungen müssen genügen: der Prozess der Rehabilitation orien­ tiert sich an einem Subjekt, dessen Kräfte und Selbstheilungsmöglich­ keiten immer im Blick bleiben. Ein Vorrang gebührt der Bindungsund Beziehungssensibilität, die nur im Zusammenspiel aller profes­ sionellen und aller persönlichen Akteure aufgebaut werden kann. Das Trauma ist insofern mehr als nur ein störendes Element der Vergan­ genheit, das durch Konfrontation, Erinnerung oder Aufdeckung als Übel identifiziert wird. Es ist vielmehr eine biografische Realität, die zu reflektieren ist. Nicht die Aufdeckung, sondern die Unterstützung bestimmt den gemeinsamen Weg, den Klienten und Helferinnen gehen. Es ist ein Weg, auf dem Selbstwirksamkeit ermöglicht, aber nicht erzwungen werden soll, auf dem Schmerzhaftes wiedererlebt, aber nicht zwanghaft konfrontiert wird. Ob sich diese Orientierungen auf der Ebene des einzelnen Falls und der biografischen Arbeit oder eher auf der sozialen Ebene abspielen – immer geht es um die kon­ struktiven Beiträge der Sozialen Arbeit, die »einen Übergangsraum von Erfahrungswelten und Solidaritätserfahrungen bereitstellen.«57 Es ist die einfachste und zugleich die schwerste aller Fragen: wie kann Menschen mit Traumatisierung geholfen werden? Die Antwort führt auf die Schnittstelle zwischen individualpsychologischen Ansät­ zen und dem sozialen Bedingungsfeld. Die psychologische Forschung besagt, dass die Konfrontation mit dem Ereignis selbst nicht unmit­ telbar mit einem Fortschritt verbunden ist. Die Erinnerung verbindet sich im schlechteren Fall mit kumulativen Traumatisierungen. In verschiedenen Schüben kommt die Erinnerung an das Erlebte hoch; es gibt kein endgültiges Verdrängen und auch keine kathartische »Erlösung«, die psychoanalytischen Rang hätte. Das Trauma kehrt wieder – mal als Erinnerung, aber auch in der Form der sozialen Ret­ raumatisierung, die auf unsachgemäßen Umgang zurück zu führen ist58. Der sozialen Einbettung der Klienten kommt insofern der größte Stellenwert zu. Dies lenkt schließlich die Überlegungen auf einen soziologischen und gesellschaftstheoretischen Aspekt. Wie kann es gelingen, die vulnerablen Personen in einem sozialen Netz aufzufangen und ihnen ein soziales Klima zu ermöglichen, in dem sie mit ihren Verletzungen leben und überleben können? Wenn man mit guten Gründen davon ausgeht, dass die Betroffenen einen Weltverlust erlitten haben, dann 57 58

Homfeld/Gahleitner 2014, S. 290. Ebd.

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3. Die soziale Einbettung des Negativen

kommt doch alles auf die Stabilisierung einer zweiten Welt an, die als Lebenswelt erfahren wird. Die Erschütterungen im Glauben an die Vertrauenswürdigkeit benötigen natürlich die Aufmerksamkeit der »Spezialisten« der therapeutischen Disziplinen. Aber sie benötigen im gleichen Maße eine soziale Lebenswelt, die sie atmen lässt. Das Etikett des Patienten, dem Schlimmes widerfahren ist, erstickt im ungünstigen Fall alle produktiven und konstruktiven Bezüge im gemeinsamen Leben. Es degradiert die Person zu einem Fall, der einer Behandlung zugeführt wird. Demgegenüber macht es einen Unterschied, in welchen sozialen Bezügen die Personen ihr Leben versuchen zu bewältigen. Die Exklu­ sionsrisiken sind immer gegeben und man sollte vor der Realität nicht die Augen verschließen: Traumatisierungen erhöhen das Risiko der schleichenden Verkettung des Negativen. Krankheit, Armut, Arbeitsund Mittellosigkeit folgen dem äußeren Bild der Erschöpfung. Wenn man in sozialer Perspektive nach den positiven Gestaltungsmöglich­ keiten fragt, dann darf eine solche Haltung nicht als oberflächliches Empowerment verstanden werden.

3. Die soziale Einbettung des Negativen Es geht also, wenn wir das Gesagte zusammenfassen, nicht allein um die Bewältigung des Negativen im Sinne einer Auslöschung des Vergangenen. Noch geht es um die therapeutische Bekämpfung all jener Symptome, die einem sorgenfreien Leben widersprechen. Erst in der Erweiterung des gesellschaftlichen und sozialen Horizonts kommen Selbstheilungsmöglichkeiten in den Blick. Nicht nur in Bezug auf das Trauma, sondern ganz allgemein ist zu fragen, wie sich Entwicklungen positiv gestalten und beeinflussen lassen. Wie kann sich ein junger Mensch in einer Umwelt behaupten, von der es heißt, sie sei mit existentiellen Risiken behaftet? Welche Bedingungen müssten also geschaffen werden, um einen Rahmen für gelingende Identitätsbildung zu erhalten? Von der psychologi­ schen Situation der Verletzung müssten wir abschließend auf die soziologischen Umstände zu sprechen kommen, die in modernen Gesellschaften dominieren. Zahlreiche Narrative umgeben das spezifische Verhältnis von Moderne und den Menschen, die sich in eben dieser Moderne bewe­

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gen und bewähren müssen59. Eine dieser Geschichten rankt sich um die Erfahrung der Entbettung60. Die Moderne ist in Bezug auf Bin­ dungsmöglichkeiten demnach erkaltet. Sie verlangt vom Einzelnen Tempo, Leistungsbereitschaft, Flexibilität. Er soll zum Unternehmer seiner selbst werden und alle Beziehungen in die Logik des Betriebs oder genauer des Unternehmens überführen. Nur der flexible Mensch wäre dieser Erzählung nach in der Lage, den widersprüchlichen Anfor­ derungen der Gesellschaft zu entsprechen61. Man kann diese Erzählung in verschiedene Richtungen entfal­ ten. Der Gedanke der Fitness im weitesten Sinne erhält eine starke Resonanz, die in einem biopolitischen Diskurs problematisch wird. Die Seele des Menschen verliert an Tiefe, denn es geht angeblich nur noch darum, Beziehungsmuster in der Breite zu entfalten, die Nutzen versprechen. Aus der Perspektive der Sozialwissenschaften steht die Integra­ tion des Ganzen und die soziale Integration des Einzelnen in Frage. Beide Zielhorizonte stehen in einem Zusammenhang: wenn nur noch schwache Bindungsmuster möglich sind, geht der soziale Eigensinn verloren. Und wenn sich die überforderten Individuen in diesen erkalteten Umwelten behaupten müssen, verlieren sie die Potentiale aus dem Blick, die jenseits des Ökonomischen bestehen. In zwei Schritten wäre aufzuzeigen, welche positiven Gestaltungsmöglichkei­ ten sich in dieser Situation noch ergeben. Zum einen muss nach den Umbrucherfahrungen gefragt werden, die sich als typisch für moderne Gesellschaften erweisen; zum andern sind die unausgeschöpften Kategorien von Sinn und Authentizität zu erkunden. Dass wir uns in einer Zeit von Umbrüchen befinden, diese Ein­ sicht gilt seit längerem; es ist die Frage, inwiefern sie als soziologische Erkenntnis durchgesetzt hat – und worin denn die Konsequenzen bestehen. Dieser Umbruch hat viele Seiten. In einer Periode der »Ent­ bettung« verlieren die Individuen jenen Halt, den sie in vorherigen Zeiten von verlässlichen Traditionen erhalten haben. Man könnte es als eine Art Befreiung verstehen, weil das kulturelle und soziale Korsett wegfällt und sich Räume des Eigensinns eröffnen. Aber der U. Beck (Hg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. P. L. Berger: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt am Main 1994; Keupp, H./Höfer, R. (Hg.): Identitätsarbeit heute. Frankfurt am Main 1997. 61 Richard Sennett. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Ber­ lin 1998.

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Verlust scheint doch stärker zu wiegen, denn nicht umsonst wird von ontologischer Bodenlosigkeit gesprochen – ohne Religion, Kultur, Tradition verliert der Mensch seinen Stand im Leben. Er wird haltlos und wird zum Spielball neuer Ideologien. Zu den Schwierigkeiten des Aufwachsens in postmodernen Zei­ ten zählt unbestritten die Identitätsbildung. Erziehung, Sexualität, Geschlechterbeziehungen und auch Gesundheit werden zu isolierten Segmenten, für die keine geteilten Vorstellungen mehr gelten. Die Verunsicherung entfaltet sich auf vielen Ebenen: Die Erwerbsarbeit spendet wenig Kontinuität; die Lebensstile pluralisieren sich, soziale Zusammenhänge verlieren ihre Prägekraft. Zudem verlieren sich die Individuen in virtuellen Welten, die lediglich fragmentierte Erfahrun­ gen erlauben. Das Leben zwischen der realen und der virtuellen Lebenswelt ist ein offener Prozess, den man natürlich begleiten und produktiv ausschöpfen sollte; aber es ist zu bedenken, dass die Fundamente der Sozialisation mehr und mehr wegbrechen. Das Aufwachsen in modernen Lebensbezügen ist zumindest in einer Fülle von Erfahrungen und Kontexten vermittelt, die kein Gesamtbild mehr ergeben62. Welcher Art die Erfahrungssplitter sind, denen die Aufwachsen­ den ausgesetzt sind, wäre im Einzelfall zu fragen. Offensichtlich ist aber, dass die Normalität der Spaltung zu realisieren ist. Man benötigt gleichsam hohe Kompetenzen, um der Unverbundenheit, der Spaltung und Zerrissenheit des postmodernen Lebensstils mit psy­ chischer Festigkeit und Standhaftigkeit zu begegnen. Der Reichtum an kultureller und sozialer Diversität, an virtueller Zerstreuung und widersprüchlichen Anforderungen kann schöpferisch sein, er führt aber auch zu Gefahren. Menschen, die am Rande einer Gesellschaft leben und nur geringe Kompetenzen ausbilden konnten, spüren einen Bedeutungs- und Sinnverlust. Wie groß die Tragweite in globalen Dimensionen ist, steht in Frage. Und welche Möglichkeiten überhaupt zur Verfügung stehen, um dieser Dynamik zu begegnen, kann auch nicht eindeutig beantwortet werden. Heiner Keupp: Eine Gesellschaft der Ichlinge? Zum bürgerlichen Engagement Heranwachsender. München 2000; Heiner Keupp: Identitätsbildung in der Netz­ werkgesellschaft: welche Ressourcen werden benötigt und wie können sie befördert werden? In: Ute Finger-Trescher/Heinz Krebs (Hg.): Bindungsstörungen und Ent­ wicklungschancen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 15–51; H. Keupp/T. Abbe/W. Gmür/R. Höfer/W. Kraus/B. Mitzscherlich: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Berlin 1999.

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In welche Richtungen sollte man denken, wenn man diese Aspekte schonungslos betrachtet? Sinn, der scheinbar verloren gegan­ gen ist, kann nicht einfach hergestellt werden. Die Tragfähigkeit für Fremdes, ein Charakteristikum moderner Gesellschaft, wird fragil, wenn die Anfälligkeit für ideologische Verführungen steigt. Dieses gesellschaftliche Problem bildet sich spiegelbildlich auf der Ebene der Individuation ab. Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, kann sich ebenso in persönlicher Zerrissenheit ausdrücken. Dies betrifft letztlich auch die Bedingungen der persönlichen Gesunderhaltung. Insofern sind konstruktive Perspektiven gefragt, auch wenn sie Gefahr laufen, in einer oberflächlichen Diktion zu münden. Die Salutogenese, die vor allem mit dem Namen des israeli­ schen Gesundheitsforschers A. Antonovsky verbunden ist63, ermög­ licht einen Perspektivwechsel. Die einfache Frage ist zugleich die anspruchsvollste. Wie können wir vom negativen Gedanken der Krankheit zur positiven Gestaltung eines gesunden Selbst gelangen? Was krank macht, scheint immer noch die alles überragende Frage zu sein, die von Therapeutik und Soziologie mit großer Geste beant­ wortet wird. Was uns gesund erhält, ist hingegen nur mit subtilen Mitteln zu erfahren. Die Antworten verweisen auf die Trias von kör­ perlicher und psychischer Resistenz, Ressourcen und Kohärenzsinn. Unschwer zu erkennen ist, dass diese Dimensionen in Situationen der Randständigkeit und des materiellen Elends kaum zu finden sind. Trotzdem ist auf einer Perspektive unausgeschöpfter Möglichkeiten zu beharren. Das Gefühl für Kohärenz steht an vorderster Stelle. Auch diejenigen, die sich in erschwerten Situationen wiederfinden, benöti­ gen eine sinnvolle Erzählung ihrer Selbst. Eine Selbstnarration ist kein Fantasieprodukt und keine Illusion, sondern ein tragender Rahmen, mit dem die widersprüchlichen und belastenden Alltagserfahrungen integriert werden. Authentizität, Sinnhaftigkeit, Kohärenz und Selbstanerkennung bilden eine Synthese, die sich zu einem gelungenen erzählerischen Prozess zusammenschließt. Wenn sich die Individuen als Subjekte ihres Lebens erkennen und sich als aktive Produzenten ihrer Biogra­ fie verstehen, schaffen sie gleichsam die entscheidenden Variablen ihrer Gesundheit. Anton Antonovsky: Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco 1987; Ders.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997. 63

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Denkbare Kritik ist sogleich aufzunehmen. Handelt es sich um eine Narration für Privilegierte? Oder kann sie Kräfte auch dort entfalten, wo sich Erschöpfung und Mangel in erschreckendem Maße ausbreiten? Es ist zu betonen: das Herzstück der Salutogenese darf nicht von der primären materiellen Situation ablenken, die in misera­ blen Kontexten besteht. Um es drastisch zu formulieren: Menschen, die in Slums oder Lagern platziert werden und auf elementare Lebensbedingungen reduziert werden, benötigen materielle Hilfe. Erst dann kann sich, ganz in materialistischer Tradition, ein Raum für geistige und kulturelle Selbstschöpfungen ergeben. Ebenso ist aber zu bedenken, dass selbst in schwierigsten Situationen Spuren eines Kohärenzsinns zu finden sind. Somit lenkt der Einspruch die Reflexion auf ein entscheidendes Motiv der Internationalen Sozialen Arbeit. Denn diese versteht sich bekanntlich als eine Disziplin, der es um Werte und Normen geht – sowie um politische Einmischung. Im Idealfall überschneidet sich das Kohärenzgefühl, das im Prozess der sozialen Hilfe ermöglicht wird mit jenem politischen und sozialen Sinn, der als unverzichtbar erscheint.

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III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.

Die menschliche Existenz ist auf Bewegung hin angelegt. Auch wenn sich die Sesshaftigkeit als Wendpunkt der Humangeschichte erwiesen hat, so ist diese Geschichte doch im gleichen Maße durch eine perma­ nente Beweglichkeit geprägt worden. Aber diese Beweglichkeit hat verschiedene Geschwindigkeiten, Beweggründe und Antriebskräfte, um die es im folgenden gehen soll. Nicht alle Situationen, in denen Räume durchschritten und Grenzen überwunden werden, sind auf Not und Gewalt zurück zu führen. Die Mobilität, von der man innerhalb der EU bis zuletzt profi­ tieren konnte, ist eher als Errungenschaft zu bezeichnen. Programme, die zur Zusammenarbeit und zum Austausch zwischen nationalen Handlungsfeldern beitragen, werden seit Jahrzehnten gefördert. Man tauscht Gedanken und Leitwerte aus und fördert die Interaktionen zwischen den getrennten Institutionen. Auf allen Ebenen, insbeson­ dere den Bereichen von Jugend und Ausbildung fließen die Gedan­ ken und Temperamente. Neue »communities« werden gebildet, so dass der soziale Blickwinkel immer auch ein Stück weit über den eigenen Tellerrand hinausführt. Eigenes und Fremdes fließen zwar nicht unmittelbar zusammen, aber sie bilden kurzfristige Zusammen­ schlüsse. Man kann diese Form der Beweglichkeit kosmopolitisch nennen; zumindest ist die Bindung an das eigene Territorium nicht mehr zwingend. Diese Mobilität ist zu begrüßen und zu verteidigen. Sie steht freilich in schärfstem Kontrast zu den Entwicklungen in der interna­ tionalen Dimension, die weniger mit Freizügigkeit zu tun haben. Die transnationale Mobilität hat verschiedene Ausprägungen und sie stellt die sozialen Professionen vor schwierige Aufgaben. Bevor man diese Herausforderungen aus einer professionellen Perspektive betrachtet, sind aber zunächst die Bedingungen herauszuarbeiten, die transnationale und transkulturelle Lebensformen bedingen. Zu klären wäre, wie genau zeitgenössische transnationale Familienstruk­ turen entstehen; des weiteren, wie sich transnationale Biografien

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III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.

ausbilden und wie sie wahrzunehmen wären. Die Interventionen der helfenden Professionen umfassen dementsprechend ein weites Feld.

1. Transnationale Familien Der erwähnte Anspruch einer kosmopolitischen Gesellschaft, die über die Jahrzehnte zusammenwächst, hat weniger mit der harten Realität der transnationalen Familie zu tun. Der Charakter der frei­ willigen Grenzüberschreitung ist hier nicht gegeben: Transnationale »motherhood« und »fatherhood« sind vielmehr ambivalente Begriffe, die sich über mehrere Jahre hinweg entwickelt haben64. Sie beschrei­ ben eine jahrzehntelange Realität von Familienangehörigen, die ihre Kernfamilie zurück lassen, um im EU-Ausland Arbeit zu finden. Die Aufnahmeländer Spanien, Italien, Frankreich oder Deutschland benötigen Arbeitskräfte, etwa auf dem »Markt« der Pflegedienstleis­ tungen. Die dunkle Seite dieser Form der Arbeitsmigration wäre in den Ländern zu erkennen, in denen Familien und das heißt eben vor allem: Kinder zurückgelassen werden. Sogenannte EU-Waisen bilden ein soziales Segment, über das nur sporadische Informationen verfügbar sind. Verschiedene Fragen der Forschung wären hier in den Fokus zu rücken, die lange Zeit unterbelichtet blieben: was bedeutet Kindheit unter der Bedingung der Fragmentierung? Lässt sich in diesem Kontext noch ein Familienbild zugrunde legen, das eine selbst­ verständliche Realität – wie etwa in Westeuropa – bildet? Wie bildet sich Identität aus, wenn die grundlegende Erfahrung die Zerrissenheit und die Trennung bildet? Wie definieren sich die Generationen, wie die Arbeiterinnen, wie die Zurückgelassenen? Eine weitere »Facette« der transnationalen Familie ist zu beden­ ken, die nicht minder gravierend ist. Sie wird mit dem Stichwort des »sans papier« zumindest angedeutet. »Sans papiers« sind Perso­ nen, die sich zwischen Grenzen, Staaten, Nationalitäten und Aner­ kennungssphären einrichten müssen. Wie auch immer die Gründe beschaffen sind, aufgrund derer sie ihre »Heimat« verlassen haben, ihre Existenz ist buchstäblich fragil und von stetiger Unruhe geprägt. 64 Bender, D./Holstein, T./ Huber, L./ Schweppe, C.: Migration, Biographies and transnational Social Support. In: Chambon, A. S. /Schroer, W./Schweppe, C. (Hg.): Transnational social support. New York: Routledge 2012, S. 129–148; Bender, D./ Duscha, A./Klein-Zimmer, K. (Hg.): Transnationales Wissen und Soziale Arbeit. Weinheim: Bletz Juventa 2013.

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1. Transnationale Familien

Der Begriff Familie ist hier natürlich fehlplatziert. Es geht um Individuen, die zum Teil weitreichende transnationale Netze ausge­ spannt haben und Beziehungen zu anderen Teilen der Welt pflegen. Es geht aber gleichsam um Einzelne, denen dieser Bezug und somit jener Halt fehlt, den man als »Ausgesetzter« in der Fremde benötigt65. Dies alles ist tragisch genug – und man ist gehalten, diese verstörende Realität mit der Phänomenologie des Fremden zu vereinen66. Aber mit Bezug auf die Bedingungen der transnationalen Mobilität ist auch die prekäre Lage, insbesondere die Gesundheitsversorgung in Rechnung zu stellen. »Prekäre Bedingungen« bedeutet hier ganz konkret das Angewiesensein auf medizinische Unterstützung, die gesetzlich eingeschränkt wird. Zu fragen wäre, was im Krankheitsfall geschieht, wenn Personen mit ungeklärten Aufenthaltsbestimmun­ gen auf Angebote der Wohlfahrtsverbände angewiesen sind. Eine realistische Sicht auf die Dinge ist unabdingbar: Behörden können die Bestimmungen, etwa des umstrittenen Paragraphen 87 des Aufent­ haltsbestimmungsgesetzes, stets restriktiv auslegen. Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus haben keinen freien Zugang zur medizini­ schen Regelversorgung. Der Antrag auf einen Krankenschein beim Sozialamt kann gravierende Folgen haben, denn die Information an die Ausländerbehörde bringt einen Prozess in Gang, den die Geflüchteten unter allen Umständen vermeiden wollen67. Die mentale Situation wird insofern durch die gesundheitlichen Risiken verschärft: ohne Behandlung und Medikamente droht der Absturz in Krankheiten, die hätten vermieden werden können.

Ein Seitenblick auf eine prominente Biografie wäre in diesem Zusammenhang durchaus sinnvoll. Die große Philosophin Hannah Arendt erlebte die Zeit des Welt­ kriegs, in der sie mit der Situation der jüdischen Flüchtlinge eng verwoben war. Ihre Vita war geprägt von den zeittypischen Bewegungen; die Internierung vor Beginn des Krieges in einem französischen Lager in Gurs, schließlich die Flucht über Marseille, Lissabon und New York. Es sind Vorgänge, denen Andere ausgesetzt waren und die sie selbst in Sprache und später auch in philosophische Theorie übersetzen konnte. Zwei Dinge standen damals in einem noch heute gültigen Zusammenhang: die ver­ zweifelte Lage der Menschen auf der Flucht und die Fallstricke der europäischen und außereuropäischen Politik. Der authentische Ton hallt nach: Arendt sprach vom Zusammenbruch der privaten Welt, von Verlust und Trennung, der gescheiterten Assimilation und der Unfähigkeit der Staatenwelt, den fundamentalen Menschen­ rechten zur Geltung zu verhelfen. Arendt 2016, S. 12. 66 Waldenfels 1997; Ders. 2002. 67 Graßhoff/Homfeld/Schröer 2016, S. 78. 65

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III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.

Eine weitere Personengruppe ist in den Fokus zu rücken, über die insgesamt zu wenig Informationen bestehen. Wie erwähnt, führt die transnationale Mobilität zu fragmentierten Familien. Mütter oder Väter arbeiten an getrennten Orten innerhalb des europäischen Rau­ mes, um ihre Existenz zu sichern. Die Zurückgebliebenen, die als EUWaisen eine traurige Bekanntheit erhalten haben, leben in Heimen, bei den Großeltern oder in ungeklärten Verhältnissen, wenn nicht auf der Straße. Es wäre durchaus sinnvoll, in diesem Bereich Forschungs­ aufgaben zu formulieren, die sich den Entwicklungsverläufen jener Individuen widmen würden – wenn einem solchen Vorhaben nicht faktische Grenzen gezogen würden. So bleibt zunächst die spröde Information, die durch offizielle Statistiken etwa über die Lage der Zurückgebliebenen in Rumänien, Bulgarien oder Polen vermittelt werden – und eine vage Ahnung über die psychischen Bedingungen der familiären Transmigration.

2. Theorie der Migration Die Handlungsfelder der helfenden Professionen sind, wie zu zeigen war, weit gespannt. Und sie sind von Bedingungen geprägt, über die kein Einzelner verfügen kann. Um so dringlicher erscheint die Maßgabe an die professionellen Akteure, sich im Feld der Sozialen Arbeit immer auch politisch einzumischen. Die Phänomene von Flucht und Migration erscheinen als Herausforderung, die eine gesellschaftstheoretische Reflexion erfor­ dert. Es steht freilich in Frage, unter welchen Bedingungen kritische Entwicklungen beschrieben werden können und welche Kategorien hinzugezogen werden. Sind es psychologische Kategorien, die sich zuerst der vielschichtigen Angst vor den Anderen widmen? Aktuelle Publikationen greifen die Thematik des Fremden auf; sie stehen im Zeichen der Verteidigung des Fremden, der als soziale Gestalt für politische Zwecke missbraucht wird.68 Dieser Fremde, der nicht der konkrete Andere in unserer Nähe ist, sondern eher eine undeutliche, mysteriöse Gestalt, transportiert schlechte Botschaften aus anderen Teilen der Welt nach Kerneuropa. 68 Zygmunt Baumann: Die Angst vor den Anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016.

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Er wird, so Zygmunt Baumann, zum Symbol für das Negative und Gewaltsame, zu dem man in den Zonen der ersten Welt eine begrün­ dete Distanz eingenommen hat. Die Sozialtheorie plädiert mit guten Gründen für eine kritische Theorie, die im Umgang und in der Wahr­ nehmung des Fremden sozialpsychologische Verengungen erkennt69. Für eine solche gesellschaftskritische Reflexion gibt es viele Ansatzpunkte. Aber nicht immer kann es darum gehen, die Perspek­ tive der betroffenen Menschen zum Ausgangspunkt einer erkennt­ nistheoretischen Reflexion zu machen. Viele Standpunkte, Beobach­ tungen und Urteile sind zu beachten. Kein Standpunkt ist freilich in der Lage, alle nur denkbaren menschlichen Bestimmungen zu umfassen, die einer ethisch »reinen« Ableitung genügen könnten. Gleichwohl muss es eine Möglichkeit geben, den Standort des infe­ rioren, bedrohten und ausgeschlossenen Lebens in die Reflexion zu integrieren. Dieses Ziel vor Augen erscheint es sinnvoll, von allgemeinen Theorien über das Phänomen auszugehen, um danach die entscheidenden Parameter der Ethik der Migration zu benennen. Die Perspektiven der Praxis können aber nicht unmittelbar aus der Höhe der Theorie abgeleitet werden. Sie unterliegen, wie zuletzt zu zeigen ist, anthropologiekritischen Kriterien, die explizit ausgewiesen werden müssen. Das Thema der Migration scheint zunächst einen unmittelba­ ren Zusammenhang zur Ethik zu nahe zu legen. Zu offensichtlich und erschütternd sind doch die Umstände, die viele Menschen dazu zwingen, ihre Heimat hinter sich zu lassen, ebenso erschütternd wie die Bedingungen eines Lebens auf der Grenze. Aber eine wie auch immer geartete moraltheoretische Reflexion muss zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die soziale Mobilität eine Dimension menschlicher Existenz ist, die evolutionär betrachtet durchaus vorteil­ haft war. Denn wo immer der Mensch als vulnerables, aber auch umweltoffenes Wesen hineingeboren wurde, er war immer in der Lage, seine Situation zu verbessern. Feindliche Umwelten können verlassen werden, günstige klimatische Bedingungen werden gesucht. Der Mensch »hat« insofern keine Heimat, sondern er erschafft sie. Die Beweglichkeit in der menschlichen Disposition erst ermöglicht diese fundamentale Lebensform und die historischen Migrationsbe­

69 Ilja Trojanow/Ranjid Hoskote: Kampfabsage. Kulturen kämpfen nicht, sie fließen ineinander. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016.

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wegungen haben insofern immer dazu beigetragen, lebensdienliche Bedingungen im Raum zu erschließen. Das Phänomen der Migration ist in der Gegenwart natürlich komplizierter, ganz einfach, weil es nicht darum geht, lebensfeindliche Umwelten in lebensfreundliche zu verwandeln. Die Migration der Neuzeit hat viele Gesichter, vor allem ist sie aber mit menschlichem Leiden verbunden. Dies legt die Auseinandersetzung mit der Ethik der Migration nahe. Eine Theorie der Migration ist freilich eine junge Fachdisziplin, die sich ausgehend von der US-amerikanischen Soziologie als interdisziplinäre Wissenschaft etabliert hat. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Migration Gegenstand der Forschung; die dramatische Zunahme von Migration im Zeitalter der Extreme hat hierzu ihren Teil beigetragen. Was indes eine Theorie der Migration zu leisten imstande ist, zielt in zwei Richtungen. Sie kann als eine Theorie von unten gele­ sen werden, mit dem Gespür für die Lebenswelt der betroffenen Menschen. Welchen Lebens- und Alltagsumständen sie unterworfen werden, welche kulturellen, politischen und sozialen Ereignisse in ihre Lebenswelt eingedrungen sind; welche Formen der Gewalt als Ein­ bruch erfahren wurden oder als ein ständiger Begleiter erscheinen – es sind diese Aspekte, die als spezifische Erfahrungen in die Forschung Einlass finden. Demgegenüber muss die Theorie der Migration aber auch einen Abstand gewinnen und die Komplexität der Phänomene gleichsam »von oben« wahrnehmen: Daten zusammenführen, eine Makrostruktur umschreiben und Erklärungsmodelle bereitstellen. Die Schwerpunkte, die von der Theorie her gewählt werden, sind dabei abhängig von dem sozialen und kulturellen Blickwinkel, auch von den Ereignissen selbst. Eine Theorie der Migration kann die Situation der Migranten, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Perspektive der Assimilation erkennen, sie kann aber auch spezifischer die Lebenssituation irischer junger Frauen und ihrer Akkulturation im 19. Jahrhundert thematisieren70. Ob es nun das Geschlecht in einer besonderen kulturellen Lage oder die Frage der ethnischen Gruppenbildung in einer Mehrheitsgesellschaft ist – die Probleme wirken durchaus vertraut. Gruppen werden in einer Gesell­ schaft aufgenommen oder als Randständige behandelt. Sie stellen Petrus Han: Frauen und Migration. Strukturelle Bedingungen, Fakten und soziale Folgen der Frauenmigration. Stuttgart: UTB Lucius & Lucius 2003; Ders.: Theorien zur internationalen Migration. Stuttgart: Lucius &Lucius UTB 2006, S. 106–126.

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den Kontakt zur Mehrheit her und passen sich an oder sie führen ein Leben im Schmelztiegel, der viele Einheiten, Gruppen oder auch Ethnien umfasst71. Diese Phänomene sind einerseits vertraut, sie verweisen auf ungelöste Probleme der Gegenwart und auf die vielen Gefahren der stillen Exklusion. Andererseits wurden immer auch neue Vor­ stellungen und neue Theorien formuliert, die das Phänomen der ethnischen Pluralität ein Stück weit hinterfragen. Theorien zur Trans­ migration und zum Transkulturalismus führen über die mögliche Engführung der ethnischen oder kulturellen Gruppe hinaus, sie stel­ len Fragen, die lange Zeit wenig Beachtung fanden72. Wie richten sich die Menschen zwischen den territorial gebundenen und den ungebun­ denen Nationen ein, wie nehmen sie ihre spezifische Lage wahr, die als postkolonial beschrieben wird? Diese Fragen sind nützlich, um den Blick auf das Phänomen der Migration aus den Verengungen zu lösen; erst wenn wir nach den Zwischenverbindungen, den Schnittstellen und den hybriden Lebensformen fragen, verhindert man eine endgül­ tige Festlegung auf ein Konzept. Lange Zeit war der Blick auf die Nation oder die Aufnahmege­ sellschaft der erste Bezugspunkt. Die Ankommenden wurden als Immigranten beschrieben, das heißt, als Individuen, die den endgül­ tigen Bruch mit ihrem Herkunftsland vollzogen hatten und sich eine neue Sprache und eine neue Umwelt erst mühsam aneignen mussten. Zur traditionellen Vorstellung des Immigranten zählte die Entwur­ zelung und die Aufgabe der gewohnten Lebensweise. Dies machte sie zu besonderen Gruppen, die das Stigma des Fremden nie ganz abschütteln konnten. Es sind dies Wahrnehmungen, die ihr Eigen­ recht haben, die aber erweitert werden mussten. Die Realitäten waren immer vielschichtig und mehrdeutig. Neben den klassischen Immi­ granten traten bekanntlich Individuen, die sich in Netzwerken und Lebensmustern bewegten, die zu neuartigen Verbindungen führten. Migranten zwischen Herkunfts- und Residenzgesellschaften hatten am sozialen und politischen Leben beider Regionen teil; sie machten soziale Erfahrungen, die keinem eindeutigen Standort zuzuschreiben waren. In der transnationalen Lebensform weiten sich multilokale 71 Hartmut Esser: Die fremden Mitbürger. Möglichkeiten und Grenzen der Integra­ tion von Ausländern. Düsseldorf: Patmos 1983. 72 Ludger Pries: Transnationale Migration. Sonderband 12 der Zeitschrift Soziale Welt. Baden Baden: Nomos 1997.

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soziale Beziehungen aus; werden Verbindungen aufrechterhalten, auch wenn die körperliche Präsenz nicht immer vorausgesetzt werden kann. Wirtschaftliche, politische und soziale Aktivitäten tragen zur Formierung eines Feldes bei, das der Einordnung des Fremden oder des Eigenen nicht mehr genügt. In den Vordergrund rückt vielmehr die Überbrückung, die diskontinuierliche und teils brüchige Beziehung, das vielfache Involviert-Sein und die Einbindung in Netzwerke jen­ seits des Nationalen73. Der Status des Migranten ist insofern eine abhängige Variable eines spezifischen Blicks auf die Welt, in der sich die Individuen einrichten müssen. Neuere Forschungen müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen und das heißt, über die Perspektive der Assimila­ tion oder des Pluralen hinaus zu denken. Gesellschaftliche Integra­ tion, das hieß lange Zeit: Anpassung an die Aufnahmegesellschaft, gelungene oder scheiternde Integration. Das Ende der Assimilation läutete den Beginn der pluralistischen Epoche ein; nun ging es um das Miteinander kultureller Formationen, für die der widersprüchliche Begriff des Multikulturalismus geprägt wurde. Über diese Alternativen war schließlich hinaus zu denken. Denn wer den Blick für die Realität der Welt der internationalen Beziehungen öffnet, erkennt, dass es nicht allein um die ethnische Klassifikation noch um die nationale Dominanz geht. Richtet man den Blick »nach unten«, das heißt, fragt man explizit nach den Widerfahrnissen, Erfahrungen und Erwartungen der Menschen in ihren lebensweltlichen Bezügen, erübrigen sich festgelegte Konzepte. Die Lebensform des Transmigranten überspannt nationalstaatliche, kulturelle und »identitäre« Konzepte; der erste Schritt, um diese Realität zu vergegenwärtigen, bedeutet, sich von den überkommenen Konzepten einer Politik der Reinheit zu distanzieren. Man muss sich nicht dem Zwang zur Binarität beugen, lesen wir bei Paul Mecheril. Die Loyalitäten, Bindungen und Bezüge sind vielfach verstreut, und sie entziehen sich dem eindeutigen Bekenntnis. Man kann vereinfacht gesprochen, Europäer und Deutscher sein; man kann etwa über süd­ osteuropäische »Wurzeln« verfügen oder vielfache Verbindungen in außereuropäische Regionen aufrechterhalten, ohne dabei einer Seite Han 2006, S. 153 ff.; Ulrich Beck (Hg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; Ulrich Beck/ Angelika Poferl (Hrsg.) (2010): Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 73

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»zugehörig« zu sein74. Die Vergangenheit des dominanten National­ staats verblasst: die Grundlagen einer geteilten Erinnerung an das Vergangene bleiben umstritten, aber der Glaube an eine historisch gewachsene Kultur, die sich aus einem religiösen, kulturellen oder politischen Fundament heraus versteht, ist gleichsam erlöscht. Was tritt an seine Stelle? Dazu müssten neuere politologische Konzepte thematisiert werden, die neuartige Strukturen in der politischen Realität zu ergründen versuchen. Was aber zudem in die theoretischen Bemühungen aufzuneh­ men ist, ist die Frage nach der Macht und ihrer Konzentration in den Metropolen der Welt. Die Transmigration ist kein Konzept, das einen gleichsam schillernden, bunten oder kosmopolitischen Lebensstil umschreibt, sondern eher eine Realität, die harten kausalen Motiven entspringt. Der transnationale Lebensstil mag »flüssig« oder flüchtig erscheinen, und er kann sicherlich mit einer Semantik des Hybriden belegt werden. Aber die Überschreitung der Grenzen hat auch eine dunkle Seite, die Beachtung verdient. Dass die modernen Individuen ihre Räume neu konzeptualisieren und sie neue Felder erschließen, hat nicht nur mit individuellen Lebensentscheidungen zu tun, die man aus vollkommener Freiheit trifft, sondern mit den Zwängen der kapitalistisch verfassten Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Ein Gespür für die Realitäten wird man nur erhalten, wenn man die vielfachen Pendelbewegungen in den sozialen Feldern nach­ vollzieht, die zwischen den nationalen Räumen stattfinden. Und die Tatsache der transnationalen Migration wird dann tiefenscharf erfasst, wenn ihre Situierung in den Systemen der Weltwirtschaft erkannt wird. Große Entwürfe zur Theorie der Weltgesellschaft liegen vor. Immanuel Wallerstein teilte die Welt in Zentrum und Peripherie ein und eröffnete so den ungetrübten Blick auf den Prozess der globalen Durchdringung des Kapitalismus. Jenseits aller Fragen der Zugehörigkeit und der Identität werden Menschen durch die welt­ weite Produktion in den Zentren des Kapitalismus beeinflusst75. Dies lenkt das Interesse der Theorie auf die Konzentrationspunkte der 74 Paul Mecheril: Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität. Wien: Passa­ gen 2006. 75 Immanuel Wallerstein (1974): The modern World System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World. Economy in the sixteenth century. New York/San Francisco/London: Academic Press.

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Finanz- und Wirtschaftswelt. Hier sind die eigentlichen Antriebe und Motive der globalen Mobilmachung zu finden. In den neuen Metro­ polen der Welt entstehen die Schaltzentralen der mächtigen Finanz­ unternehmen und neue Industriezweige als zentrale Orte der Pro­ duktion und Innovation76. Zwischen den Zentren und den Peripherien der Weltwirtschaft entstehen Ungleichgewichte; der wirtschaftliche Überschuss der Peripherien wird in die Zentren transferiert, ohne dass es zu einem angemessenen Rückfluss in die Peripherie kommt. Die Dezentralisierung der Produktion tritt neben die Zentralisierung der Besitzverhältnisse; in den globalen Städten entstehen im Zuge dessen neue soziale Ungleichheiten, die sowohl auf die geographische Streu­ ung der Arbeit wie auf die steigende Mobilität des Kapitals zurück­ zuführen sind. Diese alles verdiente eine ausführlichere Analyse. In der Konse­ quenz für die betroffenen Menschen steigt der Druck auf Arbeitsfor­ men und Lebensweisen. Die Ausbeutungsverhältnisse werden zwar thematisiert, aber der Blick in den Schatten der Weltpolitik wird insgesamt zu selten gewagt. Man kann die subtilen Mechanismen der Macht- und Kapitalagglomeration erkennen und kritisieren. Aber welche Möglichkeiten bestehen, um den betroffenen Menschen in den Peripherien der Welt eine Stimme und mehr Rechte zu verleihen, als sie faktisch erhalten? Die politischen Bedingungen, unter denen Migrationsphänomene zu analysierten sind, verlangen offensichtlich nach ethischen Reflexionen.

3. Ethik der Migration Globale Migration ist eine Tatsache und eine Herausforderung. Die Gründe, die Menschen zur Flucht veranlassen, liegen deutlich vor Augen. Gewaltsame Ereignisse und strukturelle Gewaltverhältnisse, politische Verfolgung, militärische Bedrohungen und ökonomische Not – diese Aspekte schließen sich zu einer Gesamtsituation zusam­ men. Für das Jahr 2015 erfasst das UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, eine Zahl von 65,3 Millionen gewaltsam

76 Saskia Sassen: The Global City. New York/London/Tokyo, Princeton/New Jersey: Princeton University Press 1991.

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vertriebenen Personen – eine erhebliche Steigerung gegenüber frühe­ ren Zeiten77. Menschen befinden sich auf der Flucht – früher wie heute. Die Zukunft hält keine Aussichten auf Besserung bereit; die sich verschär­ fenden internationalen Spannungen, Klimawandel und eine vom Politischen losgelöste Weltwirtschaft tragen eher zur Verschärfung der Situation bei. Die Migration ist ein Bestandteil des gemeinsamen Lebens und sie wirft Fragen auf, die von Ethik und Sozialphilosophie beantwortet werden müssten. Indes wäre eine präzise Antwort oder gar eine Lösung der funda­ mentalen Probleme die falsche Erwartung, die man an die Theorie richten könnte. Alles, was vom Standpunkt der ethischen Reflexion geleistet werden kann, ist: ein Panorama möglicher Zugänge zum Phänomen zu entwerfen. Mit welchen Fragen und Interessen gehen wir an eine ethisch komplexe Aufgabe heran? Die naheliegenden Impulse verlangen nach der Hilfe in der Not – eine Not, die nicht geringer wird durch ihre moralphilosophische Durchdringung. Wei­ tere Fragen drängen in den Vordergrund: darunter auch die grundle­ genden Fragen des Rechts auf Aus- und Einwanderung. Je genauer man aber die gesellschaftspolitischen Konflikte der Gegenwart stu­ diert, um so weiter entfernen sich die überzeugenden Moralkonzepte. Zwischen Ethik und Anthropologie, der Moralwissenschaft und der sozialen Wissenschaft des Menschen besteht eine Kluft, die zumindest deutlich zu machen ist. Dass sich überhaupt über die Ethik der Migration sprechen und schreiben lässt, ist nicht selbstverständlich. Eine klare, reflektierte Haltung gegenüber dem Phänomen konnte sich erst in der modernen Philosophie entwickeln. Die Ethik des Politischen hatte bis dahin natürlich Einlass in die Philosophie gefunden; aber es ging doch zumeist um die großen Fragen von Staatszugehörigkeit und die Recht­ fertigung des Staates, um Fragen von Frieden und Krieg oder um die gerechte Ordnung eines Gemeinwesens78. Erst Kant fragte bekannt­ lich explizit nach dem Gastrecht, das in einer Welt der etablierten Staaten gewährt oder verweigert werden dürfe. Dass das Weltrecht der Bürger durch eine allgemeine Hospitalität erweitert werden solle, 77 UNHCR: »Global Trends 2015« unter: http://www.unhcr.de/service/zahlen-un d-statistiken.html. 78 Frank Dietrich (Hg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte. Frank­ furt am Main: Suhrkamp 2017, S. 10–20.

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zählt zu jenen guten Gedanken seiner Epoche, die immer wieder aufzugreifen sind. Aber auch Kant erkannte jene Gefahr, die in unseren Zeiten höchst virulent wird: wie ist es möglich, dass jene Menschen, die vor den Grenzen eines Gemeinwesens stehen, auf eine Art und Weise abgewiesen werden, ohne dass dies gleichzeitig ihren Untergang bedeuten würde? Kant verknüpfte den Gedanken der Zurückweisung also mit dem Argument der Vermeidung der physischen Vernichtung – und es zählt zu den Merkwürdigkeiten unserer Tage, dass trotz aller exzellenter philosophischer Explikation dieser Gedanke unter anderen Vorzeichen wieder erscheint79. Nach 1945 hat die Weltpolitik bekanntlich Schlüsse aus den kata­ strophalen Ereignissen des 20. Jahrhunderts gezogen und versucht, die Geltung der Menschenrechte in den internationalen Beziehun­ gen zu verankern. In den Menschenrechten, die im Dezember 1948 offiziell proklamiert wurden, finden sich Ansätze zum Asylrecht, Rückkehrrecht und Staatsangehörigkeitsrecht (Artikel 13–15). Das grundlegende Recht, in das Hoheitsgebiet eines fremden Staates einzutreten und sich dort dauerhaft niederzulassen, hat jedoch bis heute keine völkerrechtlich verbindliche Form gefunden. Der Umgang mit Geflüchteten wird durch die Genfer Flüchtlingskonvention und durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1967) geregelt; auch das Refoulement-Verbot trägt der Tatsache der gewalt­ sam erzwungenen Migration Rechnung. Aber welche Fortschritte sind seit der Einsicht Kants in die ethischen Grundsätze der Nicht-Zurück­ weisung wirklich zu verzeichnen? Die Schwierigkeiten der ethischen Reflexion werden sichtbar, sobald man nach überzeugenden Prinzipien sucht, die die Staaten an die allgemeinen moralischen Überzeugungen binden. Hannah Arendt hatte schon 1951 jene vermeintlich ausweglose Situation beschrieben, in der Geflüchtete vor den Toren der Nationalstaaten verharren mussten80. Die Menschenrechte hätten demnach einen aporetischen Kern, da sie nur dann gelten, sofern sie im Gefüge eines rechtsetzenden Staates aufgenommen werden. Die Schlussfolgerung, dass nur ein Weltstaat diese Situation aufheben könne, führt hingegen in die Untiefe einer totalitären Weltregierung. Darüber ist freilich das Ebd., S. 13. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München, Berlin 1986, S. 600 ff.

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letzte Wort nicht gesprochen81. Aber es bleibt zu klären, unter welchen Bedingungen Staaten denn überhaupt in die Lage versetzt werden könnten, ihre Grenzen für notleidende Migranten zu öffnen. Das Spektrum möglicher Konzepte ist weit. Michael Walzer etwa betont als Kommunitarier den Vorrang der Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen, das sich selbst seine Rechte und Pflichten auferlegt82. Andere wie Hillel Steiner fragen nach den Grundbesitzund Eigentumsrechten, die den neuzeitlichen Staat hervorgebracht hätten. Eine Politik der geschlossenen Grenzen wäre unzeitgemäß, da sich die Gebietsansprüche und Hoheitsrechte nicht mehr fixieren lassen; eine Selbst-Autorisierung des Staates, der sich auf den Mythos der ersten Inbesitznahme beruft, wäre demnach illegitim. Auch die utilitaristische Betrachtung der Gesamtsituation kommt zu einem kritischen Urteil der restriktiven Migrationspolitik. Vergleicht man die gravierenden Nachteile, die Geflüchtete in Kauf nehmen müssen, mit den geringen »Kosten« der aufnehmenden Länder, dann führt der Grundsatz der gleichen Interessenberücksich­ tigung zur Forderung der Grenzöffnung83. Ethische Abhandlungen können sehr überzeugend sein, weil sie starke Gründe und existentielle Motive nennen, an denen man im Moment des Räsonnements nicht vorbei sehen kann84. Aber die Ein­ sicht in moralische Verhältnisse findet offenbar wenig Übersetzungen in die Welt der internationalen Beziehungen. Hier bestehen Macht­ verhältnisse, Ungleichgewichte, die uns erinnern, dass die Interessen faktisch nie im gleichen Maße Berücksichtigung finden (sie sollten es natürlich). Sie werden eher zwischen den mächtigen Interessen der Herrschaftsbeziehungen zerrieben. Das heißt natürlich nicht, dass man die Ethik als eine bloße Gedankenübung herabstufen sollte. Aber der Verweis auf eine kon­ trafaktische Welt ist nicht genügend, unzureichend für die betroffenen Menschen, unbefriedigend auch für die Akteure der professionel­ len Hilfe.

Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München: Beck 2011. Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 83 Hillel Steiner: Hard Borders, Compensation and Classical Liberalism. In: David Miller/Sohail M. Hashmi (Hg.): Boundaries and Justice. Diverse Ethical Perspectives. Princeton, Oxford 2001, S. 79–88. 84 Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart 1994, S. 315–334. 81

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Die ethische Grundierung einer »Berufsethik« in diesem Feld setzt dann ein, wenn man sich die Nichtexistenz einer besseren Welt vor Augen hält. Politische Einmischung ist unverzichtbar, aber die Arbeit mit Geflüchteten benötigt eine eigene Auseinandersetzung. Es zählt zu den größeren Widersprüchen, dass man der Einblick in mise­ rable Situationen zu diesem Spektrum dazugehört; auch bei aller Dringlichkeit einer politischen Einflussnahme.

4. Soziale Arbeit mit Geflüchteten »Flucht« ist eine komplexe und schwer greifbare Kategorie. Die Umstände und Motive sind einerseits bekannt, aber die Erfahrung selbst ist unübertragbar. Die Bedingungen des Lebens nach der Flucht umfassen die Erlebnisse der Vergangenheit im gleichen Maße wie die Erwartungen in der Gegenwart. Lebenswelten während und nach der Flucht bleiben vital – und es ist vermutlich der schwierigste Schritt, zu Beginn die Ursachen der Migration mit den Betroffenen gemeinsam aufzuarbeiten. Krieg, Vertreibung, Armut, politische Verfolgung, religiöse Gewalt, rassische Diskriminierung oder Landraub – dies alles ist schwer erzählbar. Die Sprache, die Verbindungen zwischen Helfern und den geflüchteten Subjekten herstellen soll, muss erst mühsam gefunden werden. Gleichwohl müsste es das Ziel sein, auch unter den miserablen Umständen ein Arbeitsbündnis zu schaffen, das lebensdienliche Perspektiven und das Erleben von Sinn in dieser Situation ermöglicht. Dieser Weg führt sozusagen aus dem Dickicht der formalen und bürokratischen Verfahren heraus und ebnet den Weg der transnationalen Biographiearbeit. Die Aufnahme von Geflüchteten in ein Zielland kann sehr unter­ schiedlich ausfallen. Das Bild der Massenimmigration in Kerneuropa, das nicht selten suggeriert wird, täuscht. Während der jüngsten Krisen in Syrien oder Irak hatte die überwältigende Mehrheit der Anrainerstaaten Flüchtlingskontingente aufgenommen und sie in provisorischen Lagern untergebracht, deren Anblick aus den Medien vertraut ist. Die humanitären Nöte, die mit den Bedingungen dieser Unterkünfte verbunden sind, müssten eigens thematisiert werden; sie

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zeigen zumindest die Notwendigkeit der humanitären Hilfe und der Zusammenarbeit der willigen Staaten auf.85 Fragen wir genauer nach den Bedingungen der Ankunft in dem Aufnahmeland der Bundesrepublik Deutschland, dann steht zunächst der Eindruck der behördlichen Verfahren im Vordergrund. Bundes­ länder, Kommunen und Kreise bringen die Geflüchteten in Erstauf­ nahmeeinrichtungen und Notunterkünfte. In der Perspektive des Erlebens müsste man sagen: Menschen werden aufgegriffen, unterge­ bracht und sortiert. Sie werden einem Bundesland nach dem soge­ nannten Königsteiner Schlüssel zugeteilt, das fortan für ihre Versor­ gung und medizinische Betreuung zuständig ist. Schließlich wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geprüft, ob Asyl­ gründe vorliegen, aufgrund staatlicher Verfolgung (Artikel 16a GG), in Bezug auf die Schutzgründe nach der Genfer Flüchtlingskonvention (§ 3 Absatz 1 Asylverfahrensgesetz). Es wird geprüft, ob Gründe für den subsidiären Schutz (§ 4, Abs. 1 bis 3 Asylverfahrensgesetz) oder zum Beispiel nationale Abschiebungsverbote vorliegen86. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich im Blick auf die Perso­ nengruppe der Minderjährigen. Der vorgeschriebene Weg führt über geeignete Unterbringungen für Kinder und Jugendliche, also famili­ enanaloge Einrichtungen, Heime oder andere Wohnformen. Dazu aber bedarf es eines Verfahrens des »Clearing«, also der Klärung eines spezifischen Bedarfs. Die Kritik an den Umständen hat sich zuletzt verschärft, ganz einfach, weil hier die Verletzung von grundlegenden Kinder- und Menschenrechten in Kauf genommen wird. Die Kinderund Jugendhilfe schreitet bekanntlich ein, wenn das Kindeswohl gefährdet ist; die Bedingungen in den Lagern, die ja vom Staat selbst mitbestimmt werden, legen eine solche Gefährdung nahe87. Eine wie auch immer geartete »Lösung« der Situation ist aber in weiter Ferne, weil die gängigen Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe nicht in jedem Fall in Gang gebracht werden können. Jenseits aller denkbaren politischen Lösungen ist jedoch zuerst die Perspektive, bzw., die spezifische Situation der Geflüchteten in Rechnung zu stellen. Was erlebt und erleidet, konkret gefragt, jemand Steffen Angenendt: Flucht, Migration und Entwicklung. Wege zu einer kohärenten Politik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 25, S. 8–17, 2015. 86 Caroline Schmitt: Flucht als Handlungsfeld transnationaler Sozialer Arbeit. In: Graßhoff/Homfeld/Schröer 2016, S. 79 – 86. 87 Tobias Pieper: Soziale Arbeit im Ausnahmezustand. Deutsche Flüchtlingslager als potentiell rechtsfreie Räume. In: Jugendhilfe, 49, Heft 2, S. 124–129, 2011. 85

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III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.

während und nach einer Flucht, während und nach der »Aufnahme« in einem neuen Land? Die Situation ist die eines Getriebenen; nicht Autonomie und Handlungsfähigkeit, sondern das passive Erfahren von Umständen und Widerfahrnissen ist tonangebend. Damit ist noch nichts über die »Fähigkeiten« und Potentiale der Betroffenen gesagt, sondern es werden nur die Eckpunkte eines Lebensweges beschrieben. Man wird aufgenommen oder mit Repressionen ver­ drängt, man wird aufgegriffen, gezählt und identifiziert, sortiert und zugeordnet. Schlüssel errechnen die gerechte Verteilung von Perso­ nenmengen; Verfahren zeigen an, ob triftige Gründe für die Flucht vorliegen. All dies mag den Prinzipien des Rechtsstaats geschuldet sein oder den Unberechenbarkeiten der internationalen Politik; aber es gilt zu bedenken, dass nahezu alle Momente der Aufnahme als unverfügbare Elemente höherer Mächte erscheinen müssen. »Der« Migrant ist so betrachtet eine besondere Sozialfigur. Wir kennen ihn oder sie als ein Klischee, als eine bemitleidenswerte Gestalt. Man kann von seiner Individualität vollkommen absehen und ihn als jemanden vorstellen – eben als Geflüchteten, als Getriebenen oder als Vertriebenen, mithin als jemand, der etwas erlitten hat und keine Bleibe mehr hat. Diese Bilder sind nicht endgültig aus den Köp­ fen zu kriegen; die Frage ist eher, wie man die Dissonanzen zwischen den Bildern und den Realitäten verringern kann. Das Ziel liegt wohl weniger darin, eine Harmonie herzustellen, indem man Anderen ihre Selbst-Bemächtigung gleichsam einflüstert. Eher ist es zielführend, sich vom Bild des Leidenden stückweise zu distanzieren. Wie kann das gelingen? Neuere Publikationen sprechen von »Öffnungen«, von »interkultureller Kompetenz«, von einer spezifischen Sensibilität gegenüber Anderen. Was genau aber ist darunter zu verstehen? Wie angedeutet, existieren Bilder im sozialen Raum, die Andere mit bestimmten Etiketten und Titeln versehen. Diese Bilder müssen nicht falsch sein, aber sie verhindern unter Umständen eine lebens­ nahe Rekonstruktion der biografischen Wege und Umwege. Der Ansatz der Lebensweltorientierung, so sehr er auch ein Selbstver­ ständnis der Profession meint, wird hier zur praktischen Herausfor­ derung. Denn es gilt zu erkunden, was transnationale Lebenswelten ausmacht, vor allem aber, wie die individuelle Person in einem Geflecht von räumlichen, sozialen und kulturellen Bezügen zurecht kommt. Das legt zuerst die Ermöglichung von intimer Kommunika­ tion nahe. Eine Nähe zur Erfahrungswelt muss hergestellt werden, um die singulären Momente der Biografie zu erfassen. Dazu kann es

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keine umfassende Theorie geben und kein Rezept, das die Begegnung erfolgreich gestaltet. Gleichwohl gibt es Elemente, die einer gewissen Permanenz unterliegen: Flucht heißt: sich aus einer Notsituation heraus zu bewegen und sich in einem Provisorium einzurichten. Der Begriff des Provisoriums ist hier höchst bedeutsam: provisorisch sind die Lebensumstände im Raum oder im Lager, provisorisch gestaltet sich aber auch die Organisation des eigenen Lebens. Es stellt sich keinerlei Routine ein, die persönlichen Kontakte sind geringer, neue Beziehun­ gen müssen erst geknüpft werden. Das alles schafft Verunsicherung. Die ersten Schritte der Begegnung sind daher notwendig vertrau­ ensbildend: die aufgespannten transnationalen Bezüge müssen als Realität anerkannt werden. Für den Rahmen der interkulturellen sozialen Arbeit in dieser Situation gibt es keine starren Vorgaben, aber verbindende Prinzipien: Die Balance muss gefunden werden. Die Erfassung einer transnatio­ nalen Biografie legt es nahe, von einer Situation von Hilflosigkeit und Ohnmacht auszugehen. Dies aber ist aus mehreren Gründen missver­ ständlich. Bei aller Not handelt es sich schließlich um Subjekte, die sich aus den prekären Lebenslagen ein Stück weit befreit haben und verschiedene Kompetenzen ausbilden mussten, um in schwierigen Lebensumständen zu bestehen. Handlungsmächtigkeit zeigt sich u. U: in »Informationsbeschaf­ fung und Planung der Flucht«, an den »vielfältigen formellen und informellen Lernerfahrungen an unterschiedlichen Lernorten unter schwierigen Bedingungen«88. Die reflexive Diversity-Kompetenz der Akteure meint insofern mehr als nur den respektvollen Umgang, mehr als nur die Vermeidung der »Veranderung«. Die Balance, die es zu finden gilt, besteht zwischen den Widerfahrnissen einer Situation und der jeweiligen Handlungsmächtigkeit, die erworben wurde. Dies legt es nahe, den »Anderen« eben nicht als Opfer zu identifizieren, sondern ihn in alle Facetten eines besonderen Lebens wahrzunehmen, mit allen politischen und sozialen Bedingungen. Wie man soziale Arbeit in dieser Situation gestalten »sollte«, steht in Frage. Die Antworten zielen auf einen Ausgleich zwischen berufsethischen Prinzipien und individuellen Möglichkeiten. Belas­ tungen müssen, wenn sie vorliegen, wahrgenommen und »bearbei­ tet« werden, aber sie sollten nicht »kulturalisiert« werden. Individu­ 88

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III. Transnationale Welten, transkulturelle Räume.

elle Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt, wie wohl bei allen Formen der sozialen Hilfe; aber es gilt, die Lebensgeschichte in ihrer Eigenpro­ blematik wahrzunehmen. Nicht alles, was mit den kulturellen und politischen Umständen auf den ersten Blick zu tun hat, ist der vorherr­ schende Aspekt eines singulären Lebens. Nicht alles, was von außen betrachtet als individuelle Tragödie gewaltsamer Lebensumstände erscheint, muss in einer Opferperspektive münden. Das Diktum, die Lebenswelt zu ergründen statt sie zu kulturalisieren89, bringt diese Orientierung auf den Punkt.

Susanne Wenger: Lebenswelt ergründen statt kulturalisieren. Transkulturelle Kompetenz im Gesundheitswesen – was heißt das? In: Curaviva, Heft 2, S. 4–7, 2008; Stefan Gaitanide.: Interkulturelle Kompetenz als Anforderungsprofil in der Jugendund Sozialarbeit. In: Sozialmagazin, Heft 3, S. 42–48. 89

90 https://doi.org/10.5771/9783495999219 .

IV. Armut im 21. Jahrhundert

Einleitung Hat die Armut ein Gesicht? Zumindest ist einem der Begriff »arm« auf eine Weise vertraut, dass man nicht zögert, eine Antwort zu geben. Armut hat viele Gesichter und ebenso viele Darstellungsmöglichkei­ ten. Wer sich die Mühe macht, die Armut genauer zu betrachten, kommt vielleicht zu dem Schluss, dass die Oberflächlichkeit täuscht und dass sich hinter der miserabelsten Situation eine menschliche Größe verbirgt, an die man nicht zuerst denken mag, man vermutet Würde in unwürdigen Verhältnissen und Macht inmitten der Ohn­ macht. Bilder der Armut können vielfältig sein. Sie zeigen den Men­ schen, indem sie nah an ihn heranrücken und die Bedingungen seiner Existenz erfassen, eindringlich, detailliert und schonungslos. Dies aber heißt nicht, dass solche Bilder das Image der »armen Leute« oder die Ikonologie des »Ausgebeuteten« reproduzieren. Ebenso denkbar sind Bilder, die allein den Menschen und seine besondere Situation wiedergeben, ohne ihn für irgendwelche Zwecke zu gebrauchen. Der preisgekrönte Fotograf Sebastiao Salgado wäre hier an ers­ ter Stelle zu nennen, weil seine berühmten Fotodokumentationen weder allein journalistischen noch »klassenkämpferischen« Motiven entstammen. Seine Arbeiten zeugen von einem Aktivismus des Augenblicks. Der Autor spricht demgemäß von einem inneren Drang, der ihn an verschiedene Orte führte, der ihn ferner dazu veranlasste, alle Objektivität zu vernachlässigen und im Moment der Fotografie einen Akt der Parteinahme zu vollziehen90. Hat Armut überhaupt ein Gesicht? Oder ist sie nur ein hilfloser Ausdruck für Zustände, die nicht wirklich fassbar sind? Anders for­ muliert, ist es überhaupt möglich, von der Existenz der Armut zu berichten und dabei eine Objektivität zu wahren? Salgados Anliegen, 90 Sebastião Salgado: Mein Land, unsere Erde. Mit Isabelle Francq. Aus dem Franzö­ sischen von Sina de Malafosse. München: Nagel&Kimche 2019.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

das er ein Leben lang verfolgt hat, war es offensichtlich, vom Men­ schen zu erzählen, ohne diesen auszustellen, auch ohne sein Leiden zu überhöhen. Sein Werk zeigt die fragile Schöpfung und in dieser den ebenso verletzlichen Menschen; er zeigt Gesichter und lässt Bilder erzählen. Salgado zeigt auf Menschen, deren Situationen zwar eigent­ lich bekannt sind, die aber trotz allem im Dunkeln bleiben: ruandische Flüchtlinge in einem Auffanglager in Tansania, Minenarbeiter in Brasilien, Teepflücker, Wanderer, Getriebene, einfache Menschen in erschwerten Situationen. Die Bilder sind so eindringlich, weil sie eben nicht einfach nur Mühsal und Armut zeigen, sondern diese Situation mit einem ästhetischen Empfinden verknüpfen: Fotos von Minenar­ beitern in der Goldmine der Serra Pelada oder im brasilianischen Bundesstaat Pará; man sieht Männer, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet sind, deren Körper restlos mit Schlamm bedeckt ist. Es sind Leiber, die sich auf den Fotos in schmieriger Erde bewegen und doch sind es die Gesichter, die Salgado unmerklich in das Zentrum rückt: auch wenn lediglich dunkle Augen aus schlammverdeckten Körpern leuchten, meint man von einem Antlitz berührt zu werden. Die Intensität, die man im Augenblick einer Fotografie erhält, verringert sich, sobald man die Position erhöht. Das Gesicht der Armut kann sich im Gesicht eines Einzelnen spiegeln, es kann sich aber auch auf weitere Horizonte oder ganze Regionen erstrecken. Der offene Blick für den Arbeiter wird durch den schonungslosen Blick auf systemische und soziale Unterentwicklung flankiert. Hier geht es um die Menschen, die katastrophalen Situationen ausgesetzt sind, aber es geht auch um Zustände und Prozesse, für die man die Sprache der kritischen Soziologie benötigt. In den Slums dcr Moderne entwickelt sich eine Welt abseits der eigentlichen Welt. Hier gelten eigene Maßstäbe und Normen. Es sind »Verhältnisse«, die sich zur Skandalisierung und zur moralischen Empörung eignen. Gleichwohl muss es möglich sein, zu einem abgewogenen Urteil zu gelangen und dem offensichtlichen Elend eine konstruktive Haltung entgegen zu setzen. Ferner ist zu fragen, an welchen Standort die helfenden Professionen und insbesondere die Soziale Arbeit verwiesen ist, wenn sie sich inmitten dieser Verhältnisse als ein relevanter Akteur verstehen will. Der Blick auf die bestehenden Bedingungen weltweiter Armut ist nicht ohne Moralität oder ohne politische Parteinahme denkbar. Als eine Profession, die in spezifischer Weise das Mandat für die Bedrohten und Benachteiligten übernimmt, kann die Soziale Arbeit

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1. Die Pädagogik der Unterdrückten

an den systemischen Bedingungen der Ungleichverteilung von Macht und Reichtum nicht vorbei sehen. Aber mit welchen Mitteln kann sie den Verhältnissen begegnen? In der Tradition einer Pädagogik der Unterdrückten, die sich vor allem in Nachbarschaft des Kampfes gegen koloniale Verwerfungen befindet? In einer wirtschafts- und entwick­ lungsbezogenen Perspektive, die dem Paradigma der Umverteilung folgt? Vielleicht sogar entlang älterer Narrative von Befreiung und Klassenkampf? Allein die hier zugrunde gelegten Begriffe lassen sich schwerlich zusammenfügen. Der existentialistische Ton eines Paolo Freire findet gegenwärtig keine Resonanz, die älteren historisch-materialistischen Erzählungen wurden im postmodernen Denken dekonstruiert; und die Idee der Umverteilung im Namen einer kurzatmigen Gerechtigkeit hat sich als Illusion erwiesen. Die dahinter stehenden Narrative verdienen natürlich eine ausführlichere Auseinandersetzung. Rein pragmatisch aber wäre es geboten zu fragen, welcher sozialkritische Weg denn noch begehbar ist. Der Wandel im Denken über Ungleichheit soll im Folgenden von verschiedenen Positionen aus dargestellt werden – als ein Kampf gegen die Unterdrückung, ferner als Prozess der Anerkennung, ohne den jede Umverteilung zu kurzfristig bleibt; schließlich als ein gesell­ schaftspolitischer Reformprozess, der mit ebenso gewagten wie not­ wendigen Visionen einher geht. Jeweils wird ein Wandel im Denken aufzuzeigen sein, der sich nicht zu einer neuen großen Erzählung zusammenführen lässt, sondern eher die unscharfen Umrisse einer zukünftigen Transformation der Weltgesellschaft sichtbar macht.

1. Die Pädagogik der Unterdrückten Armut hat mit Ausschluss und Unterdrückung zu tun; aber sie erscheint auch als Kategorie des kritischen Denkens. Armut sollte nicht sein, nicht in dem Maße, wie sie faktisch die menschliche Grund­ situation erfasst. Die Sprache gibt vor, wie man mit der Bedingung der Armut umzugehen hat – man sollte sich aus ihr befreien oder befreit werden. Das war nicht immer so. Denken wir an die mittelalterlichen Almosen- und Armenordnungen. Die Gesellschaft des Hochmittelal­ ters war bekanntlich eine theologisch festgefügte Ordnung. Die Stän­ dehierarchie von geistlicher und weltlicher Herrschaft, bürgerlichem, besitzlosem und bedürftigem Stand entsprach dem göttlichen Willen.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

Armut war nicht jenes Übel, dem wir heute selbstbewusst begegnen, sondern eine Tatsache und zugleich Ausdruck des theologischen Absolutismus. Die Existenz von Armen und Hilfsbedürftigen war eng an die Kategorie der Sündhaftigkeit gebunden; Arme waren insofern weniger Subjekte, die man aufrichten konnte, sondern Objekte des richtigen Tuns. Ohne sie wäre die Satisfaktion nicht zu erreichen; das verdienstliche Tun, verankert etwa durch die Almosenordnung im Bußsakrament, verwies den Nichtbedürftigen auf die unbedingte christliche Pflicht. Almosen galten als Nachweis seiner Liebestätig­ keit. Das Ziel der Armenpflege im religiösen Kontext war insofern nicht das leidende Subjekt, sondern der Gebende, um dessen Heils­ verlangen sich alles drehte. Parallelen dieser Situation zur Neuzeit sind natürlich bemüht und willkürlich; aber schon in der Frage, mit welchen Mitteln die Armut gegenwärtig beseitigt werden könne, sind verschiedene Antworten zu erwarten. Dem Gedanken der Umvertei­ lung durch Reformen gilt die größte Aufmerksamkeit; aber es lassen sich doch auch Positionen unterscheiden, die unmittelbar an die Kardinaltugenden des Menschen erinnern91. Bekanntlich befreite sich die Armenfürsorge aus dem religiö­ sen Horizont im Zuge der frühneuzeitlichen Revolutionen und reformatorischen Impulse. Die göttliche Ordnung wurde ins Zwie­ licht gezogen und im Zuge dessen entwickelten sich neue Prinzi­ pien der Daseinsfürsorge. Die frühneuzeitliche Sozialpolitik inter­ essierte sich nun für sinnvolle Formen der Armenunterstützung; man schuf Räume der Arbeitsvermittlung, »individualisierte« die Armenpflege, leistete Erziehungsarbeit der vernachlässigten und ver­ wahrlosten Minderjährigen92. Die Umgestaltung Kontinentaleuropas zu einer Industriegesell­ schaft ging bekanntlich mit neuen sozialen Umbrüchen einher: der soziökonomische Wandel ließ neue Wirtschaftssektoren entstehen, neue Beschäftigungsformen, die mit prekären Arbeitsbedingungen einher gingen. Der Pauperismus und die soziale Frage bildeten die großen sozialpolitischen Herausforderungen; der Mensch wurde Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite. Sonderdruck der Edition Suhrkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 92 Christoph Sachße/ Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutsch­ land. 2 Bände, Stuttgart: Kohlhammer 1988; Johannes Schilling/Sebastian Klus: Soziale Arbeit. Geschichte – Theorie – Profession. München: Ernst Reinhardt 2018, S. 28–33. 91

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1. Die Pädagogik der Unterdrückten

gleichsam zu einer statistischen Größe. Die Moderne glich einem Urknall (K. Dörner): Das Wachstum der Städte der Industrien und Arbeitsformen war ein Prozess, dem die Massen gleichsam orien­ tierungslos ausgeliefert waren. Aber zugleich war es die Zeit, in der entscheidende Weichstellungen in der Sozialpolitik vorgenom­ men wurden. Die Sozialgesetzgebung der Zwischenkriegszeit ist bis heute umstritten; die gesellschaftliche Ordnung war immer gegen den drohenden Zusammenschluss der Arbeiterschaft in Stellung gebracht. Aber man kann behaupten: der Begriff der Fürsorge erhielt aus unterschiedlichen Gründen eine neue Klangfarbe. Ein Bewusstsein für die vielen Gesichter der Armut entstand, das sich nicht mehr auf die alte Ordnung zurückführen ließ. Der halbierte Mensch, dessen Not in mangelnder Nahrung und fehlendem Obdach erkennbar war, wurde von einem Menschenbild ersetzt, das sich den inneren Motiven der Armut zuwandte. Ein nicht unbedeutender Schritt zur modernen Wohlfahrtspflege bestand in der Frage, wie sich der ganze Mensch in seiner Situation der Armut in seelischer Hinsicht einrichten musste. Dieses Bewusstsein für das Erleiden der Armut war ein Fort­ schritt, der durch viele Momente begleitet und vorangetrieben wurde; natürlich durch den Ausbau der Wohlfahrtspflege, des Versicherungs­ wesens, die Sozialreformen und der ersten öffentlichen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Zugleich hatte sich schrittweise ein neuartiges Bewusstsein für die Bedingungen der Armut entwickelt. Es ist die Frage, inwieweit sich die älteren Begriffe des Kampfes der indigenen oder ausgeschlossenen Menschen gegen alle Formen der Repression in moderne Konzepte überführen lassen. Die Pädagogik der Unterdrückten von Paolo Freire ist in diesem Zusammenhang eigens hervorzuheben. Es handelt sich um eine Sicht auf den internationalen Kontext, auf jene Bedingungen der Armut, die noch bis heute deutlich vor Augen liegen. Paolo Freire hat für die Grundsituation des leidenden Menschen eine eigene Sprache geschaffen. Ihm ging es zeitlebens um Bewusstseinsbildung, die er unter anderem durch Programme der Alphabetisierung in Brasilien verkörpert sah. Mangelnde Alphabetisierung schließt aus – das heißt: wer nicht literarisch gebildet ist, unterliegt dem Ausschluss aus dem politischen Teilhabehorizont. Unmittelbare Zusammenhänge zwischen Bildung und politischer Partizipation lagen deutlich vor Augen. Mit Bezug auf die Reflexionen Karl Mannheims, nach dem sich der moderne Mensch auf der Stufe der nachindividuellen Grup­

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

pensolidarität befindet, ging es Freire um Bewusstseinsbildung des ausgeschlossenen Menschen. Die Anthropologie des unterdrückten Menschen zielt daher konsequent auf den unfreien Menschen, der erst kraft seines erworbenen Bewusstseins eine Ahnung von dem erhält, was ihm fehlt. Bildung ist das Motiv, das seine Befreiung im Zuge der Konfrontation mit seiner Situation ermöglicht. Man kann sich in den Verhältnissen der Unterdrückung einrichten oder man entwickelt eine Haltung, die die Kultur des Schweigens durchbricht.93 Sehr grob formuliert geht es hier um jene existentialistischen Idiome, die in einem spezifischen historischen Kontext beheimatet sind. Der Existentialismus eines Camus oder Sartre scheint die Refle­ xionen zu autorisieren, so wie sich die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Tradition von Marx entfalten kann. Und doch ist es möglich, in den Begriffen eine Aktualität zu erkennen. Denn mit guten Gründen könnte man doch fragen, wie es gegenwärtig um das Leben in jenen Regionen bestellt ist, die man als »abgehängt«, »randständig«, »marginal« bezeichnet. Oder noch eindringlicher wäre zu fragen, inwiefern sich der globale Norden mehr und mehr vom globalen Süden abspaltet und die Kluft der globalen Ungleichheit vergrößert. Der Begriff des Slums ist insofern zu thematisieren, weil er das Augenmerk auf jene Phänomene richtet, die im allgemeinen einem Verdrängungsprozess unterliegen. Leben wir, salopp gesprochen, auf einem »Planet der Slums«?94 Zumindest sind eng miteinander verbundene Prozesse zu beachten, die einem Sinnbild der fortschreitenden Verarmung der Welt erscheinen. Das Wachstum der Städte im globalen Süden schafft neue »Zonen der Verbannung« für Millionen Menschen. In den Slums der großen Metropolen zeigen sich die Folgen von kolonialer Vergan­ genheit und der Gegenwart der kapitalistisch formierten Weltgesell­ schaft. Mike Davis nennt Mexiko City, Lima, Johannesburg, Lagos, Manila oder Shanghai, um seine These der fortschreitenden Verslu­ mung des Planeten zu stützen. Grell gezeichnete Bilder lassen den Kampf zwischen oben und unten hervortreten: »oben« herrscht die Logik der Finanzinstitutionen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Jener Staat, der sich »eigentlich« um die existenti­ Paolo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973; F. Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. 94 Mike Davies: Planet der Slums. Aus dem Englischen von I. Scherf. Berlin: Assozia­ tion 2007. 93

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1. Die Pädagogik der Unterdrückten

ellen Belange seiner Bürger kümmern sollte, befindet sich auf dem Rückzug und überlässt die Probleme den Stadtarchitekten, Landbesit­ zern und Immobilienmärkten. Von »unten« betrachtet herrscht die Logik der Verbannung. Auch wenn sich NGOs und die internationale Soziale Arbeit bemühen, den ausgeschlossenen Bewohnern der Megaslums eine Perspektive zu schaffen – durch modernes Empowerment, Selbsthilfearrangements und Nothilfe, so bleiben diese Impulse doch zu schwach. Denn eine Mobilität nach oben kann sich faktisch nicht entwickeln, solange die geforderte Politik der Würde in weite Ferne rückt. Die Menschen bleiben, so Davis, in der Randständigkeit befangen, die sie in die Nähe menschlichen Ballasts rückt95. Durchgreifende Lösungen kommen nicht in Sichtweite. Aber ein anderer Punkt ist zu betonen, der die Sache der Betrachtung verkompliziert. Welche Sprache steht zur Verfügung, um die Situation der vielen ausgeschlossenen Bewohnern der Megacities angemessen zu beschreiben? Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei dem Begriff der Würde, der sich in viele Richtungen entfalten lässt. Menschen leben in unwürdigen Verhältnissen; Politik und Staat lassen diese Bewohner deklassiert und ohne reale Teilhabe zurück. Gleichwohl haben diese Menschen eine »Würde«, die den nicht sichtbaren Teil ihres Menschseins umschreibt. Diese paradoxe Formulierung hat einen besonderen Zweck. Denn zu problematisieren ist bei allem Gespür für die skandalösen Erscheinungen des globalen Kapitalismus die Art und Weise, in der über »Andere« gesprochen wird. Ist es angemessen, in Bildern zu schwelgen, die Slumbewohner auf dem Weg in die Hobbe`sche Hölle zeichnen? Wird das ungesunde und pathologische Wachstum der Städte mit biologistischen Metaphern angemessen umschrieben?96 Und nähert sich das einprägsame Bild einer bedrohlichen Flut nicht einer unbewussten Rhetorik der Überflüssigkeit an? Solche Sprachkritik hat ihren Eigensinn. Sprache unterliegt vor­ bewussten Deutungen und schafft zugleich Realitäten, mit denen wir leben. Insofern bedarf es neben der praktischen Politik, die sich der materialen Situation und deren Veränderbarkeit widmet, einer Diskussion des emanzipatorischen Universalismus.

95 96

Ebd. S. 111. Ebd. S. 11, 16, 161.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

2. Die Politik der Würde: zwischen Umverteilung und Anerkennung Die geschilderte Situation in den Elendsbezirken der Welt ruft Empö­ rung hervor. Es sind Zustände, die die menschliche Würde bedrohen und den Menschen auf sein Überleben reduzieren. Das moralische Urteil, das diesen Zustand problematisiert, benötigt aber weitere Kategorien. Denn es geht in diesem Kontext zwar um existentielle Bedingungen, denen Andere ausgesetzt sind, zugleich geht es aber um Vorstellungen über Armut und Mangel. Armut kann als ein Zustand erfahren werden, als eine Situation des Entzugs und der Depriva­ tion. Sie ist insofern eine Form erlittener Gewalt, deren Ursachen, Bedingungen und Veränderbarkeit im Dunkeln bleibt. Von anderer Seite betrachtet ist sie aber auch ein dynamisches Geschehen, keine statische Größe, sondern ein Phänomen, das Formen der Bewertung und Wahrnehmung, der Aneignung und der Handhabung unterliegt. Es ist insofern ein Fehlschluss, von einer starren Linie auszugehen, die den Bereich der Armut und den Bereich der Subsistenz eindeutig trennt. Würde, Wohlstand, Gesundheit und Integrität sind vielmehr Kriterien, die sich erst im Miteinander vom Einzelnen und einer jeweiligen Umwelt erfassen lassen. Neue Vorstellungen über Armut haben sich erst in den letzten Jahren durchsetzen können. Das hat damit zu tun, dass die beschleu­ nigte Moderne mit einer Euphorie einher ging, die durchaus nachvoll­ ziehbar war. Das Versprechen auf Wohlstand und Wachstum hatte eine Plausibilität für spezifische Industriezweige; die Entwicklung moderner Staaten war im Ganzen auf Fortschritt angelegt, der nach und nach alle Erscheinungsformen der Armut entfernen würde. Dabei geht es hier gar nicht um die einschlägigen Diskurse um Neolibera­ lismus und Wachstumsideologien, sondern eher um die allgemeinen Vorstellungen über Armut und Notstand. Armut ist nicht dann schon besiegt worden, wenn ein bestimm­ tes Maß an Subsistenz erreicht worden ist. Natürlich ist eine leib­ lich/physische Ebene zu betrachten, der ein unbedingter Vorrang zu gewähren ist. Grundbedürfnisse des Menschen müssen befriedigt werden, was zunächst nichts anderes als das physische Überleben bedeutet. Aber mit einem Minimum an Ressourcen, die jedem Men­ schen im Idealfall zur Verfügung stünde, ist es eben nicht getan. Armut ist ein dynamisches Phänomen, das nur im Zusammenhang physischer und psychischer Grundbedürfnisse, sozialer Beziehungen

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2. Die Politik der Würde: zwischen Umverteilung und Anerkennung

und kultureller Einbettung zu verstehen ist. Es ist denkbar, eine Liste von Grundbedürfnissen aufzustellen, anhand derer man ein Leben ín absoluter Armut ablesen könnte; sinnvoll ist demgegenüber aber eine Relativierung einer je unterschiedlichen Situation gesellschaftlich bedingter Armut. Schon bei Adam Smith wird der Gedanke geäußert, dass es neben den notwendigen Gütern, die jedem als Garant des Überlebens zukommen sollten, weitere soziale und kulturelle Güter gibt, die es Menschen erlauben, ein Leben in Würde zu führen. Der Begriff der relativen Armut meint demgemäß das »relative Unvermögen, über die gleichen materiellen und immateriellen Ressourcen zu verfügen wie der Durchschnitt der Bevölkerung«97. Arm ist nicht nur derjenige, der um sein physisches Überleben kämpft, sondern jemand, der am Rande und nicht in der Mitte lebt – am Rande des sozialen Lebens, am Rande der kulturellen Produktivität, nicht zuletzt am Rande gesell­ schaftlicher Ankerkennung. Der Personenkreis dieser Formen der Armut umfasst bekanntlich den Arbeitslosen, die chronisch Kranken, geflüchtete Personen, Junge mit komplexen Entwicklungsstörungen oder Alte ohne Perspektiven; mithin jene Individuen, die als Moder­ nisierungsverlierer oder als Ausgeschlossene umschrieben werden. Zwei Menschenbilder sind zu unterscheiden, um diese Gedanken weiter zu führen. Das eine Menschenbild ist ein gleichsam klassisches – es verortet den Menschen in einem gesellschaftlichen Produktionsund Verteilungsgeschehen. Der Mensch »dient« in diesem Rahmen einer wirtschaftlichen Ordnung, die ohne Alternative ist. Er muss sich den Imperativen der Vergesellschaftung beugen, die das stetige Wachstum der Wirtschaft als das erste und einzige Mittel ansehen. Entwicklung, Fortschritt und Wohlfahrt gedeihen demnach auf dem Boden einer wachstumsorientierten Ökonomie – und der Mensch ist in dieser Ordnung ein legitimes Mittel zum Zweck. Das andere Men­ schenbild, das sich in den letzten Jahrzehnten als ernsthafte Alter­ native durchsetzen konnte, erkennt den Menschen als ein Wesen, das sich vor allem selbst entfalten sollte. Zur Selbstentfaltung, so

97 Phillip Lepenies: Armut. Ursachen, Formen, Auswege. München: C. H. Beck 2017, S. 106.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

kann man etwa bei A. Sen lesen, zählen nicht die Glücksgüter und Habensziele, sondern Fähigkeiten und Möglichkeiten98. Es handelt sich nicht um einen fertigen Entwurf, der sich auf jede Gesellschaftsform übertragen ließe oder gar eine neue Ordnungsform »erfindet«. Die Kritik am gegenwärtigen Modus des Wirtschaftens und Produzierens, aber auch des Lebensstils geht behutsamer vor: sie fragt nach dem Sinn in der Lebenswelt von Menschen, die sich nicht als Mittel zum Zweck verstehen wollen. Nicht die absolute Entfremdung in den Maschinenwelten der Neuzeit, sondern das kleine und große Unglück der Menschen im Kapitalismus steht im Zentrum dieses Ansatzes. Wie kann es Menschen gelingen, ihr Leben mit Autonomie, Sinn und Erfüllung zu verbinden? Es ist eine Orientierung im Denken, die wir bei vielen philosophischen Denkern nachempfinden können, die sich hier aber vorrangig nach der Autonomie des Selbstentwurfs richtet. Eine Entwicklung jedes Einzelnen wird dann denkbar, wenn sie in einem Horizont von Möglichkeiten eingebettet ist. Orientiert man sich systematisch an dem, was ein Mensch zur Entfaltung seines Selbst benötigt, rücken functionings und capabilities in den Mittel­ punkt. Eine bestimmte Schule besuchen zu können, einen Abschluss zu erreichen, seine Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken zu minimie­ ren, Respekt und soziale Integration genießen zu dürfen und nicht zuletzt gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten – es sind diese Aspekte, die das gute Leben erst hervorbringen. So einprägsam – und mittlerweile selbstredend – diese Begriffe auch erscheinen, so fördern sie doch ein neues Verständnis von Entwicklung zutage. Es sind Leitbegriffe und Ideen, die sich im Zusammenhang sozialer Professio­ nalität beherzt aufgreifen lassen. Wenn im Umgang mit Klienten nach den Bedingungen einer guten Arbeitsbeziehung gefragt wird, dann wird berechtigterweise nach den Mustern der Lebensweltorientierung gefahndet. Die erschwerte Lebenssituation wird in eine positive Per­ spektive gerückt: wie kann die Selbstentfaltung gefördert, wie können Möglichkeiten eröffnet und Beziehungen erweitert werden? Wie kann der Mensch in die Lage versetzt werden, sich aus den Bedingungen der Armut zu befreien und Wahlmöglichkeiten zu erkennen, die ihm unvertraut, wenn nicht sogar unmöglich erscheinen? 98 Amartya Sen: Development as Freedom. New York: Knopf 1999; Ders.: Social Exclusion: Concept, Application and Scrutiny. Social Development Papers NO. I. Manila: Asian Development Bank 2000.

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3. Vom Begriff der Armut zur sozialen Ausgrenzung

Wie man schnell erkennt, fällt die normative Übersetzung der Politik der Würde in eine Handlungsperspektive leicht. Man möchte gleichsam glauben, dass die Leitbegriffe der Würde, Autonomie und Freiheit aus einer verengten Perspektive hinausführen. Die Gefahr der Vereinseitigung ist freilich nicht von der Hand zu weisen. Unabweis­ bar bleibt die Konfrontation mit der nüchternen gesellschaftlichen Wirklichkeit und in dieser die tausendfach wiederholte Realität der Ausgrenzung und Marginalisierung. Dies wiederum ist nicht als Einspruch gegen die geschilderte Theorie der Verwirklichung zu verstehen, sondern als eine notwendige Ergänzung. Denn sowohl die Orientierung an dem, was Menschen in die Lage eines selbst­ bestimmten Lebens versetzt, als auch die kritischen Aspekte der faktischen Desintegration müssen zusammengelesen werden. Erst in der Synthese erreicht man einen neuen Begriff der Armut, der alle Vektoren der Ausgrenzung erfasst.

3. Vom Begriff der Armut zur sozialen Ausgrenzung Welche Probleme sind indes als die gravierendsten zu bezeichnen? Sind es die Formen der sozialen Desintegration, die sich mal unbe­ merkt, dann wieder in aller Offenheit in den Lebenswelten der Moderne einnisten? Oder sind es, wie die jüngsten Auseinander­ setzungen um Rassismus vermuten lassen, die Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund zugeschriebener Andersartigkeit? Wer so fragt, scheint sich einer falschen Alternative zu beugen. Denn es handelt sich ja offensichtlich um zwei Phänomene, die einen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen, in der wir leben. Tatsächlich ist damit aber an Erkenntnis nicht allzu viel gewon­ nen. Eine genauere Inspektion dessen, was mit Ungleichheit und Ausgrenzung angedeutet wird, ist erforderlich. Die Schwierigkeit liegt in dem Standort begründet, von dem aus man die Phänomene meint beurteilen zu können. Daher muss die normative Einordnung einen Vorrang erhalten. Diskriminierung hat viele Ausdrucksformen, um Andere als Nichtdazugehörige auszugrenzen. Als Erfahrung, die manche mit aller Härte machen müssen, muss sie thematisiert und eben nicht verharmlost werden. Diskriminierung ist Gewalt – und die Gewalt der Gesellschaft fängt eben schon dort an, wo sie als Leug­ nung, Herablassung, Missachtung und Verharmlosung erscheint. Diesen Standpunkt kann man aber durchaus einnehmen, um im

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

gleichen Maße auf die Schwere der sozioökonomischen Benachteili­ gung hinzuweisen. Das eine schließt trivialerweise das andere nicht aus; vielmehr nimmt die Ungleichheit in der Klassengesellschaft größeren Raum der kritischen Soziologie ein – ohne den Gedanken der ethnischen, kulturellen oder anderweitigen Zentrierung aus den Augen zu verlieren. In eine praktische Forschungsperspektive übersetzt heißt dies nichts anderes als nach den Chancen zu fragen, die einzelnen Grup­ pen und besonders Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrun­ gen verwehrt bleiben. Der Rassismus beginnt bereits dort, wo die Unterschiede überschrieben und kategoriale Andersartigkeit unter­ stellt wird. Die Homogenität der Anderen – als Nicht-Deutsche, Nicht-Europäer, usw. ist eine Unterstellung ohne Bodenhaftung. In der Wirklichkeit begegnen sich Individuen mit ihren sozialen und kulturellen Geschichten, die so vielfältig sind wie alle Lebensver­ läufe. Das verbindliche Merkmal ist nicht das Anders-Sein, sondern etwas Unverfügbares, etwas, das sich der oberflächlichen Kategorisie­ rung entzieht. Demgegenüber kann man auf Benachteiligungen von Menschen verweisen, die sichtbar und konkret die Lebenslage eines Menschen einengen. Die älteren Begriffe haben demnach nichts von ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren. Noch immer, so könnte man ver­ einfachend sagen, bedingen Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Armut und Deklassierung das Leben am Rande der Gesellschaft. Noch immer entscheidet der berufliche und sozioökonomische Status der Eltern über den kommenden Bildungsweg und noch immer lassen sich pri­ vilegierte und unterprivilegierte Schichten unterscheiden. Mit guten Gründen beharren Sozialforscher in diesem Zusammenhang auf ein Großthema, das doch zu selten im Mittelpunkt steht99. Philosophisch betrachtet hat man es mit der »Anatomie eines falschen Gegensatzes«100 zu tun. Umverteilung und Ankerkennung, schreiben Axel Honneth und Nancy Fraser, bezeichnen einander fremde Standorte der Sozialtheorie. Die einen setzen die Politik David Reimer/Reinhard Pollak: Educational Expansion and its Consequences for Vertical and Horizontal Inequalities in Access to Higher Education in West Germany. In: European Sociological Review, Vol. 26, No. 4, 2010, S. 415–430, Christoph But­ terwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Frankfurt/New York: campus 2012. 100 Axel Honneth/Nancy Fraser: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 21. 99

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3. Vom Begriff der Armut zur sozialen Ausgrenzung

der Umverteilung mit klassenbezogener Politik gleich, die anderen schlagen der Identitätspolitik den Vorrang zu. Beide Perspektiven bezeichnen eigenständige Aspekte sozialer Gerechtigkeit, die in einem gemeinsamen Rahmen erfasst werden sollten. Die Wende zum Begriff der Anerkennung meint die Integration des nur scheinbaren Gegensatzes. Klassen, die sich der Ausbeutung in prekären Verhältnissen ausgesetzt sehen, sind ein virulentes Prob­ lem der Moderne. Die älteren Konzepte des Marxismus haben ihr Eigenrecht, insofern sie auf die Existenz von »Überflüssigen« und »Deklassierten« hinweisen. Es handelt sich um Gruppen, die etwa »als Rekrutierungspool für schlechtbezahlte niedere Dienstleistungen«101 behandelt werden oder die durch unzureichende Versorgungsleistungen in Not geraten. Diese Gruppen standen bekanntlich im Zentrum der Arbeiterkämpfe im 19. Jahrhundert, so wie es gegenwärtig Ausbeutung von Arbeits­ kräften im Namen der herrschenden politischen Ökonomie gibt. Als eine Erweiterung ist dementsprechend die Kategorie der Anerkennungsbeziehung zu verstehen, die keineswegs an der geschil­ derten Realität vorbei führt. Wir haben es mit zwei Auffassungen von erschwerten Situationen zu tun: Ausbeutung in unwürdigen oder minderbezahlten Arbeitsverhältnissen, Verarmung und Mangellage schließen sich zu einer Situation zusammen, aus der man schwerlich ohne Fremdhilfe herausgelangen kann. Demgegenüber sind weitere Ungerechtigkeiten zu vergegenwärtigen, die einen kulturellen Hin­ tergrund haben und tief in die Repräsentations- und Kommunikati­ onsmuster einer Gesellschaft eingeschrieben sind. Warum sollte es sich nun bei diesen Bedingungen um kategorial getrennte Zusam­ menhänge handeln? Die Theorie der Anerkennung zielt auf die Integration dieser Herangehensweisen. Die Dominanz einer Erzählung lässt sich schwer rechtfertigen, wenn man die konkreten Lebenssituationen der Men­ schen ins Auge fasst. Wenn man sich die Mühe der genauen Intro­ spektion macht, dann wird man ökonomische Abhängigkeitsverhält­ nisse und feindselige Interaktionen, reale Entfremdung in prekären Lebenslagen und ebenso reale Demütigungen und Abwertungen erkennen. Vorenthaltene Anerkennung als »Fremder« oder »Ande­ rer« wird erst im Horizont der gesellschaftlichen Ungleichheit sinn­ voll zu erfassen sein. Die entscheidende Frage ist darüber hinaus, 101

Ebd., S. 25.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

welche Konsequenzen sich für moderne Gesellschaften ergeben und inwiefern diese von der Moralphilosophie begründet werden können. Diese Aspekte würden uns demnach tief in das Denken der Gerech­ tigkeitsphilosophie hineinführen. Hier können freilich nur Andeutungen gemacht werden. Eine moralphilosophische Konzeption der Gerechtigkeit umfasst die berechtigten Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit wie auch die Verbesserung von Anerkennungsverhältnissen. Dieses morali­ sche Fundament kann in der Theorie bereitgestellt werden; wie es sich unter bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse verwirklichen lässt, ist aber eine Frage der Gesellschaftstheorie. Mit welcher Gesellschaft man es dann aber zu tun hat, ist schein­ bar eine Frage des Blickwinkels. Die Titel, was unsere Gesellschaft ausmacht, sind vielfältig und schaffen eine neue Unübersichtlichkeit. Wir leben demnach in postmodernen, postindustriellen Verhältnis­ sen, haben gleichsam multiple Optionen, aber auch Risiken zu ver­ gegenwärtigen, müssen mit Singularisierung, Externalisierung und Desintegration rechnen. Die Eigenschaften dieser Gesellschaftsform scheinen sich nur dann erträglich zu gestalten, wenn man an die politischen Aufgaben erinnert. Die bestehenden Trennlinien zwischen Schichten und Klassen, klassifizierten Gruppen, Einheimischen und Fremden, Marginalisierten und Privilegierten können nur dann auf­ gehoben werden, wenn sie durch demokratisches Engagement von unten bearbeitet werden – in der Gestalt einer Politik, die Aner­ kennungsmuster und Umverteilung als Aspekte eines Zusammen­ hangs erkennt.

4. Eine große Transformation? Gegenwärtig ist ein Fortschritt im Denken über die Kategorie der Armut zu verzeichnen, der verschiedene Gesichtspunkte aufweist. Es ist kein grundsätzlich neues Verständnis, das wir über die Situa­ tionen des Mangels erworben haben, sondern ein verfeinertes und differenziertes. Es muss genauer hingeschaut und analysiert werden, wovon genau zu sprechen ist, wenn Armut thematisiert wird. Die abschließenden Gedanken fassen die bisherigen Konzepte zusammen und bündeln sie in die Richtung der internationalen Sozialen Arbeit.

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4. Eine große Transformation?

Sowohl die philosophische Wende hin zum Anerkennungsbe­ griff als auch die Orientierung am Paradigma der Verwirklichung zeigen den Maßstab an, um des es gehen muss. Armut als rein objektives Faktum bleibt kurzatmig, weil damit wesentliche Gesichts­ punkte einer erschwerten Situation aus dem Blick geraten. Das Urteil einer objektiven Armut, in der die Mehrheit der Weltbevölkerung gefangen ist, hat den Nachteil der Vereinseitigung. Eine rein monetäre Armutsdefinition zum Beispiel ist problematisch, weil sie ausschließ­ lich vom Wohlfahrtsstandort des globalen Nordens aus verfügt wird und einseitig Geld und Einkommen in den Mittelpunkt rückt. Im Entwicklungsdiskurs, der auf eine Tradition von mehreren Jahrzehn­ ten zurückblicken kann, werden Vorstellungen der absoluten Armut aktualisiert, die sich auf unerfüllte Bedürfnisse konzentrieren. Die Armen jenseits des hellen Zentrums der Moderne wären deswegen »arm«, weil sie die finanziellen und materiellen Habenziele nicht erreichen, die für »westliche« Vorstellungen zentral sind102. Nun ist es ein Leichtes, vom Standpunkt des Privilegierten zu behaupten, dass man ohne Geld ebenso glücklich werden könne. Aber der entscheidende Punkt liegt doch eher in der Eröffnung einer Alternative im Denken. Der erwähnte Befähigungsansatz von Armatya Sen führt in diese Richtung. Der offene Blick für die Verwirklichungsperspektiven und Befähigungen ist weniger materialistisch; man fragt nicht alleine nach der Höhe des Einkommens oder der zur Verfügung stehenden mone­ tären Mittel, sondern nach einer spezifischen Lebenslage, aus der heraus man Entwicklung entfalten kann – oder daran gehindert wird. Freiheit heißt in diesem ebenso realen Sinne: Eröffnung von Verwirk­ lichungsmöglichkeiten durch und mit sozialen Strukturen. Politische Freiheiten und die Bedingungen des Tausches, Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit wirken zusammen. Solche instrumentellen Formen verweisen natürlich auf fassbare und zählbare materielle Güter, aber sie sind vorrangig in einer dynamischen Sichtweise richtig verstanden. Sie erweitern den Blick auf Gruppen in verschiedenen Regionen und Lebenswelten, in denen die Aspekte der Gesundheit, Wolfgang Sachs: Zur Archäologie der Entwicklungsidee. Acht Essays. Frankfurt am Main: IKO Verlag 1992; Ders.: Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik. Reinbek: Rowohlt 1993; dagegen: Angus Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Stuttgart: Klett Cotta 2017. 102

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

eines »guten Lebens«, aber auch die Bedingungen des Wohnens, Lebens und Arbeitens nicht von außen beurteilt werden können. Mit diesem Perspektivwechsel ändern sich zugleich die Koordi­ naten der Entwicklungspolitik, ohne dabei weniger kritisch zu sein. Die koloniale Vergangenheit und die Gegenwart, die gern unter dem Stichwort des Postkolonialismus verhandelt wird, ergeben ein neues Panorama der weltweiten sozialen Ungleichheit. Die koloniale Ver­ gangenheit hat ihre Spuren in den jeweiligen Regionen hinterlassen. Ronald Lutz fasst die Situation auf die Einsicht zusammen, dass die eigentlichen Ursachen von Armut und Hunger dann in den Blick kommen, wenn diese in ihrer aktuellen Form als das »Ergebnis von Kolonialismus, Imperialismus, globalem Kapitalismus und interna­ tionaler Politik« betrachtet werden103. Das kritische Denken von dieser Position aus verweist in ver­ schiedene Richtungen der Disziplin der Internationalen Sozialen Arbeit. Insgesamt ist der globale Bezug der Sozialen Arbeit neu zu denken. Das Denken in nationalstaatlichen Kategorien bleibt problematisch, weil somit ein starrer und einseitiger Rahmen für die Vielschichtigkeit der globalen Lebensverhältnisse zugrunde gelegt wird. Die Aspekte der Externalisierung, der Urbanisierung und der Entwicklungsförderung benötigen neue Wahrnehmungen. Externalisierung – dieser sozialtechnologisch klingende Begriff vollzieht den ebenso notwendigen wie schmerzhaften Blick in den Schatten der globalen Moderne. Externalisiert werden, so Stephan Lessenich, die Folgekosten der kapitalistischen Wirtschaftsform. Das Gefälle zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden hat viele Ursachen und Verläufe; aber nichts führt wohl an einer nüchternen Analyse der globalen Ungleichheit vorbei. Wir leben auf Kosten der Anderen, so Lessenich, ganz einfach, weil der Wohlstand der einen die Ausbeutung der Anderen ist104. Lassen sich die Dinge mit diesen einfachen Unterscheidungen erfassen? Die Zusammenhänge sind ja bekannt und werden auch von niemandem bestritten: die Beziehungen zwischen Nord und Süd sind das Produkt der kolo­ nialen Vergangenheit und den resultierenden Abhängigkeiten. Die strukturellen Gewaltverhältnisse werden durch Flüchtlingsströme und Landnahme verdeutlicht, während aus der »Positionierung vieler Ronald Lutz: Armut. In: Wagner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 105. Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaf und ihre Praxis. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 25. 103

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4. Eine große Transformation?

Weltregionen zu Rohstofflieferanten wirtschaftliche Abhängigkeit, ökologische Verwüstung und soziale Verwerfung« resultieren105 . Dieses Bild wird abgerundet durch Schübe der Urbanisierung in den Entwicklungsländern. Dort bilden sich, wie gezeigt, neue Territo­ rien zwischen Armut und Wohlstand; »gated communities« auf der einen Seite und Slums auf der anderen Seite. Der Begriff der Festung erhält eine neue Konnotation: er steht für die Selbsteingrenzung neuer Eliten, die sich gegen die Anderen mit den neuesten Techniken abschotten; er steht aber ebenso für die Tendenz der großen Regres­ sion. Nicht nur wendet sich etwa Europa gegen Nordafrika, sondern die Nationalstaaten generell versuchen, Mauern wieder zu errichten und ihre (längst entschwundene) Souveränität wiederherzustellen – oder sie zu inszenieren106. Währenddessen entfaltet sich die Armut in den Megacities mit rasanter Geschwindigkeit – und führt zu endemischen Entwicklungen, massenhafter Beschäftigungslosigkeit, aber auch zur Abdrängung der ärmeren Schichten in unwirtliche und gefährliche Regionen. Diese Entwicklungen geben offensichtlich wenig Anlass zu Opti­ mismus. Die alt-neue Frage, wie sich das Gefälle zwischen arm und reich mit den Mitteln der kapitalistischen Wirtschaftsform überwin­ den ließe, führt in Sackgassen, bzw. zu nicht weiter auflösbaren Widersprüchen. Erwähnt sei aber zuletzt, dass auch hier die Stim­ men lauter werden, die ein Umdenken einfordern. Das Paradigma der Unterentwicklung steht auf dem Prüfstand. Denn der Blick des globalen Nordens auf die Armut des Südens meint ja zuerst die Fixierung des Anderen auf das Defizitäre und Unfertige, ohne die jeweiligen Besonderheiten und spezifischen Entwicklungsperspekti­ ven einer Region zu beachten. Anders formuliert: die längste Zeit dominierte das Narrativ der klassischen Entwicklungshilfe. Diese ging davon aus, dass unterentwickelte Regionen aus dem Elend zu befreien wären – mit Hilfe jener Wachstumsideologien, die die erste Moderne hervorgebracht hatten. Jenseits der Dichotomie von Entwicklung und Unterentwicklung wird aber der Imperativ des Wachstums mehr und mehr in Frage gestellt. Die Verbesserung der Verhältnisse können sich aber erst dann einstellen, wenn der Blick vom Paradigma des unilinearen Fortschritts wegführt. Neben den industriegesellschaftli­ Lutz 2018, S. 106. Wendy Brown: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souverä­ nität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018.

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IV. Armut im 21. Jahrhundert

chen Komplexen der ersten Moderne bestehen weitere Formen der Modernität, die sich nicht auf die Vorstellungen der ersten reduzieren lassen. Dass diese »multiplen Modernities«107 auf die Förderung der Menschenrechte, Bildung, Gesundheit und Versorgung angewiesen sind, steht außer Frage. Die globalen Partnerschaften für Entwicklung basieren aber eben nicht auf der allein selig-machenden Idee des Wachstums, sondern sie versuchen an den lokalen und indigenen Traditionen des Wissens und des Wirtschaftens anzuknüpfen. Eben hier ist dann auch der Ort der internationalen Sozialen Arbeit, die sich auf die Suche nach Alternativen des »Post-Developments«108 begibt.

Shmuel N. Eisenstadt. Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist: Velbrück 2011. Amar Ziai: Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 60, S. 23–29, 2010. 107

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Zweiter Teil: Die ethische Dimension: Bruchlinien, Kontroversen, Krisen

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

Einleitung Es fällt schwer, die bisherigen Reflexionen in präzisen Aussagen zu bündeln. Es deutet sich gleichwohl ein fundamentales Thema an: die Angewiesenheit des Menschen auf seinesgleichen in Sorgeverhältnis­ sen. Gegen diese Sorge steht Gewalt in allen Schattierungen. Sie wird in sozialtheoretischer Tradition mit dem Terminus des Krieges verbunden. Krieg nicht nur als militärische Konfrontation, sondern als ontologisches Verhältnis. Müssten wir also angesichts der bekannten Gewaltgeschichte mit ihren unzähligen Opfern dem antiken Philosophen Heraklit rückwir­ kend zustimmen, als er die These von der universellen Vaterschaft des Krieges aufstellte? Ist dem dunklen ionischen Dichter dorthin zu folgen, wo er in der Entzweiung und in der konkreten Auseinan­ dersetzung eine ontologische Kraft vermutete, die nicht zu leugnen ist? Martin Heidegger war möglicherweise der letzte Philosoph der Neuzeit, der sich dieser dunklen Materie zuwendete, aber seine Philosophie taugt nicht, wie wir heute wissen, für eine Überführung in politische Sphären109. Heraklit hatte das Bewusstsein für den alles umfassenden Krieg geöffnet, er sah den Krieg als Vater aller Dinge, als den Herrscher und Erlöser, Schöpfer und Gestalter in einer Welt zwischen Göttern und Menschen, Sklaven und Freien. Es sind fremde, verstörende Gedanken einer entfernten Zeit. Der Krieg – schöpferisch in seinem Wesen. Seine Erscheinung – voller Erhabenheit und Größe. Seine Stellung im Leben der Menschen – noch vor aller menschlichen Verfügungsmacht gestellt. Krieg sei bedeutsam, herausragend aus

109 Heraklits Werk ist nur in Fragmenten erhalten und doch gibt es Aufschlüsse über das Erwachen einer abendländischen Philosophie jenseits mythischer Erzählungen. Heraklit v. Ephesos. Fragmente. Griechisch und Deutsch, hg. v. Bruno Snell. Zürich: Artemis und Winkler 2007.

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

allem, zugleich Ausdruck einer polemischen Spannung und des wir­ kenden Logos. Ein dunkles Denken, für moderne Beobachter rätselhaft und fremd. Es lässt sich nicht in moderne Kategorien übersetzen. Gleich­ wohl ist es ein Denken, das nicht stillsteht und sich nicht abweisen lässt wie eine veraltete Gedankenfigur. Eine Philosophie, die den Krieg als Ausdruck des Werdens und Vergehens erkennt, ist natür­ lich nicht unabhängig von Zeit und Raum zu betrachten. Die Zeit zwischen 535 und 475 v. Chr., in der Heraklit lebte, stand im Zeichen eines überdauernden Konflikts. Das altpersische Achämidenreich hatte den gesamten Orient seiner Expansionspolitik unterworfen und die Perserkriege waren insofern mehr als nur eine Episode in der Kriegsgeschichte Europas. Sie bedeuteten eher eine existentielle Kon­ frontation, ein Ringen um Vorherrschaft zwischen gegensätzlichen politischen Systemen. Welcher Art die Gewalt ist, die Heraklit umgetrieben hat, dies steht in Frage. Eine Vielfalt von Gewaltformen böte sich an, um den Unterstellungen des ionischen Philosophen nahe zu kommen. Eine prägnante Linie verweist auf den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Menschen, auf die dunklen Seiten des Anthropos. Nur im Widerstreit, so lehrten es die archaischen Mythen und religiösen Erzählungen, wären die Menschen miteinander verbunden. Nur in der Entzweiung des Menschen mit seinesgleichen schien sich eine Gewissheit zu verbürgen, auf die sich die Dichter und Philosophen berufen konnten. Was bei Heraklit demnach als archaische Sozialon­ tologie erdacht, wäre bis hin zur Neuzeit in immer neuen Varianten bestätigt worden: im Schrecken des antiken Bürgerkrieges, in der Form des religiösen Furors, im Gegeneinander der Ideologien. So sehr sich die Theorie des Krieges von ihren grundlegenden Voraussetzungen gewandelt hat, so ist ein Grundgedanke nicht von der Hand zu weisen. Der Krieg begleitet die Menschen durch die Geschichte, er ist der ewige Gast der internationalen Beziehungen. Die Formen des Krieges wie auch die Bedingungen möglichen Frie­ dens sind weit vorangeschritten; aber die Entzweiung durch die Gewalt bleibt konstant. Heute wird der Krieg natürlich nicht mehr vom philosophischen Standort aus begrüßt, sondern er wird sprach­ lich eingehegt. Er kann unterschiedliche Titel bekommen, darunter den des Bruchlinienkonflikts. Eine ältere, mittlerweile revidierte Theorie gab den gegenwär­ tigen und zukünftigen Auseinandersetzungen der Moderne einen

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Einleitung

zwiespältigen Namen: Kampf der Kulturen110. Die Weltpolitik der kommenden Jahrzehnte, so schrieb Samuel Huntington am Ende des vergangenen Saeculums, werde vermutlich auf einen Zusammen­ prall von Kulturräumen hinauslaufen; nach den weltumspannenden Konflikten zwischen Ost und West, nach den ideologischen und tota­ lisierten Kriegen des 20. Jahrhunderts erwartete Huntington einen Zustand permanenten Ringens zwischen Kulturen. Nicht wenige Aspekte dieser umstrittenen These sind bei aller berechtigten Kritik noch heute zu berücksichtigen: die Widersprüche und Brüche der Pax Britannica und der Pax Americana, die umstrittene Position des Westens, der sich als ein Hort universaler Werte missversteht oder die weiterhin schwelenden Konflikte des religiösen Fundamentalismus. Es sind Aspekte, die jede Konfliktanalyse vor diffizile Aufgaben stellt und kaum auf der Höhe eines alles umfassenden Satzes zu lösen ist. Bruchlinienkonflikte sind in diesem Sinne kriegerische Ausein­ andersetzungen innerhalb oder zwischen Staaten, die sich auf Kern­ staaten und Beteiligte, auf Bündnisse und kulturelle Verwandtschaf­ ten hin ausweiten können. Die Politik der Macht würde sich in diesem geopolitischen Szenario der alten Schlangengrube anähneln, die sie in früheren Zeiten war. Der ungetrübte Blick auf das Antlitz der zeitgenössischen Konflikte wird diese Beschreibungen nicht weit von sich weisen. Gleichwohl ist ein Gedanke aufzugreifen, der zunächst beim Begriff der Bruchlinie verbleibt und ihn aus den engen kulturalisti­ schen Angeln hebt. Zum Antlitz unserer Zeit zählen Konflikte, die weit entfernt vom Szenario des Kulturkampfs sind. Die Bruchlinien unserer Zeit sind vielfältig und komplex, sie erschöpfen sich nicht in den gängigen Unterscheidungen – weder im Gegeneinander von Fundamentalismus und Moderne111, noch im Wandel von alten zu neuen Kriegen112, noch in den Formeln von kulturellen, religiösen oder hegemonialen Kriegen. Welche Art eines Bruchlinienkonflikts ist folglich noch zu beden­ ken? Historisch betrachtet hat die Gewalt immer mit Brüchen zu tun; Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Hamburg: Spiegel-Verlag 2006. 111 Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der Kampf der Kulturen. München: Beck 2001; Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München: dtv 2010. 112 Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist: Velbrück 2006. 110

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

die Frage ist, an welchem Ort man eine solche Zerrissenheit vermutet. Die naheliegenden Antworten richteten sich auf den Menschen selbst, der, anders als es Aufklärung und Philosophie erwarten ließen, in den Kriegen der Neuzeit seine bellizistische Natur zu erkennen gab. Der erste Weltkrieg galt als erster definitiver Bruch, in dem sich ein abgründiger sittlicher Mangel nachweisen ließ. Eine weitere, höchst umstrittene Linie wurde bekanntlich zwi­ schen ethnischen Gruppen gezogen. Ethnien unterliegen in diesem Bild einer verführerischen Vereinfachung: sie sind für naheliegende Konstrukte geeignet, weil sie die erwähnte Unversöhnlichkeit mit starken Suggestionen verbinden: wenn etwa »uralte« Fehden wieder­ geboren werden oder vererbte Gegensätze, die so lange verschüttet waren, wieder »hervorbrechen«. Der Konstruktionscharakter des ethnischen Konflikts ist bezwei­ felt worden, ohne endgültig verabschiedet worden zu sein. Denn nach wie vor virulent erscheinen gegenwärtig politisierte und symbolische Grenzziehungen, die eine scharfe Linie zwischen uns und die Anderen ziehen. Die Orientierung an Kultur und Ethnie bleibt ein Mittel, um die anthropologisch tiefreichende Verunsicherung des Menschen einordnen zu können. Der Mensch bleibt demnach ein Wesen, zu dessen Überleben Zugehörigkeit und Verortung, Identität und die Grenze gehören. Ob man nun den Riss im Menschen selbst verortet oder in den Linien zwischen den kulturellen und sozialen Formationen – die Frage steht im Raum, inwieweit es sich um einhegbare oder unaufhebbare Konflikte handelt und zwischen welchen sozialen Einheiten denn nun faktisch diese Konflikte bestehen. Die Antworten fallen je nach sozialtheoretischem Interesse unterschiedlich aus. Die normative Antwort hingegen kann durchaus einvernehmlich betrachtet werden: nichts führt an der Notwendigkeit vorbei, angesichts bestehender Konfliktformen Wege aus der Gewalt aufzuweisen, die dem Verdacht der Unversöhnlichkeit widerstehen. Nichts führt an der schlichten Plausibilität vorbei, die große Erzählung der Entzweiung als eine offene, unabgeschlossene Geschichte zu betrachten und zu gestalten. Dazu freilich müsste man die Bedingungen genauer in Augenschein nehmen, unter denen die Konfrontation voranschreitet; man müsste aber auch das »Wesen« solcher Konflikte in allen möglichen Erschei­ nungen beleuchten. Die gängige Lesart, um Konflikte zu verstehen, besteht bekannt­ lich in der schroffen Abgrenzung: topografisch wird bestimmt, »wo

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1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt

man steht«, identitär wird definiert, »wer man ist«113 und polemisch wendet man sich der Unvereinbarkeit zwischen alter und ego zu. In der Konsequenz werden Lebensformen einander entfremdet, ent­ fernen sie sich nicht nur in historischer und kultureller Dimension. Der Widerstreit schlägt in pathologische Formen um114. Um welche Formen genau es sich handelt und unter welchen Bedingungen ein faktischer Widerstreit aufrecht erhalten wird, dies wäre hier zu fragen. Zwischen den neuen und den alten Bruchlinien finden sich Differenzen und Kontinuitäten, Gemeinsames und Trennendes. Neu­ artige Bruchlinien liegen zwischen Vergangenheit und Gegenwart: als Bruchlinie der erlittenen Gewalt (1); als Widerstand gegen Auto­ rität und Überlieferung (2) und schließlich in der Grenze zwischen Gewalt und Vernunft (3). Gemeinsam ist diesen Unterscheidungen, dass sie sich nicht auf soziale Lebensformen an sich zurückführen lassen, sondern eher nach den Bedingungen fragen, unter denen diese Lebensformen einander begegnen.

1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt Der erste Bruch liegt dort, wo man ihn vielleicht nicht vermutet: in der Hinwendung zur Vergangenheit. Eine neue Art von Historikerstreit verdeutlicht die Problematik auf der Oberfläche; was hinter den Miss­ verständnissen und kommunikativen Engführungen steht, verweist auf einen tiefergehenden Bruch, den man nur anthropologiekritisch entschlüsseln kann. Die Erzählungen von kolonialer Gewalt sind erschütternd in mehrfacher Hinsicht: sie beschreiben Formen erlittener Gewalt, die schwer zu begreifen sind. Viele Stimmen sind nicht mehr zu hören und nicht wieder zu beleben; viele einzelne Begebenheiten sind nicht mehr nachzuverfolgen. Die große Geschichte des Unrechts ist aufzuklären, sie ist ein höchst legitimer Forschungsgegenstand; aber die vielen einzelnen Episoden bleiben der Vergangenheit überantwortet. Die Dunkelheit der vergangenen Gewaltgeschichte wird man insofern 113 Burkhard Liebsch: Lebensformen zwischen Widerstreit und Gewalt. Zur Topo­ grafie eines Forschungsfeldes im Jahr 2000. In: Burkhard Liebsch/Jürgen Straub (Hg.): Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften. Frankfurt/New York: Campus 2003, S. 13 – 47, hier S. 18. 114 Liebsch/Straub 2003; Burkhard Liebsch: Zerbrechliche Lebensformen. Wider­ streit-Differenz-Gewalt. Berlin: Akademie Verlag 2001.

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

nicht endgültig erhellen, was bereits ein Argument für kritische Aufklärung sein kann. Insofern steht man als argloser Beobachter jenen Diskursen gleichsam ratlos gegenüber, die als Gelehrten- oder Historikerstreit nur unzulänglich umschrieben werden. Im Horizont der postkolonia­ len Aufklärung werden Fronten aufgebaut, die unnötig erscheinen: Kolonialismus und Säuberungswahn, Apartheid und Gewaltherr­ schaft sind keine abgeschlossenen Kapitel einer längst überwundenen Gewaltgeschichte, sondern bestehende Wunden, die verhindern, dass sich Vergangenheit und Gegenwart zusammenschließen. Achille Mbembe, in Südafrika lebender Vordenker der Dekolo­ nisierung, entfaltet in seinem Werk ein Denken, das sich um eben jene Verletzungen dreht. Fundamentales Motiv ist hier, wie bei vielen anderen Intellektuellen des postkolonialen Denkens, die Geworden­ heit der gegenwärtigen Welt. Ein emanzipatorisches Denken, das sich gegen die radikale Trennungsarbeit wendet, die bekanntlich das Gesicht des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Zu dem emanzipatorischen Entwurf zählt freilich auch ein strenger Blick in die Gegenwart, in der koloniale Erbschaften fortgeführt werden. Dieser Blick iden­ tifiziert das Übel in der Welt, wie es sich im Umgang mit Vergan­ genheit, brutaler Repression oder sprachlicher Gewalt auszeichnet. Der eigentliche Streitpunkt aber entzündet sich an der Form, in der man solcher, nicht-sein-sollender Gewalt entgegen tritt. Der Vorwurf des Antisemitismus-Beauftragen der Bundesrepublik lautete freilich, dass spezifische Textstellen genau diese Form nicht erfüllen, wenn Mbembe sich explizit gegen den Staat Israel wendet. Vordergründig scheint es sich um politische Zuspitzungen zu handeln, die man im Nachhinein verbessern kann115 (und auch vom Autor in Interviews zurecht gerückt werden). Hintergründig geht es aber wohl um mehr als nur eine anfechtbare Position eines Intellektuellen. In Frage steht offensichtlich das Verhältnis, das verschiedene Kulturen in Bezug auf ihre gewaltsame Vergangenheit in einem gemeinsamen Raum haben. Deutliche Worte findet Mbeme in einem Text namens »On palestine« (erschienen in: Sean Jacobs (Hg.): Apartheid Israel: The Politics of an Analogy, Haymarket books 2015): Die Besetzung Palästinas sei der größte moralische Skandal unserer Zeit – die realpolitische Forderung zielt auf die globale Isolation des Staates Israel. Die Frage, ob die Grenze zwischen legitimer Kritik und antisemitischer Tendenz hier deutlich überschritten würde, wurde freilich von Seiten der Kultur- und Literaturwissenschaft nicht eindeutig beantwortet. Siehe: https//:www.deutschlandfunkkutlr.de/aleida-as smanan-und-susan-nieman-zur-causa-mbembe-die-welt.974.dehtml?dram.article-i d=475512. 115

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1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt

Mbembe verlegt diesen Bruch mit dem universalistischen Ethos in den Kern Europas. Europa ist demnach eine Gestalt mit chan­ gierendem Antlitz. Es zeigt das Gesicht der Suprematie: nur hier könne sich die unverwechselbare und einmalige Vernunft in die Welt einschreiben; nur hier ließe sich das menschliche Wesen in seiner ursprünglichen Dignität erkennen. Husserl und Valery nennt Mbembe als die Kronzeugen jenes exzellenten Europas, das sich als Verkörperung des Universellen versteht116. Wie aber verhält sich dieses Europa als Hort des Friedens und der Vernunft zu seinem Anderen, wie zu allem, was sich der vereinnahmenden Vernunft nicht beugen will? Europas anderes Gesicht: das Fremde. Es kann sich als Bedrohung erweisen, insofern es an die Grenzen des Eigenen herantritt und sich als das Andere der Vernunft ausweist; es ist aber auch im Herzen Europas selbst zu finden. Alterität ist bekanntlich eine Bezeichnung für das Andere, das sich nicht auf die eigene Identität zurückführen lässt. Aber es lässt sich auch als Alteration der Identität verstehen, als ein Moment der Selbstentfremdung. Dieser Moment der Entfremdung und Entzweiung ist bedeut­ sam, weil er zugleich eine Bruchlinie des europäischen Prinzips ausdrückt. Die einen sind den Anderen aufgeschlossen, sie umarmen das Fremde und ziehen es in den engeren Kreis der universellen Zugehörigkeit – eine Geste, die hinreichend kritisiert wurde117. Die Anderen aber finden zurück zu jener eindeutigen Geste der Abwei­ sung und des Widerstreits, mal mit dem Rückhalt der Rationalität, mal mit radikalen Mitteln der offensiven Verkennung der Anderen118. Es zählt zu den Vorzügen des postkolonialen Denkens, das Sen­ sorium für alle Spielarten der Gewalt zu schärfen, auch für die subtile­ ren und dunkleren Formen. Der Bruch innerhalb einer Gemeinschaft ist einerseits prägnant: er führt in eine Vergangenheit, in der man noch eurozentrisch sein »durfte« und zugleich in eine Gegenwart, in der neue Grenzen gezogen und neue Bedrohungen konstruiert werden. Zu den Motiven des postkolonialen Denkens zählt aber auch die Erschließung der Gewaltsamkeit, die erfahren wird. Der Horizont 116 Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisier­ tes Afrika. Aus dem Französischen von Christine Pries. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 91. 117 Jan Patocka: L`Europe aprés L`Europe. Paris: verdier 2007; Marc Crépon: Europa denken. Jan Patockas Reflexionen über die europäische Vernunft und ihr Anderes. In: transit 30, Winter 2005/2006, S. 40 ff. 118 Mbembe 2016., S. 92.

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

dieses philosophischen Denkens umfasst das Andere nicht nur von außen, in der Sprache der Barmherzigkeit oder der Großmütigkeit. Es versucht, die Position des Anderen schlichtweg zu denken. Somit ist die Gewalt auf zwei Formen verwiesen, auf die Betrach­ tung von außen und als Erzählung von einem Inneren her. Der Konnex zwischen Gewalt und Bedeutung wäre an erster Stelle zu nennen: diese Gewalt ist uns historisch vertraut; sie tritt immer dann in Erscheinung, wenn der faktischen Gewalterfahrung ein Diskurs, eine Regularität oder eine Bemessung zugeordnet wird119. Besonderes und Allgemeines werden in ein spezifisches Verhältnis gezwungen: der Einzigartigkeit der Gewalterfahrung tritt das historische Heil, ein Nutzen oder eine Bedeutung gegenüber. Über die Singularität des Opfers legt sich der lange Schatten der Bedeutung als Gewalt. Die Variationen dieser Bestimmung sind vielschichtig: der leidende Mensch kann in einen Algorithmus verwandelt oder in eine Statistik eingereiht werden, er kann als eine ökonomische Variable betrachtet werden oder als Träger eines höheren Sinns. Jeweils ist zu beachten, dass die Bedeutung der Gewalt in die Gewalt der Bedeutung umschla­ gen kann120. Was hingegen sieht man, wenn die Gewalt als Erfahrung an sich betrachtet wird? Phänomenologisch besehen, ist die Einfühlung in das Opfer der Gewalt keineswegs selbstverständlich. Sie kann nicht mit den herkömmlichen Worten gelingen, mit denen man sich vielleicht im Alltag in Andere »einfühlt« und vermeintliche Regungen des Mitleidens meint verspüren zu können. Eine Unmöglichkeit wäre dies insofern, weil das Erleiden selbst keine reine Erfahrung ist und nicht wiedergegeben werden kann. Wir können lediglich Formeigenschaf­ ten der erlittenen Gewalt unterscheiden, etwa zwischen einbrechender und ausschließender Gewalt. Erlittene Gewalt meint demnach das Durchbrechen einer Grenze und die Verletzung der Integrität von außen – oder die Verweigerung der Zugehörigkeit. Im Zuge eines Einbruchs der Gewalt wird eine normative Bestimmung unterbrochen und eine leibliche, private oder territoriale Grenze überschritten121. Im Antje Kapust: Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink, S. 51–74. 120 Ebd., S. 52. 121 Pascal Delhom: Phänomenologie der erlittenen Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 155–175. 119

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1. Die Bruchlinie der erlittenen Gewalt

Rahmen der ausschließenden Gewalt wird jemand in der Beziehung zu seinem bewohnten, bzw. gewohnten Lebensraum verletzt. Beide Formen erscheinen als urtümlich vertraut, als Gewalt, die irgendwie geschieht und als etwas nicht-sein-Sollendes betrachtet wird. Die dabei unbenannte Dimension der Gewalt ist irritierender. Jemand, der in der Rolle eines Erleidenden steht, verliert das Privileg, das Subjekt einer Handlung zu sein. Die Gewalt als Handlungsmacht steht der erlittenen Gewalt direkt gegenüber. Diese Perspektive des Erleidens einzunehmen, ist voraussetzungsvoll, aber sie eröffnet auch Räume für Sinnbildung, die dem postkolonialen Denken wertvolle Impulse vermitteln kann. Denn mit der Frage nach der Person, die etwas erleidet, sind bestimmte kategoriale Bestimmungen verbunden und werden andere ausgeschlossen. Auf den Punkt gebracht: »Das Erleiden selbst ist keine Erfahrung«122. Derjenige, der von der einbre­ chenden oder der ausschließenden Gewalt erfasst wird, ist im Moment des Erleidens kein Subjekt, das nach der Angemessenheit oder der Begründung einer Handlung fragt. Gewalt kann gerechtfertigt oder verboten, bemessen und bewertet werden, aber im Moment des Erleidens stellt sich diese Möglichkeit nicht, die Dinge von außen zu betrachten. Zu den Eigenschaften erlittener Gewalt zählt, dass sie die Bedingungen jener Erfahrungen durchkreuzt oder zerstört, die Andere unter anderen Bedingungen unterstellen können. Der Widerstand gegen das Erlittene wird natürlich in Worte oder Ankla­ gen überführt, aber der Zugang zum Erleiden markiert eine Grenze zur Erfahrung. Verschiedene Schlussfolgerungen legen sich nahe. Unter der Per­ spektive des Traumas der totalitären Gewalt steht in Frage, inwieweit primäre Erfahrungen in Formen des Gedenkens überführt werden können. Traumatische Erfahrungen können zwar erzählt werden und mit Sinn »beladen«, aber sie eignen sich schwerlich für eine Übertra­ gung auf ein kollektives Gedächtnis. Sie bleiben einer Einmaligkeit verbunden, die sich in einen Leib eingeschrieben hat und die Betrof­ fenen fortan begleitet123. Erlittene Gewalt kann mit Widerfahrnissen verknüpft sein, mit einem Einbruch, der durch seine Plötzlichkeit und Irregularität ver­ stört. Sie hat aber auch mit langfristigen historischen Verletzungen Ebd., S. 160. Reinhart Koselleck.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. (Hg. v. C. Dutt) Frankfurt a. M. Suhrkamp 2014. 122

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

zu tun. Sie ist mit jener Gewaltsamkeit liiert, die zum Antlitz unserer Zeit ebenso wie zu jener Vergangenheit gehört, von der man sich vermeintlich entfernt hat. Es genügt, die Stichworte des strukturellen Rassismus oder der Angst vor den Anderen zu nennen, um in den Abgrund dieses Konflikts zu blicken. Den vielen Versuchen, die Wurzeln der rassistischen Negation zu erkennen, steht die Permanenz der Gewalt gegenüber. Im Mai 2020 folgte dem gewaltsamen Tod des George Floyd in Minneapolis eine Protestbewegung, die sich scheinbar über den Globus erstreckte. Der institutionalisierte Rassismus hatte wieder sein hässliches, erschre­ ckendes Gesicht gezeigt, aber ebenso eindringlich erscheinen die Gegenbewegungen, die sich dem vermeintlichen Fatalismus entgegen stellen. Leider ist es keiner Übertreibung geschuldet, wenn man die Konfliktszenarien im Lichte anhaltender Bürgerkriege beleuchtet124. Für die Sozialtheorie, die sich auf zeitgenössische Brüche bezieht, stellt sich die Frage nach dem Grund des Konflikts, der offensichtlich nicht allein dadurch erhellt wird, dass man sich in das Opfer der Gewalt einfühlt. Es scheinen mächtigere Kräfte am Werk zu sein, die sich über die Zeiten hinweg entfalten können. Eben dies kann man mit den Grundannahmen der Phänomenologie der erlittenen Gewalt in Deckung bringen. Frank Wilderson III., Dozent für African American Studies an der Irvine University of California, distanziert sich in diesem Sinne von jeder oberflächlichen Versöhnungsgeste. Die Angst vor »blackness« reicht tiefer, das Gefälle ist steiler, als dass man es mit einer Philosophie der Inklusion überwinden könne. »Afropessimism« zielt auf den einschlägigen Topos der »white Supremacy«, der sich so vorzüglich dem kritischen Denken anbie­ tet125. Das Feld der Sozialtheorie wird dabei freilich überschritten und auf das Experimentelle hin erweitert. Das Schreiben über erlittene Gewalt ähnelt sich dem ästhetischen Versuch an, zwischen Theorie und Erinnerung, Reflexion und Widerstand einen Standpunkt »trotz allem« zu entwickeln. Der Pessimismus ist hier keine Pose, sondern Konsequenz eines merkwürdigen Weltzustands. Sprachlich und rechtsnormativ bildet sich eine Qualität inklusiver Verhältnisse ab; aber im gleichen Maße scheinen sich die Klüfte zwischen einzelnen Gruppen zu vertiefen. 124 Verena Lueken: Kein Angebot, keine Versöhnung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juli 2020, S. 11. 125 Frank Wilderson: Afropessimism. New York: Liverright Publishing Corpora­ tion 2020.

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2. Eine neue Unübersichtlichkeit

Allein diesem Widerspruch ist nicht mit einfachen Diagnosen beizu­ kommen. Aber ein weiteres kommt hinzu: die Leidenserfahrungen lassen sich nicht zusammenschließen. Sie führen zu keiner Allianz der Schlechtergestellten, sondern zu einem Gegeneinander, gar zu mas­ siven Konfrontationen.

2. Eine neue Unübersichtlichkeit Es zählt wohl zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass der emanzipatorische Universalismus scheinbar keinen Beitrag zu einer Versöhnung zu leisten imstande ist – zumindest nicht außerhalb sei­ nes eigenen Diskursuniversums. Zu dieser skeptischen Einschätzung wird nicht nur derjenige kommen, der sich dem Hass ausgesetzt sieht, der sich in neuen und alten Gewändern offenbart. Sondern auch der­ jenige, der die neuen Bruchlinien der erlittenen Gewalt konfrontieren muss. Zu diesen Linien zählen offene Konkurrenzen und Hierarchien, Abgrenzungen und Widersprüche zwischen Gruppierungen, deren Geschichten unvergleichbar sind, deren einzig verbindendes Motiv eine miserable Situation ist, in der sie verortet werden. Auf der Oberfläche scheint es sich um Missverständnisse zu handeln, um kommunikative Störungen und Verfehlungen, die man schnell aus der Welt räumen könnte. Denn die negatorische Macht von Rassismus in Sprache und Struktur, von antisemitischen Tenden­ zen und Menschenfeindlichkeit unterliegt schließlich den gleichen Bedingungen: sie bestreitet und zerstört die Subjektposition, die einem jeden zusteht. Diese negatorische Gewalt zieht Grenzen in den Köpfen und vermauert sich zugleich in einer Sprache, die Andere nicht gelten lässt. Aber dieses Resümeé wäre gleichsam der philosophische Kurzschluss, der für den einen Moment befriedigend ist, aber im nächsten Moment zu viele ungeklärte Fragen aufwirft. Die Dissonanzen beginnen nicht an der Linie, die zwei verschie­ dene Identitäten oder soziale Gruppen voneinander trennt, sondern an den Bedingungen, mit denen diese sozialen Einheiten betrachtet werden. Wenn man so will, dann wurde das 20. Jahrhundert von gro­ ßen moralischen Narrativen geprägt. Darunter fällt der Holocaust und somit die jüdische Geschichte, die mit der Gründung des Staates Israel verbunden ist. Dieser Staat ist bekanntlich der Garant einer Sicher­ heit, die in Europa in radikalster Konsequenz vernichtet wurde. Das

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andere große Narrativ hat seinen Ursprung ebenfalls in Europa: der Kolonialismus, dessen Geschichte in kleinen Schritten »aufgearbei­ tet« wurde und zumindest von anderen Gewaltverhältnissen berich­ tet, die nicht minder verstörend sind. Beide Narrative scheinen sich in Form erlittener Gewalt zu überschneiden, aber sie weisen zugleich eine Tendenz zur Konfrontation und Abgrenzung auf: wenn etwa dem postkolonialen Kritiker vorgeworfen wird, unverhohlen antisemitisch zu argumentieren oder wenn in der Umkehrung ein Historiker die Siedlungspolitik Israels als Kolonialismus bezeichnet126. Diese Bruchlinien, wenn man sie als solche bezeichnen will, sind nicht einseitig aufzulösen. Offensichtlich tragen auch die Intellektu­ ellen wenig zu einer Klärung der Konflikte bei, sondern verschärfen sie ungewollt. Es entsteht eine neue Unübersichtlichkeit, die einem alle Sicherheit über normative Verhältnisse aus der Hand schlägt. Der emanzipatorische Universalismus ist offenbar keine einigende, Autorität verbürgende Theorie, sondern eine treibende Kraft. Daher ist es eher sinnvoll, nicht die »Argumente« von »Parteien« zu prüfen, sondern nach den Bedingungen zu fragen, unter denen etwas beob­ achtet und etwas behauptet werden kann. Eine phänomenologische Reflexion, die im folgenden versucht wird, führt die Konflikte auf ihren interexistentiellen Grund zurück. Der Konflikt lässt sich weder auflösen, noch begradigen, sondern nur zurückführen: auf die Bedin­ gungen, unter denen Andere erkannt oder verkannt werden. Die Frage steht im Raum, wo wir den Ausgangspunkt aller ethischen Orientierung vermuten. Eine lange gepflegte Überzeugung ging davon aus, dass dieser Punkt ausschließlich auf der Höhe eines allgemein Menschlichen zu finden sei. Ob Minderheit oder Mehrheit, ob als Angehöriger einer privilegierten Schicht oder in den Räumen der Marginalisierung – das Angebot der universellen Inklusion gilt hier wie dort. Die moralischen Sätze, die man diesem Motiv entneh­ men kann, führen zurück auf den Grund des Allgemeinen, auf eine Menschlichkeit, die von Beginn eines jeden Lebens immer schon vorhanden wäre. Jeden Lebens? Eine rebellische Bewegung, die im Namen des Anti-Universalismus auftritt, verweigert diesen Zusammenschluss mit guten Gründen. Genauer gesagt verweigert sie sich der Verpflich­ 126 Natan Sznaider: Rassismus versus Antisemitismus: Debatte um den Intellektu­ ellen Achill Mbembe. Unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/rassismus-versu s-antisemitismus. »Geschichte ist immer schmutzig«. Interview mit dem Historiker Wolfgang Reinhard. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juni 2020, Seite 11.

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2. Eine neue Unübersichtlichkeit

tung, alle ethischen Maximen von oben herab zu »empfangen«. Der Kampf gegen die vielen Spielarten des Rassismus und der Menschen­ feindlichkeit begönne unten, in der Mitte humaner Grundsituationen. Und diese sind eben nicht durch Egalität gekennzeichnet, sondern durch den Spalt zwischen den Machtvollen und den Ohnmächtigen, zwischen Anerkannten und vermeintlich Wertlosen. Nur eine tiefenscharfe Grammatik kann die Engführungen dieser Perspektive erkennen. Ausgangspunkt aller dieser und vergleichbarer Diskurse wäre demnach die Anerkennbarkeit des Leidens. Der kate­ goriale Ausgang von der Situation dessen her, der in einer marginalen verletzbaren Situation steht, ist insofern begründet – denn er erreicht nicht die Ebene, unter denen Andere ihr Leben führen können. Der Blick »nach unten« ist aber nicht nur »anti-universalistisch«, sondern widerspruchsoffen. Er erweitert die Sichtweise auf die Situation des Anderen hin, einschließlich aller bestehenden Machtverhältnisse, institutioneller und sozialer Gewalt. Es ist der notwendige Blick für das Leben der Anderen, ohne Ressentiment und ohne falsches Pathos der Schlechtergestellten – aber auch diese Perspektive hat einen universalen Kern. Nach beiden Richtungen wendet sich diese Ethik: dem oberflächlichen Allgemeinen gegenüber fragt sie nach dem Par­ tikularen und Besonderen. Aber keinem dieser partikularen Gruppen verweigert sie die Anerkennung; ihr moralisches Empfinden ist erfüllt von der Suche nach menschlicher Integrität, ob man diese Suche mit einem Kampf gleichsetzt, als vollständig menschlich erkannt zu werden oder ob man sich der Macht der Sprachkritik anvertraut. Der Horizont des Gemeinsamen ist die Gleichheit Aller. Aber von welchem Blickwinkel her diese Gleichheit befragt oder bezweifelt, begründet und ausgedehnt, reflektiert und begrenzt wird, steht in Frage. Eine kosmopolitische und eine rebellische Ethik wären dem­ nach zwei Seiten einer gemeinsamen Sache. Kosmopolitisch heißt, eine Idee der Gleichheit zu begründen und sie in räumlicher und sozialer Dimension zu entfalten; eine Ethik des Widerstands, die sich der Ethik der Singularität verpflichtet weiß, bezeichnet hiergegen eine komplementäre Herangehensweise. Die Gleichheit »gilt« immer und ohne Bedingungen, aber sie kann entweder von der Seite Aller her begründet werden oder vom Standpunkt des Einzelnen. Im einen Fall richten wir unsere Aufmerksamkeit in der moralischen Welt auf Alle als Einzelne; im anderen Fall zuerst auf Einzelne, die einen Abstand zu »allen« verspüren. Die Vermessung eben dieser Kluft ist die eigentlich

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anspruchsvolle Aufgabe zwischen einem theoretischen Zugang und einer praktischen Verortung. In der Theorie wäre diese Kluft als produktiv zu bezeichnen, sie treibt die sozialtheoretischen Diskurse in immer neue Höhen127. In der Praxis hingegen sind die Dinge konfliktbeladen und konfrontativ. In Frage steht dabei, inwiefern die generelle Unabweisbarkeit eines universalistischen Ethos bedacht wird oder ob sie im »Eifer« der Kritik übersehen und vergessen wird. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, dass der Horizont des Gemeinsamen zu verschwinden droht128. An die Stelle eines gemeinsamen Ethos oder eines verbindenden Projekts tritt die Rivalität der Standpunkte. Diese Tendenz zur Selbst­ bezüglichkeit einer partikularen Sache ist nicht nur oberflächliche Stimmung oder einem aktuellen Geschehen entnommen. Die Unver­ söhnlichkeit scheint unumgänglich. Für sich betrachtet ist jede Form der erlittenen Gewalt natürlich eine einmalige singuläre Erfahrung, die nicht »geheilt« und nicht versöhnt werden muss. Sie soll anders formuliert nicht mit anderen Erfahrungen verglichen oder gleichgemacht werden. Sie hat einen Anspruch auf Unvergleichbarkeit und moralische Unverfügbarkeit. Diese Ethik des Singulären erschließt sich, wenn man exemplarisch die erwähnte Perspektive des Afropessimismus einnimmt129. Die Erfahrung der ethnischen Ungleichheit ist etwas gleichsam »Unsag­ bares«, schon weil es in vielerlei Hinsicht keine Tradition gibt, keine erzählbaren Vergangenheiten und keine Stimmen, die nochmals gehört werden könnten. Kolonialismus und Sklaverei haben diese Möglichkeiten gründlich vernichtet. Die Ethik des Singulären prägt die Gestalt des Postkolonialismus, die sich in einer puren Ambivalenz darstellt: als eine anonyme Stimme, die sich ihrer Anonymität ent­ winden will, als eine Form des Protests, der in der Vergangenheit ungehört blieb. Wie kann man diese schillernden und widersprüchlichen Figu­ rationen angemessen beschreiben? Die Schwierigkeit der ethischen Reflexion liegt darin, dass sich die verschiedenen individuellen Erfah­ Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 128 Ibrahim X. Kendi: Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Ame­ rika. Übersetzung Susanne Röckel, Heike Schlatterer. München: C. H. Beck 2017; ders.: How to be an Antiracist. New York: One World 2019. 129 Wilderson 2020. 127

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rungen nicht einfach zu einer großen Erzählung zusammenschließen lassen. Wir anerkennen aus der Ferne die Gleichheit als Moralgesetz, aber wir sind zugleich auf konkrete Verkörperungen und authentische Impulse der Solidarität verwiesen. Der Impuls der Solidarität aber ist beschränkend und parteinehmend, er richtet sich gegen das konkrete Leiden und erweist sich somit als Begrenzung der Gleichheit. Solidari­ tät kann nicht immer Alle zu jeder Zeit erreichen, sie ist am Singulären interessiert. Zugleich befördert sie im Akt der Solidarisierung die universelle Geltung des Moralgesetzes. In der Theorie kann dies zu Höhenflügen der Dekonstruktion führen130; aber in der Praxis verliert sich die Moral bekanntlich in Rivalität und Geltungsbedürfnissen, die sich nicht einfügen wollen in die abstrakten Bestimmungen der Mora­ lität. Denken wir an die schwierigen Kontroversen um die Erinne­ rungspolitik angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Erinnerungspolitik unterlag einem merkwürdigen Fehlschluss oder einem Missverhältnis. Der Geschichtsbruch, für den wir einzigartige Namen bereit halten, als Shoa oder Holocaust, ist als geschichtliche Singularität zu behandeln. Nur in einem historischen Bedeutungs­ raum, der diese Außerordentlichkeit würdigt, wäre der Umgang mit diesem Ereignis angemessen. Dagegen spricht freilich, dass jedes Opfer es »verdient«, einen Namen zu erhalten und in ein Register der Gewalt eingetragen zu werden. Erst in der Sprache des Existentialismus erfahren wir freilich, inwiefern jedem das »Recht« zukommt, sich als ein singulärer Fall zu verstehen und eine Anerkennung zu erwarten, die eben jener unver­ äußerlichen Existenz entspringt. Die Rivalität, die bis heute unver­ hohlen ausgetragen wird, ist vielsagend. Ein Moralgesetz erweist sich dann als defizient, wenn es nicht alle Perspektiven gleichermaßen berücksichtigt. Aber zur vollen Geltung kommt es nur dann, wenn es vom Solidarisierungsimpuls »entzündet« wird – sonst bliebe es ein leeres Verfahren. Der leibhaftige Impuls und das Gesetz bilden die polaren Momente, die zusammen im Feld der Ökonomie der Gewalt bestehen können.

130 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 178 ff.; Anselm Haverkamp: Kritik der Gewalt und die Möglichkeit der Gerechtigkeit. In: Ders. (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin. Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1991, S. 7–50.

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

Auf jeder der genannten Ebenen zeigen sich die Motive der Negativitätsreflexion. Sie sind, wie wir zuletzt aufzeigen können, unverzichtbar, um die angedeuteten Bruchlinien unserer Zeit zu verstehen. Ontologisch zeigt sich etwas Negatives als eine faktische Bedingung des Lebens an sich. Keine Gemeinschaft und kein einzel­ nes Leben bleibt von dieser faktischen Bestimmung ausgeschlossen, dass unser Leben erst im Horizont der Endlichkeit, der Fragilität und Leidbedrohtheit richtig verstanden ist. Allein dies ließe sich in einen normativen Egalitarismus ummünzen. Die faktische Endlichkeit allen Lebens wird durch praktische Verhältnisse flankiert: Herrschaft und Gewalt, Privilegierung und Deklassierung, Ferne und Fremdheit prä­ gen das soziale und politische Zusammenleben in Gegenwart und Geschichte. Aus der praktischen Verwiesenheit dieser Sinnbestim­ mungen resultiert unsere gemeinsame moralische Grammatik131. Die begriffliche Ebene der faktischen und praktischen Negativität rückt die erwähnten Bruchlinien in eine verstehbare Perspektive. Negativistisch heißt nicht pessimistisch und nihilistisch zu denken und zu sprechen. Worum es geht, ist es, die soziale und kommunika­ tive Einbettung des Negativen in alle unsere Sinnbezüge zu ermögli­ chen und dem Negativen ein angemessenes Gewicht zu verleihen. Negative praktische Einsichten sind in jeder Dimension vorhanden: aus der Fragilität des endlichen Lebens können wir nicht entfliehen und selbst die Gebrochenheit unserer Selbsterkenntnis ist unum­ gänglich. In der höchsten Abstraktion finden die hier ausgewiesenen Linien des Widerstreits eine Verankerung. Das Negative, das wir in allen denkbaren Formen der Entzweiung konfrontieren müssen, führt uns auf die Konstitutionsbedingungen unserer Praxis zurück. Die Welt, die im gleichen Maße durch Widerstreit und Gewalt, Selbstbehauptung und Verständigung geprägt wird, »lichtet« sich niemals; sie bleibt der Nichtobjektivierbarkeit der singulären Totalität verwiesen. Die menschliche Würde, die wir niemandem vorenthalten und jede Kritik, die wir an den bestehenden Unrechtsverhältnissen üben, hat einen Kern negativistischer Anthropologie. Diese Negati­ vität durchsetzt unsere Praxis durchgängig und es kommt folglich darauf an, alle Sorgeverhältnisse zwischen Ethik und Anthropologie zu verorten.

131 Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2000, S. 9–33.

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3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit.

3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit. Konstellationen im Schatten der Moderne. Für die Gewalt im Zeitalter der Extreme gibt es bekanntlich »keine Sprache«. Diese Aussage meint: diese Gewalt kann erklärt und beschrieben werden, ihr Verlauf und die Bedingungen ihres Entste­ hens können »entschlüsselt« werden, aber trotz allem entzieht sie sich einer Einordnung in den geschichtlichen Horizont. Das Ausmaß der Zerstörung und des Leidens ist bekannt, vielleicht sogar bezifferbar, aber gleichsam unfassbar. Erkennbare Verheerungen werden von einem Zweifel überschattet: ob mit der desaströsen Gewalt, die im Faschismus ihre nicht zu steigernde Gestalt gefunden hatte, nicht die Möglichkeiten vernichtet wurden, Andere zu erblicken. Die Philoso­ phie sah sich von der faktischen Geschichte gleichsam überwältigt; sie musste erst wieder eine Sprache »finden«, um der Zerstörung menschlicher Verhältnisse etwas entgegen setzen zu können. Freilich: in welchem Rahmen sollte diese Sprache bestehen, wenn sich die Erfahrung erlittener Gewalt als so fundamental erwiesen hatte, dass alles in Zweifel gezogen wurde? Um die Gewalt eines selbstzerstörerischen Europas zu verstehen, brauchte man einen Neu­ anfang im Denken. T. W. Adorno, Hannah Arendt, Karl Jaspers, aber auch M. Merleau-Ponty, Emanuel Levinas, Alain Finkielkraut und Maurice Blanchot haben die Erfahrung der endgültigen Entsiche­ rung menschlicher Ordnungen in ihre philosophischen Gedanken übersetzt132. Die Erfahrung der Verlassenheit führte sie (wie auch die zeitgenössische Sozialtheorie) zu einer grundlegenden Revision der menschlichen Lebensform. In dieser Lebensform gelten die über­ lieferten Ideen nicht mehr: dass man in der Welt gemeinsam unter den Sternen sei, dass es eine Gesetzlichkeit in uns gebe, die Moral und Vernunft ermögliche, dass es Verbindungen und Bedeutungen der Menschen untereinander gebe. Diese Möglichkeiten habe die radikale Feindschaft, wie sie seitdem unter dem Titel Auschwitz überschrie­

132 Zum Begriff desaströser Gewalt: Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters. München 2005; Alain Finkielkraut: Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta 1999; Emanuel Levinas: Gott, Tod und die Zeit. Wien 1996.

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ben wird, grundsätzlich aus der Hand geschlagen133. Wie also diese Gewalt und menschliche Lebensformen zusammen zu denken wären, steht in Frage. Es ist die Frage nach dem Antlitz der Geschichte. Für dieses Antlitz ist eine Widersprüchlichkeit maßgeblich. Die desaströse Gewalt scheint sich in ihrer extremen Form außerhalb jeglicher menschlichen Welt, menschlicher Sprache, menschlichen Verstehens abgespielt zu haben. Sie hat das Selbstverständnis zer­ stört, mit dem man sich und andere betrachtet, mit dem man mit Anderen zusammen leben und eine politische Welt gründen könnte. Der Verlust hatte eine gleichsam metaphysische Konnotation: er erschien als eine Form einbrechender Gewalt, deren Ursprung unklar bleiben musste134. Von dieser Ahnung des Verlusts und der Fragilität aller Verhältnisse lässt sich eine Herausforderung für das Denken schlussfolgern. Unter welchen Bedingungen ist es möglich, die Erfah­ rung der Gewalt inmitten der menschlichen Lebensordnung einzu­ gliedern? Wie könnte man die desaströse Gewalt als der menschlichen Lebenswelt zugehörig begreifen? Die Frage zielt auf eine Trivialität – die bekannte Geschichte findet wohl immer in einer geteilten Realität statt -, aber die Frage der Einordnung und des Verstehens dessen, was sich entzieht, bleibt weiterhin unbeantwortet. Die Form, in der diese Frage im Folgenden beantwortet wird, zielt auf eine polemogene Reflexion. Sie führt zurück an den Beginn der europäischen Geistesgeschichte und zieht Linien bis in die Gegen­ wart. Sie findet ein Motiv im Augenblick der Auseinandersetzung. Der Krieg als Phänomen und als Noumenon führt auf die Wurzeln abendländischen Denkens. Bei Heraklit von Ephesos erfahren wir von einem Denkimpuls unerbittlicher Härte: dass dem Krieg eine Erhabenheit im Leben der Menschen zukäme, weil er in besonderer Weise das Dasein durchdringt135. Krieg bringt demnach das Leben zum Ausdruck, wie es eigentlich sei, er entblößt die Quelle des

133 Burkhard Liebsch: Einander ausgesetzt – der Andere und das Soziale. Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen. Bd. I, Freiburg/ München: Karl Alber 2018, S. 134. 134 Insofern ist nicht nur geboten und naheliegend, aus der Erfahrung der Gewalt nach zwei Weltkriegen weltrechtliche Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich auf einen gemeinsamen Beschluss beziehen, in bestimmter Weise nicht miteinander zu umzugehen (L. Wingert). 135 Heraklit von Ephesos. Fragmente. Griechisch und Deutsch, Hg. von Bruno Snell. Zürich: Artemis und Winkler 2007.

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3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit.

Seins – nicht in der abstrakten Moralität, sondern als konfliktreiche »Energiequelle« der abendländischen Kultur136. Recht und Moral, die im Krieg eine Entfremdung entdecken und das Übel limitieren und zähmen versuchen, stehen hier gegen die Entfaltung des Polemos. Kein geringerer als Heidegger hatte dieses Motiv der polemogenen Reflexion aufgegriffen137. In den vielfältigen Erscheinungen möglichen Krieges erkannte er das eine Moment, die Idee des Krieges in seiner existentiellen Dimension. Der Konflikt tritt mit aller denkbaren und undenkbaren Gewalt ans Licht, ihm kommt etwas mit ontologischer Qualität zum Ausdruck: das AuseinanderTreten, der Abstand, die Kluft und die Gewaltsamkeit. Heidegger dachte in verhärteten Kategorien der tragischen Ureinheit von Krieg und Vernunft, denen »wir« heute staunend und widerstrebend gegen­ überstehen. Alles müsste insofern auf den Wiedergewinn der Sprache zielen, um dem totalitären Blick etwas entgegen zu stellen. Die Sprachmäch­ tigkeit, um die es geht, führt zu Analysen, die man als schmerzhaft und schonungslos bezeichnen mag. Es ist zu klären, woher der Hass kommt, der im totalitären Exzess mündete. Und es wäre anzuzeigen, an welchem Punkt der Gewaltgeschichte man eigentlich steht138. Die folgenden Analysen stellen sich den Fragen, die andere Philosophien bereits zögernd beantwortet haben. Sie stellen sich dem Rätsel, inwiefern sich der Hass auf Andere als radikaler Hass bis auf das Prinzip der Existenz Anderer ausweitet hatte und wie sich dies Prinzip schließlich im Wunsch der radikalen Auslöschung entfalten konnte. Aufgabe des Denkens wäre es, diesem Phänomen eine Beschreibung zukommen zu lassen, die noch den extremen Hass, die Absurdität und Weltlosigkeit (H. Arendt) als Erfahrungen in der interexistentiellen Dimension anerkennt. Nicht nur, dass der Hass in den Dienst der Ideologie genommen wurde (und wird); dass er einen unabweisbaren Schatten auf Vernunft und Aufklärung wirft, ist zu klären. Sondern: inwiefern damit in Frage gestellt wird, unter welchen Bedingungen

Christian Stadler: Krieg. Wien: Facultas 2009, S. 10. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen: Niemeyer 1987 (zuerst 1953). 138 Burkhard Liebsch: Dem alten Krieg und neuen Kriegen ausgesetzt – im Zeichen des Äußeren. In: Einander ausgesetzt – der Andere und das Soziale. Elemente einer Topographie des Zusammenlebens. Bd. II, Freiburg/München: Karl Alber 2018, S. 1032–1067. 136

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

wir Andere anblicken und ob die Gewaltgeschichte den Punkt der höchsten Selbstreflexion erreicht habe. * Dass Moral mit Macht auf vielfältige Weise liiert ist, diese Einsicht gilt seit Nietzsche. Die Herausforderung für das Denken besteht jedoch nicht in der Einsicht, dass die moralische Selbstaus­ legung mit einem diffusen Willen zur Macht einher geht. Sie liegt eher in dem Motiv begründet, dass man für eine moraltheoretische und ideologiekritische Auseinandersetzung auch abseitige, fremde und unbehagliche Phänomene in Betracht zieht – Phänomene des moralischen Andersseins und moralischer Entgrenzung. In der Perspektive der Philosophie der historischen Erfahrung steht nicht die Moralität gegen die fehlende Moral oder die Unmoral. Sondern: das moralische Universum hat sich nie als wohlgeordnet erwiesen. Zwar wird die Frage nach dem geschichtlichen Ort unserer Moral im Verhältnis zu jenen Formen der Moral beantwortet, die wir mit guten Gründen ablehnen. Aber es bleibt die Tatsache zu verge­ genwärtigen, dass es tief greifende Konflikte »zwischen unterschied­ lichen moralischen Selbstverständnissen in der Geschichte gibt.«139 Wenn etwa die Erschaffung des neuen Menschen ausgerufen wird, wenn von höherwertigen und niedrigen Kategorien des Menschseins gesprochen wird oder wenn bestimmten Menschengruppen das Recht auf Leben abgesprochen wird – dann geht es um Erlösungs- und Befreiungsperspektiven, die als »extreme Zuspitzungen« einer jewei­ ligen »Transformationsmoral« zu lesen sind140. Solche Umwandlun­ gen moralischer Kategorien sind nicht als Rückfall in vormoralische Formen zu bewerten, sie fallen nicht einmal aus dem Spektrum der Moralität heraus. Sondern sie verweisen auf den offenen historischen Prozess, in dem sich moralische Selbstauslegungen entwickeln. Es handelt sich um moralische Standpunkte, die sich in offener Gegner­ schaft zueinander befinden, die wertsetzende und handlungsleitende Kräfte entfalten können und sich bekanntlich auf epochale Ereignisse erstrecken, die man als moralische Katastrophe bezeichnen müsste. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, für jene Phänomene der totalitären Moral, die zwischen Holocaust und Holodomor zur historischen Erfahrung zählen, eine immanente Beschreibung anzu­ fertigen. Die Ereignisse der Gewalt sind trivialerweise nicht in einer 139 140

Zimmermann, Moral, 2008, S. 7. Ebd., S. 8.

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3. Ideologie, Hass, Menschenfeindlichkeit.

anderen Welt als der menschlichen entstanden, sie sind nicht von außerhalb in die Welt eingebrochen; sie sind anders gesprochen nicht mit metaphysischen Konzepten zu beschreiben. Schwer zu ertragen sind diese Einsichten, soweit man den Bruch nie von der Hand weisen kann, der sich in den Ereignissen selbst spiegelte, einen Bruch, den man als »Gattungsversagen« oder »Gattungszersplitterung« bezeich­ nen kann141. Ausgangspunkt auch für jede Ideologiekritik ist also eine unhin­ tergehbare gemeinsame Welt, in der sich die volle Geltung mensch­ licher Intersubjektivität abzeichnet. Vom dem, was sich zwischen menschlichen Erfahrungsräumen abspielt, gehen alle weiteren Refle­ xionen aus. Aber das heißt nicht, die Geschichte der Ausgeschlosse­ nen und Unterdrückten neu zu erzählen. Die philosophischen Grund­ begriffe sind es, die in das Zentrum rücken: Welt und Zeit, Praxis und Interexistenz, Negativität und Materialität. In der faktischen Begeg­ nung zwischen Menschen sind die Bedingungen der menschlichen Praxis immer schon eingelassen. Ideologien der Gewalt entstammen einer Sicht auf die Welt, die vereinfacht gesprochen, nicht die unsere ist. Sie scheinen einem Welt­ begriff entnommen zu sein, der mit dem herkömmlichen, moralisch überzeugenden Weltzugang niemals wird übereinstimmen können. Diese Überzeugung ist keine theoretische Ableitung, sondern eine Intuition, deren Wert man genauer bestimmten müsste. Hier aber muss zunächst betont werden, dass das Vorhanden-Sein einer gewalt­ bejahenden Ideologie genau so zur Gliederung der menschlichen Grundsituation zählt wie alles andere. Die menschliche Praxis ist kon­ stitutiv auf die Grenzen und Möglichkeiten, auf Sinn und Erfüllung, auf Bedrohung und Gefährdung von fragilen Wesen verwiesen142. Das bedeutet: innerhalb menschlicher Lebensformen sind die Züge des fragilen, endlichen Lebens zu vergegenwärtigen; Leben, das den Tod mit sich bringt (Heidegger), Freiheit, die die Wirklichkeit des Bösen eröffnet, Solidarität, die die Möglichkeit des Scheiterns in sich trägt. Ideologien, die eben genau diese Grundzüge des faktischen Lebens in negatorischer Weise thematisieren, erscheinen uns als fremd und unzulänglich. Aber sie sind eben nur als extreme Ausformungen der

Ebd., S. 10. Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 166. 141

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V. Alte und neue Bruchlinienkonflikte

grundlegenden anthropologischen Fragilität richtig verstanden, an denen sich die folgenden Analysen abarbeiten müssen.

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

Einleitung. Über Narrative und Werte. Die Zivilisation des Westens und die Dimension des Anderen. Eurozentrismus: der Vorwurf wiegt schwer. Wer eurozentrisch spricht, unterliegt einem Denken, das sich in eine privilegierte Per­ spektive einordnet. Sein Denken ist eingeengt, es kann sich nicht anders artikulieren als im Modus der Selbsterhöhung und Selbst­ vergrößerung. Sein Denken und seine Sprache wurzeln in einem universalistischen Moral- und Vernunftverständnis. Und dieses hat seinen Ursprung natürlicherweise in der westlichen Zivilisation, was immer man damit verbinden mag. So in etwa könnte man die unter­ schwelligen Vorwürfe an die Adresse desjenigen zusammenfassen, der als Vertreter eines eurozentrischen Weltbildes entlarvt wird. Der Begriff selbst ist vielschichtig und historisch komplex, als dass man ihn mit wenigen Worten erfassen könnte. Dem oberflächli­ chen Bild aber entspricht der Vorwurf, die Perspektive der Anderen auszuschließen mit allen subtilen oder offensiven Mitteln, die die Sprache zu bieten hat. Es beginnt schon bei der Zentralstellung des Subjekts, von dem aus etwas ausgesagt wird – meist handelt es sich um ein souveränes Subjekt, das die Fundamente der Vernunft verbürgt und verantwortlich für die Entstehung und kontinuierliche Verbesserung der ganzen Welt erscheint. Dieses Klischée ist in verschiedener Weise widerlegt worden. Europa sei nicht der Ursprung der Weltvernunft, schon insofern die asiatischen oder islamischen Kulturen die Geschicke des Kontinents lange Zeit mitgeprägt und gestaltet hätten. In Bezug auf die gegenwär­ tigen Machtverhältnisse blicken die europäischen Gesellschaften zwar auf die Zeiten der Suprematie zurück, aber gegenwärtig drängen sich andere Kräfte jenseits Europas in den Vordergrund. Der Vorwurf indes, dem man sich im Sinne einer produktiveren Auseinandersetzung stellen müsste, liegt im Umgang mit dem Erbe Europas begründet. Europa basiert auf einem Widerspruch, den man in viele Richtungen verfolgen kann. Zwischen roher Gewalt und

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

dem Gedanken der Zivilisierung Anderer, dem Anspruch, Herr der Welt zu sein und der Einsicht in die Sterblichkeit und Verletzbarkeit einer jeden Kultur; schließlich auch zwischen dem ausgreifenden Uni­ versalismus und dem Gespür für die Ethik des Singulären. Der Wider­ spruch erstreckt sich über die Geschichte, er findet sich wieder in zeit­ genössischen Diskursen, vor allem aber im realen Widerstreit moderner Lebensformen. Die Entzweiung, die wir als Nachgeborene in der historischen Dimension erkennen, hat viel mit den gegenwär­ tigen Konflikten unserer Zeit zu tun. Nichts von dem, was man dort als Widerstreit erkennen wird, löst sich in den gegenwärtigen Kon­ fliktsituationen auf. Insofern wird es darauf ankommen, ein Bewusst­ sein für die berechtigte Kritik falscher Zustände zu entwickeln, aber dem stillen Vorwurf der Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit zu widersprechen. In mehreren Schritten wird im folgenden der Vorwurf eurozen­ trischen Denkens behandelt. Das universalistische Ethos westlicher Prägung hat Ansprüche auf Wahrheit, Vernunft und Moral hervorge­ bracht, gegen die alle partikularen oder traditionalistischen Kulturen als inferiore erscheinen. Die säkulare Vernunft mit europäischem Antlitz ist jedoch bei näherer Sicht selbst zu relativieren, sie ist ein Standpunkt in der Welt neben anderen Standorten. Daher ist es ratsam, die Bedingungen einer nicht-westlichen Perspektive zu reflektieren, sei es im Kontext der Geschichtsschreibung, sei es im Kontext philosophischen Denkens. Im Zuge dieser Betrachtung kommt es zwangsläufig zu Selbst­ kritik des europäischen Herrschaftsanspruchs und folglich zu einer ungetrübten Sicht auf die Gewaltgeschichte Europas. Diese Gewalt ist bekanntlich durch Kolonialismus und Sklaverei geprägt, die zugleich mit starken Gegenbewegungen zusammengelesen werden müssen. Die Widersprüche sind nicht aufzulösen – ebenso wenig wie die Konflikte der Gegenwart, in denen sich ein Widerstreit zweier Arten des Universalismus entfaltet.

1. Das Fundament des Universalismus Worauf gründet die Idee, dass die »eigentlichen« Werte aus dem europäischen oder westlichen Kulturkreis stammen? Auf den ersten Blick ist die Idee unbedingt zu verteidigen. Die Vernunft, um deren

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1. Das Fundament des Universalismus

Bedingungen es hier geht, hat sich gegen die Dominanz der alten Welt durchgesetzt und dieser Kampf war weder einfach noch gewaltfrei. Die autoritären Setzungen von weltlicher und religiöser Herrschaft zu überwinden und nichts anderes als den Menschen in das Zentrum der Welt zu stellen, war ein langer, zäher und schmerzhafter Prozess. Man kann ihn im Bild des Kampfes um Anerkennung, einer Revolution der Selbstbemächtigung oder im Lichte der Aufklärung betrachten. Die Gedankengebilde, die im Zuge dieser Auseinandersetzungen hervorgetrieben wurden, sind keine geringen: sie haben mit radika­ len Gleichheitsvorstellungen und neuen Rechtsansprüchen, politischrechtlicher Freiheit und säkularen Lebensformen zu tun. Das Funda­ ment, auf das man seine moralischen Ansprüche beziehen kann, ist das einer praktischen Vernunft und dies wiederum gründet auf einer verbindenden Voraussetzungslosigkeit aller Reflexion. Nur der Mensch kann die Bedingungen und Regeln seines Lebens reflektieren, nur ihm ist es im Bezug auf Andere möglich, die Rationalität des endlichen Lebens zu bestimmen. Nur ihm obliegt es zudem, die Bedingungen sinnvoller Herrschaft zu begründen und zu erkennen143. Man könnte an diesem Punkt von einem Absolutismus des selbstständigen Menschen sprechen, der zwar durch anthropologische Fehlbarkeit und faktische Unvollkommenheit durchbrochen wird, sich aber zuletzt immer auf die Tatsache einer tatsächlichen Nacktheit berufen kann. Das heißt, alle Rationalität, die wir »seitdem« zu Grunde legen, wendet sich legitimerweise gegen das anciem regime des dogmatischen Denkens. Es ist ein Absolutismus der Vernunft, der sich immer wieder selbst befragt und nur durch konkrete Bestimmun­ gen ermöglicht wird; der neue Kleider trägt und darunter immer gleich bleibt: als endliche, fragile, leidbedrohte Lebensform144. Besitzen wir somit nicht eine feste Grundlage, auf die wir alle Reflexion und auch alle begründeten Zweifel zurückführen könnten, im Bewusstsein, dass sie etwas Verbindliches und Allgemeines ver­ bürgen? Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit kann nicht einfach mit dem Verweis auf historische und soziale Relativität zurückgewiesen 143 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Michael Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frank­ furt am Main: Fischer 1993. 144 Thomas Rentsch: Die Kultur der Differenz. Negative Ethik, Relativismus und die Bedingungen universalistischer Rationalität. In: Ders.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 96–121.

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

werden; denn es ist ja immer möglich, an die allgemeine Vernunft zu appellieren. Das moralische Urteil benötigt den »Glauben« an die Begründetheit ihrer Urteile145. Und darüber hinaus scheint sich auf den ersten Blick eine starke Asymmetrie abzubilden. Schwebt nicht die Vernunft über allen älteren Konzepten der Mystik und der Tradition, über allen Bindungen von Religiosität, Theozentrik oder Polytheismus? Die Verhältnisse müssen als uneindeutig bezeichnet werden, insbesondere weil sich die Religion als ein weiterhin viru­ lenter, wenn auch zeitweise unterschätzter Faktor in der Moderne erwiesen hat. Um es auf den Punkt zu bringen: wenn eine gewalttätige Praxis wie etwa die Beschneidung ausgeübt wird, wenn Recht durch die Gesetze der Religion verkörpert und religiöse Herrschaft absolut gesetzt wird, handelt es sich um Lebensformen, die gerade nicht kritiklos zu akzeptieren sind. Vom Standpunkt der Vernunft erschei­ nen sie als unaufgeklärte Ausdrucksformen, für die kein Kulturre­ lativismus ehrlicherweise aufkommen kann. Die liberale Vernunft kann sich bis zu diesem Punkt mit dem Gedanken einer letzten Kontingenz und damit der Beliebigkeit nur schwer abfinden. Denn zum Selbstbewusstsein eines in diesem Sinne überlegenen Universa­ lismus zählt das Wissen um den Einspruch einer philosophischen Instanz, die die Moralität aus den Sinnbedingungen einer menschli­ chen Praxis gewinnt. Freilich zählt zu dieser erworbenen Moralität auch das Wissen um die Situierung der eigenen Praxis in Gegenwart und Geschichte und damit das Wissen um die immer nur eingeengten, partialen und bedingten Möglichkeiten der Vernunft. Vernunft meint hier: der nega­ tivistisch begründete Zweifel und die Verteidigung der menschlichen Würde sind unverzichtbar, aber sie erheben diese Vernunft nicht auf ein vollkommen unabhängiges und kontextfreies Niveau. Das heißt, die begründete Kritik an Despotismus und Gewalt kann sich unter bestimmten Umständen auf fremde Kulturen beziehen, aber ebenso kann und muss sie sich auf das Eigene beziehen. Sie muss sich viel­ leicht sogar in einem ersten Schritt einer Vergangenheit zuwenden, in der sich die moralischen Ansprüche nicht nur erschöpfen, sondern sich selbst widerlegt haben, bzw. in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Aber auch hier wird es unumgänglich sein, Differenzierungen anzubringen, Wolfgang Kuhlmann: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986; Martha Nussbaum. Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Brumlik/Brunkhorst 1993, S. 323–361.

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2. Die Unterwerfung der Welt

wenn es darum geht, den Prozess der gewalttätigen Unterwerfung der Welt in bestimmten Motiven widerzugeben.

2. Die Unterwerfung der Welt Wenn man es sich sehr einfach macht, dann könnte man von einem Prozess der Unterwerfung der Welt sprechen, der von Europa aus in Gang gebracht wurde. Der Westen steht insofern im grellen Licht der Kritik an historischen Verletzungen und einer repressiven Gewalt. Freilich ist der Westen ein undeutliches begriffliches Konzept und worum es sich genau bei »Europa« und dem »Westen« handelt, ist umstritten. Der transatlantische Zusammenhang, den wir heute so deutlich vor Augen haben, hatte eine lange und widersprüchliche Entstehungsgeschichte. Das Verhältnis zum anderen Kontinent war auf beiden Seiten, insbesondere vom späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert von Motiven der Entfremdung begleitet. Die Siedlerge­ meinschaften wollten in der neuen Welt etwas Neues gründen, einen Neuanfang wagen, für den sie vor allem religiöse Bindungen benötig­ ten. Politisch wurde um 1800 diese Orientierung von den revolutio­ nären Umbrüchen begleitet, rhetorisch ging es der Gründergeneration vor allem um einen existentiellen Neuanfang, der noch nichts von einer transatlantischen Bindung ahnen ließ. Aber in gleichem Maße wurde der neue Kontinent in den folgenden Jahren von Europa aus mit Abwertungen versehen, als kulturell rückständig und flach bezeich­ net. Die Projektionsfläche Amerika konnte nicht jene Höhen der Zivilisation erreichen, die nur von Europa ausgehen sollten146. Noch eindringlicher zeigten sich diese unterschiedlichen Bewertungen des Anderen, als sich in den 1940er Jahren eine militärische Allianz bildete, die sich nun gegen »Europas eigene Barbaren« wendete, gegen jene »innerzivilisatorischen Rechts- und Regelbrüche«147, die für manche mit dem Bruch der Geschichte an sich gleichkamen. Eben darum macht es »Sinn«, von einer Epoche nach 1945 zu sprechen, in der sich ein Bewusstsein für die Existenz einer transatlantischen und später auch transnationalen Werte- und Verantwortungsgemein­ schaft ausbildete. 146 Jürgen Osterhammel: Sklaverei und die Zivilisation des Westens. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2000, S. 19–23; Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 147 Osterhammel 2000, S. 22.

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

Die zeitgeschichtliche Semantik des Westens hat sich tief in das kollektive Denken eingeschrieben. Nur als widerspruchsvolle Geschichte inklusive aller Verfehlungen und Gewaltsamkeiten ist sie zu begreifen und angemessen zu beschreiben. Denn der Westen: das ist nicht nur eine Werte- und Kooperationsgemeinschaft. Der Westen ist immer auch Projektion und Reibungsfläche, der Begriff steht für einen Raum und ein Machtgefälle. Die atlantische Welt, will man einen anderen naheliegenden Begriff verwenden, entstand zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Es war bekanntlich eine expansive, raumgreifende und randoffene Welt, die sich durch transatlantische sklavistische Projekte auszeichnete. Welchen Stellenwert innerhalb dieses raumzeitlichen Gefüges das Phänomen die Sklaverei einnahm, ist keine geringe Frage. Mit dem Adlerblick von Jürgen Osterhammel und anderen müsste man freilich von unterschiedlichen Definitionen solcher »Institutionen« ausgehen148. Die Institution der Sklaverei unterschei­ det sich in wesentlichen Punkten etwa von der Logik totalitärer Lagerkomplexe, dort machten Repressionsorgane totalitärer Systeme aus freien Menschen Unfreie mit enormer Gewalt und dem zumeist bezweckten Ziel der Vernichtung der Insassen. Die Kategorie der Sklaverei macht hingegen aus der Unfreiheit eine sozial akzeptierte Institution, zu deren Eigenarten es gehört, Menschen als Ware zu verdinglichen und über sie vollkommen zu verfügen149. Gesellschaf­ ten mit Sklaven hat es vermutlich an vielen Punkten der Mensch­ heitsgeschichte gegeben; sie unterscheiden sich freilich von reinen Sklavengesellschaften. Sklaverei kann demnach eine Arbeitsform neben vielen anderen sein oder sie steht im Zentrum einer Gesell­ schaft, deren Produktionsform durch die Sklaverei ermöglicht und vorangetrieben wird. Traditionelle Kolonialgesellschaften beruhten auf der Eroberung durch neue Herren, die sich an die Spitze der sozialen Hierarchie stellten, wie exemplarisch im spanisch dominierten Mexiko. Dort waren es Administratoren und Soldaten, die die aztekische Aristokra­ tie verdrängten oder vernichteten. Wie sah demgegenüber die Sklavengesellschaft der transatlanti­ schen Welt aus? Die Sklaverei hatte ihren Ort an der Peripherie, in den kolonialen Räumen, in denen das Recht des Hegemon herrschte. 148 149

Ebd., S. 26. Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei. München: Beck 2009, S. 13–16.

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2. Die Unterwerfung der Welt

Das rassische Kriterium kam als ein entscheidendes neues Element hinzu; die Rückkehr der entführten Sklaven in ihre Herkunftsländer war nahezu unmöglich. In einem einprägsamen Bild finden sich diese Faktoren im Begriff des »Plantagenkomplexes« wieder150. Zu dessen »Anblick« zählt die Arbeit unter unsäglichen Bedin­ gungen, aber auch die Norm eines einträchtigen Betriebs. Im Hin­ tergrund standen Unternehmer, die den allmählichen Erfolg ihres Projekts erkannten; der Ertrag führte zur Verbreitung, die Profitabi­ lität führte schließlich zur Expansion eines erfolgreichen Geschäfts­ modells. Zucker war bekanntlich ein Exportgut, das bedenkenlos konsumiert und nachgefragt wurde, dessen Entstehungsprozess aber einem despotischen System entstammte. Die Analogien zur Gegen­ wart, so sehr sich auch die Welt verändert hat, liegen nahe. Die Weltgeschichte der Sklaverei ist nicht mit der Phase der kolonialen Expansion gleichzusetzen und die Sklavenplantagen sind nicht die einzige Form der despotischen Unfreiheit. Inwiefern diese Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinreicht, ist gleichwohl zu fragen. Dass sie es tut, dass also die Vergangenheit die Gegenwart in Atem hält, steht außer Frage. Aber welche Linien sind wir berechtigt zu ziehen – wohlwissend, dass manche Aspekte des Vergangenen nicht abgeschlossen sind, dass das koloniale Erbe schwer auf den nachkommenden Generationen lastet und dass Formen des Unrechts und des Leidens als nicht verrechenbare Faktizität bestehen? Der Aufstieg und das Ende der Sklaverei sind zumindest nicht in linearen Beziehungen abzubilden. Die große Doppelrevolution des 18. Jahr­ hunderts in Form der französischen und amerikanischen Erhebungen gäbe sicherlich Anlass zu einem Weltbild, in dem sich unverfügbare Rechte eines jeden Menschen entfalten konnten. Aber Wunschbild und historische Verläufe finden nicht zusammen: die Sklavensysteme der frühen Neuzeit bestanden unvermindert bis in das 19. Jahrhundert fort; die Rhetorik der Freiheit war nicht stark genug, um auch über diese Form der Unfreiheit zu erfassen – nicht in dem Bild einer fortgesetzten Selbstermächtigung des freien Menschen. Nur im Bild eines widersprüchlichen Ganzen ist die Entwicklung der transatlantischen Moderne in dieser Hinsicht zu erfassen. Die Gleichheit unter den Menschen, bekanntlich eine Idee der Aufklärung fand eine definitive Grenze an der ungleichen Machtverteilung und der nachhaltigen Rechtfertigung eines bestehenden Unrechtsregimes. 150

Ebd., S. 29.

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Zwei starke Narrative müssen insofern in Rechnung gestellt werden: die Apologie der Sklaverei, die sich auf den Unterschied zwischen den Menschen und Völkern berufen wollte und eine feste Ordnung in den bestehenden Ausbeutungsverhältnissen bewahren wollte – und eine Gegenbewegung, die in gleichem Maße als eine Herausforderung zu betrachten ist: der Abolitionismus. Auch diesen Phänomenen muss man mit differenzierender Aufmerksamkeit begegnen. Versuchen wir im folgenden, dem Narrativ des emanzipatori­ schen Universalismus zu folgen. Eine alternative Lesart liegt in einem kritischen Punkt begründet: es ist schwierig, die Geschichte der Befreiung von der Sklaverei als eine Erfolgsgeschichte zu verfassen, die einem politischen Aufbruch gleicht. Noch ist sie als Geschichte zu verstehen, die ausgehend von der schönsten Idee – der unverfügbaren Gleichheit unter den Menschen und dem Recht eines jeden einzelnen – sich in die Köpfe und schließlich in die Verhältnisse einschreiben würde. Alle diese Bilder haben ihre Berechtigung, aber alle sind unzulänglich. Der Umkehrschluss wäre angebracht: die Geschichte von unten her zu erzählen und die Stimmen der Ausgeschlossenen zu Gehör zu bringen. Aber eben dies ist eine gleichsam »unmögli­ che« Herangehensweise. Die Widersprüche, die sich im Körper eines schwarzen Menschen manifestieren, so Frank B. Wilderson, sind dem modernen Denken inhärent. In einem Interview gab der Autor und Stichwortgeber des sogenannten »Afropessimismus« zu bedenken, dass die Befreiung nicht als Reformbewegung zu verstehen sei und jede Versöhnung immer schon zu spät sei. Er schreibe vom Begehren her, »erkannt und in die Gemeinschaft aller Menschen eingeschlossen zu werden. Wenn ich andere Leute treffe, sage ich nicht: Hallo, ich bin ein Sklave. Ich sage nicht: Schön, sie zu treffen, Sie, ein sozial lebendiges Wesen, während ich die strukturellen Bedingungen des sozialen Todes verkörpere. All das ist in der täglichen Performance meines Alltagslebens unterdrückt.«151 Die ästhetische Orientierung dieses und anderer Autoren gibt wichtige Hinweise über angemessenes Schreiben. Der Aufschrei über das Unrecht in Gegenwart und Vergangenheit findet nur dann Resonanz, wenn es sich über die große Erzählung hinwegsetzt. Die strukturellen Gefüge unserer Zeit sind eben nicht einfach abzubilden, weil man Gefahr läuft, aus dem Menschen ein abgeleitetes Produkt, etwas sozial Hergestelltes zu machen. Die Radikalität im Denken 151

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2. Die Unterwerfung der Welt

und Schreiben muss sich noch auf die eigene Existenz erstrecken und sich von allem frei machen, was von oben herab diktiert wird, auch jene schönen Erzählungen des Freiheitsdrangs, den wir angeblich der atlantischen Moderne verdanken. Kann eine solche Erzählung von unten gelingen? Fragen wir zunächst nach dem sozialen Tod. Der Begriff umfasst eine Form der negatorischen Macht. Sie verweist auf Erfahrungen, die man als Außenstehender kaum nachempfinden kann: Entwurzelung, Ablösung, absolute Abhängigkeit und Schutzlosigkeit. Der Sklave war bekanntlich Eigentum und Mehrwert, kein Untertan, kein Sub­ jekt, kein Bürger. Die Grunderfahrung der totalen Verfügung negierte alle Bedingungen, die wir der philosophischen Anthropologie entneh­ men können. Zu den Bedingungen allgemeinen Menschseins zählen der Einbezug in heimatliche Sozialisationsareale, Entfaltungsräume personaler Bildung, die Knüpfung eines sozialen Netzes. All dies ist im Fall der Versklavung nicht gegeben. Die Verluste sind existentiell, denn man wird aus der Genealogie herausgerissen, verliert die Bin­ dung an Verwandtschaft und kann auch keine neuen vergleichbaren Beziehungen anknüpfen. Als Sklave bildet man keine Familie und kennt keine Ahnen, die Gräber bleiben leer. Selbst die Sprache, die vielleicht ein letztes Refugium der Identität bilden könnte, wird verzerrt, nimmt die Form des Slangs an, der den Deportierten als formale Gruppe übrig bleibt. Die Welt des Sklaven ist verloren; aber es ist eben mehr als eine materielle Welt, wie Egon Flaig bemerkt152. Die erlittene Gewalt ist semantischer und existentieller Form, sie umfasst die Welt der Bedeutungen und der Sinnhaftigkeit, der Zwecke und der lebenswelt­ lichen Verankerung. Es ist wohl nicht unangemessen an diesem Punkt darauf hinzuweisen, unter welchen Bedingungen dem Sklaven eine gleichsam »natürliche« Inferiorität zugeschrieben wurde, eine Form der Minderwertigkeit, die sich schon an Leib und Geist, Habitus und Kultur oder sonstigen Formen aufweisen ließe. Die Vereinzelung ließ keine Gruppensolidarität zu und somit wenig Kohärenzgefühle zwischen den Mitgliedern. Der Entzug von jeglichem Lebenssinn führte zu apathischem Verhalten, das für Außenstehende irritierend wirken mochte. Familienlosigkeit und der Verlust emotionaler Emp­ findungen erzeugen eine gefühlte Minderwertigkeit, die noch jenseits der Sprache existiert. 152

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

Ist es eine Sprache indes, die man »wiedergewinnen« könnte«? Kritische Theoretiker der Gegenwart wie Frank Wilderson bezwei­ feln, dass diese Form der Unterdrückung mit anderen Formen der Repression zu vergleichen sind. Denn die Annahme steht im Hinter­ grund, dass jemandem etwas entzogen wird, mit dem er oder sie nicht einverstanden ist. »Dass sie also, wenn sie sich erheben, etwas zurückgewinnen könnten – ihr Land, ihre Würde, ihren Lohn. Aber auf den Schwarzen, der aus der Sklaverei kommt, lässt sich das nicht anwenden. Ein Sklave hat nicht die Möglichkeit, sein Einverständnis zu irgendwas zu geben oder zurückzuziehen, er ist zu nichts ermäch­ tigt und hat keinen Zugang zu einem eigenen Ichideal.«153 Die Diskurse über diese Zusammenhänge dauern an. Man wäre versucht, diese Vergangenheit zwar nicht als abgeschlossen, aber eben als längst vergangene zu betrachten, insofern immerhin das Wissen um die Semantik der Minderwertigkeit gewachsen ist. Aber die Linien zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind brüchig; sie bieten keine Sicherheiten und keine letzte Versöhnung, weil die Subjektpositionen immer noch oder immer schon ungleich besetzt sind.

3. Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden All diese Einsichten müssen schließlich in eine Gegenwart übertragen werden, in der lebbare Verhältnisse und lebensdienliche Prinzipien ermöglicht werden. Man kann das Unrecht und die Gewalt, die wir in Vergangenheit und Gegenwart konfrontieren müssen, nicht mit dem Verweis auf den Rechtsfortschritt ausblenden. Ebenso wenig will eine Übertragung auf die Formen sozialer Hilfe gelingen, wenn sie einfach nur als »Parteinahme« der Ausgeschlossenen und Unter­ drückten geschieht. Eben weil die einfachste politische Mechanik nicht angemessen ist, muss die kritische Position durchdacht werden. Das Denken beginnt in dem Moment, in dem »wir« einem »Anderen« gegenüber treten und seine Situation »analysieren«. Es ist der falsche Moment, weil immer jemand auf eine Struktur bezogen, auf ein Leiden reduziert oder auf eine schlimme Vergangenheit zurückproji­ ziert wird. Eben diese negative Tektonik des Sozialen verlangt nach widerspruchsoffenen Strategien. Dazu zählt, wie zu zeigen war, die Selbstaufklärung über die Phantasmen des eurozentrischen Denkens. 153

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3. Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden

Dazu zählt aber in gleichem Maße eine Klärung über die Gegenwar­ ten, in und mit denen wir leben und über die universalistischen Bezüge, die dem Ethos des gemeinsamen Lebens angehören. Die Analyse der kolonialen und »zivilisatorischen« Gewalt gegen Andere und die Kritik des eurozentrischen Denkens sind zwei Gesichtspunkte, die Zusammenhänge und Differenzen mit sich führen. Ein Ethos, das eher dem Verbindenden als dem Trennenden gilt, benötigt die Reflexion des Widerspruchs. Das Ziel ist es insofern, das Motiv der Gewalt gegen Andere mit Hilfe des emanzipatorischen Universalismus zu durchdenken. Erst wenn die Gewalt gedacht wird, kann sie wirksam bekämpft werden. Wo aber beginnt sie? Gewalt begleitet die Menschheitsgeschichte, sie hat sich als Geburtshelferin großer Reiche und kämpferischer Staaten erwiesen. Sie ist immer zugleich bekämpft und begrüßt worden und findet immer eine neue Gestalt. Für das spezifische Thema der Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden aber gilt diese Ambivalenz nicht, sie ist eindeutig. Es scheint so, als wäre die inferiore Perspektive »des Anderen« immer schon von falschen Positionen her beschrieben worden. Selbst Kant, Verfechter und Wegbereiter des universalen Denkens, hatte für die Völkerschaften außerhalb Europas wenig übrig. Er unterschied zwischen Ethnien und Rassen nicht nur, sondern er zog scharfe Linien zwischen Höherwertigen und Andersartigen154. Die exzessive Sprache der Menschenfeindlichkeit des 20. Jahrhunderts hatte sich noch nicht entfaltet und es wäre töricht, die Größe einer Philosophie im Ganzen herabzustufen. Aber die Klarheit beginnt in der Scho­ nungslosigkeit. Die goldene Regel hat Bestand und Geltung; sie hat uns das Leben in normativen Selbstverständlichkeiten ermöglicht. Trotzdem kann man behaupten: es gibt eigentlich keine voll­ kommene Entfaltung einer großen Idee; keinen Fortschrittsprozess der endgültigen Verwirklichung eines universalistischen Maßstabs. Es gibt natürlich: Rechtsfortschritte, die nicht nichts sind; Freiheits­ rechte, Menschenrechte, die unter bestimmten Voraussetzungen ver­ bindlich werden. Aber das universalistische Motiv ist trügerisch, denn es ist immer nur dann von Wert, wenn es über den Weg der konkreten Verkörperung verläuft. Es ist das eine, die Geltung einer Philosophie, die Kraft einer politischen Initiative oder die Größe einer historischen Tat zu bewun­ Immanuel Kant: Von den verschiedenen Rassen der Menschen. Hg. von Phillip Schröder. Books on Demand.

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VI. Was bedeutet Eurozentrismus?

dern. Ein anderes ist es, die Schattierungen und Zweifel zu betonen und das Abgedunkelte hervor zu heben. Hatte nicht Kant somit dem antizivilisatorischen Impulsen Wirkung verliehen und hatte sein Denken nicht Anteil an jenem rassistischen Diskurs, der sich bis in die Gegenwart erstreckt? War Thomas Jefferson, Mitbegründer der großen Verfassung nicht im Herzen ein Rassist, dem die Überzeugung der naturgegebenen Minderwertigkeit der Schwarzen vor Augen lag? 155 Und wie sind die quasi-religiösen Initiativen zu bewerten, die sich nach der Französischen Revolution etwa in Großbritannien entfalten konnten? War es eine gestiegene Empfindsamkeit für Andere oder ein Impuls des schlechten Gewissens? Und darüber hinaus gefragt: wie verträgt sich die freiheitlich-liberale Entwicklungslogik der europä­ ischen Aufklärung mit der Einsicht in die atemlose Dynamik der außereuropäischen Sklavensysteme? Man kann keine Rechtfertigung finden, die über die offensichtli­ che Kluft hinweg führt. Woran kann man sich halten, wenn es stets ein »dahinter« gibt, das die Rhetorik der Würde in Zweifel zieht, wenn Macht und Überlegenheit der Einen über die Existenz der Anderen obsiegt? Hier ist eine der Wurzeln der postkolonialen Kritik zu finden, die sich auf die Möglichkeit des neuen Anfangs nicht mehr verlassen will. Das neue Denken ist darauf verwiesen, ein Ethos aus einem Nichts heraus zu bestimmen, da sich die Traditionen der Vernunft als trügerisch erwiesen haben. Damit wäre man freilich an einem Punkt des Endes der Geschichte angelangt, das nicht überzeugen kann. Das Ende der großen Erzählungen seit J. F. Lyotard ist plausibel, wenn man damit die übersehene Würde des Besonderen verknüpft. Aber das Ende eines Universalismus, der eben zu einer Versöhnung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen beiträgt, darf damit nicht gemeint sein. Der Universalismus lässt sich nicht aufteilen in wahrhaftige und verfehlte, ernst gemeinte und vorgetäuschte Formen. Sowohl die Idee, die im Denken entsteht wie auch die leibhaftige Verkörperung haben ihren Eigenwert. Sowohl die Deklaration wie auch der kon­ krete handfeste Widerstand atmet unter Umständen den universalis­ tischen Geist. Zu dieser Einsicht kann man freilich nur gelangen, wenn man die Bruchlinien unserer Zeit nicht leugnet, so schmerzhaft sie auch 155 Paul Finkelmann: Slavery and the Founders. Race and Liberty in the Age of Jef­ ferson. Armonk, NY/London 1996, S. 162.

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3. Gewalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden

erscheinen mögen. Wo genau solche Brüche zu verorten sind und wie wir ihnen begegnen können, ist im folgenden zu fragen.

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VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt

Einleitung. Über die Schwierigkeit mit dem Begriff des Kulturellen Einander fremd sein – in den meisten Fällen bezieht man sich bei dieser Relation auf Sprache und Kultur, auf eine Gruppe oder einen »Anderen«. Die Konfrontation mit dem Fremden kann bekanntlich eine negative Drift erhalten: wenn das Fremde an sich problematisiert wird, wenn es nicht einfach Fremdes bleiben »darf«, sondern sich als etwas Fremdartiges rechtfertigen muss. Das Fremde ist zudem ein Grenzbegriff, der kaum unabhängig von einem bestimmenden Subjekt oder einer gegebenen Ordnung gedacht werden kann. Als Kolumbus in seinen Reiseberichten verwundert feststellte, dass sich die Ureinwohner des Kontinents der Inbesitznahme mit keinem Wort verweigerten, hatte er wohl diese Asymmetrie gut bedacht. Es gab keine Sprache, in der die Kolonisierten hätten antworten können, keinen vertrauten Begriff, der das Recht vom Unrecht getrennt hätte. Die Landnahme, die in einem Akt der offiziellen Proklamation ver­ kündet wurde, zeugt von der subtilen sprachlichen Gewalt, welche die »Topographie des Fremden« immer mit sich führt156. Die Begegnung mit dem Fremden ist historisch besetzt. Die Bilder, die wir zur Verfügung haben, lenken die Wahrnehmung in eine Richtung. Es geht um Macht und Landnahme, um die Okkupation des Fremden, die hier eine urtümliche Form aufweist. Eine nachträgliche Harmonisierung will sich nicht einstellen. Zu aufdringlich erscheinen die Bilder, in denen nicht nur Fremde unterworfen, sondern das Fremde selbst ausgelöscht wurde. Dementsprechend ambitioniert sind die vielen ethisch grundierten Versuche, die Kategorie des Fremden aus der negativen Form zu befreien. Nicht indem man die 156 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 9.

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VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt

Geschichte des Fremden einer Revision unterzieht, sondern indem man ein kulturelles Ethos schafft. Die vorliegende Reflexion geht letztlich auch von dieser Notwendigkeit aus, eine Kulturtheorie zu beschreiben, die auf der Erfahrung der historischen Gewalt gründet und im Bewusstsein der zeitgenössischen Konflikte platziert wird. Konkreter lässt sich die Zielstellung der folgenden Überlegungen auf einen normativen Anspruch ausrichten. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass sich Lebensformen der Moderne im Widerstreit befin­ den. Die vielen Aspekte, die mit dieser Konfliktstruktur einher gehen, können hier nicht angemessen abgebildet werden; aber eine übergrei­ fende Frage muss gestellt werden: ob es schlichtweg möglich sei, dass sich die widerstreitenden Perspektiven und entgegen gesetzten Lager in einem gemeinsamen Horizont versammeln können. Ein Horizont des Allgemeinen, der natürlich unterschiedliche Auffassungen zulässt und sich nicht auf die eine (vermeintlich eurozentrische) Rationalität hin verkürzt. Es geht insofern weniger um eine Annäherung von sozialkritischen Theorien an jene Allgemeinheit oder »Normalität«, die ja das Zentrum des kritischen Diskurses bildet. Eher soll gezeigt werden, dass der hier zugrunde gelegte postkoloniale Blick in der Lage ist, eine unverzichtbare Erweiterung zu bilden. Nicht alleine, weil dieser Blick das Bewusstsein für das Unrecht, den Ausschluss oder die Verkennung des Anderen schärft (dies wäre auch mit anderen, u. a. vernunftrechtlichen Mitteln möglich). Sondern indem auf die Funda­ mente hingewiesen wird, an die jene sich gegenseitig abgrenzenden Positionen zurück zu binden sind. Diese Zielstellung verlangt zum einen die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien, wobei das Wagnis eingegangen wird, einen weitausgreifenden Horizont von Sozialtheorie zu erfassen. Im Zentrum steht dabei die geschichtliche Reflexion des Begriffs Kultur. Der zentrale Gedanke schält aus dem weiten Feld der Kulturtheorie eine entscheidende Fragestellung heraus: unter welchen Bedingun­ gen können »Kulturen« Beachtung finden, die ihnen aufgrund der Machtverhältnisse, aber auch aufgrund geschichtsphilosophischer Präferenzen verwehrt blieben? Ein dominanter geschichtsphilosophi­ scher Gedanke ist insofern zu dekonstruieren, der große Kulturen in einem Ausschlussverhältnis zu inferioren Kulturen beschreibt. Die Philosophie von Karl Jaspers wird insofern zur Sprache kommen, weil sie bei aller Größe einen bis heute spürbaren Fehlschluss begeht. Achsenzeitliche Kulturen wären demnach geschichtsfähig, während

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1. Vektoren des Fremden

sich mindere Kulturen nicht bewähren konnten und sie nie jene Achtung erfahren haben. Die zeitgenössische Philosophie, die hier von den Entwürfen von Bernhard Waldenfels, Jörn Rüsen und Thomas Rentsch vertreten wird, hilft aus den Sackgassen der Geschichtsphilosophie heraus. Sie konturiert einen Raum, in dem sich die Kultur der Differenz mit Sinn- und Ordnungskriterien verbindet. Der Grundgedanke, der erst am Ende der Reflexion präzisiert werden kann, zielt auf die Bedingun­ gen einer kritischen Sozialtheorie, der vielleicht ein Stück weit ihre vermeintliche Unversöhnlichkeit genommen wird. Darüber hinaus lenkt aber ein weiterer Gedanke die Reflexion. Theoretisch lassen sich über das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen, vom faktischen Ausschluss und der abstrakten Inklusion gelehrte Abhand­ lungen schreiben, aber konkret müsste im gleichen Maße gefragt werden, welche Vorzüge, Erweiterungen und Fortschritte denn sich aus dem Blickwinkel des postkolonialen Diskurses ergeben. Daher wird nach den eher theoretischen Erkundungen, bei denen es um die europäischen Diskurse der Vergangenheit und die gegenwärtige Kultur der Differenz geht (1–3), auch explizit nach dem Verhältnis von postkolonialer Theorie und praktischen Perspektiven im Kontext sozialer Professionen gefragt (4).

1. Vektoren des Fremden Vorangestellt sei, dass die Interaktionen zwischen einander Fremden ihrem Wesen nach vorübergehender Natur ist – und dass es zwar nicht selbstverständlich, aber wünschenswert ist, die Distanz zwi­ schen Fremden abzubauen und zumindest Räume der Vermittlung, der Begegnung oder gar der Vertrautheit entstehen zu lassen. Der Absolutismus des Fremdseins wäre der falsche Weg, den man nicht »beweisen«, sondern nur behaupten kann: er mündet in Sackgassen der Irrationalität, der Entzweiung, im unergründlichen Hass auf das Andere oder den Anderen. Vorausgesetzt, dass es schlichtweg sinnvoll erscheint, die Vek­ toren der Fremdheit zurück zu biegen, scheinen sich verschiedene Wege des Umgangs mit dem Fremden anzubieten. In den Mittelpunkt rückt dabei der Begriff der Kultur in historischer und philosophischer Perspektive. Die naheliegende Praxis des sensiblen Umgangs mit fremder Kultur erweist sich als Form der Selbstkritik: die Überzeu­

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gung, alleinige Quelle des Friedens und Motor allen Fortschritts zu sein, wird zurückgenommen in eine kritische Selbstbetrachtung. Es handelte sich um gnadenlose Überhöhung mit ebenso gnadenloser Gewalt gegenüber allem, was als »wild« oder primitiv« überschrieben wurde. Die Paradoxie wird man freilich schonungslos betrachten müssen, ohne sie jemals »loszuwerden«: von einem »Wir« auszuge­ hen, dass sich gegen Andere positioniert, obwohl oder indem es sie in den Bereich des Eigenen hineinzieht. Auch die vorliegende Reflexion kommt von dieser Ambivalenz nicht los: »Wir« kennen diese Form der Selbsttäuschung aus der europäischen Geschichte und wir sind es gewohnt, diese dunkle Seite auch in ihren aggressivsten Formen der Vergangenheit zuzuschreiben, der man heute nicht mehr sprachlos gegenüber steht. Das »Wir« ist insofern zu kritisieren und die Bedingungen des Sprechens sind auszuweisen – aber das heißt sicherlich nicht, überhaupt auf die Möglichkeit der Sprache (inklusive ihrer Kritik) zu verzichten. Vielmehr haben wir kritische Begriffe und diskursive Arenen gebildet, um dieser Vergangenheit mit offenem Visier zu begegnen. Ein überzeugender Weg, dem Fremden zu begegnen, liegt in der Zurückweisung eines angeblich ursprünglichen Konflikts. Kultur ist demnach nicht das, was gerne vereinfachend behauptet wird: eine Quelle des Konflikts, erster Bezugspunkt eines Hasses, der den Namen Kulturkampf trägt. Im Schreckensbild einer untergehenden Kultur wird die vermeintliche Feindschaft unserer Zeit beschworen. Die Kultur erscheint hier vor allem als Vehikel für spezifische Inter­ essen, die Komplexität des Sozialen auf eine handhabbare Unter­ scheidung zurückzuführen – Wir gegen Sie. Der homogenen Kultur kommt in dieser Situation eine überragende Bedeutung zu: sie wirkt wie ein Versprechen auf Vollwertigkeit, Anzeichen von Macht und Stärke. Ein gemeinsames Erbe und eine geteilte Vergangenheit sind zu bewahren und gegen fremde Mächte zu verteidigen. Den Extremen und den Außenseitern spielt dieses Sinnangebot bekanntlich in die Hände; alles kommt insofern darauf an, den Begriff einer gemeinsa­ men Kultur zu etablieren, der sich aus verschiedenen Quellen speist und nur in Kategorien des Zusammenflusses zu greifen ist. Es gibt in Sachen Kultur nicht die eine Quelle, schreiben Trojanow und Hoskote, sondern verschiedene »Rinnsale, Bäche, Kanäle«157, die sich an einem 157 Ilja Trojanow/Ranjit Hoskote: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen. Frankfurt a. M.: Fischer 2017, S. 19.

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Punkt vereinigen und dann wieder verzweigen, die etwas ergänzen und anderes fortspülen. Geschichte und Kultur als Zusammenfluss. Die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Kultur liegen gleichwohl auf der Hand. Es ist ein Titel, über den jemand zu verfügen meint, weil er ganz zu ihm gehört. Die Zugehörigkeit einer Kultur zu einem Raum, zu einer Geschichte, zu einem Artefakt könne die Gestalt des Eigenen verbürgen. Sobald sich eine fremde Kultur der eigenen Kultur gegenüberstellt, beginnen die Konflikte. Die andere Schwie­ rigkeit liegt vermutlich in der gnadenlosen Überhöhung einer groß gedachten Kultur, die alles umfassen soll und nichts außen vorlässt, so dass sich eine neue Harmonie eines globalen Ethos einstellt, gespeist aus der Mannigfaltigkeit der kulturellen Formen. Hier geht es vorrangig um das Verhältnis von Sprache und Gewalt, das man in zwei Richtungen entfalten kann: Gewalt kann als das ganz Andere jeder politischen Lebensform verstanden werden oder beide Sinnformen sind eng ineinander verschlungen. Wir haben es mit zwei Formen des Umgangs mit Kultur zu tun. Die eine Form beschwört Feindschaften und Gegensätze, die andere betont ein Miteinander. Der Gegensatz ist deswegen problematisch, weil er dem Kulturellen etwas zuschreibt, das seinem Wesen nicht entsprechen kann. Kultur ist Gewordenes, aber auch gegenwärtige Praxis. Im Bild einer festen Einheit, die einer möblierten Einrichtung gleicht, wäre sie falsch begriffen. In der gegenständlichen Anord­ nung werden kulturelle Gegebenheiten zu Kulturtatsachen – aber sie werden bekanntlich erst durch Wahrnehmungen, Interpretationen, Aktualisierungen und Parteinahmen hervorgebracht. Kultur ist dem­ nach kein fester Bestand, den man entbergen kann, sondern sie ist das niemals Fassbare, das sich der endgültigen Definition entzieht. Kulturen können nicht »enthüllt« werden – sie haben kein Geheimnis, das wir hinter ihrer funkelnden Fassade erkennen könnten. Sie weisen immer über sich hinaus und sind am ehesten noch als Anzeichen eines Verlusts, einer Kompensation, einer Leere richtig begriffen158. Diese philosophische Sicht auf die Kultur ist von Bedeutung für die angeblich kulturell bedingten Konflikte der Gegenwart. In verschiedenen Spielarten tritt die Kultur als Interpretament hervor, das bestimmten Interessen dienlich ist. Kultur ist in einem bestimm­ ten, gerne aufgegriffenen Bild: eine Quelle der Gewalt. Sie lässt 158 Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Hamburg: Reinbek 2003, S. 7–15.

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Erzählungen der Feindschaft entstehen, die allesamt auf einem miss­ verständlichen Bild beruhen. Darüber hinaus ist Kultur scheinbar unentbehrlich, insofern sie als begrenztes Feld von Geboten, Sitten und Regeln eine Gemeinschaft hervorbringt und Lebensformen zu einem Bewusstsein ihrer Selbst führt. Damit aber ergeben sich mas­ sive Probleme für diejenigen, die angeblich über keine eigene Geschichte, keine eigene Kultur verfügen können, weil sie die längste Zeit der Herrschaft Anderer unterworfen waren. Erst eine alternative Herangehensweise bewahrt die Kategorie des Kulturellen vor überhöhten Ansprüchen und rigiden Verengun­ gen. Hier soll der Versuch gemacht werden, einen anthropologiekriti­ schen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Kultur wird demnach als ein Gefüge verstanden, in dem sich interexistentielle Bedingungen abbil­ den.

2. Der koloniale Blick: Politische Imagination und Eurozentrismus »Der koloniale Blick« ist eine Formulierung mit einem weiten Spek­ trum. Auf eine einprägsame Formel reduziert, bezieht er sich auf die möglichen Bedingungen, bzw. auf die Art und Weise, wie Andere angeschaut werden. Dieser Blick ist zeit- und geistesgeschichtlich belastet. Er ist zudem von einer Virulenz, die man nicht los wird und die keineswegs auf eine bestimmte Vergangenheit zu reduzieren ist. Mit jener historischen Phase, die den Titel des Kolonialismus trägt, ist er natürlich eng verflochten; aber als ein soziales Phänomen weist er über eine vermeintlich abgeschlossene Vergangenheit hinaus. Der koloniale Blick ist bekanntlich nicht an den Kolonialisten gebunden. Winston Churchill erkannte in den nach Süden verdräng­ ten schwarzen Ureinwohnern des Sudan Menschen auf der frühesten Entwicklungsstufe, die kaum in der Lage waren, »über ihr leibliches Wohl hinauszudenken«. Auf einer prähistorischen Schwelle verhar­ rend, präsentierten sie sich dem britischen »Eroberer« als von Natur aus grausam und liederlich, von geringer Intelligenz, aber auch von entschuldbarer sittlicher »Niedrigkeit«159. Winston Churchill: The river war. London 1899, S. 14, zitiert nach Erhard Oeser: Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie. Darmstadt: WBG Theiss 2015, S. 330. 159

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Man möchte diesen Blick natürlich weit von sich fern halten. Auf diese Weise blicken jene großen Männer der Geschichte, die sich unter dem strengen Urteil der Nachgeborenen mit jener Gewalt verbündet haben, von der man gegenwärtig so weit entfernt ist. Der Zweifel wird freilich nicht geringer, wenn man das Feld des Politischen verlässt und die philosophischen Größen einbezieht. So erschütternd die Rede eines Immanuel Kant im Rahmen seiner naturdeterministi­ schen Argumentation vielen auch erscheinen mag – sie ist durchaus reduktionistisch. »In den heißen Ländern« reife der Mensch zwar früher heran, aber ohne jemals die »Vollkommenheit der temperierten Zonen« zu erreichen160. Der Klima- oder Naturdeterminismus ist ein Kind der Geopolitik des 19. Jahrhunderts. Kant sprach aus, was den Macht- und Raumfor­ mationen der Zeit entsprach. Der biologistische Komplex, den man heute als Kennzeichen imperialen und kolonialen Denkens zur Kennt­ nis nimmt, wäre demnach als ein Muster einer »gesellschaftlichen Reflexionskultur«161 einzuordnen. Ob man nun die Werke von Herder, Kant oder gar Hannah Arendt einer Revision angesichts einzelner Textstellen in Frage stellt, ist hier nicht von Belang. Der koloniale Blick ist offenbar nicht an Einzelne gebunden, sondern an die Texturen und Dispositive einer Zeit. So wird es heute nicht überraschen, dass es koloniales Denken bereits vor dem Kolonialismus gab und dass der koloniale Blick mit der politischen Imagination der Gesellschaft aufs engste verbunden war. Bereits vor Beginn der imperialen Expansion lassen sich etwa unbewusst geäußerte Kolonialphantasien bemerken, die – hier im Falle der deutschen Kolonialgeschichte – einem tiefreichenden expan­ siven Verlangen gleichkommen162. Dieser Phantasie-Kolonialismus wühlte gleichsam in den Feldern von Macht, Sexualität, Unterwerfung und Selbsterhöhung, die vielfach beschrieben worden sind. Aber bei allem, was sich bei genauerer Analyse dem Betrachter als bizarre Projektion offenbart – so ist es doch das Verhältnis von Sprache und Gewalt, das in den Mittelpunkt rückt. Der koloniale Blick ist gewalt­ sam, besitzergreifend, expansiv. Aber ebenso, wie es gewissermaßen 160 Immanuel Kant/E. Henscheid: Der Neger. Frankfurt am Main 1985, zitiert nach: Paul Reuber: Politische Geographe. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, S. 71. 161 Reuber 2012, S. 71. 162 Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family and Nation in Precolonial Germany, 1770 -1870, Durham 1997.

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»Kolonialismen im Plural«163 gegeben hat, die man nicht auf die formale Territorialherrschaft reduzieren kann, so ist auch die Art und Weise der kulturellen Imagination vielschichtig. Die Behauptung, dass wir den kolonialen Blick nicht loswerden, dass er weiterhin das Denken besetzt, ist hier in Rechnung zu stellen. Missverständlich wäre er, wenn man sich damit begnügt, die Konti­ nuität rassistischer und kolonialer Muster zu beweisen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Dies hieße, sich von der kommunikati­ ven oder physischen Gewalt Einzelner beeindrucken zu lassen. Der koloniale Blick ist aber auch nicht als ein Ausdruck der hegemonialen Bedingungen unserer Zeit zu verstehen, zu denen eben weiterhin rassische Stereotypien und politische Imaginationen gehörten. Beide Aspekte sind in Rechnung zu stellen und mit offenem Visier zu analysieren, aber um zumindest eine Dimension zu erweitern. Der koloniale Blick meint darüber hinaus eine neue Art und Weise des kritischen Sehens. In dem Begriff versammeln sich das Wissen um eine Vergangenheit, in der Andere zu Objekten der Besitz­ ergreifung gemacht wurden, sowie das Wissen um die Kontinuität von Gedankenfiguren und Imaginationen, denen ein moralisches, zivilisatorisches oder kulturelles Gefälle eingeschrieben ist. Der kolo­ niale Blick umfasst aber auch die Bedingungen der gegenwärtigen politischen Reflexion. In der diskursiven Situation der Gegenwart wird freilich die Luft für politisch-moralische Auseinandersetzungen dünn. Große morali­ sche Narrative besetzen den Raum und verengen bisweilen die kom­ munikativen Spielräume. Man könnte vermuten, dass die Begriffe von Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus auf Augenhöhe zu verorten wären, weil sie als Spielarten eines negatorischen Weltbildes erscheinen. Aber die jüngsten Debatten haben eindrücklich bewie­ sen, dass es sich scheinbar um konkurrierende Erzählungen handelt, die natürlich unterschiedliche sozialhistorische Hintergründe haben, aber eben auch »Anhänger« und »Fürsprecher«. Die Empfindlichkei­ ten sind gestiegen, ebenso wie sich neue Disziplinen etabliert haben, die sich in Konkurrenz zu den vermeintlich hegemonialen Diskursen befinden – oder dort platziert werden. Der koloniale Blick thematisiert die Perspektive der »Entkolo­ nialisierung« unter spezifischen Voraussetzungen, die mal ausgespro­ 163 Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. München: C. H. Beck 2008, S. 15.

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chen und mal verdunkelt bleiben. Oberflächlich geht es um die Kritik der Macht, die sich in Raum und Zeit entfalten soll und dabei offenbar auf ein Gegenüber verwiesen ist. Ist kritischen Denkern wie Achille Mbembe Recht zu geben, wenn er Europa vor allem zu einem Gegner auf der historischen Bühne erklärt – zumindest jenes Europa, das immer darauf bestanden hatte, Motor und Geist eines welthistori­ schen Entwicklungsprozesses zu sein? Die Kritik am europäischen Zentrismus ist eingängig: die »Eigentümlichkeit der europäischen Geschichte« bestünde darin, keine »andere Form von Humanität« gelten zu lassen, und die eigene Lebensform für »allgemein mensch­ lich« zu halten164. Europa, als historisch gewordene Lebensform, defi­ nierte sich demnach über Vernunft und Universalität, die jeder ande­ ren Lebensform zugestanden wird, aber eben auch einen hellen Kern hat. Nur auf der Oberfläche lässt sich hieraus eine Entzweiung schlussfolgern. In der Tiefe aber geht es – und insofern ist der kritische koloniale Blick zu verteidigen – um die Bedingungen eines emanzipatorischen Universalismus, damit auch die Voraussetzungen der Anerkennung und Verkennung.

3. Gewalt und Sprache Der Ausgangspunkt des kolonialen Denkens liegt in einer voraus­ setzungsvollen Denkbewegung: der Infragestellung eines Universa­ lismus von oben. Dem Ethnozentrismus ist seine Spitze zu nehmen, aber den Eurozentrismus zu dekonstruieren, ist ungleich schwieriger. Die Verkörperung des Universellen in einer konkreten Gestalt war immer zwiespältig; der Führungsanspruch, der von der Philosophie ausgehend formuliert wurde, verdankt sich einer zugeschriebenen Einzigartigkeit, die für das Ganze verbindlich wird. Diese Kritik muss hier aber nicht wiederholt werden165. Näher an der Wirklichkeit unserer Zeit ist die Gegnerschaft, die sich angeblich als Gefahr für das europäische Prinzip ausweist. Das Andere und Fremde steht vor den Grenzen der eigenen Ordnung 164 Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkoloniali­ siertes Afrika. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 90. 165 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

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und wird als das schlechthin »Andere Europas« zum Repräsentan­ ten dieser Bedrohung166. Was aber genau ist es, das diese unklare Bedrohung ausmacht? Man könnte es sich einfach machen und einen Bezug zum Fremden herstellen: Fremde stehen als Fremdartige der eigenen Ordnung gegenüber, sie stehen vor Grenzen, die sie mal überschreiten dürfen, vor denen sie aber meist verharren müssen. Das Fremde wäre demnach nicht nur deswegen eine Bedrohung, weil es mit fremder Kultur einhergeht, sondern weil es als Störung der eigenen Ordnung erscheint. Erst der Begriff der Alterität bringt die Verhältnisse auf den kri­ tischen Punkt. Alterität meint: die Präsenz eines Gegenüber in einem gemeinsamen Raum, dessen Herkunft, Identität und Erfahrungen im Dunklen bleiben. Nur in einem Zwischenraum zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist diese Alterität zu platzieren. Die Frage ist immer, wie man mit diesem unverfügbaren, intransparenten Anderen umgehen kann. Europas vermeintlicher Universalismus wirkt nicht umarmend, sondern entfremdend. Die drohende Alteration gibt sich in verschie­ denen Bruchlinien zu erkennen: Europa ist in sich gespalten – in Gemeinschaften mit offenem Universalitätsanspruch und solchen, die sich auf sich selbst zurück ziehen. Die behauptete universale Vernunft spaltet sich auf167. Der Andere wird zur existentiellen Bedrohung, zum Anderen der eigenen Vernunft – Mbembe vermutet hier gar einen Rückfall in die Sprache des Totalitarismus168. Bei aller berechtigten Kritik an der europäischen »Rationalität«, die neue Gräben im Bereich des Politischen aufreißt – es bleibt die Frage, wie man mit den Mitteln der Sprache neue positive Gestal­ tungsräume schaffen könnte. Die Sprache als Mittel und Medium rückt dabei in den Fokus. Nicht, weil sie in der Lage wäre, einen politischen Raum jenseits aller Gewalt freizuhalten. Sondern weil sie die scheinbar unvermeidliche Kontamination der Sprache mit der Gewaltsamkeit selbst zur Disposition stellt. Und dies betrifft, wie wir im folgenden sehen werden, vor allem die Beziehung, die ein vermeintlich altermondialistisches (J. Derrida), globalisierungskriti­ Mbembe 2016, S. 92. Jan Patocka: L`Europe aprés L`Europe. Paris: Verdier 2007; Marc Crépon: Europa denken. Jan Patockas Reflexionen über die europäische Vernunft und ihr Anderes. In: transit 30, Winter 2005/2006, S. 40 ff. 168 Mbembe 2016, S. 92. 166

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sches Europa gegenüber der Gewaltsamkeit und dem Konflikt der Anderen einnimmt. Der höchste Anspruch, den man an die Instanz der Sprache stellen kann, ist wohl die Frontalstellung zum Phänomen der Gewalt. Hannah Arendt hatte in diesem Sinne einen idealistischen Blick auf Sprache und politische Kommunikation gepflegt. Gewalt spricht nicht und tritt demnach niemals politisch in Erscheinung. Sie zerstört auf lange Sicht das Politische, das seinerseits als ein heller Raum der offe­ nen Kommunikation erscheint. Wo Gewalt herrscht, ist das Politische und somit jede Kommunikation bereits vernichtet; wo hingegen das Politische den Raum besetzt, könne sich gar keine Gewalt entfalten169. Von verschiedenen Seiten ließe sich hier Einspruch erheben. Gewalt tritt nicht jenseits, sondern bereits in der Gestalt des Wortes auf170; insbesondere wenn es darum geht, die Gewalt von sich fern zu halten, kommt es zu eigentümlichen Allianzen. Man kann es am besonderen Fall der ethnischen Interpretation von modernen Konflikten beobachten. Es gibt ein eingängiges Bild, das in diesem Zusammenhang gern verwendet wird, vielleicht weil es die Dinge überschaubar macht. Jede Gewalt-Feindschaft habe, so wird nicht selten suggeriert, eine Wurzel, bzw. einen Ursprung, aus der sie hervorgeht. Jeder Konflikt zwischen unterschiedlichen Parteien hat eine »Geschichte« und einen Verlauf. Das ursprüngliche Gegeneinander könnte zwar eine Zeitlang unter­ drückt werden, durch Regime und politische Maßnahmen verdeckt. Aber nach einem unbestimmten Zeitraum bricht die Gewalt hervor, lassen sich die Animositäten nicht mehr verbergen. Die Sprache erweist sich in diesem Fall als günstiges Vehikel, um diese Konstruk­ tion zu verstärken. Die uralten Feindschaften brechen hervor, lange gehegte Konflikte kommen an die Oberfläche, uralte Fehden zwischen rivalisierenden Mächten geben sich zu erkennen. Der Konflikt wird reduziert auf Ethnie und Kultur. Die Intensität ergibt sich angeblich aus dem Gegensatz, der uns von den anderen trennt und »immer schon« da war. Beispiele ließen sich heranziehen, ferne und nahe. Kriege auf dem afrikanischen Kontinent etwa werden gerne als ethnopolitische Konflikte gedeutet, in denen uralte, kulturell bedingte Rivalitäten Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1994, S. 21 ff. Burkhardt Liebsch: Gewalt in und versus Sprache. In: Ders.: Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale. Band II, Elemente einer Topographie des Zusammen­ lebens. Freiburg: Karl Alber 2018, S. 972 ff.

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entzündet werden. Das Beispiel Südosteuropas liegt ebenfalls nah, um den Faktor des Ethnischen zu betonen. Die Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien sind ein gern bemühtes Exempel. Unter dem Eindruck des Ost-West-Gegensatzes und diktatorischer Herrschaft sei das ethnische Bewusstsein lange Zeit unterdrückt worden. Der vermeintliche Nachholbedarf sei nach 1989 dann zum Ausdruck gekommen, seit die nationalen, politischen und ethnischen Minder­ heiten »erwachten«. Was lange Zeit unterdrückt wurde, komme nun zum Ausdruck, suggeriert diese These. Dort, wo der Krieg nach langen Jahren wieder aufflammt, scheint sich ein Determinismus Bahn zu brechen. Das ethnische Bewusstsein käme demnach einer anthropo­ logischen Gestalt gleich, die man in politischen Verhältnissen zwar beherrschen könne, die aber auf lange Sicht ihr kämpferisches, leiden­ schaftliches, unbezähmbares Wesen erweist. Die Rede vom ethnischen Konflikt ist verführerisch. Sie erzeugt eine Orientierung in Zeiten von Weltbürgerkriegen, deren eigentliche Signatur die Unübersichtlichkeit ist. Sie hat unwidersprochen einen Eigenwert, wenn es gilt, die gewaltsamen Brüche im 20. Jahrhundert zu verstehen171. Aber sie zeigt zugleich, inwieweit Sprache keinerlei Gewaltlosigkeit garantiert, sondern immer mitbedingt. Auf einer anderen politischen Ebene lässt sich dieses Ineinander von Sprache und Gewalt aufzeigen. Denken wir an die Konstituie­ rung der Nationalstaaten am Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Was war der Grund für die militärische Durchsetzung der neuen nationalstaatlichen Ordnungsprinzipien auf dem Balkan bis 1923? 171 Dan Diner: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München: Beck 2003, S. 17. Jeder gelehrte Versuch, sich dem Saeculum mit narrativen Mitteln zu nähern, ist auf Kategorien verwiesen, die Komplexität reduzieren. Für das Jahr­ hundert der totalen Gewalt hat sich bekanntlich die Rede vom Weltbürgerkrieg der Werte und Weltanschauungen eingebürgert. »Zeitikonen« spannen die Geschichte zwischen 1917 und 1989 aus – hier findet eine bedeutsame Periode in der gewaltsamen Revolution ihren Beginn und in der friedlichen Revolution ihr definitives Ende. Die fundamentale Gegnerschaft überzog den gesamten Globus, ein »sich systemisch durchziehender Dualismus« (ebd.), der die Welt in den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit, Bolschewismus und Antibolschewismus, Ost und West einsperrte. An der Geltung solcher Deutungen besteht kein Zweifel, aber sie verschatten immer auch alternative Interpretamente. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt war es die Wiederbelebung von Ethnos und Nationalität, die Historikern zu Denken gab. »In der Epoche des Weltbürgerkrieges der Werte und Ideologien schienen diese Konflikte wie anästhetisiert, gleichsam ruhig gestellt, wie überwältigt von der lär­ menden Rhetorik widerstreitender Universalien«. (Ebd., S. 19).

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Man versuchte bekanntlich, neue Staaten als Sprach- und Abstam­ mungsgemeinschaft zu bilden; dazu war es anscheinend notwendig, ethnische Gruppe zu sortieren und Bevölkerungstransfers im gro­ ßen Stil zu erzwingen. Der Austausch der Völkergruppen zwischen Griechenland und der Türkei ist hier zuerst zu nennen: Flucht und Vertreibung der Menschengruppen, die dem ethnisch-sprachlichen Ordnungsprinzip nicht entsprachen, waren die Folgen, die unter den Augen der Kolonial- und Großmächte mit dem Tod Hunderttausender Menschenleben einher gingen. Die Sprache war in diesem Fall nur ein Mittel, um eine Homogenität zu erzwingen, diese gleichsam herzustellen. Sie widersprach allen geschichtlichen Erfahrungen jener Regionen, die immer auch von ethnischer Pluralität und sprachlicher Diversität geprägt waren172. Die philosophische Reflexion kann sich von diesen Einsichten nicht vollkommen distanzieren. Die erwähnte Reinheit, die man in der Sprache – in einer Frontalstellung gegen alle politische Gewalt – vermutet, ist zumindest ambivalent. Die Philosophie der Gewalt erhebt dementsprechend Einspruch gegen jegliche Überhöhung: Sprache und Politik sind demnach eher ineinander verschlungene als getrennte Wirkungsbereiche, Gewalt verbindet sich mit dem Wort, sie tritt sogar als sprachliche Verkörperung in Erscheinung. Die Ambivalenz ist schwer zu lösen. Auf der einen Seite bieten sich kaum Auswege aus den Gewaltverhältnissen an, sei es im Blick auf vergangene Gewalterfahrungen, sei es mit dem klaren Blick auf gegenwärtige Gewaltszenarien. Wir waren und sind einer Gewalt­ samkeit ausgesetzt, die »an-archisch« ist, immer schon mit und in bestimmten Ordnungen eingebettet173; wir können uns im Horizont der Gewaltgeschichte keine »Illusionen über vermeintliche Auswege

Sabine Riedel: Ethnizität als schwankendes Fundament staatlicher Ordnung. In: Ulrich Albrecht/Michael Kalman/Sabine Riedel/Paul Schäfer (Hg.): Das Kosovo Dilemma. Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhun­ derts. Münster: Westfälisches Dampfboot 2002, S. 47–63; Günther Schlee: Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte. München: Beck 2006. 173 Bernhard Waldenfels: Aporien der Gewalt. In: Mihran Dabag/Antje Kapust/ Bernhard Waldenfels (Hg.): Gewalt. Strukturen. Formen. Repräsentationen. Mün­ chen: Wilhelm Fink 2000, S. 9–25; Ders.: Metamorphosen der Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Mün­ chen: W. Fink 2014, S. 135–155. 172

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aus der Gewalt leisten«174, die von vollkommener Gewaltfreiheit aus­ gehen. Andererseits sind die Perspektiven auf die Formen des Verzei­ hens und der Versöhnung keine bloßen Floskeln, noch sind sie Aus­ weis einer sprachlichen Ohnmacht. Der integrale Zusammenhang von Sprache, Ethik und Politik ist zu verteidigen, gegen jede Stimme der Gewalt und gegen jede Form der Verletzung.

4. Die Kultur der Differenz Worauf lässt sich schließlich eine Kultur der Differenz zurückführen, die sich in der Kritik des westlichen Denkens, der Hegemonie und der Gewalt bewährt und der Verteidigung des Singulären gelten soll? Worauf, genauer gefragt, zielt denn die Kritik der Gewalt, wenn sie sich doch in bestimmter Weise zu dem universalistischen Wahrheits-, Vernunft- und Moralverständnis einordnen muss? Eine universalistische Moralität ist bekanntlich eine komplizierte Sache. Im Horizont der westlichen Zivilisationsgeschichte entfaltete sich der Vernunftanspruch des Menschen nach der Zurückweisung mythi­ scher, religiöser und autoritärer Setzungen. Die säkulare Moderne – und mit ihr die universalen Ansprüche an Recht, Wissenschaft, Politik, usw.. – war und ist das Ergebnis eines zähen Entwicklungs­ prozesses. Diesem Universalismus erster Ordnung kann man vieles zumuten: die Freiheit der verschiedenen Lebensformen oder die Relativität von Standpunkten. Die praktische Vernunft und jegliches moralische Urteil des universalistischen Diskurses impliziert eine Allgemeingültigkeit. Sie lässt keine Lebensform außen vor und ist insofern gleichermaßen universal und relativistisch zu verstehen175. Keine Institution und keine Kultur, keine einzelne Lebensform und keine sittliche Perspektive wird von diesem Vernunftbegriff bevorzugt oder ausgelassen. Wie aber lässt es sich erklären, dass genau an diesem Punkt die Kritik des postkolonialen Denkens einsetzt und verschwiegene Burkhard Liebsch: Der Gewalt ausgesetzt. Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik. In: Ders.: Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale. Band II, Elemente einer Topographie des Zusammenlebens. Freiburg: Karl Alber 2018; S. 977. 175 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 13 ff.; Friedrich Kambartel: Philosophie der humanen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 27 ff. 174

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4. Die Kultur der Differenz

Formen des ethnozentrischen Denkens vermutet? Die Frage führt die Überlegungen zuletzt auf das weite Feld von interkultureller Hermeneutik, Geschichtsphilosophie und Ethik. Die entscheidenden Kriterien werden sichtbar, wenn man die Beziehungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen genauer befragt. Das Besondere bedeutet hier: all jene Lebensformen, die sich als partikularistisch oder traditionalistisch erweisen, insofern sie an den Bedingungen der liberalen, »westlichen« Modernität nicht teilhaben. Partikulare Lebensformen können sich in tribalistischer Kultur, in Theozentrik oder Polytheismus ausdrücken. Die Frage ist nicht, ob diese Lebensformen als »gleich-gültige« Toleranz und Gel­ tung verdienen, sondern inwiefern sie den Bedingungen der univer­ salen Anerkennbarkeit unterliegen. Anhand einer älteren geschichts­ philosophischen Debatte lässt sich diese Problematik verdeutlichen. Geschichte ist, allgemein formuliert, mehr als nur ein heißes oder kaltes Verfahren, sondern Ethos und Stiftung, eine »Angelegenheit der kulturellen Situierung.«176 Diese Einsicht ist nicht neu. Wir sprechen wie selbstverständlich von historischen Traditionen und Erinnerungsgemeinschaften, die auf eine gemeinsame Vergangenheit blicken. Ebenso selbstverständlich sprechen wir von bedeutenden »Kulturen«, die einen Teil der universalen Menschheitsgeschichte bilden. Diese Kulturen erweisen sich als geschichtsfähig, weil sie ein kulturelles Erbe erhalten haben. Solchen Kulturen wird mit guten Gründen eine eigene Dignität zugeschrieben, die zu bewahren sei. Könnten diese Kulturen nicht zu einer großen, einheitsstiftenden Erinnerungskultur zusammengefügt werden? Es ist ein Gedanke, den man schwerlich abweisen kann: wenn es möglich ist, eine universale Menschheitserzählung zu formieren, würden sich dann nicht alle trennenden Konflikte und alle Gewalt aufheben? Karl Jaspers hatte diese Motive in einen großen Entwurf überführt. Er erkannte in der sogenannten Achsenzeit eine welthistorische Epoche von unschätzba­ rem Wert. Die »großen« Kulturen zwischen dem achten und dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert hatten radikale Veränderungen im kulturellen Bewusstsein in Ost und West offengelegt. In Indien, China und Europa wurden Bewegungen der Selbstdistanz erkennbar, die von einem existentiellen Staunen zeugten. In Ost und West stellte man radikale Fragen, über die Tiefe des Selbstseins und die Unverfüg­ 176 Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte. Berlin Kadmos 2003, S. 12.

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barkeit der Existenz. Die Menschen traten als fragende und reflexive Wesen hervor. Sie verließen den Kontinent der mythischen Erzäh­ lungen und forderten transzendentale Antworten, Sinn, Bedeutung, Religion. Die Ähnlichkeit des Erwachens verschiedener Kulturen erschien Jaspers als höchst bedeutsam für die weitere Menschheitsge­ schichte, weil eben »hier geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann.«177 Die Achsenzeit sei eine Epoche mit universalem Charakter. Sie eröffnet die Möglichkeit der grenzenlosen Kommunikation zwi­ schen den Kulturen. Unter dem Eindruck der katastrophalen Irrwege, die das Europa des 20. Jahrhunderts eingeschlagen hatte, war die Zusammenführung aller getrennten Kulturen eine dringliche Ange­ legenheit. Ausgehend vom ersten Impuls der Achsenzeit zeigte sich das universale Subjekt namens Menschheit als sinnstiftendes und friedensförderliches Motiv. Eine neue Einheit der Menschheit, die sich von Rivalität und Zwietracht, Konkurrenz und Konflikt lossagen sollte, könne als Garant des Zukünftigen verstanden werden. Es ist ein kulturtheoretischer und philosophischer Entwurf, der einer Neubewertung bedarf178. Der ethische und philosophische Grundgedanke erscheint unabweisbar: eine tiefergehende Einheit menschlicher Kultur lässt sich zusammenfügen im Bewusstsein einer verbindlichen moralischen Grammatik, die Vielfalt der kulturellen Formen wäre eingebettet in eine kulturelle Ordnung, die nichts außen vor lässt. Fortschritte haben immer auch eine Ambivalenz. Können Kul­ turen als geschichtsfähig bezeichnet werden, wenn sie ein gewisses Stadium der Reflexivität erreicht haben – und zielen alle Kulturen darauf, kulturelle und ethnische Schranken zu überwinden? Was ist mit den vermeintlich minderen, vorreflexiven Kulturen, die an der von oben gesetzten Norm scheitern und ein Leben am Rande der Geschichtsfähigkeit führen? Wäre so verstanden die Norm der Geschichtsfähigkeit nicht auch missverständlich, weil sie individuelle Entwicklungen jenseits des streng Logofizierbaren ausschließt?

Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Berlin: Fischer 1955. Aleida Assmann: Einheit und Vielfalt in der Geschichte. Jaspers` Begriff der Ach­ senzeit neu betrachtet. In: S. N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen des Achsenzeit II. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 330– 341. 177

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4. Die Kultur der Differenz

Sowohl von einem philosophischen wie auch von einem pädago­ gischen Standort aus lässt sich ein gravierendes Problem umschrei­ ben. Vereinfacht gesagt, geht es um das Missverhältnis zwischen dem Verallgemeinerungsfähigen und dem Besonderen. Man kann es in ein Bild voller symbolischer Strahlkraft fassen: Walter Benjamin, der Impulsgeber der Kritischen Theorie, erkannte den Engel der Geschichte, der zum Betrachter einer humanen Katastrophe wurde. Die überlieferte Historie war in Wahrheit ein Aufschichten von Trümmern; das heißt, Geschichte wurde von den Siegern geschrieben, sie sei ein einziger Triumphzug, der alle unerfüllten Hoffnungen der Ausgeschlossenen und Unterdrückten zurückließ. Die Allegorie des »angelus novus« ist bis heute virulent, weil sie die unfertigen Elemente der Geschichte in düstere Motive überführt179. Das Problem des Universalisierbaren erhält deutlichere Kontu­ ren, wenn man an den Diskurs der interkulturellen Pädagogik erin­ nert. Demokratische Bildungskonzepte zielen auf ein gemeinsames Fundament, das verschiedene Titel hat: Autonomie, Selbstverfügung, Bildung. Es ginge folglich darum, jedem Menschen dazu zu verhel­ fen, einen Wesenskern des Menschlichen freizulegen. Auf höchster kultureller Ebene wie auf der niedrigsten der Individuation wäre demnach ein identisches Moment verborgen, das nur darauf wartet, entdeckt und ausgebildet zu werden. Freilich gerät der Begriff der Kultur hier in ein Zwielicht, weil er vor allem als Hindernis zur endgültigen Selbstbefreiung des Menschen erscheint. Der Weg zum universalen Selbstsein, der allen Menschen und allen Kulturen frei­ steht, führt in eine Richtung: von der Verdeckung und Abhängigkeit hin zur Autonomie, von der partikularen Befangenheit in Tradition und Folklore zu Freiheit und Selbstbestimmung180. Es ist der Weg, den man zentristisch nennen muss und der doch einen Widerspruch in sich trägt: Wenn Freiheit das Ziel aller menschlichen Entwicklung sein solle, dann wäre aber eben diese Freiheit nicht zu reduzieren. In der strengen Gegenüberstellung von überkultureller Vernunft und kultureller Inferiorität wird eben diese Freiheit selbst negiert. Kultur ist hiergegen ein Grenzbegriff. Weder in der Hoffnung auf Befreiung noch in der vollkommenen Unterwerfung kommt er 179 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010. 180 Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberech­ tigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS 2006.

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VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt

zu sich. Er ist Ausdruck jener Unverfügbarkeit, die zum Wesen menschlicher Geschichte gehört. Trotzdem gilt es, die virulente Macht des Kulturellen in Rechnung zu stellen und das Moment des Wider­ ständigen herauszuarbeiten. In einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive alleine kann man diese Motive freilich nicht deutlich genug erkennen: denn das souveräne Subjekt, von dem alle Pädagogik ausgeht und die freiheitliche Bestimmung der Person, die sich ihrer kulturellen Einbettung vergewissert, wird man nicht als Widerspruch oder Konflikt begreifen wollen. Wenn man die Dinge zu einer eindeutigen Lösung führen will, ist man insofern darauf verwiesen, zwischen einem angemessenen und einem reduzierten, falsch verstandenen Universalismus zu unter­ scheiden. Missverständlich wäre eine Konstruktion, die von der Vor­ stellung einer absolut leeren, voraussetzungslosen Grundsituation ausgeht, in der »wir« nur noch die von oben gesetzten moralischen Einsichten umsetzen müssten. Diesem Universalismus wohnt eine objektivistische Selbstbezüglichkeit inne. Thomas Rentsch weist diese Unterstellungen im Horizont nega­ tivistischer Sozialphilosophie zurück: die Basis unserer Moral ist breiter und tiefer; wir empfangen sie nicht, sondern durchleben sie, wir stehen keinem moralischen Geltungssinn gegenüber, sondern vollziehen diesen im praktischen Tun. Das »filigrane und fragile Gebilde«181 des kulturellen Sinns unterliegt den Bedingungen unserer praktischen Lebenssituation, aus der wir uns bei aller Reflexion niemals befreien können. Die Konsequenzen solchen ethischen Denkens lauten praktisch, dass wir weder das fremde noch das eigene Leben als Abstraktion von außen beurteilen, sondern dass wir unsere Interessenkontexte immer mit uns führen. Viele Spielarten der extremen Gewalt, die vom postkolonialen Blick kritisiert werden, scheinen sich insofern auch als Missverständnis zu erweisen. Besonderes und Allgemeines treten auseinander: die konkrete Moralität, die ich in einer besonderen Situation erfahre, ist nicht dispensierbar; sie kann nicht stellvertre­ tend von Anderen verfügt werden. Ebenso handelt es sich bei den Spielarten der Gewalt um Diskrepanzen zwischen der singulären Erfahrung und einer höheren Autorität – einem universellen Gesetz, 181 Thomas Rentsch: Die Kultur der Differenz. Negative Ethik, Relativismus und die Bedingungen universalistischer Rationalität. In: Ders.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 96–121, S. 102.

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4. Die Kultur der Differenz

einer Regularität, einer objektiven Sinnbestimmung. Dieses Gesicht der Gewalt ist von daher verzerrt, weil die Bedeutung der Gewalt auf die Gewalt der Bedeutung zurückgezwungen wird. Und erst die Rückbindung »an die Singularität des Opfers«, so Antje Kapust, ist in der Lage, diese Formen der Gewalt zu durchbrechen182. Beziehen wir diese Reflexion auf den erwähnten Maßstab der Geschichtsfähigkeit jeder Kultur, dann ergibt diese kritische Lektüre ein Korrektiv: Der Begriff der Kultur kann als Instrument missbraucht werden, aber das Bewusstsein für die eigene Geschichte bleibt ein unverfügbarer kultureller Wert in der Perspektive der Interexistenz. Wir erinnern uns nicht nur dessen, was angeeignet, gedeutet und interpretiert werden muss, sondern wir benötigen historische Sinn­ bildung, um das Vergangene mit Zukunftserwartungen und Orientie­ rungsbedürfnissen zu verbinden. Geschichte ist demnach in zweierlei Hinsicht bedenkenswert, sowohl als konkrete Deutung als auch als »Lebensmacht in dieser Deutung selber.«183 Sowohl mit Bezug auf die aktuellen Kontroversen als auch mit Blick für sozialpraktische Kontexte ist dieses Kulturverständnis zu entfalten. Der postkoloniale Blick steht dabei im Zentrum von Aus­ einandersetzungen auf vielen Ebenen. Der Vorwurf lautet, dass sich der Widerstreit im Werk der Theoretiker(innen) verselbständigte, solange er nicht an den Horizont des Allgemeinen zurückgebunden wird. Achille Mbembe oder Ibram X. Kendi, Özlem Sensoy und Robin DiAngelo stehen stellvertretend für jene Stimmen, die sich der Erfahrung des ethischen Andersseins verschreiben. Durchgängig lässt sich ein anti-universalistischer Zug den Reflexionen entnehmen, der Identitätspolitik gegen die Macht der asymmetrischen Herrschafts­ verhältnisse stellt. Es ist ein rebellischer Universalismus, der sich gegen ideologische Verschleierungen und das schlechthin Bestehende in der Tradition der kritischen Theorie wendet. Die Vorwürfe, die im kritischen Diskurs bisweilen erhoben werden, sind freilich ambi­ valent. Vom Besonderen her wird versucht, eine Ethik der Gewalt­ losigkeit zu begründen. Dass dabei der Horizont des Allgemeinen

Antje Kapust: Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Paderborn: W. Fink 2014, S. 51–74, hier S. 51. 183 Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte. Berlin Kadmos 2003, S. 12.

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VII. Der postkoloniale Blick. Kultur, Sprache und Gewalt

aus dem Blick verloren wird, auf diese Gefahr kann und muss man natürlich hinwiesen184. Als ein Fazit könnte man schließlich den Hinweis verstehen, dass es unumgänglich ist, den Diskurs auf die praktische Ebene zu zwingen, will man substantielle Aussagen erhalten. Die Andeutungen müssen an dieser Stelle genügen: auch in praktischer Perspektive lässt sich eine Hinwendung zum Anderen erkennen, die sich letztlich auch im praktischen Tun auswirkt. Zu den entscheidenden Motiven der Internationalen Sozialen Arbeit zählen die Beachtung der trans­ nationalen Dimensionen und der Verflechtungen in Zeit und Raum. Schon immer, so ließe sich apodiktisch behaupten, ist die Soziale Arbeit mit globalen, grenzüberschreitenden Problemen konfrontiert worden, so dass sich die Frage der Methodologie der sozialen Praxis erneut stellt185. Dass sich das Interesse auf Querverbindungen und Überkreuzungen soziale Praktiken richtet, die sich in unterschiedlich situierten lokalen Räumen erscheinen, ist dabei nur ein Gedanke eines fundamentalen Richtungswechsels. Der Prozess der Wissens­ produktion, der das vielleicht entscheidenden Motiv der praktischen Orientierung ist, ist nicht mehr von einem ausgesuchten Standpunkt aus in Angriff zu nehmen. Die Hinwendung zum Indigenen wäre demnach eines der Motive mit hohem Anspruch, der erst noch einzulösen wäre.

184 Das betrifft insbesondere die Vorwürfe eines antisemitischen Diskurses in altneuen Gewändern. Die aktuelle Debatte um die Kritik an Achille Mbembe zeigt allerdings, dass sich jede Position mit universalisierbaren Ansprüchen auseinander­ setzen muss. 185 Gunther Grasshoff, Hans Günther Homfeldt/Wolfgang Schröer: Internationale Soziale Arbeit. Weinheim/Basel Beltz Juventa 2016.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

Einleitung Es war eine komplizierte Frage, vor der die Verantwortlichen des Jüdischen Museums in London standen. Unter welchen Bedingungen könnte man oder sollte man jene Skulptur ausstellen, die gewisser­ maßen das Hässlichste des antisemitischen Bildes hervorkehrte? Das Exponat aus dem Jahre 1833 zeigte den jüdischen Bankier Nathan Meyer Rothschild als eine grotesk verzerrte Figur, mit allen Attributen der Gier, die dem überlieferten Bild entsprechen. Darf man ein ekeler­ regendes Exponat unkommentiert darstellen – oder sollte man nicht, so lautete der Vorschlag der Betreiber, einen Spiegel um die Figur herum platzieren, so dass sich der Betrachter im Moment des Anblicks auf sich selbst zurückgeworfen fühlt? Die Idee ist aufklärerisch und moralisch gesättigt, aber letztlich nicht überzeugend. Sie widerspricht dem Gedanken der Mündigkeit eines Museumbesuchers, der mit guten Gedanken oder zumindest vorurteilsfrei einer Ausstellung eines komplexen Themas beiwohnen will. Eine Ausstellung, die sich an dem Zusammenhang von »Jews, Money and Myths«186 heranwagt, muss Risiken eingehen und Bilder dort platzieren, wo sie Irritation und Unruhe erzeugen. Die Gewalt im Bilde einfach nur auf den Betrachter zurück zu werfen, wäre zu einfach. Ein ergänzender Spiegel scheint also nichts zur Sache beitra­ gen zu können, um in kritischer Absicht das zu durchdringen, was der erwähnte Betrachter des jüdischen Zerrbildes erkennen könnte. Außer: dass es hier zu einer eigentümlichen Vermischung von Bild­ betrachtung und Spiegeleffekt kommt. Der Beobachter erwartet eine Gestalt mit historischen Bezügen und künstlerischer Tiefe; er erkennt aber im umrandenden Spiegel seine eigene Gestalt, die vielleicht erregt, angewidert oder irritiert zurückschreckt. Gibt es außer diesem 186 Cathrin Kahlweit: Nichts als tödliche Klischees. Süddeutsche Zeitung vom 25. 03. 2019, S. 9.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

flüchtigen Moment der Betrachtung nicht weitere Aspekte, die der Begriff der Spiegelung noch unausgeschöpft lässt? Spiegelungen können als natürliche Phänomene betrachtet wer­ den, als ein scheinbar willkürliches Zusammenspiel von Körpern, Lichtverhältnissen und Oberflächen. Von einem Spiegelbild sprechen wir erst, wenn ein Bildobjekt relational zu einem Bildvehikel angeord­ net wird. Die Referenz, das, was wir umgangssprachlich das Spiegel­ bild nennen, wird dabei aber nicht positiv geformt, sondern lediglich reflektiert. Auf der spiegelnden Oberfläche mag es zu Verzerrungen und Trübungen kommen, aber der entscheidende Punkt der Spiege­ lung liegt wohl in der Gleichgültigkeit der Oberfläche: was in einem Spiegel erscheint, ist dem Vehikel gleichgültig. Es formt nicht ein Bild, sondern wirft nur das zurück, was seiner Front gegenüber steht187. Spiegelungen wären demnach neutral, mehr oder weniger objek­ tiv, sie schaffen Distanz und Klarheit. Und die Geste der kritischen Aufklärung wäre demnach ein kaltes Verfahren, bei dem ein fal­ scher Zustand der Gesellschaft herausgehoben wird. Erst durch den Moment der Spiegelung würde das hervorgehoben, was sich in den dunkleren Winkeln der Gesellschaft verbirgt; der Spiegel wäre insofern kritisches Instrument der Aufklärung im guten Sinne. Der Gesellschaft wird ein Spiegel vorgehalten: dieses Bild entblößt demnach das wahre Bild des Sozialen, mit allen Verfehlungen, die Soziologen in der Mitte der Gesellschaft verorten. Eine Spiegelung ist ein Vorgang, ein Prozess, aber ebenso ein bewusster menschlicher Akt. Erst mit Hilfe der Lacan`schen Theo­ rie des Spiegelstadiums kommen wir an den entscheidenden Punkt dessen, was die Kategorie des Spiegels nur andeutet188. Im Rahmen der frühkindlichen Entwicklung erkennt Lacan einen herausragenden Moment, den er als den Moment der Verkennung umschreibt. Der Augenblick, in dem ein Kind seine eigene Gestalt im Spiegel »ent­ deckt«, ist ein Akt der scheiternden Selbsterkenntnis. Dieser Moment ist von daher bedeutsam, weil er auf das weite Feld des menschlichen Begehrens erweitert werden kann. Im Allgemeinen wird vermutet, dass das Kind in dem Augenblick, in dem es das Antlitz seines Leibes erkennt, mit dem Augenblick der Selbsterkenntnis zusammenfällt. Als spräche das Bild zu ihm und als würde das eigene Selbst erst 187 Wolfram Pichler/Ralph Ubl: Bildtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius 2014, S. 104–114. 188 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. In: Ders.: Schrif­ ten I, hg. von Norbert Haas. Berlin/Weinheim 1991, S. 61–70.

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Einleitung

in diesem Moment jene Gestalt annehmen, die fortan den Titel des Subjekts trägt. Aber bei Lacan handelt es sich nicht um bewusste Selbstbe­ mächtigung, sondern um eine Täuschung, die sich in fortlaufenden Verfehlungen zeigt. Es ist nicht die Erhellung im Angesicht meiner Selbst, sondern die Verstellung durch den Anblick der Alterität im Spiegelbild. Das Individuum ist nach diesem tragischen Moment nicht die empathische Figur, die eine Bestätigung findet, sondern ein Gefangener einer profunden Nicht-Übereinstimmung. Das, was im Spiegelbild vermutet wird, treibt die Entwicklung voran und mündet in einem Drama der Entzweiung. Die Relevanz für das Thema ist abstrakt; es wird darauf ankom­ men, dem metaphorischen Gedanken eine prägnante Kontur zu ver­ leihen. Es geht um die Bedingungen des Sehens des Anderen und um die Bedingungen einer Diskursivität, die scheinbar zum Scheitern verurteilt ist. Das Reden über Antisemitismus ist ein Reden in einem »theoretischen Treibsand«189, dem man schwerlich entgeht. Vorwürfe stehen im Raum: dass man im Zuge einer sachlichen Auseinander­ setzung den diffusen Stimmungen erst recht ein Motiv verschafft, dass man entweder zur diskursiven Verschärfung beiträgt oder einer Haltung Vorschub leistet, indem man überhaupt etwas thematisiert. Es sind Vorwürfe, die letztlich nichts gegen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung vorbringen können. Aus der Vielfalt der Gründe, warum man sich mit dem »neuen« wie dem alten Antisemitismus beschäftigen sollte, ragt ein verbind­ liches ethisches und existentielles Motiv heraus. Jenseits einer ana­ lytischen Haltung, die Kontroversen analysiert, liegt im Wesen des Antisemitismus eine anthropologische Konstante – und für diese ließe sich das erwähnte Spiegelstadium als eine Beschreibungsfolie heranziehen. Die vielen Bilder und Gestalten des Antisemitismus erscheinen als Ausdruck einer tiefen Entzweiung, gebunden im »Hass auf das Universale und auf das Partikulare der menschlichen Exis­ tenz«190. Die große Erzählung der Entzweiung führt über die jüdische Existenz hinaus; es geht folglich nicht um eine isolierte Problematik, Doron Rabinovici/Natan Sznaider: Neuer Antisemitismus. Die Verschärfung einer Debatte. Vorwort. In: Christian Heilbronn/ Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus. Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S. 9– 28, hier S. 9. 190 Ebd., S. 17. 189

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die auf eine Theorie antisemitischer Einstellungen verweist. Der Antisemitismus ist zu decodieren und zu dekonstruieren, aber er ist in eine universale Erzählung von Fremdheit und Modernität einzubin­ den. Es geht um die Feindschaft gegen das Judentum, aber zugleich um darüber Hinausweisendes, um die Abgründe der Feindschaft »gegenüber einer komplexen Gesellschaft, in der wir dazu verurteilt sind, im selben Augenblick gleich und verschieden zu sein.«191 Die Lesart, die den folgenden Überlegungen zu Grunde liegt, ist aber nicht allein »modernitätskritisch«. In der Einsicht, dass Modernität mit einer diffusen Angst vor der Vielfalt und vor dem Pluralen einher geht, wäre zu kurz gedacht. Eine Psychologie des entbetteten Menschen wäre insofern kurzatmig, weil sie nach den psychologischen Motiven fahndet, mit denen sich Effekte der Ent­ fremdung erläutern lassen. Diese Erzählung zählt freilich zum klas­ sischen Inventar der Soziologie; Modernität heißt demnach tiefe Ambivalenz, Freisetzung und Bindungslosigkeit, Beschleunigung und Expansion, die zu sozialpsychologischen Erschütterungen führt. Und die Ambivalenz wird im Rahmen dieser Erzählung immer mit Händen greifbar, wenn Konkurrenz und Ökonomie dem modernen Menschen zusetzen und ihm den letzten Rest von Altruismus austreiben. Die Kulturkritik widmet sich dem halbierten Menschen; eine Charakteris­ tik, die hier als Folie vermieden werden soll, weil sie letztlich auf den kulturkritischen Diskurs einer fragmentierten Moderne zurückführt. Das Phänomen des Antisemitismus rührt am Rätsel der mensch­ lichen Existenz. Diese wird man nicht begreifen, wenn man eine psychologische Mechanik zu Grunde legt. In einfachsten Worten lässt sich die Ideologie, die sich im Hass auf eine Gruppe konzentriert, entzerren: Ideologien haben eine Funktion in der sozialen Welt, weil sie die Gewalt vom Inneren nach außen lenken; sie sind ein Mittel in der politischen Welt, insofern sie Interessen bündeln und Zurechnungen erleichtern. Auf eine bloße Funktion reduziert, wird man aber dem Rätsel der Menschenfeindschaft nicht gerecht. Statt dessen ist es ratsam, die Fragen auf eine Weise zu formulieren, dass sie bis an den nicht weiter explizierbaren Grund des Zusammenseins, bzw. an die interexistentiellen Bedingungen der menschlichen Welt heranreichen. Erst im Blick auf die unabweisbare Negativität der menschlichen Grundsituation wird das Antlitz des Antisemitismus sichtbar. Einfache Fragen sind zuzulassen: warum es eine Leidenschaft 191

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der Bilder gibt, deren Faszination wir nicht entraten; warum Erzählun­ gen Sinn stiften, den wir in der anonymen Geschichte vermissen; warum wir schließlich Ideologien um uns herum bilden, deren Funk­ tion doch so leicht zu durchschauen wäre. Jeweils kann erst die Interexistentialanalyse, bzw. der phänomenologische Blick diesen Fragen gerecht werden.

1. Die Leidenschaft des Bildes Kommen wir noch einmal auf das Wagnis zurück, welches das jüdi­ sche Museum in London im Frühjahr 2019 eingehen wollte. Die Ausstellung mit dem Titel »Jews, Money, Myths« widmete sich dem Thema auf eine Weise, die man nicht erwarten würde. Sie konzen­ trierte sich auf jenes Bild, das als Phantasma und tödliches Klischee genügend Wirksamkeit entfaltet hatte, als dass man es noch erwähnen müsste. Ein Risiko lag in dem Vorhaben allemal, denn die Wirkungen, die beim unvoreingenommenen Betrachter hervorgerufen werden, sind nicht streng kontrollierbar. Die Kontroversen rund um die Eröff­ nung umfassten somit schon den ursprünglichen geplanten Titel. Mit der Überschrift »Loaded« – übersetzt als beladen, aber auch übermäßig reich, wäre man unter Umständen einer verhängnisvollen Doppeldeutigkeit aufgesessen, die das eigentliche Motiv unterläuft. Der Titel: »Juden, Geld und Mythos« betont hingegen die Problematik des Vorurteils, aber er bleibt vage. Ebenso schwierig erwiesen sich die Bedingungen, unter denen manche Exponate ausgestellt werden sollten, wie die erwähnte Skulptur des Bankiers Nathan Meyer Roth­ schild aus dem Jahre 1833, die den Bankier entmenschlicht, im grotesk überzeichneten Bild des gierigen Finanziers wiedergibt. Sollte man diese Darstellung kommentieren oder für sich sprechen lassen? Der Vorschlag, die verzerrte Gestalt mit einem Spiegel umfassen, so dass der Beobachter beim Anblick des Anderen eine verzerrte Figuration seiner selbst erblickt, wurde abgelehnt; denn man fürchtete einer Überhöhung und damit der unbewussten Mythisierung Vorschub zu leisten. Denn das Erschrecken über die Entmenschlichung, die im grotesken Bild enthalten ist, spricht ja selbst bereits für seine aufklärende Wirkung. Das Beispiel lenkt die Überlegungen auf einen komplexen Zusammenhang der Geschichte des Antisemitismus: diese hat mit Bildern zu tun, ihren Wirkungen und ihrer Mechanik. Die Geschichte

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

des Antisemitismus ist so betrachtet immer auch die Geschichte des falschen Bildes. Aber der kritische Impuls gegenüber der Bildlichkeit ist selbst zu hinterfragen. Wird mit dem Zweifel gegenüber der Wirk­ mächtigkeit des Bildes nicht auch ein wertvolles Potential verschüttet, das sich auf die Räume und Möglichkeiten bezieht, einander zu sehen? Die Vorbehalte gegenüber dem Bild sind natürlich berechtigt, insofern Bilder als ein Mittel in der Geschichte der Gewalt gelten. Bildern ist nicht zu trauen. Sie neigen zur Tyrannei (J. Baudrillard) und können in einer Diktatur des Visuellen münden (N. Postman). Das Wissen, das wir meinen von Bildern erhalten zu haben, ist trügerisch. Es hat einen minderen Anspruch gegenüber dem verständlichen Text. Bilder gelten als eine problematische Quelle, die dem Sinnlichen zu viel Kredit einräumen. Die Distanz gegenüber dem Bild resultiert aus dem neuzeitlichen Ideal der Verpflichtung auf Objektivität – und eben dies kann ein Bild mit all seinen Verzerrungen und Beimischungen, Verstellungen und Färbungen nicht einlösen. Die Abneigung gegenüber dem Bildlichen ist dann berechtigt, wenn sie, wie erwähnt, auf Momente der Gewaltsamkeit bezogen wird, die sich hier im Bild des Juden, bzw. des »Jüdischen« abzeichnen. Bild und Wirklichkeit bilden folglich eine undurchdringliche Allianz, gegen die man zwar argumentieren, aber schwer bestehen kann. Die Geschichte des Antisemitismus, wenn man diese als Bildgeschichte präsentieren will, hat dementsprechend immer neue Bilder geschaffen und zugleich wurde das eine mythisch umwobene Bild konserviert. Der »moderne« Antisemitismus setzte sich zunächst gegen den über­ kommenen Antijudaismus ab, der im christlichen Kontext zu verorten war. Der »Dämon« des Jüdischen erhielt neue Gewänder und es ist die Frage, inwiefern man von herkömmlichen Bildern oder »neuesten« Varianten des überkommenen Bildes sprechen sollte. Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde bekanntlich das Bild des Juden durch rassische und vermeintlich anthropologi­ sche Charakteristika eingefärbt. Dieses Bild war eine ideologische Neuschöpfung, die als Reaktion auf die Entzauberung der Welt gelesen werden kann. Die Ideologie des wesensfremden Elements konnte sich bekanntlich dort am stärksten entfalten, wo die Kälte der technologischen, politischen und sozialen Umwälzungen scheinbar unerträglich wurde, wo mithin ein Raum für politischen Existentialis­ mus geschaffen worden war. Das neue Feindbild des Juden entwickelte eine Kraft, die heute so klar zu erkennen ist und doch immer noch eine Unbehaglichkeit hervorruft.

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1. Die Leidenschaft des Bildes

Was heute so klar zu erkennen ist: Feindbilder lassen sich nicht auf die eine Quelle zurückführen; sie verbreiten sich in Raum und Zeit. Dem spezifischen Feindbild in der deutschen Geschichte lassen sich Bilder beifügen, die zwar zu einer erschreckenden Kontinuität beitragen, aber doch auch als Neuschöpfungen zu betrachten sind. Der Antizionismus hatte sich unter anderem als Gedankenfigur in Kontext des Stalinismus entfalten können, ebenso ließe er sich bei den National- und Unabhängigkeitsbewegungen im Zuge der Dekoloni­ sation nachweisen. Auch die gegenwärtigen Debatten um den neuen Antisemitismus ließen sich in diese Traditionen einfügen, müssen aber hinsichtlich ihrer sozialen Kontexte differenziert werden. Unab­ weisbar bleibt mithin das Bild, das dem »Ernst und Schrecken der einen Welt«192 gegenüber steht. In diesem Bild verdichten sich viel­ fältige Antistimmungen und Feindschaften: gegen die Modernität, gegen Pluralität und Kommerz, Technik oder Rationalismus. Es waren und sind Feindschaften, die ihre Wurzeln in aggressiven Ängsten und Widerständen finden, »die der unaufhaltsam sich Bahn brechende Prozess einer integrierten und globalisierten Weltzivilisation von Beginn an geweckt hat«193. Prozesse, die sich bis auf den heutigen Tag nachvollziehen lassen. Wie so oft hat auch hier Hannah Arendt die plausibelsten Begriffe gefunden. Der Gedanke der einen Welt war für die einen jene kosmopolitische Vision aus dem Geist des Liberalismus, in deren Mittelpunkt eine benevolente, integrierte und prosperierende Gesell­ schaft stehen sollte. Den anderen aber war sie ein Schreckensbild: am vermeintlichen Ende der Geschichte, wenn alle Menschen endgültig durch Nähe aufeinander verwiesen werden und sich im Sinne Kants endlich einander »dulden« müssten, münden alle Utopien in den Kampf jeder gegen jeden194. Erst mit diesem skeptischen Gedanken werden die historischen und zeittypischen Verbindungslinien zusam­ mengedacht, die so schwer zu greifen sind. Diese führen bis in die virtuelle Welt, in der sich eine weitere Version des antisemitischen Bildes aufweisen lässt. 192 Gerd Koenen: Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. In: Christian Heil­ bronn/ Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus. Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S. 92–128. 193 Ebd., S. 118. 194 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/ Zürich 1986.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

Im digitalen Zeitalter finden die Figuren des Antisemitischen einen zusätzlichen Nährboden, der die Dynamik der Menschenfeind­ lichkeit vorantreibt. Hier freilich fallen Erkenntnis und Diagnose nicht unmittelbar zusammen: Denn die Entstehung und Ausbreitung dessen, was wir nur hilflos als Hass benennen und sich im Schutz der Anonymität in der virtuellen Welt Bahn bricht, mag irritieren. Aber wie genau das Verhältnis von virtueller und realer Welt, von den Hasskommentaren ohne Verkörperung reale Begegnung zu ver­ stehen ist, bliebe zu fragen. Zu den wesentlichen Erkenntnissen aus Langzeitbeobachtungen zählt, dass im Internet Kommunikationsfrei­ räume entstehen, die geradezu exzessiv genutzt werden. Insbeson­ dere judenfeindliche Gedanken lassen sich mühelos in Hasstexte überführen und mit hoher Affektmobilität verbreiten. Alleine diese Feststellung darf jedoch nicht für sich stehen: vorausgesetzt, dass man dem neuen Medium eine herausragende Rolle im 21. Jahrhundert zugesteht, ist das Ausmaß der Verbreitung antisemitischer Texte, Bilder und Figuren kaum abzuschätzen. Darf man hier von einer »Netzkultur« sprechen, die jede Möglichkeit des Widerstands gegen unrechtmäßige Verbalinjurien erstickt? Es stehen letztlich die Charak­ teristika des Mediums gegen eine vermeintlich haltlose Vernunft, freie Zugänglichkeit und rasante Verbreitung, kommunikative Stra­ tegien, die sich immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen. Faktisch hat man es dabei mit jenen alten und zugleich neuen Bildern zu tun, die diese negatorische Geschichte weiterführen. Man ist gezwungen, Diffamierungen des Wucherers, Geldmen­ schen und Intriganten, des Verschwörers und Zersetzers zur Kennt­ nis zu nehmen, die sich ungehindert ausbreiten können. Und man erkennt widerstrebend die gleichen, alten »judeophoben Fantasie­ konstrukte«, die in einem aufklärerischen Kontext verstörend wir­ ken müssten195. Die Dissonanz, die man angesichts solcher Entwicklungen spü­ ren wird, geht auf den Bruch mit Blick auf Aufklärung und Rationalis­ mus zurück. Die Verbreitung von alt-neuen Antisemitismen zerstört die Illusion, dass sich in der Moderne vernunftbasierte Aufklärung und Memoria als kraftvoll genug erweisen, um dem Menschenhass 195 Monika Schwarz-Friesel: Judenhass 2.0. Das Chamäleon Antisemitismus im digi­ talen Zeitalter. In: Christian Heilbronn/ Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus. Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S. 385–418, hier S. 387.

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1. Die Leidenschaft des Bildes

zu begegnen. Offenbar handelt es sich bei dem Bild des fremden, sich verschwörenden, kindermordenden und alles zersetzenden Juden um den Kopf einer Hydra, die sich beliebig zu vermehren vermag. Man kann das natürlich alles »sezieren« und psychologisch deuten: die Emotion Hass ist wie ein Code, der obsessiv und rigide, ohne Interesse an Fakten oder Konzepten irgendwie in den offenen Räumen des Net­ zes »grassiert«, in ich-syntonen, selbstbewussten oder ich-dystonen, befremdlichen Ausprägungen196. Und damit steht zuallererst in Frage, wie man der Intensität der sprachlichen Radikalisierung begegnen könne, wenn sich denn die Büchse der Pandora nicht mehr schließen lassen wird. Die her­ kömmlichen Strategien und Sanktionierungen versagen bislang in einem Medium, das sich als extrem flüchtig und unzurechnungsfähig auszeichnet. Und ebenso schwierig erscheint es ironischerweise, hin­ ter einem Text einen zurechenbaren Gedanken, hinter der Fantasie eine deutliche Position oder gar hinter der Sprache eine Person zu »entdecken«. Alles reduziert sich scheinbar auf Camouflage; die Spra­ che verwildert und die Affekte strömen. Diese Kommunikation ist historisch betrachtet neuartig und daher schwer einzuordnen. Für die Kommunikation unter Anwesenden galt »früher«: man teilte sich mit, ohne dabei an Tabus zu rühren. Man war bestrebt, sozial erwünscht zu erscheinen und gewissen Normen der Achtung der Person Kredit einzuräumen. Die Affekte im Moment der Begegnung ließen sich im öffentlichen Kommunikationsraum mehr oder weniger einhegen und regulieren. Diese Bedingungen, einander zu begegnen, sind natürlich nicht radikal entschwunden. Aber es ist neuer Raum entstanden, in dem Hasskommunikation, radikal, flüchtig und verstörend, ohne kontrollierende Instanzen gleichsam geschieht. Insofern käme man im Zuge der Reflexion zu einer skeptischen Einschätzung, was die Eigenmacht des Bildes betrifft. Die Abwertung des Anderen sucht und findet das starke Bild, das anders wirkt als Sprache, nämlich suggestiv, verführend, intensivierend. Und eine Aufklärung, die sich von all dem nicht verunsichern lässt, müsste folg­ lich durch eine harte Schule des Sehens gehen, um der Allmächtigkeit des Bildes überhaupt etwas entgegen zu setzen, sei es gegen das über­ zeichnete Bild, das eine Physiognomie widerzugeben beansprucht oder gegen das Sprachbild, das dem Affekt entspringt. Und nur ein wenig weitergedacht wäre es konsequent, Bilder zu reglementieren 196

Ebd., S. 402 ff.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

oder sie ganz zu tilgen, um das hässliche Sehen197 zu unterbinden. Wäre es nicht sinnvoll und geboten, den Bildern des Hasses einen Riegel vorzuschieben, um so schließlich eine Ethik zu begründen, in die nichts Störendes eindringen könnte, also gleichsam eine ethische Gemeinschaft zu formen, die nichts von jenen hässlichen Bildern wissen will?

2. In der Schule des Sehens Diese Überlegungen lassen sich nicht mit einem eindeutigen Urteil beenden. Deutlich wird, dass man in der Sache nur über weitaus­ greifende Reflexionen weiter kommt. Geht es letztlich um eine Kon­ frontation – nicht von Gruppen, sondern im Sinne der sprachlichen Vernunft, die die gegen die Eigenmächtigkeit des Bildes stünde? Stehen also am Ende Sprache gegen Bildlichkeit, Vernunft gegen Visualität? Wir werden sehen, dass man die Dinge nicht in dieser Eindeutigkeit bewerten kann, sondern dass es eines stetigen Wechsels der Perspektiven bedarf, um die Bedingungen des Sehens zu verge­ genwärtigen. Greifen wir noch einmal den Gedanken der Bildkritik auf. Der Gedanke ist unabweisbar, dass es falsche Bilder gibt, die nicht nur kri­ tisiert, sondern nach Möglichkeit gänzlich vermieden werden sollten. Das antisemitisch gefärbte Bild des Juden, das eine unvergleichbare historische Tiefe aufweist, zählt zu jenen falschen Bildern, auf deren Existenz zu verzichten wäre. Die Diskussion berührt insofern auch die Bedingungen, unter denen visuelle Repräsentationen im Raum »toleriert« oder eben negiert werden können. Der Gedanke ist nachvollziehbar: da der Mensch unter anderem ein visuelles Wesen ist, wäre der moralische Fortschritt auf die Reprä­ sentation der »richtigen« Bilder verwiesen. Anders formuliert, ist die Furcht vor den falschen Bildern unabweisbar, denn diese erzielen Wirkungen, an denen noch jede gut gemeinte Bildung scheitert. Man müsste also anstatt der falschen nur noch die richtigen Bilder zulassen, um ethische Ansprüche zu verwirklichen. Die gegenwär­ tigen Entwicklungen führen in eine vergleichbare Richtung, wenn bestimmte Bilder aus Museen abgehängt oder verdächtige Menschen, bzw. Männer aus filmischen Werken herausgefiltert werden. Diese 197

Bettina Stangneth: Hässliches Sehen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2019.

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2. In der Schule des Sehens

Zensur begründet sich aus dem Geist einer Aufklärung, die man radi­ kal nennen kann: sie folgt der Promotion des Guten, ohne Abstriche und Kompromisse. Aber: Bilderstürme sind ein einschlägiges historisches Phäno­ men. Offiziell gesteuert und von theologischen Autoritäten gestützt haben sie immer auch anarchische Wirkungen entfalten können. Im Bildersturm weist sich ein religiöser Furor aus, der nicht vor den Grenzen des Objekts Halt macht, sondern am Objekt selbst eine Strafe vollzieht. Dabei handelt es sich keineswegs um eine psychologische Überhöhung. Man versuchte den Gegner durch die Zerstörung des repräsentativen Bildes zu treffen, aber die Ikonok­ lasten unterlagen dabei gleichsam der Identifizierung von Bild und Körper. Die abendländische Geschichte kennt diverse anschauliche Geschichten hierzu. In den Hussitenkriegen etwa kam es zu allen denkbaren Formen von Bilderstürmen und Bildbemächtigung. Der Besitz von Heiligenbildern konnte über Leben und Tod entscheiden, die Ausstellung von Symbolen verdeutlichte die richtige Parteinahme, während die Verbrennung von liturgischen Gewändern, Reliquien und Archivalien dem zeitgenössischen Krieg gegen die Monumente entsprach. Die religiöse Gewalt machte nicht vor der Schändung von Grabskulpturen Halt und sie erstreckte sich noch auf die Verstümme­ lung von Heiligen-Skulpturen. Um den »Sinn« hinter dem Furor des Bildersturms zu ermessen, ist man auf eine Theorie des substitutiven Bildakts verwiesen, der eminente zeitgenössische Probleme aufwirft. Bilderstürme sind nicht einfach nur Ausdruck eines gesteuerten Affekts oder als blinde Gewalt zu deuten. Im Moment der Attacke auf das Bild wird eine Strafe am Objekt exekutiert. Bilder und Skulpturen werden gleichsam als Verbrecher traktiert, der ganze Körper auf einen Torso reduziert, Gesichter verstümmelt oder das Antlitz des Heiligen begradigt, so dass die reine profane Materie zum Vorschein kommt. Im Dom von Münster etwa kann man das Gesicht einer Äbtissin betrachten, deren Gesicht mit Schlagspuren gezeichnet ist198. Die Psychologie eines solchen Theaters der Grausamkeit ist ambivalent, denn sie negiert die eigenen Absichten. In dem Moment, in dem einem Bild Gewalt angetan wird, wird es auf einen Rang erhoben, den man ihm absprechen wollte. Das Bild wird ernst genom­ men, es ist nicht einfach nur Materie, sondern sinnhafte Präsenz, 198

Horst Bredekamp: Der Bildakt. Berlin: Klaus Wagenbach 2015, S. 205–213.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

nicht leblos, sondern von magischer Kraft. Im Moment der Gewalt bekräftigt der Bilderstürmer die abgesprochene Vitalität des Objekts, er zeigt, dass er der gleichen Unterstellung der symbolischen Über­ macht des Bildes unterliegt. Wir haben es mit einer Gewaltsamkeit zu tun, die sich bis in die Gegenwart erstreckt: im Namen von Bildern wird Gewalt an Personen vollzogen; aber auch das Bild selbst wird stellvertretend für den realen Anderen der Gewalt ausgesetzt. Der Bildersturm wäre somit als Sinngestalt einer substitutiven Praxis richtig verstanden, für die man eine Theorie des Bildakts benötigt. Diese hat eine eminente Berechtigung für die Bildpolitik unserer Tage, für die zumindest eine tiefe Verunsicherung über die Stellung des autonomen Subjekts kennzeichnend ist199. Die Ausgangsfrage kann insofern nur zögerlich beantwortet werden: benötigen wir eine strenge Zensur all jener Bilder, von denen wir wissen, dass sie falsch sind und doch den Raum, das Bewusst­ sein, den Sinn und die Bedeutung besetzen? Aber wie entgeht man dem Verstrickungszusammenhang, der sich gegenwärtig so deutlich abzeichnet? Bilderstürme sind nach wie vor eine politische Praxis. Auch die Sprengung der Buddha Statuen von Bamiyan im März 2001, exekutiert von talibanischen Ikonoklasten, folgte der Logik der sub­ stitutiven Praxis: Symbolische Formen wurden in einen Bilderkrieg hineingezogen, der als Kulturkonflikt überschrieben wurde, aber doch eher den überkommenen Gesetzmäßigkeiten der alten Kriege folgte. Denn es ging hier wie damals um das Schaffen von wirksamen Bildern der Gewalt, die alle folgende Gewalt und alle zugrunde liegenden Feindschaften besiegeln sollte. Der Gewalt in diesem Krieg der Bilder und Formen enträt man nicht und dies betrifft letztlich auch die Verbindungen von Moralität und Gewalt. Wir können uns nicht darauf verlassen, eine Welt zu erschaf­ fen, die uns vor allem Hässlichem, Abgründigen, Zerstörerischen bewahrt. Es ist eine Illusion: dass uns Bilder, Ikonen, Symbole und Ideale den Weg zur sittlichen Vervollkommnung weisen. Wir müssen uns vielmehr den Bildern aussetzen und ertragen, dass der sinnliche Eindruck und die faktische Gewaltsamkeit unvermittelt nebeneinan­ der bestehen. Die Moralität reduziert sich nicht auf die ästhetische Einbildungskraft: dass Reinhard Heydrich etwa zu ansehnlichem Gei­ genspiel in der Lage war oder dass Adolf Eichmann die Ästhetik eines 199

Ebd., S. 21–30.

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2. In der Schule des Sehens

Sonnuntergangs zu schätzen wusste, ist Ausdruck dieses Konflikts200. Und hierbei geht es nicht um die vielbesungene Banalität, sondern um die widersprüchlichen Bedingungen jeden moralischen Fortschritts. Keine noch so strenge Schule des Sehens führt uns unmittelbar zu den Ideen der Vernunft und dem Ziel der Gewaltlosigkeit. Wir sind Bildern ausgesetzt und müssen die Möglichkeit des hässlichen Sehens ertragen. Aber man kann die Bedingungen der Ausgangsfrage umkehren und fragen, inwiefern wir darauf verwiesen sind, einander zu sehen oder vorsichtiger: sehen zu lernen. Der Versuch, das Antlitz des Antisemitischen in »unserer Zeit« zu erfassen, hat mit eben mit diesen Bedingungen des Blicks zu tun, den Menschen in einer gemeinsamen Welt ausgesetzt sind. Jenseits der totalen Erfassung oder des absoluten Wissens über die Gewalt wäre insofern eine bescheidenere Herangehensweise denkbar: sehen zu versuchen anstatt das Visuelle gnadenlos zu überhöhen. Folgen wir dem Grundgedanken der Bilderfrage, können wir eine überraschende Wendung vollziehen: vielleicht geht es gar nicht darum, die Existenz des falschen Bildes zu bekämpfen, sondern in einer Gegenbewegung das Sehen zu ermöglichen und Bilder trotz allem zu gegenwärtigen. Das Bildverständnis der zeitgenössischen Reflexionen über Auschwitz folgt genau diesem Impuls. Man kann Bilder maßlos überfrachten, weil sie auf das hinweisen, was das Bewusstsein überfordert. Hinter den »Ikonen des Entsetzens«201 wird einem Verlangen Befriedigung verschafft, das Unsagbare ins Bild zu überführen. Es ist der strauchelnde Versuch, sich einem Geschehen anzunähern, dessen Nähe man eigentlich meidet; sich einem Bild des Vergangenen auszusetzen, dessen Gewaltsamkeit man außer Kraft setzen möchte. Aufgrund dieser psychologischen Ausgangslage hat man sich bekanntlich darauf geeinigt, dass es sich bei der visuellen Repräsentation von Auschwitz um eine Unmöglichkeit handelt, um das vergebliche Bemühen, das ins Bild zu setzen, was sich der visuellen und mentalen Einsicht entzieht. Sehen zu lernen, meint demgegenüber die Rehabilitation des Bildungsvermögens angesichts eines Ungeheuren, das sich weder in Worte noch in anschauliche Zeichen überführen lässt. Solche Bildung ist nicht auf das vollkommene Dokument, noch auf die Aura des Authentischen verwiesen, sondern schlicht und einfach 200 201

Stangneth 2019, S. 21. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. München: Fink 2007, S. 58.

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VIII. Gewalt und Leidenschaft des Bildes. Spiegelungen des Antisemitismus

auf das Vorhaben, sich ein Bild zu machen. Die Intention dahinter resultiert aus dem Wissen, dass es eine Art Schuld gibt, die man den »Worten und Bildern gegenüber eingegangen ist«202 und dass man den Versuchen der Insassen, Zeugnisse zu hinterlassen, eine Antwort zukommen lässt.

3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration Die abschließenden Überlegungen führen über das »Problem« des Antisemitismus hinaus. Es konfrontativ zu lösen, erscheint schwer denkbar in einer Reflexion, die sich der Bindungen von Gewalt und Sprache bewusst werden will. Daher müssen die folgenden Aussagen über den »Fall« hinausweisen und sich an den Bedingungen poli­ tischer Gemeinschaftsbildung orientieren. Phänomene der Gewalt gegen Andere benötigen Gegenerzählungen. Können Narrationen also das einlösen, was vom Bild her versagt bleibt? Sehen versuchen ist ein sich selbst dementierendes Vorhaben in einer Welt, in der wir eigentlich unfähig sind, Bilder auf eine Weise anzuschauen, wie sie es verdienen. Und die Unmöglichkeit, sich ein Bild von Auschwitz zu machen, rechtfertigt jenen paradoxen Versuch, der Verschwiegenheit der Vergangenheit entgegen zu treten. Eine Zwischenposition deutet sich somit an. Bilder sagen gar nichts – oder Bilder zeigen alles. Zwischen diese Extremen deutet sich der Vorzug einer Bildreflexion an, die sich an keinem Ende des Spektrums verorten ließe. Vom Bild zum Wort – und zurück. Bilder sind ambivalent: sie treten gewollt oder ungewollt in eine Allianz mit der Gewalt ein, aber sie können auch Räume des Sinns freilegen. Das Wort hingegen erscheint von einer Eindeutigkeit, wenn es kritisierend, aufklärend, pointierend und überzeugend wirken soll. Die Gewalt, die noch in jedem Wort, in jedem Diskurs oder jedem Gedanken entblößt wird, könnte, so die Hoffnung, kraft der Sprache entzerrt, entmächtigt oder zumindest eingehegt werden. Verhält es sich aber wirklich so? Als ein Prüfstein der Wirkungs­ macht aller Sprachlichkeit erscheint letztlich auch das Profane, das Alltägliche. Dürfen wir, um ein vielleicht überraschendes Beispiel 202

Ebd., S. 15.

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3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration

anzuführen, Witze über den Holocaust machen oder angemessener formuliert, ist eine »Annäherung an den Holocaust im Medium komischer Fiktionen möglich und sinnvoll?«203 Ein Beispiel: »In einer Stammtischrunde beginnt jemand antise­ mitische Holocaustwitze zu erzählen. Gelächter. Ein Zuhörer macht plötzlich ein sehr ernstes Gesicht. Die anderen halten inne und schauen ihn fragend an. »Bitte, keine Holocaust-Witze!« sagt er gequält. »Mein Vater ist in Auschwitz gestorben.« Peinliche Stille. »Er ist vom Wachturm gefallen.«204 Alles, was Sprache auslösen kann, was sie an Gutem und Schlech­ tem hervorkehrt, scheint in diesem Beispiel aufgeführt. Menschen werden zu Komplizen, die sich auf eine moralische Augenhöhe bege­ ben; wird diese Höhe verloren, droht der Kontrollverlust. Man kann antisemitische Witze reißen, solange die Anwesenden im Einklang eines geteilten Weltverhältnisses stehen. Nach außen hin darf aber solches verschwiegene Gelächter keinesfalls dringen. Ebenso verhält es sich mit der Zuhörerschaft dieses Witzes, die der Gruppe der Antisemiten einvernehmlich diametral gegenüber steht. Lutz Ellrich fragt zu Recht, ob die Intention dieser ironischen Wendung überhaupt noch zeitgemäß sei205, denn was dort in kleiner Runde und hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird, scheint heute über alle Ufer der Öffentlichkeit zu treten. Zumindest scheint sich anzudeuten, dass es mit dem Verhältnis von Sprache und Bild nicht so einfach ist wie vermutet. Auch die Spra­ che ist mit Gewalt liiert. Die Hoffnung, dass das gesprochene Wort einen Raum jenseits der Gewalt eröffnet, ist keine geringe. Sie hatte Denkerinnen und Philosophinnen zu großen Entwürfen motiviert, einen Raum der Gewaltlosigkeit zu umschreiben, in dem Politisches sich entfalten könne, ohne dass sich eine Verunreinigung durch die Gewalt ereignen würde. Diese leuchtende Gestalt des Politischen erhält ihre Kraft von der sprachlichen Artikulation her. Für Hannah Arendt waren Sprache und Politik ineinander verfugt, untrennbar verbunden und somit gewaltfern. Wer Sprache gebraucht, wer sich 203 Lutz Ellrich: Ist eine Annäherung an den Holocaust im Medium komischer Fik­ tionen möglich und sinnvoll? In: Anja Ballis/Markus Gloe (Hg.): Holocaust Education revisited. Wahrnehmung und Vermittlung. Fiktion und Fakten. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 289–311. 204 Ebd., S. 303. 205 Ebd.

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mit anderen im Medium der Sprache auseinandersetzt, der räumt der Gewalt keinen Raum ein. Denn: Gewalt spricht nicht, sondern sie beißt zu und ist destruktiv. Gewalt sei unfähig, sich im Wort zu artikulieren, sie ist dem Politischen entgegen gesetzt206. Sobald wir einen gemeinsamen Raum betreten, ein Forum bilden oder einfach nur aus einem starken Motiv heraus politisch beisammen sind, büßt die Gewalt ihre Macht ein. Es sind die Gedanken einer politischen Endlichkeitsphilosophie, die man schwerlich zurückweisen kann. Politische Lebensformen benötigen die Einbettung in eine kommunikative Welt, sie sind eingebettet in eine moralische Grammatik, der gegenüber die Gewalt wesensfremd bleibt. Aber so sehr hier die wertvollsten Gedanken zum Verhältnis von Ethik und Politik begründet sind, so hat doch die philosophische Gewaltforschung Einwände erhoben. Denn Gewalt geschieht bereits in Worten, die etwas auslassen oder jemanden ausschließen, die verletzend oder diffamierend wirken. Sprache kann dazu beitragen, dass Abstände überwunden werden, aber sie kann ebenso dazu beitragen, dass sie vergrößert werden. Von »sprachlicher Gewalt und von politischer Gewalt« zu sprechen207, erscheint vom Standpunkt der Philosophie der Gewalt als ein notwendiges Korrektiv. Wir können Bildern nicht trauen – können wir den Worten trauen? Die Frage ist von daher relevant, weil wir im günstigsten Fall ein Mittel an der Hand hätten, um der Gewalt des Antisemitismus bewusst gegenüber zu treten. Um dies herauszufinden, sind wir auf die Traditionen der Hermeneutik verwiesen. Diese ist durch eine Bescheidenheit gekennzeichnet, die sich der Einsicht in die sprachliche und kognitive Gebundenheit allen Wissens verdankt. Die Idee, dass sich die philosophische Weltsicht einer absoluten Höhe des Weltwissens annähert, ist in der Neuzeit zurückgeschraubt worden. Anstelle der Letztbegründung stehen »nur noch« Prozeduren sprachlicher Verständigung zur Verfügung, die immer wieder auf die Grenzen der Vernunft stoßen. Die Hermeneutik artikuliert sich inso­ fern immer nur in einem Horizont der begrenzten Vernunft, inmitten der Unwägbarkeit der Sprache und verselbständigter Zeichen. Was sich in der Sache des Verstehens zeigt, ist als Dargestelltes und zu Interpretierendes sichtbar, ohne dass man auf den letzten Grund des Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1994, S. 21 ff. Burkhard Liebsch: Einander ausgesetzt – der Andere und das Soziale. Band II. Elemente einer Topographie des Zusammenlebens. Freiburg: Karl Alber 2018, S. 973.

206 207

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3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration

Verstehens stößt. Hierin erschließt sich ein Modell geschichtlicher Freiheit, in dem sich ein unverfügbarer Sinn des Verstehens zeigt. Streng zusammengefasst, ist die Welt nicht wie ein aufgeschla­ genes Buch lesbar, sondern sie erzwingt ein geschichtliches und nar­ ratives Selbst-Verhältnis des Menschen. Der Gedanke, dass wir alles, was sich ereignet, vom Standpunkt der Ersten Person entschlüsseln können, ist irreführend. Verstehen ist kein selbstbemächtigender Vor­ gang, sondern die Form des Einrückens in ein Überlieferungsgesche­ hen. Sprache ist nicht Wechselbeziehung zwischen der aktiven Person und dem sprachlichen Allgemeinen, sondern umfassender Horizont, in dem sich Deutungssituationen öffnen und wieder verschließen208. Wir sind, vereinfacht gesprochen, der historischen Überlieferung ebenso wie der vorfindlichen Vielfalt von Verstehensbezügen ausge­ setzt. Damit ist die Suche nach der einen, alles umfassenden und begründenden Wahrheit obsolet und in eben jenem Punkt muss sich die lebenspraktische Dimension unseres Verstehens bewähren – insofern sie den normativen Engführungen und der sprachlichen Gewalt »etwas« entgegensetzen sollte. Das komplexe Verhältnis zu dem, was wir »Wirklichkeit« bezeichnen, steht hier in Frage. Richard Rorty setzte sich bekanntlich für eine pragmatistische Wende unserer Wirklichkeitskonzepte ein: nicht die subjektunabhängigen Struktu­ ren des Realen, sondern die Handlungsmuster sind entscheidend, mit denen wir sozial erzeugte Vorstellungen des Guten ausdrücken209. Das Gespräch der Philosophie mit der Menschheit wird dann eröffnet, wenn Klarheit über die untilgbare »kulturelle Leerstelle«210 mensch­ licher Verständigung besteht. Erst aber in der weltbilden Kraft der Narration rückt eine solche Klarheit in die Nähe. Kraft einer Erzählung wird lebensweltliche Erfahrung zeitlich organisiert; die sinnhafte Interpretation des Erlebten ermöglicht jenes verloren gegangene menschliche Selbstverhältnis, in dem sich der Mensch als Gestalter und Bildner einer Konstellation erweist. Eine verbindende Erzählung könnte also jenen leeren Platz ein­ nehmen, der sich in Zeiten der Krisen und des Sinnverlusts ausbreitet. Erzählungen sind Ausdruck einer parteinehmenden und identitäts­ stiftenden Reflexion. Exemplarisch ließe sich hier die Rezeption des Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt am Main 1981. 210 Matthias Jung: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg: Junius 2001, S. 140. 208

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»Exodus« bei Michael Walzer nennen211. Die Geschichte vom Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft, ihrer Flucht durchs rote Meer und die Wüste, schließlich der Einzug in das Gelobte Land ist für Walzer ein genuin politisches Thema. In ihm wird das Fundament einer politischen Gemeinschaft sichtbar, mit dem der Moment des politischen bewussten Handelns einhergeht. Die Fragen, die Walzer mit Blick auf die biblische Überlieferung aufwirft, ist die Frage aller politischen Sinnbildung, die über starke politische Bilder und Metaphern ermöglicht wird. Der Moment des Umbruchs und der Befreiung aus unrechtmäßiger Herrschaft mündet in der Situation der Freiheit, in der die Bedingungen gemeinschaftlichen Handelns bestimmt werden müssen. Mit Blick auf die vorliegende Thematik ließe sich hier mit guten Gründen fragen: Handelt es sich hier um eine Art Gegenerzäh­ lung? Stiftet die narrative Reflexion die Kraft zur Motivation und zur Bemächtigung im sozialen und politischen Kampf? Bekanntlich ist der Exodus vielschichtiges Thema politischer Bewegungen. Der Exodus ist Leitmotiv und Melodie all jener Zusammenschlüsse, die sich gegen unrechtmäßige Willkürherrschaft stellen. Von der latein­ amerikanischen Theologie der Befreiung bis zum Selbstverständnis der vermeintlich »ersten« Amerikaner, denen es um die Errichtung eines von Gott gestifteten neuen Israels ging, reichen die Bezüge. Am Beginn und am Ende einer solchen Stiftung stehen Varianten des Prinzips Hoffnung (E. Bloch); entscheidend für die narrative Konzeption bei Michael Walzer ist freilich der Zusammenschluss für die innerweltlichen Ziele der politischen Gemeinde. Und so eindring­ lich der Moment der Befreiung aus der offensichtlich ungerechten Knechtschaft in Ägypten ist, so findet sich das eigentliche Motiv in der Bereitschaft, Ägypten hinter sich zu lassen. Die Sehnsucht nach Freiheit, so Walzer, führt nicht zum Triumph und zum Nachweis der eigenen Stärke, sondern zu einem Ringen um die Eigenständig­ keit und Autonomie212. Der Gehorsam gegenüber der tyrannischen Herrschaft wird vom Gehorsam gegenüber Gott abgelöst, aber diese Form ist weitaus herausfordernder, denn sie bereitet erst den Boden der positiven Freiheit. Eine Freiheit, die keinen endgültigen Sieg der Moral verschafft, sondern ein Volk vor die Aufgabe stellt, eine Verpflichtung einzugehen. Der eingegangene Bund ist kein einmali­ 211 212

Michael Walzer: Exodus und Revolution. Frankfurt am Main 1995. Ebd., S. 83.

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3. Gewalt und Bedeutung. Die Macht der Narration

ger Akt, sondern eine Haltung, die sich in Krisenzeiten, nach der Erfahrung der Demütigung und der Entbehrung bewähren muss. Erst diese Erneuerung des Bundes macht den Exodus zu einer politischen Narration213. Israel wird zu einer Metapher für einen Ort, der für das Versprechen der Gerechtigkeit steht, die nie endgültig eingelöst werden wird. Der Sinn der Erzählung hat universale Dimensionen. Die Ver­ heißung wird verzögert, die Gesetze nie vollkommen befolgt, das vor Augen liegende Land Kanaan nie endgültig erobert. In der Gegenüberstellung der Strategien des politischen Messianismus mit der Exodus-Politik kommt das genuin existentielle Verständnis zum Tragen. Die messianische Form versagt, das Versprechen wird nie eingelöst und es scheint den Befreiten auf dem Gang durch die Wüste, als hätte ihr langer Marsch kein Ende. Sie sehen sich immer neuen Enttäuschungen ausgesetzt. Womit wir es in dieser Erzählung zu tun haben, ist die Logik des Denkens und Handelns im politischen Raum. Wäre es nicht wünschenswert, den trägen Zwiespalt, die lästigen Kompromisse und die Vielfalt der unvollkommenen Formen des Zusammenlebens hinter sich zu lassen? Sollte nicht eine endgültige, wahre und letzte Form errungen werden im Akt der Selbstbemächtigung? Dieses Motiv verrät vieles über die Psychodynamik der totalitären Bewegungen. Es wäre die schlechtere und abgründigere Variante des Exodus, in dem sich die Sehnsucht nach dem Absoluten und Unbedingten zeigt – ein Messianismus, der das 20. Jahrhundert mitgestaltet hat. Der Ursprung des Exodus scheint hingegen in der wahren Ent­ täuschung zu liegen. Die Politik ist keine überlegene, triumphale und endgültige Form des Sozialen, sondern Ausdruck unverfügbarer Bedingungen menschlichen Scheiterns. Was eine politische Gemein­ schaft sein will, »hat einen Halt in den politischen Bildern und den mit ihnen verknüpften Wertorientierungen, über die sich die Handelnden definieren.«214 Die Politik des Exodus wäre demnach die Geschichte der bewussten und gewollten Handlungen, die über keinerlei Letzt­ gewissheit verfügen. Es bleibt die Sache der Betroffenen, sich in einer bestimmten Situation auf eine Reihe geteilter Überzeugungen zu verständigen. Ebd., S. 109 ff. Skadi Krause/Karsten Malowitz: Michael Walzer zur Einführung. Hamburg: Junius 1998, S. 99. 213

214

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IX. Der Eigensinn der religiösen Praxis.

Einleitung Religionsphilosophischen Diskursen kann man mit einem »heiligen« Ernst begegnen – oder man nutzt das Mittel der Ironie. Um Letzteres scheint es sich bei der folgenden Anekdote zu handeln: »Bei den Sioux wird der Verstorbene mit Speisen und Trank versehen, als ob er noch lebte. Ein Amerikaner, offenbar ein Mann auf der Höhe der zeitgenössischen Bildung, fragte einmal einen Sioux, den er einmal bei solch frommen Tun beobachtete: Bildest du dir ein, dass der Tote herauf kommt und dein Essen verzehrt? (Antwort des Sioux): Ebenso wie du dir einbildest, dass dein Toter an den Blumen riecht, die du auf sein Grab pflanzt.«215 Das Beispiel ist entlarvend: die Höhe der Zivilisation ist eine Fallhöhe, der überlegene Gestus gegenüber einer vermeintlich nied­ rigeren Kultur erweist sich als gespiegelte Illusion. Die Interaktion hat aber eine weitere Dimension, die auf das Wesen des Glaubens als solches gerichtet ist. Wozu dienen sakrale Rituale im gemeinsa­ men Leben – an fremden oder vertrauten Orten, in eingespielten Routinen oder in überlieferten religiösen Setzungen? Warum werden Festtage begangen und Begebenheiten erinnert, wozu Haltungen und Einstellungen gemeinsam oder einsam versichert? Verschiedene Antworten sind denkbar. Wenn man sich auf das weite Feld der Religionssoziologe begibt, findet man Antworten, die auf den ersten Blick befriedigen mögen: Religion erscheint als eine Praxis, die mit Gefühlen und Leidenschaften verbunden ist und somit als Projektion subjektiver Befindlichkeit fungiert. Sie sei Erzählung und Fiktion und somit eine lebensdienliche Illusion, die der Angewiesenheit des Menschen auf Sinn entspricht. Insofern wäre sie schließlich als entfremdungstheoretisches Produkt ökonomischer Verhältnisse 215 Thomas Rentsch: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik. In: Ders.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 180–213, hier S. 194.

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IX. Der Eigensinn der religiösen Praxis.

zu interpretieren, das eher den Herrschenden als den Beherrschten hilfreich sei. Man kann das Verhältnis von gelebter Religion und einer Sozi­ altheorie in einen funktionalen Zusammenhang bringen. Menschen leben bewusst oder halbbewusst mit religiösen und sakralen Symbo­ len und inmitten religiöser Praxis; sie sind also »religiös« in einem vortheoretischen, nicht analytischen Sinne. Funktionalistische Inter­ pretationen behaupten, diese religiöse und lebensweltliche Praxis in ihre kausalen Einzelteile zerlegen zu können. Diese Praxis wäre demnach ein Instrument für Herrschaft, ein Äquivalent für etwas, das fehlt, ein »Versuch«, etwas Unerklärliches in eine Narration zu überführen. Der vortheoretische Horizont ist lebensweltlich, in diesem handelt der religiöse Mensch ohne sein Tun zu hinterfragen, ohne explizit nach Gründen zu fahnden und ohne Interesse an den tie­ feren Bedeutungsschichten seiner Praxis. Die Theorie, besser gesagt bestimmte theoretische Ansätze, versuchen Zusammenhänge im Leben der Menschen zu erkennen und das religiöse Selbstverständ­ nis auf etwas zurück zu führen, das nicht es selbst ist: ein bloßes Instrument, ein Hilfsmittel, eine Projektion. Solche funktionalistische Herangehensweise steht im Zentrum der folgenden Auseinanderset­ zungen. Wenn von Religion im Verhältnis zur modernen Lebensform die Rede ist, verschärft sich mitunter der Ton der Auseinandersetzungen. Religion sei alles, aber nicht harmlos216. Geschichtlich betrachtet habe die Religion ebenso Ordnungen gestiftet wie sie Gewalt erzeugt habe; religiöse Weltbilder haben über die Epochen hinweg das Denken und Handeln der Menschen geprägt. Nach wie vor sei die Religion ein Unruheherd, weil von »unaufhebbarer Ambivalenz und notorischer Gefährlichkeit.«217 Die Diskurse neigen in diesem Zusammenhang zu globalen Deutungen, sei es im Kontext der Geschichte des Westens mit der erfolgreichen Trennung von Staat und Kirche, sei es im Kontext von Gewalthandlungen mit religiösem Hintergrund, sei es

216 Zu den möglichen Konfliktachsen zählen etwa die anhaltenden Diskurse über die vermeintlich gewaltsamen Monotheismen. Vgl. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003. 217 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung. In: Ders./Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. München: C. H. Beck 2013, S. 7–47, hier S. 8.

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Einleitung

im Zusammenhang von Weltbildern und großen Erzählungen218. Demgegenüber scheint sich die Frage nach der Funktion der Religion als weniger bedeutsam auszunehmen, weil sie im Grunde psycholo­ gistisch begründet wird. Dabei ist eben diese Frage der Funktion der Religion im gemeinsamen Leben eine höchst relevante. Im Zentrum vieler Diskurse steht sehr zu Recht die Frage, wie sich kulturelle Lebensformen auf einen tragfähigen modus vivendi einigen könnten. Religiöse Toleranz in einem staatlichen Rahmen wäre vereinfacht gesprochen das Ziel dieser Herangehensweise. Der säkulare Staat mit seiner religionspolitischen Aufsicht trägt zum äußeren Rahmen bei, in dem sich die einzelnen kulturellen, sozialen und religiösen Gemeinschaften vcrsammeln können. Aber unterhalb dieser Ebene finden wir ebenso bedeutsame Phänomene: die Religion ist inmitten sozialer Lebenswelten ein gleichsam selbstverständliches Medium, Ausdrucksmittel und Symbolsprache. Der äußere Rahmen, der vom säkularen Staat gesetzt wurde, ist zwar im Hintergrund präsent. Aber er greift nicht unmittelbar auf jene Ebene durch, in der Religiosität praktisch gelebt und vollzogen wird. Diese Ebene ist freilich für die helfenden Professionen von höchster Bedeutung, nicht nur weil die interkulturellen Bezüge Unsicherheiten erzeugen. Sondern weil die Ebene des Religiösen, wie angedeutet, nicht auf ihre Funktionen noch auf Regularitäten hin reduziert wer­ den sollte. An der Bedeutung, die Religion im Leben vieler Menschen hat, entzünden sich die folgenden Überlegungen. Sie sind insofern auf einer vorpolitischen Ebene angesiedelt. Dies aber heißt wiederum nicht, dass die politischen und sozialen Bedingungen religiöser Praxis ausgeblendet werden sollten. Die Ebenen sind gar nicht zweifelsfrei zu trennen, sondern in einem integrativen Verhältnis zu betrachten. Einleitend soll daher das Verhältnis von Religion und Politik skizziert werden, insofern es den Rahmen religiöser Ausdrucksmöglichkeiten in der Moderne bestimmt (1). Es folgt eine Darstellung der religionsund kultursensiblen Praxis, die gleichsam als ein Leitbild der interkul­ turellen Pädagogik und der Sozialen Arbeit erscheint (2). An diesem Punkt ist es zielführend, den Gedanken einer authentischen religiösen Praxis so tiefenscharf wie möglich zu erfassen. Erst eine funktionalis­ 218 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949; Hans Joas/ Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2005.

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IX. Der Eigensinn der religiösen Praxis.

muskritische und phänomenologische Herangehensweise hilft dabei, den authentischen Kern religiöser Praxis zu verstehen (3).

1. Kontroversen über die postsäkulare Situation Über ein Jahrhundert nach Max Webers Schrift: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« halten die religionstheore­ tischen Kontroversen die Gesellschaft in Bewegung. Weber hatte bekanntlich den Sonderweg des westlichen Christentums beschrie­ ben, den er in der Gestalt des siegreichen Rationalismus erkannte; er hatte zudem die entscheidenden Stichworte für die Soziologie der Epoche geliefert. Die moderne Welt sei entzaubert, zerfallen in verschiedene autonome Bereiche und nicht mehr auf die religiöse Letztbegründung zurückzuführen. Der Bedeutungsverlust der Reli­ gion aber wiegt nicht nur schwer, er ist auch umstritten. Handelte es sich um epochale Umwälzungen oder Momentaufnahmen? Wie endgültig ist der Siegeszug des Rationalismus zu verstehen – und werden »das Soziale«, Moralität und Sittlichkeit einer im Wortsinn heillosen Zweckbestimmung überantwortet? Hinreichender Anlass für neue Verfallsgeschichten ist anschei­ nend gegeben. Eine Kultur, so schreibt etwa Michel Onfray219, schöpfe ihre Kraft stets aus der Religion, von der sie legitimiert werde. Ein Jahrhundert nach Spenglers Diagnose vom Untergang des Abendlan­ des erfährt die These vom schleichen Niedergang also eine zwiespäl­ tige Bestätigung. Die Kontroversen über den »eigentlichen« Zustand der Gesellschaft im Hinblick halten indes an. Gewissheiten lassen sich in dem umkämpften Feld der säkulari­ sierten Welt schwerlich finden. Schon die Diagnose der Säkularisie­ rung ist ambivalent, denn sie suggeriert eine Endgültigkeit und einen Absolutismus der rationalen Lebensführung, der gar nicht verallge­ meinert werden kann. Für die Soziale Arbeit ist diese Unterscheidung von einer eminenten Bedeutung. Mit Blick auf die Entwicklung Europas lassen sich natürlich wichtige Eckpfeiler der Säkularisierung benennen: Seit 1648 haben sich weltliche, politische und religiöse Sphären voneinander gelöst; eine Verdiesseitlichung von Gesellschaft 219 Michel Onfray: Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur. Mün­ chen: Knaus 2017.

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1. Kontroversen über die postsäkulare Situation

und Politik hat sich demnach in langen Schüben vollzogen, aber gewiss keine globale Abkehr vom Religiösen selbst. Im Westen hatte das Vernunftrecht, das mit den Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts Gestalt annahm, überkommene Vorstellungen von kosmischer Ordnung und transzendentaler Offenbarung abgelöst. Es waren Umbrüche in der Geschichte Europas im Gang, die bei aller Komplexität auf den Nenner der politischen Selbstbestimmung geführt werden können. Jahrhundertelang hatte sich die Herrschaft an einen Begriff des Heils gebunden, waren die bestehenden Ordnungen von einem heilsgeschichtlichen Rahmen umgriffen. Die Wende hin zur politischen Selbstherrschaft gründete auf dem abstrakten Gedan­ ken der zwanglosen Inklusion aller Individuen, »die Ja und Nein sagen können«220. Die Suche nach der gerechten Ordnung wird »seitdem« auf die Willensbildungen und Entscheidungen der diesseitigen Staatsgewalt zurückgeführt. Staatsgewalt gründet sich, zumindest in Europa, auf säkulare Bedingungen, auf Rede und Gegenrede, Streit und Kontro­ verse, Entscheidungen und Regularitäten, die ohne den religiösen Komplex legitimiert werden. Dies aber bedeutet keine Abwendung vom Religiösen, sondern zunächst eine spezifische Form der Trennung der Sphäre öffentlichen Vernunftgebrauchs von einer Privatsphäre. Die religiöse Sprache und religiöse Argumente haben weiterhin Einfluss und Bedeutung; aber der säkulare Staat muss darauf pochen, dass der politisch rele­ vante Gehalt religiöser Argumente jeder Glaubensgemeinschaft in »einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängi­ gen Diskurs übersetzt werden muss«, bevor er auf eine politische Agenda gesetzt wird221. Mit diesen wenigen Andeutungen ist der äußere Rahmen beschrieben, der die Religion im säkularen Staat an einen bestimmten Ort verweist. Aber die Vorstellungen, die man an das Phänomen der Säkularisierung knüpft, können nicht restlos überzeugen. Das Bild, nach dem die Religion ihre Wirkungskräfte erschöpft, dann aber mit einem mal wiedererlangt, genügt nicht. Die Religion war nicht verschwunden, sondern immer ein Faktor inmitten der gesellschaft­ lichen und sozialen Umstände. Kritiker der Säkularisierungsthese Jürgen Habermas: Politik und Religion. In: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. München: C. H. Beck 2013, S. 287 – 301, hier S. 288. 221 Ebd., S. 290. 220

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sehen auch die öffentliche Bedeutung des sakralen Komplexes als ungebrochen an; dazu aber muss man den eurozentrischen Blick auf den globalen Horizont ausweiten. Verschiedene Ebenen des Religiösen sind zu betrachten. Sicher­ lich kann man im Westen von einer Schwächung der religiösen Bindungen sprechen, insofern sich die konfessionelle Zugehörigkeit in leeren Verfahren erschöpft. Solche Religiosität, die zu anderen Zeiten noch in dogmatischer Strenge den Alltag regeln konnte, hat einen faktischen Bedeutungsverlust erlitten. Aber schon in dem Bild, dass diese vergessene oder verdrängte Religiosität wieder mit aller Macht »zurückkehre«, werden falsche Eindrücke vermittelt. Betrachtet man hingegen religiöse Phänomene in einem globalen Kontext, werden differenziertere Aussagen möglich222. Religion ist auf verschiedenen Ebenen zu betrachten: zwischen religiöser und politscher Sphäre, mit Blick auf allgemeine Deutungsmuster und als lebensweltliches oder privates Handeln. Die beschriebene Tren­ nung von Staat und Kirche, weltlicher und religiöser Autorität in Westeuropa ist insofern als ein Ausschnitt eines weitaus größeren Zusammenhangs zu verstehen – wenn auch ein gleichsam hoch bedeutsamer. Die politische Rolle der Religion ist »im Westen« stark beschnitten worden. Die jahrtausendelange Inanspruchnahme des sakralen Komplexes für die Legitimation der Herrschaft hatte eine Fusion von Staat und Religion erzeugt, die tief in die Gesellschaft eingedrungen war. Ihre »Überwindung« im neuzeitlichen Europa ist bedeutsam für den Gang der Geschichte – »wir« leben seitdem im Bewusstsein eines Bruchs: Glauben und Wissen wurden pola­ risiert223. Und damit wurden zugleich intuitive Gewissheiten und unmittelbare Evidenzen entwertet. Hans Joas hat diesen Gedanken aufgegriffen und mit einer wegweisenden Unterscheidung verknüpft, die andere Gesichtspunkte hervortreten lässt. Die Trennung von Religion und Politik lässt sich durch das Wechselspiel von Macht und Sakralität ersetzen. Nicht die Religion als solche, die in Institutionen und dogmatischen Formen verkörpert wird, ist anthropologisch gehaltvoll, sondern die Fähigkeit

José Casanova: Public Religion in the modern world. Chicago/Illinois: University of Chicago Press 1994; Ders.: Einwanderung und der neue religiöse Pluralismus. Ein Vergleich zwischen der EU und den USA. In: Leviathan 34, 2, 2006, S. 182–207. 223 Habermas 2013, S. 294.

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1. Kontroversen über die postsäkulare Situation

des Menschen, sakrale Erfahrungen machen zu können224. Sakrale Erfahrungen transzendieren das Selbst; sie verweisen den Menschen auf Quellen »außerhalb«, die besondere Eigenschaften besitzen und die Menschen mit affektiver Intensität in Besitz nehmen. Religionen sind in dieser Betrachtungsweise als Versuche zu interpretieren, die Erfahrung des Sakralen, die allen Menschen zugänglich ist, in Prak­ tiken und Erzählungen, Dogmen und Institutionen zu überführen. Diese Religiosität, die wir als Gestimmtheit, Inspiration, Empfängnis, als heilige Botschaft oder vorsprachliche Gewissheit erfahren »dür­ fen«, ist als grundlegendes anthropologisches Phänomen zu verste­ hen. Es ist weder überholt noch rückständig, sondern ein Grundzug menschlichen Weltbezugs, der auch bei aller Rationalisierung bedeut­ sam bleibt. Mit dieser Verschiebung des Blickwinkels ergibt sich ein anderes Bild des Religiösen. Es wird ergänzt durch die These von der mul­ tiplen Moderne. Der Zusammenfluss der verschiedenen religiösen Aspekte ist entscheidend, nicht die rigide Trennung. Die fortschrei­ tenden Differenzierungen haben vielleicht zum Bedeutungsverlust des öffentlichen religiösen Lebens in Westeuropa geführt – aber eine unbezweifelbare Trennung der Sphären ist nicht zu erkennen. In den verschiedenen Kulturräumen der Welt sind verschiedene Ent­ wicklungswege zu kennzeichnen; in diesen haben sich vielfältige Beziehungen zwischen Religion, Politik und Lebensführung ausgebil­ det. So betrachtet, war die Religion nie verschwunden, sondern immer Teil einer Kultur, Zentrum und Achse eines gemeinsamen Lebens. Die Frage ist gleichwohl zu vergegenwärtigen, inwieweit die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher »Modernitäten« Einfluss auf die Disziplinen der Sozialen Arbeit hat. Dass in der postsäkularen Gesell­ schaft religiöse Lebensformen beachtet werden müssen, steht wohl außer Frage. Aber welche Schlussfolgerungen ziehen »wir«, nun gesprochen aus der Perspektive der Handelnden, aus der ungebroche­ nen Vitalität religiöser Gemeinschaft?

224 Hans Joas: Sakralisierung und Entsakralisierung. In: Graf/Meier 2013, S. 259– 287.

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2. Interkulturelle Praxis Navid Kermani, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Essayist, schreibt über sein Verhältnis zur Kreuztheologie: »Für mich aber ist das Kreuz ein Symbol, das ich theologisch nicht akzeptieren kann, akzeptieren für mich meine ich, für die Erziehung meiner Kinder. Andere mögen glauben, was immer sie wollen; ich weiß es ja nicht besser. Ich jedoch, wenn ich in einer Kirche etwas tue, gebe acht, niemals zum Altar hin zu beten, weil hinterm Altar ein Kreuz steht. Und nun steht seit Tagen ein Kreuz auf meinem Schreibtisch, links neben dem Computerbildschirm, schräg über dem Gebetsteppich, und ist berückend, so voller Segen, dass ich es am liebsten selbst ankaufen und für immer behalten würde, koste es was es wolle. Erstmals denke ich: Ich – nicht nur: man – ich könnte an ein Kreuz glauben. Es steht nicht nur für die Inkarnation in nur einem Menschen, es steht für die Inkarnation als ein Prinzip.«225 Ich könnte an ein Kreuz glauben. Kermani spricht ganz bewusst als eine Art Fremder gegenüber einer Religion, die ihm in all ihrer Leibfeindlichkeit gegenüber steht. Etwas an der Kultur des Christen­ tums bleibt ihm verschlossen, anderes rückt nahe. Es handelt sich insofern um einen gelehrten wie instruktiven Essay, weil er die Grundzüge eines praktischen Dialogs abbildet. Nichts spricht gegen das aufrichtige Interesse, ungläubiges Staunen oder bleibende Reser­ viertheit gegenüber einer fremden religiösen Praxis; der Dialog muss nicht zwanghaft auf Konsens und Gleichmaß gezwungen werden, noch muss die Rede über Toleranz über Gebühr betont werden. Authentizität umfasst in diesem »Gespräch« mit dem Christentum das Dunkle und Intransparente, die Schönheit und den Schrecken zu gleichen Teilen. Man könnte hierin eine Wegweisung erkennen für den Diskurs der Religionen, in dem doch so oft vom Widerstreit die Rede ist, in dem das Kämpferische oder das zwanghaft Harmonische betont wird. Aber: hierbei handelt es sich natürlich um ein Gespräch auf dem literarischen Höhenkamm. Kunsthistorische und theologische Reflexionen vereinen sich mit der Brillanz des Autors; für die Selbst­ reflexion der Disziplin Sozialer Arbeit ist aber eine Differenzierung der Ebenen vonnöten. Man muss zwar nicht herabblicken auf inferiore Navid Kermani: Ungläubiges Staunen über das Christentum. München C. H. Beck 2015, S. 51.

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2. Interkulturelle Praxis

Lebensformen, aber: die Soziale Arbeit benötigt in anderem Sinne einen erweiterten Blick. Diskursive Höhenflüge müssen auf konkrete Handlungsebenen zurückgeführt werden. Anders formuliert: Wege sind zu beschreiten, um »Menschen­ rechtskonzepte aus den Fesseln des westlichen Modernismus zu befreien«226. Die geforderte Öffnung des kulturtheoretischen Diskur­ ses findet ein Motiv in der konkreten Person, von der wir uns kein vorgefertigtes Bild machen, die wir in ihrem unverstellten Eigensinn betrachten. Dieser Eigensinn hat viel mit der unverfügbaren Auto­ nomie eines jeden Menschen zu tun, aber auch mit der Freiheit zur Selbstbindung. Der religiöse Mensch an sich wäre eine unklare Beschreibung, ebenso wie der Begriff der Kultur nichts endgültig Festgefügtes umschreibt. Was jedoch in Betracht zu ziehen ist: in der interkulturellen und internationalen Perspektive ist die Religion als Faktor zu verstehen, der stärker als bislang in die Konzeptionen der Sozialarbeit einzubinden ist. Zwar ist von interkultureller Begegnung seit langem die Rede; aber die so oft eingeforderte Entfaltung von Gestaltungsmöglichkeiten im Kontext des religiösen Feldes bleibt lediglich ein Wunschbild. Woran dies liegt, wäre eingehend zu fragen. Offensichtlich ist, dass sich Gewalt und Religion zu einer dominanten Erzählung zusam­ mengeschlossen haben. Die Gefahren der Radikalisierung und der Fundamentalismus stehen weit oben auf der Agenda; die Idee der Prävention scheint den Vorrang vor allen anderen Begegnungsformen zu haben227. Sehr eng gefasst scheint es sich bei dieser Pädagogik zwischen den Kulturen um Herangehensweisen zu handeln, die von Zähmung und Einhegung einer ursprünglichen Gewaltsamkeit aus­ gehen. Der sozialpädagogische Diskus, der sich auf eine möglicherweise gefährdete Generation richtet, hat sein Eigenrecht. Unterbestimmt bleiben aber die Potentiale innerhalb einer religiösen Landschaft, für die eine anerkennende und fördernde Soziale Arbeit aufkommen muss. Die Religion wäre insofern auch außerhalb der Selbstgefähr­ dung von Individuen zu erkunden; richtig verstanden müsste sie von der Semantik des Verdachts befreit werden. Die immer wieder gefor­ 226 Briskmann, L.: Menschenrechte und soziale Arbeit – eine globale Perspektive. In: Wagner. L. /Lutz, R.: (Hg.): Internationale Perspektiven Sozialer Arbeit. Wiesbaden VS 2009, S. 121–135, hier S. 120. 227 Ahmed Mansour: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015.

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derte Suche nach neuen Konzepten zwischen Migration, Interkultura­ lität und Inklusion müsste dem Religiösen einen Kredit zugestehen. Wogegen die Religion steht, dies ist aus unzähligen Debatten her bekannt: sie ist notorisch gefährlich durch ihre dogmatische Strenge, sie verhärte und verschließe die Menschen und verstelle somit die Spielräume der Integration. Inwiefern die Religion aber als Deutungsund Lebensmacht in der interexistentiellen Dimension fungiert, dies wäre explizit herauszuarbeiten. Ein fertiggestelltes Konzept ist indes nicht zu erwarten. Perspek­ tiven der kultur- und diversitätssensiblen Praxis sind erschlossen und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte an228. Hier geht es vorrangig um einen Gedanken: der grundsätzlich konstruktive Ansatz, die Ein­ wandererreligiosität als eine Ressource zu verstehen und zu nutzen, bedarf einer Vertiefung. Geht man davon aus, dass solche Religiosität »keinen importierten Traditionsrückstand einer rückständigen Welt darstellt«229, bleiben gleichwohl bestimmte Aspekte bestehen, die in die Tiefe der religiösen Weltbeziehung führen.

3. Kultursensible Praxis jenseits der Funktion Der einfachste und gradlinige Weg zu einer kultur- und religions­ sensiblen Praxis führt offenbar über den Begriff der Aneignung. Die Religion ist als ein Hindernis, sondern als eine Ressource zu erschließen, die im Leben der Menschen Bedeutung erlangt. Aber so überzeugend dieser Perspektivwechsel ist, so muss er anders formuliert werden. Denn auch in dieser Perspektive scheint es sich um ein instrumentelles Missverständnis zu handelt: man »gebraucht« Paul Mecheril: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach) Zugehörigkeiten. Münster: Waxmann 2003; Lisa Janotta: Inklusionsbegehren und Integrationsappelle: Aufenthalt, Soziale Arbeit und der Nationalstaat. In: Neue Praxis 2/2018, S. 122–136; Stefan Gaitanides: Interkulturellen Öffnung der sozialen Dien­ ste. In: Neue Praxis, Sonderheft 8, Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, S. 222–234; Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleich­ berechtigung in interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesba­ den: VS 2006 (3. Aufl.). 229 Rabih El-Dick: Säkularisierung und Migration in der Sozialen Arbeit. Eine Neu­ bewertung der Säkularisierungsthese im Kontext der internationalen Perspektive. In: Leonie Wagner/Ronald Lutz/Christine Rehklau/Friso Ross (Hg.): Handbuch Inter­ nationale Soziale Arbeit. Dimensionen – Konflikte – Positionen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2018, S. 7–22 et. al. 2018, S. 227–240, hier S. 235. 228

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3. Kultursensible Praxis jenseits der Funktion

die Religion, weil sie nützlich und tröstend ist; die Betrachtung verbleibt in den Engführungen des funktionalistischen Denkens. Die funktionalismus- und sinnkritische Herangehensweise erst erschließt den Zusammenhang von Grund auf. Von der Frage nach dem funktionalen Wert der Religion in Geschichte und Gegenwart führen die folgenden Überlegungen weg; sie rücken hiergegen die faktische Bedeutung religiöser Praxis in modernen Lebenswelten in das Zentrum. Diese Orientierung schließt den Gedanken der kausalen und funktionalen Beziehungen nicht aus, aber die Reflexion hat ihren »eigentlichen« Ausgangspunkt in der humanen Grundsituation, die sich nicht auf ihre Funktionen reduzieren lässt. Die interexistentielle Dimension, in der sich erst die Bedeutung der Religion erschließt, muss sich insofern von dem Adlerblick der Soziologie distanzieren. Die klassische Konstellation erkannte in vormodernen Zeiten eine völlige Gleichsetzung von religiösem und sozialem Leben; die Religion durchdrang gleichsam das Bewusstsein, Sprache und Denken der Vormoderne, während in der Neuzeit dieser totalen religiösen Praxis der Boden entzogen würde230. Aber diese Sichtweise tendiert zu einer Einseitigkeit und verdeckt die praktische Vielfalt von religiöser Praxis, Wahlmöglichkeiten und Glaubensrichtungen. Erst in der »post-durkheimschen« Konstellation wird die Pluralität religiöser Erfahrungen und individueller Glau­ bensentscheidungen explizit. In das Zentrum rückt nun die Frage nach der individuellen Ausdrucksmöglichkeit von Religions- und Glaubenserfahrungen. »Ich kann meine Glaubensentscheidung von daher nicht mehr an andere Personen (z. B. die Pfarrerin) oder gar an eine Institution (z. B. die Kirche oder eine Schule in kirchlicher Trä­ gerschaft) delegieren, sondern muss stets mich selbst befragen, was, wie und warum ich glaube. Im Rahmen der erweiterten und vertieften Modernisierungsprozesse wird die relative ethnische Geschlossen­ heit der Nationalkulturen aufgesprengt, zusätzlich gefördert durch den neuen Individualisierungs- und Pluralisierungsschub (auch bei der Konstitution sozialer Räume).«231 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Ders.: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 231 Karl Heinz Braun: Religiöse Bildung in der postsäkularen Moderne. Dialogische Anforderungen an die christliche Religionspädagogik in der multikulturellen Gesell­ 230

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Die bisherigen Konzepte, die von zivilreligiöser Kultur oder vom Gedanken einer einzigen Leitkultur ausgingen, verlieren somit ihre Überzeugungskraft. An ihre Stelle tritt eine komplexe Situation kultureller Vielfalt, in der sich trotz aller mangelnden Orientierung Spielräume für religionspädagogische Ansätze aufweisen lassen. Die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, ist in diesem Zusammenhang ein unverzichtbares Mittel. Aber mit welchen erkenntnistheoretischen Kriterien? Es kommt, wie wir sehen werden, alles auf die Wahl der Kategorien an, mit denen man versucht, den Weltbezug und die Welterfahrung nachzuvollziehen. Dies aber heißt nicht, dass »von oben« Beobachtungen in einer »unteren«, niedrigeren oder inferioren Ebenen angebracht werden. Die Praxis, in der Religion Bedeutung erlangt, ist vorreflexiv und expressiv. Es bedarf außer-ordentlicher hermeneutischer Anstrengungen, um dem Weltempfinden eines religiös denkenden Menschen nahe zu kommen. Schwierig und herausfordernd ist dies daher, weil jede denkbare Diagnose der Moderne mit der Sorge einher geht, dass sich Subjekte verschließen und die Resonanzbeziehungen früherer Zeiten verstummen. Früher, so könnte man die Reflexionen von Charles Taylor und anderen Denkern zusammenfassen, lebten die Menschen in sozialen Resonanzbeziehungen; in affirmativem Einklang mit der Welt. Das Verlangen nach Antworten und Sinn, Resonanz und Beziehung bleibt jedoch unter modernen Vorzeichen unbefriedigt232. Moderne Subjektivität schließt sich im schlechtesten Fall gegen ihre Umwelt ab; sie hat zu jeweiligen Lebenswelt nur noch sporadische, kausale und instrumentelle Kontakte. Alles kommt insofern darauf an, den Sinngehalt einer authentischen religiösen Selbst- und Weltbe­ ziehung zu erfassen. Eine phänomenologische Analyse müsste an den »Kern« der religiösen Gewissheit gelangen. Verschiedene Sätze über das Wesen der Religion sind im Zuge dessen zu bezweifeln: denn die religiöse Praxis ist nicht »szientifisch«, also mit dem Vorhaben der Verifikation gleichzusetzen, sie gründet letztlich nicht in Emotionen und Projek­ schaft. In: Neue Praxis, Sonderheft 8, Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, hg. v. Hans Uwe Otto und Markus Schrödter, 2006, S. 85–99, hier S. 87. 232 Hierzu: Hartmut Rosa: Is anybody out there? Stumme und resonante Weltbe­ ziehungen – Charles Taylors monomanischer Analysefokus. In: Michael Kühnlein/ Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, S. 15–44; Ders.: Reso­ nanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016.

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tionen; sie ist insofern weder auf ein Postulat noch auf eine Funktion zu reduzieren233. Was der Glaube im Zentrum einer subjektiven und interexistentiellen Weltbeziehung darstellt, ist mit den herkömmli­ chen Mitteln der Erkenntnis nicht zu begreifen. Versuchen wir zu beschreiben, was in der religiösen Praxis geschieht. Wer religiöse Sätze ausspricht, verfolgt damit kein rationa­ listisches Wahrheitsverständnis. Er will nicht etwas unter Beweis stel­ len, indem er einen Sachverhalt als erwiesen darstellt. Die Evidenz des Glaubens gründet sich nicht auf Prognosen, Garantien, Versprechen und schlichten Fiktionen. All diese Phänomene stellen ein kritisches Begleitmotiv dar, das in einzelnen Situationen wirksam wird. Aber der authentische Kern des Glaubens hat seinen eigentlichen Sitz nur in sinnkonstitutiven Handlungskontexten; die Einsamkeit der abso­ lutistischen Glaubensentscheidung kann man von außen insofern weder beweisen noch logisch bestreiten. Natürlich: eine distanzierte Person mit atheistischen Auffassun­ gen kann die Religion auf Fiktionen zurückführen: er erkennt ggf. praktische Illusionen, lebensdienliche Fiktionen, eine auf Sinn ange­ wiesene Person, die es nicht besser weiß. Sie könnte gar als bedürftig erscheinen, wo sie sich etwa auf magische Deutungen verlässt, anstatt die harte kausale Realität anzuerkennen. Wie auch immer sich Atheismus und Glauben aufeinander bezie­ hen lassen – in der schlichten Dekonstruktion einer fiktionalen Rede wird man dem Religiösen nicht gerecht. Religiöse Praxis speist sich aus etwas anderem. Wendet sich ein Gläubiger Gott zu, »weil« er in diesem Akt Trost findet? Richtet er seine Gefühle auf ein »Objekt« aus, das man tiefenpsychologisch erforschen und sezieren will? Eben diese Redewendungen verfehlen den authentischen Gehalt religiöser Ori­ entierungen. Die Sache selbst – der Glauben, den einem niemand abnehmen, vorschreiben oder verordnen kann – ist kein Produkt einer sozialen Beziehung; auch nicht alleine das Resultat eines anthropologischen 233 Im folgenden Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und Praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Ders.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 180–213; Ders.: Wie ist eine menschliche Welt überhaupt möglich? Philosophische Anthropologie als Konstitutionsanalyse der humanen Welt. In: Christoph Demmer­ ling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis. Philoso­ phische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 192–215.

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Mangels. Religiöse Praxis ist erst als Ausdruck des Gedenkens richtig verstanden. Soziologisch mag es nach wie vor fruchtbar sein, nach den Tiefenschichten des Unbewussten zu graben oder die Mechanik der Entfremdung in bestimmten ökonomischen Verhältnissen zu entlar­ ven. Erst »ein primär praktisches Selbst- und Weltverständnis unbe­ dingten Ernstes angesichts der Endlichkeit (des Todes) und angesichts moralischer Ansprüche«234 enthüllt die authentische Geltungsebene. Das Spezifikum des Religiösen ist der Rückbezug auf die unverfüg­ baren Sinnbeziehungen der Existenz, also weder auf geschlossene Lebensformen noch auf radikale Interpretation verwiesen (auch wenn natürlich die Religion immer Mittel zum Zweck sein kann). Dieses Verständnis ist in zwei Richtungen zu entfalten. Unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten verzahnen sich religiöse Praxis und die geteilte moralische Praxis unserer Lebensbedingungen. Es lassen sich insofern Ansatzpunkte denken, die zwischen religiösen Lebensformen und den allgemeineren Bildungs- und Erziehungs­ aufgaben in der multikulturellen Gesellschaft vermitteln oder gar beide Pole verbinden. Religiöse Bildung, die sozialwissenschaftlich aufgeklärt ist, könnte die reflexive Ebene der Selbstbestimmung mit biografisch gewachsenen Weltdeutungen umfassen; ebenso wie sie Solidarität thematisieren und die »Verantwortungsübernahme für die Schaffung ökologisch verantwortbarer, ökonomisch und sozial gerechter, politisch demokratischer und kulturell freiheitlicher Ver­ hältnisse sowie humaner zwischenmenschlicher Verhältnisse« för­ dern könnte235. Aber eine zweite Richtung der interkulturellen Praxis ist hiervon zu unterscheiden. Um dem einzelnen Menschen gerecht zu werden, bzw. ihn in seiner besonderen Situation mit authentischem Ernst zu begegnen, kann es kein Rezept geben, keine Anweisung und keine fertige Theorie. Wissen und Praxisbezug fügen sich nicht in ein kohärentes Bild letzter Gewissheit. Die phänomenologische Heran­ gehensweise ist für die unverfügbare Dimension der professionellen Begegnung insofern konstruktiv und wegweisend: Interexistentiell betrachtet bestehen Unwiederbringlichkeit und singuläre Totalität, der »schwindende Augenblick und die Offenheit und Unbestimmt­ heit der Zukunft«236 als unverfügbare Bedingungen; sie verlangen 234 235 236

Rentsch, Negativität, 2000, S. 203. Braun, Religiöse Bildung, 2006, S. 86. Rentsch 2000, S. 206.

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3. Kultursensible Praxis jenseits der Funktion

nach Verantwortung und nach einer Haltung. Die Einsicht in diese Geltungsebene singulärer Totalität mit einer professionellen Haltung zu vereinen, erscheint ggf. als immense Herausforderung. An diesem Punkt, der nicht zu logischen Ableitungen führen kann, zeigt sich der Vorteil einer reflexiven Theorie des Professionswissens der Sozia­ len Arbeit. Die situativ aufzubringende reflexive Fähigkeit, »einen lebenspraktischen Problemfall kommunikativ auszulegen«237, findet hier Anwendung und Bestätigung. Die von Dewe und Otto heraus­ gehobene professionsspezifische Fähigkeit, Wissen und Können zu relationieren, wird bekanntlich mit der Berücksichtigung des Ande­ ren verknüpft; genauer gesagt beinhaltet die reflexive Kompetenz das deutende Verstehen abseits technologischer »Skills«. Reflexiv orientierte Professionalisierungstheorie hebt die Aufgabe hervor, »die Notempfindungen und Hilfestellungen der Adressatinnen im Rahmen von deren Plausibilitäten zu interpretieren und aufgrund solcher Interpretationen in Kommunikation mit ihnen »richtige«, das heißt stets auch situativ und emotional ertragbare Begründungen für praktische Bewältigungsstrategien zu entwickeln.«238 Für die Ebene der professionellen Begegnung, auf der es um religiöse Lebensformen geht, stellt sich diese Unaufhebbarkeit von Wissen und Können in besonderem Maße. Das wissenschaftliche Wissen der Disziplin fließt nicht unmittelbar in eine gelingende Praxis ein; die Autonomie, die Eigenrationalität und auch die Begrenzt­ heit lebensweltlicher Praxis verhindert jeden Versuch einer sozial­ technologischen Positionierung. Dies aber wiederum muss nicht zu vergleichgültigenden, skeptischen Haltungen führen. Die hier ange­ deutete sinnkritische und funktionalismuskritische Position ist an der grundlegenden Möglichkeit religiöser Bildung in der postsäkula­ ren Situation orientiert – und das bedeutet viel einfacher: dass im Zentrum der Praxis Menschen stehen, deren »religiöse Sprachspiele in die jeweiligen Lebensformen eingelassen«239 sind und zugleich überschritten werden. Religiöses Selbstverhältnis und die praktische Aufgabe der Lebensbewältigung sind hier nicht zu trennen; die Religion ist in diesem Sinne kein äußerer Faktor und kein Mittel zum Zweck. Die Bernd Dewe/ Hans-Uwe Otto: Reflexive Sozialpädagogik. Grundstrukturen eines neuen Typs dienstleistungsorientierten Professionalitätshandelns. In: Werner Thole (Hg.) Grundriss Soziale Arbeit Wiesbaden 2012, S. 197–218, hier S. 205. 238 Ebd. 239 Braun, 2006, S. 88. 237

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IX. Der Eigensinn der religiösen Praxis.

Kommunikation mit Anderen zentriert sich ebenso auf die Hoffnun­ gen und Leiden, den Erwartungen und Enttäuschungen in fragilen Lebenswelten, wie sie die religiöse Lebensform als Ankerpunkt des Anderen anerkennt. Der denkbare Einwand, dass die religiöse Hal­ tung, wo sie etwa zu hermetischen Formen führt und mit Isolation einhergeht, auch ein ernsthaftes Hindernis darstellt, ist in diesem Rahmen natürlich zu beachten. Über jeweilige »Lösung« kann nicht theoretisch verfügt werden, sondern diese kann nur in der konkreten Auseinandersetzung erschlossen werden: ob etwa die subjektiven Konstruktionsleistungen des Alltags und die generelle Lebensfüh­ rung mit objektiven Schädigungen und Gefährdungen einher gehen – und wie sie sinnvoll thematisiert werden können. Aber damit wäre man letzten Endes doch wieder auf den Ausgangspunkt verwiesen, auf ein nicht von außen verfügbares individuelles Selbstverhältnis, das im Mittelpunkt einer kultursensiblen Praxis stehen sollte.

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Dritter Teil: Das kosmopolitische Fundament der helfenden Professionen

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X. Der Weltbezug der helfenden Professionen

Die Welt an sich ist bekanntlich »komplex« und darum in gewisser Hinsicht undurchdringlich, dunkel und rätselhaft. Da die Welt selbst kein Aggregatbegriff ist, sondern differenzlos, kann sie im Grund nicht durchschaut werden. Die Welt ist – wenden wir uns an die Logik der Systemtheorie – der blinde Fleck aller Beobachtung, etwas, das hinter allen Bestimmungen und Beobachtungen steht. Als endliches und fragiles Wesen kann der Mensch zwar Einsicht in die Grenzen des Möglichen erlangen, aber die Welt als Einheit von Beobachtbarem und Unsichtbarem bleibt ihm entzogen. Ebenso verhält es sich wohl mit dem Phänomen der sozialen und politischen Weltkomplexität. Die Themen, die angeschnitten wurden, fügen sich nicht zu einem Ganzen zusammen. Ideologien alten und neuen Zuschnitts, die vergangenen und neuen Feindschaften, Gewalt in subtilen und prägnanten Formen sind Herausforderungen für das Denken und Handeln, aber auch Überforderungen für ethische Reflexionen. Überfordernd sind sie, weil sie nicht unmittelbar und konfrontativ »bearbeitet« werden, sondern nach Umwegen der Refle­ xion verlangen. Aus diesem Dilemma, vor unlösbaren Problemen zu stehen, zieht die Disziplin letztendlich ihre Bedeutung, eine Relevanz, die hier unter Beweis zu stellen ist. Freilich gilt es einen Unterschied der Perspektive zu betonen, unter welchen Bedingungen hier von Konflikten, Spannungen und Brüchen zu erzählen ist. In Frage steht nicht, dass die helfenden Professionen, Soziale Arbeit und Rehabilitation sich um den einzel­ nen Menschen bemühen und ihr Selbstverständnis aus dieser Art der Zuwendung beziehen. Fraglich ist auch nicht, dass es sich um Aufgaben handelt, die vielleicht nur mit Hilfe mythischer Analogien angemessen beschrieben werden können. Helfende im Feld des Sozialen wälzen jenen Stein des Sisyphos, der so gern als Metapher für die mühsame Daseinsvorsorge heran­ gezogen wird. Obwohl er, Sisyphos, mit der Grunderfahrung des Absurden konfrontiert wird und er in täglicher Auseinandersetzung die Härte der Existenz spüren mag, sollen wir uns ihn als einen

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glücklichen Menschen vorstellen. Er ist insofern eine mythische Gestalt, die angesichts permanenter Krisen und brüchiger sozialer Verhältnisse ein Eigenrecht hat; aber ob sich hieraus bereits sozial­ ethische Sicherheiten ableiten ließen, wäre zu fragen. Weiter führt in der vorliegenden Untersuchung eine Analyse des Weltverhältnisses, dem die helfenden Professionen unterliegen. In zweierlei Hinsicht gilt es nach der Bedeutung dessen zu forschen, was hier als »Welt« bezeichnet wird. Die erste Hinsicht meint die konkrete, soziale und gesellschaftliche Dimension; die Welt ist dem­ nach alles, was sich kommunikativ beschreiben und in Kontexten beobachten lässt. Die Weltgesellschaft als Oberbegriff ist demnach Tatsache und Problem; eine imposante Gesamtheit von Kommunika­ tionen, die füreinander erreichbar sind. Wie auch immer man sich dieser Gesellschaft theoretisch annähert, können wir dem Diktum Luhmanns folgen, dass eine letzte Einheit dieser Gesellschaft nicht repräsentiert werden kann. Medien und Kunst, Politik und Wirtschaft, Wissenschaft oder Erziehung erwecken den Eindruck, als gäbe es ein für jegliche Perspektiven verbindliches Maß, aber der Widerspruch bleibt doch bestehen: die Welt ist nur in der Einheit des sich Wider­ sprechenden fassbar und handhabbar243. Zur Kategorie Welt zählt im weiteren die Auseinandersetzung mit ihrer »Beschaffenheit«. Die Welt ist nicht nur etwas Vorhandenes, sondern immer auch etwas Gestaltetes und Hervorgebrachtes. Als gestaltbare Welt obliegt sie dem menschlichen Geist, der sich als Subjekt seiner Welt versteht und mit allen Mitteln versucht, sie zu formen. Dementsprechend wäre die Welt eine Konstruktion, an der man arbeiten kann, vergleichbar mit einem Artefakt, das der menschlichen Schöpfungskraft entspringt. Ein anderer Begriff der Welt ist freilich vonnöten, um die ethi­ schen Fluchtlinien der vorliegenden Reflexion einordnen zu können. So nahe uns die existentialphilosophische Sprache an die Sache der Existenz bringt, so bleibt es eine Aufgabe der sozialen Professionen, die Sache des Menschen in Erinnerung zu rufen. Die Welt ist umfassender Horizont; aber erst in der Semantik des Daseins nähern wir uns einem humanistisch erfüllten Weltbe­ griff. Die Tatsache der menschlichen Existenz ist ein philosophisches Thema; aber es hat eine soziale (und somit fachlich-disziplinäre) 243 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000.

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X. Der Weltbezug der helfenden Professionen

Dimension. Die grundlegende Frage der Existenzphilosophie verdient gegenwärtig mehr Aufmerksamkeit: auf welche Weise sind Menschen da oder füreinander da, unter welchen Bedingungen führen sie ihr Leben oder werden sie in ein Leben gezwungen? Die angedeuteten Krisenphänomene verdichten sich zu Themen mit existentiellem Zuschnitt: wenn Menschen nur als Massen wahrgenommen und pro­ blematisiert werden; wenn die Suche nach Lebensräumen unmöglich wird und eine übergroße Zahl von Ausgestoßenen heimatlos werden; wenn ferner partikulare Lebensformen den Horizont des Allgemeinen aus den Augen verlieren. Jeweils geht es um Phänomene, für die man technische Lösungen fingieren kann, aber doch auch um komplexe wie unabweisbare sozialethische Fragestellungen244. Wie geschildert, wird das Feld des Sozialen von einer Vielfalt von Konflikten umfasst. Diese verlangen nach Antworten, die hier zunächst verweigert werden müssen. Zu einfach erscheinen die Stich­ worte, die dem Chaos die Einigkeit und der Kälte der Globalisierung ein humanes Antlitz entgegenstellen wollen. Der Mensch ist natürlich der erste und letzte Gesichtspunkt aller nachfolgenden Reflexionen, aber nicht seine vermeintliche Menschlichkeit, die sich programma­ tisch herstellen ließe – durch Verfahren der Inklusion, der Ermäch­ tigung durch universales Recht oder durch einen undurchsichtigen Humanismus, der nicht weit von den »Spielregeln im Menschenpark« entfernt ist245. Weit und breit, so Burkhard Liebsch, »ist keine Theorie in Sicht, die verspräche, jenem Potential im Ganzen gerecht zu werden, als derart vielfältig erweisen sich die Quellen der Negativität (..)«246 Man darf ergänzen: ebenso vielfältig wie sich Problemquellen aufweisen lassen, die sich explizit gegen die humanistischen Diszipli­ nen richten. Worauf aber dann wäre zu hoffen – und wozu die ausführlichen philosophischen Denkwege bestreiten? Einer Behauptung ist zu fol­ gen, die anmaßend und überheblich wirkt. Die sozialen, helfenden Professionen sind nicht nur lebensdienliche Aspekte in der Moderne, sondern ihnen kommt eine Schlüsselfunktion im Feld des Humanen Vf.: In der Fremde. Über die Möglichkeit der Solidarität aus den Quellen der europäischen Geschichte. Duisburg: Athena 2019; Dem Anderen helfen. Duisburg: Athena 2020. 245 Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 246 Burkhard Liebsch: Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Band I, Frei­ burg/München: Karl Alber 2018, S. 21. 244

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zu. Sowohl in praxisorientierter wie reflexiver Dimension tragen sie eine spezifische Verantwortung für das Ganze; ein Ganzes, wie zersplittert und fragil es auch erscheinen mag. Diesem Ganzen gilt im folgenden die Aufmerksamkeit. Die Ori­ entierung an einem solchen Ganzen erregt natürlich Vorbehalte, wenn sie an die Gesellschaft als Abstraktum oder gar an die Menschheit als moralische Instanz gerichtet wäre. Dieses Ganze ist natürlich weder wahrnehmbar noch adressierbar; spätestens seit dem Verlust der kosmologischen Harmonie sprechen Philosophen bekanntlich eine andere Sprache – Entbettung, Verlust, Negativität, Heimatlosigkeit, Bodenlosigkeit – und über all dem die Einsicht in die fraktalen Dimensionen dessen, was man unter Weltbeheimatung verstand. Das folgende wird diesen Verlust nicht wettmachen. Die bisherigen Bemühungen der Reflexion zielen gleichwohl auf ein Vorhaben, dem man Seriosität zugestehen könnte. Die tiefe Entzweiung der Welt, für die es mannigfache Anzeichen in sozialen Konfliktfeldern gibt und auf der anderen Seite die Spielräume, die von den helfenden Professionen eröffnet werden könnten – in dieser Konfrontation wird man von einem Ganzen sprechen können, ohne sich dem Vorwurf der Theorielosigkeit auszusetzen. Dabei gilt nicht die Maßgabe, dass durch die Dringlichkeit der moralischen Anliegen alle sozialtheoretischen Hürden wie von selbst überwunden werden, sondern eher, dass an diesem Punkt allein die Einsicht in die humane Grundsituation weiterführt. Diese Totalität ist weder »totalisierend« in der Wahrnehmung, noch ist sie totalitaristisch in ihrer politischen Übersetzung. Sie rückt vielmehr eine entscheidende Fragestellung in den Mittelpunkt, an der »wir« scheitern oder die man schlichtweg ignorieren kann, die aber im Kern unabweisbar erscheint. Es ist die Frage nach der Zukunft jener Ko-Existenz, die dem eigentlichen Sinn des Zusam­ menlebens »dient«. Um dem tieferen Sinn des Zusammenlebens auf die Spur zu kommen, wurden imposante ethische Denkgebilde errichtet. Und in einem vergleichbaren Sinn hat sich die Disziplin der Sozialen Arbeit daran gemacht, ihr Profil in berufsethischer Sicht zu vertiefen. Es bedarf freilich einer Ergänzung durch einen Gesichtspunkt, der aus einer sozialtheoretischen Distanz heraus plausibel wird. Nicht nur ließe sich die Ethik in ihrem historischen Verlauf nachzeichnen; sondern die Ethik selbst steht auf dem Prüfstein. Sie ist Reflexions­ form, die in der jeweiligen Lebensform »zu sich findet«, sie ist

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einer Geschichtlichkeit ausgesetzt, über die sie selbst nicht bestim­ men kann. Der Unterschied zwischen einer »Geschichte der Ethik« und einer historisierten Ethik ist maßgeblich247. Ethische Konzepte sind revidierbar; ihre Kategorien können bezweifelt oder verteidigt wer­ den. Erst in der Selbstpreisgabe aber nähert sich die ethische Grund­ lagenreflexion einer definitiven Schwelle. Denn immer wird ja im Angesicht der historischen Erfahrungen die grundlegende Frage auf­ geworfen, unter welchen Bedingungen menschliches Leben mit oder gegen Andere lebbar sein sollte. Ethik und Sozialtheorie sind folg­ lich in einer Weise aneinander gebunden, dass man nicht davon ausgehen kann, die eine Seite ließe sich von der anderen Seite her übermächtigen. Sozialtheoretisch ist aufzuzeigen, was sich als »Soziales« zeigt und wie wir die existentielle Vereinzelung überhaupt wahrnehmen. Die ethische Position muss die vielen abgründigen, »technischen« oder gar nicht für möglich gehaltenen Gewaltformen zur Kenntnis nehmen und sie in die Reflexion aufnehmen. Am Ende steht ein Reflexionsprozess, der schmerzhafter und fordernder nicht sein könnte. Er beginnt sozusagen bei jener Tatsache des radikalen Angewiesenseins auf Andere, die bereits vor aller gesellschaftlichen Ordnung zu bedenken wäre. Es findet sein Motiv in der historisch bedingten Erfahrung »weitestgehender gewaltsamer Entsicherung aller Ordnungen des Sozialen«248. Die Geschichte der Ethik, um die es hier geht, steht also im »geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhält­ nisse«249. Schon an diesem Punkt aber zerfällt jene Gemeinsamkeit, die man sich von der ethisch radikalen Fragestellung her versprechen mochte. Und eben dies ist das gleichsam verbindliche Motiv einer notwendigen Allianz zwischen Sozialtheorie und der Disziplin sozia­ ler Hilfe. Geschichte kann heute nicht mehr als eine unbezweifelbare Einheit verstanden werden, sie verdankt sich keiner überhistorischen Stiftung und keiner unhintergehbaren Quelle. Von einer umfassenden Sinngebung mochten noch die alten Geschichtsphilosophien ausge­ hen; was heute bleibt, ist der tiefe Zweifel an einem Geschichtsent­ 247 Im folgenden: Burkhard Liebsch: Sozialphilosophie im Prozess historischer Revi­ sion: Gewalt als radikale Herausforderung des Ethischen. In: Ders. Einander ausge­ setzt, Bd. 1, 2018, S. 128–149. 248 Ebd., S. 133. 249 Ebd., S. 136.

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wurf, der sich als Einheit von Anfang und Ende zusammenschließen lässt. Die Geschichte ist zersplittert – in eine Vielfalt von disparaten Erzählungen, regionalen Erinnerungsräumen, partikularen Traditio­ nen. Als Einheit historischer Wirklichkeit ist die Geschichte nicht mehr zu verstehen. Daraus könnte man nun eine radikal standortgebundene Per­ spektive schlussfolgern. Die neuere Geschichtswissenschaft hat dem­ nach ein schweres Erbe angetreten: sie muss zahlreiche Konzepte der Erinnerungsgeschichte integrieren und dabei jedem subjektiven Geschichtsentwurf Recht und Dignität zugestehen. Ob der Historie dabei der Sinn für den objektiv darstellbaren Hergang einer Vergan­ genheit, also die Möglichkeit objektiver Rekonstruktion verloren geht, steht in Frage. Woran aber bei aller radikalen Standortgebunden­ heit festzuhalten ist: jene disziplinäre Ethik im Auge zu behalten, die auf nichts weniger als den faktischen Grund aller Existenz verweist. Dieser Anspruch, so rasch er sich in Höhen begibt, in denen die Luft für konkrete Auseinandersetzung dünn wird, ist zu verfolgen. Man könnte soweit gehen, und die folgenden Überlegungen werden genau dies unter Beweis stellen, die Geschichte der Sozialen Arbeit auf diese Dialektik zurück zu führen. Auch die Disziplin musste sich Umwälzungen und Geschichtsbrüchen aussetzen und sie musste ihre disziplinäre Ethik mit jener Wirklichkeit zusammenschließen, die immer harte Kausalitäten bereithielt. Worum ging es der Profession, die sich über die Jahrhunderte hinweg als ein spezifisches Fach und als eine Disziplin etablieren sollte? Doch um nichts anderes als den Menschen, der sich einer geschichtlichen Gewalt ausgesetzt sah. Die Motive, die das eigene Selbstverständnis nach und nach festigten, versuchten dem Menschen in ungesicherten Verhältnissen nahe zu kommen und ihm jenes Recht zurückzugeben, das zunächst nirgendwo geschrieben stand. Bildungsrechte, Teilhaberechte, Lebensrechte, Menschenrechte. Die Semantik des Rechts ist uns auf eine Weise vertraut, dass es müßig erscheint, ihren Stellenwert unter Beweis zu stellen. Die existentielle Dimension dessen, was man im Allgemeinen das gute Leben bezeich­ net, war zunächst hintergründig vorhanden, im Diskurs der Neuzeit wurde sie in der Breite verankert. Zunächst waren es die selbstbewuss­ ten Bürger der antiken polis, später die Bürger, die sich einander auf Augenhöhe begegneten und sich jenes gute Leben gegenseitig ver­ sprechen konnten. Diese Ansprüche haben sich ausgeweitet, sie sind

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heute ausschließlich universalistisch lesbar – ohne dass damit etwas über die sozialen und politischen Schlussfolgerungen gesagt wurde. Wenn man den Begriff des guten Lebens ernst nimmt und ihn dem Selbstverständnis der Professionen zuspricht, scheint man einen Ankerbegriff zu erhalten. Ein normatives Selbstverständnis käme in greifbare Nähe, denn es wäre ja denkbar, dass man alle sozialen, praktischen und disziplinären Handlungsweisen an den einen Punkt zurückbindet, dem niemand vernünftigerweise zu wider­ sprechen vermag. Ließe sich nicht gar eine neue Einheit der Disziplin schlussfolgern, die in der postmodernen Unruhe verloren gegangen war? Eine Zentraltheorie, die kraft ihres eigenen normativen Grundes für alle partikularen Konzepte verbindlich wäre? Eine Illusion deutet sich hier an. Das gute Leben kann man zwar in überzeugende Kataloge überführen und daraus eine Grund­ lage von hinreichenden Wertbeziehungen bilden250. Aber sobald wir uns inmitten einer tätigen Praxis wiederfinden, zerrinnen die sicher geglaubten Selbstverständnisse. Lebenssituationen, in denen wir Anderen begegnen und in denen diese sich als Subjekte ihres Lebens zurecht finden müssen, fügen sich keiner ethischen Anordnung. Nur in der Sprache der singulären Totalität sind sie richtig verstanden, das heißt, es gibt prinzipiell keinen Standort, von dem aus über diese Lebenssituation richtig verfügt werden könnte. Soziale Arbeit muss, wenn sie sich von dieser Einsicht nicht entmutigen lassen will, reflexive und tätige Antworten geben auf das, was sich als ein soziales Problem ausweist. Sie muss dafür bekanntlich Komplexität reduzieren, Wissensbestände ausloten, auf diverse Konzepte zurückgreifen und Interessen verzahnen. Das methodische Repertoire und das Handlungswissen über die Mühen der tätigen Auseinandersetzung stehen bereit. Auf der reflexiven Ebene verzweigen sich die Profile von Disziplin und Profession. Als wissenschaftliche Disziplin werden Wissensbestände gebildet; diese Wissensformen fließen aber nicht ohne weiteres in die Praxisbezüge der Handelnden vor Ort. Beide Seiten – die disziplinäre Anordnung von Wissen und die unmittelbare Anwendung von Konzepten in der Praxis – verfügen über eigene Relevanzkriterien und Bestimmun­ gen. Die konkrete Arbeit der Profession lässt sich nicht auf die 250 Martha Nussbaum: Human Functioning and Social Justice. In Defence of Aris­ totelian Essentialism. In: Political Theory 20, 1992, S. 202–246; Dies.: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species membership. Cambridge London 2006.

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Erkenntnisse einer Disziplin zurückführen, die ihr in irgendwelcher Weise übergeordnet wäre. Vielmehr gilt es, jeweils die reflexive Fähigkeit aufzubringen, »einen lebenspraktischen Problemfall kom­ munikativ auszulegen.«251 Auf einer anderen, ungleich abstrakteren Ebene wäre aber zu zeigen, dass sich die Profession heute vielleicht intensiver als zuvor in einer historischen Lage befindet, in der sie ein Ethos ausbildet, an dem sie selbst unmittelbar teilhat und in der sie einen Begriff des Subjekts formt, welcher für alle ethischen Selbstverständigungen gleichsam verpflichtend ist. Um dieser normativen These Plausibilität zu verleihen, müsste die Ethik der Sozialen Arbeit historisiert werden – und das heißt, es müsste gezeigt werden, dass Ethik nicht einfach nur eine mögliche Theorie ist, die hinter, vor oder gar über der Sozialen Arbeit in allen Dimensionen stünde. Sondern, dass es gegenwärtig auf einen Begriff der Ethik ankommt, der nur in der phänomenologischen Wahrnehmung zwischenmenschlicher Fragilität gelingt. Wie alle Wissensformen, so steht auch die Disziplin der Sozialen Arbeit zwischen Tendenzen der Parteinahme und Standortbindung und einem Anspruch, allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Ein vollkommen, gleichsam überhistorischer Standort der Erkenntnis ist natürlich schwer vorstellbar, immer hat es einen Standortwan­ del gegeben, der die vorherrschenden Regularitäten bezweifelt hat; immer sind neue Wissens- und Erkenntnisinteressen hinzugetreten, die mit neuen Formen der Parteinahme zwangsläufig einher gingen. Denken wir an die historiographische Erschließung der Welt, dann wird der Zusammenhang schnell einsichtig. Die Wahrheitssu­ che scheint seit jeher das Kerngeschäft der Historik auszumachen. Bei Lukian und Cicero hört man etwa von der methodischen Selbst­ versicherung, die volle Wahrheit zeigen zu sollen, um nicht in das Reich der Fabeldichter verwiesen zu werden252. Dieser vormoderne Begriff der Wahrheit war noch unverdächtig; ihm wurde ein Kredit zugesprochen, dass etwas Vergangenes rein und unvermittelt zum Vorschein käme. Der Geschichte könne man einen Spiegel vorhalten, 251 Bernd Dewe/Hans Uwe Otto: Reflexive Sozialpädagogik. Grundstrukturen eines neuen Typus dienstleistungsorientierten Professionshandelns. In: Werner Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Wiesbaden 2012, S. 97–218, hier S. 493. 252 Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historio­ graphischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Studien zur Historik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 176–207.

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um das Geschehene zu entbergen. Keine Verzerrungen oder Färbun­ gen mischen sich in dieses Ideal; Geschichte galt als ein, wenn man so will, reines Verfahren der Präsentation der Wahrhaftigkeit einer Epi­ sode. Geschichte nähert sich dem Ideal einer unverstellten Nacktheit, die nur dem Historiker zugänglich wäre. Es ist ein Gedanke, der sich noch bis in die frühe Neuzeit erhalten konnte und noch den jungen Leopold v. Ranke den Wunsch äußern ließ, sein Selbst gleichsam auszulöschen, um der Tatsächlichkeit nahe zu kommen. Solange der Geschichtsschreiber in seinem Werk die Distanz wahrt, solange er also vaterlandslos und keiner Herrschaft zugewandt wäre, kämen die geschichtlichen Kräfte unverfälscht zum Ausdruck253. Diesem Ideal steht die moderne Historik natürlich zwei­ felnd gegenüber. Die Autonomie und Standortunabhängigkeit des Geschichtsschreibers erscheint, milde formuliert, methodisch naiv zu sein. Der vollkommen unabhängige, »vaterlandslose« und unpar­ teiliche Geschichtenschreiber wird heute vom ironisch distanzierten Autor abgelöst. Weniger das Interesse an einer vollkommen objekti­ vierten Wahrheit, die nur die eine sein kann, prägt das Kerngeschäft der Historie, als vielmehr die »Rückbindung der Geschichte an ihre eigenen Handlungs- und Erkenntnisvoraussetzungen«254. Nur als Reflexionswissenschaft wird diese Form der Geschichtsschreibung plausibel und das heißt vor allem: mit Demut und Klarheit sich die Standortgebundenheit jeder historischen Aussage einzugestehen. Können wir dieses Verständnis der Geschichte mit Gewinn auf die disziplinäre Reflexion der Sozialen Arbeit übertragen? Die Kategorie des Standorts und der Parteinahme sind für die folgenden Überlegungen äußerst hilfreich. Soziale Arbeit, wenn man diesen Sammelbegriff zu Grunde legt, hatte wohl immer mit der Einnahme eines sozialen und gesellschaftlichen Standorts zu tun; zugleich ist es der sich formierenden Disziplin immer darum gegangen, die Bedin­ gung und Perspektiven einer schlüssigen Parteinahme auszuweisen. Standort und Parteinahme sind nicht statisch, sie unterliegen dem historischen Wandel. Im Zentrum der Profession standen tri­ vialerweise immer Menschen in ungesicherten Verhältnissen. Wie aber die Bedingungen der Existenz jener Menschen beschrieben wurden, unterlag den sozialen Fragen einer jeweiligen Zeit. Was wurde thematisiert, welche sozialen und gesellschaftlichen Räume 253 254

Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Bonn 1960. Koselleck, Standortbindung, 1979, S. 181.

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wurden beschrieben unter welcher Voraussetzung? Im folgenden sollen diverse Standortbindungen aufgezeigt werden, die für die Formierung der Disziplin prägend waren. Dabei meint der Begriff des Standorts nicht unmittelbar den physischen Raum, an dem sich ein Beobachter befindet als vielmehr die Bedingungen, unter denen er etwas oder jemanden beobachtet.

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An diese Überlegungen, so weit entfernt sie von allen praktischen und pädagogischen Zusammenhängen entfernt sind, kann man anknüp­ fen. Die alles überragende Frage, bzw. Aufgabe scheint sich mit dem zu überschneiden, was die Frankfurter Schule von Horkheimer und Adorno zeitlebens beschäftigte. Was kann man sich dem Sturz in das totalitäre Verhängnis entziehen, wie können wir jener Gewalt entgehen, deren enigmatischer Charakter sich auch dem klügsten Kopf in aller Eindringlichkeit zeigt? So sehr diese Fragen einer kul­ turkritischen Perspektive entstammen, so sind sie doch auch in eine lebensweltliche Sprache zu überführen. Nicht allein, wie Auschwitz zu verhindern sei, ist zu beantworten, sondern unter welchen Umstän­ den Gewalt erkannt, bewältigt oder zumindest eingehegt werden kann. Die weitaus schwierigere Frage, wenn man bereit ist, diese Flughöhe der Theorie zu verlassen, stellt sich aber im Kontext der Ordnungen und Bedeutungen der Gewalt. Die Gewalt des Faschis­ mus vergangener Epochen und die radikale Gewalt im Kleid des Fundamentalismus haben zwar Gemeinsamkeiten, die zu analysieren leicht fällt. Die alles überwölbende Semantik der Gewaltaffirmation vernichtet gleichsam die Sprache der Moralität und der Sittlichkeit; die »Täter«, um deren Psychologie es hier nicht gehen soll, leben in einer gleichsam hermetischen Welt, in der anderes Leben gering­ schätzt und verachtet wird. Aber diese Analyse wäre für alles, was im Folgenden zu sagen ist, nicht tiefgreifend genug. Zum einen führt keine grade Linie von der Gewaltsamkeit vergangener Zeiten zu den vielschichtigen Gewalterscheinungen unserer Zeit. Zum anderen kann es in die Irre führen, wenn man kausale Erklärungen einzig allein an einem granitenen Weltbild festmacht, das hinter dem Rücken der Gewaltakteure existiert. Jede Kurzschlüssigkeit ist zu vermeiden, wenn man der Aufgabe der Bewältigung der Gewalt – als Phänomen – gerecht werden will. Die Umwege, die in Kauf zu nehmen sind, führen über fol­ gende Eckpunkte. Der Fundamentalismus ist ein Phänomen, das

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XI. Fundamentalismus in den Ambivalenzen der Moderne.

in durchaus widersprüchlicher Weise mit der Moderne verbunden ist. Verknüpfungen und Liaisonen lassen sich ebenso nachweisen wie eindeutige Differenzen. Der Fundamentalismus hat nicht nur verschiedene Gesichter, es ist auch die Frage, wie sich diese Erschei­ nungen zu der jeweiligen Ordnung in ein Verhältnis bringen lassen. Die vermeintlich »letzte« Unterscheidung zwischen Moderne und Fundamentalismus ist zumindest nicht die »letzte« Antwort auf die Probleme der Gegenwart. Eher bietet es sich an, die fundamentale Position und die Eigenart der politischen Lebensform zu vermitteln. Die philosophische Refle­ xion führt hier unmittelbar zu den wichtigsten pädagogischen Ein­ sichten der lokalen und der internationalen Sozialen Arbeit. Im Zuge dessen wäre zu klären, inwiefern man den Fundamentalismus und die Moderne sauber unterscheiden kann, um folglich von der einen vermeintlich »fehlgeleiteten« Position zur einzig überzeugenden zu gelangen. Dies mag unter normativen Gesichtspunkten auch zielfüh­ rend sein, aber die Grundunterscheidung bereitet doch erhebliche Probleme. Können Fundamentalismus und Moderne als Antipoden der Gegenwart betrachtet werden? Ein Fundament errichten bedeutet sich auf einem sicheren Boden zu bewegen. Fundamente können nicht einbrechen wie fragile Kon­ struktionen, sie sind fest und kompakt. So mag es sich auch mit den Überzeugungen verhalten, die wir gegenwärtig als fundamenta­ listisch bezeichnen. Sie binden die Gemeinschaft an eine Wahrheit, die nicht zu bezweifeln ist und sie errichten auf diesem Fundament ein zumeist starres Weltbild. Die Verschärfung kommt ins Spiel, sobald man den Unterschied zwischen Glauben und Wissen hinzunimmt. Es handelt sich bei dieser Bewegung um einen, wenn man so will, menschheitsgeschichtlichen Fortschrittsprozess, der bis heute anhält: das moralische Sollen, das aus dem Glauben hervor ging, speiste sich aus mythischen Erzählungen, kultischen Ritualen und metaphy­ sischen Weltbildern. Heute, unter säkularen Vorzeichen, fließt die Moralität aus dem Bereich des Wissens; einer Ethik, die ebenso rational begründbar wie bezweifelbar ist und aus nichts anderem her­ vorgeht als der menschlichen Fähigkeit zur Deliberation255. Die Frage ist, wie sich diese beiden »Verfahren« in der Moderne zueinander Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.

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verhalten. Denkbar und immer eingefordert wird ein Nebeneinan­ der beider Bereiche des Sollens: Ethik und Moral sind diskursiv zu begründen, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit im Kontext der praktischen Vernunft zu befördern – während die Religion sich jenen Sphären zuordnen ließe, in denen Sinn ermöglicht und Identität vermittelt würde. Wäre es indes so einfach, ließe sich die Moderne tatsächlich als ein erfolgreicher Fortschrittsprozess beschreiben, der diesen Modus des gemeinsamen Lebens überhaupt ermöglicht. Aber bekanntlich bestehen in den Ordnungen der politischen Welt Bruchlinien, die dem weitgehend harmonischen Selbstverhältnis der Moderne widerspre­ chen256. Vereinfacht gesprochen: Fundamentalismus und Moderne sind in vielerlei Hinsicht aufeinander bezogen, auch im Verhältnis der Konfrontation. Fundamentalistische Bewegungen sind nicht allein Rückzugsbewegungen, die etwa in nostalgischer Verklärung verhar­ ren oder einfach nur aus der Sehnsucht nach Ordnung erklärt werden. Sie sind zugleich Gegenbewegungen, die ihren Sinn aus der Ableh­ nung der »westlichen« Moderne ziehen. Dies betrifft aber nicht allein den notorischen Fall des islami­ schen Fundamentalismus, sondern es handelt sich um einen breiteren Zusammenhang. Der evangelike Fundamentalismus etwa wendet sich nicht nur gegen moderne Auswüchse, also gegen den Wertever­ lust, die Zerstörung der Familie oder die Auflösung aller Bindungen; er bestreitet zugleich all jene Gleichheitsvorstellungen, an denen sich eine neuzeitliche Vernunft nachweisen ließe. Beunruhigen muss eine solche Entwicklung, weil sie sich nicht mehr auf ein Nischendasein reduziert, sondern einen missionarischen Impuls entwickelt. Die Vorrangstellung der weißen Volksgruppen, die sich den Regeln der irrtumsfreien Bibel unterwerfen und ein Leben nach dem Willen des absolutistischen Gottes führen, lässt sich in diversen Selbstdarstel­ lungen aufzeigen257. Dieser neue Fundamentalismus steht nicht alleine dar. Er steht unvermittelt neben dem »Gesicht« des Islam, das aus einer partiku­ laren westlichen Perspektive auf seine terroristische Form zurückge­ Vf.: Über den Riss im politischen Selbstverhältnis – zum schwierigen Verhältnis von Weltbürgerschaft und Gewalt. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 97, Nr. 3, 2011, S. 322–345. 257 Ronald Lutz/Inkje Sachau: Religiöser Fundamentalismus. In: Wagner/Lutz/ Rehklau/Ross 2018, S. 194–209, hier S. 198.

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führt wird. Jenseits der radikalen Gewalt ist aber auch hier zunächst eine schroffe Konfrontation zu allem festzustellen, was man mit den westlichen Werten verbinden mag. Es geht gegen: die Demokratie, die schwach ist, gegen die Globalisierung, die einen Orientierungsverlust mit sich führt; es geht gegen Andersgläubige und Häretiker, gegen einen Lebensstil, der sündhaft und ausschweifend ist. Demgegenüber betonen islamistische Rechtsschulen den antipluralistischen Kern des Glaubens – er zeigt sich in den drakonischen Strafen der Scharia, der Ablehnung jeglicher Geschlechtergleichstellung und in der Suprema­ tie von Gott und Glaubensgemeinschaft258. Gibt es indes einen Kern des fundamentalistischen Denkens, den man bei diesen und weiteren Strömungen festmachen könnte? Ver­ schiedene Antworten sind denkbar. Allzu aufdringlich ist die Ableh­ nung dessen, was mit Modernität im weitesten Sinne zu tun hat. Nur eine Zwei-Welten-Lehre kann die Orientierung bieten, die im Zuge der Verwandlung der Welt verloren gegangen ist. Die innere Welt rüstet sich mit Worten und Taten gegen eine äußere, verkommene Welt auf; die innere Welt verspricht Aufstieg und Wertschätzung, die äußere Welt ist im Niedergang begriffen. Hier deuten sich Über­ schneidungen, wenn auch nicht reine Wiederholungen historischer Erfahrungen an. Die Welt am fin-de-sicle war bekanntlich eine Welt am Abgrund, die zugänglich für Lehren schien, die den drohenden Untergang abwenden sollten oder diesen gleichsam vorantrieben. Der taumelnde Kontinent Europa (P. Blom) war von Umwälzungen erfasst worden, für die es keine überzeugenden Antworten gab und auch in dieser Zeit spielten Geschlechterverhältnisse, der Wärmestrom der Gemeinschaft und der drohende Machtverlust eine Rolle. Entscheidend in unruhigen, nervösen Zeiten ist oft, ob man eine Erzählung verbreiten kann, die in der Lage ist, über den dro­ henden Verlust einer Welt hinwegzuhelfen. Eine Erzählung freilich, die attraktiv und einprägsam sein muss und sich nicht in pluralen Verzweigungen verlieren soll. Gute Erzählungen sind möglicherweise nicht so sehr auf die Differenzierung der Interpretation und auf beru­ higende Lektüre angewiesen, sondern auf die prägnante Darstellung. Welche Erzählung liegt den fundamentalistischen Bewegungen diesseits und jenseits einer vermeintlich normalen Gemeinschaft zugrunde? Es geht primär um die Gesten der Umarmung und die Bassam Tibi: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt Wiss. Buchgesellschaft 2000.

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Übertragung einer Botschaft. Umarmend heißt: jemandem in schwie­ riger Situation wird ein Angebot der Vollinklusion gemacht, dem er oder sie nur schwer widerstehen kann. Die monotheistischen Religio­ nen haben in dieser Situation den Vorzug, dass sie ebenso fordernd wie überzeugend »wirken«. Sie spenden Trost und erwecken die Kräfte im Individuum, die brach liegen. Sie wenden sich dem Einzelnen zu und versuchen nicht nur einen Teil, sondern den ganzen Menschen in ihren Bann zu ziehen. Sie setzen dabei an Schwächen oder an Erfahrungen an, die Andere ertragen müssen, als überschriebene »Elende« und »Verlierer«, als »Ausgegrenzte« und »Verdammte«. Fundamentalistische Erzählungen setzen an der alltäglichen Erfahrung an, ausgesetzt zu sein. Eine Erfahrung, die man realiter­ weise nicht von der Hand weisen kann und für die sich auch keine einfachen Lösungen anbieten. In der Tradition von Marx kann man in der Wirkungsweise dieser Erzählung natürlich eine Funktionalität erkennen: das ausgebeutete und entfremdete Subjekt wird durch Religion gleichsam befriedigt und stillgestellt; auch wenn der Begriff des Opiums für das Volk heute unter anderen Vorzeichen zu lesen wäre, so erschließt sich doch eine Kontinuität. Indes ist es nicht so einfach, die Überzeugungskraft der Erzählung ausschließlich auf den Rand zu projizieren, dort, wo es vermeintlich an Bildung und Autonomie fehlt. Der Mechanik einer überlegenen Erzählung, die sich nur dort entfalten kann, wo die Armut am größten ist, ist zu kurzatmig. Sie benötigt eine tiefenscharfe Auseinandersetzung über das, was Religion im Kern ausmacht und zugleich über das, was sich auf der Gegenseite der Vernunft darstellt. Es genügt mit anderen Worten nicht, die fundamentale Allianz von Religion und Politik im Kern zu kritisieren und an ihre Stelle jene Bürgergesellschaft zu platzieren, die »im Westen« längst ihre Stelle eingenommen hat. Noch wäre es hinreichend, eine gute Gesellschaft zu imaginieren, die integratives und solidarisches Handeln kraft ihrer Autonomie befördert. Beide Argumente sind plausibel und doch zielen sie in eine Leere. Denn sie antworten nicht auf die Bedingungen, die der erwähn­ ten Erzählung zu Grunde liegen; sie vermeiden gewissermaßen den eigentlichen Konflikt. Man kann anders gesprochen zwar eine überzeugende Erzählung versuchen außer Kraft zu setzen und sie als unwahr bezeichnen. Und geboten erscheint alle mal der starke Arm von Polizei und Jus­ tiz, um den Gefährdungspotentialen zu begegnen, die offensichtlich bestehen. Die Radikalisierung muss mit den Mitteln des Rechtsstaates

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bekämpft werden; aber dies dispensiert nicht von der Notwendigkeit, die Seite des Fundamentalismus zu durchdenken. Nur die Philosophie ist imstande, diese Leistung zu erbringen und eine substantielle Auseinandersetzung zu ermöglichen, die die Ansprüche und Visionen, aber auch die Verengungen der anderen Seite zu denken259. Und daran anknüpfend wird man nicht umhin kommen, im Zuge dieser Reflexion die Parteinahme der helfenden Professionen zu begründen. Diese ist, wie abschließend zu zeigen ist, auf den offenen Dialog angewiesen, der eben jene Erzählungen umfasst und integriert. Mit den abschließenden Überlegungen wird zugleich ein Kreis geschlossen, der hier als polemogene Reflexion betitelt wurde. Zusammenhänge sind aufzuklären, die nicht selten unausgesprochen als Verdacht »hinter« den Sachverhalten stehen: dass die Gewalt des 20. Jahrhunderts sich wiederholen könne, wenn der Gewalt nicht Einhalt geboten würde, dass sich im Fundamentalismus unserer Zeit früher oder später das Gesicht des Totalitarismus wieder in unerbittlicher Härte zeigte. Zu den Vorzügen der Gegenwart zählt ein Bewusstsein für Recht und Moralität, das dem Krieg als Mittel der Staatenwelt keine Legitimität mehr zugesteht. Aber die Aufgabe, jener Entzweiung im Sozialen entgegen zu wirken, ist den helfenden Professionen überlassen. Welche Mittel zur Verfügung stehen, um sich dieser Aufgabe zu wappnen, steht in Frage. Die Luft für rationale Strategien wird dort dünn, wo der Hass bereits ein Eigenleben führt. Diese Gewaltsamkeit, die sich nicht mehr in abstrakter, sondern handfester Menschenfeindlichkeit Luft verschafft, ist schwer zu ergründen; noch schwerer ist es, sie zu verändern oder zu kanalisieren. Trotz allem sind Horizonte einer guten Praxis zu beschreiben, die sich im Grunde nur in einer Hinsicht als überlegen erweisen kann. Eine Sprache ist wiederzugewinnen, dort wo sie verloren scheint; eine kommunikative Grammatik des gemein­ samen Lebens ist für Bündnis sozial-pädagogischer Professionalität zu schaffen. Die Antworten, die hier gegeben werden, erscheinen vielleicht unbefriedigend. Sprache und Bildung erscheinen als die letzten Bastionen, um dem irrlichternden fundamentalistischen Wesen zu Heinrich Meier: Epilog, Politik, Religion und Philosophie. In: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. Mün­ chen: Beck 2013, S. 301–315.

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begegnen. Mit der Sprache kann man die Gewalt indes alleine nicht bewältigen und mit Tinte kann man auch kein Haus löschen; aber die Sprache ist letztlich die einzige Instanz, die in der postsäkularen Situation zur Verfügung steht, um dauerhafte Bündnisse zu schaffen. Sollen diese fragilen Allianzen – zwischen einem »Klienten« und einem Berater, einem verunsicherten Subjekt und einem Helfer – Bestand haben, dann muss in diesem Rahmen die Tragfähigkeit für Fremdes ermöglicht werden. Dies bedeutet natürlich nicht, alles auf Kultur und Religion zu reduzieren. Vielmehr ist den Stimmen entgegen zu wirken, die in jeder religiösen Haltung und in jeder fundamentalistischen Bewegung Anzeichen des Verfalls erkennen. Wir befinden uns freilich nicht in einer Epoche »nach der Religion«260. Sondern in Zeiten der Obdachlo­ sigkeit in den zentralen Fragen, ob diese nun als staatliche, kirchliche, moralische oder menschheitsgeschichtliche Fragen gestellt werden. Was steht denn eigentlich zur Verfügung, so könnte man im lebensweltlichen Interesse fragen, um dem Hass zu trotzen und Sinn zu artikulieren. Eine religionspädagogische Bildung wäre eine Möglichkeit, sie steht im Zentrum von Auseinandersetzungen um internationale Kontexte pädagogischen Handelns. Die Basis dieser sozialen und pädagogischen Vernunft ist der Dialog. Nicht als abklä­ render, vernunftzentrierter, alles erklärender Dialog ist dieser zu führen. Das bedeutet: die instrumentelle Vernunft tritt hinter die Suche nach den im Kern unergründlichen Sinnbedingungen unserer Existenz. Im Zeitalter der Desorientierung benötigt man anders gesprochen Resonanzräume, in denen Glaubenshaltungen nicht nur toleriert werden, sondern in denen es gewünscht ist, Glaubenserfah­ rungen auszudrücken261. Der Kampf gegen die Radikalisierung ist das eine; die Suche nach Verständigung in interkulturellen und interreligiösen Räumen ist das andere. Beide »Strategien« haben ihr Eigenrecht und werden vermutlich in der Zukunft noch intensiviert werden. Der Vorrang freilich gebührt der sinnkritischen Orientierung. Wir können mit guten Gründen nach den Funktionen von Ideologien fragen, die sich am schärfsten auf dem Saum der gesellschaftlichen Randständigkeit Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 261 Karl Heinz Braun: Religiöse Bildung in der Zweiten Moderne. Dialogische Anfor­ derungen an die christliche Religionspädagogik in der multikulturellen Gesellschaft. In: Neue Praxis, Sonderheft 8, 2006, S. 85–99. 260

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abbilden. Und man ist darauf verwiesen, diesen Tendenzen rational und vernunftbegründet zu antworten. Aber auf lange Sicht bleiben jene Orientierungen unverzichtbar, die Funktionskritik (die Religion als »Mittel«) mit Sinnkritik verbinden. Im Zentrum des Dialogs, wenn er denn ermöglicht wird, steht folglich die gemeinsame Suche nach den unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz. Wo immer auch diese Suche hinführt – ob zu existentialistischen Fragen oder zu ökologischen und politischen Aspekten – sie wird sich als lebensbejahend und lebensdienlich erweisen müssen.

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XII. Herrschaft und Macht

Der Fundamentalismus prägt das Antlitz der Zeit. Er benötigt Wider­ stände von Ethik und Politik. Es bedarf insofern einer anderen Katego­ rie des Fundamentalen. Die ethische und politische Seite sind anders gesprochen zu vermitteln – und die folgenden Überlegungen lassen sich unter dieser Maßgabe versammeln. Die kosmopolitische Dimension, die der Titel andeutet, unter­ stellt allerdings eine Harmonie, die man den Reflexionen kaum entnehmen kann. Eher geht es darum, die Konfliktformen der vor­ angegangenen Teile dialektisch zu vermitteln. Dafür bedarf es einer Theorie des Politischen, die im Zentrum der folgenden Überlegungen steht. Zumindest nach zwei Seiten sollte diese hin geöffnet sein: sie sollte all jene konflikthaften Aspekte mitbedenken, die im vorange­ henden Teil erkundet wurden; und sie sollte zugleich den Horizont des Allgemeinen aufblenden, nicht in einer restlosen Totalität, sondern mit jenem Gespür für die Brechungen des Weltbezug, denen wir alle unterliegen. Welchem Begriff des Politischen unterliegen wir, wenn wir wie selbstverständlich von der Welt, gar von Gerechtigkeit oder Gleich­ heit sprechen? Die angedeutete Revision des Ethischen ist auf eine fundamental-anthropologische Theorie der Herrschaft verwiesen. Sie muss, anders formuliert, zunächst an den Grund aller Herrschaft zurückgebunden werden, um Sinnkriterien der Praxis überhaupt zu erlangen. Sowohl die Kategorie des Politischen selbst wie auch die Züge der politischen Ideengeschichte sind reflexiv einzuholen, Erst von diesem Fundament, das in letzter Konsequenz nie »fundamenta­ listisch« sein wird, kann der Weltbezug eingenommen werden. Wenn von der Politik die Rede ist, dann hat dies nicht selten auch mit der Präsenz von Bildern zu tun. Das wirkmächtigste Bild ist möglicherweise dem Leviathan von Thomas Hobbes, entnommen, jener bedeutenden staatstheoretischen Schrift der frühen Neuzeit. Das Frontispiz zeigt bekanntlich den Souverän, der über allem steht, der Land, Städte und Bewohner vereinnahmt. Genauer gesagt, han­ delt es sich um ein Sinnbild der Macht – Schwert und Krummstab

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zeigen an, wem das Gewaltmonopol zugestanden wird; die vielen Untertanen sind Teil des souveränen Körpers, seit sie offensichtlich in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. Ein ganz anderes zeitgenössisches Bild erhalten wir mit Blick auf die vertraute Kuppel des ehemaligen Berliner Reichstagsgebäudes. Diese Kuppel, ein Gebilde aus Stahl und Glas, in dessen Inneren sich trichterförmige Lichtelemente und Spiegel befinden, steht für einen anderen Begriff des Politischen. Spiralförmige Verbindungswege zwi­ schen Dach und Aussichtsplattform ermöglichen die »Eroberung« der Kuppel mit friedlichen Mitteln. Die rund 3000 Quadratmeter Glas ermöglichen eine Transparenz, von der wir im Leviathan nichts erfahren. Der Körper des Souveräns, wenn man diesen Brückenschlag über die Jahrhunderte wagen will, ist nicht allumfassend, sondern gleichsam inklusiv. Die Signaturen der Macht sind verschwunden – es bleibt vorrangig der Eindruck einer demokratischen Neuerfindung des Politischen. Der Souverän ist hier kein Monstrum, sondern eine zugängliche und teilbare Machtkonstruktion262. Wenn man so will, dann ist der lange Weg, den der Begriff des Politischen selbst genom­ men hatte, bereits in seinen Anfängen und seinem vermeintlichen Ende bereits erfasst. Aber zu schön wäre indes der Gedanke eines letz­ ten Begriffs des Politischen, in dem sich alles Individuelle versammeln könnte. Nur als ein historisierbares Spannungsverhältnis machen diese Bilder »Sinn«. Weitere Bilder stehen bekanntlich bereit, um den Begriff des Poli­ tischen zu füllen. Bildlichkeit und Sprache können sich gegenseitig bereichern. Eine rein soziologische Herangehensweise an den Begriff des Politischen sieht sich hingegen verschiedenen Hindernissen ausgesetzt. Die Politik oder das Politische sind merkwürdigerweise unscharfe Kategorien. Obwohl eine Definition oder Aufgabenbestim­ mung eigentlich leichtfallen sollte, spricht die moderne Politikwissen­ schaft von einer gewissen Ratlosigkeit, die sie mehr oder weniger allen sozialen Funktionssystemen gegenüber verspürt. Zu dieser Verunsi­ cherung tragen verschiedene Aspekte einen Anteil bei. Die Politik hat demnach eine Tendenz – oder ihr wird die Tendenz zugeschrieben – sich auf viele, zu viele gesellschaftliche Segmente zu verteilen. Geschlechter- und Umweltpolitik, Identitäts- oder Migrationspolitik, Gesundheits- und Biopolitik – die Formen, Räume und Dimensionen Horst Bredekamp: Ikonographie des Staates. Der Leviathan und seine neuesten Folgen. Leviathan 29, 18–35, 2001.

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des Politischen kennen scheinbar keine Grenzen. Manche Beobachter sprechen hier von einer problematischen Fundamentalpolitisierung. Die Konsequenzen sind naheliegend: die Politik wirkt chronisch überfordert, ihr werden Erwartungen entgegengebracht, die nur zum Preis der Selbstverleugnung gestillt werden können263. Zudem scheint es sich um ältere Vorstellungen über das zu han­ deln, was Politik in hochkomplexen demokratischen Gesellschaften ausmacht. In der Form des klassischen Nationalstaats versammelten sich vielleicht noch Hoffnungen auf Steuerbarkeit und Leistungsfä­ higkeit. Die Politik wäre folglich nicht nur ein gesellschaftlicher Bereich unter vielen, sondern an der Spitze der Gesellschaft zu verorten. So sehr diese Idee der staatspolitischen Gestaltbarkeit der Gesellschaft ihre Berechtigung hat, so hat die moderne Soziologie hier ein ebenso berechtigtes Veto eingelegt. Mit staatsfixierten Begriffen allein wird man den Funktionsbestimmungen zwischen Staat und Gesellschaft nicht gerecht. Man muss deswegen nicht das Ende der Demokratie ausrufen, sondern man kann versuchen, das Politische neu zu erfinden264. Verschiedene Möglichkeiten bieten sich an, um die Politik in der globalisierten Moderne in eine Allianz mit der Disziplin der Sozialen Arbeit zu führen. Man könnte berechtigterweise von dem Selbstverständnis der Disziplin der helfenden Professionen ausgehen und all jene Probleme benennen, die sich aus Sicht der Disziplin als dringliche soziale Probleme erweisen. Die Politik hätte demnach jene Funktionsbestimmung empfangen, sich um das »Beseitigen« und Lösen gesellschaftlicher Konflikte zu »kümmern«. Es sind authenti­ sche und verständliche Appelle, die an die Politik gerichtet werden – aber wie angedeutet, muss die Theorie ein wenig Abstand zu diesem herkömmlichen Bild der gestaltungsmächtigen Politik gewinnen. Welche Alternative ist denkbar? Die erwähnten Bilder, der mäch­ tige Leviathan einerseits und die transparente Glaskuppel anderer­ seits, bilden scheinbar eine Polarität ab. Die Politik wäre dort ein Gewaltzusammenhang mit einem prägnanten oben und unten; das andere Extrem kennt keine vertikale, sondern nur noch horizontale Formen einer politischen Gesellschaft, in der Sichtbarkeit, Inklusivität und Transparenz dominieren. Was steht aber in der Mitte, zwischen 263 Armin Nassehi/Markus Schroer: Einleitung. In: Ders. (Hg.) Der Begriff des Poli­ tischen. Baden Baden: Nomos 2003, S. 9–17. 264 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Moderni­ sierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

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diesen beiden Extremformen des politischen Spektrums? Anders formuliert: mit welchen radikalen Bildern des Politischen müssen wir brechen und wie ließe sich möglicherweise ein Bild des Politischen erhalten, das sich aus der Mitte der täglichen Konfrontationen und Auseinandersetzungen heraus beschreiben ließe? In dieser Frage bildet sich hier das Ziel der folgenden Darstellungen ab. Nicht in der radikalen Überzeichnung, sondern in der Vielschich­ tigkeit und Mannigfaltigkeit gelingt ein Zugang zur modernen Politik. Die Politik eröffnet viele Zugänge, Dimensionen, Erwartungen und Räume. Sie sollen zu Beginn, wenn auch nur oberflächlich aufgezeigt werden. Leitgesichtspunkt ist hier der Begriff der politischen Moderne, deren ideengeschichtliche Herkunft geklärt und gegenwärtige Verfas­ sung aufgezeigt werden soll. Die politische Gesellschaft ist demnach in einem Widerstreit der Ideen und Interessen eingespannt – hier ließe sich von einer Konfliktgesellschaft sprechen. Zu diskutieren wären demnach also fundamentale Fragen, ob die Politik in ihrer herkömmlichen Gestalt verschwindet und ob, bzw., inwiefern die Demokratie bedroht ist und sich gesamtgesellschaftlich eine große Regression abzeichnet, die sich negativ sowohl auf die Politik wie auf das Soziale auswirkt. Dem Widerstreit aber steht letztlich immer die Suche nach einer tragfähigen Perspektive und der Auseinandersetzung immer die Möglichkeit des Konsens gegenüber. Die Überlegungen folgen insofern einer gewissen Dialektik. Der Diagnose einer Erschöpfung, sei es die Erschöpfung utopischer Potentiale, sei es die generelle Problematik der mangelnden Steuerbarkeit der Gesellschaft, folgt am Ende die Darstellung der »besseren Gesellschaft.« Deren politischer Wert bestimmt sich, nicht zuletzt mit dem Gespür für die Position der Sozialen Arbeit, durch den Anspruch, Gestaltungsmacht sein zu können. Eine konkretere Bestimmung des Politischen gelingt also im folgenden, wenn man sie unter verschiedenen Gesichtspunkten – der Dauerunruhe von Diskursen, der zugrunde liegenden Ide­ engeschichte und der Dialektik von Erschöpfung und Neubestim­ mung beleuchtet. Grundlegende Fragen sind voranzustellen, die den Begriff des Politischen zwar nicht endgültig fixieren, aber sinnvolle Anschlüsse nahelegen. Der Schwerpunkt der folgenden Auseinandersetzung muss dem Anspruch genügen, die Grundzüge einer Theorie der Poli­ tik im 20./21. Jahrhundert darzulegen. Dieses Vorhaben ist freilich

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komplexer, als man vermutet. Der Standort, von dem aus Theorie betrieben wird, ist maßgeblich für alle Akzente und Auslassungen, er bestimmt gleichsam die Bedingungen, unter denen man von handfes­ ter Politik und dem abstrakteren Begriff des Politischen spricht, der mit starken normativen Inhalten verbunden ist. Von einem jeweiligen Standort aus kann man unterschiedliche Erscheinungen in den Blick bekommen: man sieht etwa einen Ort der Machtkonzentration, weite oder eher verengte Spielräume von Staat und Politik, man kann sich auf eingespielte Verfahren beziehen oder auf utopische Impulse. Man kann, anders formuliert, die Eigenständigkeit einer Theorie der Politik verfolgen oder sich der Einsicht beugen, dass die Politik immer nur in der Verwobenheit mit anderen Teilbereichen der Gesellschaft abzu­ bilden ist. Eine Theorie der Ökonomie oder der Kultur, Einflüsse von Moralität oder Religion, der Stellenwert der Gewaltmonopolisierung oder der Zivilgesellschaft – alle diese Bereiche wirken natürlich in die Formierung einer politischen Gesellschaft hinein. Bevor die politische Ideengeschichte in Grundzügen dargestellt wird, lohnt sich vielleicht eine tour d`horizon durch die verschlungene und unübersichtliche Gegenwart. Mit dem Adlerblick der abstrakte­ ren Sozialwissenschaften können wir unter Umständen die Operati­ onslogik der politischen Theorie erfassen. Denn politisch relevant ist immer auch die Feststellung dessen, was ist; ebenso die Feststellung dessen, was sein wird und was darüber hinaus, was wünschenswert ist265. Dies aber wird man nur erkennen, wenn man den eigenen Standort – in diesem Fall die atlantische Moderne – in ihrer Gewor­ denheit betrachtet. Eine Auseinandersetzung mit der Figur des Politischen ist auf eine Herkunft, eine Quelle verwiesen. Europa als Gründungsort bietet sich an: aber »welches Europa« ist hier gemeint und wofür könnte es stehen? Inmitten unaufhörlicher Diskussionen bleibt Aufklärung über die Idee Europas vorrangig. Vielleicht ist sie bereits verloren, bevor sie auch nur in Ansätzen vertieft werden konnte. Rückschritte werden in Kauf genommen oder gar bejaht. Das politische Europa erscheint ja gegenwärtig wie ein gescheitertes Projekt, das wieder einem anderen Denken weichen muss, das sich wieder verstärkt auf sich selbst, auf das Eigene besinnt.

265 Klaus v. Beyme: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

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Europa – ist es nichts mehr als eine abstrakte Figur, eine Vor­ stellung, abseits jeglicher Realität? Oder verhält es sich anders, steht der Name Europa vielleicht für eine neue Form der Gewalt, für politische Selbstmächtigkeit, die mit Kalkül, Rationalität und Rücksichtslosigkeit einhergeht? Dann führt die Geschichte eher in ungewisse Zukünfte, von denen man nicht weiß, welche Szenarien sie hervorbringen wird. Dann wäre Europa eine Gestaltungsmacht, im Guten wie im Schlechten, eine Autorität, die weltgestaltende und weltverändernde Wirkungen erzielte. Beide Varianten erscheinen maßlos und übertrieben. Sie überschätzen vielleicht einen politischen Raum, dem insgesamt viel weniger Einfluss und weniger Machtfülle zukommt als vermutet, einen Raum, der doch eher eingeklemmt zwischen großen Mächten ist. Oder der einfach nur eine spezielle Situation bezeichnet – eine historische zufällige Konstellation, die mit relativem Wohlstand, einer mehr oder minder ausgeprägten Friedens­ fähigkeit und doch mit einer dauernden Unsicherheit einherginge. Wenn es so wäre, dass Europas Glück mit seinem Unbehagen, sein Reichtum mit Verunsicherung und Angst, seine Errungenschaften mit einer spezifischen Form der Missachtung zusammenfiele – dann kämen wir der Gestalt Europas vielleicht am nächsten266. Wo müsste man aber die politische Ideengeschichte, die so eng mit der Geschichte Europas verbunden ist, einsetzen? Seit Homers Ilias ist der Name Europa gebräuchlich. Europas Gestalt hat viele Ausdrucksformen gefunden, in mythologischer Erzählung zuerst, in Göttergeschichten, die von Entführung, Gewalt und Vereinigung berichten. Seitdem gibt es Europabilder, Bilder, die mal mehr, mal weniger eine Idee mit einer räumlichen Gegebenheit zusammenfüh­ ren. Die Arbeit am Mythos Europa, die seitdem in Auftrag gegeben wurde, ist scheinbar nie abgeschlossen. Es ist wohl das Rätsel der Gewalt, das bestehen bleibt, einer Gewalt, die schillernd und uneindeutig ist: die Jungfrau Europa erscheint als Objekt, das geraubt wird, als Opfer der grenzenlosen sexuellen Gier des Göttervaters. Die Geschichte Europas wäre folglich die Geschichte der kontinuierlichen Inbesitznahme; auf den gewalt­ samen Entführungsakt folgten all die räuberischen Akte, die sich in die Geschichte eingeschrieben haben. Aber es ist dies auch ein einseitiges Vf.: In der Fremde. Über die Möglichkeit der Solidarität aus den Quellen der europäischen Geschichte. Duisburg: Athena 2019; Ders.: Die Erfüllungsgestalt Euro­ pas. Grundriss einer interexistentiellen Kultur. Baden Baden: DWV 2019.

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Bild: genommen wird, was als fruchtbar erscheint. Herrschen und Teilen, Gewalt und Inbesitznahme. Kolonialistische und imperiale Gewalt und am Ende der Zusammenbruch. Hinter dieser Geschichte, mit der wir so vertraut sind, steht das andere Rätsel: der lange Weg, den Europa seit seiner Geburt genommen hat und der nicht auf die schlechtesten Pfade führte, beschreibt vielleicht sogar, wie Durs Grünbein schreibt, einen »historisch einmaligen Reifeprozess«, »von Großzügigkeit, Selbstbestimmung und Toleranz.«267 Am Anfang dieser Geschichte stünde ein geschichtliches Subjekt, das in einem besseren Sinne selbstmächtig ist. Es gibt bekanntlich weitere Europa-Bilder, viele Geschichten, die fortgeschrieben wurden. Sie können kaum auf die Höhe eines Satzes gehoben werden. Zu viele Geschichten, die uns vorgegeben und erzählt wurden, zu viele Motive, derer Gewalt wir nicht Herr werden. Aber: es gibt berechtigte Fragen, die sich hervordrängen und qualifizieren. Wohin trägt uns der Stier? Auf welche Verbindung dürfen wir zwischen Vergangenheit und Zukunft hoffen? Und wofür steht Europa heute? Es ist der Widerspruch, der Europa durchdringt: Die Erfahrung der Gewalt und die Möglichkeit, sich als eine Autorität im guten Sinne darzustellen. Es sind die elementaren Kräfte, die gegeneinander wirken und doch menschheitsgeschichtliche Rätsel bleiben. Der geschichtsphilosophische Weg wäre damit bereits vor­ geschrieben und zu weiten Teilen zurückgelegt worden. Von den dunkleren Zeiten führt der Gang der Geschichte in hellere. Er führt aus dem Dunkel der mythischen Zeiten hinaus und – in einem weiten Bogen der Geschichte – bis zu jenem Moment, als die Vernunft sich von allem emanzipierte, das ihr bislang vorgegeben war. Der Siegeszug der Vernunft, mit dem das moderne, aufkläreri­ sche Denken begann, war bekanntlich ein einmaliger Akt der Selbst­ bemächtigung, der Befreiung aus den metaphysischen Ketten. Die Philosophen der Aufklärung haben diesen Prozess vorangetrieben, aber seine ursprünglichen Motive liegen doch weiter zurück. Von den ersten Mythen bis zur Epoche der Vernunft. Auf die­ sem langen Weg wurde ein Fundament des Politischen gelegt; ein Gründungsprozess, mit dem wir uns bis heute beschäftigen müssen. Um nun dem Begriff des Politischen nahe zu kommen, ist man auf 267 Durs Grünbein: Die Verführung zur Freiheit. Zitiert nach: Almut-Barbara Renger (Hg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig: Reclam 2003, S. 220.

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XII. Herrschaft und Macht

Definitionen verwiesen. Ebenen der Begriffsbildung wären demnach zu beachten, so wie es die schulmäßige Interpretation von polity, policy und politics, also die Differenzierung von Form, Inhalt und Prozess nahe legt. Dem Grundverständnis folgend, ist das Politische immer Ausdruck einer sinnvollen Lebensweltgestaltung, die politisch begleitet werden muss. Die Formen sind uns vertraut und gleichsam selbstverständlich: »wir« leben in gefestigten politischen Ordnun­ gen (polity), in denen Regierungssysteme, Parlamente oder Interes­ senverbände im Horizont einer juridischen Verfassung bestehen. Dabei ist das Politische im Sinne der policy aber immer umstritten und sozusagen frag-würdig: Interessen- und Zielkonflikte werden in ein Geflecht von Wertvorstellungen, Absichten und Regelungen eingewoben. Handhabbare Konflikte, die sich etwa in Prozentzahlen ausdrücken lassen, sind einfach zu beschreiben; aber der Stellenwert der diffusen und permanenten Konfliktebenen dürfte weitaus größer sein. Politik zu machen heißt demnach im Sinne der »politics« – den Streit zu Ende zu führen oder ihn auf Dauer zu stellen, Verfahren zu bilden und einem konkreten Willen zum Durchbruch zu verhelfen. Aber mit der eingängigen Definition, wie Politik als solche »funktioniert«, kommt man nicht weit. Vielmehr ist es ratsam, die Entstehung der politischen Moderne als eine sinnvolle (und für die Soziale Arbeit höchst relevante) Erzählung zu erfassen. Dem Begriff des Politischen werden wir erst dann gerecht, wenn wir die Theorie des Politischen als Entstehung der Moderne in der realen Geschichte beschreiben. Und natürlich ist dann zu ergänzen, dass es nicht die eine Theorie des Politischen gibt, sondern dass wir darauf verwiesen sind, die Bedingungen der Möglichkeit politischer Ordnungen und politischer Handlungen zu Grunde zu legen.

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XIII. Der Begriff des Politischen

Politische Ideen haben meist einen langen Schatten. Viele Aspekte des Politischen sind uns auf eine Weise vertraut, dass wir nicht »wagen« würden, sie in Frage zu stellen – die demokratischen Ver­ fahren des modernen Rechtsstaats zählen dazu. Zu der politischen Moderne gehören, wenn man es sich einfach machen würde, die zähe Verhandlung ebenso wie der unvollkommene Kompromiss. Aber bevor man sich den entscheidenden Fragen zuwendet – etwa wie man die politischen Subjekte in den Prozess des Politischen einbindet – sind Grundlagenprobleme zu benennen, die der Theoriebildung vorgegeben sind. Dazu zählt unter anderem die Frage nach den Fluchtlinien der Entstehung jener politischen Moderne. Die Linien haben deswegen einen schwer erkennbaren Fluchtpunkt, weil sie fundamentale Aspekte menschlicher Lebensformen benennen: die Wirtschaft ist nicht ein beliebiges Teilsystem, sondern Bedingung jeglicher menschlicher Gemeinschaftsbildung; Gesellschaften bilden darüber hinaus kulturelle Formen von Immanenz und Transzendenz aus; das heißt, sie zentrieren sich um religiöse oder rationale, »fun­ damentale« oder säkularisierte Lebensführungen herum. Und auch die Kategorie der Zeit wirkt in die Selbstbestimmung einer politi­ schen Gesellschaft hinein. Die Entstehung der politische Moderne ist demnach interpretierbar: in der vertrauten Form der kapitalistisch verfassten Gesellschaft, in der Gestalt einer Kultur, die sich durch die Entbindung von dominanten religiösen Lebensstilen auszeichnet, ferner auch als eine Gesellschaft, die sich auf Ereignisse und Zäsuren der Vergangenheit beruft. Die politische Moderne ist insofern ein höchst widersprüchliches Phänomen: sie wird mit dem Kapitalismus gleichgesetzt und versucht zugleich, diesen demokratisch zu zähmen. Die politische Gesellschaft ist »entzaubert«, seit die Religion auf den privaten Bereich zurückge­ wiesen wurde – und zugleich wird sie nach wie vor von religiösen, bzw. sakralen Motiven umgeben. Sie blickt auf jene historischen Ein­ schnitte – die sozialen und politischen Revolutionen – zurück, die den Ereignishorizont der Moderne bestimmen. Und doch muss sich diese

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XIII. Der Begriff des Politischen

politische Gesellschaft mit dem Phänomen der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen beschäftigen. Die Sicherheit der Periodisierung von Epochen ist also kein fester Besitz. Die politische Ideengeschichte muss diese Widersprüche zur Kenntnis nehmen, bevor man sich daran begibt, eine lineare, fort­ schrittsbedingte Geschichte zu schreiben. Gleichwohl macht es Sinn, Hauptkriterien zu benennen, die das Politische im engeren Sinne beschreiben. Formalisierung und Bürokratisierung demokratischer Prozesse, Entwicklung von Wissenschaft, universalistischer Moral und die Einbettung der Zivilgesellschaft bilden das Zentrum des­ sen, was Jürgen Habermas als das normative Projekt der Moderne beschrieben hat. Diese politische Gesellschaft hält Türen der Vernunft auf, die ermöglicht Partizipation und unterliegt rationalen Prinzipien des Rechts; sie ist eine prinzipiell offene Gesellschaft (R. Popper). Diese Andeutungen suggerieren zunächst, dass es einen einheit­ lichen Bezugsrahmen einer Theorie der politischen Moderne gibt, an dem man sich orientieren sollte. Darüber ließe sich streiten, aber zumindest ist zu ergänzen, dass alle Einheitsbildung mit dem Krite­ rium der Differenzierung zusammen zu führen ist. Zwischen Theo­ rie und Praxis, »blinder Evolution« und zielgerichteter Geschichte ist ebenso zu unterscheiden wie zwischen gesellschaftlichen Teilsys­ temen, die den Weg der Entdifferenzierung gehen mussten, um Modernität zu ermöglichen268. Die Grundprinzipien dieser Differen­ zierungen bilden im folgenden den Leitfaden der Darstellung, bzw.: es ist zu zeigen, inwiefern die Differenz als jenes Kriterium etabliert hat, das den Unterschied zu vormodernen politischen Gesellschaften aus­ macht. Wenn wir wie im Folgenden die Ideengeschichte in der Antike, dann bei mittelalterlichen und frühmodernen Denkern verorten, dann wird zu zeigen sein, dass Modernität mit Entzweiung und Distan­ zierung einher geht. Der kosmische Horizont ist in der Moderne nicht mehr sichtbar, die klaren Hierarchien von Gott und Mensch werden brüchig, die Traditionen unsicher. Vormodern waren die Kategorien des einen Gottes, der göttlichen Harmonie, der gerechten oder gewaltfähigen Macht. Die Gesellschaft konnte, anders gespro­ chen, noch als eine Einheit betrachtet werden; in der Neuzeit aber etabliert sich das Denken der Differenz: Autoritäten werden in Frage gestellt, Gewissheiten bezweifelt, Ordnungen zerstört; Politik heißt 268

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XIII. Der Begriff des Politischen

im modernen Sinne: einen Abstand zu allem zu gewinnen und diese neuen Differenzen als Fortschritt anzuerkennen. Doch zunächst ist eine Reihe von Klassikern der politischen Theorie zu nennen, um die Ideengeschichte des Politischen rekonstru­ ieren zu können. Wer genau zur Ahnenreihe der großen politischen Ideengebern zählt, ist natürlich ein wenig willkürlich. Politische Theo­ rie ist ein offenes Gebilde, sie steht zwischen den klassischen Autoren der Geschichte und den großen politischen Philosophen, die zum Bildungskanon der Moderne zählen. Politische Theorie umfasst Poli­ tische Philosophie und politische Anthropologie, Geschichtsphiloso­ phie und Staatslehre, im weiteren aber auch die konkrete empirische Analyse im gleichen Maße wie den Adlerblick der evolutionistischen soziologischen Theorien. Wer in diesem weiten Feld es »verdient«, erwähnt zu werden, kann gar nicht sinnvoll beantwortet werden. Es sind vielmehr die fundamentalen Kategorien oder Dimensionen des Politischen aufzugreifen, die in der Geschichte von bestimmten Denkern thematisiert wurden. Der Rückblick auf die politische Lehre des Aristoteles mag zunächst überraschen. Was kann ein Philosoph an Erkenntnis bieten, dessen Welt nicht die unsere war? Aber der Vorbehalt wäre zu prüfen, denn der politische Aristotelismus hat sich bewähren können und keine geringere als Hannah Arendt hat sich auf diese Tradition des Republikanismus berufen269. Aristoteles gilt als der Gründungsvater der ersten politischen Philosophie. Nicht wenige Aspekte seines Denkens sind zumindest thematisch von höchster Aktualität. Zugleich sollte man den Unter­ schied zwischen der antiken Gesellschaft Athens und unserer Kultur nicht übersehen. Die unmittelbare Verfugung zwischen dem Einzel­ nen und dem kollektiven Ganzen war in Athen selbstverständlich: die moralische Kategorie des guten Lebens zielt nicht auf das Wohl­ ergehen des Einzelnen, sondern auf die Lebensdienlichkeit einer sozialen Gemeinschaft. Gut ist jenes Leben für Aristoteles dann zu bezeichnen, wenn es zum Nutzen der Gemeinschaft ausschlägt. Um den Menschen, der von »Natur aus« eher seinen Leidenschaften folgt, auf die Tugenden des Bürgersinns einzuschwören, bedarf es politischer Institutionen. Erst in der guten politischen polis werden Habsucht und Machtstreben, Eigensinn und Rachegelüste im Zaum Aristoteles: Politik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. München 1981; Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 1994.

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gehalten. Die Verfassung der antiken polis formt den Menschen zu einem Bürger, der sich mit seinesgleichen auf Augenhöhe begegnet, selbstbewusst und gewaltfähig. Die Grundgedanken des Republikanismus sind immer wieder betont worden. Dieses Gemeinwesen ist aber als demokratisch nur in einem sehr reduzierten Sinne zu bezeichnen. Vollbürger beschlie­ ßen gemeinsam Gesetze und die Aristokraten besetzen die Ämter. Die gute Politik in diesem Gemeinwesen folgt dem vernünftigen Gespräch und der fortlaufenden Deliberation. Moderne Begriffe des Politischen sind hier also bereits erkennbar, ebenso wie die unschar­ fen Konturen eines immer wieder zur Diskussion gestellten Ideals: dem aktiven, selbstverantwortlichen, lokalen Gemeinwesen. In einer Republik begegnen sich freie Bürger einander mit der Erwartung, gemeinsam die Sorgen und Nöte der Gemeinschaft zu erörtern. Diese Politik ähnelt sich vielleicht dem an, was auch gegenwärtig viele sich erhoffen: Politik nicht für, sondern von Menschen, die sich die Verantwortung für ihr Gemeinwesens teilen, deren Stimmen gehört und deren Pflichten jedem bewusst sind. Zugleich ist doch nicht zu vergessen, dass sich auch die beste politische Verfassung der Gegen­ wart an der Herausforderung hyperkomplexer Gesellschaften nicht vorbei sehen kann. Moderne Gesellschaften lassen sich zumindest nicht auf das simple Gegeneinander von Geben und Nehmen, Rechte und Pflichten zurückführen. Und natürlich ist auch die unhistorische Betrachtung dann problematisch, wenn sie das Sklavenproblem jener antiken Kultur zu einem Fußnotendasein verurteilt270. Eine irritierende Ambivalenz kennzeichnete das Denken der Antike. Reflexion über Freundschaft und Liebe, frühe Rechtsgenos­ senschaft und sogar über Solidarität sind dort zu finden. Das Ethos der Freundschaft war die Sache der städtischen Oberschicht. Unter Gleichen – das hieß unter Wehrhaften und Begüterten – konnte man sich gegenseitig Ankerkennung und Freundschaft zugestehen, weil man im Anderen etwas über sich selbst erkennen konnte. Dieses Ethos umfasste eine festgefügte Hierarchie von stolzen Männerbündnissen, denen Frauen, Barbaren, Sklaven niemals angehören konnten. Ambi­ valent ist freilich die Semantik der Solidarität, die hier eine erste Gestalt findet: der große Gedanke der Rechtsgleichheit taucht auf,

270 Jürgen Hartmann: Wozu Politische Theorie? Opladen: Westdeutscher Ver­ lag 1997.

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»um gleich wieder in der Klassengesellschaft zu verschwinden.«271 Dieses Recht stiftete Machtverhältnisse, aber keine Rechtsbeziehun­ gen im universalen modernen Sinne. Ein weiterer, immer wieder gern zitierter, aber auch missver­ standener Autor ist Niccolo Machiavelli. Seine politische Theorie gleicht, wenn man es sich einfach machte, einer Kunstlehre. Zugrunde liegen Aussagen über die menschliche Natur, aus der sich normative Lehren ableiten lassen. Die politische Anthropologie bei Machiavelli verfährt psychologisierend; das heißt, sie verknüpft die Mechanik der politischen Herrschaft mit psychologischen und strategischen Erkenntnissen. Diese Herangehensweise markiert die Schwelle zur Neuzeit, in der sich die Episteme (rationale Wissenschaft) und die sogenannte phronesis (Klugheit) ausdifferenzierten. Machiavelli ging es explizit um die Kunst der Herrschaft, die dem Handlungszwang unterlag. Der Unterschied liegt hier in der normativen Handlungslehre, die dem Herrscher ein strategisches Wissen an die Hand gibt. Gegenwärtig kennen wir zwar auch Formen der Politikberatung und strategische Analysen, »Think Tanks« und Beratungsgremien, die eine vergleichbare Funktion haben. Aber die Differenz zur politischen Theorie der Neuzeit ist doch eindeutig. Politik war in der Zeit der Vormoderne eine Kunstlehre, die die Nähe zur Herrschaft suchte und somit den Fixpunkt der unbedingten Aufrechterhaltung der Macht einnahm. Machiavellismus meint also eine politische Ideologie: der Zweck heiligt die Mittel, die Verfolgung der eigenen Interessen ist oberstes Prinzip. Das wohl bekannteste Werk »Il Principe«, (»der Fürst«)272 galt bereits nach kurzer Zeit als ein dogmatisch verhärtetes Handbuch für den Tyrannen; eine Brandmarkung, die den Überlegungen des Autors nicht gerecht wurde. Eher ging es um einen klaren Blick auf die Triebkräfte des Politischen, im Kern um eine pessimistische Anthro­ pologie, aus der man psychologische Regularitäten ableiten konnte. Der Begriff des Machiavellismus hat sich bekanntlich in diesem Sinne erhalten – er beschreibt das Vermögen, Macht um der Macht willen zu erhalten und alle notwendigen Mittel ohne Berücksichti­ gung von Recht und Moralität einzusetzen. Die politische Theorie von Machiavelli ist aber nicht nur deswegen zu erwähnen, weil sie die ver­ 271 Hauke Brunkhorst: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechts­ genossenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 33. 272 Niccolò Machiavelli: Der Fürst. Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1995.

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meintlich dunkle Seite der Politik abbildet. Mit Machiavelli beginnt gewissermaßen ein neues Zeitalter der Politik. Diese Moderne im auslaufenden Mittelalter prägte eine neues Sozialgefüge. Der Mensch als soziales Wesen bildet ein gleichsam materielles Funktionsgebilde. Er ist mit den Augen Machiavellis (und ihm folgend Thomas Hobbes) von materiellen Impulsen getrieben, die man beobachten und in Regularitäten überführen konnte. Die Gewalt ist demnach das Werk­ zeug der Politik, in dem nüchternen Sinne, wie ein Söldner sich für seinen Sold hingibt. Gewalt ist nicht mehr ausschließlich mit religiösen Motiven verbunden, so wie sich die weltliche Herrschaft folgerichtig von der transzendenten Legitimation nach und nach entbinden sollte. Eine durch und durch moderne Lesart dieser neuen Art, Politik zu machen, deutet sich an. Der Staat hält sich aus dem privaten Leben der Bürger heraus, die Religion, die jederzeit in Wahn umschlagen kann, ist aus dem Bereich des Politischen zu entfernen. Die Politik ist nur noch kühle Anschauung dessen, was Menschen einander antun kön­ nen und zugleich Plan, sie den Herrschenden gefügig zu machen. Man kann Machiavellis Politikbegriff insoweit eine Hellsichtigkeit nicht absprechen; denn seine Zeit stand noch ganz unter dem Eindruck der religiösen Letztbegründung und die verheerenden Religionskriege der frühen Neuzeit standen noch bevor. Der Fortschritt, der sich dann vor allem im Denken von Thomas Hobbes verkörpern wird, etabliert ein neues Bild der Gewalt. Die rein materielle Auffassung von Mensch und Gesellschaft inthronisiert den gewaltfähigen Fürsten und sonst keine Autorität; die Politik wird – »vorläufig« muss man hinzufügen – enttheologisiert und bildet eine »Bruchlinie zur Moderne, mitsamt ihrer Konsequenz einer rationalen Gewalt.«273 Der Machiavellismus hat seine Zeit gewissermaßen überlebt. Wenn man einen weiten Bogen schlägt, dann könnte man in ihm eine erste Form des politischen Realismus erkennen. Machiavelli ging es natürlich um personalisierte Herrschaft, um den Fürsten und die Technik der Herrschaftsstabilisierung. Macht strebt nach Machterhalt. Allein dieser Gedanke ist es wert, in die Gegenwart übersetzt zu werden. Denn Macht heißt vieles, auch die Formierung von starken Interessen. Moderne Staaten lassen sich in diesem Sinne als Akteure beschreiben, die machtvollen Motiven folgen. Sie sind Karl Heinz Metz: Geschichte der Gewalt. Krieg. Revolution. Terror. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2011, S. 25.

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»Strategen«, die in einer prinzipiell anarchischen Welt der Politik ihre Claims abstecken, Räume beherrschen und mit allen mehr oder minder legitimen Mitteln miteinander rivalisieren. Zeitgeschichtli­ che Belege zu dieser These ließen sich durchaus finden und der theoretische Grundkonflikt liegt doch deutlich vor Augen. Gilt diese Einsicht unbedingt oder sind nicht auch Spielräume denkbar, in denen überparteiliche Werte und transnationale Verantwortung eine ebenso große Aufmerksamkeit verdienen?274 Man wird diese Frage wohl nicht vorschnell beantworten können. Über den Machiavellismus der modernen Politik ließen sich gelehrte Abhandlungen schreiben. Macht, Politik und Gewalt bilden einen dichten Zusammenhang. Thomas Hobbes hatte die Grundge­ danken der materialistischen Philosophie fortgeführt. Wie angedeutet geht es im naturphilosophischen Denken von Hobbes um die Distan­ zierung von der Religion; mithin um einen Begriff der Politik, der nur als Menschenwerk zu verstehen ist. Hobbes erkannte, anders als Theoretiker der Herrschaft vor ihm, dass das Problem der sozialen Ordnung nach einer kohärenten Lösung verlangt. Hobbes erkannte diese Lösung im gewaltmonopoli­ sierenden Staat. Politik war zuvor immer auch eine Sache der Religion gewesen, die Herrschaft immer zwischen weltlicher und religiöser Autorität eingespannt. Im Naturzustand hingegen treten sich die Menschen mit nichts anderem gegenüber als ihrer Bedürftigkeit und ihrer Schwäche, ihrem eigenen Willen und eben auch mit ihrer unabweisbaren Gewaltfähigkeit. Diesem Zustand kann man nicht entkommen, denn niemand weiß, ob nicht der Nächste zu meinem Feind wird und ob er sich entschließen wird, mich nachts zu berauben. Die Furcht vor dem Anderen erhält hier eine düstere politische Grun­ dierung. Weil ich vor Anderen zurückschrecke und nichts mehr zu fürchten habe als ihre Gewalt, übergebe ich die Waffen einem Dritten. Daraus entsteht schließlich ein starkes Argument für Herrschaft; eine Rechtfertigung des Staates, die schlicht und einfach kausal gedacht wird. Das Politische ist ein fundamentaler Konflikt; die einander widerstrebenden Bedürfnisse und das noch fundamentalere Problem des gegenseitigen Tötenkönnens werden mit Blick auf einen 274 Sonja Laubach-Hintermeier: Kritik des Realismus. In: Christine Chwaszcza/ Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie der internationalen Beziehungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 73–96; in bezug auf die imperiale Großwet­ terlage: Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2003.

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Dritten gelöst. Der Souverän zur Zeit von Hobbes ist freilich noch nicht mit dem neuzeitlichen Staat vergleichbar. Hobbes und seine Zeitgenossen standen unter dem Eindruck der verheerenden religiö­ sen Bürgerkriege; für sie galt die Ordnungsfunktion des Staates in einem unbedingten Sinne. Die Theorie des Politischen von Hobbes wirft einen langen Schatten, im Guten wie im Schlechten. Die Idee, dass das Politi­ sche vom Religiösen getrennt wird, dass Religion und Moral in den vorpolitischen Raum der privaten Überzeugungen abgeschoben werden, ist von einiger Relevanz. Die Geschichte Europas ist ohne diese Trennung, die sie in verschiedenen Schüben im 17. und 18. Jahrhundert vollzogen hat, nicht zu denken. In der Gegenwart des 21. Jahrhunderts ist man sich der Virulenz des Religiösen bewusst. Im Zeitalter von Hobbes fand demgegenüber der gewaltfundierte, absolutistische Staat eine prägende Form. Aus ihm ging eine Art »Versicherungslösung« hervor275 – im Unterwerfungsvertrag lassen sich die Individuen ihre Unsicherheiten teuer bezahlen; sie übertragen ihre Handlungsfreiheiten dem Souverän mit allen Konsequenzen. Darunter auch die radikalste Konsequenz der Ebnung des Weges in den Totalitarismus? Dieser Vorwurf wiegt schwer. Die Rechtfer­ tigung des gewaltfähigen Staates gründete auf einer kalten, mate­ rialistischen Anschauung. Religion und Moralität waren in ihrer Sprengkraft erkannt worden, aber der Staat, der sich aus dieser Situation erheben sollte, hatte nicht umsonst den Namen Leviathan erhalten – der Mythologie nach war er ein Ungeheuer, das Züge eines Krokodils, des Drachens, der Schlange und des Wals in sich vereinigte. Hatte dieser Staat den Weg in den Radikalismus des 20. Jahrhunderts geebnet, da er nun als eine kalte Sicherheitsapparatur missverstanden wurde? Auch in dieser Frage entziehen sich die einfachen Antworten. Dass diese Rechtfertigung nicht hinreichend ist, wird seit längerem diskutiert; die Gesellschaft ist als bloßes Tauschgeschäft zwischen Furcht und Gewalt missverstanden. Um den Begriff des Politischen und die Legitimation des Staates in allen Dimensionen zu erfassen, bedarf es der Einübung wechselseitiger Anerkennung. Die Gesell­ schaft »funktioniert« nicht einfach, sondern sie muss gleichsam einge­ übt, gelebt und koordiniert werden. Aus dem fiktiven Naturzustand, der an irgendeinem Punkt vom Staat gewaltsam besetzt wurde, lernen 275

Hartmann, politische Theorie, 1997, S. 44.

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wir lediglich, wie sich die Furcht voreinander und die Bereitschaft des vernünftigen Gewaltverzichts einordnen und denken ließen. Konkre­ ter sind weitere Sinnkriterien zu denken, die uns erklären, warum die Individuen trotz aller inneren Widerstrebungen sich anpassen und normkonform handeln. Die Frage, wie die politische Gesellschaft begründet kann276, benötigt eine praktische Ergänzung und diese findet man bekanntlich in der Anlehnung an Kant. Kants Wirkung auf die Politische Philoso­ phie der Neuzeit ist immens; auf den Schultern von Kant stehen auch zeitgenössische Theorien277. Die elementaren Aspekte des Politi­ schen werden hier in rechtsphilosophische Argumente überführt. Das Rechtsgesetz weist den Weg, auf dem die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit der Anderen zusammenläuft. »Hinter« der Gesellschaft steht demnach eine Rechtsvernunft: aus dem Zwang, miteinander auskommen zu müssen, wird eine Ordnung friedlicher Koexistenz, in der jeder einen eigenen, unverletzlichen Raum erhält278. Auch Kant hatte ein Bild des Menschen vor Augen, das hin­ reichend skeptisch war. Als naturhaftes Wesen sei der Mensch zu abgründigen Taten fähig; seine Natur ist voller Widersprüche: er ist gesellig und ungesellig; Motive wie Hass und Habgier, ebenso wie Mitleid und Liebe zeichnen ihn aus. Der Staat und der einzelne Mensch finden bei Kant aber zu einer Allianz zusammen, die sich als konstruktiv, wenn nicht sogar moralisch hochwertig erweisen kann. Die Aufgaben einer politischen Staatsordnung liegen in dem Schutz des individuellen Eigentums, der schon bei der Bearbeitung des Bodens beginnt (hier hatte J. Locke die ersten Reflexionen geleistet). Wenn der Staat seine Sache richtig macht, entlässt er die Individuen in eine selbstgewählte Freiheit. Kraft ihrer Vernunft billigen sie sich gegenseitig Rechte zu, erkennen Andere als Rechtspersonen an und bilden seriöse Prinzipien des Zusammenlebens aus.

276 Wolfgang Kersting: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhand­ lungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt am Main Suhrkamp 1997, S. 121–134. 277 Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Per­ spektiven. Freiburg/München: Alber 2019; Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004; Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München: C. H. Beck 2002. 278 Immanuel Kant.: Grundlagen zur Metaphysik der Sitten. In: Kant-Werke in 10 Bänden, Bd. VII., Darmstadt Wiss. Buchgesellschaft 1975.

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Die aktuellen Bezüge sind offensichtlich. Der politische Phi­ losoph Jürgen Habermas hat die Bedeutung Kants immer wieder betont279. Und selbst die elementarsten Fragen der politischen Gegen­ wart wurden bereits vor zwei Jahrhunderten vom Königsberger Phi­ losophen beantwortet. Darunter die Problematik des Gastrechts, das neuzeitliche Staaten den »Fremden« gewähren sollten, die Präzisie­ rung der Rechtsprinzipien, die den Einzelnen vor der Willkür des Staates schützen und letztlich sogar die Herausforderung eines auf Dauer gestellten Friedenszustands zwischen den Staaten280. Kant ist als ein Denker zu verstehen, dessen Einsatz die Schwelle zur Moderne markiert. Genauer gesagt: Die Idee der klassischen Moderne hatte noch mit der Wahrnehmung von normativen Ansprüchen zur Verwirklichung des guten Lebens zu tun. In der Vormoderne herrschten Überzeugun­ gen, dass die wirkliche Welt ein schwacher Abglanz der transzenden­ ten Welt sei. Der Absolutismus des Willkürgottes hatte einen starken Einfluss auf die politischen Ideen der »guten Gesellschaft«. Das Sein und das Sollen wirkten zusammen; die reale Gesellschaft konnte sich nur als Ausdruck der göttlichen Vorgaben verstehen. Die politische Theorie der Neuzeit wendete sich von diesem Selbstverständnis göttlicher Ordnung ab – und damit auch von der Einheit von Sein und Sollen. Die Vertreter der klassischen Moderne verteidigten die wissenschaftliche Begründung der Trennung von beschreibender und normativer Theorie, ohne diesen Widerstreit endgültig zu beenden. Von der philosophischen Begründung der Ver­ nunftherrschaft bei Kant führt insofern – bei allen unumgänglichen Auslassungen – der Weg zu den Klassikern der politischen Moderne. Max Weber als ein bedeutender Vertreter etwa berief sich auf die objektive Gültigkeit von Erfahrungswissen in einer gegebenen Wirklichkeit. Sozialwissenschaftliche Analyse solle wertfrei sein, aber nicht zweckfrei. Das Streben nach Objektivität, das durch keine Irrationalismen vernebelt wird, schließt zwar nicht die Orientierung

279 Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theo­ rie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996; Ders.: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 280 Dieter Senghaas: Den Frieden denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995; Ders.: Zivilisierung wider Willen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

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an Werten aus, aber es verhilft der politischen Theorie zu einer Unab­ hängigkeit281. Im frühen 20. Jahrhundert begannen sich die Wissenschaften auszudifferenzieren. Ökonomie, Soziologie und Geschichte wurden zu eigenständigen Fächern mit methodischer Präzision. Die Soziolo­ gie Max Webers gründete sich auf Themen, die das Wesen und die Eigentümlichkeit der modernen Gesellschaft beschreiben. Um ein Verständnis der Moderne zu erlangen, benötigt man ein Verständnis von Kultur und Religion, Bürokratie und Politik. Was macht die moderne politische Welt im Inneren aus? Weber unterschied zwi­ schen drei Typen legitimer Herrschaft – charismatische, traditionale und bürokratische. Der charismatische Herrscher war zu frühesten Zeiten als geistiger oder religiöser Führer kraft seiner zugeschriebe­ nen Qualität hervorgetreten, die traditionalen Herrscher beriefen sich eher auf sakrale Schrift-Quellen und sanktionierte Rechte. Mit der Bürokratie aber beginnt erst die eigentliche moderne Form der neuzeitlichen Herrschaft Gestalt anzunehmen. Ob damit die charismatische Herrschaft überflüssig wird, ist einer der spannenden Fragen, die Max Weber in seinem Werk aufwirft282. Im Zentrum moderner Herrschaft steht die zweckgerichtete Rationalität. In der Komplexität der modernen Welt schlagen büro­ kratische Gesetze und vorgeschriebene Verfahren Schneisen der Bere­ chenbarkeit. Politik muss funktionieren und dazu benötigt sie die kühle Rationalität, die Beamten und Funktionären zugeschrieben wird. Aber dies ist eben nur die eine Seite der Modernität; denn Gesellschaften benötigen ebenso wie die Routine die Wegweisung durch markante Figuren. Das unstillbare Bedürfnis nach Richtungs­ weisung und Identifikation war damals wie heute ein ungelöstes Prob­ lem. Auch repräsentative liberale Demokratien sind heute, wie man aus leidiger Erfahrung weiß, nicht unbelastet von populistischen Strö­ mungen. Möglicherweise gelingt es, die ideologischen Auswüchse und Verhärtungen so weit wie möglich aus dem Alltagsgeschäft der Demokratie herauszuhalten; aber die Überzeugungs- und Ver­ führungskraft der populistischen Geste bleibt davon unbenommen. Schon in der Form der Ansprache werden Ansprüche transportiert, Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr 1951. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 1968; Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972 (Erstauflage 1922). 281

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die eigentlich mit demokratischem Denken unvereinbar sind; wenn ein Phantasma wie das wahre, eigentliche Volk beschworen wird oder wenn die Repräsentation des einmal erkannten Willens zur Selbst­ rechtfertigung der Herrschaft wird. Solche Politik prägt das Antlitz der Moderne – und Max Weber hat zumindest das theoretische und hermeneutische Instrumentarium hierfür geliefert283. Webers Denken zielte auf den Geist und das Wesen des moder­ nen Kapitalismus, zugleich auf die Möglichkeiten des verantwor­ tungsethischen Handelns. Dieser Begriff hat sich bis heute als zitier­ würdig erhalten; es ist die Frage, welche Vorgaben er in komplexen politischen Situationen machen könnte. Gesellschaftliche Kollektive handeln zweckrational in Bezug auf gesellschaftliche Regelmäßigkei­ ten; aber es gibt ja in jeder Gesellschaft bekanntlich kollidierende materielle Interessen und auch Werte mit inneren Spannungsmo­ menten. Wie diese aufgelöst werden können, steht in Frage und wird freilich auch mit dem Hinweis auf die verantwortungsethische Position nicht endgültig beantwortet. Insofern lässt sich hier eine Ver­ bindung zu einem weiteren Vertreter des Rationalismus vorstellen. Die offene Gesellschaft bei Karl Popper ist kein Idealzustand, sondern sie unterliegt einem wissenschaftlichen Skeptizismus, der durchaus politisch übersetzt werden kann284. Moderne Politik meint hier den Abschied von allen utopischen Ausflügen und revolutionären Motiven. Das Ganze steht in der modernen politischen Gesellschaft nicht mehr zur Debatte. Derjenige, der mit evolutionären Kräften, großen Widersprüchen oder gar mit dem Weltgeist argumentiert, formt sein Bild der Gesellschaft. Darin aber steckt für Popper bereits der Moment der totalitaristischen Versuchung. Sozialistische ebenso wie faschistische Zukunftsprojektionen verhindern die demokratische Auseinandersetzung der offenen Gesellschaft. Die Verantwortung, die Max Weber in die Gegenposition zur Gesinnungsethik gebracht hatte, gründet letztlich auf der Vorläufigkeit von politischen Über­ zeugungen. Der wissenschaftliche Anspruch des Fallibilismus – eine Theorie ist nur so lange gültig, bis sie widerlegt worden ist – bindet die Politik an ein kritisch-rationales Selbstverständnis. Niemand ist im Besitz der letzten Wahrheit, keiner Position ist endgültig privilegiert. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, Kritik und der offene Dialog bilden die Eckpunkte dieser politischen Welt. 283 Jan Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2016. 284 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen 1980.

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XIII. Der Begriff des Politischen

Der politischen Moderne sind Zweifel und Selbstkritik einge­ schrieben. Sie kann als laufendes Verfahren beschrieben werden, in dem sich nicht radikale Veränderungen erzwingen lassen, sondern in dem der vorläufige Konsens und der wenig befriedigende Kompro­ miss genügen muss. Das freilich wird nicht jeden befriedigen, der über die Sensibilität für Ungerechtigkeiten und Missstände verfügt. Aber es bleibt doch zu betonen, dass ein politisches Denken, das Gesamtlösungen gegenüber skeptisch eingestellt ist, als kultureller und demokratischer Fortschritt zu betrachten ist. Verantwortung, wissenschaftliche Erkenntnis und fortlaufende Kritik bilden die ent­ scheidenden Momente dieser politischen Gesellschaft.

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

Die Disziplin der Sozialen Arbeit und die politische Theorie stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis. Schon immer, so ließe sich behaupten, war die Soziale Arbeit mit einem gesellschaftspolitischen Bewusstsein ausgestattet, einer Klarheit für die Konflikte und Span­ nungen des Sozialen, die nicht allein mit den Mitteln der professio­ nellen Helferinnen bewältigt werden könnten. Schon immer wusste man, dass das Profil der Profession auch mit sozialem und politischem Engagement einher geht, wie auch immer solches Engagement ausse­ hen sollte. Dabei ist der behauptete Zusammenhang aber schwer darzule­ gen. Um welche politische Theorie handelt es sich, an welchen Sinn­ kriterien des Poltischen kann man sich orientieren? Unter welchen Bedingungen kann man überhaupt von Begriff, Praxis und Theorie des Politischen sprechen? Die Schwierigkeiten einer Verhältnisbe­ stimmung beginnen damit, dass die Parteinahme der Disziplin für Menschen in erschwerten Situationen gleichsam verbindlich ist; aber der Weg von dieser Einsicht hin zu einer tragfähigen Konflikttheorie ist weniger eindeutig. Letztlich hat es mit dem überraschenden Phä­ nomen zu tun, dass wir über einen definitiven Begriff des Politischen gar nicht verfügen, sondern nur über eine Differenzbestimmung den Dingen näher kommen. Von der Existenz des Politischen weiß man bereits seit der Antike. Bei den Griechen wurde es gleichsam erfunden. Für sie bedeu­ tete politisch zu handeln, sich im Einklang mit den Erfordernissen der polis zu befinden. Solche politische Praxis kann man »Kultur« nennen, die Freiheit ermöglicht285. Aber schon hier war man sich darüber bewusst, dass eine einfache Bestimmung der politischen Regularitä­ ten nicht genügt. Man kann sich auf Regeln und Tugenden einigen, mit denen sich gut zusammenleben lässt, aber die Schwierigkeit bzw., die Kunst besteht darin, den undeutlichen, vagen Bereich des Vorpo­ 285 Christian Meier: Kultur um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfänge Europas? München 2009.

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

litischen in Rechnung zu stellen. Vor der genauen Präzisierung, was gute Politik zu sein hat, wie sie funktioniert und was ihr widerspricht, ist ein Bereich in Augenschein zu nehmen, der schwer zugänglich ist. Die Politik und das Politische – dabei handelt es sich um zwei eng aneinander gebundene Kategorien, die in ihrem Verhältnis zuein­ ander geklärt werden müssten286. Jeder politischen Theorie geht ein Bereich voraus, der ortlos, konfliktreich und ein Stück weit unbe­ stimmbar bleibt. Das Politische, um das es hier geht, ist zutiefst ambi­ valent. Die politische Theorie hat sich immer wieder auf diesen Begriff berufen. Politisch zu handeln, bedeutete für Hannah Arendt etwa, in ein Reich der Freiheit einzutreten287. Individuen begegnen sich in der Freiheit, alle Möglichkeiten des Zusammenhandelns auszuschöpfen. Dieses Politische ist etwas Hochzuschätzendes, weil es idealerweise keine vermachtete Politik, kein Geschäft und nicht einmal als eine Ausführung eines Plans zu verstehen ist. Während die konkrete Politik der Logik der Aushandlung in normierten Verfahren folgt, eröffnet der Bereich des Politischen für die republikanisch-liberale Tradition ein Reich der Freiheit. Von keiner Autorität ist den Men­ schen dort etwas vorzuschreiben, kein politischer Zwang im engeren Sinne beeinträchtigt dieses politische Ethos der Gemeinsamkeit. Es genügt der Gedanke, dass die gemeinsame Praxis der Vielen in einem offenen Raum ermöglicht wird. Es ist leicht einsichtig, dass dieser vage Begriff des Politischen zwar als ein Refugium verstanden werden kann, als ein Rückzugs­ ort für diejenigen, die von der vermachteten Politik der Interessen Abstand gewinnen wollen. Das Politische ist als abstrakte, nicht näher umschriebene Kategorie ein vager Maßstab, der das Bessere der Politik zum Ausdruck bringt, Wo beklagt wird, dass sich die Politik von den Menschen entferne, dass der politische Bereich abstirbt oder in unübersichtlichen Verhältnissen untergeht, dort lässt sich in einem emphatischen Sinne stets ein überlegener Bereich des Politischen herbei wünschen. Man kann aus dieser Opposition viele Schlussfolgerungen zie­ hen. In den Krusten des politischen Alltags ist diese Differenz mehr oder weniger tröstend. Das politische Geschäft hat mit dem zähen Abgleich der Interessen zu tun, mit Machtprozessen, die undurch­ 286 Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010. 287 Arendt 1994.

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Lebensformen im Widerstreit

schaubar bleiben. Die Stimmen und Anliegen der Menschen, die »von der Politik nicht mehr erreicht werden«, verklingen in einem Raum, der oft genug mit einem kalten Apparat verglichen wird. Demgegenüber öffnen sich ungenutzte Möglichkeiten, wenn man sich auf die freie Praxis der Vielen »besinnen« würde. Aber eine solche Schlussfolgerung trägt nicht weit. Die Emphase einer vergessenen und wieder zu erringenden politischen Kultur hat ihr Eigenrecht. Aber es bedarf einer theoretischen Auseinander­ setzung, die nicht bei dem Ideal des Antitotalitären endet. So sehr man sich im Einklang mit einem Bild des Politischen befinden mag, das Potentiale des gemeinsamen Handelns ausschöpft, so bleibt der agonale Charakter des Politischen dabei unter Wert. Die Ausgangsfrage der folgenden Reflexionen schließt an diesen ungelösten Konflikt an. Welche sozialtheoretische Perspektive ist dazu geeignet, den agonalen Raum des Politischen zu vermessen? Welche Form der Sozialtheorie kommt den vielen ungelösten Konflik­ ten nahe genug, von denen im Rahmen der helfenden Professionen so viel gesprochen wird? Die Frage kann nicht einfach mit dem Hinweis auf etablierte Theorien der Macht beantwortet werden; denn Macht ist als fundierende Kategorie zwar hinreichend oft beschrieben worden. Aber eine politisch grundierte Sozialtheorie hätte doch den Anspruch einer umfassende Wirklichkeitsbeschreibung zu leisten: etwa legitime Macht und illegitime Gewalt, gegebene asymmetrische Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeiten kategorial zu trennen. Letztlich bedarf es einer Zusammenschau der Konflikttheorien, die tief genug reichen, um die Fragilität des Sozialen zu bezeichnen, von der die vielen Individuen betroffen sind; die aber auch in der Lage sind, im umkämpften Raum des Sozialen die Möglichkeit der Versöhnung zu bewahren.

Lebensformen im Widerstreit Politik hat mit Konflikten zu tun. Diese banale Einsicht gilt wohl seit den ersten schriftlich fixierten Entwürfen über den Menschen als politisches Wesen. Die Konfliktstrukturen der Gegenwart sind nun nicht mit den kulturellen Bedingungen der Vormoderne zu vergleichen, aber die Grundfrage hat ihre Berechtigung: inwiefern der polemos, der Streit, die Auseinandersetzung und die Entzweiung des Menschen mit seinesgleichen eine anthropologische Bedingung sind.

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

Anders formuliert, ob sie aus dem Sozialen möglichst weit verdrängt werden oder ob sie in der Mitte politischer Lebensformen zu verorten sind. Keine politische Theorie kommt um diese Frage herum und jede Theorie hat eine eigenständige Antwort parat. Nehmen wir im folgenden den Begriff des Konflikts näher in Augenschein und fragen nach den offensichtlichen und unter­ schwelligen Sinndimensionen. Bei Talcott Parsons, dem vielleicht einflussreichsten US-amerikanischen Soziologen nach dem Zweiten Weltkrieg, waren Gesellschaften auf die Integration von Systemen verwiesen, um ihre grundlegenden Konflikte im Zaum zu halten288. Die funktionalistische Systemtheorie, von Habermas, Luhmann, Merton oder Dahrendorf intensiv diskutiert, fragt nicht zuerst nach übergreifenden Normen, sondern nach Grundfunktionen innerhalb der Gesellschaften. Funktionen und Strukturen stehen im Mittelpunkt solchen sozialtheoretischen Verständnisses. Es sind Geltungsbereiche mithin, die jedem vertraut sind: ökonomische Spielregeln, Institutio­ nen der Bildung, verlässliche juristische und politische Verfahren. Aus der Sicht des Einzelnen kommt es darauf an, sich als Rollenträger mit sozialen Praktiken und in formalen Organisationen zurecht zu finden; aber das Zusammenspiel der Systemkomplexe ist ebenso bedeutsam. Eine Gesellschaft »funktioniert« eben so gut, wie die Subsysteme sich auf ein Zusammenspiel einigen können – und das bedeutet, dass die Wirtschaft hinreichende Produktion von Gütern bereit stellt, das Recht genügend Freiheitsgrade ermöglicht und sich die Menschen aus Bürger- oder Konsumentensicht sicher in den Institutionen bewegen können. Konflikte sind hier weniger handfeste Auseinandersetzun­ gen, sie sind eher als Systemprobleme zu betrachten. Recht, Macht, Bildung, Geld oder Wissen/Bildung sind immer auch »Objekte«, die mit Leidenschaft thematisiert werden. Aber für den Systemtheoreti­ ker sind sie vor allem Medien, die der gesellschaftlichen Steuerung bedürfen (ein Gedanke, der unter anderen Vorzeichen von Niklas Luhmann aufgenommen wurde.) Konflikte können also als Eigenschaften von sinnbasierten Syste­ men verstanden werden: aber ein wesentlicher Aspekt geht in dieser Perspektive verloren. Auch hochformale Institutionen und Systeme haben es mit Menschen zu tun; Konflikte haben zwar »gesellschaftli­ che« »politische« oder »formale« Kontexte, aber letztlich bleibt die Sicht auf den beteiligten Menschen notwendig. Es sind Fragen, die vor 288

Talcott Parsons: The Social System. New York 1951.

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Prozedurale und negativistische Vernunft

allem von seiten der älteren kritischen Theorie aufgeworfen wurden; die zwar unter dem Eindruck der verheerenden totalitären Vergan­ genheit standen, aber bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Wie wird es möglich, den Menschen zu einem gelungenen Entwurf seiner selbst zu führen? Wie ist die Gesellschaft möglich, die den Menschen als nicht entfremdetes, sich entfaltendes Wesen frei­ gibt? Horkheimer und Adorno wälzten bekanntlich philosophische Probleme, ohne fassbare Vorgaben zu machen. Sie wollten keine gesellschaftlichen oder politischen Entwürfe vorschreiben, weil sie wussten, dass jede Vision des besseren Lebens in der Einbahnstraße münden würde. Aber sie hatten den Finger auf die schwärende Wunde der politischen Moderne gelegt: die mentalen, sozialen und politi­ schen Deformationen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften verlangten nach Antworten. Im Zentrum der uneingestandenen auf­ klärerischen Vision stand letztlich die Entfaltung eines Ich-Ideals, jener Mensch, der kraft seiner ästhetischen Begabungen und intellek­ tuellen Fähigkeiten zu freier Entfaltung gelangt289. Konflikte würden hier also letztlich von einer Gesellschaftsform erfasst, die sich weniger auf technische Fertigkeiten und instrumen­ telle Vernunft verlässt, als vielmehr auf den von Identitätsentwürfen und Zwängen befreiten Menschen. Es sind Ideen, die bei aller philo­ sophischen Höhe den Gedanken der Emanzipation verfolgen. Jürgen Habermas hat sich als Vertreter der neuen kritischen Theorie in diesem Zusammenhang auf die Grundfrage nach der Wahrnehmung und Einbindung begründungsfähiger Normen bezogen und die aufge­ worfenen Themen mit dem Begriff des kommunikativen Handelns zusammen geführt290.

Prozedurale und negativistische Vernunft Die Diskurstheorie präzisiert die Grundlagen einer gelingenden Kom­ munikation291. Negativistisch betrachtet kann die Kommunikation unter den Beteiligten in Sackgassen verlaufen, weil Teilnehmer nicht Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam:; Querido Verlag 1947. 290 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 291 Karl Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt am Main Suhrkamp 1990. 289

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ernst genommen oder herabgesetzt werden; sie scheitert aus den unterschiedlichsten Gründen. Hiergegen steht das Ideal der Diskurs­ theorie: Alle werden als autonome Teilnehmer ernst genommen, niemand bleibt außen vor. Das Anliegen eines jeden wiegt gleich schwer; Gründe und Argumente werden von allen gehört und verar­ beitet. Ideal ist eine Kommunikation unter Gleichen dann zu nennen, wenn sie ohne Zwang geschieht – bzw., wenn der Zwang des besseren Arguments für sich selbst spricht. Das Ideal der restlosen Inklusion der Beteiligten macht den großen Wert der Kommunikationstheorie aus. Subjektiv betrach­ tet wird hier formuliert, was im Allgemeinen als wünschenswert und erstrebenswert erscheint: eine Gemeinsamkeit herzustellen und damit Gleichheit aller Beteiligten durch Anerkennung. Für die hel­ fenden Professionen ist dieser Punkt höchst bedeutsam, denn oft genug geht es um die gegenteilige Erfahrung: um Menschen, deren Stimmen nicht gehört und deren Anliegen in unübersichtlichen Ver­ hältnissen keine Resonanz erfahren. Es ist die Frage, inwiefern die symmetrische Kommunikation unter Gleichen jene Anerkennung tatsächlich ermöglicht. Die politische Philosophie Hannah Arendts scheint zumindest einen gewissen Einfluss auf die normative Theorie genommen zu haben. Bürger sprechen mit Bürgern auf Augenhöhe, sie rücken nichts anderes in den Mittelpunkt als ihre Anliegen, die sie in der Sphäre der Öffentlichkeit teilen und »bearbeiten«. Ein Bürgerideal mithin, aber doch mit einiger Bodenhaftung. Denn letztlich muss es immer auch um die Frage gehen, inwieweit solche diskursiven Arenen nur unter bestimmten Gleichgesinnten geöffnet werden, oder ob sie tatsächliche allen Mitgliedern einer Gesellschaft offen stehen. Im besten Falle schließen Bürgergemein­ schaften niemanden aus; sie vermeiden negatorische Ausschlüsse durch die Bildung von Wir-Gruppen. Einzig und allein der negativis­ tische Impuls ist tonangebend: in bestimmter Weise nicht miteinander umzugehen292 . Eine weitere Unterscheidung taucht die Theorie kommunikati­ ven Handelns in das grelle Licht aufklärerischer Ideale. Die Gesell­ schaft zerfällt gleichsam in Sphären, die in Opposition zueinander stehen. »Systeme« mit ihren Steuerungsmedien stehen auf der einen Lutz Wingert: Unpathetisches Ideal. Über den Begriff eines bürgerschaftlichen Wir. In: Brunkhorst, H. (Hg.): Demokratischer Experimentalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 33- 44. 292

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Prozedurale und negativistische Vernunft

Seite. Ökonomie und Staat, das Medium des Geldes und das Medium der Macht bedingen die gesellschaftlichen Zwänge. Sie erscheinen als unumgänglich für jede Form der Vergesellschaftung. Demgegenüber steht der vage Begriff der Lebenswelt für die andere Seite der Unter­ scheidung. In der Lebenswelt werden Menschen nicht einfach nur ver­ waltet oder in die Zwänge sozialpolitischer Verfahren eingebunden, hier werden sie nicht als unbedeutende Teile von Steuerungsmedien wahrgenommen, sondern erfahren Geltung und Freiheit. Die Lebens­ welt, ein Terminus mit einer sehr weitreichenden philosophischen Tragweite, lässt die Menschen sich als Wesen erfahren, die ästhetische Bedürfnisse haben, die verletzbar und doch schöpferisch sein können. Die lebensweltliche Autonomie kommt dann zur Entfaltung, wenn sie weitestgehend unbeeinflusst von den Systemimperativen bleibt. Das Phänomen der Kolonialisierung der Lebenswelt, das zugleich als stil­ ler Vorwurf an bestehende Machtverhältnisse erscheint, widerspricht diesem wiederum idealistischen Dualismus. Der Grundgedanke darf wiederholt werden: in einer Lebenswelt, in der die Individuen ihre Anliegen und Bedürfnisse selbstbewusst und ohne den Einfluss von Macht und Geld vortragen, käme man dem Bürgerideal einer besseren Gesellschaft sehr nahe. Damit ist zugleich eine Verbindung hergestellt zu jener ande­ ren, als antipodisch bezeichneten Sozialtheorie der modernen Gesell­ schaft. Denn auch Niklas Luhmanns Kommunikations- und Sys­ temtheorie thematisiert Systemeigenschaften und lebensweltliche Umwelten. Aber sie verfährt doch unter ganz anderen Voraussetzun­ gen. Auch hier, so darf man ernüchtert feststellen, werden die Bedin­ gungen der Politik moderner Gesellschaften nur unter Umwegen erkennbar. Der Dualismus von System und Lebenswelt kann für Luh­ mann nicht als Ausgangspunkt einer Theorie dienen. Der normative Impuls – dass Macht- und Marktzwänge aus der unbescholtenen Lebenswelt herauszuhalten wären – ist dem Systemdenker fremd. Die Lebenswelt als Residuum, die von aller Macht freigehalten wird, ist letztlich auch nur eine Konstruktion. Warum sollte in der Lebenswelt ein Raum bestehen, der sich als Ressource zwischenmenschlicher Solidarität hervor tut, der allein Sinn bereit hält und somit als Ort des Widerstands bereit stünde gegen alles, was früher oder später als Kolonisierung erfahren wird? Bleibt eine menschliche Lebenswelt immer unproblematisch, weil sie Hintergrundüberzeugungen zusam­

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menschweißt und eine unabweisbare Gemeinsamkeit, gar ein Ethos der Kommunalität garantiert?293 Ist es nicht eher so, mit den Worten Luhmanns, dass wir auch in der Lebenswelt unerschöpflichen Dissens erfahren und uns als konfliktträchtige Wesen erleben, die das Gemeinsame ebenso wie das Nichtgemeinsame umgibt? Der selbstverständliche Ausgangspunkt der nicht kolonialisierten Lebenswelt wäre demnach missverständ­ lich, denn die Lebenswelt kann das nicht einlösen, was ihr zuge­ sprochen wird: eine Abwehr fremder Mächte und gesellschaftlicher Zwänge zu bewerkstelligen294. Auch die Lebenswelt ist nur dann auf dem Boden der Theorie zu begründen, wenn sie unter dem Gesichtspunkt sinnbasierter Sys­ teme erfolgt. Psychische und besonders soziale Systeme bilden keine Zentren, die entweder vollkommen vertraut oder absolut fremdartig erscheinen. Sie sind lediglich auf ihr jeweiligen unterscheidenden Operationen verwiesen295. Damit aber steht man bereits im Zentrum der Sozialtheorie sozialer Systeme, die unter bestimmten Voraussetzungen als funktio­ nale Theorie zu verstehen ist. Soziale Systeme, und insbesondere relevante Subsysteme der Moderne wie Recht, Politik, Wirtschaft oder Erziehung sind spezifische Antworten auf Umweltanforderun­ gen. Der logische Zusammenhang von Teil und Ganzem versagt hier als Erklärungsansatz. Die Gesellschaft besteht nicht aus Teilen, die gleichsam ineinander verfugt sind und das gesellschaftliche Leben zu gleichen Teilen ermöglichen. Anders als bei Parsons geht es nicht um die Integration eines Sinnzusammenhangs des Ganzen, der für alle Perspektiven der Gleiche wäre. Auch ist die Politik als hierarchische Spitze oder als Steuerungszentrum missverstanden. Soziale Systeme unterliegen der überbordenden Komplexität der Umwelt und sie können sich nur behaupten, indem sie die binäre Unterscheidung von System und Umwelt in ihr Selbstverständnis integrieren. Dieser hochabstrakte Gedanke wird verständlicher, wenn man binäre Codierungen mit der Eigenschaft menschlicher Intentio­ Habermas, 1988, S. 191. Niklas Luhmann: Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, 1982, S. 366–379, hier S. 377. 295 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; Ders.: Verfassung als evolutionäre Errungenschaft. In: Rechtshistorisches Journal 9, 1990, S. 176–220; Ders.: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 293

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Prozedurale und negativistische Vernunft

nen vergleicht. Sachverhalte werden als relevant/irrelevant einge­ stuft. Sie haben einen Informationswert, der nur in der Sprache des Systems erkannt und bewertet werden kann. Wenn etwa eine Natur­ katastrophe kommuniziert wird, weckt sie die mediale Aufmerksam­ keit, aber in der Sprache der Wirtschaft wäre sie in die Differenz von Zahlungen und Nichtzahlungen zu überführen; die Politik würde politische Entscheidungen herbeiführen; jedes System würde anders formuliert seine spezifischen Codierungen und Programme abrufen. Die Schwierigkeit liegen dabei aber in der universalen Funktion eines jeden Systems begründet, was einen Gesamtzusammenhang gar nicht mehr denken lässt. Jedes System der Gesellschaft setzt sich selbst absolut. Dies ist nicht als eine menschliche Eigenschaft zu verstehen, so wie man jemandem vorwerfen würde, dass er zu wenig Empathie für die Sache des Anderen aufbringt. Eher hat es mit der Form der Operationen zu tun, die als selbstbezügliche Kommunikation zu verstehen sind. Nicht anders als in der Logik ihrer Unterscheidungen können soziale Systeme überhaupt kommunizieren und Umwelten wahrnehmen. Die Hoheit für pädagogisch-professionelle Aufgaben obliegt dem Erziehungssystem, wirtschaftliche Systeme kennen nur die Präferenz für Zahlungen, die Wissenschaft hingegen kommuni­ ziert im Medium der Wahrheit. Jede Perspektive ist beobachtungsund standortgebunden – was an und für sich logisch erscheint. Für die Politik, die sich ihrem Selbstverständnis gemäß als das Steue­ rungszentrum der Gesellschaft verstehen muss, bleibt letztlich die skeptische Einsicht, dass die alten Muster der Zentralisierung nicht mehr greifen. Anhand einzelner Thematiken kann man diese Situation plau­ sibel nachzeichnen, etwa bei dem aktuellen Phänomen der öko­ logischen Kommunikation296. Auch die zeitgenössischen sozialen Konfliktmuster, von denen so oft die Rede ist, würden hier unter bestimmten Bedingungen plausibel. In der unterkühlten Sprache der Systemtheorie kommt man nicht weit, wenn man die existentiellen Bedrohungen oder die sozialen Krisen der Risikogesellschaft mit den Kriterien der Moralität beschreibt. Die Einheit des Ganzen kann adressiert werden; Solidarität mit allen und allem kann eingefordert, ein guter Wille, der das »Ganze« ändert, beschworen werden. Dies ändert nichts daran, dass es lediglich um kommunikative Differenzen 296 Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag 1990a.

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

geht und Sinnhorizonte, die niemals den umfassenden Horizont jener Gesellschaft darstellen, die Luhmann als alteuropäisch klassifi­ zieren würde. Dieses Denken vom Standpunkt des funktionalen Systems ist herausfordernd. Die Widersprüchlichkeit liegt darin, dass jede Sys­ temperspektive die gesamte Gesellschaft thematisiert, aber nur auf­ grund der eigenen Unterscheidungen. Es versteht sich selbst so, als könnte es die Einheit des Ganzen repräsentieren und unterliegt somit einer Selbsttäuschung. »Jedes Funktionssystem rekonstruiert mithin, zusammen mit seiner Umwelt, die Gesellschaft. Jedes Funktionssys­ tem kann daher, wenn und insoweit es für die eigene Umwelt offen ist, für sich selbst plausibel annehmen, die Gesellschaft zu sein.«297 Der Begriff des Politischen erfährt hier eine Zurücksetzung. Man könnte von einer erneuten Kränkung der Moderne sprechen, die sich diesmal nicht auf die Illusionen des Mensch-Seins, sondern auf die alteuropäische Politik bezieht. Mit dem Gedanken der Selbstreferenz wird eine neue Art und Weise ins Spiel gebracht, die Politik in der Moderne zu denken. Die Sprache, die Systeme in ihrem Umweltbezug gebrauchen, ist schwerlich übersetzbar. Die Politik kann nur unter eingeschränkten Bedingungen das tun, was von ihr eigentlich erwartet wird: Es ist gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen: auf seine Wahr­ nehmung machtbasierter Kommunikation. Aber diese »Macht« ist nicht die Allmacht des Herrschers, sondern nur ein gesellschaftliches Erfordernis: Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Regierung und Opposition, Mehrheit und Minderheit, Legitimität und Illegi­ timität zu bestimmen. Der Blick auf die relevanten Systeme der Wirtschaft, der Erziehung, der sozialen Arbeit ist zwar möglich; aber ein Nachbarsystem hat keine vollkommen durchlässigen Grenzen. Die Politik muss sich darauf beschränken zu stören und zu irritieren; insgesamt muss sie aber realisieren, dass sie andere Systeme nicht beherrschen und dirigieren kann. Auf welcher Ebene diese Einsicht überhaupt vermittelbar ist, bliebe zu fragen: ein Politiker in Wahlkampfzeiten wird sich immer auf die Steuerungsleistungen berufen; ein Abgeordneter wird in seinem lokalen Raum Initiativen herbei führen, die vom Publikum begrüßt oder verurteilt werden. Für den Vogelflug der Systemtheorie bleibt die skeptische Einschätzung, dass sich auch Macht und Politik nicht zuerst mit Außenwirkungen, sondern mit sich selbst beschäftigen. 297

Ebd., S. 204.

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Der Bereich des Vorpolitischen

Die Grundfrage nach dem Wesen der Politik wird von der Theorie in die kalte Luft der Abstraktion abgeschoben. Politische Kommunika­ tion ist dann gegeben, wenn die politischen Gremien innerhalb ihrer Grenzen operieren, wenn etwa Entscheidungen durch Konsens und Mehrheiten legitimiert werden oder wenn parlamentarische und elek­ torale Prozesse vorangetrieben werden. Das »Publikum« beobachtet diese Phänomene und stellt fest, dass politisch gehandelt wird; aber man kann diese Vorgänge durchraus unterschiedlich bewerten: als stromlinienförmigen Ablauf in der verwalteten Demokratie oder als systemische Interpretation von Konflikten und Dilemmata. Aber an diesem Punkt versagt der Theorie die Sprache, denn der tieferen Bedeutung der Konfliktstrukturen menschlicher Lebenswelten ist die Systemtheorie gegenüber nicht aufgeschlossen. Sie verfehlt das, was vom anderen Standpunkt aus betrachtet gleichsam existentiell ist. Welche Theorien des Sozialen stünden aber bereit, um den möglichen Widerstreit und das Wesen des sozialen Konflikts zu erfassen? Mit den Theorien von Luhmann und Habermas übertritt man die Schwelle zu Theorie der Moderne. Das Politische ist in diesem Rahmen ein abgezirkelter Raum, in dem politisch kommuniziert wird mit schwer kalkulierbaren, zumindest nicht streng planbaren Folgen für benachbarte Systeme. Oder das Politische wird als Ankerpunkt kommunikativen Handelns verstanden – mit dem Bewusstsein für die Überlegenheit des »besseren Arguments« und der Überzeugungskraft der Sprache selbst. Beide Positionen verdienen Aufmerksamkeit und sind hinrei­ chend diskutiert worden. Hier aber steht in Frage, welche Wege und Umwege, Tiefen und Höhen die politische Theorie erreichen muss, wenn sie der Phänomenologie menschlicher Konfliktualität gerecht werden will.

Der Bereich des Vorpolitischen Jede Bestimmung der Politik sieht sich einer Flut von »The­ men«, Bereichslogiken, Erwartungshorizonten ausgesetzt. Innere und äußere Grenzen sind bei jeder genaueren Bestimmung zu beachten. Was nun genau mit Politik gemeint ist, scheint unstrittig zu sein: Politik hat, so die ins Allgemeine gewendete Erwartung, einen soliden Kern; sie »ist« eine Repräsentation von Willensbekundungen mit Vertragscharakter. Wenn wir zur Recht davon ausgehen, dass

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

Politik in einer politischen Ordnung auftritt und darüber hinaus sich in dem demokratischen Rechtsstaat entwickeln konnte, der ein hohes Maß an Legitimität und prozeduraler Vernunft aufweist, wäre man dann nicht bereits zum Wesenskern des Politischen gelangt? Eine umfassende Bestimmung des Politischen, die sich allen theoretischen Betrachtungsweisen öffnet, kann sich freilich mit einem solchen Fazit nicht zufrieden geben. Alle Politik ist im Kern widerspruchsoffen, sie ist mit dem Blick auf die bestehende politische Ordnung nicht erschöpfend erkannt. Es ist unumgänglich, die Phänomenologie des Politischen auf eine Weise zu denken, dass die Verflüchtigung und der totalitaristische Exzess, das Verschwinden und die mögliche Diffusion der Politik, expansive Tendenzen ebenso wie irrationale Momente mitgedacht werden. Natürlich: vieles, was auf der medialen Oberfläche als Politik beschrieben wird, hat mit einem ernsthaften Politikbegriff wenig zu tun. Aber man würde andersherum einem verkürzten Politikbegriff unterliegen, wenn man ihn ohne seine möglichen Schattenseiten und Irrationalitäten bestimmt, ohne in Rechnung zu stellen, dass Kämpfe um Anerkennung das Politische in jeder Form durchdringen. Wie aber kann man all das, was man eher dem Bereich des »Vorpolitischen« zurechnen würde, sinnvoll in eine Theorie einbinden? Ein erster notwendiger Schritt wäre die Erweiterung der gängigen Selbstbeschreibungen. Politik ist immer auch vertragsförmig gedacht, sie ist die Einheit von Herrschern und Beherrschten, die im besten Fall die Selbstherrschaft der Beherrschten ermöglicht. Im weitesten Sinn sind die Theorieperspektiven dieser Beschreibung »liberal«. Sie formen jenes Bild des Politischen, mit dem wir selbstverständlich umgehen. Politik sollte demnach die legitime Repräsentation aller Interessen zum Ausdruck bringen und sie in erprobte Verfahren der Willensbildung und Durchsetzung überführen. Liberalistische Theo­ rien beschreiben die Bedingungen, unter denen diese Verfahren als legitim zu erkennen sind oder sie analysieren die Prozesse innerhalb der politischen Arena. Ist damit bereits alles gesagt und erkannt, was sich als politisch relevant erweisen wird? Ist Politik also immer mit der effizienten Realisierung gemeinsam formulierter kollektiver Ziele in eine politi­ sche Praxis der Steuerung gleichzusetzen? Es ist die Fixierung des »liberalen Codes«, der im Zentrum eines erweiterten Blicks auf die Phänomenologie des Politischen steht. Diese Erweiterung dessen, was Politik sein kann, soll im Folgenden beschrieben werden. Eine Vielfalt

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Der Bereich des Vorpolitischen

von Denkern, die sich dem Politischen von einer abseitigen Position aus nähern, wäre in diesem Zusammenhang zu nennen: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Charles Taylor, Richard Rorty, Michele Foucault und viele andere. Man wird den Theorien nicht gerecht, wenn man sie in einer singulären Schule des Denkens versammeln würde. Mal geht es um die explizite Kritik der Macht, mal um ihre subtilere Mechanik, mal wird die ironische Haltung in das Zentrum postmoderner Theorie gestellt oder der ausgeschlossene Vorraum des Politischen geöffnet. Gemeinsam ist den Theorien aber die Kritik der liberalen Selbstbeschreibung298. Verschiedene Motive sind daher im Folgenden zu beschreiben, um diesen Blick auf das Politische erwei­ tern. Um noch einmal das klassisch-liberale Bild des Politischen hervorzuheben, dem das Denken folgt: Politik ist eine kollektive Handlungspraxis im Medium der Macht. Im Ideal begegnen sich im Raum der Politik selbstbewusste Subjekte, die mit- und gegeneinan­ der über die Bedingungen ihres Zusammenlebens debattieren und entscheiden. Das Weltbild, das hier zugrunde gelegt wird, mag man rationalistisch nennen. Prinzipiell ist diese Welt des Politischen von aufgeklärten Subjekten bevölkert, deren Interessen objektiv repräsen­ tiert werden; prinzipiell folgen die Aushandlungen und Kontroversen Spielregeln, die intersubjektiv nachvollziehbar sind. Prinzipiell ist diese Form der Politik im Rahmen der Entstehung formal-bürokrati­ scher Organisationen zu begreifen. Diese liberale Beschreibung hat ihren Eigenwert. Aber sie steht in Konkurrenz zu anderen Beschreibungen. Interpretative und her­ meneutische Kulturtheorien haben den Zweifel an der Alternativlo­ sigkeit des westlichen Weltbildes und damit am Rationalismus der Moderne geäußert. Denken wir etwa an die neohermeneutische Theorie von Charles Taylor299. Ihm ging es in seinem Werk um die Verflechtung der 298 Andreas Reckwitz: Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive: Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität. In: Birgit Schwelling (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden: VS 2004, S. 33–57. 299 Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? In: Transit 5, 1992/1993, S. 5–20; Ders.: Philosophical Arguments. Cambridge/Mass. 1992; Ders.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Ders.: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.

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XIV. Eine politische Theorie der Moderne?

modernen Lebensweise mit Existenzbedingungen, die vom liberalen Denken nicht erfasst werden. In der Grundposition des Kommuni­ tarismus wird die Weltbeziehung jedes Individuums thematisiert und in Beziehung zu älteren, vermeintlich vergessenen Beziehungen zur Welt gebracht. In der Moderne, so lautet sehr verkürzt diese kommunitaristische Version, verlieren die Individuen den Bezug zu einem umfassenden Sinnganzen. Sie sind isoliert und fühlen sich in anonymen Verhältnissen eingesperrt; die Welt an sich wird ihnen stumm, gleichgültig, feindlich. Sie bietet nicht mehr jene Resonanz, die Andere in früheren Epochen erfahren durften. Der Rationalismus der Moderne ist eben im Vergleich zu jenen Zeiten, in denen sich die Menschen in Religion, Tradition und Gemeinschaft eingebettet fühlten, nur »halbiert«. Den Menschen ist ein Sinn entzogen worden, ohne dass sie zur Artikulation dieses Verlusts fähig wären. Die eine Seite dieser Diagnose zielt auf die individuellen Mög­ lichkeiten der Resonanzerfahrung300 . Die andere hingegen themati­ siert die Engführungen der Welt der Politik. Wie beschrieben, umfasst die liberale Lebensform das freie und zweckorientierte Spiel der Kräfte. Politische Entscheidungen folgen formalen Prinzipien und erfüllen die Erwartungen an rationale Zielsetzungen. Damit aber wird ein Bereich aus der Analyse des Politischen ausgeschlossen, der mehr Aufmerksamkeit verdiente. Moralische Landkarten und soziale Praktiken sind für Taylor nie vollkommen neutral und bruchlos in objektive Interessen umzuformen. Dabei wären sie, so Taylor, im gleichen Maße als vorpolitische Sinnhorizonte des Poltischen in das Verständnis des Politischen einzubinden. Alles, wofür Menschen kämpfen und leiden, was ihnen wichtig ist und Resonanz erzeugt, ist durch kulturelle Traditionen, vermittelte Bindungen, religiöse und sakrale Gefühle und soziale Imaginationen bestimmt. Dieser Bereich des Vorpolitischen ist schwer fassbar – eben nicht rational aufzulösen – und doch hat er eine eminente Bedeutung für die Art und Weise, in der Menschen sich als politische und gemeinschaftliche Subjekte begegnen. Die faire Verhandlung und der Interessenaus­ gleich, die Glücksvorstellungen und die Bedingungen eines guten Lebens, Selbstentfaltung und Gleichberechtigung sind eben keine 300 Hartmut Rosa: Is anybody out there? Stumme und resonante Weltbeziehungen – Charles Taylors monomanischer Analysefokus. In: Michael Kühnlein/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, S. 15–44.

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Der Bereich des Vorpolitischen

neutralen, in diesem Sinn herstellbaren Verfügungsobjekte, sondern interexistentielle Ausdrucksweisen. Eine weitere historisch-normative Dimension ist zu beachten: das Selbstverständnis der Modernität. Diese Kategorie ist zu Recht in das Zwielicht der Selbstkritik geraten. Was genau Modernität bedeu­ tet, ist scheinbar eindeutig: Aufklärung, Selbstmächtigkeit, Rationa­ lismus, Vernunft statt Religion? Der Weg, den man als den westlichen bezeichnet, hat mit eben diesen Begriffen zu tun301. Die Schwierigkeit wird erst sichtbar, wenn wir diese spezifischen historischen Errun­ genschaften absolut setzen und sie als große Weltgeschichte weiter erzählen. Der Weg des Westens ist natürlich in bestimmten Bahnen verlaufen; die Wendepunkte dieser Geschichte sind die Trennung von Staat und Religion, die Selbstbehauptung des politischen Subjekts, politische Revolutionen und demokratische Neuschöpfungen. Aber es handelt sich eben um ein Narrativ unter vielen. Shmuel Eisenstadt hat als ein Vertreter der Modernisierungskri­ tik die Sinngrundlagen dieser verbindlichen Erzählung hinterfragt302. Tradition und Modernität stehen in diesem Bild in einem Verhältnis unbezweifelbarer Differenz. Traditionelle Gesellschaften binden sich an Überlieferungen und Kultur, moderne Gesellschaften hingegen würden sich durch formale Rationalität auszeichnen. Kapitalistisch gefestigte Gesellschaften sind funktional differenziert in dem Sinne, dass sie vermeintlich obsolete Erbschaften und Traditionen hinter sich gelassen haben. Es ist die Unterstellung eines allgemeinen und kulturübergrei­ fenden Entwicklungspfads, der die Kritik an diesem Narrativ entzün­ det. Eine kulturalistische Theorie der Moderne kommt zu anderen Schlussfolgerungen: Traditionen sind keine Rudimente, sondern kul­ turelle Codierungen, die sowohl in modernen wie in älteren Institu­ tionen anzutreffen sind. Die Modernisierung des Westens, mit allen politischen Errungenschaften, ist kein universaler, alternativloser Prozess, sondern ein Pfad inmitten vieler politischer und sozialer Verzweigungen der Welt. Der politische Westen ist insofern weniger universal als vielmehr entwicklungsoffen zu bezeichnen. Wenn man an diesem Punkt ansetzt und erkennt, dass die moderne, vertraute Form der Politik die »kulturvergleichend höchst 301 Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 2009. 302 Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist: Velbrück 2000.

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ungewöhnliche Vorstellung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft«303 voraussetzt, bliebe doch zu fragen, welche Impulse diese Politik erhalten kann, um sich mit dem erhöhten Konfliktpotential ihrer Zeit auseinander zu setzen. Bei Eisenstadt oder Taylor geht es gewissermaßen um Erbschaf­ ten eines transzendentalen Weltverhältnisses, die in verdunkelten Formen der Vergesellschaftung eingelassen sind. Innerweltliche Tran­ szendenzvorstellungen haben die Geschichte Europas, bzw. des Wes­ tens geprägt: in den sozialen und kulturellen Umbrüchen, revolutio­ nären Erhebungen und politischen Reformen kam immer ein Rest religiösen Sinns zum Ausdruck304. So sehr die Eschatologie in subti­ len kulturellen Sinn übersetzt wurde, ist damit aber die Virulenz der sozialen Konflikte nicht erschöpfend behandelt. Die agonale Struktur unserer Welt erfordert eine Konflikttheorie. In wieweit aber ist politische Modernität mit der Vielfalt von Kon­ fliktmotiven und Konfliktgründen zusammen zu denken? Sogenannte poststrukturalistische Theorien bezweifeln die Grundlagen einer poli­ tischen Ordnung, die sich auf nichts anderes als das selbstbewusste Sprechen der Dialogteilnehmer berufen könnte. Es sind vielmehr kol­ lektive symbolische Ordnungen zu unterscheiden, die den Rahmen des Sagbaren und damit des politisch Möglichen vorgeben. In anderen Worten: Wenn Sprecher sich in politischen Arenen begegnen, können sie Vernunftgründe ausweisen, sich als wahrhaftig und vernünftig darstellen. Ihre Intentionen und ihr Bewusstsein ist durchaus als authentisch zu bezeichnen, aber eine zweite Ebene der Kulturanalyse wäre zu bedenken. Das autonome Sprechen wird durch die kollektive Ebene von Zeichensystemen durchbrochen; der politische Diskurs ist insofern weniger eine Aushandlung mehrerer autonomer Subjekte, als vielmehr Folgewirkung einer bestimmten symbolischen Ordnung. Die selbstbewussten Sprechakte sind nicht dem Einzelnen auf eine Weise verfügbar, wie es das Leitbild der Emanzipation vorgibt; als unbewusste Produkte von kulturellen Codierungen bilden sie viel­ mehr die Tiefenstruktur moderner Konflikte305. Reckwitz 2004, S. 41. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a. M. Fischer 1999; Ders.: Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft. München: Wall­ stein 2009. 305 Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz. Wien: Turia und Kant 2002; Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and socialist strategy. Towards a radical demo­ cratic politics. London/New York: Verso 2001. 303

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Der Bereich des Vorpolitischen

Diese Kritik an der Moderne ist als radikal zu bezeichnen. Denn sie stellt die herkömmliche Emanzipationsgeschichte gleichsam auf den Kopf. In der Tradition der Aufklärungsphilosophie würde man der Eroberung der menschlichen Gestaltungsfähigkeit das Wort reden. Die liberale Erzählung gründet bekanntlich auf Selbstbemächtigung und Autonomie und die Vorstellung, dass sich die Menschen in einem zähen Prozess sozialer Auseinandersetzungen von Herrschaftsfor­ men und religiösen Dogmen nach und nach befreit haben, findet hier ihren besten Ausdruck. Die poststrukturalistische Theorie schlägt uns diese Selbstsicherheit aus der Hand, sie erkennt in der politi­ schen Modernität nicht das intersubjektive Miteinander, sondern ein anonymes Spiel der Kräfte. Nicht Subjekte, sondern hegemoniale Konstellationen ringen miteinander, nicht die Akteure stehen im Zentrum dieser Vorstellung von Politik, sondern kollektive Gruppen, die sich zwanghaft ihre Identität versichern müssen. Diese Politik ist vor allem Kampf und das Feld des Politischen kommt vordergründig in der Vorstellung eines Spielfeldes zu sich.

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XV. Verlust und Wiedergewinn des Politischen

Die Politik ist umstritten, sie war es immer. In der politischen Gesell­ schaft aber potenzieren sich die Konflikte, so dass die Politik – als nach wie vor zentrales Handlungsfeld und Subsystem der Gesellschaft – gewissermaßen in Mitleidenschaft gezogen wird. Es scheint so, als wäre nicht nur die Qualität politischen Handelns in Verruf geraten, sondern das Phänomen selbst in einem Zwiespalt. Auf einen einpräg­ samen Titel reduziert, steht die Politik in Gefahr zu verschwinden – sie muss folglich revitalisiert werden. Was genau unter dem Verlust und dem möglichen Wiedergewinn zu verstehen ist, soll im folgenden gefragt werden. Dass es mehr als zuvor auf die Politik ankommt und dass die Lebensqualität gegenwärtiger und zukünftiger Generationen von der Qualität politischer Handlungen abhängt, muss kaum betont wer­ den. Widersprüchliche Diagnosen beherrschen zudem den medialen Raum: das Politische wird zusehends entwertet, es verliert zumindest seine genuine Rolle, die ihm in früheren Zeiten zugewiesen wurde. Andererseits hängt nichts weniger als die Existenz der sozialen, natürlichen und materiellen Lebensgrundlagen von der Politik ab. Nur eine paradoxe Formulierung scheint dieser Sachlage angemes­ sen: in der politischen Gesellschaft wird alles politisch aufgewertet; die Grenzen des politisch Handhabbaren werden erweitert und die politische Verantwortung wächst. Auf der anderen Seite weiten sich Stimmungen der Beliebigkeit aus, die im Sozialen, im Politischen und Moralischen nur Gleichgültiges erkennen. Weil alles politisch ist, wächst im gleichen Maße der Unmut über fehlende Handlungsmög­ lichkeiten. Grassierende Ratlosigkeit ist der verschwiegene Kern der politischen Gesellschaft. Um diese merkwürdig widersprüchliche Diagnose aufzulösen, sind verschiedene Sichtweisen des Politischen ineinander zu blenden. Die historische Entwicklung der politischen Gesellschaft erreicht einen Punkt der Erschöpfung. Es findet nicht mehr zu sich selbst; das heißt: die Politik verliert ihr Fundament. Der territoriale Boden ist nicht mehr mit dem Staat verbunden, die Demokratie verliert ihren

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ursprünglichen Antrieb; der vorpolitische Konsens der Integration erodiert und ein letzter, gültiger Maßstab des Guten erweist sich als Illusion. Die Politik wird mit anderen Worten in den Strudel einer großen Regression gezogen. Allen Symptomen der Erschöpfung zum Trotz ist aber zu fragen, an welchem Ort man sich die politische Gesellschaft von morgen den­ ken und wünschen mag, welche utopische Momente ihr Eigenrecht behalten haben. Das Denken des Politischen muss also gleichsam entsperrt werden. Gibt es den »Augenblick der Demokratie«, der gleichsam als Augenblick der Politik zu verstehen wäre? Was wäre in einem solchen hellen Moment zu erwarten? Ist er ein genuin politischer Moment, ein Ereignis, in dem Geschichte geschrieben wird? Ein ästhetischer Moment, weil er aus dem Dunkel der Entzweiung herausführt? Politische Denker wollen – sehr zu Recht – ihren Enthusiasmus nicht zurückschrauben, wenn es um die Bewahrung, ja die Vitalisierung des Politischen geht. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf das eingän­ gige Bild, in dem gewöhnliche Menschen organisiert oder in freier Assoziation an der Gestaltung der politischen Agenda teilnehmen. Ein solcher Augenblick ist nicht derjenige des Populisten, der sein Publikum einschwört, sondern eher der unspektakuläre Augenblick des Zusammenhandelns, ohne egoistisches Kalkül. Die politische Theorie hat diesen Augenblick nie vergessen, aber sie muss vergegenwärtigen, dass die Demokratie an einem widersprüchlichen Punkt steht. Sie ist keineswegs dem Verfall anheim gestellt, aber es gibt Indikatoren einer Erkaltung. Die Demokratie ist in einer postdemokratischen Phase angekommen, schreibt Colin Crouch. Obwohl die Demokratie als politische Ordnungsform über Jahrzehnte gewachsen ist, erreicht sie einen Punkt der Erschlaffung. Freie Wahlen können nicht den schleichenden Niedergang aufhalten, der sich auf eine einfache Beobachtung zurückführen lässt. Wenn sich, so Crouch, die Menschen auf Dauer nicht mehr an ernsthaften politischen Debatten beteiligen, sie in Passivität, Schweigen und Apa­ thie verfallen, nähert sich die Gesellschaft einem postdemokratischen Pol. »In einer Postdemokratie, in der immer mehr Macht an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und

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Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessen­ gruppen.«306 Es ist weniger die harsche Kritik an vermeintlich neoliberalen Tendenzen, als vielmehr das Bild des Politischen selbst, das zur Disposition steht. Ist die Politik in einem Niedergang begriffen, weil andere Mächte sich als stärker erweisen und sie die ursprünglichen Potentiale des Politischen austrocknen? Steht eine große Regression der Politik zu befürchten oder hat man diesen Zustand nicht vielmehr bereits erreicht? Werden »Sperrklinkeneffekte« außer Kraft gesetzt und steht insofern der Rückfall hinter ein »für unhintergehbar erach­ tetes Niveau der Zivilisiertheit« zu befürchten?307 Die spontane Antwort würde auf Tendenzen zielen, an denen man nicht vorbei denken darf: die Rückkehr des Autoritarismus und damit die Gefahr des Ressentiments ist in vielen Gesellschaften eine Tatsache, mit der man sich auf Dauer beschäftigen wird. Beklagt wird eine Hysterisierung der Diskurse einerseits und eine Verrohung der Sitten andererseits; diese und weitere Tendenzen kann man weder vorschnell abhandeln noch kann man sie »theoretisch« aus der Welt schaffen. Insgesamt steht zu befürchten, dass die politische Kultur auf Dauer Schaden nimmt. Worauf dies zurück zu führen ist, wäre einge­ hend zu untersuchen: Demokratiemüdigkeit und Dekadenz werden als Stichworte bemüht. Die Sehnsucht nach einer charismatischen Figur, die das dunkle Erbe der Aufklärung übernimmt, kennzeichnet die Politik im Zeitalter des Zorns.308 Eine sozialtheoretische Perspektive muss sich gleichwohl vor der Vereinfachung hüten und der Rhetorik des Entsetzens produktive Gedanken gegenüber stellen. Erst der gedankliche Weg zurück zu den »Ursprüngen« der Politik führt insofern die folgenden Überlegungen weiter. Wenn man die Dinge bewusst vereinfacht und nach dem eigentlichen Zweck des Politischen fragen würde, dürfte man klare Antworten erwarten. Das Politische solle dem Menschen dienen, bzw. es sollte an der Lebbarkeit menschlicher Lebensformen orientiert sein. Dazu aber bedarf es in einer menschlichen Welt trivialerweise 306 Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. Frank­ furt am Main: Suhrkamp 2008, S. 5. 307 Heinrich Geiselberger (Hg.): Vorwort, In: Ders.: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 9. 308 Pankaj Mishra: Politik im Zeitalter des Zorns. Das dunkle Erbe der Aufklärung. In: Geiselberger 2017, S. 175–197.

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der Überzeugungskraft einer Vision, es bedarf Gründe und Argu­ mente, um die Vorstellung einer guten Gesellschaft mit Leben zu fül­ len. Vom Standpunkt der Theorie der Politik ist man an diesem Punkt freilich genötigt, das Bild des politischen Subjekts radikal zu verein­ fachen. Damit politische Subjekte an der Gestaltung des politischen Lebens teilhaben, sind sie in bildliche Formen zu überführen – sie werden als Interessenmaximierer, als vernünftige Kommunikations­ teilnehmer, als Konsumenten, Wähler oder Zahlende vorgestellt. Die politische Theorie muss den Menschen als vereinfachtes Abbild einer Konstruktion verstehen. Sie nimmt den Menschen als politisches oder ökonomisches, interessegeleitetes oder vernünftiges Wesen wahr. Die Probleme der Gegenwart werden erhellt, wenn man sich von diesem Blick auf den politischen Menschen ein Stück weit distanziert. Die Idee, dass der Mensch vor allem ein politisches Wesen sei, ist lebensfremd; der Mensch ist ebenso komplex wie »lebendig«. Das heißt, nur mit dem ganzheitlichen Blick auf seine Wünsche und Erwartungen, bewusste Neigungen und unterbewusste Triebe, seine Aufgeschlossenheit für Andere und seine emotionalen Verengungen wird man »dem Menschen« gerecht. Diese einfachsten Überlegungen lassen sich nun nicht in eine politische Theorie des ganzen Menschen überführen; aber sie lenken die Überlegungen auf die politischen Widersprüche unserer Zeit. Dazu zählt unter anderem die Frage, an welchen politischen Subjekten denn die politischen Institutionen sich überhaupt orientieren und welcher Art von Menschen die modernen Einrichtungen der Demokratie dienen könnten und sollten. Die Frage kann nicht mit einfachen Sätzen beantwortet werden. Dass der Mensch des 20./21. Jahrhunderts nicht mehr den Vorfahren aus der Zeit der industriellen, sozialen oder politischen Revolutionen gleicht, ist einsichtig; die gegenwärtige politische Gesellschaft kennt zwar noch den »Bürger«, aber dieser unterscheidet sich doch erheb­ lich von »seinen gehrocktragenden männlichen Vorbildern des 19. Jahrhunderts«309. Die politischen Subjekte der Vergangenheit haben einen weiten Weg hinter sich, und sie haben auf diesem Weg eine neue politische Wirklichkeit geschafften. Zu deren Charakteristiken zählt, wie angedeutet, die Vielfalt der sozialen, normativen und kulturellen Lebensentwürfe. Die moderne Michael Th. Greven: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. Opladen: Leske und Budrich 1999, S. 197.

309

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Gesellschaft ist pluralistisch und an der Verschiedenheit orientiert, sie muss mit der Vielgestaltigkeit humaner Lebensformen umgehen. Dies kann mit einer Orientierung an Werten einher gehen, mit der gestiegenen Sensibilität für menschenrechtliche Belange. Aber die Gefahr liegt auf der Hand, dass sich die normative Version einer restlos integrierten Gesellschaft entziehen kann. Sie ist »Möglich­ keit«, aber die Drift zur desintegrativen Gesellschaft ist immer mit zu bedenken. Denken wir an den Anspruch der Inklusion, der als Reformge­ danke und konkretes Projekt zu verwirklichen ist. An der grundlegen­ den Überzeugung, dass sich alle Personen in einer inklusiven Kultur begegnen, sie also keinerlei qualifizierende Merkmale benötigen, um Respekt zu erfahren, steht außer Frage. Aber die Bedingungen, unter denen eine politische, auch eine demokratische Gesellschaft inklusive Strukturen bestimmt, bleiben der demokratischen Selbstverständi­ gung überlassen. Welches Bild des Politischen kann man folglich in der modernen Gesellschaft zugrunde legen? Sicherlich nicht mehr jenes Bild des territorialen Staates, der auf einem festen, umzäunten Grund stand. Der gegenwärtige Staat, der viele zu Unrecht mit dem in Europa entstandenen Nationalstaat gleichsetzen, garantiert Rechte, aber er genügt nicht mehr Bild einer Einheit von Volk und Boden. Mit dem Ende des Staates, den wir aus den Überlieferungen kennen, ist nicht zwangsläufig das Ende der Politik oder gar das Ende der Demokratie verbunden. Obwohl Phänomene der Zersetzung durchaus beobachtet werden können, sind die Sachverhalte differen­ zierter zu betrachten. Welche Kategorien stellt die politische Theorie zur Verfügung, um in dem Dickicht der Moderne einen Überblick zu behalten? Wie ist dem Vorwurf theoretisch zu begegnen, dass wir in postdemokratischen Zeiten, inmitten einer Mediokratie leben, die vielfältige Symptome an die Oberfläche spült? Der Rückgriff auf die Unterscheidung von System und Lebenswelt bei Jürgen Habermas bietet sich an; ein Rückgriff, der gleichsam daran erinnert, was Politik sein sollte und welchen Zwecken sie unterworfen wird. Eine Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Mediatisie­ rung der Politik wäre an diesem Punkt ein Desiderat. Die gängige Vorstellung, dass Politik nur dann gemacht werden könne, wenn sie die Spielregeln der Mediengesellschaft beherrscht, wäre zudem zu prüfen. Leitmotivisch legt sich die Unterwerfung der Politik durch die Medien nahe; der Akt der Unterwerfung sichert demnach Ressourcen

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der Macht. Aber das Bild ist wohl zu einfach gedacht, denn es geht nicht um die Kategorie der Dominanz, sondern eher um das Wechsel­ spiel von demokratischer Handlung und medialer Darstellung. Erst wenn die mediokratische Transformation der Politik zu befürchten steht, hat man es mit einer ernsthaften Kolonisierung der Politik zu tun. Der historisierende Rückblick auf die Entstehung der pluralisti­ schen Gesellschaft wird hier jedoch zunächst eine paradoxe Entwick­ lung erkennen310. Dass sich die Politik den Medien unterwirft, indem sie deren Spielregeln übernimmt, ist ein einseitiges Bild. Denn: demo­ kratische Gesellschaften sind gezwungen, die Bedingungen der Politik weitestgehend offenzulegen und die Darstellungsseite der Politik zu pflegen. Die Transparenz politischer Verfahren ist eine Errungen­ schaft; vormoderne Gesellschaften lebten meistens im Schatten der Arkanpolitik. Voraufgeklärte Politik war die Politik der Kabinette, die das einfache Volk nichts angingen, die Abläufe im Zentrum der Macht blieben verschwiegen. Inwiefern sich heute Tendenzen der Verdich­ tung oder der Offenlegung durchsetzen, ist anderen Entwicklungen geschuldet. Entscheidende Teile der politischen Prozesse werden hin­ ter Sichtblenden der Öffentlichkeit verborgen; aber hierbei handelt es sich um den Dualismus von Darstellungs- und Herstellungsseite311. Die Frage, was genau Politik ihrem Wesen nach ist, wäre insofern mit Blick auf das Publikum zu beantworten: Politik ist Darstellung, besser gesagt: sie reduziert sich auf das Dargestellte, das sich in ansprechender Form als eine Handlung, eine Entscheidung, eine Vorlage oder Initiative darstellt. Nur durch das große Raster der Medienaufmerksamkeit kann dieses Bild der Politik bewahrt werden. Das politische System beugt sich der Tendenz des Inszenierungs­ drucks, aber nicht in einseitiger Dominanz. Macht ist auf beiden Seiten verteilt und gemeinsam webt man an einem Netz von Inszenie­ rungen, das unter der Prämisse größtmöglicher Informationsteilhabe statt findet. Auf dem Gipfel der demokratischen Mitentscheidung wachsen daher paradoxerweise Unzufriedenheit, Distanz und Ent­ fremdung312 .

310 Im folgenden: Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 85–93. 311 Ebd., S. 87. 312 Ebd., S. 89.

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Um eine Form der Kolonisierung handelt es sich insofern, weil ein Handlungsfeld durch die Maßgaben und Regelungen eines ande­ ren Funktionsbereichs okkupiert wird. Das ursprüngliche Motiv bei Habermas zielt auf die ursprüngliche Dimension der Lebenswelt313; eine Sphäre, in der sich Menschen begegnen und sich in der Freiheit ihrer Gedanken miteinander verständigen. Wird diese Lebenswelt kolonisiert, durch Systemzwänge, Geldtransaktionen oder durch die schlichte Macht, verliert sie einen Großteil ihres Wertemaßstabs. Und um so dringlicher erscheint es, die Politisierung auf jenem Feld zurückzugewinnen, auf dem sie in konstruktive Bahnen gelenkt werden kann. Der Verlust des Politischen ist eine Abstraktion. Denn Wahlen werden weiterhin abgehalten; politische Pläne in der Öffentlichkeit verhandelt, Visionen einer besseren Gesellschaft von morgen werden thematisiert, usw. Die Behauptung, in ein Stadium des Postdemo­ kratischen eingetreten zu sein, trägt insofern einige Begründungslas­ ten. Es handelt sich halt um eher schleichende, subkutane Prozesse, mit denen Maßstäbe verschoben werden und die behauptete Koloni­ sierung eines Bereichs vollkommen unverzerrter Verständigung ist schwer zu belegen. Eine technikphilosophische und soziologische Bestimmung führt die Überlegungen in eine andere Richtung. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Menschen als einem herstellenden und hervorbringenden Wesen und einer Kulturstufe der Technisierung ist entscheidend. Die Moderne wird in diesem Sinne gern als eine Epoche umschrieben, die Schübe der Technisierung erfährt. Aber diese neuen, innovativen und revolutionären Techniken sind nichts, was sich von außen in einer Gesellschaftsform dazu gesellt. Vielmehr ist aus technikphilosophischer Sicht zu sagen, dass die Technik im umfassendsten Sinne unsere Beziehungen zu den Dingen formiert. Historische Entwicklungen vollziehen sich unter technologischen Bedingungen314. Wir leben gewissermaßen im Bewusstsein des ein­ verleibten technischen Fertigkeitswissens. Man kann den Unterschied präzisieren. Die Moderne unterlag einem industriellen und mechanischem Strukturwandel. Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert domi­ nierte die Logik der Funktionalität: Die Paradigmen von Schwerindus­ 313 314

Habermas, 1988, S. 281 ff. Alfred Nordmann: Technikphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius 2008.

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trie, Stahl, Elektrifizierung schufen neue Arbeits- und Lebensformen. Neue Sozialtypen entstanden: der Ingenieur einerseits und der Arbei­ ter andererseits. Letztere Figur war ein politisches Subjekt, das sich Rechte erstreiten musste, er war aber auch ein Objekt in neuen, standardisierten Industrien der Produktion. Die Spätmoderne bringt demgegenüber neues technisches Wis­ sen und neue Sozialformen zum Vorschein. Sie wird zumindest nicht mehr mit den Begriffen des technischen und affektreduzierten Habitus angemessen erfasst. Andreas Reckwitz spricht hier von einer Kulturmaschine der Digitalisierung, die sich von der industriellen Logik weit entfernt hat315. Die Spätmoderne kehrt die Bedeutung der Technik um: sie handelt von offenen, kybernetischen Maschinen, weit entfernt von den Paradigmen der Disziplinierung. Die digitalen Kul­ turmaschinen regeln die Alltagspraxis der Subjekte, sie bestimmen die Art und Weise zu konsumieren, zu reisen oder der Anbahnung von Partnerschaften. Sie sind in dem Sinne als Kulturformate rich­ tig begriffen. Welche Gesellschaft sich damit formiert, steht in Frage. Noch undeutlicher sind die Aussagen, die man mit Blick auf die helfenden Professionen treffen kann. Reckwitz bemüht scheinbar globale Kate­ gorien, wenn er betont, dass das wirkmächtigste Merkmal der Com­ putertechnologie in der Allgegenwart von Kultur und von Affektivität läge316. Diese Position geht über die konsensfähigen Forderungen nach Partizipation hinaus; wenn etwa gefordert wird, dass alle, eben auch marginalisierte oder von Armut bedrohten Individuen digitale Teilhabe ermöglicht werden sollte. Näher an die These der Kultur­ maschine kommen wir, wenn man die vielfältigen Kulturformate in Rechnung stellt: eben nicht nur Texte, sondern Formate mit narrativer, ästhetischer, gestalterischer, ludischer und moralisch-ethischer Qua­ lität. Mit anderen Worten: der Bereich der sozialen Daseinsgestal­ tung, der von den Sozialen Diensten unterstützt wird, müsste gewis­ sermaßen auf seinen nicht-technologischen Wesenskern zurückge­ führt werden. Die interaktiven und kommunikativen Kernbereiche der Sozialen Arbeit haben eine Bedeutung, die den Erwartungen an Systematik, Rationalisierbarkeit und Standardisierung ein Stück weit widerspricht. Die Professionslogik ist autonom: und das bedeutet, sie 315 316

Andreas Reckwitz: Die Gesellschafft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp 2018. Ebd. S. 234.

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bestimmt über die nicht-technischen Aspekte der kommunikativen Qualität helfender Beziehungen. So sehr alle fachlichen Entscheidun­ gen auf einer wissenschaftlich fundierten Reflexionsgrundlage auf­ ruhen, so kann sich die Lebensdienlichkeit der professionellen Hilfe nie restlos auf die exakte Anwendung von Qualitätshandbüchern oder vorformulierte Standards verlassen. Die Soziale Arbeit benötigt immer Spielräume, in der über die fachlich richtige Entscheidung, über das Gelingen oder das Misslingen eines Arbeitsbündnisses, über Ressourcen und Hilfen entschieden wird – und diese Vorgänge benötigen eben einen unverfügbaren Eigensinn und Eigenzeiten. Kann man schließlich davon sprechen, dass das Politische »wie­ dergewonnen« werden kann und sollte? In einem fiktiven Bild, auf dem etwa Geländegewinne zu verbuchen wären oder ein Stück ver­ lorener Raum erobert wird? Diese Metaphorik ist schwierig, denn sie unterschlägt, dass wir in der Spätmoderne kein Außen mehr kennen. Gerade im Kontext einer digitalen Gesellschaft aber wird ein anderer, vermeintlich besserer Raum des Politischen vorgestellt, der die überlieferten Motive der Demokratie mit den Widersprüchen der Gegenwart vereint. Die Schwäche des Politischen wird im Allgemeinen mit den Einschränkungen der nationalen Parlamente und dem Legitimitäts­ verlust politscher Herrschaft – prototypisch erkennbar in den westli­ chen Demokratien – verknüpft. Alternative Formen der Herrschaft werden diskutiert, wobei der erwähnte Konnex von digitaler Technik und demokratischer Herrschaft mit optimistischem Unterton heraus­ gehoben wird. Die Erneuerung des Politischen vollzieht sich als Revitalisierung der Zivilgesellschaft. Liegt auch Ulrich Becks Titel der »Erfindung des Politischen«317 bereits mehrere Jahrzehnte zurück, so wird doch der Gedanke immer wieder aufgegriffen: Zwischen der liberalen und der kommunitaristischen Variante des Gesellschafts­ vertrags zeichnet sich eine dritte Variante ab. Auf welcher Basis regeln die Menschen die Formen der Vergemeinschaft? Die liberale Gemeinschaft setzt auf den Markt und somit auf Freiheiten; kommu­ nitaristische Versionen betonen die Einbettung in subsidiäre und solidarische Näheverhältnisse. Überraschenderweise wird den virtu­ ellen Gemeinschaften in digitalen Welten das Potential einer starken Demokratie zugeschrieben. »Viele bürgerschaftliche Vereinigungen 317 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie der reflexiven Modernisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

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im sozialen und kulturellen Bereich und insbesondere die sozialen Bewegungen entsprechen im Hinblick auf ihre Organisationsformen und normativen Prinzipien dem Internet. Diese Gruppen sind oft lose und territorial dezentral organisiert, haben eine nur schwach ausge­ prägte Hierarchie und demokratische oder meritokratische Strukturen und sie sind offen für und angewiesen auf aktive Partizipation.«318 Die zukünftige Gesellschaft, wie sie hier geschildert wird, wäre demnach weiterhin eine offene Gesellschaft – auch wenn die gegen­ wärtigen Diskurse in eine ganz andere Richtung zeigen. Mobili­ sierung, Selbstorganisation und diskursives Argumentieren zählte demnach zu jenen Kernbestand des Politischen, der in der digitalen Moderne lediglich einen Formwandel verzeichnet. Von einem alternativen Standpunkt aus erscheinen die Dinge in einem anderen Licht. Denn es sind ja genau die Entgrenzungspro­ zesse in einer zunehmend verunsicherten Spätmoderne, die sich als problematisch erweisen. Über den sozialen und politischen Wandel ist hinauszudenken; wenn auch zeitliche und räumliche Grenzen überwunden werden, wenn auch neue Technologien global verbreitet und neue Formen des Politischen erschlossen werden, so steht in Frage, wie sich die politische Architektur des 21. Jahrhunderts über­ haupt darstellen lässt. Die gegenwärtigen »Stimmungen« zeugen von Ängsten und Projektionen. Die Nationalstaaten geraten in Krisen, die sie mit den herkömmlichen politischen Mitteln nicht bewältigen können. Die erwähnten politischen Neuschöpfungen tragen zur Zeit noch nicht so weit, dass sie den einhergehenden Verlust kompensie­ ren könnten. Die Einbußen an Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind mit den skizzierten Mitteln der Spätmoderne, also mit Hilfe eines ideologischen Kraftzentrums schwerlich auszugleichen. Für eine poli­ tisch integrierte Weltgesellschaft, die sich zumindest das Gespür für kosmopolitische Reflexivität bewahrt, gibt es weder ein historisches Modell noch ein reales »Vorbild«. Und es steht abzuwarten, ob sich die formierende Weltgesellschaft in Sackgassen wiederfindet, weil ihr das Fehlen eines Außen gleichsam als Verdikt erscheint – oder ob es mit politischen und vorpolitischen Mitteln gelingt, zu einer Selbstbeschreibung zu finden, die ohne die bewährte Mechanik der Exklusion auskommt.

318 Raymund Werle: Das Gute im Internet und die Civil Society. In: Allmendinger 2001, S. 454–475

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Eine solche »Schicksalsgemeinschaft«319 müsste den offenen Blick für die Adressaten und Adressatinnen der Sozialen Arbeit bewahren, Kräfte im Globalen und im Lokalen freisetzen und sich stärker als zuvor dem weltgesellschaftlichen Rand zuwenden. Versuchen wir zu entschlüsseln, wie sich die diese Lebenswelt und die »Globalisierung« als Machtverhältnis zueinander in ein Ver­ hältnis bringen lassen. Die kritischen Stimmen dominieren zwangs­ läufig: die Globalisierung, also die weltweite Vernetzung von Politik und Wirtschaftsbeziehungen wird nicht selten als eine anonyme, gleichsam naturalistische Macht verstanden. Sie entzieht sich der Ver­ fügungsmacht der nationalstaatlichen Politik und verschärft demnach die sozialen Spannungen. Nicht selten wird sie als eine Lebensform vorgestellt, als koloniale oder gar als feindliche Macht gegenüber der Lebenswelt. Ob man diese Einschätzungen teilt oder nicht – es bleibt trotz allem unverzichtbar, nach politischen Gestaltungsformen zu forschen. Der Begriff der Global Governance bezeichnet im Allgemeinen den Versuch, die politischen Verhältnisse auf globaler Ebene zu gestal­ ten. Der Gedanke, die Welt zu regieren, führt jedoch in die Tiefe poli­ tischer Konstellationen, die komplexer und widersprüchlicher nicht sein könnten. Der Anspruch des Weltregierens und die Wirklichkeit der zwischenstaatlichen Dimension klaffen weit auseinander. Machtund Herrschaftskritik sind stets unverzichtbar, aber der Regelungs­ bedarf auf internationaler Ebene bleibt ja bestehen. Ambitionierte Entwürfe für die Politik in der postnationalen Konstellation liegen vor320, aber sie werden von der politischen Realität immer wieder überholt. Es kann insofern hier nur darum gehen, die grundlegenden Probleme zu diskutieren. Der Anspruch des Weltregierens ist nächst unabweisbar. Denn auf allen, für die sozialen Professionen relevanten Ebenen ist ein Regelungsbedarf vorhanden: Staaten und internationale Organisa­ Bähr et. al. 2014, S. 15; Rudolf Stichweh: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010. 320 Dirk Messner/Franz Nuscheler: Global Governance. Herausforderung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. In: Senghaas, D. (Hg.): Frieden machen. Frankfurt a. M. 1997, S. 337–361; John W. Meyer: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt a. M. 2005; Hans Küng/Dieter Senghaas (Hg.): Frie­ denspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Politik. München/Zürich: Piper 2003 Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München: C. H. Beck 1999. 319

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tionen, NGOs und Wirtschaftsunternehmen, soziale Gruppen und soziale Bewegungen beteiligen sich an dem komplexen Prozess der Erzeugung und Durchsetzung internationaler Regeln. Im Blickpunkt steht die Lösung komplexer sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Konflikte – und die Probleme sind bekanntlich auf eine Weise dringlich, dass man nur zögerlich von gelingender Kooperation sprechen kann. Dem Gedanken der Weltpolitik liegt insofern ein prinzipieller Projektcharakter zugrunde. Sowohl die dringenden ökologischen als auch die sozial- und wirtschaftspolitischen Probleme sind freilich als Herausforderungen zu betrachten, die schwerlich mit sozialtechnologischen Lösungen zu vereinbaren sind. Selbst wenn man davon ausginge, dass es ein kom­ paktes Wissen über die Bedingungen aller globalen Probleme gäbe, das jedem verfügbar ist – so besteht die eigentliche Schwierigkeit in der Koordination und Abstimmung über die richtigen Interventionen. Die Lösung globaler Probleme erfordert Anpassungen, Kompromisse, Abstimmungen und Regelungen im Horizont knapper Mittel; und die Politik auf dieser Ebene beginnt gleichsam erst an dem Punkt der Einsicht in die Unverfügbarkeit der sozialen Instrumente. Weder die moralische Einsicht in die Notwendigkeit noch die konkrete Einführung von Regeln erzeugt eine hinreichende Verbindlichkeit. Welche Formen des Weltregierens sich in Zukunft durchsetzen werden, ist eine offene Frage. Es bieten sich verschiedene Szenarien an, die »Theorie« bleiben und sicherlich nicht dem Anspruch auf prognostische Sicherheiten genügen. Aber immerhin kann man in grober Vereinfachung von verschiedenen Modellen des Weltregierens ausgehen: von einem Weltstaat mit hierarchischen Ordnungsprinzi­ pien, ferner von einer hegemonialen Situation, in der sich manche Staaten hervordrängen und die Anarchie der Staatenwelt nach ihrem Gutdünken dominieren. Schließlich aber wäre es auch denkbar, Politik in der Weltgesellschaft in horizontalen Bahnen verlaufen zu lassen. Diese Möglichkeit ist wünschenswert und normativ überzeugend; sie geht – anders als skeptisch-realistische Varianten – davon aus, dass Staaten sich selbst auf Normen verpflichten, dass sie internationale Regeln befolgen und dass insgesamt das Zusammenspiel durch Sank­ tionen und Selbstbindungen reibungslos funktioniert321. 321 Volker Rittberger: Weltregieren: Was kann es leisten? Was muss es leisten? In: Hans Küng/Dieter Senghaas (Hg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internatio­ naler Beziehungen. München/Zürich: Piper 2003, S. 177–198.

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Aber hierbei handelt es sich eben um eine kontrafaktische Welt. Verschiedene Gründe tragen zum Misslingen oder zum Scheitern einer solchen Transformation bei, die in diesem Sinne auf anerkannte Normen und internalisierte Werte abgestellt ist. Die Welt der interna­ tionalen Beziehungen scheint diesem Modell nicht zu entsprechen, ganz einfach weil die Welt an sich fragil, brüchig, unvollkommen und riskant ist. Eben darum gibt es Befürworter eines Weltstaats, weil der Gedanke der wirksamen Zusammenarbeit auf globaler Ebene als utopisch erscheint. Ein Weltstaat würde sich dem globalen anar­ chischen Zustand mit geeigneteren Mitteln nähern; er würde nicht alle Aufgaben an sich ziehen, die der einzelstaatlichen Verantwortung unterliegen, er würde vielmehr als subsidiär verfasster, minimaler Weltstaat jene Probleme bearbeiten, die sich im Kontext der Einzel­ staaten als unlösbar erweisen. Wo steht in diesem unübersichtlichen Feld die Disziplin der sozialen Arbeit, deren politische und normative Anliegen ja höchst legitim sind? Es wäre falsch, hier Verallgemeinerungen anzubringen, die der Sache nicht gerecht werden. Vorrangig ist aus naheliegenden Gründen eine sozialkritische Perspektive, die sich auf die offensicht­ liche Ungerechtigkeit des Weltzustands konzentriert. Aber die Form der Kritik ist nicht einfach mit der Kritik an der hegemonialen Ordnung gleichzusetzen, denn sie thematisiert die intransparenten Bedingungen der Macht in der internationalen Konstellation. Die Idee der Hegemonie besagt, dass es in der politischen Welt hegemoniale Akteure mit ausgezeichneten Machtressourcen gibt, die in der Lage sind, internationale Regelungen zu generieren und die Machtverhält­ nisse einseitig zu beeinflussen. Die Verfassung der Welt ist demnach nicht auf alle Beteiligten im gleichen Maße zugeschnitten, sondern primär auf die Interessen der hegemonialen Staaten. Der Hegemon profitiert von der Ordnung, die er selbst geschaffen hat und deren Spielregeln er beeinflussen kann. Die Kritik an diesen Verhältnissen, die der Realität des 21. Jahrhunderts wohl am nächsten kommt, ist freilich ambivalent und vielschichtig. Sie setzt zum einen an der unguten Hierarchie der Staatenwelt an, die ein Zentrum, bzw. eine »erste Welt« von einem »Rest« oder einem »Rand« abgrenzt. Die koloniale Vergangenheit hat ihren Teil zu diesem Zustand beigetragen. Schwierig wird die dringliche Kritik des Bestehenden aber, weil die partikularen Interessen oft im Gewand einer universalen Ordnung auftreten, zudem aber auch, weil der Besitz der überragenden Macht­

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mittel die Gefolgschaft anderer Staaten sichert. Eine hegemoniale Ordnung ist nicht auf Macht und rücksichtslose Gewalt zu reduzieren, sondern auch auf die Bereitstellung öffentlicher Güter, auf den Erhalt internationaler Stabilität und Sicherheit, nicht zuletzt auf die Konti­ nuität wirtschaftlicher Austauschbeziehungen. Es sind ungeklärte, unabgeschlossene Positionen, die hier immer nur umkreist werden können und sich einer endgültigen Lösung entziehen. Sie werden im folgenden wiederholt zur Sprache kommen; unabweisbar aber erscheint die Einsicht, dass die politischen und kosmopolitischen Dimensionen nicht für sich stehen können. Erst wenn wir die Großformen von Frieden und Krieg – im weitesten Sinne – in die Überlegungen aufnehmen, schließt sich der Kreis: der Horizont des Allgemeinen.

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Vierter Teil: Frieden und Krieg im sozialpädagogischen Diskurs der Moderne

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XVI. Gesichter der Gewalt

Es gibt Schriften, die den Nerv einer Zeit treffen. Nicht nur, weil sie prognostischen Wert haben oder eine herannahende Krise erkennen. Sondern weil sie Aussagen ermöglichen, die dem Zeitgeist zuwider­ laufen. Als Bertha von Suttner 1889 den Roman mit dem Titel: »Die Waffen nieder« veröffentlichte, wollte sie zeigen, was Kriege anrichten und welche Grausamkeiten auf den Schlachtfeldern von den Geschichtsschreibern, Nationalpatrioten und Bellizisten ihrer Zeit verborgen wurden322. Die Autorin schrieb unter dem Eindruck der österreichischen und preußischen Kriege; aber sie hatte mögli­ cherweise eine Ahnung von den Verheerungen, die die kommenden Kriege des 20. Jahrhunderts anrichten würden. 1905 mit dem Nobel­ preis ausgezeichnet, blieb die Schrift jedoch in einer defensiven Posi­ tion. V. Suttner schrieb und kämpfte gegen die »Moral« ihrer Zeit. Ihr Engagement brachte ihr nicht nur Anerkennung, sondern durchaus auch Häme und Verachtung ein. Der Krieg, den sie in all seiner Grausamkeit verachtete, war für die bürgerliche Moral ein sittliches Stärkungsmittel. Krieg brachte die Zivilisation voran, so glaubten viele im sozialdarwinistischen Eifer, er sei eine Idee, mit der sich die Notwendigkeit des Kampfes der Nationen verwirklichen ließe. Der tiefe Ernst, mit dem eine Friedensaktivistin diesen Irrglauben bekämpfte, fand in einer Männerwelt kein Gehör. Und der Gedanke, die Waffen zu strecken, erschien der herrschenden Klasse als Feigheit, wenn nicht gar als »Verrat an der Geschichte selbst«323. Die Person Bertha v. Suttners hat sich bei allen Niederlagen den Status einer Ikone erhalten. Aber es fällt schwer, eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen, in der Krieg weiterhin ein unerklärliches Phänomen

Bertha von Suttner: Die Waffen nieder. Eine Lebensgeschichte. Erstdruck: Edgar Pierson 1889. 323 Phillip Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München: dtv 2011, S. 220. 322

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ist und in der nach wie vor einzelne Gestalten für den Frieden einstehen wollen. Von der Stimmung vor dem Beginn des ersten totalen Krieges zur Gegenwart: heute ist der Krieg offiziell geächtet, er ist zumindest kein legitimes Mittel in der modernen Staatenwelt. Um Macht und Ein­ fluss, Ressourcen und Räume wird gleichwohl weiterhin gekämpft. Aus den Kriegen der Nationen sind Weltbürgerkriege geworden. Und doch lassen sich Parallelen herstellen: zerstörerische Ideologien stehen gegen den unermüdlichen Einsatz der Friedensaktivistinnen, industriell und technologisch geführte Kriege gegen die Vernünftig­ keit des Gewaltverzichts. Viele Personen der Zeitgeschichte wären zu nennen, die das Erbe Bertha v. Suttners fortführen. Fausia Kufi ist eine davon. 1975 als 19. Kind eines Stammesführers in der Provinz Badachschan geboren, war sie zunächst an der Fakultät für Medizin in Kabul eingeschrieben, bis 2001 die Taliban in Afghanistan die Staatsmacht okkupierten. Frauen wurden entrechtet und einer Gewalt ausgesetzt, von der man nur spärliche Informationen aus Berichten der Betroffenen erhält. Gegenwärtig (Ende 2020) ist Fausia Kufi Teil einer von der afghani­ schen Regierung eingesetzten Delegation, die Verhandlungen mit den Taliban führt. Weder Attentate noch Anfeindungen hatten Kufi davon abhalten können, sich der Sache des Friedens in ihrem Land zu verschreiben, einem Kampf, der mit politischen Mitteln geführt werden sollte324. Diese Erzählungen sind zutiefst ambivalent. Verhandlungen mit den Taliban erscheinen nicht nur aus der Distanz des westlichen Beobachters als höchst problematisch. Seit den Verhandlungen im Jahr 2009 war der Einfluss der Taliban gestiegen; Frauen wurden nicht nur als nachrangig gegenüber Männern erachtet, sondern einer offiziell sanktionierten Gewalt ausgesetzt. Die politischen Reformen, für die sich Kufi vehement einsetzt, erscheinen angesichts der offenen Misogynie als bizarr. Aber der Weg der afghanischen Gesellschaft ist eben keiner, der sich mit dem Weg des Westens in irgendeiner Weise vergleichen ließe. Der Versuch, diese politische Nachricht in eine Theorie einzu­ binden, ist äußerst mühsam. Die spärlichen Informationen über die Bedingungen des politischen Handelns verhindern substantielle Fausia Kufi: Nur eine Tochter. Eine Frau verändert Afghanistan. (Übersetzung: Anne Emmert). München: Goldmann 2012.

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Aussagen. Aber das bloße Bild ist doch zugleich von einer sozial­ theoretischen Eindringlichkeit: es sitzen Akteure an einem runden Tisch, an dem Verhandlungen stattfinden – und begegnen sich damit zwangsläufig auf einer Augenhöhe. Es werden Übereinkünfte und Regelungen gesucht, ohne jede Garantie, dass sie in einen längerfris­ tigen Konsens münden. Es scheint sich hier also ein Möglichkeitsraum des Politischen zu öffnen. Es ist die Frage, mit welchen Mitteln der Erkenntnis man diese Suche nach einer politischen Form zwischen Ungleichen bewerten will. Können wir in diesem unwahrscheinlichsten aller Fälle Belege finden, dass eine Form der politischen Vernunft sich in einem Land bewähren kann, das seit Jahrzehnten von Krieg und Besatzung in ein Chaos gestürzt wurde? Wie ist überhaupt die Tatsache zu bewerten, dass »Parteien« sich an einen Tisch begeben, um die Zukunft eines Landes in bestimmte Bahnen zu lenken; wobei die eine Partei als gemäßigter Abkömmling einer gewaltfähigen, fundamentalistischreligiösen Bewegung gilt? Und welche Theorie wird benötigt, um diese gleichsam irritierenden Phänomene auch normativ zu bewer­ ten? Die letztere Frage steht im Zentrum der vorliegenden Reflexion. Die Schwierigkeiten zeigen sich zuerst im Kontext jener sozial­ theoretischen Tradition, die vielleicht den größten Einfluss auf poli­ tiktheoretische Wahrnehmungen hat: die Theorie verständigungsori­ entierten Handelns der Diskurstheorie325. Diese rückt bekanntlich ideale Verfahren der Normbegründung in den Mittelpunkt; sie stellt darüber hinaus die Kriterien einer postkonventionellen Ethik zur Ver­ fügung, die sich im Zuge der vernünftigen Einigung aller Betroffenen in einem offenen, herrschaftsfreien Diskurs zeigen. Der emanzipato­ rische Gehalt dieser Theorie verbirgt sich in dem Versprechen, wel­ ches allein von der Macht der symmetrischen Kommunikation erfüllt wird: lesbar in jeder vernünftigen Übereinkunft und jedem mühsam errungenen Kompromiss in herkömmlichen politischen Situationen. Sobald sich die Menschen in einen kommunikativen Raum begeben, in dem sie einander mit Rede und Gegenrede begegnen, wachsen die Möglichkeiten regelbasierter Ordnungen. Es ist das emanzipatorisch 325 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988; Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996; Ders.: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Ferner in internationaler Perspektive: Nicole Deitelhoff: Überzeugung in der Politik. Grundzüge einer Theorie internationalen Regierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

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orientierte Versprechen, dass sich die Legitimität einer Ordnung an der prozeduralen Logik des Zusammenhandelns messen lässt. Ist aber bereits das Motiv des Diskursiven hinreichend, um zu garantieren, dass in diesem Fall die Verständigung über die Feindschaft obsiegt, dass also an die Stelle der negatorischen Gewalt die horizontale Begegnung tritt? Von verschiedenen Seiten her sind Vorbehalte angezeigt. Die folgenden Reflexionen werden diese nicht aus der Welt schaffen; ebenso wenig wie die elementaren Widersprüche, die sich jedem ent­ fernten Beobachter zeigen. Dem Ziel, einen Friedensprozess in Gang zu bringen, Frieden also überhaupt als kategoriale Möglichkeit in die Nähe zu rücken, steht die gewaltsame Realität entgegen. Daher ist jede Reflexion von außen, noch dazu, wenn sie mit einem Minimum an sachlichen Informationen einher geht, grenzwertig und riskant. Allein die Tatsache, dass die Verhandlungen von der anhaltenden Gewalt überschattet werden, dass es weiterhin zu Anschlägen und Angriffen kommt, verhindert eine widerspruchsfreie Analyse der Friedensgespräche. Ebenso problematisch erscheinen die Szenarien eines zukünftigen islamischen Emirats, bei der die Scharia an die Stelle der gegenwärtig geltenden Verfassung der islamischen Repu­ blik Afghanistan treten soll. Die reale Gewalt – dazu zählt natürlich die inferiore Rolle der Frauen oder die Beschneidung elementarer Freiheitsrechte – führt den Gedanken eines denkbaren Friedens an Grenzen. Gleichwohl wird man der Aussage nicht widersprechen, dass nach jahrzehntelangem Blutvergießen dem Frieden eine unbedingte Priorität einzuräumen ist. Die Frage, wie sich die zukünftige Gesellschaft entwickeln wird, ob sie in der Lage ist, den Schatten des Krieges abzuwerfen, stimmt nicht nur skeptisch. Sie verhindert auch eine gewöhnliche Reflexion, die sich auf die Eckpfeiler einer Friedensgesellschaft meint stützen zu können. Worum es im folgenden gehen kann, ist im Grunde lediglich der Versuch, Wege aus den Antinomien einer Gesellschaft aufzuzei­ gen, die keinen bekannten historischen und friedenstheoretischen Vorgaben entsprechen können. Es gibt schlichtweg keinen Pfad, der in diesem Fall zurückzuverfolgen ist, keine historische Erfahrung, die sich auf diese Situation übertragen ließe. Was vom vorliegenden Standpunkt Sinn ergibt: Sinnkriterien der Gewalt und des Gewaltverzichts zu reflektieren, die sich in phänomenologischer Abstraktion aufweisen lassen. Diese Kriterien bilden sicherlich kein Fundament, auf dem man eine bessere oder

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1. Phänomenologie der Gewalt

gar gewaltfreie zukünftige Ordnung errichten könnte. Sie dienen hier vor allem dem Zweck einer fundamentalanthropologischen Ausein­ andersetzung der Großformen von Frieden und Krieg und sie stellen jene Bedingungen heraus, unter denen die betroffenen Menschen ein­ ander ausgesetzt sind. Diese Bedingungen im Schnittfeld von Ethik und Politik, Recht und Gewalt führen an Grenzfragen, die nicht der Politikberatung dienlich sind, sondern einen Eigenwert von herme­ neutischen Grenzfragen für sich reklamieren können. Zu diesen Grenzfragen zählt die Bereitschaft, das Phänomen der Gewalt an sich zu betrachten (1). Die verschiedenen Gesichter der Gewalt sind zu konfrontieren, und erst vor diesem Hintergrund können Kriterien des Gewaltverzichts aufgewiesen werden (2).

1. Phänomenologie der Gewalt Frieden durch Recht – diese Formel ist vertraut. Sie geht auf die Bedin­ gungen eines zwischenstaatlichen Friedens zurück, der im Rückgriff auf Kant seit über zwei Jahrhunderten »erprobt« worden sind. In einem demokratischen Rechtsstaat kommt es darüber hinaus auf ein Gleichgewicht zwischen Menschenrecht und Staatsouveränität an. Seit den europäischen Verfassungsrevolutionen entscheidet das sou­ veräne Volk über die Geltung des Rechts. Dieses souveräne Können steht in einem diskreten Verhältnis zur Geltung der Menschenrechte; Volkssouveränität und Menschenrecht bilden gewissermaßen den unabweisbaren Zusammenhang geltenden Rechts. Politische Souve­ ränität enthält die Befugnis der gesetzgebenden Gewalt, die durch kein höheres Gesetz beschränkt werden darf; das »absolute Können des souveränen Gesetzgebers soll aber zugleich an ein »menschen­ rechtliches Dürfen«Klaus Günther: Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Men­ schenrechte. I gebunden werden, Dieses Spannungsverhältnis kann sich bekanntlich verschärfen in dem Moment, in dem die eine bestehende Legitimität gegen die andere ausgespielt wird. Weder ist also demo­ kratische Gesetzgebungsgewalt absolut, weil sie unter Umständen zur Überwältigung oder Exklusion einer Menschengruppe führen könnte. n: Wilfried Brugger/ Ulfried Neumann/ Stephan Kirste (Hg.) : Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 338–360, hier S. 339.

Klaus Günther: Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte. I

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Noch sind die Menschenrechte dahingehend zu verstehen, dass sie jeglicher Politik der Selbstermächtigung zu Diensten sind326. Selbst die moralische Evidenz vergangener Unrechtserfahrungen bildet kein hinreichendes Fundament für eine »reine« Ableitung einer Politik der Menschenrechte; diese ist nur soviel Wert, wie sie die Geltung der unübersteigbaren Schranke der Souveränität beachtet. Aber im vorliegenden Fall geht es zunächst nicht um die Deu­ tungen der Menschenrechte mit eher diskurstheoretischem oder mit liberalem Schwerpunkt, sondern in einem anderen Sinne um die theoretische Konfrontation mit der realen Gewalt. Dass Gewalt mit der Verletzung von subjektiven Rechten einher geht und dass diese negative Bedingung wie ein Verdikt für eine zu errichtende Ordnung erscheint, ist als ein negativer Befund festzuhalten. Es führt schlicht­ weg kein Weg an der Notwendigkeit vorbei, die reale Gewalt als solche zu denken. Damit hat die Soziologie in gewisser Weise ihre Schwierigkeiten. Obwohl Gewalt ein elementares Thema im Bereich der Politik oder im Sinne der Herrschaftsbegründung ist, ist doch der Umweg über die Phänomenologie der Gewalt bisweilen bemerkt worden. Die Soziolo­ gie schweigt angesichts der faktischen Gewalt – und die Vermutungen weisen berechtigterweise in die Richtung der Machtbeziehungen, die vom »eigentlichen« Interesse sind. Wenn Gewalt geschieht, vollzieht sie einen Bruch mit den bestehenden sozialen Beziehungen; sie ist ein Grenzgeschehen, weil sie als Akt das Interesse an der Stabilität der Machtbeziehung aufgibt. Nach der Gewalt gibt es scheinbar nichts mehr zu sagen und nichts zu beobachten. Gewalt erscheint anders gesprochen nicht als Modus sozialen Handelns, sondern als der Moment seiner Infragestellung. Macht vermittelt in Form der Gestaltung und sie droht mit der möglichen, aber meist vermiedenen Gewalt; erst die Gewalt selbst verlässt diesen kommunikativen und sozialen Raum. Sie stiftet nichts und erhält nichts, sondern sie konsta­ tiert das Scheitern aller vorhergehenden Bemühungen. Systematisch

326 Ingeborg Maus: Menschenrechte als Ermächtigungsnormen internationaler Poli­ tik oder: der zerstörte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie. In: Hauke Brunkhorst (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 276–292; Dies.: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011.

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1. Phänomenologie der Gewalt

unterbelichtet muss sie insofern ein Schattendasein im Horizont der großen Kommunikationsideale führen327. Der Weg der folgenden Analysen ist demgemäß auch keiner, der unmittelbar über diskursethische Voraussetzungen führt. Nicht in dem Sinne zumindest, in dem von einer idealen Kommunikations­ gemeinschaft ausgegangen wird, die eine gelingende Verständigungs­ praxis in greifbare Nähe rückt. Aus verschiedenen Gründen ist diese Position missverständlich für das folgende Anliegen; vor allem führt das idealistische Bild der Verständigung an den Sinnbedingungen unserer kommunikativen Praxis vorbei. Dies hat seinen Grund nicht in der erwähnten faktischen Gewalt oder in den »Abgründen« der Akteure, die hier, optimistisch gedacht, in einen konsensstiftenden Ordnungsrahmen geführt werden. Eher geht es um die phänomenologische Begründung des Nega­ tiven: die fragilen, brüchigen, opaken und misslingenden Bedingun­ gen der Redepraxis sind keine zufälligen Störungen einer ansonsten reibungslos ablaufenden Verständigung, sondern unausweichliche Bedingungen in einer humanen Grundsituation. »Kommunikation, die immer schon gelingt, ist keine mehr.«328 Damit ist nun nicht gesagt, dass in die geteilte Praxis, in der wir es miteinander aushalten müssen, von vornherein ein Moment der Gewalt eingearbeitet wäre. Noch ist eine Weltsicht zu verteidigen, die Gewalt gewissermaßen als den ausgeschlossenen Aspekt des Sozialen gleichsam begrüßt und als den eigentlichen Grund möglicher Politik ausweist – auf diesem Wege würde man sich unter Umständen in den Sackgassen des verhärteten politischen Existentialismus des 20. Jahrhunderts wiederfinden329. Die Gewalt zu denken, sie als Phänomen des Wirklichen zu vergegenwärtigen, ist hiergegen ein erster Schritt, um die vielfältigen Beziehungen zwischen Frieden und Krieg, Gewalt und Gewaltver­ zicht, Macht und Gegenmacht zu ergründen. In den Gesichtern der Gewalt finden wir keinen Beleg einer abgründigen, andersartigen 327 Jan Phillip Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Kon­ stellation der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Sigma 2006, S. 465–466. 328 Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 2000, S. 93. 329 Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin 1923; Ders.: Der Begriff des Politischen. München 1932; Ders.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1934 (1922); kritisch hierzu: Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004.

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Welt außerhalb eines hellen Zentrums, sondern eher Möglichkeits­ bedingungen einer menschlichen Welt: anthropologische Fragilität, Leidbedrohtheit, Gefährdetheit wie auch die schlichte Freiheit des Bösen. Die Möglichkeit der Verletzung ist moralkonstitutiv und gleichsam tief in die Sinnkonstitution unserer Praxis eingearbeitet330. Dies wird als Tatsache niemand bestreiten; es kommt insofern darauf an, auf welchem Grund man mögliche Sinnentwürfe, gedacht als Gegenentwürfe der kommunikativen Solidarität beschreiben will. Das Anwesen der Gewalt zuerst zu denken und es in einem zweiten Schritt von diesem Standpunkt aus als Gewaltlosigkeit zu beschrei­ ben: darin besteht der positive Beitrag der folgenden phänomenologi­ schen Reflexion. Was genau als Gewalt bezeichnet werden kann, steht als offene Frage unter philosophischen Gesichtspunkten im Raum. Eine Frage, die scheinbar immer nur umkreist und nie endgültig geklärt wird. Gewalt ist Gründungsgeschehen und Stiftungsgeste, sie begleitet den stolpernden Gang der Geschichte und macht sich als Geburtshelferin einen Namen. Schon der Versuch, die Gewalt unter einem einzelnen Begriff zu versammeln, erscheint selbst als gewaltsame Möglichkeit. Die Gewalt an sich ist schwer zu denken, sie wird immer mit einer Regularität, mit Sinn und Bedeutung beladen. Im erinnernden Rückblick werden wir unserer Verantwortung bewusst, exemplarisch zu beobachten am Diktum, es nicht zuzulassen, dass sich ein Geschehen wiederholt; das gewaltsame Ereignis ist insofern Mahnung, Drohung, Stütze und Maß, das in die Gegenwart einbricht. Naheliegend ist die Denkbewegung, die von der unauslöschlichen Gewalterfahrung zur Beendigung aller Gewalt durch Versöhnung führt. Und in Frage stünde letztlich »nur noch«, inwieweit das Unversöhnliche und Gegensätzliche in eine Form des vernünftigen Gewaltverzichts über­ führt wird – eine Täuschung insofern, weil auch diese nur mit und nicht ohne Gewalt gedacht werden kann331. Ein anderer gedanklicher Weg führt über die vielen Gesichter der Gewalt, die im Horizont bestehender Ordnungen bis zu einem letzten Gesicht führen, dem Antlitz des Menschen, das an die Möglichkeit der Ethik des Singulären erinnert. 330 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 165–175. 331 David Wood: Die Philosophie der Gewalt. Die Gewalt der Philosophie. In: Mihran Dabag/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hg.): Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. München: W. Fink 2000, S. 25–55.

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1. Phänomenologie der Gewalt

Gesichter der Gewalt zeigen sich im Moment einer Beziehung zwischen jemandem und einem anderen. Die Beziehung scheint sich dem analytischen Beobachter in mehrstelligen Relationen aufzulö­ sen: ein gewaltbereiter Akteur verletzt eine andere Person, während Dritte dieses Geschehen wahrnehmen, es beeinflussen oder beurtei­ len. Ein aktiver und ein passiver, ein gewalttätiger, handelnder und ein erleidender Teil wird unterschieden. In Frage steht aus phänomeno­ logischer Sicht dabei, inwieweit sich diese Unterscheidungen sauber und trennscharf aufrecht erhalten lassen. Um Gewalt zu sehen, ist es indes sinnvoll, sie als ein Geschehen zu begreifen, das immer ein Stück weit über die Intention, den reinen Willen, die Tat und die Beurteilung hinausweist. Gewalt ist Widerfahrnis, insofern der Akt der Zufügung einer Verletzung nicht mit der Verwirklichung eines Ziels zusammenfällt. Was als Gewalt geschieht, ist immer mehr als nur das Ergebnis eines Willens, der in die Tat umgesetzt wird. Sie ist zugleich Ausdruck eines performativen Widerspruchs, der über die interexistentielle Realität herrscht. Gewalt beginnt unter anderem im Moment der Definition des zwischenleiblichen Raums. Sie steht im Bann einer Ordnung, die ihr übergeordnet zu sein scheint und zugleich von ihr hervorgebracht wird. Auf die eingangs erwähnte Situation angewandt wäre zu klären, von welcher Art der Gewalt Fausia Kufi bedroht wird und worin das Motiv der Wiederholbarkeit und Regularität steht. Die afghanische Politikerin wurde, wie erwähnt, von Attentaten bedroht, sie war inso­ fern Zielobjekt einer Gewalt, die auf Vernichtung zielte. Zugleich wird sie »als Frau« in eine Ordnung projiziert, in der sie einen Großteil ihrer Rechte und Würde verlieren würde. Der Versuch, die gewaltsamen Bedingungen einer zu errichtenden Ordnung zu verstehen, führt uns zur Reflexion eines performativen Widerspruchs. Hintergrund dieser Überlegungen ist explizit nicht die Kultur des Islam, deren Vielgestaltigkeit und Anerkennung außer Frage steht. Es geht hiergegen um die sozialen Beziehungen in autoritären Gemeinschaften unter anderem islamistisch-fundamentalistischer Bewegungen. Die spezifische Menschenfeindlichkeit in Syndromen der Homophobie, des Sexismus oder des Antisemitismus wird in Sub­ kulturen ermöglicht, die durch einen kollektivistisch geprägten Ehrbe­ griff begründet werden. Kollektivistisch-autoritäre Gemeinschaften reduzieren die Individuen zu Repräsentanten eines übergeordneten

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Prinzips. Der Einzelne wird »zum Statthalter dieses Regelsystems, das nötigenfalls mit manifester Gewalt durchgesetzt werden muss.«332 Täter handeln vielleicht aus Überzeugung, aber auch als eine Instanz der Verwirklichung. Die Kategorie der Ehre dient in diesem Fall der Durchsetzung der Macht, der Bestätigung der kollektiven Selbstbezeichnung und zugleich der Abwertung des Opfers. Der instrumentelle Charakter der Gewalt tritt hier deutlich hervor, aber das eigentliche Motiv ist im Moment der Verdinglichung zu finden. Jemand, der als Inbegriff der Ehrlosigkeit bezeichnet wird, hat nicht nur Schande erzeugt, sondern wird mit der Schande selbst identifi­ ziert. In der existentiellen Lesart erst wird die Kategorie der Ehre bedeutsam: der Ehrverlust stellt eine Bedrohung für das gesamte Kollektiv dar; durch die Schande wird die gesamte Existenz affiziert. Die Sittlichkeit fällt hier mit der Mechanik der Exekution in eins. Die Rede von der Gewalt als Phänomen, Ereignis und Wider­ fahrnis legt Missverständnisse nahe. Taten haben intentionale und kausale Anteile, Täter einen unbestreitbaren Willen; eine Verletzung geschieht, weil ein Akteur eine Handlung vollzieht. Das Moment des Überschusses, das jeder Gewaltsituation zugrunde liegt, leugnet diese Anteile nicht. Zu betonen aus phänomenologischer Sicht ist aber das Erzeugen des performativen Widerspruchs, bei dem einem Gegenüber der Gewalttat etwas entzogen wird, das über die Zufügung einer augenblicklichen Verletzung hinausweist. Die Bedingungen dieses Entzugs sind als Sprach- und Bezugsgewalt erst aus der Distanz zu beurteilen. Aus einem adressierbaren Akt wird ein darstellender Akt, aus der Sprache der Konfrontation wird ein »Sprechen-über«Bernhard. Die Verletzung hebt die Bedingungen des gewöhnlichen Konflikts auf; mit einem mal handelt es sich nicht mehr um konfligierende Ansprüche oder den Kampf um etwas auf Augenhöhe, sondern um die Umwand­ lung einer Beziehung. Die »Urmetamorphose der Gewalt«333 entsteht im Moment, in dem aus einem Seinsanspruch eine negatorische 332 Miriam Mettler: Ehrkultur und Weiblichkeit. Zur Rolle der Frau bei der Repro­ duktion der autoritären Persönlichkeit im Islam. In: Katrin Henkelmann/Christina Jäckel/Andreas Stahl/Niklas Wünsch/Benedikt Zopes (Hg.) Konformistische Rebel­ len. Zur Aktualität des autoritären Charakters. Berlin 2020, S. 333–348, hier S. 336. Bernhard Waldenfels: Metamorphosen der Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesich­ ter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 135–155, hier S. 136. 333 Ebd., S. 137.

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1. Phänomenologie der Gewalt

Beziehung wird. Ein Anderer, der nicht sein soll, wird als Anderer in ein Raster gezwungen oder einer Gewaltsituation ausgesetzt. Eine Ordnung, in der etwa Mädchenschulen geschlossen werden, in der Frauen nur in Ausnahmefällen das Haus verlassen dürfen und wesentliche Freiheits- und Freizügigkeitsrechte entzogen werden, basiert offensichtlich auf der Negation von Rechten. Aber sie grün­ det zugleich auf einem Paradox der vernichtenden Gewalt, das den Gesichtsverlust des Subjekts intendiert. Dieser Akt der »Gesetzge­ bung« beraubt dem Anderen seinen Status subjektiver, unverlierbarer Würde, indem er aus einem Subjekt ein Ding macht. Ob man als Sklave in einer bestimmten Gesellschaft »behandelt« wird oder ob man als Frau in einer spezifischen Ordnung betrachtet wird – in dem Moment des Sprechens-über-den-Anderen ist der Moment der eigentümlich negatorischen Gewalt enthalten. Antje Kapust spricht in diesem Zusammenhang von der Gewalt der Bedeutung334. Gewalt als Bedeutung erscheint vertraut – Gewalt wird im Allgemeinen mit Sinn verknüpft und in die gesellschaftlichen Raster eingefügt. Die Gewalt als bloßes Ereignis sich selbst zu über­ lassen, ist scheinbar unmöglich – sie muss über sich hinausgedacht werden: als historische Notwendigkeit etwa oder legitime Handlung. Die Bedeutung von Gewalt kann im schlechteren Fall vollends in die Gewalt der Bedeutung umschlagen. Dies ist eben dann der Fall, wenn die Position der singulären Erfahrung außer Reichweite gerät und keine Anbindung mehr an die Singularität der Betroffenen mehr möglich ist. Es scheint sich hier ein philosophisches Dilemma anzudeuten. Die Überführung einer Gewalttat in eine juristische Sprache erscheint uns als notwendig und geboten. Denken wir ferner an die historische Vergegenwärtigung der historischen Gewalt des 20. Jahrhunderts – auch diese ist nicht nur als nüchterne Statistik auszuweisen, sondern diese Gewalt muss verstanden werden – also Objekt eines hermeneu­ tischen Verfahrens werden. Das Gleiche gilt für jede Situation, in der jemand Gewalt erlitten hat und diese Erfahrung in Kausalitäten, Fakten, Bedingungen und Bedeutungen aufgelöst wird. Die geforderte

Antje Kapust: Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 51–74. 334

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»Rückbindung an die Singularität des Opfers«335 ist insofern als ethi­ sche Position gründlich zu durchdenken. Aber mit welchen Mitteln? Die Reflexionen führen zurück an einen Ausgangspunkt der verdinglichenden Gewalt, die schon in der Sprache beginnt. Die Verletzung im Moment des Gewaltakts ist von der Perspektive des erleidenden Subjekts zu vergegenwärtigen. Dies bedeutet zugleich die Eigentümlichkeit der Umkehrung des gewöhn­ lichen Weltbezugs mit zu denken. Es kommt eine Asymmetrie in die Welt, die eine besondere Beachtung der Perspektive erlittener Gewalt nahe legt. Ausübende und erlittene Gewalt sind in besonderer Weise aufeinander bezogen. Die Eigentümlichkeit erlittener Gewalt liegt freilich in dem unabweisbaren Gefälle »zwischen dem, was getan und dem, was erlitten wird«336. Das Erleiden von Gewalt ist nicht auf die Kritik der Gewalt zurück zu führen – auch wenn dies praktisch immer wieder intendiert wird. Ein letzter Rest des Unver­ standenen macht die singuläre Erfahrung der Gewaltsamkeit aus: das Erleiden kann weder endgültig geboten oder verboten, gewünscht oder gerechtfertigt, begründet oder bestritten werden. Es kann nicht einmal bezweifelt werden, insofern es selbst keine grundsätzlich thematisierbare Erfahrung ist. Denn: eine erlittene Leiderfahrung wird keiner angemessenen Darstellung genügen und keinen Ort der Repräsentation finden, der ihr entspricht. Gewalt bleibt ohne Sinn, auch wenn die Gewalt vom Blickpunkt der Ausübung »spricht«. Von ihrer anderen Seite her ist sie eher als ein Moment der elementaren Sprachlosigkeit zu verstehen. Gewalt »bricht an der Bedeutung«337, sie steht unvermittelt in einem Horizont von Sprache, Logos, Autonomie oder dem göttlichen Abso­ luten. Sie ist insofern von tiefer Einsamkeit durchdrungen, die das ethische Motiv der Negativitätsreflexion ausmacht338.

Ebd., S. 51. Pascal Delhom: Phänomenologie der erlittenen Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 155–175, hier S. 159. 337 Kapust 2014, S. 55. 338 Emil Angehrn: Die Herausforderung des Negativen. Zwischen Sinnverlangen und Sinnentzug. Basel: Schwabe reflexe 2015. 335

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts Die naheliegende Frage nach den Bedingungen eines möglichen Friedens ist hier nur über den Umweg der philosophischen Reflexion zu beantworten. Doch allein mit dem Hinweis auf die notwendige Rückbindung an die Ethik des Singulären wird man keinen tragfä­ higen Bezug zur gesellschaftlichen Ebene herstellen können. Und auch die gängigen Elemente einer Friedensordnung, denken wir etwa an das von D. Senghaas etablierte Friedens-Hexagon339, können nur die Oberfläche einer zukünftigen lebbaren Ordnung spiegeln. Die Möglichkeit der Gewaltlosigkeit in den interexistentiellen Bezü­ gen benötigt aber die Tiefe der anthropologischen Grundlagenrefle­ xion, insbesondere eine Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Gewaltfähigkeit. Folgende Aspekte sind in diesem Zusammenhang daher zu betonen: Frieden ist in phänomenologischer Sicht zu entschlüsseln und mit dem Motiv der Versöhnung zusammen zu denken, ohne dass beide Aspekte zusammenfallen; zum anderen ist das gewaltlose Widerstandspotential der Sprache selbst in das Zentrum zu rücken. Nicht zuletzt ist das gemeinsame Interesse an einem Bündnis zu betonen, das auf Vertrauen basiert, das aber nicht als etwas Herzustel­ lendes missverstanden werden darf.

2.1 Der Widerstand der Sprache Der Impuls, in einer Gesellschaft den Frieden zu schaffen, ist insofern bedeutsam, weil er im Fall des Staates Afghanistan auf diese Weise nicht erprobt worden ist. Fausia Kufi und andere Akteure bewegen sich auf einem Feld des Politischen, das nicht nur fragil und bedrohlich ist, sondern auch auf keinem festen historischen Grund zu stehen scheint. Alles, was die Handelnden zu ihrem Handeln ermächtigt, ist ein scheinbar grundloses Vertrauen in die Kraft der politischen Rede und Gegenrede sowie der Glaube an das Widerstandspotential der Sprache selbst. Diese Potentiale sind in die Reflexion aufzunehmen und sie führen unmittelbar in die Gefilde der Vernunftkritik kritischer Theo­ 339

Dieter Senghaas: Den Frieden denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.

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XVI. Gesichter der Gewalt

riebildung. Die unergründliche Ambivalenz aller Sprachmacht führt die Auseinandersetzung bekanntlich zur Genesis der okzidentalen Rationalität, die Horkheimer und Adorno bekanntlich in die düstere Terminologie von Niedergang und Unglück kleideten. Die anthro­ pologische Urbarmachung der Welt war von dem Vermögen der begrifflichen Zurüstung erst ermöglicht worden; Naturbeherrschung und die Genesis der menschlichen Sprache fielen in eins. Sie führten aus Sicht der älteren kritischen Theorie zur Selbstbemächtigung des Menschen kraft kategorialer Herrschaft; erst die Herausbildung einer begrifflichen, repräsentierenden, allgemeinen Sprachlichkeit ermög­ lichte die endgültige Kontrolle über die Natur, genauer gesagt den praktischen Umgang mit dieser340. Die Auseinandersetzungen über die Grundlagen der Negativen Dialektik sind bereits intensiv geführt worden341. Hier ist vor allem der Gedanke aufzugreifen, dass Sprache in einem bestimmten Ver­ hältnis zur Gewaltsamkeit steht. Sie kann einen Werkzeugcharakter annehmen, der die Vielfalt aller Aspekte zurechtbiegt; sie kann sich also in einem Gestell von Kategorien als Instrument der Herrschaft erweisen. Sprache ist insofern Bedrohung und gleichsam im Besitz der Gewalt, sie ermöglicht den Missbrauch durch den kategorialen Zugriff, der immer nur verfügen, beherrschen, zurichten und reduzie­ ren kann und somit der Vielfalt der Dinge nie gerecht wird. Aber es handelt sich nur um eine kontingente Möglichkeit des Missbrauchs des Begrifflichen; die alles auf Sprache und Verdingli­ chung zu reduzieren scheint und die »im Medium des Begrifflichen angesiedelten positiven Elemente« verkennt342. Eine weiter ausho­ lende Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Gewaltsamkeit ist insofern unumgänglich. Diese Bestimmung muss ein Stück weit zumindest die ausgetretenen Pfade der philosophischen Reflexion über Sprache und Gewalt verlassen. In der Tradition von Hannah Arendts Philosophie erscheint die Gewalt bekanntlich als das Andere der Sprache; Gewalt ist demnach stumm und begriffslos, während die

340 Theodor W. Adorno. Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966; Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer 1948. 341 Anke Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtiden­ tischen bei Adorno. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 342 Christoph Demmerling: Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 128.

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

Fähigkeit zur Artikulation das Feld des Politischen hervorbringt343. Die Gewalt zerstört das Politische; das Politische müsse insofern von jener Gewalt freigehalten werden, um sich zu entfalten. Dem hat die jüngere Gewaltforschung bekanntlich vehement widersprochen und die unauflösliche Kontamination des Sprachlichen mit Gewalt betont; Gewalt tritt auch als Politisches auf, sie ist gewaltfähig, nicht unmittelbar, indem sie spricht, sondern wenn sie zum Beispiel etwas auslässt oder wenn sie Gewaltsamkeit bekämpft und in »Schach halten soll«344. Jenseits solch polarer Bestimmungen aber ist auf das Motiv des Widerstands zu verweisen, das den eigentlichen produktiven Wesensgrund des Sprachlichen ausmacht. Die widerständige Rede hat einen Eigenwert jenseits idealistischer Zuspitzungen. Der ideale Diskurs zeichnet sich durch die menschliche Fähigkeit zur Einsicht in das für alle Beteiligten Offensichtliche aus. Streit wird entschärft, sobald die Argumente ausgetauscht werden; Versöhnung gerät in greifbare Nähe, wenn die Akteure sich zwanglos beteiligen können. Nicht die subtile Rhetorik oder die Kunst zur Demagogie leitet das kommunikative Geschehen, sondern ausschließlich die Fähigkeit zur Einsicht in die Gründe der Vernunft. Es gibt keinen Anlass, an dieser Ausrichtung zu zweifeln. Aber die Bestimmung auf den Sinn gewaltfreier Kommunikation ist zu erweitern, denn auch die Widerrede ist in den Horizont gesellschaft­ licher Verständigung aufzunehmen. Nicht alles, was sich in kommu­ nikative Verhältnisse überführen lässt, muss den Weg dialektisch aufzulösender Widersprüche gehen. Der Widerstreit hat einen Eigen­ wert, insofern er nicht in einer privativen Sphäre beheimatet und in anderen Formen als des Versagens überdacht werden kann. Aus der Engführung einer politischen Sphäre, die das gemeinsame Handeln von allem Dissens und allem von allem Widersätzlichen frei halten will, führt eine andere Wahrnehmung sprachlicher Kraft.Mit Bezug auf die Widerstandsmöglichkeiten angesichts extremster Repression siehe:

343 Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1994, S. 21–25; Jan Phillip Reem­ tsma: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden. Stuttgart 2002. 344 Burkhardt Liebsch: Der Gewalt ausgesetzt. Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik. In: Ders.: Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Band II, Ele­ mente einer Topographie des Zusammenlebens. Freiburg/München: Karl Alber 2018, S. 971–1005, hier S. 973. Mit Bezug auf die Widerstandsmöglichkeiten angesichts extremster Repression siehe: Iris Därmann: Undienlich­ keit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin: Matthes und Seitz 2020.

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XVI. Gesichter der Gewalt

Die Sprache ermöglicht den Konsens, die Stiftung einer fried­ lichen Übereinkunft, sie markiert vielleicht den Zielhorizont der endlosen Suche nach letztem Sinn – so mögen wir glauben. Sprache versetzt uns aber darüber hinaus in die Lage, dem Zwang zur Identität zu widerstehen, aus dem Gehäuse kategorialen Denkens zu fliehen und den Spuren »jenseits des Seins« zu folgen345. Die Philosophien von Theodor W. Adorno über Bernhard Waldenfels bis Emanuel Levinas verweisen auf die irritierende Fremdheit aller Sprache, in die wir eben nicht aus freier Entscheidung eintreten, sondern der wir bedingungslos unterworfen sind. Diese abgründige Negativität überformt jede diskursive Begegnung und jede politische Zusammen­ kunft. Die negativistische Philosophie ist entgegen aller Kritik für die Figurationen zwischen Frieden und Krieg wegweisend. Ausgangs­ punkt ist hier weniger eine positive Stiftung, die auf dem gleichen Willen Aller beruht, als vielmehr die Einsicht in ein responsives Geschehen, in dem ein Anspruch eines Anderen stets überhört, missachtet oder verzerrt werden kann. Eine letzte Versöhnung ist dem Widerstreit nicht inhärent, wenngleich sich stets Möglichkeiten artikulieren lassen. Die skeptischen Einsichten führen unmittelbar in das Pathos menschlicher Sprachlichkeit. »Es gibt keine scheinbar im Voraus (archäologisch und/oder teleologisch) gesicherte Gemein­ schaft der Verständigung, auf die wir uns mittels erneuter Vergemein­ schaftung nur immer wieder zu besinnen bräuchten. Vielmehr setzt jeder Versuch, sich in einer zum Widerstand herausgeforderten und ihn herausfordernden Rede an Andere zu wenden, die niemals restlos und um jeden Preis zu etablierende Gemeinschaft mit ihnen immer wieder neu aufs Spiel.«Ebd., Wir sind, anders formuliert, einer Sprachlichkeit und darüber hinaus einer Sprachgemeinschaft ausgesetzt. Diese garantiert keine vernünftige Übereinkunft und sie weiß von keinem Telos der Ver­ nunft, das ihr innewohnt. Keine zu etablierende Rede-Ordnung wird die Sicherheit der Verständigung befördern.

Burkhard Liebsch: Widerstand und Sprache. Widerständige Rede in politischer Perspektive. In: Ders.: Einander ausgesetzt – der Andere und das Soziale. Band I, Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen. Freiburg/ München 2018, S. 387–424. Ebd., S. 403.

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

2.2 Zeit und Vertrauen Blenden wir noch einmal die Perspektive der afghanischen Gesell­ schaft auf – ohne die bisherigen Reflexionen auf einen Fall »anzuwen­ den«. Anschläge und gezielte Tötungen prägen die politische Realität Afghanistans; zu den Opfern zählen Friedensaktivistinnen und Wahl­ beobachter; eine ganze Generation von Aktivisten und Kämpferinnen für die Zukunft der Region gerät in das Visier der Gewalt. Die »Friedensverhandlungen« werden in diesem Zusammenhang von dem erwarteten Abzug der westlichen Truppen überschattet. Es wird in Zukunft keinen Dritten mehr geben, der den Versuch einer Ord­ nungsbildung unmittelbar begleiten wird. Schon von daher wird es aus politologischer Sicht darauf ankommen, minimale Bedingungen der Sicherheit zu gewährleisten und die unmittelbaren Bedrohungen nach Möglichkeit auszuschließenSiehe u. a.: Süddeutsche Zeitung vom 28. Dezember 2020, S. 7.. Der mögliche Beitrag einer philosophischen Reflexion für diese existentiellen Grundlagen einer künftigen Ordnung ist entsprechend gering. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf langfristige Bedingungen eines Friedenszustands, deren Relevanz außer Frage steht. Die Bedin­ gungen sind bekannt und seit langem von Friedensforschern in den Diskurs eingebracht worden, sie beziehen sich auf die Elemente der Rechtsstaatlichkeit und Gewährleistung von Sicherheiten, sie betonen den Wert der Affektkontrolle und der Einübung von Kon­ fliktbewältigung; sie verweisen nicht zuletzt auf die Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit und demokratischer Teilhabe. Diese Elemente sind offensichtlich unabweisbar. In Frage steht freilich, in welchen zeitlichen und sozialen Dynamiken sie eingebettet werden. Eine gut funktionierende Maschine ist auf das Zusammenspiel der Elemente angewiesen und sie wird um so besser »funktionieren«, wenn sie sich auf die bewährte Mechanik ihrer Teile verlassen kann. Ist aber solche mechanistische Sprache der Sache angemessen? Eine »Friedensma­ schine«Christina Schues/ Pascal wäre demnach eine mechanische, kyber­ netischen Systemen nachempfundene Konstruktion, die menschli­ ches Verhalten in Programme übersetzt und eigene Regelkreisläufe Siehe u. a.: Süddeutsche Zeitung vom 28. Dezember 2020, S. 7.

Delhom (Hg.): Zeit und Frieden. Freiburg/München: Karl Alber 2016, Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Frie­ dens, S. 9. Christina Schues/ Pascal

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XVI. Gesichter der Gewalt

Gang setzt. Unklar bleiben dabei jene entscheidenden Kategorien in einer primären menschlichen Welt: vor allem die »Position des Anderen« und dessen »Inferiorität«346, seine Verletzbarkeit ebenso wie seine Verletzungsmacht. An die Stelle der Ableitung einer Friedensarchitektur tritt die erwartbare, aber ungleich komplexere Frage nach der Relation von »Frieden« und dem »Faktor Mensch«. Wenn etwa Antje Kapust feststellt, dass der Mensch in den gängigen Ansatzlinien der Friedens­ entwürfe keinen rechten Platz gefunden hat, wäre in der Konsequenz nach einer neuen Sprache des Friedens zu suchen. Die Irritation durch diese Aussage wird man dann überwinden, wenn man den Cha­ rakter von Friedenskonstruktionen hinterfragt. Der Mensch taucht mit Kapust als Gegenstand in einer Ordnung auf, nicht jedoch als »Selbst, das per se verletzbar ist«Antje. Friede wird unter anderem als Signatur artikuliert, als Burgfriede oder als historischer Siegfrieden. Er fungiert im Sinne einer höheren Bedeutung des Gewaltverzichts, ohne den Menschen als sprechende und empfindende Gestalt in diese Ordnung einzufügen. Der Mensch erscheint anders gesprochen als fremdes Element einer Anordnung, sei es im Rahmen einer (humani­ tären) Friedensoperation, einer nur unterbrochenen und gehemmten Gewaltsituation, sei es als Faktor der freien Entfaltung von Handel und Verkehr oder als Subjectum einer züchtigenden, einhegenden oder »zivilisierenden« Ordnung, die Regeln und Schriften folgt und letztlich als »Beweis« der Kraft universaler Verständigung dient. Das Menschliche, das hier gemeint ist, entzieht sich aber einer endgültigen Einfügung in einen Ordnungsentwurf. Der Mensch, auf den Grund seiner Existenz zurückgeführt, ist eben als Element einer Anordnung falsch verstanden. Welcher Art eine lebensdienliche und friedliche Ordnung beschaffen sein müsste, wäre als Frage zu formulieren, inwiefern in dieser Situation der Mensch nicht als Faktor, sondern als mensch­ liches Selbst auftaucht. Damit ist jede konkretistische Gleichung ausgeschlossen, vielmehr rücken die Bedingungen der Zeitlichkeit und der Gedanke des ungeschuldeten Vertrauens in das Zentrum der Betrachtung. Ebd. Kapust: »Sprachen« des Friedens. In: Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.): Denk­ wege des Friedens. Aporien und Perspektiven. Freiburg/München 2019, S. 336–362, hier S. 341.

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Antje

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

Die Frage, was »eigentlich« Frieden in einer menschlichen Welt bedeuten kann, ist auf andere Weise zu stellen. Als Unterbrechung der Gewalt bleibt die Kategorie unbefriedigend, als endgültig zu errei­ chender Zustand unterbelichtet. Der Frieden ist wohl genauer betrach­ tet »unendliche Aufgabe«, das Motiv einer Verwirklichung einer »nie endenden gemeinsamen Praxis«Pascal Delhom:. Pascal Delhom lenkt die Frage auf einen überraschend einleuchtenden, evidenten Sachverhalt. Frieden ist kein Zustand, sondern nur als Motiv einer gemeinsamen Aufgabe richtig verstanden. Frieden wird nur mit Anderen, das heißt mit einem Gegenüber, einem Fremden, einem Gegner oder einem Feind verwirklicht. Diese nachvollziehbare Bedingung macht aus der Sache des Friedens eine Pluralität, weil er vor allem an der geteilten Unverfügbarkeit des gemeinsamen Lebens interessiert ist. Worauf auch immer in den konkreten Friedensbildungsprozes­ sen Wert gelegt wird – auf Sicherheit oder Gerechtigkeit, kommu­ nikative Aussöhnung, Abbau von Ungerechtigkeit oder Schaffung von Freiheitsrechten – es handelt sich immer um eine Pluralität von Prozessen und Zeiteinteilungen. In Gesellschaften, die von Gewalt durchdrungen waren, stellt sich die Aufgabe, diese erfahrene und erlittene Gewalt in Zeitpraktiken zu überführen. Dies bedeutet eben nicht einfach nur Vergangenheit und Zukunft zu versöhnen, son­ dern den Abstand und die Leere zwischen den Zeitformen zu beach­ ten. Gesellschaften etwa, die von massiven Einbrüchen genozidaler Gewalt überwältigt wurden, benötigen dementsprechende Rituale der Erinnerung, um überhaupt die traumatische Vergangenheit in ein leb­ bares Verhältnis zur Gegenwart zu bringen347. Andere Gesellschaften, in denen die Gewalt ehe als ein permanentes Motiv des gemeinsamen Lebens erscheint, sind auf das Wagnis des Vertrauens verwiesen.348 Was aber meint zuletzt »Vertrauen«? Als Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität ist der Term soziologisch vertraut. Pascal Delhom: Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe. In: Christina Schues/ Pascal Delhom (Hg.): Zeit und Frieden. Freiburg/München: Karl Alber 2016, S. 131–156, hier S. 132. 347 Julia Viebach. Über Diskontinuitäten und Diskontinuitäten. Verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel Rwanda. In: Christina Schues/Pascal Delhom (Hg.) Zeit und Frieden. Freiburg/München: Karl Alber 2016, S. 103–131. 348 Christina Schues: Vertrauen oder Misstrauen vertrauen? In: Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.): Friedensgesellschaften zwischen Verantwortung und Vertrauen. Frei­ burg/München: Karl Alber, 2015, S. 156–185.

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Im Kontext einer erst zu schaffenden Ordnung stellt er ein großes Fragezeichen dar. Bernhard Waldenfels macht darauf aufmerksam, dass im Frieden immer auch Momente des Kriegerischen aufleuchten, bzw. dass der Widerstand gegen die kriegerische Gewalt durch die Erfahrung des Bruchs in der Erfahrung erst ermöglicht wird. Denn allein die Frage nach den Subjekten eines Friedenschlusses lenkt die Aufmerksamkeit auf eine trivial erscheinende Einsicht: Frieden wird von bestimmten Bundesgenossen mit bestimmten, feindlich bezeich­ neten Anderen geschlossen. Diese Anderen bleiben jedoch nicht die gleichen; sie verwandeln sich unter Umständen in Vertragspartner, Bündnispartner, in ein Gegenüber, mit dem man in kommunikative und soziale Beziehungen tritt. Diese Prozesse verweisen auf den approximativen Charakter des Friedenmachens: sie müssen ohne ein letztes Ziel und ohne den Anspruch auf Endgültigkeit auskommen349. Möglicherweise sind die Leerstellen in diesem Zusammenhang größer als die substantiellen »Gewinne«. Es wird eine Augenhöhe hergestellt, die jederzeit verlassen werden kann. Der Grund, auf dem alle Beteiligten agieren, ist höchst fragil. In einem jüngst publizierten Interview beschrieb die erwähnte Fausia Kufi in der gegenwärtigen Situation in Afghanistan die Schwierigkeiten der Gespräche wie folgt: »Wir haben verschiedene Perspektiven, aber unser Ansatz ist: Lasst uns darüber reden und nicht die Gewalt in den Mittelpunkt stellen. Aus Sicht der Taliban sind wir die Hardliner, weil wir auf Werte und Politik setzen..«350 Das Bemerkenswerte dieser Aussage liegt in verschiedenen Dingen, darunter die Unbeugsamkeit angesichts bereits erlittener Gewalt und der unbedingte Wille zur Versöhnung, besser gesagt zur Eröffnung einer lebbaren Zukünftigkeit. Der Spalt, der durch die bloße Ermöglichung einer kommunikativen Ordnung geöffnet wird, ist winzig, aber höchst bedeutsam. Der Weg zum Frieden führt hier offensichtlich nicht über Feindschaften, die in stabile Bündnisse überführt werden, noch über eine Form der Siegerjustiz, noch über die Stabilität eines Gewaltmonopols. Die historischen Blaupausen in internationaler Dimension verfehlen hier ihre Wirkung. Der Krieg berührt den Frieden wie auch der Frieden in den Krieg hineinragt. Aus einem Kampfplatz wird kein neuer, von aller Gewalt 349 Bernhard Waldenfels: Friedenskräfte und Friedenszeichen. In: Alfred Hirsch/ Pascal Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven. Freiburg/ München 2019, S. 256–280. 350 Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 12. 2020. Nr. 282, S. 56.

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

endgültig gereinigter Hort des Friedens, sondern eine Ordnung, die auf das Wagnis des Vertrauens angewiesen ist. Verträge, die noch geschlossen werden, können keine Garantien liefern, sie besiegeln ein Geschehen, das einem Sprung ins Dunkle gleicht. Gelten Verträge im allgemeinen als reziproke Bindungen, so sind sie aber doch an einem Vertrauensvorschuss geknüpft, der kaum zu »rationalisieren« ist. Dies eben macht vielleicht den Unterschied zu allem herkömm­ lichen Nachdenken über die Struktur des Friedens aus. In der Retro­ spektive erscheinen Zeiträume, die eine Stabilität in den sozialen Begegnungen ermöglichen; ein Miteinander im Gegeneinander, das von Dauer und Festigkeit zeugt und am Ende die Tragfähigkeit für Fremdes beweist. Solche friedlichen Ordnungen beruhen auf norma­ tiven Regelungen, die durch die Erfahrung der Symmetrie und der Nähe ermöglicht werden. Man kann hier die diskrete Überlegenheit der Moderne vermuten, die sich gegen andere, etwa theozentrische oder imperiale Ordnungen auszeichnet351. Was aber hilft Vertrauen zu schöpfen, wenn keine soziale Grund­ lage gegeben ist und keine Möglichkeit der Einübung? Vertrauen ist ein Geschenk, das in der sozialen Dimension höchst ambivalent erscheint. Es kann als ein Gift aufgenommen werden, das dem Beschenkten als eine Art Zumutung erscheint, weil es ihn gleichsam in die Pflicht nimmt. Nicht der zwanglose Zwang des Arguments (Habermas), sondern der Zwang, in einen gemeinsamen Raum der Verantwortung zu treten, wäre hier die passende Metapher. Vertrauen ist auf diese Weise ein unergründliches Motiv einer interexistentiellen Situation. Es benötigt zwar die Gemeinsamkeit von Interessenbezie­ hungen, darf sich aber nicht zu eng an momentane Bedürfnisse binden. Es benötigt funktionierende Institutionen, kann aber der Institution selbst nicht die Gesamtverantwortung für lebensweltliche Probleme überlassen, wenn diese nicht auf eine vertrauenswürdige Maschine reduziert werden soll. Letztlich bleibt am Ende nur der Moment des Vertrauens in Andere, das durch keine hinreichenden Gründe gestützt wird. Vertrauen gründet darauf, so Christina Schues, »keine Gründe des Misstrauens zu haben«352.

351 Reemtsma 2006; Lutz Wingert: Unpathetisches Ideal. Über den Begriff eines bürgerschaftlichen Wir. In: Brunkhorst, H. (Hg.): Demokratischer Experimentalis­ mus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 33- 44. 352 Schues 2015, S. 163.

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Damit wäre einer Situation anhaltender und drohender Gewalt eigentlich bereits der Boden entzogen. Aber das Vertrauen, um das es vorliegenden Fall geht, erscheint als Konglomerat mit vielen Dimen­ sionen. Es überbrückt den Mangel an Transparenz und die Kontin­ genzen, mit denen wir leben. Es vernachlässigt den Spalt zwischen Wissen und Nicht-Wissen – nicht weil das Vertrauen es besser weiß, aber auch nicht, weil es blind gegen jede bisher gemachte Erfahrung ist. Die epistemologischen, psychologischen, sozialen und morali­ schen Ausrichtungen finden eher einen gemeinsamen Rahmen im Begriff des Weltvertrauens. Dieser Begriff wurde bekanntlich von Hannah Arendt mitgeprägt und er verweist in einem anderen histori­ schen Horizont auf den erlittenen Zusammenbruch eines gleichsam selbstverständlichen Weltgefühls in der conditio humana353. Hier wäre der Begriff freilich in eine optimistische und zweck­ dienliche Perspektive zu überführen. Ein Weltvertrauen ist demge­ mäß mehr als ein Mechanismus, mit dem das Soziale stabilisiert wird, noch ist es der Kitt, der die gesellschaftliche Ordnung erhält – beide Interpretamente verfehlen hier den eigentlichen Sinn. Welt­ vertrauen gründet in diesem Fall auf der Zumutung, in das Leben einzutreten, ohne Sicherungen und Garantien zu erhalten; es ist im Einklang mit dem unbewussten Wissen, das jeder Neuanfang auf Unterstellungen, unbegründeten Erwartungen und sogar auf der Wirklichkeit des Bösen gründet. Ohne die existentielle Fragilität aller sozialen Bezüge gäbe es anders gesprochen keine Moralität; denn solche menschliche Praxis vollzieht sich allein in den »Grenzen der Möglichkeiten fragiler Wesen«354.

2.3 Der Beitrag der helfenden Professionen Die Schwierigkeiten in der Beschäftigung mit dem Phänomen der Gewalt sind unabweisbar. Doch so groß, überwältigend und fordernd das Thema auch ist, so bleibt es ein Desiderat der helfenden Pro­ fessionen, sich der Sache der Gewaltsamkeit selbst zu widmen. Nicht nur verfolgen die sozialen Professionen die Beachtung der 353 Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1994, S. 110; ferner: Dies.: Wir Flüchtlinge. Stuttgart: Reclam 2016 (Neuauflage). 354 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 167.

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

Menschenrechte, nicht nur geht es der weltweiten sozialen Arbeit um Gerechtigkeit und Anerkennung der Ausgeschlossenen; die Disziplin ist in gleichem Maße aufgefordert, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum die Menschen die Gewalt nicht loswerden355. Es ist die Urfrage der Menschheit, über die philosophische, ethische und theologische Abhandlungen geschrieben wurden und doch wäre ein Beitrag der helfenden Professionen förderlich. Denn sie sind gehalten, eine Antwort außerhalb der naheliegenden politischen Diskurse zu ermöglichen. Historisch und politisch stand immer die praktische Bewältigung der Gewalt durch Herrschaft im Zentrum des Denkens; friedenspädagogisch wären hiergegen die Spielräume des Gewaltverzichts zu erkunden, die vor allem aus der Mitte des Sozialen heraus entstehen. In der Geschichte der Gewalt wird von verschiedenen Friedens­ motiven erzählt, ebenso wie die Gewalt immer auch als Geburtshel­ ferin der Geschichte verklärt wurde. Das Scheitern der einen wie der anderen Grundmotive verweist auf das Dunkle der erzählbaren Menschheitsgeschichte. Missverständlich wäre es in dieser Situation, den sozialen Disziplinen lediglich eine ausgleichende und mäßigende Rolle aufzubürden. Ebenso schwierig und unbefriedigend erscheint die marginale Position, die Helferinnen und Helfer »vor Ort« in einer von Machtinteressen durchherrschten Welt einnehmen können: In den abseitigen, gleichsam abgehängten Regionen der Welt herr­ schen bekanntlich Kriegs- und Gewaltsituationen, denen zivile Kräfte nur ohnmächtig gegenüber stehen. Diese Ebene der Realität ist zu erkunden, aber darüber hinaus ist zu fragen, über welche Mittel die internationale Soziale Arbeit überhaupt verfügt, um der Sache des Friedens zu dienen. Um Spielräume des Friedens zu erobern, sind konkrete ebenso wie abstrakte Bestimmungen gefordert. Der Frieden ist ein Zustand, der von Bedingungen profitiert, die sich unmissverständlich ausgren­ zen lassen; aber die Gewalt, die der Sache des Friedens entgegen steht, ist weniger eindeutig. Wann kann eine Gesellschaft sich als vergleichsweise friedlich beschreiben? Statistische Daten geben Auskünfte über die allgemeine Gewaltsamkeit, über die Intensität der geführten Kriege, die Zahl der Toten oder den Intensitätsgrad der inneren Auseinandersetzungen. Hierzu: Karl Heinz Metz: Geschichte der Gewalt. Krieg. Revolution. Terror. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010.

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Der Global Peace Index nennt nicht weniger als 24 Kriterien, die die Abwesenheit oder die Stiftung des Friedens anzeigen356. Um Frieden auf Dauer zu stellen, ist er nicht nur als Abwesenheit des Krie­ ges zu denken, sondern mit Sinnkriterien der Gerechtigkeit, Gewalt­ monopolisierung, politischer Beteiligung, relativem Wohlstand und Rechtssicherheit zu verbinden. In Gesellschaften, die akuter Gewalt ausgesetzt waren, greifen Mechanismen des Peace-buildings inein­ ander: Peace-making im Sinne militärischer und politischer Maßnah­ men, um gewaltvolle Konflikte zu beenden; das Peace-keeping im Sinne der notwendigen Überwachung und schließlich das Peace-buil­ ding mit dem Ziel einer langfristigen Stabilisierung einer zerrissenen Gesellschaft. Hier hat die Soziale Arbeit ihr Handlungsfeld, denn es geht um mehr als nur die Beendigung eines gewaltsamen Konfliktes: Vertrauen muss wiederhergestellt werden, Kooperationsmöglichkei­ ten gefunden und soziale Beziehungen geknüpft werden. Die neuen Bündnisse, die Gesellschaften nach einem Konflikt eingehen müssen, werden von Erwartungen des Neuanfangs umgeben. Der Sprache des Hasses sind neue Begriffe entgegen zu setzen. Dies aber lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf einen abstrak­ ten Zusammenhang. Die Friedenspädagogik benötigt nicht nur einen Begriff des positiven Friedens, sie ist zugleich gehalten, die Zusammenhänge zwischen Gewalt und »Sinn« zu erkunden. Gewalt geschieht nicht einfach nur; sie ist nicht nur auf Faktoren und Ursa­ chen zurück zu führen, sondern mit Sinn und Bedeutung zusammen zu denken. Die größte Schwierigkeit besteht wohl darin, diesen Sinn nicht als ein »Mittel« zu verstehen: als ob die Gewalt in dieser Betrachtung mit einem mal als »sinnvoll« erschiene. Sondern die Bedeutung der Gewalt ist gegen die Gewalt der Bedeutung zu stellen. Die Philosophin Antje Kapust hat, wie gezeigt, diesen Zusam­ menhang explizit herausgearbeitet. Nach dem Ereignis der Gewalt wird für gewöhnlich nach dessen Bedeutung gefragt: Konflikte haben etwa einen heilsgeschichtlichen und religiösen Sinn; Kriege werden im Namen einer Autorität, einer Idee oder einer Regularität einge­ ordnet und dementsprechend bewertet. Stets wird das gewaltsame Ereignis »auf einen Nenner gebracht« und zugleich die Perspektive der 356 Inkje Sachau: Peacebuilding als politische und pädagogische Dimension sozialer Arbeit. In: Leonie Wagner/Ronald Lutz/Christine Rehklau/Friso Ross (Hg.): Hand­ buch Internationale Soziale Arbeit. Dimensionen – Konflikte – Positionen. Wein­ heim/Basel: Beltz Juventa 2018, S. 64–80.

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2. Sinnkriterien des Gewaltverzichts

singulären Erfahrung der Gewalt in das »Raster von Regularität« ein­ gefügt357. Die Ethik der Singularität betont entsprechend die Notwen­ digkeit, sich von der Ebene der »höheren« Bedeutung zu distanzieren. Formen der Gewalt werden erst dann gedanklich durchbrochen, wenn eine »Rückbindung an die Singularität des Opfers«358 – jenseits aller Bedeutung möglich wird. In reale Situationen übersetzt, wird diese ethische Position höchst plausibel: wenn der Mensch als eine abstrakte Zahl betrachtet oder als Mittel zum Zweck gebraucht wird, wenn er einer anonymen Gewalt »dienlich« oder einem kalten Algo­ rithmus untergeordnet wird: stets geht es um die Missachtung der singulären Perspektive zugunsten einer dominanten Bedeutung. Dies heißt schließlich nichts anderes, als die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Bedeutungsdimensionen einer Post-Konflikt-Gesell­ schaft in Rechnung zu stellen.

357 Antje Kapust: Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt von Bedeutung. In: Michael Staudigl (Hg.) Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn: W. Fink 2014, S. 51–74, hier S. 51. 358 Ebd. S. 51.

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XVII. Die historische Kategorie des Gewaltraums

Eine Winterreise. Von ihr zu erzählen, ist für manche ein Vorgang, für den man nichts anderes als die ästhetisierende Hingabe benötigt. Für »Andere« wie Jorge Semprun ist dieses Erzählen ein Wagnis. Seine Gedanken kreisen während einer Zugfahrt durch das Moseltal: »Ich schließe die Augen und genieße das Dunkel, das sich in mir auftut, genieße die Gewissheit des Moseltals draußen im Schnee. Diese blen­ dende Gewissheit im einförmigen Grau, in den hohen Tannen, den schmucken Dörfern, den stillen Rauchfahnen am Winterhimmel. Ich bemühe mich, die Augen möglichst lange geschlossen zu halten. Der Zug fährt sanft dahin, mit eintönig knirschenden Achsen. Plötzlich pfeift er. Das muss die Winterlandschaft zerrissen haben, wie es mein Herz zerreißt. Schnell öffne ich die Augen, um die Landschaft zu überraschen, sie zu überfallen. Aber da ist sie. Ganz einfach da, etwas anderes kennt sie nicht. Und wenn ich jetzt stürbe, aufrecht in dem mit künftigen Leichen vollgestopften Wagen stürbe, sie wäre trotzdem da.«Jorge Unwissenden Lesern wird der gedankliche Sprung befremdlich erscheinen. Die Betrachtung einer Winterlandschaft wird so jäh unterbrochen, durch Gedanken, die angesichts der Naturschönheit nicht sein dürften. Der Gedanke an den Tod ist störend, er drängt sich zwischen die Zeilen, die doch eigentlich von der Behaglichkeit deutscher Landschaften berichten sollten. Dem abgeklärten Leser wird hingegen nichts überraschen. Jorge Sempruns »große Reise«, ausgezeichnet 1994 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhan­ dels ist eine Erzählung, die in die vielen Schichten der Vergangen­ heit führt. Weit entfernt davon, Eindrücke einer nostalgischen oder romantischen Fahrt durch deutsche Lande vermitteln zu wollen, ist diese Erzählung einer jener Versuche der Vergegenwärtigung des Vergangenen, eine Tiefenbohrung durch Raum und Zeit. Jorge Semprun: Die große Reise. Aus dem Französischen von Abelle Christaller. Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1994, S. 10.

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XVII. Die historische Kategorie des Gewaltraums

Es scheint, als haben die Begriffe ihren ursprünglichen Sinn »ver­ loren« – so als ob sie ihn jemals besessen hätten. Eine Winterland­ schaft, ein Zug, Rauch, der aus deutschen Schornsteinen aufsteigt. Das Grau des Himmels und die Verlassenheit der Natur – alle diese Dinge sind der desaströsen Gewalt zum Opfer gefallen, und sie können fortan die tiefe Ambivalenz nicht mehr abschütteln. Aber so schwierig das Schreiben über die Erfahrung absoluter Verlassenheit auch ist, was den Nachgeborenen an Bedenkenswertem bleibt, weist über die Geste der Entdeckung hinaus. Wenn es so einfach wäre: hinter der Naturschönheit die Fratze der Gewalt, unter dem Schnee das verstörende Grau oder inmitten eines Buchenwaldes die Spuren der Vernichtung. Diese Oppositionen sind zu einfach gedacht; sie erwecken den Eindruck, man könnte über ihre Täuschun­ gen aufklären und sie damit von sich fernhalten. Aber es geht ja nicht um einen einmaligen Akt der Vergegenwärtigung einer Hölle absoluter Fremdheit; noch um die Tatsache, dass diese Gewalt das Leben schlechthin bis auf die Knochen entblößt hat – so wie diese Landschaft auf ihre hässlichen Fundamente zurückgeführt würde. Es geht eher um die Frage, wie sich fortan das Schreiben und somit das Nachdenken über die Gewalt fortsetzen lässt, wenn wir mit Adorno nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben können. Die folgenden Überlegungen sind als Versuche zu verstehen, die historische Kategorie des Gewaltraums zu erschließen. Das Vorhaben ist in einem Feld verortet, das paradoxerweise gut erschlossen ist und doch Neues eröffnet. Gewalträume – dieser Terminus ist in historio­ graphischer Sicht höchst bedeutsam; man denkt unwillkürlich an jene Topographien des Schreckens, die einen spezifischen Namen erhalten haben. Geschlossene Gewalträume in Lagern bilden Signaturen der totalitaristischen Gewalt; offene Gewalträume konnten sich bekannt­ lich im Schatten der offiziellen Kriegsschauplätze entfalten. Aber ein Gewaltraum ist doch mehr als nur ein konkreter Schauplatz, an dem sich Schreckliches ereignet hat, das erinnert und vergegenwärtigt werden sollte. Er ist ästhetische Kategorie und kritischer Gedanke, ein universaler Begriff, mit dem sich die Geschichte der Gewalt auf einen Nenner bringen lässt. Der Grundgedanke der folgenden Überlegun­ gen ist es, diese Kategorie systematisch zu erschließen und sie über die Umwege der anthropologiekritischen und historiographischen Reflexion zu rekonstruieren. Am Ende solcher Reflexionen sollte deutlich werden, unter welchen Bedingungen die Rede von Räumen,

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1. Kategorien und Aporien

Topographien, Lebenswelten und eben auch Gewalträumen in den sozialpädagogischen Diskurs eingebracht werden kann.

1. Kategorien und Aporien 1.1 Die Bewältigung desaströser Gewalt Ein Gewaltraum unterliegt epistemischen Bestimmungen. In ihm werden Zusammenhänge und Beziehungen zwischen fundamentalen Aspekten der menschlichen Grundsituation offenbart. Zeit, Sinn, Alterität, Raum, Herrschaft, Macht und Gewaltfähigkeit werden in eine Anordnung gebracht. Angesichts dieser abstrakten Bestimmun­ gen ist die Frage des Standorts, von dem aus man einen Gewaltraum zu erkennen glaubt, höchst problematisch. Das oben und unten, die horizontalen und vertikalen Bestimmungen und die Dimension der Zeit unterliegen der Wahrnehmung eines Beobachters; welchen Raum er zu welchem Zeitpunkt meint bestimmen zu dürfen, ist eine Frage der Wahl. Für Historiker und Historikerinnen ist dies eine gewöhnliche Einsicht. Geschichtsbetrachtungen kommen schwer ohne Interpunk­ tionen und Zäsuren aus; ein Einschnitt trennt das Alte vom Neuen, ohne dass es den Zeitgenossen zu Bewusstsein kommen muss359. Die Daten legen nahe, dass man die Geschichte nur so und nicht anders datieren kann. Von 1914 bis 1945 erschließt sich bekanntlich ein Gewaltraum eines zweiten, weltgeschichtlich bedeutsamen, drei­ ßigjährigen Krieges; ebenso wie sich mit guten Gründen eine Epo­ che der totalitaristischen Gewalt zwischen 1917 und 1989 nahelegt. Aber alleine die Daten sind nicht hinreichend. Sie benötigen die Urteilskraft, die noch den eigenen Standort ausweist. Das totalitäre, entgrenzte 20. Jahrhundert ist nicht vergangen, sondern nur im Horizont anderer Jahrhunderte zu betrachten. Das 19. Jahrhundert etwa stand im Zeichen der Neubestimmung des Menschen selbst, es war ein »voluntaristisches Jahrhundert«Alain Badiou: Das Jahrhundert. Zürich/ Berlin 2006, S. 30., das einen neuen Menschen schaffen sollte. Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne. München: C. H. Beck 2019, S. 401–422; Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evo­ lution der Gewalt im 20. Und i21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt 2015, S. 21.

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Alain Badiou: Das Jahrhundert. Zürich/Berlin 2006, S. 30.

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XVII. Die historische Kategorie des Gewaltraums

Gewalträume sind freilich nicht auf das Phänomen des perma­ nenten Krieges zu reduzieren. Sie sollen im Folgenden als eine anthro­ pologische Kategorie verstanden werden, die unter ästhetischen, historiographischen und philosophischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Die Frage der Ästhetik zuerst rückt die Suche nach dem gleichsam unendlichen Horizont von Gewalträumen in den Mittelpunkt. Der Zugriff auf die Natur stünde im Zentrum einer solchen kategorialen Bestimmung mit kritischen Mitteln. Nicht zuerst das Bild einer konkreten Landschaft, sondern schon die an sich gegebene Natur wird dem menschlichen Selbsterhaltungsdrang unterworfen. Ausbeutung, Vernutzung, Plünderung und somit auch die Entzauberung sind die wohlvertrauten Vorgänge einer Menschheitsgeschichte, in der sich ein gewaltfähiges Subjekt zu erkennen gibt. Nicht erst die Moderne gibt den kritischen Blick auf den Gewaltraum der Welt frei, sondern schon der schonungslose Rückblick auf die Genesis der abendländi­ schen Rationalität. Im Moment, als sich instrumentelle Praktiken der Naturbeherrschung durchsetzten, war der Prozess der Loslösung der Menschen von jener Naturwüchsigkeit bereits im Gange. Mythos und Mimesis, so schrieben bekanntlich Horkheimer und Adorno360, blieben nur noch als Fragmente eines vergessenen Weltverhältnisses bestehen. Die Betrachtung der Lebenswelt, die Umgang mit Natur, die Tendenz zur Selbstsorge und die begrifflich verhärtete Sprache bilden somit jenen ersten Gewaltraum, der bis in die Gegenwart führt, wenn er auch heute zu schmerzhaften Einsichten führen mag. Die Ästhetik eines Gewaltraums führt die Reflexionen zwangs­ läufig in ein Dunkel, wenn nicht in einen Abgrund, weil jeglicher Gedanke an einen Rückzug in die vorgeschichtliche Welt der Mythen ja versperrt ist. Die ästhetische Betrachtung des großen Gewaltraums erhält somit selbst gewaltbejahende Züge. Die Art und Weise, in der Menschen in einen Zusammenhang mit dem Raum und konkret mit der Erde zusammengedacht werden, führt zu irritierenden Bildern. Denken wir an die extremsten For­ men, in denen »Gewalträume« gezeigt werden. In den ehemaligen Schützengräben des Ersten Weltkrieges waren die Kombattanten dazu verdammt, sich in die Erde einzugraben, um einen letzten Schutz zu erfahren – und in ihr gleichsam zu vergehen. Kriegslandschaf­ ten, die vom entfernten Hügel mit strategischem Kalkül betrachtet 360

Horkheimer/Adorno 1948.

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wurden, bilden in der Memoria ein Theater des Schreckens, dessen Spuren noch heute unter der Erde gefunden werden. »Wo sich die Einzelnen verzweifelt einzugraben versuchten, begannen sie mit der Landschaft zu verschmelzen – in ihrem Tod dann realiter in einer ekelhaften Dekomposition.«361 Die Hinterlassenschaften des Todes in der Natur sind kein exklu­ sives Motiv der Moderne. Aber im 20. Jahrhundert hatte die Gewalt bekanntlich einen nicht zu steigernden Exzess erfahren, der zuerst in den Kratern nach Verdun, in den Bloodlands Osteuropas (T. Snyder) oder in den verheerten Landschaften des atomaren Massenmordes sichtbar wurden. Es sind Spuren »verstrahlter Topographien von einer das menschliche Leben radikal abweisenden Art.«Ebd. Bilder sind aufdringlich oder enigmatisch; sie zeigen etwas oder sie verweigern den unmittelbaren prüfenden Blick. Dirk Reinartz` Aufnahme des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers Sobibor bei Lublin in Polen möchte man spontan in die Tradition der europäischen Romantik einordnen362. Sichtbar ist auf der Fotografie lediglich eine Lichtung, die sich vor einem unregelmäßig gewachsenen Mischwald hervorhebt. Die kahlen Stellen lassen zwar ein Gefühl von Verlassen­ heit und Leere entstehen, aber der Eindruck der Fotografie verweigert letztlich all die Elemente, die dem Erinnerungsdiskurs zugeschrieben werden: authentische Orte, letzte Spuren, Tatorte, die vom Ungeheu­ ren zeugen, usw.. Hier geht es hingegen um die visuelle Erfassung einer seltsamen Ortlosigkeit363. Das Ereignis der Shoa ist im Laufe seiner fortlaufen­ den Explikation mit allen nur denkbaren Mitteln unverständlicher und ungreifbarer geworden. Es bleiben Eindrücke eines Gewaltraums, der nicht abbildbar und nicht vermittelbar ist, der keinen intellektu­ ellen Halt verspricht und keinen rechten Bezugspunkt vermittelt. Nicht der konkrete Raum der Gewalt, sondern die Ortlosigkeit, nicht der letzte Sinn, sondern der Mangel, nicht die Einweisung Burkhard Liebsch: Landschaften der Verlassenheit – Bilder des Desasters. Maurice Blanchot und Georges Didi-Huberman. In: Marco Gutjahr/Maria Jarmer (Hg.): Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildes. Wien: Turia und Kant 2016, S. 237–269, hier S. 243. 361

Ebd. 362 Dirk Reinartz/Christian Graf v. Krockow: Totenstill. Bilder aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern. Göttingen 1994. 363 Ulrich Baer: Zum Zeugen werden. Landschaftstradition und Shoa oder die Gren­ zen der Geschichtsschreibung im Bild. In: Ders. (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 236–254.

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in ein Geschick (Heidegger), sondern die Bodenlosigkeit ist dieser Gewalt eingeschrieben. Gewalträume wären somit verallgemeinernd als Signaturen zu verstehen, die für jede Generation mehr Fragen aufwerfen, als von den Zeitgenossen beantwortet werden können. Sie bleiben in einer enigmatischen Hülle und bilden den Motor der kulturellen Sinnpro­ duktion des Negativen. Die Frage ist hier jedoch zu stellen, ob wir der Sprach- und Bildlosigkeit nicht eine Diskursivität entgegen stellen können. Die Kategorie des Gewaltraums müsste für die vorliegenden Zwecke über die unverfügbaren Bedingungen des Erinnerungsdiskur­ ses hinausgeführt werden, ohne dessen Dringlichkeit zu leugnen. Gibt es, so ließe sich daran anknüpfend fragen, Sinnkriterien, kritische Begriffe, die über das Verdikt der Sprachlosigkeit hinausweisen?

1.2 Weltbürgerkriege und neue Kriege Wie ließe sich, wenn wir die ästhetischen und kritischen Aspekte der Gewalt überschreiten, die Gegenwart in ein Verhältnis zu der erwähn­ ten Kategorie bringen? Eine Kontinuität scheint nahe zu liegen, für die der Form- und Strukturwandel der Gewalt aufkommen soll. Von den Verheerungen der totalitären Kriege sind »kleine«, »endemische« oder »neue« Kriege geblieben. Im Inneren einer restlos politisch integrierten Weltgesellschaft belasten diese Konflikte das Gewissen der Menschheit und werden fallweise auf die Agenda gesetzt. Die Ver­ hältnisse der Gewalt hätten sich demnach gewandelt, denn wir haben es nicht mehr mit den großen Antagonismen zu tun, nicht mit dem Gegeneinander zwischen Faschismus und Bolschewismus, Freiheit und Despotie, sondern mit der Verlängerung eines vielschichtigen Weltbürgerkrieges. Die Kämpfe, die in diesem Rahmen ausgefochten werden, sind nicht mehr im Herzen der Welt verortet, sondern an dessen Rändern und es ist eine offene Frage, wie man sich zu ihnen als Außenstehender positionieren soll364. Die Gewalt wäre in dieser Lesart ein Problem der Anderen, ein Phänomen, das in der Moderne nur unter bestimmten Voraussetzungen thematisiert, problematisiert, verboten oder »bewältigt« wird. Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

364

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Es bleiben freilich Zweifel. Gewalträume als Ausdrucksformen auf die inferioren, »rechts- und staatsfernen« Regionen zu beschrän­ ken, entspricht zwar einer Realität oder besser einer Weltsicht, der man sich bereitwillig anschließt. Aber mit dieser Konstruktion wer­ den elementare Züge der Gewalt im Ganzen ausgeblendet. Harald Welzer oder Michael Mann etwa betonen, dass die friedliebenden, westlichen Demokratien auf Geschichten von Ausgrenzung, »Säu­ berungen« und Völkermord beruhen365. Ihre dunkle Vergangenheit haben sie erfolgreich überdeckt mit Fortschrittserzählungen. Die postkolonialen Länder leiden unter der Vergangenheit, in der sie Opfer von Unterwerfung und Ausbeutung wurden; gegenwärtig set­ zen sich diese Asymmetrien unter anderen Gesichtspunkten fort. In den Zonen des Inferioren spricht die Gewalt, während die moderne, »erste« Welt auf dem Verdienst gefestigter Staatlichkeit und damit einhergehendem Wohlstand beharrt. Klimakriege, die im Zeichen dieses Ungleichgewichts ausgetragen werden, sind demnach Aus­ druck dieser Ungleichzeitigkeit. Wie auch immer man koloniale Vergangenheiten und postkolo­ niale Gegenwart miteinander in Bezug setzt – die Beziehungen von Gewalt und Ordnung sind zu problematisieren. Der historisierende Blick auf das Jahrhundert der Gewalt findet keine rechte Übersetzung zur Gegenwart der Gewalt. »Etwas« drängt sich zwischen die alten und neuen Gewalträume, das schwer greifbar ist. Die Gewalt des Westens ist vielschichtig; man wendet nur noch in Ausnahmefällen Gewalt gegen Andere an und versteht Eingriffe in die Weltordnung als Korrekturen mit humanistischem Anspruch366. Vor allem aber wird die Gewalt delegiert, geformt und der Öffentlichkeit entzogen. Die neue Geopolitik ist eine Form der Gewaltanwendung, die ein neues Gewaltbewusstsein erzwingt. Es ist die Frage, unter welchen Bedingungen diese notwendig kritische Sicht bewahrt werden kann und zugleich eine Perspektive

365 Michael Mann: The Sources of Social Power. Volume 1. A history of Power from the beginning to A.D.1760 Cambridge 1986; Ders.: The sources of Social Power, Vol­ ume 2. The rise of classes and nation-states 1760–1914. Cambridge 1993; Mihran Dabag: Jungtürkische Visionen und der Völkermord an den Armeniern, in: Genozid und Moderne. Strukturen kollektiver Gewalt im 20. Jahrhundert, hrsg. von Mihran Dabag und Kristin Platt, Opladen: Leske und Budrich 1998, S. 152–206. 366 Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main: S. Fischer 2008, S. 12–13.

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auf die Welt eingenommen wird, die nicht auf totalisierende Begriffe angewiesen ist. Die Kategorien, die wir für das Phänomen der Gewalt benötigen, sind umstritten. Eine rein philosophische Ableitung der Gewalt ist demgegenüber leichter zu handhaben: Gewalt erscheint als das NichtSein-Sollende, das sich in einem ortlosen Gegenüber der Vernunft befindet. Sowohl die normativen Bestimmungen, die sich auf die Ablehnung der Gewalt mit guten Gründen berufen wie auch die kom­ plexen Auseinandersetzungen mit deren unumgänglichen Aporien schaffen zumindest eine DistanzBernhard Waldenfels. Die sozial- und gesellschaftskritischen Positionen, die sich unter dem Titel des Poststrukturalismus versammeln, führen hingegen zu schmerzhafteren Einsichten über die Verfassung der Welt. Kritisch sind diese Perspektiven, weil sie die Sicht auf das Spiel der Kräfte und Hegemonien freigeben und vor allem dem Gesichts­ punkt der Macht Vorrang gewähren. Die liberalen Ideen erweisen sich, zumindest im Horizont der neomarxistischen Theorien von Laclau/Mouffe und anderen Vertretern als Illusionen. Kollektive und Gegenkollektive ringen in diesem Theoriegelände um hegemo­ niale Vorherrschaft und keiner Klasse, Ethnie, Nation oder sonstigen »community« gelingt der endgültige Sieg im Widerstreit der Lebens­ formen. Diese Sozialtheorie hat den Blick starr auf den Krieg der Diskurse geheftet, das heißt, es geht um strukturelle Konstellationen, die mit den klassentheoretischen Ideen des historischen Materialis­ mus keine Berührungen mehr aufweisen. Der soziale Kampf um Anerkennung ist damit in eine Höhe entwichen, in der Wissensfor­ men, Machttechnologien und Identitätsmuster einander bekämpfen. Die politische Subjektivität verliert somit ihre ursprünglichen Motive. Ein Ausweg aus dem Verhängnis wird selten thematisiert; denn das Subjekt hat seine universalistisch-moralischen Potentiale eingebüßt. Im Schnittpunkt der Machtkonstellationen ist es vieles: Element einer Diskursanordnung, Ausdruck hegemonialer Kämpfe, Teil einer kulturellen Codierung – aber nicht jenes Subjekt, das sich als emanzipatorisch und gleichsam befreit anerkennen würde. Um nun aber auszuloten, welche Möglichkeiten diese Theorie der Politik mit sich bringt, muss man über die geschilderten Perspek­ : Metamorphosen der Gewalt. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. München: W. Fink 2014, S. 135– 155.

Bernhard Waldenfels

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tiven hinaus gelangen. Denn dort bleibt das politische Subjekt in gesellschaftlichen Ordnungen unterworfen und ist somit nicht der erste Bezugspunkt einer Akteurs- oder Handlungstheorie. Hiergegen erscheint es als sinnvoll und konstruktiv, die Theorie der Politik zwi­ schen Gesellschaft, Macht und Raum zu verorten. Die Tradition der Geopolitik wäre also als eine kritische Perspektive hinzuzuziehen.

1.3 Geopolitik in altem und neuem Gewand Dabei muss man zunächst klarstellen: welche Form der Geopolitik? Sicherlich nicht jene Ansätze, die ihren Höhepunkt im späten 19. Jahrhundert hatten und vereinfacht gesprochen den Weg in die totali­ taristischen Bahnen des 20. Jahrhunderts begleiteten. Geopolitik hieß in anderen Zeiten auch: Geodeterminismus und Bellizismus. Das 19. Jahrhundert, das den Nationalstaat zur vollen Größe hervorbrachte, stand im Zeichen eines eigentümlichen Raumdenkens. Der Sozialdar­ winismus mit biologistischen Ideen, Militarismus, Imperialismus und Kolonialismus hatten den Nährboden für die unbedingte Raumnahme geschaffen. Der Staat war den geopolitischen Denkern dieser Zeit nicht ein formales, sondern ein organisches Wesen, das im Boden verwurzelt sei und somit den natürlichen Konflikt mit anderen Staaten suchen sollte – mal auf Augenhöhe der europäischen Konkurren­ ten, aber auch hinter den Barbarengrenzen, wo das freie Spiel der Kräfte galt. Diese Geopolitik begleitete das politische Denken, das geradewegs auf den totalitaristischen Exzess zusteuerte, indem es die passenden Kategorien bereit stellte367. Von diesen historischen Verirrungen ist die neuere Theorie der Geopolitik weit entfernt. Als politische oder kritische Geographie368 nutzt sie die Kategorie des Raumes, um die Tiefe gesellschaftlicher Konfliktformen zu erfahren. Sie umfasst ein Forschungsfeld, das sich auf die Veränderungen in der Machtarchitektonik der Moderne, die subtile Mechanik von Inklusion und Exklusion, Prozeduren von Ver­ sicherheitlichung und Überwachung erstreckt. Die oben geschilderten U. a.: Friedrich Ratzel: Politische Geographie. München/Leipzig 1897; Ders.: Kleine Schriften, Band 2, München 1906; kritisch-zusammenfassend: Paul Reuber: Die politische Geographie nach dem Ende des kalten Krieges. Neue Ansätze und aktuelle Forschungsfelder. In: Geografische Rundschau 54 (7/8), 2002, S. 4–9. 368 Paul Reuber: Politische Geographie. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012. S. 21–31. 367

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Kämpfe um Vorherrschaft und Hegemonie werden hier ebenso the­ matisiert wie etwa die Verdrängungsprozesse im städtischen Raum. Die neuere Geopolitik ist kritisch in mehrfacher Hinsicht: sie überblickt die räumlichen Muster der politischen Konflikte, die nach dem Ende der Blockkonfrontation in unübersichtlichen Verhältnis­ sen mündete, aber sie gibt sich nicht mit dem Verweis auf die Machtspiele der »global players« zufrieden. Tieferreichende kultur­ räumliche Dimensionen erweitern das Spektrum der Sozialkritik, die sich nicht auf den einen Hegemon oder die eine dominante Krise einer Zeit beschränkt. Die anthropologischen Bestimmungen, die bei Denkern wie Carl Schmitt noch in der Tradition der theolo­ gischen Erbsünde standen und der pessimistischen Erzählung der Herrschaftsbedürftigkeit des Menschen folgten, werden um entschei­ dende Raumkategorien erweitert. Bei Carl Schmitt, dem umstrittenen staatsjuristischen Denker, stand eine Totalität des Politischen im Vor­ dergrund, die kein konkretes Sachgebiet bezeichnete, sondern einen Intensitätsgrad der Assoziation und Dissoziation von Menschen. Ohne Feindbestimmungen könne sich kein Staat behaupten; alle politischen Entscheidungen gingen insofern auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurück. Die Bestimmung der Feindschaft ist somit eine Letztunterscheidung, die den äußersten Intensitätsgrad humaner Beziehungen in die politische Semantik umformt. Die Ein­ beziehung des Anderen in rechtsphilosophischer Tradition steht hier nicht zur Debatte, sondern eine Unumgänglichkeit der feindlichen Begegnung: politische Entscheidungen richten sich nach Schmitt auf die Beurteilung der Situation der Verfeindung; nur mit offenem Visier wird man erkennen, inwieweit das Anderssein des Fremden zur Negation der eigenen Art der Existenz neigt369. Das Narrativ der politischen Feindschaft, das durchaus Anschlüsse zur Hegemonietheorie bei Laclau und anderen findet, ist aber nur eine mögliche Bestimmung der modernen Raum- und Geopolitik. Natürlich bedarf es einer Optik für die neuen Formen der Gewalt jenseits aller überkommenen Raumgrenzen. Für die ago­ nalen Formen der modernen Politik ist eine Vielfalt von Akteuren, Repräsentationen und vor allem von Raum-Macht-Konstellationen in Rechnung zu stellen. In den Containern der Nationalstaaten werden diese Konflikte nur selten sichtbar; sie überwinden Gren­ 369 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Collorarien. Berlin 1963, S. 26.

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zen und verschwimmen in den gleichsam perforierten Räumen der Postmoderne. Zu den Gewissheiten der politischen Soziologie zählt in diesem Zusammenhang, dass die politische Macht keineswegs mehr in den Händen der nationalstaatlichen Akteure liegt; transna­ tionale Unternehmen und globale Netzwerke nehmen zu gleichen Teilen Gestaltungsansprüche des Politischen wahr, so dass zumindest keine eindeutige Richtung politischer Konfliktverhandlungen mehr zu erkennen ist. Der Staat, so wie man ihn in einer romantischen Sichtweise kennen und schätzen gelernt hat, ist in dieser Situation ein Überbleibsel. Was genau macht also die Konfliktstruktur unserer Zeit aus? Technologien des Regierens besetzen die neuen Machtarchitekturen. Ein kaum zu überblickendes Konfliktszenario ist zu vergegenwärti­ gen, das aus der marginalen Sicht der helfenden Professionen bedroh­ lich wirken muss: Diskurse über Sicherheits- und Überwachungstech­ niken, Formen von Inklusion und Exklusion, Kämpfe um Hegemonie oder die Kontrolle des öffentlichen Raumes und über all dem ökono­ mische Bestimmungen, die schonungslose Analysen unvermeidlich machen. Die Leitbilder der Kritik verschwimmen; Stichworte wie Globalisierung, Neoliberalismus, der Abbau des Sozialstaats besetzen den diskursiven Raum, ohne eine deutliche Konfliktlogik erkennen zu lassen. Themen, Dimensionen der Räumlichkeit, internationale Per­ spektiven und die Verbindungen von Raum und Identität bilden das weitgespannte Spektrum. Die Themen sind gleichsam ortsgebunden, lokal wie auch grenzübergreifend. Man muss Konflikte in Teilen der Welt zur Kenntnis nehmen, die relativ weit entfernt von den Selbstbeschreibungen der »Ersten Welt« sind. Erweitert man den kritischen Blick über den europäischen Kontinent hinaus, erkennt man Konfliktsituationen, die eine genauere Inspektion erfordern370. Die tradierte Kommunikationslogik greift in diesen Gewalträu­ men nicht mehr: die Idee, dass sich die Politik eben allein auf der 370 Um ein Beispiel zu nennen: in den Bergen Nordostthailands findet man illegale Siedlungen in Nationalparks, die nur im Zusammenhang von verweigerten Bleibe­ rechten und Zwangsumsiedlungen zu verstehen sind. Die Protestbewegungen, die hier kaum bemerkt von der Weltöffentlichkeit bestehen, bilden ein weitverzweigtes Geflecht: lokale »Grassroot-Bewegungen« bilden offene Allianzen mit globalen Pro­ testnetzwerken und partizipativen Bewegungen, die sich gegen die Politik von Res­ sourcennutzung, Landrechtevergabe, aber auch Waldschutz zur Wehr setzen. Vgl. Reuber 2012, S. 27–29.

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Ebene von politischen Handlungssystemen analysieren ließe, führt geradewegs an der Konstitution der Welt in kritischen Dimensionen vorbei. Nur ein breit gespanntes Verständnis dessen, was als Politik zu bezeichnen ist, hilft in dieser unübersichtlichen Situation weiter. Die Vervielfältigung der beteiligten Gruppen und der Grad ihrer Vernetzung, die vielen Ebenen politischer Durchsetzungsmacht und symbolische Politik, formale und informale Formen des Protestwider­ stands bilden den Rahmen einer möglichen Rekonstruktion. Aber diese Erweiterung des Blicks muss sich nicht in der Unend­ lichkeit der globalen Politik verlieren; die veränderten Leitbilder der Macht sind ebenso in lokalen Bezügen zu thematisieren. Soziale Praktiken der Inklusion und Exklusion prägen eine eigene Sprache aus, aber sie sind immer auch räumlich zu begreifen: Wenn etwa diskutiert wird, unter welchen Bedingungen Stadtviertel verschönert und »gereinigt« werden, wenn Ordnungs- und Kontrollpolitik verin­ nerlicht wird oder wenn der Rückzug in bewachte Wohnkomplexe mit sozialen Verdrängungsprozessen im öffentlichen Raum einher geht. Diese Prozesse sind Teil der Governance-Politik in allen Teilen der Welt und immer stellt sich die Frage, welche Rolle helfende Akteure dabei spielen könnten. Die Maßstabsebenen der Politischen Geographie erstrecken sich auf lokale Räume und zugleich auf die undeutlichen Horizonte in den Geografien der Verletzlichkeit (M. Crepon) hinter den eigenen Grenzen. Die Semantik der Grenze und die Bedeutung des mit Identität aufgeladenen Raumes bilden insofern die weiteren theoreti­ schen Eckpunkte.

1.4 Grenzen und Identitäten Räume sind keine leeren Objekte. Die humane Welt ist immer mit einem Raum verbunden, der angeeignet, erobert, parzelliert und eingehegt wird. Menschen finden sich in Räumen wieder, sie erfahren sich als Fremde oder Beheimatete und sie richten Erwartungen und Hoffnungen an den eigenen Raum. Diese grundsätzlichen Überlegun­ gen zur historischen Dimension des Raums werden komplexer, wenn man sie in die Auseinandersetzungen der gegenwärtigen Identitäts­ diskurse einbezieht. Einfachere Lesarten sind zu vermeiden: dass der Raum »Heimatgefühle« weckt, dass sich Menschen an den Raum emotional binden oder dass sie ihn mit sakralen Werten, etwa solchen

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der Memoria, verknüpfen. Erst wenn die Phänomenologie raumbezo­ gener Identität mit den Kategorien der Macht zusammengeführt wird, werden alle notwendigen Konfliktebenen sichtbar. Der Raum kann wie beschrieben Gegenstand einer Projektion sein, er steht im Zentrum eines Wunsches, aufgehoben, integriert und gleichsam eingebettet zu sein. Aber nicht nur widerspricht die postmoderne Situation dieser Illusion, nicht nur wird Kritik am Hei­ matgedanken laut, wenn sie sich unreflektiert auf einen Wärmestrom einer guten Gemeinschaft richtet. Auch ist zu vergegenwärtigen, dass die Moderne vom Standpunkt des ausgeschlossenen und marginali­ sierten Daseins ein erkalteter Ort ist. Der Raum der Gegenwart kann erhellt und freundlich erscheinen; vielen, zu vielen Menschen wird er sich eher als entfremdeter Raum erweisen. Die Andeutungen zum Verhältnis von Fremden und Dazugehörigen sollen hier genügen371, denn es geht zunächst um die kritische Aufarbeitung der Präsentation und Produktion von politischen Räumen. Eine genauere Definition des Raumes fällt indes schwer. Räumli­ che Markierungen, territoriale Grenzen, Skalierungen und Netzwerke bilden einen vielschichtigen Zusammenhang372. Die Raumkonzepte der Politischen Geographie erfassen den Raum als Ausdruck gesell­ schaftlicher Ungleichheitsverhältnisse, mit sichtbaren und unsichtba­ ren Verkörperungen. Auf einer handlungstheoretischen Ebene ist der Raum darüber hinaus eine Ressource in politischen Konflikten; schließlich ist er aber auch ein Bestandteil gesellschaftlicher MachtWissens-Formationen. Macht hat mit symmetrischen Verteilungen oder mit Asymme­ trie zu tun. Aber die Verknüpfung mit Identitätsmustern macht erst seine Brisanz aus. In der globalen Dimension lässt sich mit wenigen Andeutungen zeigen, inwiefern Räumlichkeit mit Konfliktmustern verflochten ist: im Unabhängigkeitskampf der Kurden oder an der umkämpften Deutungshoheit zwischen Kultur und Religion in Tibet, an den separatistischen Bewegungen im spanischen Katalonien oder einfacher an den nationalen Symbolen, die sich über die USA erstre­ cken – immer wird Räumlichkeit mit Machtansprüchen verkörpert. Selbst die Topographien der Geschichte, die mit distinkten Titeln verknüpft sind, lassen erkennen, inwieweit im Raum Vorstellungen Vf.: In der Fremde. Über die Möglichkeit der Solidarität aus den Quellen der europäischen Geschichte. Duisburg: Athena 2019; Ders.: Die Erfüllungsgestalt Euro­ pas. Grundriss einer interexistentiellen Kultur. Baden Baden: DWV 2019a. 372 Reuber 2012, S. 42. 371

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aktiviert und hegemoniale Formen zwischen dem Eigenen und dem Fremden stabilisiert werden. Der kritische Blick auf den Raumbezug der Macht hat eine lange Tradition. Edward Said sprach schon 1978 vom Orientalismus als Spiegelfunktion. Identität wird gewonnen durch die Distanz zu dem ganz Anderen: der Okzident spiegelte sich im Orient, der als Negativ des westlichen Ideals erschien und somit zur kolonialen Abhängigkeit verurteilt werden durfte373. Das Eigene entsteht hier durch die Differenz zum ausgeschlos­ senen Anderen; die Identität des Eigenen kann ihren Konstruktions­ charakter verbergen, solange sich nur das Gegenbild in imaginären Geographien fixieren lässt, in bizarrer Geographie, »rückständiger« Kultur und dunkler Vergangenheit. Seit dieser Kritik des Konstruk­ tionscharakters der Identität haben sich die sogenannten Cultural Studies auf dem Feld der kollektiven Diskurse etabliert374. Kann man behaupten, dass sich diese Kritik verfestigt hat und sie somit als Sozialtheorie fungiert, das Sensorium für Eingrenzungen und Ausgrenzungen garantiert? Zumindest wird die herkömmliche Unterscheidung zwischen Wir-Gruppen, die im schlechtesten Fall auf den Kampf zwischen Kulturen hinausläuft, von neuen »Hier/ Dort-Unterscheidungen«375 durchbrochen. Und das heißt zunächst nichts mehr, als dass der kritische Diskurs auf alle Ebenen zwischen Sprache und Zeichen, zwischen Räumlichkeit und Leiblichkeit, zwi­ schen den Geografien des Wohlstands und den marginalen Zonen der Welt erstreckt. Eine Gefahr kann insofern nicht ausgeschlossen werden. Kritik der Macht hat ihr Eigenrecht, das sie aber nicht dazu berechtigt, alle Potentiale des Sinns zu verschenken und denkbare Horizonte der Ver­ söhnung außer Acht zu lassen. Dies wird aber nur dann der Fall sein, wenn die Schärfe der Kritik mit der Lebensdienlichkeit politischer Ideen einher geht. Welche Theorie der Politik wäre insofern imstande, beides zu garantieren?

373 374 375

Edward Said: Orientalism. New York 1978. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994. Reuber 2012, S. 46.

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1.5 Der fundamentalanthropologische Blick. Gewalträume in der conditio humana Wozu, so können wir abschließend fragen, dient nun die Kategorie des Gewaltraums in der vorliegenden Perspektive? Nur in widersprüch­ lichen Konstellationen lassen sich die Zusammenhänge abbilden. Der größte Widerspruch führt zurück auf den Weltbegriff, von dem bedeutende Philosophien ausgehen und der soziologisch und kritisch übersetzt werden müsste. Denn mit der Vorstellung, dass wir in gleichen Räumen leben würden, die uns in ein Verhältnis zur Gewalt zwingen, ist es alleine nicht getan. Anders verhält es sich mit dem Weltbezug, dem alle Menschen in gleichem Maße ausgesetzt sind. Wir sind faktisch in der Welt und erfahren Gefühle der Weltzugehörigkeit; Bindungen zur Welt, die freilich spezifischen Umständen unterworfen sind. Die philosophi­ schen Begriffe des Daseins, der Natalität und der Existenz verweisen auf unabweisbare Bedingungen der menschlichen Grundsituation: die Vulnerabilität, Endlichkeit und Negativität bilden die Grundlage einer Welt, in der wir immer nur mit, nie ohne Andere ein Leben führen müssen (was nicht bedeutet, dass wir diese Tatsache auf viele Weisen negieren können). Damit wäre aus philosophischer Sicht bereits ein Fundament gelegt, auf dem sich ethische Reflexionen entwickeln ließen. Die Verletzlichkeit zeigt sich in politischen Dimen­ sionen und Machtverhältnissen, in einer fundamentalen Abhängig­ keit zwischen Gruppen, Völkern, Staaten, Nationen und Kulturen; sie ist gegenwärtig universalisiert worden und in die Semantik des unverfügbaren Menschenrechts überführt worden. Freilich gelangt man im Zuge dieser Einsicht an eine Grenze; denn von der Tatsache der Fragilität unserer Existenz führt kein erkennbarer Weg in ein Universum gemeinsamer politischer Projekte. Man spricht zwar in bestimmten Kontexten vom Weltrecht und von Weltinnenpolitik. Aber ohne Scheuklappen betrachtet, leben wir in getrennten Sphären, in Geografien der Verletzlichkeit, »deren Landkarten sich in die Karten des Hungers, des Elends, der Kriege und Epidemien, der politischen Gewalt und der Unterdrückung unterteilen.«376 Reduzieren sich alle Überlegungen letztlich unweigerlich auf einen Realismus der Tatsachen? Und wäre man somit nicht wiederum zurückgeworfen auf jene Einsicht, dass Andere den Spalt der gebil­ 376

Marc Crepon: Geografien der Verletzlichkeit. In: Staudigl 2014, S. 272.

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ligten Ungleichheit stärker spüren, dass sie Bedingungen ausgesetzt sind, für die »Wir« immer nur selektive Aufmerksamkeit, partielles Interesse und zögernde Verantwortung aufbringen? Die sozialpäda­ gogischen Diskurse treffen in dieser Sache immer wieder auf den gleichen Punkt, an dem sie berechtigterweise nicht weiterführen und stumm bleiben müssen. Gibt es aus der vorliegenden Perspektive eine Antwort, die den dringlichsten Fragen nicht ausweicht? Dass wir in unterschiedlichen Zonen der Welt leben und diese Räume mit unterschiedlichen Verletz­ lichkeiten einher gehen, wird einen aufmerksamen Beobachter nicht überraschen377. Der sozialpädagogische Blick auf die Welt ist an die­ sem Punkt aber konstruktiver; er führt die abstrakten Überlegungen an praktische Wahrnehmungen heran. Von der abstrakten Kategorie des Gewaltraums können wir nicht unmittelbar auf die Bedeutung von Sozialräumen umschalten. Aber diese genuin sozialpädagogische Begrifflichkeit versetzt uns in die Lage, der faktischen räumlichen Aussetzung der Menschen eine praktische Orientierung anzufügen. Im Hintergrund sind die Vektoren und Dimensionen räumlicher Gewalt zu vergegenwärtigen: in den Geografien der Verletzbarkeit bleiben Menschen Gewaltver­ hältnissen ausgesetzt. Dieses »Außen«, das es soziologisch gesehen gar nicht mehr gibt, dringt mehr und mehr in die inneren Bezüge, in denen Recht, Politik und Machtbestimmungen herrschen. Innen und außen sind aber letztlich nur formale Kategorien. Die erwähnte Verletzlichkeit ist ebenso relevant in den inneren Welten wie in den abseitigen Bezügen. Andere müssen in Gesellschaften ein Dasein konfrontieren, in Räumen, die weder komfortabel noch endgültig gesichert sind. Sozialräume, Rechtsräume, Lager und Unterkünfte, Zonen und Randständigkeit bedingen diese Art und Weise, ein Leben führen zu müssen. Für diese Lebensformen, in denen Andere ihre Leben gestalten, sind Begriffe und Anschauungen zu schaffen, die sich mit den herkömmlichen Unterscheidungen nicht zufrieden geben. Wie auch immer man den gegenwärtigen Weltzustand bewerten mag, die Soziale Arbeit übernimmt in diesen Verhältnissen ein Man­ dat, das schwer wiegt und darin seine Bedeutung findet. Entwicklung, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Arbeiten – in den fundamentalen 377 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt aus dem Englischen v. K. Wördemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.

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1. Kategorien und Aporien

Bezügen geht es um die gelingende Aneignung von Verhältnissen. Neuere Untersuchungen sprechen von der Verhandlung des sozia­ len Raums378. Räume werden anders gesprochen nicht als bestehende Ordnun­ gen den Einzelnen erfahren, sondern sie sind zu gestaltende Bedin­ gungen. In einem Gewebe sozialer Praktiken sind die Individuen gezwungen, lebensdienliche Aspekte ihrer Situation zu schaffen. Aber – in der Vielfalt sozialer Situationen der sozialräumlichen Aussetzung erkannt man (immerhin) eine minimale berufsethische Bestimmung, die weiter zu verfolgen ist. Erst eine reflexive räum­ liche Haltung schafft einen unverstellten Blick auf die Wirkungen von Macht, Differenz, Herrschaft und Recht, Raum und Gewalt. Ein Mandat in diesem Kontext zu übernehmen, kann sich nur als ein sich selbst dementierendes Verfahren verstehen. Es muss ohne utopische Potentiale auskommen und sich der faktischen Aussetzung Anderer widmen. Die Vermessung und Okkupation des sozialen Raums schreitet voran; aber die Spielräume zwischen Raumrelationen und Gestaltungsanlässen sind damit nicht endgültig festgelegt. Der Stein, der hier zu wälzen ist, gibt Anlass für mythische Analogien. Und doch bleibt die professionelle und ethische Position auf die bewährten Maximen verwiesen, die sich an der Überschreitung des Gegebenen und Unmittelbaren orientieren.

Ulrich Deinert (Hg.): Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden 2009; Ulrich Dei­ net/Christian Reutlinger (Hg.): Aneignung als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Wiesbaden 2004.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne. Die Politik der Menschenrechte und die internationale Soziale Arbeit

Von Signaturen unserer Zeit zu sprechen, ist problematisch. Es gibt nicht das eine Ereignis oder die ein große ikonische Geste, die den Anspruch der Repräsentation des Ganzen in Anspruch nehmen könnte. Gleichwohl gibt es Objekte im öffentlichen Raum, die mehr als nur einen diskreten Hinweis darauf geben, in welchen Zeiten man lebt und welcher Art die Konflikte sind, die zwischen Lebensfor­ men bestehen. In Gent etwa steht ein Denkmal des belgischen Königs Leopolds II. Ein Symbol der Herrschaft, das im Sommer 2020 wie viele andere gestürzt werden sollte. Ein blutverschmiertes Tuch verhüllte das Antlitz der Statue mit den Worten: I can`t breathe. Es erinnerte an den Tod des George Lloyd Floyd, der Anlass einer Welle weltweiter Proteste wurde. Die Gewalt, an die durch die Dekonstruktion der Büste zu erinnern war, reichte freilich weiter. Sie richtete sich gegen eine Vergangenheit, für die das Wort »Aufarbeitung« kaum einstehen kann. Leopold II. hatte im Kongo eine Schreckensherrschaft errichtet und war für den millionenfachen Tod der Kongolesen verantwortlich. Die symbolische Geste, ein Objekt mit jener Gewalt zu über­ ziehen, die Andere am eigenen Leib erfahren mussten, lenkt die Aufmerksamkeit auf die ungelösten Konflikte unserer Zeit – und auf die uneingelösten Versprechen, die uns durch die Sprache der Men­ schenrechte vermittelt wurden. Ein miserabler Befund erkennt im Ikonoklasmus nichts anderes als schlichte Negativität: das koloniale Erbe wiegt schwer; der Rassismus ist ungebrochen, die Gewalt bietet ihr Antlitz in allen Facetten. In der Unversöhnlichkeit deuten sich die wirklichen Signaturen unserer Zeit an. Der verständliche erste Impuls wendet sich gegen diese Dia­ gnose. Denn gegen den Widerstreit lässt sich das Recht der modernen Institutionen aufbieten, gegen die Willkürherrschaft »haben« wir eine Moralität zur Verfügung. Nicht die oberflächliche Harmonie, aber

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

doch die Aussicht auf Versöhnung zählt doch in gleichem Maße zu den Eigenschaften unserer Zeit – so möchten wir es glauben. Dem widerspricht freilich die Einsicht, dass die modernen Gesellschaften bislang nicht in der Lage waren, eine Integration des Ganzen zu gewährleisten. Und somit stellt sich die Frage, an welche gesellschaft­ liche und soziale Instanz man sich wenden soll, um den Konflikt der Lebensformen in lebbare Verhältnisse zu transformieren. An das bestehende Recht, das unsere moralischen Intuitionen zumin­ dest partiell abbildet? An die Politik, die mehr als nur für formale Verfahren, sondern gleichsam für den moralischen Zusammenhalt verantwortlich ist? Oder gar an jenen anonymen Mechanismus der gesellschaftlichen Integration der Funktionssysteme, der von der Soziologie hervorgehoben wird? Alle diese Instanzen haben in der Tat einen wesentlichen Anteil am Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie haben aber offensichtlich nicht verhindern können, dass Gesellschaften durch Ungleichheiten und Widersprüche nachhaltig bedroht sind und die soziale Anomie wieder zu einem realen Schreckensbild wird. Und diese negative Einsicht kann durch keine Aussicht auf eine vermeintlich überle­ gene »höhere« Vernunftinstanz gemildert werden. Die folgenden Überlegungen nehmen diesen pessimistischen Befund auf; aber sie denken darüber hinaus. Sie stehen nicht im Zeichen einer einzelnen Autorität oder einer überlegenen Instanz, sondern im Zeichen einer besonderen Diskursivität. Dieser Diskurs ist »sozialpädagogisch« und dies bedeutet nichts anderes, als dass die bestehenden Konflikte zwischen Lebensformen unter bestimmten sozialen Voraussetzungen thematisiert werden. Die grundlegende These besagt, dass der sozialpädagogische Blick ebenso wenig für den Zusammenhalt einstehen kann, aber dass er eine unverzichtbare Aufgabe hat: die Konstitution der Gesellschaft im Kontext der Wahrnehmung des Anderen zu reflektieren. Dieser Diskurs steht somit zwischen den fundamentalen Einsichten, die uns von der Ethik, der Anthropologie und den Humanwissenschaften vermittelt werden. Auf eine bestimmte Weise thematisiert der Dis­ kurs die Bedingungen, unter denen wir einander begegnen und unter denen wir einander erkennen. Der Verdacht, dass der Horizont des Ganzen zerbrochen ist, wird hier freilich nicht durch sozialpädagogi­ sches Wissen oder pädagogische »Techniken« aus der Welt geschaf­ fen. In Frage steht vielmehr, inwieweit dieser sozialpädagogische Diskurs dazu beitragen könnte, die Horizonte des Allgemeinen ein

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1. Von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik

Stück weit zu öffnen, die durch alle denkbaren Formen der Gewalt verschlossen wurden. Dazu wird einleitend reflektiert, welchen theoretischen Bezug der erwähnte Diskurs aufweist und wie er im Vergleich zu anderen Diskursen zu verstehen ist – es geht also zunächst um die Verbindun­ gen von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik (1). In diesem Rahmen wird anschließend aufgezeigt, dass die helfenden Professio­ nen einen internen Weltbezug haben, der für die Selbstbeschreibung des Diskurses von eminenter Bedeutung ist (2). Wie sich die Spra­ che der Menschenrechte in transkulturelle Handlungsperspektiven überführen lässt, ist eine komplexe Frage, die hier aus fundamental­ anthropologischer Sicht beantwortet wird.

1. Von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik Der erwähnte Diskurs steht natürlich in einer besonderen Nähe zu dem, was sich als der sozialphilosophische Diskurs der Moderne bezeichnen lässt. Dieser reflektiert die Form der Moderne in allen moralischen, sozialen und politischen DimensionenAxel Honneth: Kritik

der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp

1989..

Der sozialphilosophische Bezug auf die Gegenwart geht mit der unverzichtbaren Kritik der Macht einher. Er benennt Reflexions­ stufen jener Kritik, die eine Gesellschaftstheorie ermöglichen. Er bildet somit den kategorialen Rahmen einer Analyse, die den offenen Blick auf die Strukturen bestehender Machtverhältnisse ermöglicht; zugleich thematisiert er Ansätze der praktischen Überwindung die­ ser Phänomene. Was hingegen meint hier der sozialpädagogische Diskurs? Natür­ lich geht es auch hier um die elementaren Dinge, um Macht, Herr­ schaft und Selbstbemächtigung. Die soziale und pädagogische Aus­ richtung benötigt demgegenüber ein gewisses Maß an Optimismus. Denn er rückt den Menschen in das Zentrum der Reflexion und fragt explizit nach den Bedingungen des Zusammenseins, die man als lebenswert bezeichnen kann. Es ist also die Frage nach dem Menschen in den konkreten Bezügen, die diesen Diskurs von anderen unterscheidet. Damit rücken die Phänomene des Gewaltverzichts, der Solidarität, der Integration, des Menschenrechts und der Differenz in Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

das Zentrum. Erst im Bezug der Begriffe aufeinander wird man nach­ vollziehen können, inwieweit diese Kategorien einen substantiellen Zusammenhang ergeben. Die Moderne steht für Sozialpsychologen wie Steven Pinker für einen diskreten Sieg der Menschheit über ihre eigene Schwäche. Die Gewalt hatte sich in allen denkbaren Situationen entfaltet und die Geschichten der Menschheit nachhaltig geprägt, so Pinker. Ein neues Kapitel wird indes geschrieben, seitdem der Frieden nicht nur auf dem Papier ermöglicht wird. Diese Facette des Zivilisationspro­ zesses ist bemerkenswert, weil er mit einem faktischen Rückgang des gewalttätigen Verhaltens einher geht – weil die Menschen psy­ chologisch betrachtet weniger impulsiv, zügellos und gewaltbereit geworden sind379. Aber auch weil die meisten modernen Gesellschaft es geschafft haben, die Barbaren im Inneren zu zähmen. Diese Semantik ist ungewöhnlich, scheinbar anachronistisch. Barbarisch sind in dieser Lesart nicht die Anderen, die fern von dem hellen Zentrum einer Kultur stehen, sondern barbarisch wäre der Mensch an sich zu bezeichnen. Jede Generation, die aufs Neue sozia­ lisiert, zivilisiert und kultiviert werden muss, treibt dieses Verfahren voran und wird in subtilen Verfahren der Disziplinierung verfeinert. Die einen nennen es Bildung, Aufklärung, andere sehen in diesem Vorgang eher die Wirksamkeit der Macht.380 Man kann die Erziehung des Menschengeschlechts als den Sieg des Zivilisationsprozesses feiern. Oder man gibt zu bedenken, dass die Haut der Zivilisation extrem dünn ist und dass die Gewalt auch im Inneren einer Kultur immer von bestimmten Faktoren abhängig bleibt381. Wie auch immer man hier die Akzente setzt: der vernünftige Gehalt der Moralität ist zu verteidigen. Er drückt sich in einem Selbst­ verständnis aus: der gleichen Achtung für jeden und einer allgemei­ nen solidarischen Verantwortung für Andere. Ohne diesen minimalen Konsens eines Universalismus ist keine sozialtheoretische Analyse denkbar. Die Schwierigkeiten beginnen freilich an der Erkenntnis, dass dieser selbstverständliche Universalismus schnell in den Fokus 379 Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt am Main: Fischer 2013, S. 125. 380 Wilson, J. Q.: Thinking about crime. New York: Basic books 1974; Wilson, J. Q./Herrnstein, R. J.: Crime and human nature. New York: Simon and Schuster 1985. 381 Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main 2005; Ders.: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main: S. Fischer 2008.

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1. Von der Sozialphilosophie zur Sozialpädagogik

der Kritik gerät. Auch ein universalistisches Ethos kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auf vielfältige Weise einander verkennen und missachten. Die rücksichtslose Assimilierung macht Andere zu einem bloßen Objekt, oder lässt sie gleichsam verschwinden382. Erst eine Perspektive, in der die relationale Struktur des Anderen Bedeutung erhält, führt an diesem Punkt weiter. Sie müsste – und darin ist ein wesentlicher Kern der »Sozialpädagogik« im weitesten Sinne enthalten – mit einer Form des Universalismus zusammenge­ führt werden, der für alle Differenzen und Dissonanzen einer mensch­ lichen Welt empfindsam bleibt. Nicht die oberflächliche Bekräftigung des Gleichartigen, sondern die differenzsensible Einbeziehung des Anderen wird somit zum entscheidenden Prüfstein383. Es ist nicht die Frage, an welchem Punkt der moralischen Ent­ wicklung man im Allgemeinen steht. Sondern eher, unter welchen Bedingungen die Einbeziehung des Anderen in komplexen Gesell­ schaften gelingen kann, wenn sie mehr sein soll als ein Lippenbe­ kenntnis. Zu dieser Frage liegen hochwertige Untersuchungen vor. Der Zusammenhang von demokratischer Selbstgesetzgebung und Solidarität etwa wäre in diesem Zusammenhang zu nennen.384 Aus dem christlichen Postulat der Brüderlichkeit sind demnach Stufen der Solidarität hervor gegangen, die bis zur politischen Rechtsgenos­ senschaft reichen. Solidarität ist kein Luxus, den sich prosperierende Gesellschaf­ ten leisten oder nicht; sie ist auch nicht allein eine Qualität eines Gemeinwesens, dessen Mitglieder auf bestimmte Weise miteinan­ der umgehen. Erst im weiten Horizont der Globalisierung ist der Anspruch demokratisch ermöglichter Solidarität richtig verstanden. Solidarität war zu Beginn an die politische Form des Nationalstaats gebunden, später hat sich Solidarität in der funktional differenzierten Gesellschaft aber global entfaltet. Die massiven Probleme, mit denen alle Gesellschaften und Kulturen heute konfrontiert werden, werden

382 U. a.: Frank Wilderson: Afropessimism. New York: Liverright Publishing Corpo­ ration 2020. 383 Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur poliitschen Theo­ rie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 11–65. 384 Hauke Brunkhorst: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechts­ genossenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

nur dann bewältigt, wenn das Solidaritätspotential moderner demo­ kratischer Gesellschaften ausgeschöpft wird385. Darüber hinausgedacht kennzeichnet den sozialpädagogischen Diskurs der Moderne natürlich auch eine Orientierung an modernen Errungenschaften und Werten. Ohne den Gedanken der Menschen­ rechte, die unser Bewusstsein als moderne Zeitgenossen prägen, ist ein sozialpädagogischer Diskurs kaum zu führen. Menschenrechte haben in der Moderne den Status des Sakralen erworben. Das heißt, sie gehen zurück auf eine affirmative Genealogie. Das Heilige im reli­ giösen Sinne hat bekanntlich in älteren Gesellschaften den sozialen Zusammenhalt ermöglicht; eine moderne Interpretation des Sakralen ist hiermit durchaus vergleichbar. Nun sind es freilich säkulare Werte und fundamentale Rechte, die mit subjektiver Gewissheit, affektiver Intensität und dem Empfinden der Evidenz einher gehen386. Aber auch damit ist der hier gemeinte Diskurs nicht abgeschlos­ sen. Die Orientierung an Werten und Rechten ist natürlich unabweis­ bar; aber ungeklärt ist dabei ja die ebenso bedeutende Frage, wie sich normative Orientierungen in bestimmten Gesellschaften auswirken und entfalten können. Die Berufung auf einen gültigen Kern funda­ mentaler Rechte ist unverzichtbar, aber sie ist auf ein spezifisches Weltverständnis verwiesen. Der sozialpädagogische Diskurs berührt sich zuletzt mit der genuin philosophischen Frage, wie sich das mora­ lische Ziel des gelungenen Lebens mit den Grenzen und Bedingungen einer Gemeinschaft zusammen denken lässt. Der Diskurs befindet sich somit an einer Schnittstelle, bzw. an einem Knotenpunkt. Die menschliche Existenz ist unhintergehbar auf Gemeinschaft verwie­ sen; die Bedingungen dieser Gemeinschaft aber sind nie substantiell vorgegeben (außer vielleicht in einer rigoros metaphysischen Ord­ nung)387. Gemeinschaften stiften Sinn. Sie ermöglichen die Teilung eines gemeinschaftlichen Vorrats an Zeichen und Symbolen. Sie schaffen Rahmenbedingungen für eigentlich menschliches Leben, insofern Heinrich Geiselberger (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp 2017. 386 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin: Suhrkamp 2015. 387 Jean-Luc Nancy. Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart 1988; Joseph Vogl (Hg.) Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Jacque Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. 385

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2. Der Weltbezug der helfenden Professionen

nur hier Sprache, Verstehen, moralische Normen und wechselseitige Achtung verwirklicht und verkörpert werden. Aber es gibt vielfache Wege, um diese fundamentalen Bedingun­ gen zu realisieren und sie in eine politische Form zu überführen. Diese eigentlich triviale Erkenntnis macht freilich einen großen Unterschied, ob man zum Beispiel liberale oder kommunitaristische Begründungen heranzieht, welche Werte man als verbindlich fest­ legt und welchen Stellenwert man der Identität einer Gemeinschaft zuspricht. Der schwierigste Bezugspunkt scheint – auch nach Jahr­ zehnten gelehrter Diskussionen – in der Kategorie des Wir enthalten zu sein. Ein »Wir« stiftet Zusammenhalt und bildet die Voraussetzung unserer Weltbeziehungen. Aber dieses Wir ist stets bedroht, natürlich von Prozessen der Schließung und Feindkonstruktion, aber doch auch von der Illusion, eine solche Gemeinschaft mit Zwang herstellen zu wollen. Eben dies ist, philosophisch verstanden, eine Gemeinschaft nicht: eine geschlossene Kommune, in die nichts Fremdes eindringen kann, eine Substanz, die vom Willen der Individuen geschaffen wird oder gar eine Ordnung, in der etwas Unzerstörbares und Unbedingtes zum Vorschein käme. Man spricht vielmehr von der epistemischen, existentiellen und normativen Unvollkommenheit, die jeder Gemein­ schaft vorgegeben ist388. Es ist diese sozialtheoretische Demut, die so schwer in das Selbstverständnis der helfenden Professionen zu integrieren ist. Denn diese sind auf eine Gemeinschaft angewiesen, in der die Achtung Aller als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Sie benötigen gewisserma­ ßen eine domestische Politik der Gerechtigkeit und verlangen nach Verfahren der gleichen Anerkennung. Und sie müssen zugleich mit der Einsicht leben, dass diese normativen Erwartungen immer nur in unvollkommenen Gemeinschaften eingebettet sind.

2. Der Weltbezug der helfenden Professionen Wo steht in diesem Zusammenhang die Internationale Soziale Arbeit, die ja auch nur eine Stimme in einem vielstimmigen Konzert ist? Die 388 Thorsten Bonacker: Die Gemeinschaft der Dekonstruktion. Zum normativen Gehalt liberaler Gemeinschaft. In: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.) Philosophie der Dekonstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 264–289.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

Kritik an der Ungerechtigkeit in der Welt zeichnet sie aus; sie fungiert als Vertreterin der Ausgeschlossenen und Vergessenen – aber eben auch in diesem Sinne steht sie nicht außerhalb der Gesellschaft. Erst als selbstreflexive Disziplin kann sie die Verantwortung ihres Man­ dats übernehmen, was vorrangig bedeutet, die eigenen Begrenzungen und Positionierungen im Feld der Macht zu erkennen. Diese Selbstreflexion ist nicht bequem. Denn es kann nicht darum gehen, die Perspektive der internationalen Dimension der herkömmlichen, lokalen Sozialen Arbeit einfach gegenüber zu stellen. Vielmehr erweitern transnationale Studien den Fokus der helfenden Professionen in dem Sinne, dass sie eine Grenzreflexion vornehmen. Ganz konkret heißt Grenzarbeit: den Standpunkt der betroffenen Menschen in ihrer Lebenswelt einzunehmen und darin mögliche Verflechtungen, Brüche und Verbindungen wahrzunehmen, die keine eindeutigen Identifikationsgewinne zulassen. Einfacher formuliert: die Arbeit mit einem »Klienten« ist in rechtliche, soziale, kulturelle und biographische Zusammenhänge eingebunden, die keinen einzel­ nen Ort und keine isolierte Verbindung auszeichnet. Die postmoderne Lebensform schließt die Herkunft und Ankunftsregion, das Ferne und das Lokale, die neuen und die gewohnten Beziehungen zusammen. Grenzarbeit meint: die rechtlichen und sozialen Spannungen müssen thematisiert werden, aber sie können von keinem denkbaren Standort aus gelöst werden; die kulturellen Widersprüche und biografischen Muster ergeben keine einfache Orientierung. Die Menschen in den Räumen der Transmigration müssen mit diesen Bedingungen leben und überleben – und die Akteure der Sozialen Arbeit sind den Gegebenheiten in vergleichbarem Maß »ausgesetzt«. Denn sie sind Teil des nationalstaatlichen Arrangements, Teil der hegemonialen Struktur der Weltgesellschaft, vor allem aber Vertreterinnen eines gesellschaftlichen Machtkomplexes. Als reflexiv sind auch die Bedingungen zu beschreiben, unter denen Menschen in asymmetrischen Verhältnissen einander begeg­ nen. Die soziale und politische Welt ist nicht wohlgeordnet, sondern gleichsam gekrümmt und unfertig. Es gilt daher, dem idealistischen Gedanken mit reflexiver Kritik zu begegnen. In den 1990er Jahren konnte sich ein Diskurs entfalten, der von einem optimistischen Grundton getragen wurde: Wohlfahrtsstaat­ lichkeit und wirtschaftliche Prosperität sollte sich früher oder später

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2. Der Weltbezug der helfenden Professionen

über alle Regionen der Welt ausbreiten389. Ein Weltethos rückte in die Nähe, das alle regionalen Konflikte und kulturellen Spannungen minimieren könnte390. Der Optimismus hatte bekanntlich mit den weltpolitischen Umbrüchen der 90er Jahre zu tun, deren Folgen bis heute spürbar sind. Die Soziale Arbeit findet in dieser Erzählung ihren Platz im Entwicklungsdiskurs – universale Rechte sollten jedem zugestanden werden und die ethnischen und kulturellen Partikular­ interessen lösen sich auf, sobald die Wohlfahrtsregime ihre Kraft entfalten können. Demgegenüber ist zumindest deutlich geworden, dass die Reich­ weite der Menschenrechte begrenzt ist und dass die soziale Arbeit eher im Schatten der Verstrickungen der globalisierten Welt steht. Als Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi) kann sie weder über das Recht verfügen noch das Recht durchsetzen, sondern »nur« in begrenztem Maße die Wahrnehmung von Rechten befördern. Alles, was die Profession an Macht und Einfluss zur Verfügung hat, ist einen kritischen Diskurs im umkämpften politischen Raum zu beflügeln. Auch in diesem Punkt ist eine reflexive Vertiefung wünschenswert. Die Politik in der Weltgesellschaft und die Politik der Menschenrechte wären als zwei Varianten zu nennen, wie man Politik verstehen kann. Die Wahrnehmung der Rechte findet in sozialen Räumen statt, die immer wieder neu vermessen werden. Aber die politische Dimension kann nicht einfach dieser Situation gegenüber gestellt werden. Der Begriff der Gouvernementalität von M. Foucault bringt die Schwierigkeiten der politischen Analyse zum Ausdruck391. Politische Macht wird durch Institutionen und Verfahren, Berechnung und Taktiken, Wissensformen und Ökonomie verkörpert. Die Bevöl­ kerung ist aber nicht einfach nur das Objekt dieser Machtformation, sondern sie ist in vielerlei Hinsicht mit den Techniken des Regierens verflochten. Dies betrifft auch die Soziale Arbeit – sie ist Teil des Governance-Komplexes, mit dem der Staat indirekt die Handlungen 389 Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beob­ achtungen globaler politischer Strukturbildung. Wiesbaden VS 2007; Dieter Gosewinkel (Hg.) Zivilgesellschaft. National und transnational. Berlin: Edition Sigma 2004. 390 Hans Küng/Dieter Senghaas (Hg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen inter­ nationaler Beziehungen. München/Zürich: Piper 2003. 391 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am College de France 1977–19978. Aus dem Französischen von C. Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

auch der staatlichen, sozialen und der zivilen Akteure lenkt und beein­ flusst. Die Regierung aus der Distanz kanalisiert mit kooperativen Mitteln die »global social policy« – und die helfenden Professionen erkennen sich als Teil dieses Machtdispositives an. Worum es also zuerst gehen muss, ist die Einsicht in die Grenzen der eigenen Disziplin: So selbstbewusst man auch eine Berufsethik vor sich her trägt, wie groß auch die Bedeutung der politischen Einflussnahme sein mag – nichts führt damit an der Einsicht in die vielfältigen Verflechtungen in Macht- und Abhängigkeitsverhält­ nisse vorbei392. Diese Einsicht in die eigene Limitierung ist nicht neu. Aber die Bedingungen, unter denen Politik und Herrschaft bestehen, ändern sich fortwährend. Die »Politik der Menschenrechte« ist an sich kein feststehendes, sondern ein flexibles Konstrukt. Es entwickelt sich, steigert sich zumindest in semantischer Hinsicht – und muss immer wieder Rückschläge in Kauf nehmen. Ziehen wir im Folgenden einen Bereich in Betracht, in dem sich der Wert des sozialpädagogischen Diskurses zeigen kann: die Orientierung an den Menschenrechten. Menschenrechtlich relevante Themen erweisen sich als aufdringlich, weil sie auf jene globalen Probleme zugeschnitten sind, die nicht mit den herkömmlichen Poli­ tikkonzepten bearbeitet werden können. Sie stellen die überlieferten Selbstverständlichkeiten in Frage und fordern neue Organisationsfor­ men in sozialen Beziehungen heraus. Was sie gemeinsam haben, ist eine eigentümliche Distanz zu den linearen Erfolgsgeschichten, die man im Allgemeinen bevorzugt. Eine Erfolgsgeschichte würde sich im Einfluss einer politischen Öffentlichkeit zeigen, die soziale Miss­ stände aufdeckt; an der Ausweitung zivilgesellschaftlicher Projekte, die sich nach und nach gegen alle kriegerischen Formen durchsetzen, schließlich auch in der Verbreitung einer inklusiven Bildung, die niemanden außen vor lässt. Kann man solcherlei Erfolge »behaupten«, ohne sich angesichts weltweiter Ungleichheit eigens rechtfertigen zu müssen? Wäre anders gefragt, der Hinweis auf eine fortschreitende Anerkennung weltweiter Werte gleichsam »blind« für die unabweisbaren Versteinerungen der internationalen Politik? Die Antworten werden unterschiedlich ausfallen. Hier soll im Folgenden zumindest ein Ausblick gewagt werden, der die Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts mit dem Profil 392

Graßhoff/Homfeld/Schröer 2016, S. 49–68.

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3. Die Politik der Menschenrechte

der internationalen Sozialen Arbeit verbindet. Die Ermöglichung des Friedens im Horizont erlittener Gewalt ist als Thema aufzugreifen – und es ist zu fragen, wie es den Rahmen einer Theorie sozialer Arbeit bedingt, die ihr eigene Position inmitten globaler Verflechtung behaupten muss.

3. Die Politik der Menschenrechte Menschenrechte sind kein abstraktes Konstrukt. Im Zuge einer kon­ kreten Auseinandersetzung mit einem »Fall« oder einer Situation erlangen sie ihre eigentliche Bedeutsamkeit. Erst in der Reibung mit der sozialen Wirklichkeit der Menschen werden sie fassbar und anschaulich. Beispielhaft lassen sich folgende »Geschichten« anbrin­ gen. »Ein Jugendlicher aus Syrien wird von der Polizei aufgegriffen und durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Obhut genom­ men. Er erzählt den Fachkräften des örtlich zuständigen Jugendamts, dass seine Eltern verstorben seien, es aber wohl Familienangehörige in Schweden gebe.«393 In komplexen modernen Gesellschaften kommt dem Recht ein besonderer Stellenwert zu. Menschenrechte drängen auf Verwirk­ lichung. Die Verletzung von Rechten kommt einem Skandal gleich, der verschiedene Interessen- und Berufsgruppen alarmiert. Geht es indes um Kinderrechte, muss rasch Abhilfe das Ziel sein, müssen Lösungen gefunden werden. Dies betrifft das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit in besonderem Maße – als Menschenrechtsprofession nimmt sie Partei für jene, deren Rechte bedroht sind. Die Fälle zeigen aber auch, dass es um soziale Ereignisse geht, für die keine soziale und gesellschaftliche Macht allein aufkommt und die immer nur in einem Dickicht von verschiedenen Einflusssphären und Geltungsbereichen zu betrachten sind. Die »Analyse« einer Biografie, die durch Krieg und Gewalt geprägt ist, lässt sich nicht einfach in eine Selbstbemächtigungsperspektive überführen. In den zerklüfteten Räumen der Transmigration bleibt der Krieg, wie im ersten Fall der Ursula Rölke/Marc Bauer: Grenzen überwinden – Kinder schützen – Familien verbinden. Internationale soziale Arbeit als grenzüberschreitende Einzelfallarbeit im Interesse von Kindern und Jugendlichen. In: Wagner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 209–227, hier S. 212 ff.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

jahrzehntelange Bürgerkrieg in Syrien, ein Thema und eine Bedin­ gung. Es zeigt sich, dass der unbedingte Vorrang der Achtung von Menschen- und Kinderrechten eine Dignität hat, einen Eigenwert. Aber das Recht selbst ist immer auch Funktionssystem: es liefert Unterscheidungen und semantische Sicherheiten. Aber es kann an sich nicht die Verwirklichung von Rechten gewährleisten. Diese gleichsam triviale Einsicht betrifft einen empfindlichen Kern der Sozialen Arbeit. Als Profession und als gesellschaftlicher »Akteur« sieht sie sich berechtigterweise in der Verpflichtung, nicht nur auf Missstände hinzuweisen, sondern das Recht eines jeden mit angemessenen Mitteln zu befördern. Das Recht soll nicht bloßes Pos­ tulat bleiben, sondern praktisch gewährt werden. Diese Verpflichtung, die sich vor Ort in advokatorischer Stellvertretung und praktischer Assistenz zeigt, ruht auf einem universalistischen Fundament, das in internationalen Verlautbarungen wieder zu erkennen ist394. Aber es bleibt als eine fast unmögliche Aufgabe den Menschen vor Ort überlassen, die prinzipielle Spannung zwischen erlittener Gewalt und der Gewährung von Rechten in ein lebbares Verhältnis zu bringen. Diese Arbeit ist nicht als Verwirklichung eines unerfüllten Anspruchs zu verstehen, sondern als kooperative Gestaltung einer lebensdienli­ chen Perspektive. Dies besagt indes nicht, die Verletzung von Rechten hinzuneh­ men und die offensichtlichen Ungerechtigkeiten als faktische Bedin­ gung zu verstehen. Zu fragen ist vielmehr, wie sich die Politik der Menschenrechte in der globalisierten Welt vorantreiben ließe. Und in diesem Punkt kann man zumindest Fortschritte der globa­ len Rechtsentwicklung behaupten. Es beginnt mit der spürbaren Menschenrechtssensibilität, die weltweit Wirkungen hinterlässt. In nahezu allen globalen Fragen des Menschenrechtes erweisen sich moralisierende Appelle als Ausdruck einer gestiegenen Menschen­ rechtskultur. Wie so oft hat auch hier der Fortschritt eine unverkenn­ bare Ambivalenz – denn der Bezug auf verletzte Rechte kann immer auch als ideologische Waffe oder als Tarnung partikularer Interessen eingesetzt werden. Zudem ist der Abstand zwischen der positiven Rechtsverbindlichkeit und der rein moralischen Legitimation immer zu beachten: denn problematisch bleiben jene Legitimationen, denen das Merkmal demokratischer Zustimmung fehlt. 394 Friso Ross/Matthias Knecht: Universeller Menschenrechtsschutz und regionale Menschenrechtsinstrumentarien. In: Wagner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 332– 348.

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3. Die Politik der Menschenrechte

Kann man trotz aller Skepsis einen Fortschritt in den internatio­ nalen Dimensionen der Politik behaupten, der sich letztlich auch für die Praxis der sozialen Arbeit als vorteilhaft erweist? Der Soziologe Hauke Brunkhorst spricht mit guten Gründen in diesem Zusammen­ hang von einer »starken Weltöffentlichkeit im Kommen«395. Die aktuelle Weltöffentlichkeit ist als schwache Öffentlichkeit mit starken Rechten zu verstehen. Die Existenz eines Systems harter Menschenrechte in einer hegemonial gestalteten Welt ist die eine Seite – die andere Seite ist die Perspektive einer transnationalen, globalen Öffentlichkeit, die sowohl die moralische wie auch die rechtliche Sprache der Menschenrechte beherrscht. Belege für die Wirksamkeit der Sphäre der Weltöffentlichkeit lassen sich heranziehen. Optimistisch formuliert, formiert sich ein globales Aktiv- und Zurechnungsvolk, dessen schwache Legitimation durch nichts anderes als Engagement und Offenheit der Diskussion kompensiert wird. Das bunte Gemisch von »NGO`s, Selbsthilfegrup­ pen, von internationalen Gewerkschaften und Bürgerbewegungen, sozialen Protestgruppen und Menschenrechtsgruppen wirkt an der Willensbildung eines globalen Volkes« mit396 . Dessen Legitimation ist eine neue, zivilgesellschaftliche Kultur des Widerstands gegen undemokratische Herrschaft. Und hier wäre denn auch der legitime 395 Hauke Brunkhorst: Politik der Menschenrechte. Zur Verfassung der Weltgesell­ schaft. In: Armin Nassehi/Markus Schröder (Hg.): Der Begriff des Politischen. Baden Baden: Nomos 2003, S. 71–89. 396 Ebd., S. 83. Brunkhorst nennt als Beispiel für wirksame Initiativen die »erfolg­ reiche Skandalisierung der bis heute, strafrechtlich folgenlosen Ermordung vieler tau­ sender Straßenkinder in Brasilien. Die Mobilisierung der brasilianischen Öffentlich­ keit ging in diesem Fall auf die gelungene Kooperation von »mutigen brasilianischen Journalisten, Befreiungstheologen und katholischer Kirche, Amnesty International, UNICEF Aktivisten und der internationalen Presse und Televisionsmedien« zurück; ebd. S. 81. Es wäre freilich ein Vergleich heranzuziehen, bei dem sich weitere interna­ tionale Akteure der Weltpolitik hervortun. Denken wir etwa an die globalen Initiativen der »Save Darfur Kampagne«, bei der sich in gleichem Maße globale eine Protestbe­ wegung formierte. Hier wäre dann aber auch eine spezifische Kluft zu thematisieren: die Sprache der Menschenrechte findet sich in globalen Bündnissen wieder, aber der konkrete Schutz der Menschenrechte durch eine ebenso einheitliche militärische Alli­ anz blieb bekanntlich aus. Hierzu: Vf.: Starke Weltöffentlichkeit im Kommen? Pro­ bleme der Weltinnenpolitik am Beispiel Darfur. In: tabula rasa. Zeitschrift für kriti­ sches Denken, 31, 1, 2008; Ders.: Politische Philosophie nach Ruanda – politische Bedingungen der »legitimen Autorität. In: Zeitschrift für Diaspora- und Genozidfor­ schung, Vol. 2, 2009, S. 88–111; Ders.: Die postheroische Gesellschaft und ihre Freunde – zum Argument der begrenzten Interventionsbereitschaft moderner Gesell­ schaften. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 2/2011, S. 241–263.

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

Raum der Sozialen Arbeit zu verorten, ein Raum ständiger Beunruhi­ gung, der dazu beiträgt, den unerhörten Stimmen Geltung und Gehör zu verschaffen. Was hat es also mit der behaupteten Menschenrechtskultur unserer Zeit auf sich – besitzen diese Rechte den unbedingten Vorrang vor aller staatlichen Herrschaft und geben sie somit den Rahmen vor, in dem sich die Grundlage des menschlichen Miteinanders festigen ließe? So könnte man argumentieren – und man könnte darüber hinaus insistieren, dass die Soziale Arbeit einen wesentlichen Teil dazu beiträgt, dass diese Rechte beachtet werden. Eine Differenzierung ist gleichwohl angebracht. Die Profession der Sozialen Arbeit hat eine globale Reichweite: sie kümmert sich um die Anliegen der niedergedrückten Menschen weltweit. Diese Selbstbeschreibung der Anwaltschaft ist keine hohle Phrase, sondern eine Notwendigkeit. Die Menschenrechtsarbeit selbst ist aber diffe­ renzierter zu betrachten. Denn was heißt: Menschenrechte zu befördern? Seit der 1948 verfassten Erklärung der Menschenrechte kann man sich auf einen unverlierbaren Bestandteil des Völkerrechts berufen – und im glei­ chen Maße muss man politisch motivierte Gewalt, Ausschluss und Friedensbrüche zur Kenntnis nehmen. Diese Kluft lässt sich nicht einfach überbrücken, nicht durch politische Selbstermächtigung und nicht durch rigorose Rechtsdurchsetzung. Vielmehr mündet solche Politik, deren Auswüchse man in den internationalen Beziehungen zu Genüge kennengelernt hat, früher oder später in der Missachtung der völkerrechtlichen Grundlagen. Zudem ist das Recht selbst zwar von universalistischem Zuschnitt – es schließt niemanden aus – aber es unterliegt keiner absoluten »Sinngleichheit«397. Das Weltrecht ist kein Monolith, sondern eine vielschichtige Gestalt, es erkennt unterschiedliche Rechtstraditionen, Pflichten und Vorstellungen, die in die jeweilige Geschichte einer Region eingebettet sind. Welche Rolle spielt die Internationale Soziale Arbeit in dieser Gesellschaft mit einer, wie beschrieben, starken Weltöffentlichkeit im Kommen? So eindringlich der Bezug auf weltweit geltende Normen und Rechte auch sein mag, die sozialarbeiterische Praxis selbst ist herausfordernd. Sie besteht vordringlich in der Bewältigung von Krisensituationen; sie bearbeitet Problemlagen, die sich in Folge von Unterdrückung, Ausschluss, Bedrohung und Verletzungen ergeben. 397

Grasshoff/Homfeld/Schröer 2018, S. 108.

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3. Die Politik der Menschenrechte

Man könnte zu dem Schluss kommen, dass es hier um existentiell dringliche Hilfen geht, die gewissermaßen polizeiliche und entwick­ lungspolitische Qualitäten aufweist. Aber nicht zu Unrecht wird in diesem Zusammenhang eine »Veränderung der Politik des Hel­ fens« eingefordert398. Auf dem Prüfstein stehen die herkömmlichen Prinzipien der Menschenrechtsarbeit im Schatten der Moderne. Das Verhältnis zum Staat ist zu verändern – die Sozialarbeit ist eben nicht als Ausführungsorgan des Staates zu verstehen. Soziale Arbeit ist kritisch gegenüber aller staatlichen Gewalt und zugleich an den vorstaatli­ chen Menschenrechten orientiert. Sie benötigt insofern eigenständige Visionen des guten Lebens in den zerklüften Regionen der Welt. Sie ist parteiliche Arbeit für die Schwächsten, aber sie muss zugleich anerkennen, dass sich anwaltliches Eintreten für benachteiligte Grup­ pen auf unterschiedlichen Ebenen ausdrückt. Dem Schutz beispiels­ weise der Kinderrechte kommt ein unbedingter Vorrang zu, aber dies bedeutet auch, dass auch Kinder als Subjekte und als Vertreter eigener Interessen auftreten können. Selbst in Situationen mit kata­ strophalem Ausmaß, in denen sich das Leiden von Kindern in aller Eindringlichkeit zeigt, wäre auch hier etwa ein Recht auf Gehör zu beachten. Kinder sind ernst zu nehmen – so wie alle Menschen in staatsfernen Regionen nicht als Objekte einer Durchsetzungspraxis zu betrachten sind399. Das Beispiel zeigt, wie widerspruchsvoll der erwähnte Diskurs letztlich bleibt – er bezieht keine eindeutige Position, noch »liefert« er belastbare Aussagen. Die Verbindung fundamental getrennter Ebe­ nen ist sein genuiner Kern: er beginnt mit der skeptischen Einsicht, dass die Welt nicht im Einklang ist und wir auf die Praxis sich verfehlender Wesen verwiesen sind. Natürlich ist mit guten Gründen einzuwenden, dass es der sozialen Arbeit obliegt, in Konflikten nach Lösungen Ausschau zu halten, mit Mitteln, die gewaltfrei sein müssen. Die Sprache scheint sich als einzig wirksames Medium zur Verfügung zu stellen, um der Gewalt einen Anspruch auf Gewaltlosigkeit gegenüber zu stellen. Wie wir diese Konfrontation aber letztlich verstehen, ist nicht gleichgültig: Ebd., S. 109. Wolfgang Maaser: Lehrbuch Ethik. Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven. Weinheim: Juventa 2010, S. 49 ff., Nikku, B. R.: Children`s rights in disasters: con­ cerns for social work – insights from South Asia and possible Lessons for Africa. In: International Social Work 56, Heft 1, S. 51–66, 2012. 398

399

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XVIII. Der sozialpädagogische Diskurs der Moderne.

Denn es handelt sich nicht um Inseln der Gewaltlosigkeit, auf die wir flüchten können. Eher geht es darum, Freiräume des Gewaltverzichts in einer gemeinsamen Welt zu schafften, in der Gewalt immer schon besteht und die nie frei von Macht ist. Freiräume und Lebenswelten, sich aber letztlich als lebensdienlich erweisen sollen.

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XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg

1. Zur Philosophie des Friedens In welchem Verhältnis die helfenden Professionen zum Phänomen des Krieges stehen, ist vergleichsweise einfach zu beschreiben. Sie stehen eindeutig auf der anderen Seite der Gewalt. Der Krieg, sowohl in seiner geistesgeschichtlich überlieferten wie seiner realhistorischen Gestalt, fördert destruktive Kräfte, er ist Ausdruck einer tiefgründigen Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Die sozialen Professionen sind demgegenüber dem Frieden zugetan; sie stehen im Dienste einer Gewaltlosigkeit oder der Minimierung der Gewalt. So klar sich diese Unterscheidung erweist, so stehen die Katego­ rien von Frieden und Krieg nicht in einer vergleichbaren Beziehung. Als Phänomene des Sozialen könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Der Krieg hat etwas Aufdringliches und Tumultuarisches; ihm gebührt alle Aufmerksamkeit, wenn er die politische Bühne betritt. Er zwingt zur Unterbrechung und durchbricht die Krusten des Alltags. Dem Frieden hingegen kommen andere Merkmale zu: der Krieg bricht aus – aber der Frieden wird gebrochen; Krieg ist Ereignis und Widerfahrnis, der Frieden hingegen bleibt ungreifbar aufgrund seiner Stille. Dass Frieden eintritt, erkennt man daran, dass die »Wogen sich glätten«, »Wunden heilen« und die Toten eine Ruhestätte finden400. In der Geschichte der Philosophie war diese Gegenüberstellung immer auch ein Anstoß und ein Ärgernis: die Apologeten des Krieges erkann­ ten in der Stille des Friedens alle Anzeichen einer Friedhofsstille. Und sobald die tumultuarischen Kriegszeiten vom biederen Dämon des Friedens eingeholt würden, griffen angeblich Erschlaffung und Dekadenz um sich. 400 Bernhard Waldenfels: Friedenskräfte und Friedenszeichen. Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven. Freiburg/ München: Alber 2019, S. 256–280, hier 257.

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XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg

Für die sozialen Professionen ist es gleichwohl notwendig, das Phänomen des Friedens genauer zu erfassen. Ein offizieller Frieden­ schluss folgt zwar auf die vorläufige Beendigung von Kampfhandlun­ gen, aber ein dauerhafter Frieden muss gleichsam errungen werden. Friede ist mehr; mehr als die Abwesenheit von Krieg, mehr als nur Schweigen und Stille, mehr als ein vorübergehender Zustand. Die Schwierigkeit scheint darin zu bestehen, noch einmal philosophisch betrachtet, dass der Frieden keine Leuchtkraft entwickelt. Er ver­ schwindet hinter scheinbar größeren Kategorien: Gerechtigkeit und Freiheit, Wohlstand und Glück, hinter Moralität und Ordnung401 . Es wird im folgenden darauf ankommen, den undurchsichtigen Begriff des Friedens mit weiteren Kategorien zusammen zu führen. Die Problematik, die sich erst nach längerer Reflexion ergibt, hat mit der ambivalenten Situation zu tun, in der sich die Disziplin der Sozialen Arbeit befindet. Die Negation des Krieges ist natürlich das verbindende Element; Krieg soll nicht sein, er ist das Übel, dem gegenüber alle rechtsmoralischen und praktischen Kräfte aufzubrin­ gen sind. Die Sprache des internationalen Rechts ist eindeutig: es gilt das neuzeitliche Gewaltverbot; die Ächtung des Krieges ist eine Errungenschaft, die es den Staaten verbietet, Krieg zu führen. Daran ist zu erinnern, denn es gab vor allem in der europäischen Neuzeit bekanntlich Zeiten, in denen das Staatenrecht des Krieges mit allen Mitteln verteidigt wurde. Heute aber ist der Krieg kategorisch abzulehnen; und die Rolle der helfenden Professionen ist darauf angelegt, entweder einem drohenden Krieg präventiv zu begegnen oder die Folgen von Krie­ gen abzumildern. Was aber steht zwischen den großen Namen von Frieden und Krieg, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen genauer betrach­ ten, unter denen sich Menschen begegnen? Friedensutopien können entworfen werden, aber man weiß um die Schwierigkeiten der Reali­ sierbarkeit. Zudem kommt dem Frieden eine merkwürdige Uneindeu­ tigkeit zu. Wie verhält es sich mit der Einsicht in die vielen Formen der Entzweiung und der Auseinandersetzung? Wie mit Formen des Widerstreits und des Konflikts, des Dissens und der Ungleichheit? Können wir die Kategorien der Fremdheit, der Andersheit und der Uneinigkeit der Polarität von Frieden und Krieg zuordnen? Diese Frage wird nicht eindeutig zu beantworten sein, denn Frieden ist nicht 401

Ebd., S. 259.

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1. Zur Philosophie des Friedens

mit dem Ausschluss aller negativen Erscheinungen gleichzusetzen. Es kann ein Zustand des Friedens im Inneren von Gesellschaften behaup­ tet werden – und zugleich ist auf eine Art Unfrieden hinzuweisen, der nicht Krieg ist, aber auch jede Versöhnung zunichte macht. Denken wir den Frieden als einen dauernden Zustand, dann ist also zu klären, unter welchen Voraussetzungen er gelten sollte. Dies führt zuerst zu einer philosophischen Auseinandersetzung, in der sich der Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik zeigt, welcher auch für die ethische Grundlagenreflexion der Sozialen Arbeit von Bedeutung ist. Von der Höhe der Philosophie führt der Weg dann aber auch in die Ebene der Praxis, bzw. zur Frage, welche Bedingungen der nachhaltige Frieden in demokratischen Gesellschaften benötigt und was konkret von seiten der helfenden Professionen angefragt wird. Verstehen wir den Krieg als die extremste Form, in der Menschen einander gegenüber treten, dann muss die überlieferte philosophische Haltung zum Krieg irritieren: Krieg war für Hegel und auch für Marx Motor und Antrieb der Geschichte, seine Destruktivität ginge angeblich immer auch mit schöpferischer Gestaltung einher. Viele Philosophen aller Epochen dachten so: Kriege bringen Gesellschaften in ein Gleichgewicht, sie verhindern, dass Gleichförmigkeit, Erschlaf­ fung und Wehrlosigkeit um sich greifen. Der Krieg schafft in dieser unbequemen Vision ein gleichsam sittliches Fundament, soweit es gilt, die menschlichen Verhältnisse nicht nur zu »befrieden«, sondern ihre vitalen Kräfte zu erwecken. Noch irritierender erscheint die Tat­ sache, dass auch zeitgenössische Theorien, die der Ethik zugewandt sind, den Krieg nicht so eindeutig verurteilen wie man es erwarten würde. In seinen Auseinandersetzungen mit der Frage nach einem moralisch gerechtfertigten Krieg kommt beispielsweise der ameri­ kanische Sozialphilosoph Michael Walzer zu einem differenzierten Urteil402. Aber auch die wohl ethisch tiefgründigste Position von Emanuel Levinas spricht eher davon, die Gewalt zur Maßgabe einer Philosophie des Anderen zu machen. Im Zeichen eines Weltverhält­ nisses, in dem wir Anderen gegenüber immer schon ohnmächtig gegenüber stehen, wird dort ein radikales Verhältnis zur Gewalt begründet: es gibt demnach kein endgültiges Freiwerden von der Gewalt, sondern die ursprüngliche Gewaltsamkeit steht am Beginn aller menschlichen Auseinandersetzungen. Durch bloße Vernunft 402 Michael Walzer: Just and unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York 2006.

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XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg

und Sprache, so Levinas, können wir uns von der allumfassenden Gewalt nicht freimachen403. Krieg ist Wirklichkeit, so wie es bereits in der Antike bei Heraklit anklingt. Sein und Krieg fallen zusammen und bilden einen Raum von ontologischer Unerbittlichkeit. Diesen Raum endgültig zu verlassen, kommt einer Illusion gleich. Was hier unter Moralität zu verstehen ist, ist so undeutlich wie herausfordernd; nur in einem Jenseits von Totalität und Unendlichkeit wird man dem Anspruch des Anderen gerecht404. Die Sprache der Philosophie bewegt sich hier auf Höhen, denen der praktische Verstand nicht folgen kann – so wenig wie sich eine Konsequenz oder Schlussfolgerung mit sprachlicher Qualität ergibt, die »vermittelbar« wäre. Aber ein Grundgedanke dieser Reflexion ist gleichwohl aufzunehmen. Die Ökonomie der Gewalt, der man angeblich nie entrinnen kann, zwingt gleichwohl zu einer Stellung­ nahme, zur Klärung des eigenen Verhältnisses zur Gewalt. Bevor man sich konkret Gedanken dazu macht, wie sich ein demokratischer Frie­ den entfalten könnte oder wie zumindest Inseln der Gewaltfreiheit geschaffen werden können, müsste das eigene Verhältnis zur Gewalt geklärt werden.

2. Ethische Grundlage: die Gewaltfreiheit der Kommunikation Damit wird aber eine Ebene der Reflexion betreten, die höchst wider­ spruchsvoll ist. Denn weder eindeutige Positionen noch belastbare Aussagen sind zu erwarten. Vielmehr sind zwei Ebenen zu verbinden, die selten in Einklang gebracht werden und eher als Lebensform im Widerstreit beschrieben werden: die Ebene der disziplinären Selbst­ beschreibung und die Ebene der gewaltsamen Realität. Nur scheinbar stehen sie in einer eindeutigen Opposition. Bringen wir die ethische Grundlagenposition der Sozialen Arbeit auf einen Punkt, dann ist festzuhalten, dass es der sozialen Arbeit obliegt, in Konflikten nach Lösungen Ausschau zu halten und aller Gewalt eine friedensstiftende Emanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg im Breisgau/ München: Karl Alber 1987. 404 Burkhardt Liebsch: Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Band II, Elemente einer Topologie des Zusammenlebens. Freiburg/München: Karl Alber 2018, S. 984 ff.

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2. Ethische Grundlage: die Gewaltfreiheit der Kommunikation

Perspektive entgegen zu halten. Dazu hat die Disziplin wenig Mittel, zumindest keine gewaltsamen; sie hat scheinbar lediglich die Sprache als einzig wirksames Medium und Mittel zur Verfügung, um der Gewalt einen Anspruch auf Gewaltlosigkeit abzuringen. Ihr Prinzip ist die gewaltfreie Kommunikation: dort, wo verfehlte oder verzerrte Kommunikation dominiert, fahndet die Soziale Arbeit nach Inseln der Verständigung; in allen Verhältnissen, in denen sich Gewalt eingenistet hat, sucht sie nach Auswegen, die nicht frei von Macht sind, sich aber letztlich als lebensdienlich erweisen sollen. Wie steht es mit der eigenen Positionierung gegenüber den gewaltsamen gesellschaftlichen Verhältnissen? Eine weitaus schwie­ rigere Frage, die hier gar nicht endgültig zu klären ist. Eine weitere Schwierigkeit gesellt sich dazu: der dauernde diskursive Widerstreit einer Gesellschaft, die droht, das Opfer eines fundamentalen Orien­ tierungsverlustes zu werden. Orientierend sind Werte und Normen, denen jeder und jede bedingungslos folgen kann: Werte des allgemein Menschlichen mit universalistischem Anspruch. In Frage stehen nun gegenwärtig nicht diese Werte an sich, aber die Bedingungen, unter denen man einander begegnet und miteinander umgeht. Nicht nur greift seit Jahrzehnten ein undurchsichtiger Hass um sich, erschre­ ckend und zum Teil durchaus widerwärtig. Hinzu kommt, dass der feste Bestand der Moral in Zweifel gezogen wird. Die neueren anti­ semitischen und rassistischen Motive in der Sprache wie auch die handfeste Gewalt gegen Andere verdeutlichen die Dramatik. Es könnte angesichts dieser hier nur angedeuteten Entwicklun­ gen so einfach sein: dem Hass würde man die Sprache der Menschen­ freundlichkeit entgegenbringen, der Gewalt absagen und Räume der Freiheit wiedererrichten. Genauer betrachtet kommt es aber gegen­ wärtig zur Verschärfung von Konflikten. Die Spannungen zwischen Gruppierungen, die sich konfrontativ begegnen, lassen sich nicht lösen; Gewalt wird mit Gegengewalt beantwortet. Manche sprechen von Selbstbehauptung und rechtfertigen damit eine Gewaltbereit­ schaft, die problematisch ist. Ohne hier Stellung zu beziehen und einzelne »Schuldige« zu benennen, ist von einem permanenten Streit auszugehen, der die Gesellschaft in Atem hält. Vielleicht nicht in Form des Kampfes jeder gegen jeden, aber doch ausufernd und grenzüberschreitend. Es steht zu befürchten, dass der Horizont des Allgemeinen aufgelöst wird und keine ethischen Sicherungen mehr gewährt werden. Dies betrifft letztlich auch den diskursiven Streit zwischen dem universalen Ganzen und dem partikularen Besonderen.

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XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg

Der Universalismus sei, so lautet der stille Vorwurf, an der Zementierung der Machtverhältnisse interessiert, er schließt trotz anderslautender Semantik einzelne Gruppen aus405. Demgegenüber pflegt die Identitätspolitik – verstanden als Sammelbecken antirassis­ tischer Bewegungen und marginalisierter Gruppen – den Widerstand gegen den hoheitlichen Universalismus. Aber auch hier tendiert der Diskurs zur Vereinseitigung: wenn inmitten eines Machtkampfes kaum mehr Vermittlung möglich ist, wenn das Differente droht zum Selbstzweck zu werden und wenn der umfassende Rahmen einer verbindlichen Ethik verloren geht. Eben dies ist offensichtlich der Ort, an dem die Soziale Arbeit ihr Gewicht in die Waagschale legen sollte. Das Wertefundament der Sozialen Arbeit ist gefestigt; ihrem Selbstverständnis entsprechend verfolgt sie das Richtige und Gute, so wie es sich in den diversen Ethik-Codizes nachverfolgen lässt. Soziale Arbeit ist gesellschaftsund sozialkritisch; sie besitzt vielleicht sogar ein besonderes Senso­ rium, um menschenrechtliche Verletzungen zu thematisieren und immer dort, wo historische Gewalt droht wiederholt zu werden, ein­ greift. Dies macht sie zu einer skeptischen und moralisch beflügelten Profession, weil sie eben dann aktiv werden soll, wenn Tendenzen der Ausgrenzung erkannt werden, die erschreckenderweise die Nähe zur gesellschaftlichen Auslese aufweisen406 . Solchen Tendenzen tritt die soziale Arbeit entgegen, sowohl in der praktischen Arbeit wie auch auf der erhöhten Ebene der disziplinären Reflexion. Sie ist insofern ist eine Art von Gegengewalt gegen die Gefahren des Rassismus und der Menschenfeindlichkeit; ihr Anspruch ist eindeutig gegen Gewalt gerichtet, insofern sie sich als parteinehmende Instanz versteht, als advokatorische Macht. Gleich­ wohl muss betont werden, dass trotz aller Eindeutigkeit eine Ambiva­ lenz bestehen bleibt. Parteinahme für Personen in Bedrohungslagen heißt und hieß eigentlich schon immer: sich im Feld der Gewalt zu bewegen. In diesem Feld ist die Parteinahme deswegen erschwert, weil es keine eindeutigen Positionen gibt, die man unterscheiden könnte. Ein Opfer der Gewalt wird ggf. selbst einmal Gewalt anwenden; der Zorn eines gedemütigten Menschen wird womöglich nicht mehr beherrscht werden, auch die Suche nach Identität kann in Verhärtun­ 405 Ausführlich: Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philoso­ phie nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 406 Ernst Engelke/Stefan Borrmann/Christian Spatscheck: Theorien der Sozialen Arbeit. Freiburg i. Br.: Lambertus 2018, S. 319.

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2. Ethische Grundlage: die Gewaltfreiheit der Kommunikation

gen münden, im Selbstverlust an ein Kollektiv, das sich explizit gegen die Gesellschaft wendet und somit den Horizont des Allgemeinen verlässt. Alle diese Möglichkeiten sind von der Disziplin zu bedenken. Die Soziale Arbeit hat mit Ambivalenzen zu tun. Diese Einsicht ist nicht neu und sie hat mit dem Zwiespalt des Engagements zu tun, das unverzichtbarer Bestandteil jeder »Sozialpädagogik« und jeder konkreten Begegnung sein sollte. Es geht dabei gar nicht um die scharfen Kontraste und das Feind/Freund-Denken, nicht um die eindeutige Positionierung »für« oder »gegen« eine Partei. Zu bedenken ist vielmehr, dass professionelle Soziale Arbeit – sowohl in gefestigten liberalen Demokratien als auch in Konfliktgesellschaften – mit Phänomenen der Gewalt konfrontiert wird und somit auch mit Menschen, die Gewalt erfahren, wahrnehmen, bewältigen oder schlichtweg vergessen wollen. Dies scheint dann zu einer Überforde­ rung zu werden, wenn die Gewalt als das Verdrängte und Andere in den Alltag einbricht. Welche Möglichkeiten stehen der Profession überhaupt zur Verfügung, um der Gewalt etwas entgegen setzen zu können? Es ist zu fragen, was eine Gesellschaft in die Lage versetzt, Räume der Gewaltlosigkeit auf Dauer zu erobern und welche Faktoren dabei im einzelnen von Bedeutung sind. Denkwege des Friedens führen dementsprechend zu den grundlegenden Elementen einer Friedensar­ chitektur im Horizont vergangener und gegenwärtiger Kriege. Die Gestalt des Friedens – so unscharf sie auch erscheint – erscheint auf den ersten Blick in der Frage nach dem gefährdeten Leben aufzugehen. Schnell wäre man, wenn man diese Perspektive konsequent verfolgt, bei einem Fundament einer Politik, die zuallererst von der Ethik her geschaffen würde: jede politische Kultur würde demnach auf einem unverlierbaren Bestand von ethischen Geboten errichtet – und jede Verletzung von Rechten wäre demnach ein Grund, diese Ordnung in Frage zu stellen. Unter dem Eindruck der moralphilosophischen Auseinandersetzungen der Gegenwart wäre man gar versucht, die unverlierbare Würde eines jeden Einzelnen als Korrektiv einer Frie­ densgesellschaft zu verankern. Aber so einfach ist die politische Philosophie der Neuzeit nicht zu haben. Sie ist vielmehr zwischen Frieden und Krieg, permanentem Konflikt und dem Gebot der Gewaltlosigkeit zu verorten. Das Nach­ denken über den Frieden geschieht im engen Zusammenhang mit der Erfahrung des Krieges; die erschütternde Erfahrung des Negativen

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XIX. »Einander ausgesetzt« – Soziale Arbeit zwischen Frieden und Krieg

ist mit der unerschütterlichen Suche nach Friedenskonzepten dialek­ tisch verbunden. Neuere philosophische Ansätze gehen im Bewusstsein dieser Dialektik davon aus, dass es einen reinen Bereich der Gewaltlosigkeit nicht gibt und dass alle vergangene und gegenwärtige Gewalt unsere Handlungen begleitet und durchdringt. Dementsprechend ist auch der moderne Begriff des Friedens keine schöne Utopie, sondern mit Ideen humanitärer Interventionen und des gerechten Krieges eng verflochten407.

3. Das Ideal der Friedens-Ordnung Andererseits ist zu betonen, dass sich die Idee des Friedens im Kontext des modernen Völkerrechts weit entwickelt hat. Sie hat die ältere Unterscheidung von innen und außen überwunden, die Demokrati­ sierung der Staatenwelt vorangetrieben und alle Konflikte auf das Terrain der Weltinnenpolitik geschoben408. Dies war bekanntlich nicht immer der Fall: in der frühen Neuzeit, besonders aber im 19. Jahrhundert formierte sich die politische Welt zwischen innen und außen. Machtvolle Staaten Europas konkurrierten um Macht, Land, Einfluss und Vorrang; sie verteidigten ihr Recht zum Krieg, von dem sie nach eigenem Gutdünken Gebrauch machen sollten. Die Sprengkraft dieser hegemonialen Konstellation ist bekannt: sie führte zum Wettlauf der Nationen, zu militantem Nationalismus und der Ausbeutung und Unterwerfung fremder Räume in Gestalt des Kolonialismus. Landnahme und gewaltsame »Friedensmissionen« wurden im Namen der »Zivilisation« vollstreckt – mit sozialen und politischen Folgen, die bis in die Gegenwart führen. Kant hatte versucht, die entscheidenden Weichenstellungen im Völkerrecht vorzunehmen und die eigenmächtige Freiheit der Staaten in eine Konzeption des Friedens der Staaten zu überführen; er hatte die entscheidenden Visionen der zwischenstaatlichen Pazifizierung und der Weltbürgerlichkeit erkannt. Gleichwohl dauerte es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, bis man mit diesen Ideen ernst machte. Alfred Hirsch: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004; Alfred Hirsch/Pascal Delhom (Hg.): Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven. Freiburg/München: Alber 2019. 408 Lothar Brock/Hendrik Simon: Turmbau zu Babel? Friedensarchitektur in kriege­ rischer Zeit. In: Hirsch/Delhom 2019, S. 26–50. 407

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3. Das Ideal der Friedens-Ordnung

Was macht moderne Gesellschaften zu friedensliebenden Gesell­ schaften? Es sind die einfachen Fragen, hier weiter führen. Dieter Senghaas, bedeutender Vertreter der Friedensforschung, hat die Idee des zivilisatorischen Hexagons entwickelt409. Es verweist auf diverse Eckpunkte, die in der Kombination den Boden einer Friedens­ gesellschaft bilden können. Ein funktionierendes Gewaltmonopol bildet ebenso eine unverzichtbare Anforderung wie die grundlegende Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit. Es handelt sich um ein Bedingungsverhältnis: Die Affektkontrolle in pädagogischen und sozialen Institutionen bereitet den zivilisatorischen »Grund«; politi­ sche Spielräume der Partizipation werden durch die Aussicht auf gerechte Verfassungen flankiert; nicht zuletzt die Fähigkeit zum politischen Kompromiss ermöglicht eine Ordnung, die nur als Ergeb­ nis einer langfristigen gesellschaftlichen Bemühung richtig verstan­ den sind. Wie fragil sich diese Ordnungen jenseits bloßer Wünschbarkeit erweisen, ist unschwer zu erkennen. Eine gefestigte Rechtsstaatlich­ keit ist immer schwer zu erringen und sie bedarf einer starken wie kri­ tischen Öffentlichkeit – die Gegenwart halbautokratischer Systeme zeigt, wie gefährdet sie ist. Ein funktionierender Staat wird mögli­ cherweise als selbstverständlich hingenommen – aber das Leben in staatsfernen Regionen ist zugleich ein wesentlicher, wenn auch verdrängter Teil der Gegenwart. Die Zähmung der Affekte und der partizipatorische Einbezug aller in demokratische Verfahren haben dazu geführt, dass »wir« in der Moderne Vertrauen haben und die Inklusion Aller in soziale Systeme als selbstverständlich erachten. Aber auch in diesem Punkt erscheinen Regressionen nicht wie ferne Schreckgespenster, sondern sie sind erschreckend real. So bleibt – nicht für jene demokratie- und staatsfernen Regionen außerhalb, sondern auch für die atlantische Moderne – eine Kluft bestehen. Das zivilisatorische Hexagon weist der Gesellschaft im großen transnatio­ nalen wie auch im lokalen Verhältnis den Weg – und zugleich zeigt es alle bekannten Schwierigkeiten auf, die Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen sind. Wenn man dieser Einsicht folgt, bleibt zu fragen, welchen Beitrag die helfenden Professionen in einer Welt leisten können, die gleich­ sam aus den Fugen geraten ist. Nicht weiter betont werden muss wohl, Dieter Senghaas: Den Frieden denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995; Ders.: Zivilisierung wider Willen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

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dass es angesichts der Vielzahl der sich verschärfenden Konflikte nur um das Ausweisen von Möglichkeiten gehen kann. Konkreter aber lässt sich aufzeigen, dass auch in der internationalen Dimension der Weg des Friedens kein leeres Versprechen ist. Unabweisbar ist zunächst der Zusammenhang zwischen der pro­ fessionellen Hilfe und dem Anspruch des universellen Rechts. Soziale Arbeit ist Menschenrechtsarbeit: im nationalen wie im internationa­ len Bereich werden die Menschenrechte ins Feld geführt, Missstände aufgewiesen und Verletzungen thematisiert. Aber das bedeutet ja nicht, dass die Verwirklichung von Menschenrechten realistischer wird oder überhaupt in die Nähe der realen Verhältnisse rückt. Die Rechte sind zugleich Postulat und Abstraktion, sie sind vielschichtig, konstruiert und sie entziehen sich dem unmittelbaren Zugriff. Der universelle Menschenrechtsschutz fällt in den Zuständig­ keitsbereich des Staates, des Rechts und der Exekutive. Die Soziale Arbeit ist dann beteiligt, wenn es um die Wahrnehmung von Interes­ sen, aber auch um die Wiedererrichtung einer brüchigen Ordnung geht; sie ist insofern von der genuin pädagogischen Seite her zu ver­ stehen. Ihr obliegt die Bildung von Bündnissen, die sich am Gedanken der Friedenspädagogik orientieren. Mit dem Begriff des Peace-Buil­ ding in Postkonflikt-Gesellschaften lassen sich vielfältige Aktivitäten vor Ort verbinden; es geht konkret um dringliche humanitäre Hilfe, um die Einsicht in die Konfliktursachen und die langfristige Ermögli­ chung einer Versöhnungsperspektive. Aus der Distanz betrachtet aber werden die Kriterien der Zeit, der Gerechtigkeit und des Vertrauens bedeutsam. Sie sollen im folgenden ausführlich in ihrer Relevanz für das prekäre Handlungsfeld des Peace-Building dargelegt werden.

4. Peace-Building in unsicheren Gesellschaften Eine rein pragmatische, an Zielen und Mitteln orientierte Intervention in eine Konfliktgesellschaft wäre indes problematisch. Wir können vereinfacht gesprochen nicht davon ausgehen, dass die fundamen­ talen Brüche und Verletzungen in einem gesellschaftlichen Raum vom Standpunkt des Intervenierenden bewältigt werden. Wie so oft so greift auch hier der Gedanke der Hilfe zur Selbstbemächtigung, freilich unter Umständen erlittener Gewalt. Dies erzwingt eine theo­ retische Perspektive, die sich von den Motiven der Fremdbestimmung distanziert. Ziel sollte es selbstredend sein, sich in die Herzen, die

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4. Peace-Building in unsicheren Gesellschaften

Seele und Verstand der Beteiligten einzufühlen und das Ausmaß der Verletzungen zu erkunden; aber die erforderlichen Instrumentarien liegen nicht auf der Hand. Vielmehr ist zum Beispiel die Kategorie der Zeit stärker zu beachten als unter normalen Bedingungen. Peace-Building wird seit den 1990er Jahren in eine Agenda des Friedens eingeordnet, die in engem Kontakt zum »State- und Nationbuilding« besteht. Es umfasst somit internationale Initiativen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften: in Apartheits-Staaten und zerfallenden Vielvölkerstaaten, in ehemaligen Kriegs- oder Bürger­ kriegsgesellschaften, in Nationen, die neu gebildet werden oder vor dem Zerreißen bewahrt werden müssen. Peace-Building erscheint insofern als eine fundamentale Disziplin mit Weltbezug – und das Feld reicht exemplarisch von der Transformation Namibias zu Beginn der 1990er Jahre, über Kambodscha, Haiti, den Kongo, Darfur und den Sudan. Auch Südosteuropa geriet bekanntlich in den Strudel der Gewalt, als sich der Staat Jugoslawiens auflöste und den gleichsam verdrängten Krieg in das Gedächtnis der europäischen Staatenge­ meinschaft zurückführte. All diese Beispiele sind schwer vergleichbar, mal geht es um den plötzlichen Ausbruch von Gewalt, mal um einen offiziellen Krieg im Inneren, mal geht es um die Strukturen ungleicher Rechte. Gemeinsam ist allen genannten Konflikten eine fundamentale Bedürftigkeit – eine gewaltarme Gemeinsamkeit zu schaffen, wo bislang Hass und Ungleichwertigkeit dominierten. Das Beispiel der Gesellschaft Rwandas nach dem Genozid von 1994 wird im folgenden als ein exemplarischer Fall herausgegriffen, denn dort zeigten sich wie unter einem Brennglas die Probleme von Gesellschaften, die durch Feindschaft und Gewalt gleichsam zerrissen wurden. Die Hintergründe der Gewalt, die 1994 zu dem Völkermord in Rwanda führten, können hier nicht aufgezeigt werden. Oberflächlich betrachtet handelte sich um den Ausbruch einer Mordaktion zwischen Ethnien der Hutu und Tutsi – aber jede angemessene Herangehens­ weise an die Ursachen dieses »Ausbruchs« müsste weiter ausgreifen und tief in die Geschichte Rwandas blicken. Die Geschichte dieses Völkermords ist komplex und die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Sprache, die man zur Rekonstruktion gebraucht – handelt es sich um einen »Brudermord« oder eine Zwangsläufigkeit, die von den ethnischen Wurzeln herrührt? Man müsste also vor der Rekonstruktion der Geschehnisse fragen, wer genau die Geschichte Rwandas schreiben dürfte und inwieweit die Unterscheidung der

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verfeindeten Ethnien der Hutu und Tutsi nicht auch mit der kolonialen Geschichtsschreibung verbunden ist410. Hier soll es allein darum gehen, die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens in einer traumatisierten Gesellschaft zu erkunden. Friedenskonsolidierung im Sinne einer »Transitional Justice« unterliegt dem Ziel, zu eben jener Versöhnung einer Gesell­ schaft beizutragen. Das Spektrum umfasst die Einsetzung von Wahr­ heits- und Versöhnungskommissionen, internationale und hybride Strafgerichtshöfe und Rituale der Erinnerung. Die Heilung der historischen Verletzungen ist das Ziel, die Beendigung der Gewalt­ handlungen und die Aussicht auf friedliche Koexistenz. Postkonflikt-Gesellschaften benötigen eine Memorialkultur – ein Motiv, das verständlicherweise auch in der deutschen Kultur fest verankert ist. In Rwanda ist die Erinnerungspolitik höchst bedeutsam, man erkennt es an der Vielzahl der Gedenkstätten, die das Gedächtnis der nationalen Vergangenheit bewahren sollen. Die Zentren der Kommemoration weisen spezifische Charakteristiken auf. Zu den Eigentümlichkeiten zählt, dass die Körper, Schädel oder Knochen der Ermordeten präserviert werden; zum anderen wird an den Gedächt­ nisorten aber eine audiovisuelle Pädagogik der Erinnerung gepflegt. In Text, Bild und Video wird Aufklärung über einen Völkermord ermöglicht, der von der Plötzlichkeit und der Tötungsrate her in die Annalen der Genozidforschung eingegangen ist411. Hinzu kommt die Tatsache, dass es hier um eine spezifische Form der Erinnerung von unten geht. An den Gedenkstätten arbeiteten Personen, die den Genozid überlebt hatten oder die Angehörige ver­ loren hatten; ihre Aufgabe erscheint bizarr und doch naheliegend: sie sollen die Körper der Toten pflegen und erhalten; als sogenannte mne­ monische Wächter übernehmen sie insofern eine Form der »Totenfür­ sorge«412. Es fließen hier offizielle Gedenkformen und kulturelle Beson­ derheiten zusammen. Offizielle Trauerperioden mit entsprechenden Veranstaltungen werden seit 1998 begangen; vorher ging die Idee 410 Hierzu: Robert Stockhammer: Rwanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 411 Julia Viebach. Über Diskontinuitäten und Diskontinuitäten. Verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel Rwanda. In: Christina Schues/Pascal Delhom (Hg.) Zeit und Frieden. Freiburg/München: Karl Alber 2016, S. 103–131. 412 Ebd., S. 112.

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des Totengedenkens auf die Initiativen von diversen Überlebenden­ verbänden zurück. Der formale Rahmen wird zugleich durch die kulturelle Dimension der Trauerbewältigung gefüllt – und an diesem Punkt wird man erkennen, dass es sich um eine eigene Form der Memorialkultur handelt. Es geht zum einen natürlich um die Bewah­ rung der Erinnerung – diese Seite ist dem westlichen Beobachter vertraut, denn sie zielt auf die kognitive und pädagogische Dimen­ sion des Umgangs mit Vergangenheit. Erinnerung findet aber auch als Auseinandersetzung mit kulturell bedingten Zeitdimensionen statt. Durch die Pflege der toten Körper etwa werden Spuren der Vergangenheit sichtbar gemacht; das Gewaltereignis selbst ist somit nicht abgeschlossen, sondern in die Sphäre der kollektiven Erinne­ rung eingeschrieben. Es handelt sich um eine spezifische Form der Zeithomogenisierung, insofern sich Vergangenheit und Gegenwart zu einem Moment zusammenschließen – und es wäre müßig zu fragen, ob es sich bei der Form des Gedenkens um mythisierende oder magische Praxis handelt oder einfacher um die mögliche Anschauung eines traumatischen Zusammenhangs413. Das Stichwort der Zeit bietet zugleich eine Überleitung zur praktischen Dimension des Peace-Building. So wie die erinnernde Bewältigung der Gewalt auf Dauer gestellt werden muss, so benötigt auch der belastbare Frieden lange Zeiträume. Die Dimension der Zeit verdeutlicht, inwiefern eine asymmetrische und schwer zu überbrü­ ckende Kluft zwischen den Intervenierenden und den Betroffenen besteht. Die Akteure müssen ihre Präsenz am fremden Ort begründen und einen Zielhorizont ihrer Anwesenheit bestimmen. Sie müssen einen Moment angeben, seitdem sie im Auftrag des Friedens dort sind und sie müssen vorher bestimmen, wie lange die Zeit ihrer Präsenz notwendig sein wird. Schon an diesem Punkt weiß man um die Unmöglichkeit einer rezeptologischen Herangehensweise. Der Zeitpunkt, an dem eine Gesellschaft endgültig »befriedet« ist, kann nicht vorhergesagt werden; sogenannte Exit-Strategien sind höchst unsicher, sie entziehen sich allen Erwartungen der Effektivi­ tät. Das Zeitbewusstsein der Intervenierenden und das Zeitgefühl der Subjekte, die von der Intervention erreicht werden, entwickeln sich auseinander. Die Interventionsmacht ist gezwungen, sich über zeitliche Bestimmungen auszuweisen, sie kennt nur den Zeitpunkt 413 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2007.

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ihrer Ankunft und somit die Geschichte der Intervention, muss aber zugleich den Horizont der Erwartung abstecken. Die Betroffenen leben in einem ganz anderen sozialen und temporalen Gefüge, zumin­ dest ist es viel weniger zweckgebunden und weniger vorbestimmt. Mit dieser Differenz muss man umgehen und man muss Wege finden, um die eigene Existenz mit anderen zusammen zu führen. Der Intervenierende, auch wenn er sich als helfende Macht in sozialen und zivilen Bezügen versteht, verfügt über eine ambivalente Identität. Er rechtfertigt sein Tun durch das zweckgebundene Selbstverständnis – im Auftrag eines zu schaffenden Friedens da zu sein. Die Tätigkeit des Friedenschaffens erhält den Rang eines »deutungsoffenen Signi­ fikanten«414, auf den sich die Beteiligten ausrichten müssen. Auf den Frieden kann sich prinzipiell jeder verständigen, aber die Wege und die Mittel zur Zielerreichung können umstritten sein. Die Gegenwart der »friedensschaffenden Mission« ist insofern weniger kongruent als vielmehr dissonant; sie bildet eine Bruchstelle im Arbeitsbündnis. Die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden kommt hier vielleicht noch stärker als in anderen Bezügen zum Ausdruck. Gleichwohl bleibt das zivilisatorische Vieleck als Hintergrundfigur bestehen, an der man sich orientieren muss. Wie aufgezeigt, tragen Methoden der Transitional Justice dazu bei, den Weg einer Konfliktge­ sellschaft in eine lebbare Zukunft zu ebnen. Dabei muss es zum einen um die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse gehen, also um die Wiederherstellung des Rechts. Spätestens seit den Nürnberger Prozessen von 1945 steht die internationale Rechtsprechung vor der Aufgabe, strafrechtliche Ver­ antwortung für völkerrechtliche Verbrechen zu begründen, Schuldige zu identifizieren und nicht zuletzt die Verantwortung von Staatsober­ häuptern, Regierungsmitgliedern, aber auch von einzelnen Akteu­ ren offenzulegen. Freilich waren und sind diese Prozesse nie mit einem endgültig befriedigenden Ergebnis verbunden. Eher ging es und geht es um die Lebbarkeit eines Gemeinwesens, das sich auf­ grund einer traumatischen Gewalterfahrung nicht mehr auf eine unbezweifelbare gemeinsame Vergangenheit berufen kann. Damit die Opfer erkannt und ihre Geschichten auserzählt werden, sind lange Zeiträume zugrunde zu legen. Um den Ablauf der Geschehnisse, die einzelnen Umstände und das Leiden der Betroffenen aufzude­ 414 Werner Distler: Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding. Die Zeitdimensionen der Praxis des Friedenschaffens. In: Schues /Delhom 2016, S. 85–103; hier S. 90.

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cken, bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Wahr­ heitskommissionen, juristische Verfahren, Amnestien, Reparationen und Kompensationen tragen ihren Teil zu dem Geschehen bei – die Schwierigkeiten sind jedoch nicht die geringsten. In Folge der Nürnberger Prozesse musste bekanntlich eine historische Kultur der Erinnerung erst geschaffen werden, die das wahre Ausmaß und einen Begriff der Verantwortlichkeit in Umrissen erkennen ließ. In Rwanda hingegen waren die Probleme vorrangig mit einem überforderten Staats- und Rechtsprechungsapparat verbunden; mit einer Vielzahl von Angeklagten, deren Taten unter dem Eindruck des Massenhandeln juristisch zu bewerten waren. Um so dringli­ cher erscheinen die friedenspädagogischen Aktionen und die gesell­ schaftspolitischen Instrumente, die in Kombination mit dem Recht die ganze Bandbreite der Transitional Justice abbilden. Nach der Rechtsprechung, so ließe sich vereinfachend behaupten, beginnt die konkrete Auseinandersetzung. Und den helfenden Professionen kommt just an diesem Punkt eine bedeutende Rolle zu. Die zivile Konfliktbearbeitung bietet ein reichhaltiges Instru­ mentarium, das in einschlägigen Förderprogrammen niedergeschrie­ ben ist.415 Ob sich abschließend ein herausragendes, »oberstes« Prin­ zip benennen lässt, das aus der Vielfalt von Stiftungen, sozialen Diensten, internationalen Konsortien herausragt, ist schwer zu beur­ teilen. Erwähnenswert ist aber ohne Zweifel die Orientierung an der indigenen Kultur. Ein Versöhnungsprozess ist kein kaltes Verfahren, das von oben her verordnet und dirigiert wird. Praktikabel ist vielmehr die Abstimmung mit dem kulturellen, historischen und sozialen Hintergrund; ein Prozess, der sich zwischen den kulturellen Welten verorten müsste. Unabweisbar erscheint die Notwendigkeit, sich vom eigenen gewohnten Standort zu entfernen und andere Lebens­ weisen, Interpretamente und Wahrnehmungen des gemeinsamen Lebens zuzulassen. Der offizielle Versöhnungsprozess im westlichen Verständnis wäre demnach nur eine Möglichkeit unter vielen; sie als absolut zu setzen, wäre eher hinderlich. Versöhnung verlangt Ver­ trauen und Dialog, Bündnisse und Kooperationen, die über den Tag hinausführen; aber sie kann ebenso im Kontakt zu nativen Ansätzen 415 Darunter fallen etwa Aktionspläne des Auswärtigen Amtes, zivile Förderpro­ gramme, Stiftungen mit Kontakt zu Wissenschaft und Forschung und natürlich eine breite gestreute Menge von Nicht-Regierungsorganisationen. Vgl. Inkje Sachau; Peace-Building als politische und pädagogische Dimension sozialer Arbeit. In: Wag­ ner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 69.

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geschehen: soziale Beziehungen und Interaktionen, Kunst, Musik, Theater, Tanz und Bildende Kunst sind in indigenen Kulturen nicht nur eine kulturelle Zugabe, sondern sie stehen in der Mitte sozialer Auseinandersetzungen, sie müssten zumindest stärker in den Fokus gerückt werden, um die Potentiale der Versöhnungsprozesse zutage zu fördern. Vielfalt und Differenz – auch hier erweisen sich diese Kategorien als wertvoll. Das Absehen von der eigenen Herangehensweise an Konflikte käme demnach einer notwendigen Tugend gleich, besser gesagt, einer professionellen Haltung in interdisziplinären und inter­ nationalen Kontexten. Diese Haltung verlangt einen offenen und öffnenden Blick: nicht alles, was sich jenseits der herrschenden Ver­ nunft im Großen und im Kleinen befindet, muss sich als rückständig, traditional oder gar als primitiv erweisen. In der Sprache der Existenz­ philosophie wäre eher zu betonen, dass es sich bei den Zeremonien und Ritualen um gleich-gültige Ausdrucksformen einer Form der Entzweiung handelt, die ihren Sitz in der Mitte des fragilen und endlichen Lebens hat. Die Betonung der energetischen Verbindungen, die Entwirrung der Emotionen, Phasen des Innehaltens und des plötz­ lichen Vertrauens, die Ritualisierung von Vergebung und Reue, nicht zuletzt der symbolische Akt der Durchtrennung einer Nabelschnur – in allen diesen exemplarischen Motiven kann man vielleicht sogar eine vergessene Ebene von humanen Konflikten erkennen416. Und es wäre keineswegs übertrieben zu behaupten, dass Helferinnen und Beteiligte von außen einen Anlass zur Inspiration finden könnten, der sie über die eigenen Bindungen ein Stück weit hinausführt. Anstelle eines Fazits wäre auch hier auf das erneuerte Selbstver­ ständnis der Sozialen Arbeit zu verweisen. Als Konfliktwissenschaft bewegt sich diese Disziplin auf einem schmalen Grat. Das Ziel der Bemächtigung über das eigene Leben steht außer Frage. Unumstritten scheint die Einsicht, dass es nicht äußerlich vorgeschrieben und ver­ ordnet, sondern ermöglicht werden kann. In lokalen Bezügen ist man auf die Ambivalenz der politischen Dimension verwiesen – Andere sollen eine Haltung erwerben, Selbstmächtigkeit erringen. Aber sie 416 Der rituelle Versöhnungsprozess »Ho`oponopono« basiert in diesem Zusam­ menhang auf neuen aufeinanderfolgenden Phasen; der Konflikt hat hier die Stellung eines krankmachenden Faktors, der durch die gemeinsame rituelle Heilung überwun­ den wird. Vgl.: Sachau 2018, S. 75; ferner: John Paul Lederach: Vom Konflikt zur Ver­ söhnung. Kühn träumen – pragmatisch handeln. Übersetzt von Eva Weyandt. Neu­ feld: Neufeld Verlag 2016.

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befinden sich bekanntermaßen in einer Situation, die unverhältnis­ mäßig erschwert ist. Die leichtfertige Verkündung »to empower people« verbietet sich – wie eben auch der Vorrang der Capabilities in gleichem Maße gilt. Brachliegende Ressourcen zu aktivieren ist nicht gleichbedeutend mit der Stärkung der Selbstverantwortung und persönlichem Engagement. Es sind Widersprüche, die sich nie einseitig auflösen lassen. Gilt das Gleiche vielleicht auch für die internationale Dimension? Das sozialarbeiterische Tun richtet sich zu Recht auf das Ziel der Agency, auf die Beförderung von Handlungsfähigkeit. Diese umfasst, wie zu sehen war, das gesamte Spektrum kultureller und sozialer Bewältigungsformen. Aber auch hier gilt, das Motiv der emanzipa­ torischen Haltung nicht zu überbewerten417. Denn es geht nicht allein um selbstverantwortliches Daseinsmanagement, sondern um das Schaffen einer lebensdienlichen Perspektive zwischen mir und anderen, die mit keiner höheren Gerechtigkeitsvision noch mit den Techniken der Selbstregierung übereinstimmt. Als Maßeinheit und Ausgangspunkt der Sozialen Arbeit in internationalen Dimensionen erscheint allein die konsequente verstehende Subjektorientierung.

417 Holger Ziegler: Empowerment und Capabilities. In: Wagner/Lutz/Rehklau/Ross 2018, S. 304–317.

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Es zählt zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass wir vollkommen selbstbewusst über die Welt sprechen können. Als räumlicher Hori­ zont ist die Welt an sich mehr oder weniger erschlossen. Grenzen, die auf etwas davor oder dahinter verweisen, scheint es nicht mehr zu geben. Das Außen hat sich verflüchtigt. Aber welche Vorstellung der Welt führen wir mit uns? Und mit welchen Instrumenten blicken wir auf diese Welt, die wir meinen restlos zu überschauen? Cartesianische Anschauungen sehen den Raum durch Materie erfüllt; konstruktivistische Ansätze betonen die Beobachterabhängig­ keit. Raum und Zeit sind uns zumindest nicht auf die Weise verfügbar, wie es in der Redewendung zum Ausdruck kommt, dass uns die Welt zu Füßen liegt. Denn die Welt entzieht sich und gibt immer nur Ausschnitte zur Verfügung, die Flüchtigkeit des Augen-Blicks und die Illusion eines umfassenden Welt-Wissens. Um von der Welt an sich zu sprechen, bedarf es einer Klarheit über die zugrunde liegenden Kategorien. Um aber konkreter von der sozialen und humanen Welt zu sprechen, müssen historische, soziale, politische und normative Fluchtlinien zusammengeführt werden. Diese Linien ergeben ein Bild über den Zustand unserer Welt, in der wir als Handelnde einander begegnen und uns anderen gegenüber positionieren. Der Weltbegriff ist mit anderen Worten unverzichtbar für die sozialen Disziplinen der Hilfe. Nahe kommen wir diesem Weltbegriff auf vielen Wegen; der historische ist vermutlich der nahe­ liegendste. Denn die Welt, so wie sie uns vertraut und selbstverständ­ lich erscheint, hatte andere Bedeutungen in vormodernen Zeiten. Denken wir etwa an die mittelalterlichen Welt- und Landkar­ ten. Reisende in vormodernen Zeiten waren auf Material angewie­ sen, dem zumindest kein Konzept einer geographisch strukturierten Räumlichkeit zugrunde lag, wie wir es kennen. Das Bewusstsein, auf einer Reise an einem bestimmten Punkt innerhalb einer Region, einer Landschaft und eines umfassenden Raumes zu »stehen«, fehlte

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den mittelalterlichen Reisenden. Zwar gab es einzelne Karten, die mit Ortsangaben versehen waren, aber es fehlten die Sinnkriterien, die eine »Vorstellung vom räumlichen Gesamtzusammenhang der Reise in einem der modernen Vorstellung irgendwie vergleichbaren Sinn« erlaubten418. Bei Fahrten auf hoher See waren es sogenannte »Portolane«, die die Reihenfolge der Küstenorte anzeigten; bei Landreisen gebrauchte man »Itinerare«, Straßenkarten, die zwar eine Folge von Ortschaften aufwiesen, aber keinen maßstabsgetreuen Abstand zwischen diesen Orten wiedergeben konnten. Die Vermessung und Festlegung der Welt auf objektive Distanzen wurde erst nach dem 13. Jahrhundert in Angriff genommen. Bis dahin waren die Menschen auf ein Bild der Welt angewiesen, das zwar einen Gesamtzusammenhang eröffnete, aber mit affektiven, mythischen und natürlich religiösen Bedeutun­ gen versetzt war. Weltkarten der Vormoderne ließen eine Ahnung von der Unermesslichkeit der Welt zu, aber sie zeigten auch in aller Deutlichkeit auf den Schrecken und das Unheimliche hinter den Gren­ zen der Welt. Löwen, mythische Tiere, fremde Wesen und Monstren bevölkerten die Regionen, die dem Unbekannten zugehörten. Eine weitere Eigenart ist zu bemerken: zeitgenössische Reisebe­ richte und Karten ließen keine Zwischenräume frei. »Zeitliche und räumliche Distanzen wurden nur dann wahrgenommen, wenn es sich um sinnvoll erfüllte Zeiten handelte, d. h. um Zwischenräume, die für das Geschehen unmittelbar von Bedeutung waren.«419. Auf einer Pilgeroute etwa markierten Wegabschnitte die religiöse Bedeutung, die zuerst der Abtragung einer Sündenschuld dienlich waren. Räum­ liche und zeitliche Parameter waren von geringem Interesse, denn es ging ja um die Erlangung eines Zustands der Erlösung im Zeichen der theologischen Letztbegründung. Der Befund darf verallgemeinert werden. Die Dinge und Ereig­ nisse, Räume und Strukturen hatten kein Eigenrecht. Die Welt war nicht als kartographisch konstruierbare Größe von Bedeutung, son­ dern nur in theologisch begründbaren Konfigurationen. Wie ist demgegenüber die Welt heute codiert, einfacher gespro­ chen, welches Bild der Welt liegt der modernen Vorstellung zugrunde? Zumindest die Wahrnehmung des Raumes hat sich verändert: kon­ 418 Lucian Hölscher: Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft. München: Wallstein 2009, S. 21. 419 Ebd., S. 23.

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krete räumliche und zeitliche Distanzen sind messbar und verfügbar, aber noch immer steht in Frage, mit welcher Art von Bedeutung der Raum verbunden wird – und welchen Sinn die Welt als Träger von humaner Bedeutung ergibt. Die Welt ist vermessen, erobert und durchleuchtet worden, aber über ihre kulturelle und soziale Codierung ist damit noch nichts ausgesagt. Diese Problematik ist von allgemei­ nem Interesse, aber sie kennzeichnet auch die Selbstbeschreibung der helfenden Professionen, um die es in der vorliegenden Reflexion geht. Auf eine einfache Formel reduziert ließe sich behaupten, dass die soziale Arbeit als Profession und als Disziplin durch einen unab­ weisbaren Weltbezug charakterisiert wird. An den vielfältigen Ent­ grenzungsprozessen und Umschichtungen kann die Soziale Arbeit schlichtweg nicht vorbei sehen. Dass die Globalisierung im Sinne zunehmender ökonomischer Verflechtungen voranschreitet, dass alte Weltordnungen, etwa die bipolare Konfrontation zwischen Ost und West zusammengebrochen sind, aber neue Ordnungsmuster nur vage zu erkennen sind; dass schließlich der nationalstaatliche Rahmen obsolet wird und in transnationale Kraftfelder hineingezogen werden – dies alles prägt die Selbstverortung der Disziplin. Sie ist insofern auf einen Weltbegriff angewiesen, der zumindest eines ermöglichen würde: ein Bewusstsein für das Ineinander von Zerfall und Neuschöp­ fung, Überschreitung und Rückschritt zu ermöglichen. In all den kaum zu überblickenden Szenarien der Weltgesell­ schaft, inmitten ihrer kulturellen und sozialen Verflechtungen, politi­ schen und militärischen Konflikte ist die Frage nach dem einzelnen Menschen von eminenter Bedeutung. Die humanwissenschaftlichen Disziplinen ebenso wie die sozialen Professionen müssen einen sozi­ altheoretischen Zugang zum Menschen schaffen, ohne bereits im vornherein einer plakativen, klischeeartigen Verstellung zu unterlie­ gen. Dies aber ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, die eine besondere Differenzierung erfordert. Wovon ist zu sprechen, wenn es um internationale Dimensionen der Sozialen Arbeit geht? Kri­ sendiskurse und semantische Traditionen schaffen Resonanzräume, die den meisten Zuhörern vertraut sind: Globalisierungskritik sei unerlässlich, weil die Adressatinnen der Sozialen Arbeit als Globa­ lisierungsverlierer, Gedemütigte, Exkludierte oder Abgeschriebene im Schatten der Spätmoderne ein einsames Dasein fristen. Sie, die Menschen am Rande der Gesellschaft, müssen globale Krisen in lokalen Bezügen bewältigen, sich in Lebens- und Bewältigungslagen

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einrichten. Dabei verschiebt sich die Wahrnehmung der Position jener Gruppierungen; lange Zeit wurden sie als randständig bezeichnet, durften aber auf nachträgliche Integration hoffen, so es die gesell­ schaftlichen Umstände erlaubten. Gegenwärtig verschieben sich aber die Koordinaten dieser Erzäh­ lung: vom gesellschaftlichen Rand ist nun weniger die Sprache als vielmehr von der massiven und dauerhaften Exklusion. Im Maße, wie sich die Menschen in einem »außerhalb« der Gesellschaft wieder­ finden, muss sich die Soziale Arbeit als »sozialpolitische Müllabfuhr der Globalisierung«420 erkennen, bzw. müsste sie sich gegen diese polemische Zuschreibung zur Wehr setzen. Aber mit welchen Mitteln? Eine kritische Theorie wird erforder­ lich, die den engen Zusammenhang von sozialen Konflikten und dem politischen Überbau durchleuchtet. Dazu liegen zahleiche Konzepte vor. Sie weisen, bei allen Unterschieden im Detail, auf zwei funda­ mentale Einsichten: auf die Vulnerabilität von Menschen in prekären, konflikthaften Lebenslagen und auf die zunehmende Desintegration der globalisierten Weltgesellschaft. Eine der möglichen Herangehens­ weisen an diesen Zusammenhang ist natürlich eine politologische. In ihrem Zentrum steht die Suche nach Formen der Weltpolitik, die den deutlich erkennbaren Engführungen sinnvolle Alternativen bietet. Die kritischen Gesichtspunkte finden angemessene Beachtung, aber die entscheidenden Antworten müssen ausbleiben, wie sich das Fehlen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs ausgleichen ließe. Eine Weltgemeinschaft, die sich als Schicksalsgemeinschaft verste­ hen würde – diese Zielstellung erweist sich verständlicherweise als zu groß. Demgegenüber steht die Frage im Raum, wie man Zugänge zu Menschen in belasteten Situationen schaffen könne und sich dabei auf einen Weltbegriff berufen könnte, der alle denkbaren Dimensionen, Armut und Demütigung421, Unsicherheit und Orientierungsverlust, Konfliktsituationen und Bedürfnislagen umfasst. Auch diese Zielset­ zung erscheint überaus hoch angesetzt zu sein. Aber sie lässt sich eher in eine kritisch-theoretische Perspektive einfügen. Christiane Bähr/Hans Günther Homfeld/Christian Schröder/Wolfgang Schroer/Cornelia Schweppe (Hg.): Einleitung. In: Weltatlas Soziale Arbeit. Jenseits aller Vermessungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014, S. 13. 421 Avishai Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Berlin: Fischer 1999. 420

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Die kritisch-normative Herangehensweise benötigt insofern eine integrative wissenschaftstheoretische Konzeption. Wenn sich alle Probleme der Weltgesellschaft auf die politischen Grundlagen zurück führen ließen, wäre die Lösung schnell bei der Hand: die beste­ henden Hegemonien wären aufzulösen und eine Politik mit kosmopo­ litischen Zügen wäre zu gestalten. So sehr man hier Wünschenswertes erkennen mag, so bleibt der theoretische Zugang aber doch unbefrie­ digend. Es bedarf offensichtlich einer Weltbeschreibung, die sich als reflexiv in verschiedener Hinsicht erweist: sie umfasst die Kritik der Globalisierung im Horizont politischer Visionen, Menschenrechts­ arbeit im Horizont von globalen Exklusionsprozessen, aber auch die Beachtung der Eigenständigkeit von sozialen Lebensformen im Horizont einer weltkulturellen Dynamik. Diese Reflexion benötigt also theoretische Eckpfeiler, um einen Gesamtzusammenhang im Blick zu halten. Themen und Problemstellungen sind zu nennen, die nicht isoliert zu »bearbeiten« sind, sondern als mehrdimensionale Phänomene umkreist werden. Um den Gang der Argumentation zu präzisieren, wurden Thesen aufgestellt, deren Zugang nicht ohne Fallstricke und Widersprüche blieb. Die Internationale Soziale Arbeit ist keine Spezialdisziplin, sondern ein Fach mit einer universalen Reichweite. Ihr kommt eine Bedeutung und eine Tragweite zu, die nicht immer gebührend erkannt wird. Den Unterschied wird aber nur derjenige erkennen, der bereit ist, die engen Bahnen des nationalstaatlichen Denkens zu überschrei­ ten. Dies ist zwar eine Forderung, die in der Soziologie seit langem artikuliert und beherzt aufgegriffen wird422; es macht freilich einen Unterschied, unter welchen Voraussetzungen man die Welt in ihren politischen, sozialen und »klimatischen« Bestimmungen betrachtet. Herkömmliche Betrachtungen der Sozialen Arbeit verbleiben in dem Horizont jener Gesellschaft, die historisch gewachsen und als sozial vertraut erscheint. Diese Betrachtungsweise hat somit selbstre­ dend ein Eigenrecht und eine Dignität. Die Überschreitung über die Grenzen des Eigenen ist somit der Schritt, der nicht selbstverständlich ist und das Denken herausfordert. Denn sobald man versucht, die ver­ schwiegenen nationalen und kulturellen Grenzen aufzubrechen und sich den globalen Horizonten zu öffnen, drohen Überforderungen. 422 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Moder­ nisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Ders.: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

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Leichter ist es allemal, sich auf die Systemprobleme im Hier und Jetzt zu beschränken, die eben auch nicht gerade einfach zu lösen sind. Die Alternative hierzu wurde in Ansätzen skizziert. Sie bleibt eine Herausforderung für das Denken und Handeln. Der Unterschied ist gleichsam fundamental: Geht es um die Ori­ entierung im internationalen Raum, also um den Vergleich, der immer im nationalen, staatlichen und historischen Rahmen verbleibt? Dann bliebe die Profession der Sozialen Arbeit in einem Selbstverständnis befangen, das territorial gebunden ist, mit speziellen kulturellen und administrativen Vorgaben. Vereinfacht gesprochen wäre die Soziale Arbeit »immer noch« auf den Unterschied zwischen dem Fremden und dem Eigenen verwiesen, an die lokale Praxis von Bildung und Erziehung, an die vertrauten Methodologien und Theorien. Es wird zwar unter Umständen versucht, die engen Grenzen zu überwinden, kulturelle und soziale Beziehungen zu knüpfen und Vergleiche zwi­ schen Praxen hier und dort zu ziehen. Aber die Profession bliebe an die etablierten Autoritäten von Wissenschaft, Bildung und Kultur verwiesen; eine ernsthafte Überwindung des eigenen Standorts wäre nicht möglich. Was ist die Alternative? Die internationale Dimension der hel­ fenden Professionen erzwingt eine Positionierung im sozialen Raum. Der universalistische Bezug der Hilfe ist unabweisbar; Soziale Arbeit somit immer auch grenzüberschreitend. Ihr kommt ein Engagement zu, das sich nicht auf den einzelnen Fall beschränken lässt. Aufgrund dieser Voraussetzung gehört es zu den größeren Herausforderungen der Disziplin, sich über das Selbstverständnis und gewissermaßen über den Weltbezug der Disziplin Rechenschaft abzulegen. Man durchschaut den komplexen Zusammenhang, wenn man den Widerspruch zwischen dem ethischen Fundament und den politi­ schen Bestimmungen in den Mittelpunkt rückt. Wie erwähnt, lassen sich ethische Maximen nicht bestreiten: wenn Andere in Situationen der Not an Gesellschaften herantreten, haben sie ja die prinzipiell gleichen Rechte wie alle anderen. Das menschenrechtliche Fundament kennt – aus der Ferne betrachtet – keine Limitationen und keine Hierarchien. Die Praxis des Umgangs mit Not hat freilich ein anderes Gesicht. Der Hinweis auf den universalen Kern der Berufsethik trägt nicht allzu weit, denn die sozialen Probleme sind immer in einem Geflecht von hegemonialer Politik, Machtkonstellationen und sozialen Konflikten zu betrachten. Welchen Stellenwert die Ethik in solchen Situationen einnehmen kann, steht also in Frage.

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Noch einmal wäre zur Diskussion zu stellen, inwieweit die Soziale Arbeit einen Weltbezug hat, der sie zu einer besonderen Disziplin macht. Eine Öffnung zur Welt ist eine Grundvoraussetzung, aber die Welt »an sich« bleibt ja eine abstrakte Größe. Alles kommt darauf an, unter welchen Voraussetzungen man die Grenzen und die Pluralität von Lebensformen wahrnimmt. Der erste notwendige Schritt wird gemacht, wenn man die Soziale Arbeit systematisch von einem differenzierten gesellschafts­ theoretischen Standort aus wahrnimmt. Der zentrale Bezugspunkt ist demnach nicht der mehr nationale Staat, sondern die Gesellschaft mit ihren funktionalen Bestimmungen. Nicht die Staaten und Natio­ nen bedingen die Welt, sondern Funktionssysteme mit universalen Ansprüchen und spezifischen Codierungen. Die Rezeption der Sys­ temtheorie von Luhmann ist an diesem Punkt erwähnenswert, aber sie bedarf, wie wir sehen werden, einer Vertiefung und Ergänzung423. Der systemtheoretische Blick auf die Gesellschaft ist nach wie vor unbequem. Die Gesellschaft ist nach Luhmann und anderen nicht als Ansammlung von Individuen zu verstehen, sondern: wirt­ schaftliche, politische, wissenschaftliche oder rechtliche Kommuni­ kationen differenzieren sich aus und prägen die Möglichkeiten des Gesellschaftlichen. Die Gesellschaft selbst hat keine Adresse, son­ dern nur Kommunikationsräume. Die Systeme operieren weitgehend geschlossen und zwingen die Individuen dazu, Regeln zu erfüllen und der kommunikativen Logik zu entsprechen. Wird diese Anforderung nicht erfüllt, kommt die Soziale Arbeit ins Spiel. Sie verhilft den gescheiterten oder gefährdeten Individuen dazu, mit dem Risiko gescheiterter Inklusion umzugehen. Aber welche Antworten kann die Soziale Arbeit erhoffen von einer Theorie, die mit dem Adlerblick von oben die Gesellschaft auf ihre Logik und ihr Operationen hin beobachtet, freilich ohne die Perspektive des ausgeschlossenen Menschen systematisch erfas­ sen zu können? Wenn von bitterer Armut, von Exklusionsrisiken oder Marginalisierung gesprochen wird, erkennt die Theorie hier Folgelasten der Umstellung sozialer Differenzierung oder einfach »Kommunikationsprobleme« in geschlossenen Kreisläufen zwischen Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; Bommes, M./Scherr, A.: Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe. Weinheim: Beltz Juventa 2012. 423

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Wirtschaft und Politik. Was der Theorie kategorial entgeht, sind die unausgesprochenen Spielräume des Politischen in der Moderne. Nicht nur deshalb kommt der Fachdisziplin der Internationalen Sozialen Arbeit eine Schlüsselfunktion zu. Nicht weil sie etwa in humanis­ tischer Tradition an die raue Wirklichkeit des Menschen erinnert oder gar die Devise, »menschlich in unmenschlichen Verhältnissen zu bleiben« ausgibt. Sondern eher, weil sie die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession424 in ein Verhältnis setzt zu den Gelin­ gensbedingungen der postnationalen Konstellation. Sie schärft das Bewusstsein für die Paradoxien und Engpässe des Wohlfahrtsstaats und sie versteht sich als selbstreflexive und somit zweifelnde Akteurin auf dem Feld der Macht. Die Positionierung zur Gesellschaft, die immer auch »Weltge­ sellschaft« ist, trägt entscheidend zu dieser Form der reflexiven Selbstvergewisserung bei. Es geht nicht um die Einforderung eines kosmopolitischen Designs, nach dem jeder Weltbürger mit Rechten ausgestattet wird und sich frei auf einer jedem zugänglichen Erde bewegen könnte. Aber auch die extreme Distanz der Systemtheorie, die in allen menschlichen Zusammenhänge codierbare Ereignisse erkennt, ist unzureichend. Entscheidend für die Theorie der Internationalen Sozialen Arbeit erweist sich vielmehr die Idee der multiplen Moderne425. Diese umgeht den Fehlschluss, dass es ein helles Zentrum im Herzen der atlantischen Moderne gibt, von der aus alle weiteren sozialen Span­ nungen zu betrachten wären. Die Welt an sich ist zunächst Grundlage und Ausgangspunkt, Anker und Mitte, ohne sich in Raum und Zeit zu verorten. Sowohl die historischen Wissenschaften als auch die Gesell­ schafts- und Sozialwissenschaften haben diesem Gedanken viele Impulse geliefert426. Ausgangspunkt aller Beobachtung ist die Vielfalt der Moderne, eine Moderne mit vielen Spielarten, Varianten und Verknüpfungen. Dies bedeutet keineswegs nur bequeme Pluralität und Indifferenz, sondern dynamische Verknüpfung und Interaktion. Sylvia Staub-Bernasconi: Soziale Arbeit und Menschenrechte. Vom beruflichen Doppelmandat zum professionellen Tripelmandat. Leverkusen: Budrich 2014. 425 Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postko­ loniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York: Campus. 426 Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Berlin: Rowohlt 2016; Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Frankfurt: Fischer 2002. 424

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Entscheidend ist zudem, wie sich die Figur des Anderen in dem Geflecht von multiplen Modernen verorten lässt. Der Andere wird nicht einfach »einbezogen«, wie wir bei Habermas lesen können427, sondern er wird inkorporiert und verinnerlicht. Es ist das Rätsel der Weltbeziehung, die nur in einem interexis­ tentiellen Rahmen entschlüsselt werden kann und die Spielräume erweitert – und es sind die einfachen Fragen, die weiterführen. Wie nehmen Menschen ihre Welt um sich herum wahr, was »ist« diese Welt, zu der sie eine tragfähige Beziehung entwickeln müssten? Skeptische Antworten sind denkbar: die Welt ist politisch bedingt, durch Machtverhältnisse geprägt, die den Einzelnen nicht immer durchschaubar sind. Der einzelne Mensch und die politische Welt stünden sich in dieser Sichtweise diametral gegenüber; man erlebt sich als ausgesetzt und ohnmächtig, ohne dem anonymen Weltlauf etwas entgegen setzen zu können. Aber ein Verhältnis zur Welt ist somit nur unzureichend beschrieben. Die Welt wird vergegenständlicht und als etwas »Vor­ handenes« beschrieben, das dem Menschen wie eine anonyme Macht gegenüber tritt. Demgegenüber meint eine Lebensweltanalyse aus Sicht der philosophischen Anthropologie etwas Anderes: Menschen treten nicht der Welt gegenüber, sondern sie gestalten ihre zeitli­ che, endliche und gesellschaftlich-geschichtliche Praxis. Sie erzeugen somit selbst ihre Welt inmitten der Totalität der menschlichen Grund­ situation. Diese phänomenologische Reduktion bedeutet vor allem eines: die ethischen, moralischen und politischen Dimensionen der Welt sind untrennbar mit der Faktizität der menschlichen Welt ver­ bunden428. Die Möglichkeit der Weltbeziehung wird dann richtig ver­ standen, wenn man sie nicht auf isolierte Subjekte und deren Inten­ tionen zurückführt – sondern auf ihre Orientierungen in komplexen, ganzheitlichen und geschichtlichen Situationen. Der Unterschied ist fundamental und doch unmerklich. Anthropologie und Ethik sind in 427 Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt am Main: Suhr­ kamp 1996. 428 Thomas Rentsch: Thomas Rentsch: Wie ist eine menschliche Welt überhaupt möglich? Philosophische Anthropologie als Konstitutionsanalyse der humanen Welt. In: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 192–215; Ders.: Die Konstitution der Mora­ lität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

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der primären Welt zusammen zu denken; was Menschen in komple­ xen Situationen erfahren oder durchleiden müssen, ist immer auch Ausdruck der unverkürzten Totalität einer jeweiligen Praxis. Diese ist natürlich mit sozialkritischen Reflexionen zu begleiten, aber sie führt niemals hinter die Voraussetzung des interexistentiellen Weltbezugs.

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