Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811-1821): System der Vernunft - Kant und der Deutsche Idealismus. Band V 9783787335411, 9783787335428

Der fünfte Band führt die Frage der Möglichkeit eines Systems der Philosophie nach Kant mit Blick auf die Debattenlagen

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Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811-1821): System der Vernunft - Kant und der Deutsche Idealismus. Band V
 9783787335411, 9783787335428

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System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 5

SYSTEM DER VERNUNFT KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Jürgen Stolzenberg Violetta L. Waibel Band 5

Kant-Forschungen Band 25

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

SYSTEMKONZEPTIONEN IM HORIZONT DES THEIMUSSTREITES (1811–1821) Herausgegeben von

christian danz jürgen stolzenberg und violetta l. waibel

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-3541-1 © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Christian Danz, Jürgen Stolzenberg, Violetta L. Waibel Systemkonzeptionen im Horizont des ­Theismusstreits  (1811–1821) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. ANTINOMIEN DES SYSTEMBEGRIFFS – DER STREIT UM DIE GÖTTLICHEN DINGE Christian Polke Von göttlichen Dingen. Jacobi und das Problem von Theismus ­und Naturalismus. . . . . . . 7 Christopher Arnold »Der Gott des Theismus hingegen sey nur ein abgeschmackter Götze, ein die Vernunft entehrendes Hirngespinst« – ­Schellings Verteidigung seines philosophischen Systems im D ­ enkmal von den göttlichen Dingen gegen F. H. Jacobi. . . . . . . . . . 31

II. SYSTEM UND SYSTEMKRITIK IN JOHANN GOTTLIEB FICHTES UND CARL LEONHARD REINHOLDS SPÄTPHILOSOPHIEN Jürgen Stolzenberg Kants Freiheitstheorie und Fichtes Theorie des Verhältnisses von Absolutem und seiner Erscheinung in der späten ­Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Violetta L. Waibel Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren 1810, 1811, 1812 und der Anspruch systematischer Nähe zu Spinoza . . 71

VI

Inhalt

Günter Zöller System und Leben. Praktische Philosophie beim späten Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Martin Bondeli Reinhold über das Verhältnis von Denken und Sprechen . . . . . . . 117

III. SYSTEM UND GESCHICHTE IN FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLINGS WELTALTERPHILOSOPHIE Siegbert Peetz Schellings System der Weltalter: Zentrale Begriffe und ­Problemhorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Christian Danz »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst […] war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren«. Überlegungen zum Systembegriff in Schellings ­Akademie­vortrag Ueber die Gottheiten von Samothrake . . . . . . . . . . . . 181

IV. DAS SYSTEM DER ABSOLUTEN REFLEXION BEI GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL Philipp Schwab Vom Prinzip zum Indefiniblen. Schellings Systembegriff der Weltalter und der Erlanger ­Vorlesung im Lichte der Auseinandersetzung mit Hegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Anton Friedrich Koch Die Begriffslogik als Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Burkhard Nonnenmacher Hegels Philosophie des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Inhalt

VII

Kurt Appel Gott in Hegels spekulativer Philosophie. Zum Gang der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Michael Hackl Das Seinsollen des Vernünftigen. Logik und objektiver Geist in G. W. F. Hegels Philosophie . . . . . . 291

V. SYSTEM UND SPRACHE BEI FRIEDRICH SCHLEIERMACHER UND FRIEDRICH SCHLEGEL Jan Rohls Schleiermachers Enzyklopädie und Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Andreas Arndt Schleiermachers Dialektik und die Frage nach dem System. . . . . . 367 Jure Zovko Vernunftkritik in Schlegels Wiener Vorlesungen (1812). . . . . . . . . . 383

PERSONENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

VORWORT

Der vorliegende fünfte Band der Reihe Systeme der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus mit dem Titel Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites geht auf eine internationale Tagung zurück, die vom 28. bis 30. April 2016 an der Universität Wien stattfand. Er knüpft an die vorangehenden Tagungsbände zum Systemgedanken in der nachkantischen Philosophie an und thematisiert die vielschichtigen Kontroversen um den Systembegriff in dem Zeitraum zwischen 1811 und 1821. Die Herausgeber danken den Referenten für ihre Mitwirkung an der Konferenz sowie für ihre Beiträge, die sie zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Die Fritz Thyssen Stiftung (Köln) hat die Tagung dankenswerterweise finanziell unterstützt. Herr Bernhard Lasser (Wien) hat die Manuskripte für die Drucklegung vorbereitet und das Register erstellt. Ihm haben wir ebenso zu danken wie dem Verlag Felix Meiner für die Aufnahme des Bandes in sein Programm sowie für die bewährte gute Zusammenarbeit. Wien und Halle an der Saale Juni 2018 

Christian Danz Jürgen Stolzenberg Violetta L. Waibel

Christian Danz, Jürgen Stolzenberg, Violetta L. Waibel Systemkonzeptionen im Horizont des ­Theismusstreits  (1811–1821) Einführung Die Reihe Systeme der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus untersucht die Entwicklung sowie die vielschichtigen Kontroversen über einen philosophischen Begriff des Systems in der nachkantischen Philosophie.1 Methodisch erfolgt die Rekonstruktion des Systembegriffs sowohl mit Blick auf die beträchtlichen Fortschritte der historisch-kritischen Ausgaben der Werke Johann Gottlieb Fichtes, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings und Georg Wilhelm Friedrich Hegels als auch vor dem Hintergrund neuerer Tendenzen der internationalen Idealismus-Forschung. Diese hat sich zunehmend von der Beschränkung auf das Dreigestirn Fichte, Schelling, Hegel gelöst und verstärkt dem überaus breiten Spektrum der Debatten um die Möglichkeit eines Systems der Philosophie nach Kant zugewendet.2 Als deren Protagonisten sind insbesondere Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Friedrich Schleiermacher zu nennen. Ihre Überlegungen haben sich in ständigem Kontakt zur Philosophie Kants und dem kantischen Systembegriff ausgebildet. Durch diesen methodischen Ansatz konnte das Verständnis des Systembegriffs, sein Verhältnis zu einer Konzeption des Wissens sowie seine Funktion für 1  Inzwischen

liegen vier Bände publiziert vor: Hans Friedrich Fulda/Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Architektonik und System in der Philosophie Kants. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus. Bd. 1. Hamburg 2001. Im Folgenden zitiert als »Fulda/Stolzenberg (Hrsg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants«; Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus. Bd. 2. Hamburg 2007; Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): System und Systemkritik um 1800. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus. Bd. 3. Hamburg 2011; Violetta L. Waibel/Christian Danz/Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Systembegriffe nach 1800 – 1809. Systeme in Bewegung. System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus. Bd. 4. Hamburg 2018. 2 Vgl. nur Birgit Sandkaulen (Hrsg.): System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Würzburg 2006; Walter Jaeschke (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004; Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg 2013; Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die Philosophie der Neuzeit 3. Teil 2: Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel. München 2013.

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Christian Danz, Jürgen Stolzenberg, Violetta L. Waibel

die Begründung einer systematischen Philosophie in seiner gesamten Facettenbreite inzwischen bis 1809 erhellt werden. Einseitige Entwicklungskonstruktionen der nachkantischen Philosophie nach dem teleologischen Schema von Kant zu Hegel wurden auf diese Weise entscheidend korrigiert. Der vorliegende Band Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreits (1811-1821) führt die angedeuteten Fragestellungen mit Blick auf die Debattenlagen im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts weiter. Der 1811/12 zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ausgetragene Theismusstreit gehört neben dem Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn sowie dem Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichte zu den wichtigsten theologisch-philosophischen Kontroversen in der ›Sattelzeit der Moderne‹ (Reinhart Koselleck).3 Im Unterschied zu den vorangegangenen Streitsachen stand in der Auseinandersetzung um den Theismus der Gottesbegriff selbst zur Debatte. Wurde dieser im Pantheismusstreit noch vorausgesetzt, im Streit um den Gott Fichtes problematisiert,4 so verlor der Gottesbegriff nun selbst seine Plausibilität. Die Denkbarkeit Gottes, seine gedankliche Ausweisbarkeit wurde in dem Streit zwischen Jacobi und Schelling zum Problem.5 Das betrifft freilich auch die Frage nach der Grundlegung eines Systems der Philosophie. Im Streit um die göttlichen Dinge wurden die Defizite der systematischen Begründung eines Systems des Wissens offensichtlich. Das macht den Streit so paradigmatisch. Fortan war die Konstruktion eines Systems mit höheren Begründungsanforderungen konfrontiert. Der Band thematisiert die diversen Konzeptionen des Systembegriffs in der Zeit zwischen dem sogenannten Theismusstreit und dem Erscheinen von Hegels Rechtsphilosophie im Jahre 1821. Das ist nur im interdisziplinären Zusammenwirken von Forschern möglich, die mit dem jewei-

3 Vgl.

Walter Jaeschke (Hrsg.): Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Mit Texten von Goethe, Hegel, Jacobi, Novalis, Schelling u. a. und Kommentar (Philosophischliterarische Streitsachen. Bd. 3). Hamburg 1999; Georg Essen/Christian Danz (Hrsg.): Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012. 4  Christian Danz: Der Atheismusstreit um Fichte, in: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Hrsg. v. Georg Essen/ders. Darmstadt 2012, 135–213; Klaus-Michael Kodalle/Martin Ohst (Hrsg.): Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Würzburg 1999. 5  Ingo Kauttlis: Von den »Antinomien der Überzeugung« und den Aporien des modernen Theismus, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 1–34.

Einführung

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ligen ›Autor‹ und dem Stand der Forschung vertraut sind. Methodisch rekonstruieren die Beiträge die einzelnen Positionen in ihrem prob­lemund werkgeschichtlichen Kontext als eigenständige Beiträge zu einem System der Philosophie im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit dem kantischen Programm eines Systems des Wissens.6 Nur auf diese Weise ist es möglich, die Vielschichtigkeit der Konzeptionen in ihrem eigenen Gehalt zu erschließen und nicht als Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer abschließenden Systemkonzeption. Das betrifft auch die Voten derer, die sich kritisch mit den Philosophien der idealistischen Denker auseinandersetzen, wie Jacobi oder Schlegel. Inhaltlich setzt der Band mit dem Streit um die göttlichen Dingen ein, der 1811/12 zwischen Jacobi und Schelling ausgetragen wurde und dessen Vorgeschichte bis zum Jahre 1803 zurückreicht.7 Die Streitsache ist vor allem auch eine über die Implikationen und die Reichweite systematischer Philosophie. Jacobis Votum, welches er sowohl in der Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn als auch im Streit um Fichtes Gott vorbrachte, zielt darauf, dass ein vollendetes System des Wissens haltlos, mithin nihilistisch sei.8 Diesen ruinösen Konsequenzen könne dann entgangen werden, wenn von einem Nichtwissen des Absoluten ausgegangen wird. Jacobis Votum, Gott könne nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden, hat Schelling widersprochen.9 Gerade in dem Interesse, die systematische Philosophie als Wissenschaft auszuarbeiten, müsse diese in einem Absoluten begründet werden. Das, und darüber war sich auch Schelling im Klaren, erfordert eine vertiefte Begründung des Systemgedankens, die den Einwänden Jacobis Rechnung trägt. Mit den im Theismusstreit aufgeworfenen begründungslogischen Fragen ist der Problemhorizont aufgespannt, vor dem sich die weitere Debatte um die Grundlegung systematischer Philosophie strukturieren lässt. Johann Gottlieb Fichtes Spätphilosophie, wie sie seit der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 von ihm ausgearbeitet wurde, versucht den Einwänden Jacobis gegen eine systematische Philosophie 6  Vgl.

Fulda/Stolzenberg (Hrsg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants. Friedrich Koeppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts. Nebst drey Briefen verwandten Inhalts von Friedr. Heinr. Jacobi. Hamburg 1803. Vgl. jetzt auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I,18: Niethammer-Rezension (1808/09), Denkmal von der Schrift von den göttlichen Dingen (1812). Stuttgart-Bad Cannstatt 2018. Die Edition wird im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds FWF, Österreich, finanzierten Drittmittelprojekts (P 27739-G15) durchgeführt. 8  Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Polke in diesem Band. 9  Vgl. hierzu den Beitrag von Christopher Arnold in diesem Band. 7 Vgl.

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Christian Danz, Jürgen Stolzenberg, Violetta L. Waibel

und deren Grundlegung Rechnung zu tragen.10 Signifikant wird das an dem Begriff des Absoluten der späten Wissenschaftslehren, der als Grund und Grenze des Wissens von diesem unterschieden ist. Das absolute Wissen der Wissenschaftslehre ist das Bild des Absoluten, nicht dieses selbst.11 Während inzwischen genaue Rekonstruktionen der Weiterentwicklung der Wissenschaftslehre bis zur Darstellung von 1801 vorliegen,12 fehlen solche Untersuchungen für die späten Konzeptionen weitgehend.13 Die Beiträge des Bandes leisten einen Beitrag zur Erschließung des Systembegriffs der späten Wissenschaftslehren vor dem Hintergrund der durch den Theismusstreit aufgeworfenen begründungslogischen Fragen. Carl Leonhard Reinhold, im engen Gedankenaustausch mit Jacobi und Fichte, arbeitet in seinem Spätwerk eine Sprachphilosophie aus.14 Auch diese steht im Horizont der Anforderungen an eine systematische Philosophie. Sowohl für die Formierung als auch für die weitere Entwicklung der nachkantischen Philosophie kommt Reinhold eine grundlegende Bedeutung zu.15 Schellings Denken in dem Zeitraum zwischen dem Streit um die göttlichen Dinge und seinen Erlanger Vorträgen unterliegt einem Wandel, der das System des Wissens sowie dessen Begründung betrifft.16 Sein Weltalter-Projekt, an dem er seit 1810 arbeitete, unternimmt den Versuch, das Absolute als Geschichte zu denken.17 Dieser Ansatz, der sich in der Freiheitsschrift von 1809, den Stuttgarter Privatvorlesungen und seiner Antwort auf Jacobi abzeichnet, versucht den Einwänden Jacobis durch eine neue Begründung des Systemgedankens Rechnung zu tragen. Allerdings liegen die systematischen Intentionen sowie die werk10 Vgl.

hierzu die Beiträge von Jürgen Stolzenberg und Günter Zöller in diesem

Band. 11  Vgl. hierzu den Beitrag von Violetta L. Waibel in diesem Band. 12  Vgl. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986. 13  Vgl. Dirk Schmid: Religion und Christentum in Fichtes Spätphilosophie 1810 bis 1813. Berlin/New York 1995; Günter Zöller/Hans Georg von Manz (Hrsg.): Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk (Fichte Studien, Bd. 31). Amsterdam/New York 2007. 14  Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Bondeli in diesem Band. 15  Vgl. Martin Bondeli: Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds. Basel 2004. 16 Vgl. Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität. Frankfurt a. M. 1995; Lore Hühn/Philipp Schwab (Hrsg.): System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen. Freiburg i. Br./München 2014. 17  Vgl. hierzu den Beitrag von Siegbert Peetz in diesem Band.

Einführung

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geschichtliche Einordnung des Weltalter-Projekts aufgrund der Quellenlage forschungsgeschichtlich noch weitgehend im Dunkeln. Der Band steckt mit dem Theismusstreit, der Schrift über die Gottheiten von Samothrake sowie den Erlanger Vorträgen gewissermaßen den zeitlichen Rahmen des Weltalter-Projekts ab und leistet so eine wichtige Vorarbeit für die Erschließung dieser Fragmente.18 Auch die Systementwürfe Georg Wilhelm Friedrich Hegels lassen sich vor dem Hintergrund der durch den Theismusstreit aufgeworfenen begründungslogischen Anforderungen verstehen.19 In seinen systematischen Hauptwerken, der Wissenschaft der Logik, deren erster Band 1812 erschien, der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1817 und schließlich der Rechtsphilosophie von 1821, arbeitet er eine Systemkonzeption aus, welche über die im Theismusstreit offenbar gewordenen Begründungsdefizite hinausführen soll. Diese systematische Grundlegung einer Philosophie des Absoluten unterscheidet sich von der Phänomenologie des Geistes. Das Verhältnis beider Systemkonzeptionen, das in der Forschung umstritten ist, rekonstruieren die Beiträge ebenso wie das Verhältnis von Hegel und Schelling in dieser Zeit.20 Die systematische Grundlage hierfür bildet die Konzeption, wie sie in der Logik ausgearbeitet ist.21 Der von Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen über Dialektik sowie in seiner Glaubenslehre ausgearbeitete Systembegriff steht ebenso im Horizont des Theismusstreits wie die Spätphilosophie seines Freundes Friedrich Schlegel. Beiden, die zu der Streitsache auf unterschiedliche Weise Stellung bezogen haben, der Theologe indirekt und Schlegel literarisch,22 wendet sich die letzte Sektion des Bandes zu. Schleierma18  Vgl.

hierzu den Beitrag von Christian Danz in diesem Band. Jaeschke: Der Messias der spekulativen Vernunft, in: Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Hrsg v. Klaus-Michael Kodalle/Martin Ohst. Würzburg 1999, 143–157. 20 Vgl. Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift. München 2006. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Philipp Schwab in diesem Band. 21  Burkhard Nonnenmacher: Hegels Philosophie des Absoluten: Eine Untersuchung zu Hegels »Wissenschaft der Logik« und reifem System. Tübingen 2013. Vgl. hierzu die Beiträge von Anton Koch, Burkhard Nonnenmacher, Kurt Appel und Michael Hackl in diesem Band. Die Beiträge in diesem Band berücksichtigen nicht die erste Auflage der Enzyklopädie, da alle drei Auflagen dieses Werks in dem nächsten Tagungsband der Reihe zum Systembegriff thematisiert werden. 22 Vgl. Friedrich Schlegel: Jacobi-Rezension [1812], in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812). Quellenband. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 328–339. 19  Vgl. Walter

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chers Verständnis des dogmatischen Systems, wie er es in der ersten Auflage der Glaubenslehre vorgelegt hat, nimmt gegenüber dem Systembegriff der altprotestantischen Theologie eine grundlegende Um­ orientierung vor, die den kritischen Einsichten der kantischen Transzendentalphilosophie sowie der dadurch initiierten Umprägung des Systembegriffs Rechnung trägt.23 Schleiermachers prinzipientheoretische Grundlegung des Systems in einem dem Wissen nicht zugänglichen Absoluten, welches sowohl transzendent als auch transzendental sein soll, knüpft deutlich an Jacobis Kritik an dem Systembegriff an.24 Sodann werden Schlegels Wiener Vorlesungen von 1812 im Hinblick auf seine Stellungnahmen zum Systembegriff in den Blick genommen. Seine Kritik an der idealistischen Philosophie und deren Systemgedanke zielt darauf, dass sie wesentliche Motive der am Ding-Gedanken orientierten vorkritischen Ontologie fortschreibt.25 Aus diesem Grund ersetzt er das Selbstbewusstsein als Prinzip durch das Selbstgefühl, welches seinen Ausdruck in der Sprache findet. Ein Thema, welches ebenso in den Texten Reinholds als auch Schellings in dieser Zeit eine prominente Stelle innehat. Mit seiner Umstellung auf die Grundbegriffe Leben und Sprache versucht Schlegel, den im Theismusstreit aufgeworfenen begründungslogischen Problemen auf eine differenzierte Weise Rechnung zu tragen. Der Band diskutiert die verschiedenen Positionen systematischer Philosophie vor dem Hintergrund der durch den Streit um die göttlichen Dinge aufgeworfenen begründungslogischen Anforderungen an ein System des Wissens sowohl in ihrer Differenziertheit als auch in ihrer Facettenbreite. Dadurch leisten die vorliegenden Studien einen grundlegenden Beitrag zur Erschließung der Systembegriffe in den Jahren zwischen 1811 und 1821.

23 Vgl.

Otto Ritschl: System und systematische Methode in der Geschichte des ­ issenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie. Bonn 1906. w Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Rohls in diesem Band. 24  Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Arndt in diesem Band. 25  Vgl. hierzu den Beitrag von Jure Zovko in diesem Band.

I. ANTINOMIEN DES SYSTEMBEGRIFFS – DER STREIT UM DIE GÖTTLICHEN DINGE

Christian Polke Von göttlichen Dingen. Jacobi und das Problem von Theismus ­und Naturalismus 1. Von der Rückkehr der rationalen Theologie ... In den vergangenen Jahren erschienen gleich mehrere Titel aus der Feder nicht unbedeutender philosophischer Fachvertreter, die ein Thema zurück aufs Tableau gehoben haben, das dem philosophischen Mainstream noch immer als eher verstaubt und rückständig gelten mag: Gott oder das Göttliche. Man muss nicht sofort – wie man es im Zusammenhang von religiösen Renaissancen landauf und landab noch immer gerne tut – von einer »Wiederkehr der Götter« reden. Aber wer auch nur einen kurzen Blick in die Abhandlungen etwa von Volker Gerhardt1 oder Holm Tetens2 wirft, der darf mit Fug und Recht das Ansinnen wahrnehmen, der rationalen Theologie wieder eine Stimme zu verleihen, und zwar ohne an den philosophischen Einsichten der vergangenen 200 Jahre seit Kant achtlos vorübergehen zu wollen. Interessant sind die genannten Autoren zudem deshalb, weil sie den Sinnerweis der philosophischen Rede nicht von der Religion oder dem religiösen Bewusstsein, sondern von Gott oder dem Göttlichen in dezidierter Auseinandersetzung mit derjenigen Ideenkonstellation führen, die nicht nur aus philosophischer Perspektive, sondern mehr noch lebensweltlich als die eigentlich führende unserer Tage gelten darf: dem 1  Volker

Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. München 2014. Im Folgenden zitiert als »Gerhardt, Sinn«. 2  Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie. Stuttgart 2015. Im Folgdenden zitiert als »Tetens, Gott denken«. – Es ist im Übrigen nicht zufällig, dass beide Bücher im Untertitel mit der Kennzeichnung des eigenen Unterfangens als ›Versuch‹ operieren. Hier zeigt sich das Wissen um die Notwendigkeit der Einsicht in die hypothetische Natur allen metaphysischen bzw. ›extrapolierenden Denkens‹ (Dieter Henrich) nach Kant.

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Christian Polke

Naturalismus. In der Konfrontation ihrer jeweiligen Rede von Gott bzw. dem Göttlichen mit dem, was sie als Naturalismus auszeichnen, unterscheiden sich Gerhardt und Tetens dann freilich deutlich. Bei Gerhardt soll die Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit der philosophischen Rede vom Göttlichen mit einer beinahe zwingenden Notwendigkeit eingebettet werden in das, was er »humanitären Naturalismus«3 nennt, und den er als gleichermaßen »nicht-dualistisch, nicht-reduktionistisch und nichtindividualistisch«4 kennzeichnet. Dagegen zehrt bei Tetens die Rehabilitierung des Theismus davon, dass dieser gegenüber seinem naturalistischen Counterpart zu weniger verheerenden Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis führt. Was demnach im einen Fall als Bemühen um die Kompatibilität von Theismus und Naturalismus, oder schärfer noch: als Integration eines theistischen Gottesgedankens in den Ansatz eines humanitären Naturalismus gewertet werden kann,5 erfolgt im anderen Fall in Form einer scharfen Kontrastierung. Dabei scheint die Rede von Gott, dem Göttlichen oder, wie wir für unsere Zusammenhänge sagen wollen: von göttlichen Dingen auch unter gegenwärtigen Bedingungen nicht unabhängig von ihrer Profilierung im Gegenüber zu dem, was man gemeinhin Naturalismus nennt, möglich. Als Naturalismus soll hierbei zunächst ganz grob diejenige wissenschaftliche Einstellung gelten, die – mit Habermas gesprochen – einem »szientistischen Weltbild«6 mit einem Letzterklärungsanspruch der Naturwissenschaften positiv das Wort redet: »Allein die Wissenschaft«, so ließe sich die harte Position von Naturalisten zusammenfassen, »ist erkenntnistheoretisch vorurteilsfrei offen für die Wirklichkeit.«7 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Naturalismus in solchen Stellungnahmen zumeist mehr meint, als eine bloße Präferenz für naturwissenschaftliche Wirklichkeits- und Welterklärungsmodelle. Ganz gleich, ob man den Naturalismus mit einem theistischen Gottesgedanken versöhnen oder sich um des Sinnerweises des letzteren wil3 Gerhardt, 4 Ebd. 5 

Sinn, 36.

Zwar wird im Fortgang der Untersuchung die Frage, was sich der Autor unter humanitärem Naturalismus genau vorstellt, bewusst mit Verweis auf andere Arbeiten ausgeklammert, aber es gibt doch auch in diesem Buch genügend Hinweise, wie die Gottesfrage sich darin fügen könnte. Sprechendstes Beispiel sind die mit Überlegungen zu Charles Darwin einleitenden Schlussüberlegungen, vgl. Gerhardt, Sinn, 319–330. 6  Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 7. 7  Tetens, Gott denken, 13.

Von göttlichen Dingen

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len von diesem in demonstrative Ablehnung stellen will, stets geht es dabei um eine Denk- und Lebensstil prägende Geisteshaltung. Unumstritten ist immerhin, dass sowohl Naturalismus als auch Theismus als solcherart Geistes- und Denkhaltungen in jedem Fall vor reduktionistischen Zügen zu bewahren sind. Denn nur, wenn die Wirklichkeiten, in denen wir leben, nicht ganz und gar auf strikt Immanentes reduziert werden können, bleibt noch Raum für das Göttliche. Und nicht minder bedeutend ist, dass die Welt nur Welt bleiben kann, wenn nicht alles ganz und gar und unter jeder nur denkbaren Perspektive in sich schon in ihr als zugleich göttlich zu werten ist.

2. ... zur Wiederkehr des Streits um die göttlichen Dinge Damit ist die Ausgangssituation hinreichend beschrieben, um sie in diejenigen Fragen- und Problemzusammenhänge zu stellen, die Anlass zu diesem Tagungsband gegeben haben. Denn an den genannten Vertretern und ihren Bemühungen um eine rationale Theologie lässt sich ebenso eine Rückkehr zu altehrwürdigen Fragen beobachten, die zugleich eine Wiederkehr jener Konstellationsfragen darstellt, die im Zentrum des Streits um die Göttlichen Dinge oder besser: im Theismusstreit standen. Es ist mehr als einmal festgehalten worden, dass im Grunde schon in den Debatten um Lessings Pantheismus und um Fichtes Atheismus – und beides natürlich verbunden im Ringen um das Erbe und die Leistung des Spinoza – nichts Anderes im Vordergrund stand als eben jene Göttlichen Dinge. Insofern ist die Kennzeichnung der ­Debatte zwischen Jacobi und Schelling als Theismusstreit in der Tat präziser, weil in ihm eigentlich – das zeigen gerade Jacobis Stellungnahmen in der Sache – nichts inhaltlich Neues zur Disposition stand. Stattdessen ging es mehr als in den vorangegangenen Auseinandersetzungen darum, wie unter veränderten Bedingungen ein philosophisch veritabler und zwar näherhin theistischer Gottesgedanke zu plausibilieren sei. In dieser Streitsache ging es also weniger um die inhaltliche Füllung eines ›theistischen Gottesgedankens‹ als um die Verständigung über dessen Status, das heißt über die Reflexionsgröße dessen, was mit Fug und Recht ›Theismus‹ genannt werden kann. Vor diesem Hintergrund deutet sich auch an, inwiefern im Theismusstreit verschärft das Problem von System und Systemkritik zutage trat. Dass das Göttliche als ein personales zu denken sei, war zwischen Jacobi und Schelling – und für letzteren schon vor der Freiheitsschrift – schließ-

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lich unstrittig. Zum Problem wurde eher, wie sich ein solcher Theismus zu seinem womöglichen Gegenüber – dem Naturalismus – verhalten mag. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern dabei der Philosophie die Aufgabe zukommen müsse, eine explikative Vermittlung beider Größen vorzunehmen.8 Dass sich in Folge dessen die Gottesfrage anders stellen würde, war zumindest Jacobi immer klar. Noch in seiner letzten, von ihm selbst verfassten Vorrede zur Ausgabe seiner Spinozabriefe im Rahmen der gesammelten Werke (1819) betont er die entscheidende, und wie ich sagen würde: modale Differenz hinsichtlich der rationalen (philosophischen) Explikation des theistischen, d.h. personalen Gottesgedankens, wie sie zwischen ihm und Schelling vorlag: »Darum fragt meine Philosophie: wer ist Gott; nicht was ist er? Alles Was gehört der Natur an. ›Unter dem Begriffe von Gott versteht man nicht bloß eine blindwirkende Natur als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit Urheber der Dinge sein soll und dieser Begriff eines lebendigen Gottes interessiert uns auch allein:‹ – so sagt Kant. Anders konnte ich mir die Sache nicht denken.«9 Da lag die für ihn persönlich wohl zermürbendste Auseinandersetzung, eben jene Kontroverse mit Schelling, bereits einige Jahre zurück. Dabei darf natürlich nicht unterschlagen werden, dass auch Schelling, als 1811 Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen erschien,10 sich mehr als getrof8  Hier müsste auch ein Vergleich der Positionen von Hegel und Jacobi ansetzen, wie sie sich nach der späten, im milden versöhnlichen Licht gehaltenen Rezen­sion des dritten Bandes der Gesammelten Werke Jacobis durch Hegel ergeben würden. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Über] Friedrich Heinrich Jacobis Dritter Band (1817), in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817 (Theorie Werkausgabe). Frankfurt a. M. 1970, 429–461. Festzuhalten bleibt immerhin, dass der schon »greise« Jacobi in einem Brief an Johann Neeb vom 30. Mai 1817 die inhaltlichen Übereinstimmungen sehr wohl anerkannt und dennoch dem Anliegen Hegels, ein »System der Freiheit« (vgl. An Johann Neeb in Niederfaulheim, in: Friedrich Heinrich Jacobi´s auserlesener Briefwechsel. In zwei Bänden, Bd. II. Leipzig 1825–27. Neuausgabe Berlin 1970, 464–470, hier 467) zu konzipieren, eine klare Absage erteilt hat; und dies mit Verweis auf die Metapher des Sprungs, was anzeigt, dass für Jacobi Hegel die ganze Tragweite des notwendigen Systembruchs (!) nicht wirklich begriffen habe. 9  Friedrich Heinrich Jacobi: Vorbericht (1819), in: ders.: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Irmgard-Maria Piske, bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg 2000, 307 [= JWA 1]. Im Folgenden zitiert als »Jacobi, Über die Lehre des Spinoza«. 10 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Von den Göttlichen Dingen und Ihrer Offenbarung (1811), in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke. Gesamtausgabe, Bd. 3: Schriften zum Streit um

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fen gefühlt hatte, und dies, obwohl oder gerade weil sein Name explizit nicht erwähnt wurde. Dieser blieb ausgerechnet von jener Person unausgesprochen, um deren intellektuelle Aufmerksamkeit er jahrelang gerungen hatte.11 Entsprechend harsch und abstoßend – selbst für Menschen, die eigentlich auf seiner Seite standen – fiel dann auch Schellings Replik wenige Monate später aus, in der er seinem Gegenüber nicht ganz zu Unrecht vorwarf, die Streitsache bis »in´s Persönliche hinüber«12 gezogen zu haben – will sagen: bis zur Diskreditierung des Anderen als Atheisten.13 Deren Echo wiederum war bei Jacobi bis in dessen Todesjahr zu spüren, wovon die oben erwähnte Passage ebenfalls beredt Zeugnis ablegt. Was scheinbar nur eine Nuance benannte, ob man nämlich fragt, wer oder was Gott ist, führte in Wahrheit ins Zentrum jener Kontroverse, der ich mich im Folgenden vornehmlich aus der Sicht des Älteren, also Jacobis, zuwenden möchte.

3. Die Dimensionen der Auseinandersetzung Als Nachgeborene haben wir die Chance, die persönlichen Invektiven der Kontrahenten ganz und gar hinter uns zu lassen und uns auf den Kern der Auseinandersetzung zu konzentrieren. In sachlicher Hinsicht die Göttlichen Dinge und ihre Offenbarung [= JWA 3]. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 2000, 1–136. Im Folgenden zitiert als »Jacobi, Von göttlichen Dingen«. 11  Dies lässt sich bei Schelling sowohl in persönlicher als auch in philosophischer Hinsicht belegen. So wissen wir aus den Zeugnissen Schellings an Caroline, wie sehr er sich um die Gunst Jacobis bei seiner Ankunft in München bemühte und wie zurückhaltend jener reagierte. Andererseits lässt sich die Genese der Schellingschen Philosophie, bis hin zur Freiheitsschrift, auch als kritische Aufnahme von Einwänden Jacobis und als Versuch ihrer Meisterung lesen. Dazu vgl. die Einleitung von: Thomas Buchheim: Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) [PhB 503]. Hrsg. v. ders. Hamburg 22011, XVIII–XXV, XLVIII–IL. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Das Wesen der menschlichen Freiheit«. 12  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Denkmal der Schrift Von den Göttlichen Dingen etc. Des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigungen eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus (1812), in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Quellenband (PLS 3.1). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1994 (der Quellenband wird im Folgenden zitiert als »Schelling, PLS 3.1«), 248. Die Denkmalsschrift wird im Folgenden zitiert als »Schelling, Denkmal«. – Am bekanntesten ist das Urteil Goethes, eigentlich ein Anhänger Schellings, der in einem Brief an Knebel von einem »literarischen Krieg« (Johann Wolfgang v. Goethe: Goethe an Knebel (Auszug, 25. März 1812), in: PLS 3.1, 318) spricht. 13  Vgl. Schelling, Denkmal, 242–314.

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hat schon Schelling diesen in geradezu meisterhafter Manier auf den Punkt gebracht. Es geht »aus dem fortdauerndem Streit des herrschenden Theismus mit Naturalismus, Pantheismus und anderen Systemen deutlich genug hervor, daß der wissenschaftliche Theismus noch nicht gefunden, oder wenn gefunden, noch keineswegs erkannt sey. Denn dieser kann so wenig als Gott selbst einen Gegensatz ausser sich zurücklassen, und wie Gott Natur und Welt gewähren läßt, ohne für seine Existenz von ihnen zu sorgen, so kann auch die ächte Gotteslehre nicht mit der Natur im Zank liegen, noch irgend ein System unterdrücken.«14 In der Verhältnisbestimmung von Theismus und Naturalismus stehen somit zwei Aspekte zur Diskussion: einmal das Verhältnis von Gott und Natur und zum anderen die Frage der Wissenschaftlichkeit einer philosophischen Gotteslehre. Mit beiden aber steht zugleich ein diesen Problemstellungen angemessenes philosophisches System zur Debatte. Dass Schelling und Jacobi sich wenigstens über die Kernpunkte ihres Disputs einig sind, zeugt immerhin davon, wie sensibel sie sowohl dem philosophischen Problemtableau ihrer Zeit, als auch der allgemeinen Geisteslage der Epoche gewahr waren. Dabei wirkte die hierin zutage tretende Krise des klassischen Theismus – mit seinen ›orthodoxen Begriffen von der Gottheit‹, wie Lessing gesagt hätte – anders als in unseren Tagen noch bedrohlich.15 Von daher wird plausibel, warum die ­gleichermaßen intellektuelle und existentielle Positionierung der beiden Protagonisten kaum ohne persönliche Invektiven auskommen konnte. Doch betrachten wir die beiden sachlichen Anliegen näher. Sie können am ehesten durch apodiktische Behauptungen Jacobis illus­ triert werden, welche zugleich Schellings Einsprüche erahnen lassen. Ad (a), dem Widerstreit von Gott und Wissenschaft, behauptet Jacobi ohne Konzessionen:

14  Vgl.

Schelling, Denkmal, 263. dazu: Ingo Kauttlis: Von »Antinomien der Überzeugung« und Aporien des modernen Theismus, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). (PLS 3). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1994, 1–34. Anders gewendet: Die folgende Beobachtung Charles Taylors markiert den epochalen Mentalitätswandel, den der allgemeine Aufstieg der säkularen Option seit der Sattelzeit um 1800 mit sich gebracht hat, und von dem alle Aufklärer noch weit entfernt waren: »The nagging question for modern theism is simply: Is there really a God? The threat at the margin of modern non-theistic humanism is: So what?« (Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge [Ma.] 1989, 317). 15 Vgl.

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»Es ist demnach das Interesse der Wissenschaft, daß kein Gott sey, kein übernatürliches, außerweltliches, supramundanes Wesen. Nur unter dieser Bedingung, nämlich, daß allein Natur, diese also selbständig und alles in allem sey – kann die Wissenschaft, ihr Ziel der Vollkommenheit zu erreichen, kann sie ihrem Gegenstande gleich und selbst alles in allem zu werden sich schmeicheln.«16 Nur nebenbei sei bemerkt: Jacobi spielt hier ganz bewusst auf biblische Rhetorik – man bedenke 1 Kor 15,28 – an. Jedenfalls würde man sein Insistieren darauf, dass die Wissenschaft keinerlei Interesse an Gottes Existenz haben kann, überinterpretieren, wollte man ihm – wie häufiger geschehen – Wissenschaftsfeindlichkeit aufgrund ihres vermeintlich programmatischen Atheismus unterstellen. Dagegen spricht schon, dass Jacobi neben Kant immerhin der einzige der großen philosophischen Köpfe jener Zeit war, der in Mathematik und Naturwissenschaften ausgebildet wurde. Vor allem aber muss gerade auch der Theist als »wissenschaftlicher Naturforscher, (...) sich streng untersag[en], irgendetwas in der Natur anders als aus ihr selbst verstehen und erklären zu wollen.«17 Wenn schon, dann könnte man hier von einem ›methodischen Atheismus‹ sprechen, den Jacobi zum Anlass nimmt, auf der strikten Differenz von metaphysischer Gottesgelehrsamkeit und empirischen Wissenschaften zu beharren. Genau darin kommt bereits der Widerspruch gegenüber jenem philosophischen Bedürfnis zum Tragen, das womöglich beide Perspektiven vermitteln und sie gar in ein System überführen will. Zudem wird es keine böse Unterstellung sein, Schellings Anliegen seit den frühen 1800er Jahren als ein solches zu kennzeichnen; d.h., insbesondere seit seiner Kritik an einer einseitig ethikotheologischen Transzendentalphilosophie, wie er sie bei Fichte vorzufinden glaubt. Die Frage nach der Einheit von Natur- und Geistphilosophie, das Ringen um ein gewiss differenz(en)sensibles System der Identität spricht hier Bände. Jedoch war es vor allem eine in dieser Richtung missverstandene Formulierung Schellings, die jener vor der Akademie zu München am 18. Oktober 1807 unter dem Titel Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur vortrug, die Jacobi erzürnte und welche den unmittelbaren Anlass zur Ausarbeitung von dessen Streitschrift bot. Schelling sprach an einer Stelle von der Natur als »heilige,

16 Jacobi, 17 Ebd.

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ewige schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werkthätig hervorbringt«18. Ad (b), dem Widerstreit zwischen Gott und Natur, und damit zum eigentlichen Problem des Verhältnisses von Theismus und Naturalismus. Wiederum relativ frank und frei behauptet Jacobi diesbezüglich: »Die Natur verbirgt Gott, weil sie überall nur Schicksal, eine ununterbrochene Kette von lauter wirkenden Ursachen ohne Anfang und Ende offenbaret ausschließend mit gleicher Nothwendigkeit beydes: Vorsehung und Ungefähr. Ein unabhängiges Wirken, ein freyes ursprüngliches Beginnen, ist das in ihr und aus ihr durchaus Unmögliche. Willenlos wirket sie und rathschlaget nicht, weder mit dem Guten noch mit dem Schönen; auch schaffet sie nicht, sondern verwandelt absichtlos und bewußtlos aus ihrem finstern Abgrunde ewig nur sich selbst«19. In diesem Zitat kommt die ganze Reichweite von Jacobis Antithesen zu Schellings Programm zum Ausdruck. Wollte man ihm hierin das Ansinnen einer Repristination längst problematisch gewordener Teleologiekonzepte unterstellen, würde man zu kurzschlüssig verfahren. Erneut könnte man dem entgegenhalten, dass für Jacobi die Geschlossenheit des Natursystems – und damit deren Einsehbarkeit und Ordnungsstiftung durch die Abfolge von Kausalketten und logischen Mustern von Grund und Folge – gar keinen Diskussionsgegenstand mehr bilden. Gleiches gilt im Übrigen auch für die traditionellen Gottesbeweise und ihre Widerlegungen. Die eigentliche Pointe liegt denn auch woanders. Nicht die lückenlose begriffliche Ordnung der Realität im Naturbegriff ist problematisch als vielmehr das Unterfangen, damit auch noch die ästhetischen, ethischen und religiösen Qualitäten – Freiheit, Vorsehung, Schöpfung etc. mögen als Stichworte genügen – erklären und logisch schlüssig machen zu wollen.20 Erst diese Form nennt Jacobi Natura18  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807), in: Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Mit Texten von Humboldt, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u. a. und Kommentar (PLS 1/1.1). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 342–366, hier 343. 19 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 117. 20  Wobei natürlich zuzugeben ist, dass die Bedeutung und die Funktion des Naturbegriffs sich im Werk von Jacobi als alles andere denn einheitlich erweist. Insbesondere in den frühen Schriften dominiert eine eher harmonische, um nicht zu sagen eine verehrende Einstellung im Sinne eines aufklärerischen Naturgefühls. Für uns aber entscheidend ist, dass es eine eindeutige Tendenz im Laufe der Werkund Diskursentwicklung gibt, bei der von einem »Fortschreiten Jacobis von einem ziemlich unbestimmten Natur- und Lebensgefühl zu einem genaueren Weltbild« die Rede sein kann, »in welchem dem strengen wisenschaftlichen Naturbegriff eine

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lismus im strengen Sinne und nur von diesem gilt: Er überstrapaziert beziehungsweise dehnt den Naturbegriff so sehr aus, dass dieser nicht nur den Gottesbegriff ersetzt beziehungsweise an dessen Stelle tritt, sondern – ähnlich wie bei anderen Figuren des Absoluten – auf eine Alleinheit zielt, die im letzten differenzlos zu denken sei. Im Rückblick, das heißt vom Jahr 1819 aus und von der weiter oben zitierten Bemerkung her, scheint Jacobi, nunmehr die Ausführungen Schellings in der Freiheitsschrift von 1809 zur Kenntnis nehmend, seinen Verdacht bestätigt gesehen zu haben; vor allem wenn dieser von der Notwendigkeit einer »Natur in Gott«21 sprach, vor deren Hintergrund aus sich allein die göttliche Personalität als eine lebendig-existierende, sich im Werden vollziehende verstehen lässt. Hinter beiden Streitpunkten – dem Widerstreit von Gott und Wissenschaft sowie von Gott und Natur – verbirgt sich mehr oder minder bewusst die Systemfrage, wenngleich einmal eher in wissenschaftstheoretischem und das andere Mal eher in metaphysischem Gewande. In beiden Fällen beharrt der eine, Jacobi, auf der harten Differenz von Perspektiven, die sich jedenfalls nicht theoretisch überbrücken oder gar zusammenführen lassen, wohingegen der andere, Schelling, diese Problembeschreibung als Ausgangspunkt für sein programmatisches Unterfangen eines ›wissenschaftlichen Theismus‹ wählt. Damit freilich wagt letzterer das für seinen Kontrahenten schier Unmögliche: Er möchte die Wirklichkeit ins System zwängen und mit ihr das, was wissenschaftlich zu beschreiben ist. Denn für Jacobi ist unstrittig, dass weder der Theist in die wissenschaftliche Beschreibung der natürlichen Realität mit bloßen Behauptungen eines Übernatürlichen eingreifen, noch der Naturalist sich über seinen Gegenstandsbereich hinaus in moralisch-religiös begründete Naturauslegung scharf entgegengesetzt wird.« (Valerio Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F.H. Jacobi, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Hrsg. v. Klaus Hammacher. Frankfurt a. M. 1971, 259–280, hier 260.) – Vom Jacobi der Jahre der Auseinandersetzung mit Schelling jedenfalls kann gesagt werden, dass ihm jedwede Naturverherrlichung zuwider ist. Dies zeigt sich schon in seiner – hier nicht weiter zu betrachtenden – Auseinandersetzung mit Goethe und vor allem Herder. Vgl. hierzu auch in umfassender Weise: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Auflärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, 293–406, bes. 398–406. 21  Vgl. Schelling, Das Wesen der menschlichen Freiheit, 30, 47. Aus seiner Sicht konsequent unterstellt Jacobi deswegen Schelling, dass ihm gar nicht daran gelegen sei, zu fragen, wer Gott ist, sondern was das Göttliche als Person ausmacht. Man könnte auch sagen: Jacobi geht es um Gottes Person-Sein (in zeitgenössischer Terminologie: um die Persönlichkeit Gottes), wohingegen bei Schelling die Personalität Gottes (als Strukturmerkmal) im Vordergrund steht.

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das Gebiet dessen begeben darf, was er zuvor bereits methodisch ausgeklammert hat. Dies zumindest, solange er wissenschaftlich auftritt. Das eine »[hört] nothwendig da auf[], wo dieses beginnt.«22 Andernfalls drohen entweder ein Naturalismus, der sich nur, weil er sich selbst belügt, nicht begreift, dass er zum Atheismus wird; oder aber der Gottgläubige wird zum »religiösen Materialisten«23, was ein nicht minder schlimmes Unheil darstellt. Man sollte nicht vergessen, dass Jacobis Streitschrift auch eine Auseinandersetzung mit dem Wandsbecker Boten, Matthias Claudius, darstellt, dem er eben diesen Vorwurf macht. Ob es sich im Streit zwischen Jacobi und Schelling um Antinomien des Systembegriffs oder nicht eher um die Antinomie eines auf System zielenden und eines in der Systemkritik ansetzenden Philosophieverständnisses handelt, lässt sich erst genauer klären, wenn man sich Jacobis Einschätzung von Schelling vor dem Hintergrund seiner Rekons­truktion der Ausgänge der kantischen Philosophie und ihrer Nachfolger vor Augen führt. Erst hierüber klärt sich, ob Jacobi und Schelling in ihrem Disput um Theismus und Naturalismus von den gleichen Dingen reden, oder ob nicht eher der stillschweigend schon im Raum stehende Verdacht greift, dass beide gar nicht auf der gleichen Problemebene diskutieren.

4. Der Ausgang des kantischen Denkens und die Frage nach dem System Zunächst ordnet Jacobi die Debatte mit Schelling in diejenige Konstellation ein, die er im Anschluss an Spinoza als das darin aufgezeigte Grundproblem philosophischer Systembildung zu sehen meint. In diesem Zusammenhang lassen sich bis in einzelne Formulierungen, Sprache und Rhetorik hinein Parallelen zu seinen Eingaben im Pantheismus- und Atheismusstreit aufzeigen.24 So gesehen stellen – zumindest für Jacobi – in Abwandlung eines berühmten Bonmots der Philosophiegeschichte alle philosophisch-theologischen Streitigkeiten seiner Tage

22 Jacobi,

Von göttlichen Dingen, 96. Jacobi, Von göttlichen Dingen, 48. 24  Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Vorrede, zugleich Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften (1815), in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2: Schriften zum Transzendentalen Idealismus [= JWA 2,1]. Unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hrsg. v. Walter Jaeschke/Irmgard-Maria Piske. Hamburg 2004, 375–433, bes. 375–395. Im Folgenden zitiert als »Jacobi, Vorrede«. 23  Vgl.

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nichts anderes als »Fußnoten zu Spinoza« dar. Und doch ist es Kants Philosophie mit ihrem doppelten Ausgang gewesen, die den Hintergrund für Jacobis Einordnung von Schellings Anliegen bildet. Erinnern wir uns: In einem ebenfalls berühmt-berüchtigten Ausspruch, der als Urteil über Kants Philosophie gedacht war, behauptete Jacobi, Kant hätte zwei Mal Recht und darum Unrecht.25 Gemeint war dessen unter Jacobischen Prämissen aussichtsloses Unternehmen, zunächst die Vernunft mittels der Kritik zu theoretischem Verstand zu bringen, um sonach das eigentliche Geschäft der Metaphysik durch die Behauptung des Primats der praktischen Vernunft innerhalb ein und desselben Systems erneut in Angriff zu nehmen, und so den Verstand im Nachgang der Kritik wieder auf die Höhe der Vernunft zu heben.26 Dies aber hatte sich der Verstand kaum gefallen lassen, weswegen die kantische Philosophie in ihrem Gefolge zwei Töchter gebar, die sich darum bemühten, als »Ideal-Materialismus«27 – mit der Betonung auf der ersten Silbe bei Fichte und mit Betonung auf der zweiten Silbe nicht nur beim Schelling der Naturphilosophie – die Einheit bzw. die Einheitlichkeit des Systems wiederherzustellen und somit zu wahren. Der hierbei in Anschlag gebrachte Systembegriff stammt aus dem berühmten Schlusskapitel von Kants Kritik der reinen Vernunft, wo dieser über die Architektontik der reinen Vernunft und die Geschichte ihrer Systeme handelt.28 Der wei25 Vgl.

Jacobi, Von göttlichen Dingen, 85: »Kant hatte zweymal Recht, und darum Unrecht. Daß er nicht sein zwiefaches Recht in ein einfaches aber vollständiges verwandelte, sondern zwiespältig blieb und zweydeutig, und voll Doppelsinn bis ans Ende seiner Tage, gehört zu den lehrreichsten Ereignissen in der Geschichte der Philosophie.« – So bleibt für Jacobi noch in der Kritik Kant ein Vorbild, da er auf exemplarische wie paradigmatische Weise implicite und auf höchstem Niveau gezeigt hat, worin die Aporien jeder Systembildung bestehen. Zu Kant und Jacobi vgl. auch meine Ausführungen in: v. Verf.: Vernünftiger Glaube oder glaubende Vernunft? Kant und Jacobi im Disput, in: Kant und die Folgen: Die Herausforderung in Ästhetik, Ethik und Religionsphilosophie (Wiener Jahrbuch für Philosophie XLVIII/2016). Hrsg. v. Rudolf Langthaler/Michael Hofer. Wien 2017, 203–227. 26  Vor diesem Hintergrund erklärt sich die These: »Man wird Naturalist oder Theist, nachdem man entweder dem Verstande die Vernunft, oder der Vernunft den Verstand unterordnet. Oder, was dasselbe ist, nachdem man außer dem Seyn der Notwendigkeit in der Natur, noch ein Seyn der Freiheit über ihr annimmt oder läugnet.« (Jacobi, Von göttlichen Dingen, 110.) 27 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 80; aber auch schon ebd., 76–78. 28  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. III. Berlin 51968, 38–552. Dort wird auch nochmals Kants eigener Systembegriff entfaltet. – Auf ihn nimmt Jacobi explizit Bezug. Vgl. seine Bemerkungen im Anschluss an die Kant-Stelle in seiner Vorrede, Jacobi, Vorrede, 387: »Kant in dem merkwürdigen, höchst beachtenswerthen letzten Hauptstück seiner Kritik der reinen Vernunft, legt die Aristotelischen Rationalisten und Sensualisten gegen ein-

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tere Gang der Entwicklung nachkantischen Denkens lässt sich dann im Stil der »Consequenzmacherey/Consequenzerei«29 mit Jacobi wie folgt zusammenfassen: »Von der Kantischen Entdeckung aus: daß wir nun das vollkommen einsehen und begreifen, was wir zu construieren im Stande sind – war nur ein Schritt bis zum Identitätssystem. Der mit strenger Consequenz durchgeführte Kantische Criticismus mußte die Wissenschaftslehre, diese, wiederum streng durchgeführt, Alleinheitslehre, einen umgekehrten oder verklärten Spinozismus, Idealmaterialismus zur Folge haben.«30 In diesem Kontext steht Jacobis Einordnung von Schelling mit der Behauptung, jener bemühe sich um einen »umgekehrten und verklärten Spinozismus«31. Nicht nur Umkehrung, sondern eben – und das deutet schon die gegenüber Fichte und Spinoza deutlich verschärfte Kritik Jacobis an – Verklärung droht hier. Schelling trifft deshalb die ganze Wucht von Jacobis Kritik, weil dieser sich scheinbar über alle Antino­mien von wissenschaftlicher Systemarbeit und systemkritischer Existenzhaltung hinwegsetzend anmaßt, System und Systemkritik noch einmal systematisch in eine Gesamtperspektive zu integrieren, so wie eben auch Theismus und Naturalismus mit Blick auf die Konzep­tion des Absoluten, Gottes oder eben auch der darunter verstandenen Göttlichen Dinge. Unter klarem Bezug auf Schellings Freiheitsschrift kommenander auf die Wage, und findet sie beyde an Einseitigkeit und Inconsequenz einander gleich. Ich stimme dem dort gefällten Urtheil vollkommen bey; gebe, mit Kant, dem baaren ungemischten Sensualismus bei Epikur, als System, den Vorzug, nicht nur vor dem gemischten Sensualismus bei Locke, sondern auch vor dem verstümmelten, und durch diese Verstümmelung mit dem Spinozismus in eins zusammenfallenden (vgl. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, Beil. VI.) Platonismus des Leibnitz.« – Bis in die Wortwahl stimmt diese Passage der positiven Würdigung des Naturalismus als konsequente Lebenshaltung, wie er ihn im Gegenüber zum Theismus und in Abgrenzung gegen Schellings Bemühen einer integrativen Systemansicht in Von göttlichen Dingen skizziert, überein. Jacobi bekennt sich deswegen konsequent zu einem empirischen Denken auf dem Feld der theoretischen Erkenntnis, und zwar ohne weitere Vermittlung hinüber auf das Gebiet existentieller Fragen. – Beides hat Schelling, wie man später sieht, bis in seine Behandlung der Philosophie Jacobis in den Münchener Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie beschäftigt, und zwar in einer merkwürdigen Mischung aus Anerkennung und Irritation. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchner Vorlesungen (1827), in: Sämmtliche Werke Bd. V: Schriften zur geschichtlichen Philosophie 1821–1854. Hrsg. v. Manfred Schröter. München 1959, 234–254, bes. 238f. 29  Dieses Bewertung Jacobis stammt von Schelling selbst. Vgl. Schelling, Denkmal, 251, 312. 30 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 80. 31 Ebd.

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tiert Jacobi 1815 in der Vorrede, die zugleich als Einleitung zu seinen philosophischen Schriften gedacht war, in höchst ironischer Weise, was Schelling schon in der Denkmalschrift vorschwebte. Nämlich wie er darin Naturalismus als jenes System, »welches eine Natur in Gott behauptet«32 verstand: »daß das Ur- und Allwesen aus einem blos materiellen auch noch zu einem formellen Geiste, mit selbstbewußtem Wissen und Wollen; zu einem Geiste mit Verstand werden«33 müsse und zwar »in einer späteren Schöpfungs-Woche«34. Schellings, gegenüber Spinoza und Fichte noch einmal radikalisierte und insofern überbotene, hypertrophe Anmaßung liegt für Jacobi schlicht und ergreifend darin, dass dieser nicht nur Vernunft und Leben ineinander überführen, sondern diese auch noch wechselseitig mittels des Gottesgedankens erklären und ergründen will. Während es nämlich jedem naturalistischen System uneingenommen bleibt, sich zugleich als existentielle Lebensansicht bzw. Selbstverständigung zu begreifen, solange es sich nur allem theistischen Vokabular von Freiheit, Vorsehung, Handlung und Wille enthält, will Schelling nicht nur die Antinomie von ›Spinoza‹ und ›Anti-Spinoza‹ überwinden, sondern auch noch Systemkritik und Systemanspruch gleichermaßen aus dem gleichen Grunde heraus legitimieren. Wenigstens darin scheint mir Jacobi die Motivlage Schellings nach dessen eigener Systemschrift von 1800 angemessen beschrieben zu haben. In der damit zusammenhän32 Schelling,

Denkmal, 272. – In seiner Schrift gegen Schelling polemisiert Jacobi auch dahingehend gegen diesen Ansatz, indem er Schellings Rekurs auf alte Kosmologien und Mythologien (vgl. Jacobi, Von göttlichen Dingen, 77f.) zurückweist. Dabei wird nicht geleugnet, dass diese ältesten Mythologien darüber Auskunft zu geben vermögen, wie der Mensch sich in der Welt selbst versteht, allerdings wird ein alternativer Deutungsvorschlag unterbreitet. Für Jacobi ist selbst noch der anfängliche Fetischismus bzw. Animismus ein Indikator dafür, nicht, dass der Mensch sich als mit der Welt geworden versteht, sondern, dass etwas in ihm und der Welt über diese hinausweist. Im Grunde steht also auch hier der Vorwurf im Raum, Schellings Philosophie der Mythologie verfehle durch falsche Rationalisierung genau deren Bedeutung; sie missverstehe den Mythos aufs Grundsätzlichste. Vgl. Jacobi, Von göttlichen Dingen, 51–55, 93–97, 115–117. 33 Jacobi, Vorrede, 414. Man geht an dieser Stelle fehl, wollte man meinen, Jacobi würde sich vornehmlich gegen die Vorstellung eines werdenden Gottes und der darin implizierten Widrigkeit eines das Absolute betreffenden »Evolutionsgeschäft[s]« (Jacobi, Vorrede, 416) stellen. Vielmehr macht er klar, dass das darin zum Ausdruck kommende Ansinnen widersprüchlich ist: die Freiheit als Freiheit in ihrer Unergründlichkeit dennoch ergründen und darüber hinaus die Welt für Gott, dann aber auch Gott zur Ableitung der (humanen) Freiheit instrumentalisieren zu wollen. Dieses erkenntnisleitende Interesse (nota bene Schellings) ist der eigentliche Stein des Anstoßes. 34 Ebd.

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genden, gegenläufigen Behandlung des Naturalismus- wie des Theismusproblems zeigt sich darüber hinaus, dass und in welcher Weise beide Kontrahenten der Dynamik des von ihnen diagnostizierten Aufstiegs naturalistischer Erklärungsweisen in den Wissenschaften begegnen wollen. Während Schelling an der Möglichkeit einer Synthese aus natur- und geistphilosophischer Betrachtung festhält und sie in der Konzeption eines dynamischen, doppelten Absoluten35 zu sichern bemüht ist, arbeitet sich Jacobi an den Ambivalenzen des mit den exakten Wissenschaften begonnenen ›Entzauberungsprozesses‹ ab, den er lange vor Weber in besagter Einleitung bei diesem Namen nennt. 36 Denn jene Wissenschaften führen unweigerlich die Tendenz mit sich, ihre Begründungsfiguren auch über den eigenen Bereich hinaus auf diejenigen Bereiche humaner Selbstverständigung auszudehnen, die wir mit Begriffen, wie ›Freiheit‹, ›Zweckhaftigkeit‹, ›Absicht‹ und eben auch ›Gott‹ sinnhaft erschließen. Dabei geschieht dies natürlich oftmals weniger in der Form harter Negation (Ausschaltung), sondern eher mit der verzerrenden Umbesetzung eben genau derjenigen Aspekte menschlichen Existenzvollzugs, derer sie sich als exakte Wissenschaften konsequenterweise programmatisch enthalten müssten. So gesehen lässt sich der Streit um die Göttlichen Dinge zwischen Jacobi und Schelling auch als Auseinandersetzung um die richtigen Strategien im Umgang mit dem in der Sattelzeit der Moderne in Gang gesetzten ›Entzauberungsprozess‹ lesen. Zugleich ist dabei umstritten, ob und wie eine dem – kantisch gesprochen – Weltbegriff der Philoso35  Zu

dieser Figur schon beim frühen Schelling und im Vergleich zu Schleiermacher, vgl. Dietrich Korsch: Das doppelte Absolute. Der Geist als Medium von Reflexion und Religion, in: ders.: Dialektische Theologie nach Karl Barth. Tübingen 1996, 241–272. 36  Es ist weit vor Weber Jacobi, der den Aufstieg des okzidentalen Rationalismus und die Vorherrschaft der naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsparadigmen als Entzauberungsprozess gelesen hat. Vgl. Jacobi, Vorrede, 398f.: »Selbst die Herrlichkeit und Majestät des Himmels, die noch den kindlichen Menschen auf die Knie wirft, überwältigt nicht mehr das Gemüth des Kenners der Mechanik, welche diese Körper bewegt, in ihren Bewegungen erhällt, ja sie selbst auch bildete. Nicht vor dem Gegenstande erstaunt er mehr, ist dieser gleich unendlich, sondern allein vor dem menschlichen Verstande, der in einem Copernicus, Gassendi, Kepler, Newton und Laplace über den Gegenstand sich zu erheben, durch Wissenschaft dem Wunder ein Ende zu machen, den Himmel seiner Götter zu berauben, das Weltall zu entzaubern vermochte.« – Die sich anschließende Fußnote beweist, dass dies auch aller Wahrscheinlichkeit nach für die Zukunft hinsichtlich der Entwicklungsgesetze und der Gestalten des Lebensprozesses, bis hinauf zum Menschen, erwartet werden darf. Jacobi weiß also trotz seines in der Tradition der Enzyklopädisten stehenden Wissenschaftsverständnisses dieses nicht streng an mechanistische Vorstellungen gebunden.

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phie verpflichtete existentielle Metaphysik überhaupt noch unter Systemgesichtspunkten auftreten kann, ohne ihren Gegenstand von vornherein zu verfehlen. Es ist dieser Umstand, der auch erklärt, warum weniger die Personalität Gottes als sachhaltiges Spezifikum theistischer Gottesrede als vielmehr der Modus und Status dieser philosophischen Position umstritten ist. Es blieb also bis zum Schluss kontrovers, ob und wann der Systembegriff antinomisch wird. Jacobis Antwort lautet hierbei: Wenn er sich seines nicht-systemischen Kontextes zu bemächtigen versucht und ihn dabei – bewusst oder unbewusst – zu vergessen bemüht ist. Das zeigt sich auch in der Explikation eines philosophischen Gottesgedankens.

5. Der umstrittene Status von Naturalismus und Theismus Das soeben Behauptete lässt sich auch so umschreiben: Systemanhänger und Systemkritiker, die nicht gleichzusetzen sind mit »Natur«- und »Freyheitsmännern«37, ringen im Kern um das angemessene Vernunftkonzept, das für die Erhellung menschlicher Existenz (Personalität) als notwendig erachtet wird. Darin liegt der Zusammenhang zwischen der formalen und der materialen Seite dessen, was als Theismus gedacht und um dessen Art der philosophischen Rechtfertigung gestritten wird. Dabei hegten schon Zeitgenossen den Verdacht, der unversöhnliche Streit zwischen den Kontrahenten könnte auch daran liegen, dass jenseits beidseitiger Unterstellungen beide nicht im Stande oder gewillt waren, die Problembeschreibung des jeweils anderen überhaupt nachzuvollziehen. Um dieses Vorwurfs willen bedarf es einer erneuten Betrachtung, bei der zunächst Schellings Position im Vordergrund stehen soll. Schellings Bemühen zielt im letzten darauf, dem »schalen Theismus«38 Jacobis einen in seinem Gehalt und Status geklärten und begründeten »wissenschaftlichen Theismus«39 entgegenzusetzen, und zwar so, dass dadurch der Provokation des ›Extramundanen‹ – bekanntlich ein Lieblingswort Jacobis, das zudem den Verdacht eines Rückfalls in vorkritische Zeiten nährte – durch einen die Differenz wie die Relation 37  So

der Titel, den Goethe den Protagnonisten und weiteren Streitteilnehmern verliehen hat in: Johann Wolfgang v. Goethe: Goethe an Knebel (8. April 1812), in: PLS 3.1, 319. 38 Schelling, Denkmal, 268. 39 Ebd.

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von Gott und Natur integrierenden Ansatz begegnet würde. Schellings Problem an Jacobi ist, dass »durch das absolute Entgegensetzen von Natur und Gott, also durch ein ähnliches Auseinanderhalten dem letzten allerdings jeder wissenschaftliche Grund entzogen wird.«40 So offenkundig das gemeinsame Bemühen um die Plausibilisierung eines theistischen Gottesgedankens ist, so divergent bleibt die Ursachenund Symptombekämpfung. Schellings weiteres Vorgehen – ohne hier ins Detail gehen zu können – folgt jedenfalls genau seiner Diagnose, indem der Übergang vom Theismus zum Naturalismus als Erkenntnis- und Argumentationsweg bestritten wird, insofern für ihn »das Vollkommene aus dem Unvollkommneren sich entwickeln und erheben«41 lassen müsse. Daher muss es umgekehrt möglich sein, den Weg vom Naturalismus als logischem Ausgangspunkt zum Theismus zu gehen. Dies geschieht, wie in der Freiheitsschrift und später in den Fragmenten zu den Weltaltern verdeutlicht wird, sowohl aus absolutheitstheoretischer wie bewusstseinsgeschichtlicher Perspektive. Dieser Weg ist insofern konsequent, als dass in der erkenntnistheoretischen Konstellation, in die dieses Vorgehen gestellt ist, es allemal plausibel erscheint, die Bestimmung des Göttlichen, also sein ›Was‹ (›Essenz‹) aus der darin stets schon implizierten Vorgegebenheit seiner Möglichkeit und seines bloßen ›Daß‹ (›Existenz‹) zu entfalten; Figuren der Schellingschen Spätphilosophie mag man hier bereits angedeutet sehen. Nur auf diesem Weg wird in der Tat das Projekt eines ›wissenschaftlichen Theismus‹ verständlich, der sich der Möglichkeit des Naturalismus nicht entzieht, sondern diesen bewusst in sich aufnimmt; ist er doch »die Grundlage, das nothwendig Vorausgehende des Theismus«42, und von daher muss die »Lehre, dass eine Natur in Gott sey, zur Unterlage, zum Entwicklungsgrund des Theismus«43 gemacht werden. Aufschlussreich ist dabei der Schellingsche Naturbegriff wie die Verwendung der Redeweise vom Grund. »Natur« heißt bei Schelling dasjenige untergründige Prinzip, die Kraft und Möglichkeit, eben der (Un-)Grund, aus dem heraus sich etwas entwickeln kann – vornehmlich natürlich die Persönlichkeit; zur Verständigung über letztere aber ist Aufschluss zu geben darüber, worin Personalität gründet. Weil sie eben in der Natur ihren Ursprung hat, bedarf der Theismus des Naturalismus zur Unterlage, auch wenn dieser als solcher nicht den Abschluss philosophischer Be40 Schelling,

Denkmal, 264. Denkmal, 268 (Kursiv im Original). 42 Schelling, Denkmal, 272. 43 Schelling, Denkmal, 273. 41 Schelling,

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gründungsarbeit darstellen kann. Denn Philosophie bleibt für Schelling nur da ganz und gar bis zum Schluss bei ihrer Sache, »als noch die Meynung oder die Gewißheit übrig ist, daß sich durch sie über Daseyn oder Nichtdaseyn Gottes etwas wissenschaftlich ausmachen lasse.«44 Durch die Explikation und Entfaltung des Gottesgedankens wird hierfür scheinbar, wie in der traditionellen Metaphysik, die Stabilität, das heißt die Wahrheit des Systems unter Garantie gestellt, und zwar nicht mehr nur wie bei Kant als Schlussstein, sondern – in der für Idealisten typischen Wendung – zugleich als dessen absoluter Grund. Nun ist auch für Jacobi der Gottesgedanke nicht einfach schlicht ein ›letzter Gedanke‹ im Sinne einer Abschlussfigur. Im Gegenteil, verhandelt doch seine Metaphysik solcherart ›letzte Fragen‹ als sachlich wie methodisch gesehen ›erste‹. Darin liegt, worauf Birgit Sandkaulen erst kürzlich nochmals verwiesen hat, ein wesentlicher Unterschied zu Kant.45 Im Gegensatz zu Schelling jedoch stellt sich dieser Ausgangspunkt nicht als Resultat eines begründungslogischen Rückgangs gleichsam ›in den Grund‹ dar, sondern entstammt der Analyse der menschlichen Existenz als eines unvertretbaren und darin unhintergehbaren Handlungsbewusstseins. In einem frühen Brief an Forster bekennt Jacobi dies einmal in unüberbietbarer Schärfe: »Alle Begriffe des Menschen beziehen sich zuletzt auf eigene Erfahrungen, das ist – wenn ich streng philosophisch reden darf – auf eigene Handlungen.«46 Zu diesen Begriffen gehören zweifelsohne ›Gott‹ und ›Freiheit‹. Indem sie aber als ›Erste‹ im Sinne des Mitgegebenen, als vorgängig Erfassten fungieren, können sie gar nicht – und sei es im Umweg über einen rekonstruktiv-rekursiven Begründungsaufbau – in ein System gestellt werden. Oder anders gesagt: Sie entziehen sich vielmehr als strikt Vorgängige jeder Begründbarkeit. Deswegen dominieren bei Jacobi solche Formeln wie »unbegreifliche Voraussetzung«47, was im strengen Sinne

44 Schelling,

Denkmal, 256. Sandkaulen: Letzte oder erste Fragen? Zum Bedürfnis nach Metaphysik in einer Skizze zu Kant und Jacobi, in: Das neue Bedürfnis nach Metaphysik. Hrsg. v. Markus Gabriel/Wolfram Hogrebe/Andreas Speer. Berlin/Boston 2015, 49–58. 46  Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, GA I, 3, Nr. 867, 118, zitiert nach: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Zur Vernunftkritik Jacobis. München 2000, 183, Anm. 24. Im Folgenden zitiert als »Sandkaulen, Grund und Ursache« – Entsprechend auch in Von göttlichen Dingen: »Ursache ist, als bloßer Verstandesbegriff, ein sinnloses mit einem Widerspruch behaftetes Wort; Inhalt, Wahrheit, Bedeutung, kann ihm allein aus der Vernunft werden, aus dem Gefühl des: Ich bin, ich handle, schaffe, bringe hervor.« (Jacobi, Von göttlichen Dingen, 110) 47 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 106. 45  Vgl. Birgit

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auf nicht begründbare, jedoch stets vorauszusetzende und ergo mitzudenkende Aspekte bzw. Sachverhalte verweist. Dies – und kein Irrationalismus oder gar Intuitionismus – darf als Jacobis ursprüngliche Einsicht gelten. Entsprechend heißt es am Ende von Jacobis Schrift, in der Beilage B zu Von göttlichen Dingen, kurz und knapp: »Der Glaube an Gott ist keine Wissenschaft, sondern eine Tugend.«48 Der Tugendbegriff ist hier ebenfalls ganz im klassischen Sinne zu lesen. Er resultiert aus einer vernehmenden, in Handlungskontexten eingeübten und bewährten Aufmerksamkeit auf die darin zum Vollzug kommende Realität der Freiheit samt ihrer Voraussetzungen bzw. Implikationen. Nimmt man dies ernst, begreift man zudem, warum Jacobi mindestens zwei Formen von Naturalismus unterscheiden muss. Denn die eine Form, die sich methodisch auszeichnet und in den Naturwissenschaften zur Geltung kommt, kann auch der Theist gar nicht in Abrede stellen, kommt ihr doch als wissenschaftlicher Naturalismus gerade nicht der gleiche Status zu wie dem Theismus. Hier von Systemantinomien sprechen zu wollen, erschiene unsinnig. Weil der Theismus keine Form von Wissenschaft ist, kann und muss er sich aus dem wissenschaftlichen Bemühen der Naturerkenntnis heraushalten. Nur die andere Form, die Jacobi im Übrigen als dem Theismus entgegengesetzte Haltung und Ansicht gelten lässt, weil sie ebenfalls als ›Tugend‹ – oder aus der Perspektive des Theisten eben als ›Untugend‹ – auftritt, steht mit dem Theismus auf einer Ebene.49 Schließlich entstammt auch sie dem sich über sich selbst aufklärenden Lebensvollzug des Menschen in seiner Handlungspraxis; und nur deswegen kann im Übrigen unter bestimmten Umständen mit der Praxis naturwissenschaftlicher Erkenntnishaltung auch eine Kolonialisierung der Lebens- als Handlungswelt durch jene eintreten. Damit zeigt sich: Beide Optionen, Naturalismus wie Theismus kommen jenseits des Systems zu stehen, sodass hier in der Tat das harte ›Entweder-Oder‹50 im Sinne einer notwendig zu treffenden Wahl gilt. 48 Jacobi,

Von göttlichen Dingen, 130. zeigt sich schön am Anfang der Schrift Von den göttlichen Dingen, in dem Jacobi deutlich macht, dass der Mensch zwar einen strukturellen Hang zur Religiosität besitzt – den berühmten ›Gottesinstinkt‹. Damit sei aber nicht seine Freiheit außer Kraft gesetzt, diesem auch entgegenzuwirken und ihn zu unterdrücken, so wie es ihm auch obliege, diesen Hang positiv als Frömmigkeit, wie er an anderer Stelle auch sagen kann, zu kultivieren. Vgl. z. B. schon im Abschnitt Über eine Weissagung Lichtenbergs, Jacobi, Von göttlichen Dingen, 12. 50  Auch dies ist eine häufig verwendete Formel Jacobis, die freilich nicht vorschnell von späteren Sichtweisen her, etwa der Existenzphilosophie Kierkegaards, 49  Das

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»Der nicht irrlehrende, nicht täuschende, sondern sich zu sich selbst unverholen bekennende aufrichtige klare und bare Naturalismus – stehet, als speculative Lehre, neben dem Theismus gleich unsträflich da. Stolz, und selbst mit bitterm Hohn mag er den Theismus von sich weisen und erklären, daß er mit ihm, der nur ein Gespenst, kein ächt wissenschaftliches Wesen sey, nichts zu schaffen, noch zu theilen haben möge: der Weise wird deswegen ihm nicht zürnen. Nur muß der Naturalismus um sich in dieser Unsträflichkeit zu erhalten, auch dieselbe aufrichtige kecke Sprache unverändert führen. Er muß nie reden wollen auch von Gott und göttlichen Dingen, nicht von Freyheit, von sittlich Gutem und Bösem, von eigentlicher Moralität; denn nach seiner innersten Ueberzeugung sind diese Dinge nicht, und von ihnen redend sagt er, was er in Wahrheit nicht meint. Wer aber solches thut, der redet Lüge.«51 Insofern es für Jacobi um die Sicherung oder besser: die Bezeugung und konsequente Entfaltung des »Geheimnis der Freyheit«52 geht, sieht er natürlich den Theismus im Vorteil. Doch beruht dies ebenfalls auf dem Modus eigener Bezeugung dank personalen Überzeugtseins. Theismus und Naturalismus lassen sich so gesehen letztlich als Weisen existentieller Selbstverständigung kennzeichnen, deren schematische und kein Drittes als vollständige Alternativen zulassende Darstellung bei Jacobi uns heute vielleicht nicht mehr überzeugen mag. Doch entscheidend für unsere Frage ist lediglich, dass der Modus ihrer beider Explikationen – sowohl des Naturalismus als auch des Theismus – sich von der Art, wie Schelling seinen Theismus als ›wissenschaftlich‹ verstanden wissen will, aufs Schärfste unterscheidet und abhebt. Es mag ja stimmen, dass der späte Schelling zweifelsohne in seiner geschichtsphilosophisch zugespitzten Offenbarungsphilosophie53 zu gelesen werden darf. Zum Verhältnis von Kierkegaard und Jacobi vgl.: Klaus-Michael Kodalle: Salto Mortale: Kierkegaard und Jacobi, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hrsg. v. Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen. Hamburg 2004, 395–421. Dem ›Entweder-Oder‹ korrespondiert der Vorwurf gegen Schelling in der Einleitung eines ›Weder-Noch‹ (vgl. Jacobi, Vorrede, 416f.). 51 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 97. 52  Diese Formel stammt bekanntlich aus dem Brief an Fichte: Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an Fichte (1799), in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2: Schriften zum Transzendentalen Idealismus [= JWA 2,1]. Unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hrsg. v. Walter Jaeschke/Irmgard-Maria Piske. Hamburg 2004, 191–225, hier 214. 53  Dass Jacobi von den späteren Ansichten Schellings, insbesondere der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie im Rahmen seiner Spätphilosophie der Mythologie und Offenbarung nicht überzeugt sein würde, belegt indirekt der Umstand, dass Schelling selbst im Nachgang seine Denkmal-Schrift als ersten Schritt auf dem Weg dorthin gewertet hat. – Zur theologischen Relevanz der

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einem inhaltlich bestimmteren theistischen Gottesgedanken gelangt, reichhaltiger und konkreter als derjenige Jacobis je hätte sein können. Aber selbst dann wird man den basalen Unterschied erkennen, weil noch die Spätphilosophie in der Konstellation von ›negativer‹ und ›positiver Philosophie‹ glaubt, sich über den Status personaler, d.h. nur von den einzelnen handelnden Individuen existentiell zu vollziehenden Selbstverständigung in Form einer Gründung erheben zu können. Hierin bleiben Systemdenker und Systemkritiker streng geschieden; hieraus erklärt sich vor allem aber die scheinbar missverständliche Deutung von Schellings Unterfangen als eines über sich selbst nicht hinreichend aufgeklärten oder sich bewusst verstellenden Naturalismus durch Jacobi. Denn: »Ob das Absolute ein Grund, oder ob es eine Ursache sey. Daß es Grund und nicht Ursache sey, behauptet der Naturalismus; daß es Ursache sey und nicht Grund, der Theismus.«54

6. »System und Systemkritik« – ihre ideologiekritische Bedeutung für die Gegenwart Man hat dem Ansinnen der Protagonisten des Theismusstreits oftmals eine tragische Komponente zuerkannt.55 Sie wollten mit durchaus verschiedenen Mitteln dem Theismus argumentativ zu neuem Ansehen verhelfen und haben doch nachgerade das Gegenteil bewirkt. Insbesondere Jacobi hat man oft und gerne dadurch philosophisch zu entwerten versucht, dass man vor allem seine scharfsinnige Zeitdiagnostik, manch einer sprach sogar von ›prophetischer‹ Klarsicht, hervorge­hoben hat. Das ist freilich in zweifacher Hinsicht unfair. Zum einen, weil für Jacobi philosophische Reflexion nie abseits ihrer Zeitdiagnose erfolgen kann. Schon in den Spinozabriefen heißt es, dass »die Handlungen der Menschen nicht sowohl aus ihrer Philosophie müssen hergeleitet werden, als ihre Philosophie aus ihren Handlungen; daß ihre Geschichte nicht aus ihrer Denkungsart entspringe, sondern ihre Denkungsart aus ihrer Geschichte.«56 Zum anderen ist ein solches Urteil aber auch SchelSchelling´schen Spätphilosophie vgl.: Malte Dominik Krüger: Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie. Tübingen 2008. 54 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 105. – Zu dieser basalen Unterscheidung vgl. Sandkaulen, Grund und Ursache. 55  Vgl. das Urteil in: Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012, 530. Im Folgenden zitiert als »Jaeschke/Arndt, Die Klassische deutsche Philosophie«. 56 Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 134.

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ling gegenüber unfair. Denn beide haben begriffen, dass der Naturalismus derjenige Hintergrund ist, vor dem sich künftig jeder als vernünftig ausgebende theistische Gottesgedanke zu rechtfertigen habe. Darum konnte nicht der Theismus, sondern nur der Naturalismus der logische Einsatzpunkt für die Rechtfertigung eines ›wissenschaftlichen Theismus‹ darstellen; und darum galt auch für Jacobi, dass der Theist im Naturforscher sich in keiner Weise bei seiner wissenschaftlichen Arbeit seiner theistischen Überzeugungen bedienen dürfe. So gesehen führt der Theismusstreit noch vor dem mentalitätsgeschichtlichen Wandel hin zu einem naturwissenschaftlich-technisch orientierten Wirklichkeitsverständnis in Problemlagen ein, die das Selbstverständnis der darin sich als Subjekte oder Personen verstehenden Menschen kennzeichnet. Insofern prägt auch die Debatte um System und Systemkritik bis heute – wenngleich eher subkutan – unsere Lebensgegenwart. Es mögen andere entscheiden, ob Schellings Versuch einer erneuten Selbsteinholung der Wissens(be)stände in ein System mit dem Abschlussziel der Explikation des Göttlichen als ein Rückfall in das Ansinnen vorkritischer Metaphysik zu werten sei.57 Gewiss aber steht, das darf man auch von Jacobikritikern einfordern, Jacobis Weg der Verweigerung des Systems aufgrund systemkritischer Überlegungen unserem modernen Lebensgefühl näher; und dies selbst dann, wenn man nicht zu den gleichen Konsequenzen wie er gelangt. Die Modernität Jacobis bliebe aber selbst hierin noch unterbestimmt, würde man sie lediglich aus einer persönlichen Lage heraus begreifen wollen. Anders als Schelling fundiert Jacobi die Alternativen von Theismus und Naturalismus fundamentalanthropologisch,58 verbleibt also im Rahmen einer existentiell getönten Metaphysik der Endlichkeit. Es ist der die existentielle Selbstverständigung des wissenschaftlich Forschenden und darin doch zugleich ihrer eigenen Handlungsfreiheit gewahrenden sie aber des-

57  So

im Grunde Walter Jaeschke in: Jaeschke/Arndt, Die Klassische deutsche Philosophie, 520f. 58 Vgl. die Bemerkung: »So ist für den Menschen die Wahrheit über alle Wahrheit ein Wissen in seinem innersten Bewußtseyn: daß er über das seinem Wesen beygemischte Thierische sich mit dem Geiste zu erheben die Bestimmung und die Kraft hat.« (Jacobi, Von göttlichen Dingen, 62) – Man muss dabei sich im Klaren sein, dass für Jacobi Verstandesgebrauch im Sinne von Verknüpfen und Ordnen sowie in Gestalt praktischer Fertigkeiten etwas ist, dass auch anderen Lebewesen (höheren Tieren) zukommt und eben nicht das Humanspezifische darstellt. Erst im notwendigen Zusammenspiel von Vernunft und Verstand, die beide einander bedürfen, zeigt sich die anthropologische Grunddifferenz gegenüber allen anderen Lebewesen – auch gegenüber Gott!

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wegen niemals zu beweisen fähigen Person geschuldet, ob sie bereit ist, letztere in ihrer Eigenart auch unter dem Verzicht ihrer systematischen Einordnung und Erklärung anzuerkennen oder nicht.59 Damit leugnet der sich als freie Person begreifende Mensch die Erfolge begrifflicher Konstruktion und methodischer Naturerklärung nachgerade nicht. Andernfalls stünde ihm die Gefahr der naturalistischen Selbstreduktion gar nicht offen. Die »Vernunft behauptet das Seyn der Freiheit ohne das Seyn der Nothwendigkeit und ihre unumschränkte Gewalt in dem ganzen Gebiet der vernunftlosen Natur zu läugnen.«60 Von daher erklärt sich, warum Jacobis Freiheitsbegriff streng genommen zunächst weder moralisch noch religiös, sondern »technisch«61 konnotiert ist. Zur Selbstverständigung über die verschiedenen Techniken menschlichen Freiheitsgebrauchs gehört selbstredend die bewusst gewählte und in Form und auf Methode gebrachte Reduktion um der wissenschaftlichen Einsichten willen. Aber auch dann bleibt die philosophische Frage relevant, wie Vernunft und Leben, Philosophie und Wissenschaft, mehr noch, wie Systeme und ihre (lebensweltlichen) Kontexte denkend zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Für Jacobi ist klar: Der hierin sich meldende Primat der Praxis liegt außerhalb der Reichweite der Begründung durch die Theorie. Bei näherer Hinsicht bedarf er ihrer zudem gar nicht. Diesen Ausweg aus dem kantischen Dilemma nicht genommen zu haben, ist und bleibt der Grundfehler aller nachfolgenden Systemdenker, deswegen der nie ablassende Ansporn

59 

Aus diesem Grund heißt es schon in Über eine Weissagung Lichtenbergs am Ende: »Hier im Mittelpunkt des Unbegreiflichen, wo es dich ganz umgiebt, besinne dich und wähle, ob du dich mit diesem Unbegreiflichen in Freundschaft oder Feindschaft zu befassen habest. Suchest du nicht überall ein Erstes; und kann ein Erstes je begriffen werden. Und was wäre dir das Erste, wenn es nicht Ursache wäre? – Und was wäre dir Ursache, wenn sie wäre, was nie ist?« (Jacobi, Von göttlichen Dingen, 31) Dieses Zitat ist deswegen besonders aufschlussreich für Jacobis Verständnis einer unter gegenwärtigen Umständen allein noch möglichen Metaphysik, da deren Fragen existentielle Bedeutung annehmen, welche sich nur über den qualitativen Vollzug, eben den persönlichen Einsatz klären lässt, worauf die für ihn typische, mehr als metaphorisch gemeinte, Freundschaftsfigur verweist. 60 Jacobi, Von göttlichen Dingen, 225. 61 Vgl. die Bemerkung in Jacobis Kladden (Kladde Nr. 8, 97): »Ich weiß nicht, warum Bouterwek in der Ankündung seines Magazins meine Freyheitslehre eine religiöse nennt. Man könnte eher die Kantische und religiöse, und die meine, die ohne Rücksicht auf Moral und Religion behauptet wird, und die ich deswegen im Brief an Fichte eine technische genannt habe, eine profane nennen.« Zitiert nach: Klaus Hammacher: Jacobi und das Problem der Dialektik, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Hrsg. v. ders. Frankfurt a. M. 1971, 119–155, hier 152, Anm. 135.

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für weitere Systemkritik.62 So wird aus der Frage nach antinomischen System­begriffen das Problem, ob philosophische Systeme selbst so für radikale Kritik offenstehend gedacht und gehalten werden können, ohne dabei ihren Systemanspruch zu verlieren. Ja, man könnte an dieser Stelle sogar nach Antinomien der Systemkritik fragen. Jedenfalls wird von hier aus deutlich, warum Jacobis Beharren auf einem Dualismus nicht auf ein konträres System zielt, sondern auf eine Pluralität von Perspektiven verweist, welche divergenten Kontextkonstellationen entstammen. Es wäre nun interessant und reizvoll, die eingangs erwähnten neuen Versuche rationaler Theologie in diese Problemlage einzuzeichnen, was an dieser Stelle aber unterbleiben muss.63 Dessen ungeachtet dürfte der Streit zwischen Naturalisten und Theisten weitergehen, sofern beide nicht unter dem Anspruch und der Maßgabe des ›Despotismus‹, eine bessere Vernunft64 als der jeweils Andere zu besitzen, d.h. unter dem Vorwurf mangelnder Begründbarkeit, jener anderen Seite 62  Zur

Systemkritik Jacobis vor seiner Auseinandersetzung mit Schelling, vgl. Birgit Sandkaulen: »Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren?« Problematische Transformationen in der klassischen deutschen Philosophie, in: ­DZPhil 50 (2002), 363–375. 63  Während Gerhardt wohl die theistische Rede von Gott in seinen Ansatz des ›humanitären Naturalismus‹ einschreiben will, und zwar unter der schon von Jacobi für alle Systemdenker als maßgeblich erachteten Kategorie der Ganzheit (vgl. Gerhardt, Sinn, 225, der von der »Konzeption eines Göttlichen aus[geht], das als das im Ganzen [!; C.P.] wirkende Moment der Welt zu begreifen ist«), scheint Tetens im Grunde der Strategie Jacobis zu folgen, wenn er am Ende bekennt: »Der Satz ›Wir und die materielle Welt sind Geschöpfe des gerechten und gnädigen Gottes, der vorbehaltlos unser Heil will‹ ist kühn, unbewiesen und in dieser Welt unbeweisbar, ist aber existentiell betrachtet nicht absurd, es spricht für ihn, dass wir uns in seinem Lichte ohne Schwierigkeiten als vernünftige Personen verstehen können und dürfen.« (Tetens, Gott denken, 90) Dessen ungeachtet gibt es deutliche Unterschiede beider zu den Protagonisten des Theismusstreits: Schließlich forciert und präferiert Tetens ein Modell des Panentheismus (vgl. Tetens, Gott denken, 29–54) – für Jacobi bekanntlich ein Schellingsches Unding – wohingegen Gerhardt mit Jacobi und gegen Schelling Abstand nimmt vom Anspruch einer sich als System verstehenden Metaphysik, und zwar durch eine zwischen Jacobi und Kant anzusiedelnde Brechung im Verhältnis von Glauben und Wissen. Dazu vgl. jetzt: Volker Gerhardt: Glauben und Wissen. Stuttgart 2016. 64  So bekanntlich der Topos, unter dem Jacobi seine Aufklärungs- als Ideologiekritik vorgetragen hat, etwa in den beiden Schriften Etwas, das Lessing gesagt hat (1782) und Einige Bemerkungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht Vernunft ist (1788), vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe, Bd. 4: Kleinere Schriften I: 1771–1783 [= JWA 4,1]. Unter Mitarbeit v. Mark-Georg Dehrmann. Hrsg. v. Catia Goretzki/Walter Jaeschke. Hamburg 2006, 301–330, sowie: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 5: Kleinere Schriften II: 1787–1817 [= JWA 5,1]. Hrsg. v. Catia Goretz-

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ihre Berechtigung in Gänze absprechen. Jacobis alternativer Weg zu Schelling bedeutet jedenfalls nicht, vor der Diversität der Lebens- und Weltanschauungen ohnmächtig verstummen zu müssen oder sie achselzuckend als gleichgültig hinzunehmen. Vielmehr lädt er ein, sich im freien Meinungsaustausch über das Zustandekommen der jeweiligen Lebensperspektive existentiell mit Anderen und über sich selbst zu verständigen. Darin bleibt die systemskeptische Bemerkung eines anderen Denkers jener Tage bleibend gültig: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt [...] davon ab, was man für ein Mensch ist.«65 Dem hätte Jacobi jedenfalls seine Zustimmung nicht verweigert.

ki/Walter Jaeschke. Hamburg 2007, 105–131. Dazu vgl. auch die Ausführungen bei: Klaus Hammacher: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969, 96–131. 65  Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/8), in: ders.: I. Abteilung: Werke, Bd. 4: Werke 1797–1798 (Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Hrsg. v. Hans Gliwtitzky/Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Richard Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 195.

Christopher Arnold »Der Gott des Theismus hingegen sey nur ein abgeschmackter Götze, ein die Vernunft entehrendes Hirngespinst« – ­Schellings Verteidigung seines philosophischen Systems im ­Denkmal von den göttlichen Dingen gegen F. H. Jacobi Das Denkmal von den göttlichen Dingen erschien im Frühjahr 1812 während Schellings Zeit an der Münchner Akademie der Wissenschaften als Gegenschrift zu Jacobis Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung aus dem Jahr 1811.1 Es weist eine vierteilige Gliederung auf, sie besteht aus einer »Vorläufige[n] Erklärung« sowie drei daran anschließende Hauptkapitel, welche mit den Überschriften »Das Geschichtliche«, »Das Wissenschaftliche« sowie »Das Allgemeine« betitelt sind.2 Das Kapitel »Das Geschichtliche« befasst sich mit der Vorgeschichte des Konflikts, welche seit der Publikation des sogenannten Spino­zabüchleins 1785 durch Jacobi entbrannte und in der Forschung mit dem Begriff des Pantheismusstreits rund um Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und anderen verhandelt wird. Aber auch Positionen Jacobis zur kantischen Transzendental- und Moralphilosophie, sowie zum Gottesbegriff in der Religionsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes als einer moralischen Weltordnung werden thematisiert.3 »Das Allgemeine« setzt sich demgegenüber spezifischer mit dem Gottes-, Natur- und Sittlichkeitsbegriff des Jacobischen Denkens auseinander. Beide Kapitel sollen insoweit beleuchtet werden, als sie die Hauptstreitpunkte des gesamten Konflikts sowie die Sichtweise Schellings auf Jacobi verdeutlichen. In meinen folgenden Ausführungen möchte ich mich jedoch vorwiegend auf die »Vorläufige Erklärung« sowie das Kapitel »Das Wissenschaftliche« beschränken, weil diese Abschnitte die sachhaltigsten ­Argumentationen zur Verteidigung von Schellings Philosophie be­ inhalten. Gesamt geht es mir also um eine kritische Rekonstruktion der philosophischen, allen voran naturphilosophischen Differenzen in 1 

Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811. 2 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. [...]. Tübingen 1812, VIII (Inhaltsverzeichnis). Im Folgenden zitiert als »Schelling, Denkmalschrift«. 3  Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 35–62. Vgl. Gunther Wenz: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Zum Streit Jacobis mit Schelling 1811/12. München 2011, 86f. Im Folgenden zitiert als »Wenz, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung«.

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Christopher Arnold

Bezug auf den Gottesbegriff der beiden Denker aus der Sicht Schellings. In der »Vorläufige[n] Erklärung« zu Beginn der Denkmalschrift listet Schelling selbst mittels Nennung direkter Zitate die zentralen Vorwürfe Jacobis an sein philosophisches System auf, um sie sodann gleich einleitend argumentativ zu entkräften. Die Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Schellings System stelle eine Vergöttlichung der Natur dar, und würde so den Unterschied zwischen Moral- und Naturphilosophie, und gleichermaßen denjenigen zwischen Notwendigkeit und Freiheit nivellieren.4 b) Das Identitätssystem sei spinozistisch, und die Ideen von Gott, Seele und Freiheit, sowie eine Unterscheidung von Gut und Böse seien in sittlichen Belangen überhaupt aufgehoben. Somit sei es gleichermaßen fatalistisch wie atheistisch.5 Beide Vorwürfe stehen vor dem Hintergrund der generellen Problematik der Möglichkeit eines wahren Theismus unter nachkantischen Bedingungen. Die Frage nach den epistemologischen Bedingungen eines Wissens von Gott und dessen Bestimmungen in Bezug zur Wissenschaft liegen für Schelling dabei in seinem System des Ganzen beschlossen. Darin sind Gott, Geschichte und Natur gleichermaßen als identitätsphilosophische Konstruktion des Absoluten, der absoluten Vernunftidentität vereint. Der Gottesbegriff avanciert dabei als Kriterium der Wissenschaft, insofern als »daß es die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt.«6 Während 4  Vgl.

Schelling, Denkmalschrift, 1–8. Schelling, Denkmalschrift, 8–12. 6  Diese Forderung Schellings stammt aus seinem zeitnah entstandenen ersten Buch bzw. Bruchstück Die Weltalter. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Erstes Buch (aus dem handschriftlichen Nachlaß), in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/ Augsburg 1861, Bd. 8, 195–344, hier 199. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Weltalter«. Vgl. dazu ders., Denkmalschrift, 113f.: »Aber eben dieses Daseyn Gottes als persönlichen Wesens ist Gegenstand – recht eigentlich der Wissenschaft, und nicht nur überhaupt, sondern ihr höchster, letzter Gegenstand, das Ziel ihres Strebens, nach dem sie zu allen Zeiten gerungen hat [...].« Vgl. auch Georg Essen: Der Theismusstreit (1811/1812). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die ›Göttlichen Dinge‹, in: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Hrsg. v. ders./Christian Danz. Darmstadt 2012, 215–257, hier 238f. Im Folgenden zitiert als »Essen, Der Theismusstreit«. 5  Vgl.

Der Gott des Theismus

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Jacobi diese Herangehensweise prinzipiell entschieden verneinte, hält Schelling dies auch acht Jahre nach Fertigstellung der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums immer noch für eine unerlässliche Grundausrichtung der akademischen Disziplinen.7 Der Wissenschaftsbegriff stand freilich schon damals – wie hier nur kurz angedeutet werden kann – im Dienst der identitätsphilosophischen Strukturen des Gesamtsystems. Dies sollte insofern erfolgen, als die einzelnen Disziplinen ihre Forschungsgegenstände als ins objektive gewendete Anschauungen von Idealem und Realem in der Geschichte und in der Natur, als Formen des Absoluten, welches dadurch immer nur indirekt erscheint, darzustellen haben. Den methodischen Schlüssel für dieses Vorhaben sieht Schelling in der Denkmalschrift unverändert in der philosophischen Konstruktion, welche er bereits im Jahr 1802 als wesentlichstes Verfahren seines Denkens ausgewiesen hatte.8 Die so geartete nicht unproblematische Zusammengehörigkeit von strikt allgemeiner Wissenschaft, und dem »lebendigen, wirklichen Wesen[]«, muss daher geradezu als Gegenprogramm zu Jacobis Dictum »Es ist das Interesse der Wissenschaft, daß kein Gott sey«9 interpretiert werden. Schelling hatte letzteres in der Denkmalschrift als ein Zentrum des Jacobischen Philosophierens erachtet.10 Die Debatte zum Theismusstreit wurde unter anderem aus diesen Umständen in der neueren Forschungsliteratur bislang stark auf den Topos der Persönlichkeit Gottes bezogen. In meinem Beitrag möchte ich demgegenüber die These vertreten, dass Schellings Konzeptionen einer Philosophie der Natur eine viel gewichtigere Rolle einnehmen

7 

Gleichwohl erachtete Schelling dieses Desiderat als immer noch unerfüllt. Vgl. Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. München 2012, 519f. Im Folgenden zitiert als »Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie«. 8  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber die Construktion in der Philosophie, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1859, Bd. 5, 125–151, hier 125. Vgl. ders., Denkmalschrift, 189: »Da jedes Handwerk sein Verfahren, seine Handgriffe, seine Vortheile hat, so schienen Sie im Gegentheil alles, was Form und Methode in der Philosophie ist, gering zu achten, ja Sie versuchten die philosophische Kunst der Construction eines wissenschaftlichen Ganzen durch Vergleichung mit geringen Dingen in‘s Lächerliche zu ziehen.« 9 Schelling, Denkmalschrift, 40. 10 Vgl. Ingo Kauttlis: Von ›Antinomien der Überzeugung‹ und Aporien des modernen Theismus, in: Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 1–34, hier 20–22. Im Folgenden zitiert als »Kauttlis, Von ›Antinomien der Überzeugung‹«.

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und für ein Verständnis der Gesamtthematik unverzichtbar sind.11 Auf die Frage des erkenntnistheoretischen Zugangs einer Naturphilosophie, beziehungsweise deren Geltung und Verhältnis zu einem Gottesbegriff innerhalb einer Philosophie, welche die Bedingungen göttlicher und menschlicher Freiheit gleichermaßen aufweist wie diejenige der Moralität, lassen sich nahezu sämtliche Differenzen zwischen Schelling und Jacobi zurückführen. In einem ersten Schritt werde ich daher – vor dem Hintergrund der Hauptangriffe Jacobis auf das Schellingsche System – in Grundzügen auf die Konstruktion des Schellingschen Gottesbegriffs dieser Zeit im Kontext der Identitäts- und Naturphilosophie eingehen. Erst in einem zweiten Schritt ist davon unabtrennlich der Bestimmung der Moralphilosophie und Persönlichkeit Gottes nachzugehen. In einem abschließenden Fazit sind die sich daraus ergebenden Hauptstreitpunkte mit Jacobi, wie sie in der Denkmalschrift aus der Perspektive Schellings thematisiert werden, kritisch zu analysieren.

1. Schellings Natur- und Gottesbegriff im werksgeschichtlichen ­Kontext der Denkmalschrift Schelling erklärt sich in der Denkmalschrift über seinen Natur- und Gottesbegriff folgendermaßen: »›Wir verstehen unter Natur die absolute Identität, so fern sie nicht als seyend, sondern als Grund ihres eignen Seyns betrachtet wird.‹ Hier wird die seyende absolute Identität von der nicht-seyenden, die nur Grund (in meiner Sprache soviel als Grundlage) ihrer Existenz ist, unterschieden, und die lezte allein als Natur erklärt.«12 Der Grund ist also als etwas, was der absoluten (Vernunft-)Identität Gottes als seine Natur in ihr vorausliegt. Ihm, dem Grund wird das Prädikat des nicht-seienden beigelegt, während davon eine absolute Identität Gottes gesondert zu betrachten ist, welcher das Prädikat des Seienden zukommt. Wie ist das genauerhin zu verstehen? 11  Vgl.

Christian Danz: »Es ist Angelegenheit der Menschheit, daß jener Glaube [...] sich in wissenschaftliche Erkenntnis verkläre.« J. G. Fichte und F. W. J. Schelling über Glaube und Vernunft, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Hrsg. v. Fred Rush/Jürgen Stolzenberg. Berlin/New York 2011, Bd. 7, 118–134, hier 129. Im Folgenden zitiert als »Danz, Es ist Angelegenheit der Menschheit«. 12 Schelling, Denkmalschrift, 6.

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Schellings Ausführungen zu diesen Bestimmungen in der Denkmalschrift haben einen fragmentarischen, sprunghaften sowie unsystematischen Charakter. Sie werden mehrheitlich als vom Leser bekannt vorausgesetzt, und in formelhafter, pointierter Form den genannten Kritikpunkten Jacobis entgegengesetzt. Daher ist es erforderlich, zur genaueren Erörterung der Schellingschen Position auch andere Schriften zu Rate zu ziehen. Bedeutungsvoll ist dafür Schellings zeitnah entstandenes erstes Buch des Weltalter-Projekts. Es wurde in Teilen bereits 1811 und 1813 gedruckt, und war in der Fassung der Sämmtliche[n] Werke vermutlich 1814 oder 1815 fertiggestellt worden.13 Darin entwickelt Schelling eine Konstruktion der Idee Gottes auf Basis des identitätsphilosophischen Naturbegriffs,14 welche Gott als ein freies, lebendiges Wesen darstellen soll, wie es Schelling schon in der Denkmalschrift formuliert und gefordert hatte.15 Die ersten beiden Drucke unterscheiden sich dabei inhaltlich erheblich von der durch Karl Friedrich August Schelling veröffentlichten Version aus den Jahren 1814/1815, indem diese sich stark auf den speziellen Problemhorizont von Ewigkeit und Zeitlichkeit ka­ prizieren.16 Ich werde mich in meinen Ausführungen daher vorwiegend auf die für unsere Zusammenhänge aufschlussreichste Version aus den sämmtliche[n] Werken beziehen. Das erste Hauptkapitel des ersten Weltalter-Fragments trägt dort den programmatischen Titel: »Das ewige Leben der Gottheit als Ganzes oder Construktion der Gesammt­ idee Gottes.«17 Schelling ist dabei – freilich in anderem Kontext und Inhalt – wie schon in der Systemschrift von 1801,18 der Freiheitsschrift von 1809, sowie wie erwähnt der Denkmalschrift weiterhin der Überzeugung, dass dieses Unternehmen nur möglich ist, wenn auch das Sein Gottes in seiner Ganzheit in Relation zu einem negativen Prinzip in sich selbst gefasst wird, als einer sich selbst vorausliegenden Natur.

13 Vgl.

Schelling: SW VIII, V. (Vorwort). Zur komplexen Entstehungsgeschichte der Weltalter-Fragmente vgl. Jaeschke/Arndt: Die klassische deutsche Philosophie, 534f. 14 Vgl. Essen, Der Theismusstreit, 239f. Dies traf bereits in gleicher Weise auf die Freiheitsschrift von 1809 sowie die Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 zu. Vgl. Danz, Es ist Angelegenheit der Menschheit, 131. 15  Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 91f. Vgl. ders., Weltalter, 199–206. 16 Vgl. Manfred Schröter: Einleitung des Herausgebers, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter Fragmente. Hrsg. v. ders. [= Schellings Werke. Nachlaßband]. München 1946, XIII–LVIII, hier XVf., XX, XXII. 17 Schelling, Weltalter, 197. 18  Hierauf verweist Schelling selbst in der Denkmalschrift: Schelling, Denkmalschrift, 6f.

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Schelling geht also von zwei Prinzipien in Gott aus, die als Vermögen oder Kräfte bestimmt werden. Zum einen handelt es sich dabei um »das ausquellende, ausbreitsame, sich gebende Wesen« und sein Gegenstück, eine »ewige Kraft der Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst, des in-sich-Seyns.«19 Die Freiheitsschrift nannte letzteres analog ein unvordenkliches »dunkle[s] Princip« oder auch ein »Regelloses« des Verstandes.20 Wie ist nun das Verhältnis dieser beiden Kräfte ge­ nauer zu bestimmen? Für Schelling ist es wichtig festzuhalten, dass sich keine von beiden zunächst ineinander überführen lässt, in dem Sinn, dass eine die andere dominiere, und ihr gleichermaßen zugunsten der anderen Platz gemacht würde. Beide sind als gleichursprüngliche, ewige Prinzipien in Gott zu verstehen. Sie haben stets gleichermaßen den Anspruch, als seiend, als Inbegriff aller möglichen Bestimmungen zu bestehen.21 Schelling fokussiert sich bei der Darstellung der Kräfte also einerseits auf deren widersprüchlichen Charakter, da keine derselben zugleich als seiend und nicht-seiend auftreten kann.22 Diese aporetische Konstellation dient geradezu als Basis für die weitere Argumentation. Denn ohne diese unauflöslichen Parität und Ebenbürtigkeit, würde das »Wesen« im Status eines dunklen Prinzips seiner selbst zu stehen kommen, und es wäre keine Entfaltung im Absoluten möglich, worauf gleich eingegangen werden soll.23 Dennoch kann andererseits das bejaende und das verneinende Prinzip Gottes nicht je für sich alleine bestehen, etwa nach dem Muster eines gnostischen Dualismus.24 Es handelt sich also um eine bloß rela19 Schelling,

Weltalter, 211. Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1860, Bd. 7, 331–416, hier 362, 359. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Freiheitsschrift«. 21  Vgl. Schelling, Weltalter, 215f. 22  Vgl. Schelling, Weltalter, 217–219. Vgl. Jörg Jantzen: Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hrsg. v. Ottfried Höffe/Annemarie Pieper. Berlin 1995, 61–90, hier 77f. Im Folgenden zitiert als »Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen«. Vgl. auch Schelling, Freiheitsschrift, 345f. 23 Vgl. Schellings diesbezügliche Ausführungen im Zweitdruck des 1. WeltalterBuches von 1813: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter Fragmente. Hrsg. v. Manfred Schröter [= Schellings Werke. Nachlaßband]. München 1946, 122. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Die Weltalter Fragmente«. 24  Vgl. dazu Schellings abwertende Bemerkungen in der Denkmalschrift: Schelling, Denkmalschrift, 172. Die historische Untersuchung des Gnostizismus gehörte schon während der Studentenzeit zu den Hauptinteressen Schellings. Vgl. ders.: Geschichte 20  Friedrich

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tive Unabhängigkeit der Kräfte. Sie bedingen einander, was implizit ein Einheitsmoment beider voraussetzt, wie auch umgekehrt diese Identität nicht ohne das gegenstrebende für-sich-seien der Kräfte möglich ist. Im Folgenden erläutert Schelling eine Entfaltung dieses statischen als auch ›spannungsvollen‹ Verhältnisses von der sich entäußernden, bestimmenden Kraft Gottes, der sich verschließenden, sowie deren Identität. Die Entfaltung wird dadurch in Gang gesetzt als das verneinende Prinzip gegenüber dem bejaenden zum ersten, zum dominierenden wird, womit ein höheres Setzen der Einheit als Einheit möglich wird, die sich zuvor noch in unversöhnlichem Widerspruch befand. Dies bezeichnet Schelling als die erste Potenz. Dieses Verhältnis von Grund und Existenz stellt ein erstes Moment der Selbstmanifestation des Absoluten überhaupt beziehungsweise des »Urwesens«, als einer Einheit von Wesen und Sein Gottes dar. Es meint also nicht, wie man wegen dieser Begrifflichkeiten annehmen könnte, ein infinites Grund-Folge-Schema von Bedingendem und Bedingtem.25 Auch ist damit kein absoluter Anfang im klassisch-metaphysischen Sinne einer ersten οὐσία, beziehungsweise Substanz intendiert.26 Es ist vielmehr transzendentalphilosophisch, im Sinne der Bedingung der Möglichkeit der Existenz des »Urwesens«, also als dessen innerer Struktur der Selbstbestimmung zu verstehen.27 Im Unterschied zur ersten Potenz erscheinen die Verhältnisse der Kräfte in der zweiten Potenz umgekehrt. Das sich verbergende Prinzip in Gott wird zurückgedrängt und verhält sich als ein nicht-seiendes, wohlgemerkt nicht als ein Nichts oder einer völligen Abwesenheit, sondern im Sinn einer Nicht-Wirksamkeit. Das sich im Wesen Gottes hemmende Prinzip wird überwunden, das »Seyende [wird] als Seyen-

des Gnosticismus (1793/94), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nachlass 5. Hrsg. v. Christopher Arnold/Christian Buro/Christian Danz/Klaus Grotsch [= AA II,5]. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, 87–100. 25  Vgl. Schelling, Weltalter, 213, 219f., 223. Vgl. dazu auch ders., Weltalter, 165. 26  Allerdings gibt es in der Schellingforschung Positionen, welche eben dieser Interpretation folgen. Vgl. Christian Danz: Wir »halten mit Lessing selbst die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten für schlechterdings nothwendig.« Bemerkungen zur Lessingrezeption in Schellings Freiheitsschrift, in: Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift. Hrsg. v. ders./Jörg Jantzen. Göttingen 2011, 127–152, hier 146. Im Folgenden zitiert als »Danz, Bemerkungen zur Lessingrezeption in Schellings Freiheitsschrift«. 27  Vgl. ebd.

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des gesetzt.«28 Dieses Verhältnis von erster und zweiter Potenz wird von Schelling ausdrücklich als ein notwendiges charakterisiert: »Dieß ist die ewige Kraft und Stärke Gottes, daß er sich selbst verneint, sein Wesen verschließt und in sich selbst zurücknimmt. In diesem Akt ist die verneinende Kraft das einzige Offenbare von Gott, das eigentliche Wesen aber das Verborgene; [...] Dasselbe läßt sich nun auch von anderer Seite her darthun. Ein Wesen kann nicht sich verneinen, ohne eben damit Sich sich selbst innerlich, also zum Objekt seines eignen Wollens und Begehrens zu machen.«29 Auf diesen Schritt einer inneren Selbstentfaltung des »Urwesens« folgt freilich noch die dritte Potenz, welches die ›Spannung‹, die zwischen den ersten beiden herrscht, in sich erhebt und vereint, und jenseits jeglicher Widersprüche die Einheit in der Natur Gottes darstellt, wie Schelling hier in äußerster Kürze ausführt.30 Die erste Potenz ist bestimmt von Widerspruch gleichwirkmächtiger und gleichberechtigter Kräfte. Selbiger tritt nun wiederum für die Gesamtheit aller Potenzen selbst auf. Es handelt sich bei der göttlichen Natur, die noch nicht Gott selbst ist, also um eine Verkettung beziehungsweise eine um sich selbst kreisende, blinde Dynamik der Erhöhung, Erniedrigung und Vereinigung der Kräfte. Aber auf diese Weise kommt das »Urwesen«, so Schelling, noch nicht zu seinem Sein als Existierender, zu einem ewigen Bewusstwerden in sich, von sich als Subjekt, zu sich als Objekt.31 Hierzu kommt es nur durch ein Moment der Freiheit, das Schelling als einen tätigen lauteren Willen charakterisiert.32 Jener darf nicht als ein strebender, begehrender verstanden werden. Er ist vielmehr derjenige freie, völlig absichtslose Wille, der sich selbst zum Sein bestimmt. »Darum mußten wir außer und über jenem Nothwendigen von Gott, das in den drei Potenzen die ewige

28 Schelling,

Weltalter, 222, 226. Weltalter, 223. 30  Vgl. Schelling, Weltalter, 227–228. 31  Vgl. Schelling, Weltalter, 229–231, 262f. Vgl. Aldo Lanfranconi: Die Weltalter lesen, in: Weltalter – Schelling im Kontext der Geschichtsphilosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1996, 59–72, hier 67f. Vgl. Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie, 537. 32 Vgl. die entsprechende Passage aus dem Erstdruck des 1. Weltalter-Buches von 1811: Schelling: Die Weltalter Fragmente, 22. Vgl. dazu auch Schellings Ausführungen in der Freiheitsschrift: ders., Freiheitsschrift, 338: »ohne den Widerspruch von Nothwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den Tod versinken [...].« 29 Schelling,

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Natur ausmacht, noch ein anderes erkennen, das die ewige Freiheit, das lautere Wollen selbst ist.«33 Wesen und Sein Gottes als Einheit verhalten sich dabei ausdrücklich nicht wie Möglichkeit und Wirklichkeit zueinander. Das Wesen, die durch Notwendigkeit bestimmte Dynamik der Kräfte in der Natur Gottes, ist von seinem Sein als Freiheit nicht zu trennen, beide verhalten sich als in sich differenzierte Einheit zueinander.34 Diese Einheit bezeichnet Schelling als die »höchste Geistigkeit [...] Gottes«.35 Sie ist das ewig Verbindende von dem Wesen Gottes und seinem Sein, erst jetzt wird es dem eigentlich göttlichen teilhaftig. Gott erscheint nicht als potentia, sondern als actus, oder als subjektive absolute Identität.36 »Das ewige Leben der Gottheit als Ganzes« beziehungsweise die »Construktion der Gesammtidee Gottes«, wie in der Kapitelüberschrift dieses Fragments zum Weltalter-Projekt gefordert, ist damit jedoch noch nicht erreicht. Zu dieser kommt es erstens nur, wenn man von Gott als Persönlichkeit, das heißt dem genannten Akt der freien Selbstbestimmung reden kann,37 wovon im folgenden Abschnitt genauer die Rede sein wird. Zweitens ist für die Gesamtkonstruktion die Setzung der sichtbaren Natur notwendig, als der nicht seienden, objektiven Seite der absoluten Identität, und zwar erneut aus dem Grund oder der Natur in Gott.38 Bei eben dieser identitätsphilosophischen Naturlehre gelangt Schelling zu einer Theorie von Raum und Zeit, der Materie,39 sowie allem Kreatürlichen. Es handelt sich bei der sichtbaren Natur ausdrücklich nicht um ein abgetrenntes Verhältnis vom Wesen und Sein Gottes, sondern um eine Selbstentfaltung oder ›Herabsetzung‹:

33 Schelling,

Weltalter, 239. Schelling, Weltalter, 232–239. 35 Schelling, Weltalter, 238, 256. 36 Vgl. Schelling, Weltalter, 237–240, 252. Vgl. Wilhelm G. Jacobs: Von der Offenbarung göttlicher Dinge oder vom Interesse der Vernunft an der Faktizität, in: Der Streit um die göttlichen Dinge (1799–1812). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 142–154, hier 151. 37  Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 83–85. 38  Vgl. Schelling, Weltalter, 228, 311. Vgl. ders., Denkmalschrift, 80–83. Vgl. Wenz, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, 90. 39  Vgl. Schelling, Weltalter, 247, 253f. Zur Materietheorie Schellings in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 im Zusammenhang der Schwerkraft als Grund der Identität von Expansions- und Attraktionskraft vgl. Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, 79–81. Vgl. Danz, Es ist Angelegenheit der Menschheit, 130f. 34  Vgl.

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»Das Untere, wenn es das Obere frei läßt, wird auch von ihm frei, und nimmt so die ihm eigne und gebührende Selbständigkeit an. [...] Die Scheidung beruht zunächst darauf, daß das Verhältniß jener unverbrüchlichen oder unaussprechlichen Einheit, da ein jedes das Seyende [...] seyn sollte, in das der Totalität verwandelt, also jenes blind nothwendige Wesen, welches das Eins zu seyn trachtete und es doch nicht seyn konnte, zum All herabgesetzt wird.«40 Das Verhältnis vom Seienden, dem Wesen Gottes, zur nicht seienden Natur, stellt sich wie folgt dar: Der 1. Potenz, in welcher sich der Grund, die sich ewig verneinende Kraft voraussetzt, entspricht der »Urkeim der künftigen sichtbaren Natur«. Der 2. Potenz entspricht die »Materie der zukünftigen Geisterwelt«. Der 3. Potenz als die höchste Einheit entspricht die »allgemeine Seele, [...] das ewige Band sowohl zwischen Natur als Geisterwelt als zwischen der Welt und Gott [...] durch welches Gott allein in die Natur und die Geisterwelt wirkt.«41 Alle zusammen genommen manifestieren eine aus seinem eigenen Grunde ausgehende Selbstanschauung Gottes, als eine wohlgemerkt untrennbare subjektive und objektive absolute Identität.42 Bislang ergeben sich aus Sicht Schellings folgende Merkmale seiner Philosophie gegen die Anschuldigungen Jacobis: Die Konstruktion der Idee Gottes ist auf identitätsphilosophischen wie naturphilosophischen Prinzipien gegründet. Mit der Redeweise Jacobis ausgedrückt sind Theismus und ›Naturalismus‹ in einem System, das den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, gerade nicht zu trennen.43 Das bedeute nach Schelling aber keineswegs, dass er eine Vergöttlichung der Natur betreibe, schon gar nicht in dem Sinn wie es Jacobi formulierte, »über

40  Vgl.

Schelling, Weltalter, 241f. Schelling, Weltalter, 248, 252. 42  In diesem Sinn beschreibt Schelling auch die Struktur seines Systems in der Denkmalschrift hinsichtlich der Relation von Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Vgl. ders., Denkmalschrift, 79f.: »Wohl aber gibt es solche, und deren sind nicht wenige noch unbedeutende, die das Vollkommnere aus seinem eignen Unvollkommneren sich erheben lassen. Darinn nun liegt nichts Widersinniges.« 43 Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 89: »Der Naturalismus, wenn er auch in Ansehung der Dignität dem Theismus nicht gleich steht, ist doch, was die Realität betrifft, ihm völlig äquipollent, d. h. er hat ganz gleiche Ansprüche befriedigt zu werden. Ein theistisches System, das die Erklärung der Natur ausschließt, verdient gar diesen Namen nicht, weil ohne bestimmten Begriff vom Verhältniß Gottes zu der Natur der Begriff Gottes selber ungewiß bleibt [...].« Vgl. auch ders., Denkmalschrift, 58. 41  Vgl.

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der Natur sey Nichts, und die Natur allein sey«.44 Schelling argumentiert dies in der Denkmalschrift mit der allgemeinen Ordnung seines Systems: »Da ferner das Seyende allgemein über dem seyn muß, was nur Grund (Grundlage) seiner Existenz ist, so ist offenbar, daß, zufolge eben dieser Erklärung, die seyende abs. Identität, (Gott im eminenten Verstand, Gott als Subjekt), über der Natur, als der nicht-seyenden – bloß objektiven – abs. Identität gesetzt wird, die sich nur als Grund des Seyns verhält. – Hierüber lassen die nachfolgenden Worte keinen Zweifel, ›wir sehen hieraus vorher, daß wir alles Natur nennen werden, was jenseits des absoluten Seyns der absoluten Identität liegt.‹«45 Mit dieser Unterscheidung, sowie dem ›Streit‹ der Kräfte im Wesen Gottes, und insbesondere der Konzeption eines ewigen Anfangs in Gott, sieht sich Schelling als Gegenstimme zu diversen anderen Positionen. Dies gelte auch für den Gottesbegriff Spinozas, als einer singulären, ewigen Substanz, welche lediglich eine ewige Harmonie von Idealem und Realem in sich vereine.46

2. Schellings Moralphilosophie unter natur- und identitäts­ philosophischen Prämissen und die Persönlichkeit Gottes Der 2. Hauptvorwurf Jacobis an die Philosophie Schellings lautete, dass das Identitätssystem spinozistisch sei, die Persönlichkeit Gottes, sowie eine generelle Unterscheidung von bonum und malum unmöglich mache. In seiner Verteidigung gegen diese Anschuldigungen verweist Schelling im Denkmal von den göttlichen Dingen lediglich auf seine drei Jahre zuvor erschienene Freiheitsschrift, um sich anschließend leidenschaftlichen Anfeindungen des Jacobischen Gottesbegriffs zu widmen.47 Der Topos der Freiheit stand dort freilich nicht im Entstehungshorizont der Dispute mit Jacobi, die Themen von Freiheit und Notwendigkeit, Gut und Böse in Bezug auf Gott und Mensch wurden dort vielmehr als Angelegenheiten im Problemhorizont einer jeglichen theologischen oder philosophischen Metaphysik verhandelt. Die Crux einer Antwortmöglichkeit auf die damit zusammenhängende Theodi44 Schelling,

Denkmalschrift, 4. Denkmalschrift, 6f. 46  Vgl. Schelling, Weltalter, 225, 340. Vgl. dazu besonders Schellings Erläuterungen in der Freiheitsschrift: ders., Freiheitsschrift, 339–341. 47  Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 9–12, 37–45. 45 Schelling,

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zeefrage in Bezug auf den Gottesbegriff beschreibt Schelling zunächst als Aporie, nämlich dass das Böse entweder Gott in irgendeiner Form selbst anhaften, oder aber das Böse – je nach denkerischer Herangehensweise – marginalisiert oder überhaupt geleugnet werde müsse. Beide Varianten sind für Schelling unbefriedigend beziehungsweise unmöglich, da – wie im ersten Fall – Gott als Güte selbst nicht mit dem Bösen in Verbindung gebracht werden kann, und im zweiten Fall das Böse lediglich verharmlost, sowie der reale Begriff der Freiheit selbst aufgehoben würde.48 Wie lautet nun, in aller Kürze zusammengefasst, Schellings Alternative? Generell differenziert Schelling zwischen einer bloßen Möglichkeit und der Wirklichkeit zum Bösen. Beide hängen ganz an den identitätsphilosophischen sowie naturphilosophischen Prämissen, die bislang erörtert wurden. Die Möglichkeit zum Bösen wurzelt ausschließlich im dunklen Prinzip in Gott, in seinem Grund. Gott selbst als Existierender kann diese Möglichkeit nicht zukommen, es widerstrebt für Schelling als Prinzip der Güte seiner eigenen Natur.49 In analoger Weise verwirklichen sich im Menschen, als dem Gipfel der Naturgeschichte in Gott, gleichermaßen zwei elementare, sich widerstrebende Kräfte. Es sind die der Sehnsucht und die des Verstandes, entsprechend der menschlichen Existenz als Sinnes- und Geistwesen. Beide beschreibt Schelling ebenso als Willensduplizität, eines menschlichen Partikularwillens zum einen, und eines Universalwillens als göttlichem Verstand zum anderen.50 Ersterer, ursprünglich im Menschen angeregt von der sich verschließenden Kraft im Wesen Gottes, meint zunächst nicht einen konkreten Willensinhalt, sondern die Ausrichtung des menschlichen Willens auf sich selbst, als Egoität, als Selbstheit des Selbstverhältnisses des Subjekts. Der Partikularwille verfügt als solcher über eine relative Unabhängigkeit von Gott, aber auch ein inneres Moment der Unfreiheit oder Scheinfreiheit, sowie der Unreflektiertheit. Er erscheint als der reale, notwendig vorausliegende Gegenpol zum idealen Univer48  Vgl.

Schelling, Freiheitsschrift, 352–354. ideale Überwindung bzw. höhere Einheit dieser Konstellation erklärt Schelling mit »Gott als Geist (das ewige Band beider) [...] reinste Liebe [...].« Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 375. 50 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 352, 362f., 375. Vgl. Jantzen: Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, 86–88. Diese Doppelstruktur betrifft jedoch nicht nur den Menschen, sondern vielmehr jede kreatürliche Existenz. Vgl. Ulrich Barth: Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte in Schellings Freiheitsschrift, in: Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift. Hrsg. v. Christian Danz/Jörg Jantzen. Göttingen 2011, 169–184, hier 178f. 49  Die

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salwillen, als Freiheit. Die höhere lebendige Einheit dieser beiden, in welcher der Mensch sich von kreatürlicher Egoität zu einem Status erhebt, in dem er sich als sittliches Vernunft- und Geistwesen begreift und handelt, erblickt Schelling in dem »Band [der] Seele«.51 Die Möglichkeit des Bösen liegt nun in der Trennbarkeit dieses Bandes, in der Entfernung vom »Geist der Liebe« beziehungsweise in dem Drang des Einzelwillens sich zu verabsolutieren, und damit das Verhältnis, bloß Voraussetzung zum Universalwillen zu sein, zu verkehren.52 Die Wirklichkeit des Bösen hingegen, die Realisierung dieser Zertrennung, schreibt Schelling ausschließlich dem Menschen zu.53 Dies geschieht, wenn aus einem freien Akt der Selbstbestimmung die Ordnung der Kräfte oder höhere Willensbestimmung dem »Licht der Erkenntnis« nicht folgt. Hierin besteht auch einer der größten Unterschiede zur kantischen Morallehre: Die Freiheit und Autonomie des Subjekts bleibt auch dann gewahrt, oder zeigt sich gerade darin, dass diese sich dem Sittengesetz beziehungsweise der reinen Pflichtgesinnung widersetzen kann. Die Wirklichkeit des Bösen ist stets auf eine freie Tat zurückzuführen.54 Nach dieser kurzen Skizze von Schellings Überlegungen zeigt sich, dass der Gottesbegriff nicht dualistisch in Bezug auf das malum morale et physicum aufgefasst werden kann, noch als dessen Urheber. Auch wird der Begriff des Bösen nicht gleichermaßen verharmlost und abgeschwächt, oder als ein bloßer Modus des Guten charakterisiert. Ebenso wird gegen die theologische und philosophische Tradition eine Differenzierung von physischem und moralischem Übel verworfen, die 51  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 362, 364f., 375f. Vgl. Danz, Bemerkungen

zur Lessingrezeption in Schellings Freiheitsschrift, 148. Vgl. Robert Jan Berg: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schopenhauers und Schelling. Würzburg 2003, 278. Im Folgenden zitiert als »Berg, Objektiver Idealismus und Voluntarismus«. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 381: »Gottes Wille ist, alles zu universalisiren, zur Einheit mit dem Licht zu erheben, oder darin zu erhalten; der Wille des Grundes aber, alles zu particularisiren oder creatürlich zu machen. [...] Schon an sich scheint die Verbindung des allgemeinen Willens mit einem besondern Willen im Menschen ein Widerspruch, dessen Vereinigung schwer, wenn nicht unmöglich ist.« 52 Schelling, Freiheitsschrift, 364f. 53 Vgl. Siegbert Peetz: Zum Verhältnis von Freiheit und Wissensweise bei Schelling, in: Schellings Weg zu Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Hrsg. v. Hans Michael Baumgarten/Wilhelm G. Jacobs. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 187–201, hier 193. Im Folgenden zitiert als »Peetz, Zum Verhältnis von Freiheit und Wissensweise bei Schelling«. 54  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 381f., 392. Vgl. Berg, Objektiver Idealismus und Voluntarismus, 279f. Vgl. Annemarie Pieper: Die Wurzel des Bösen im Selbst, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hrsg. v. Ottfried Höffe/ dies. Berlin 1995, 93–110, hier 106.

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Möglichkeit zum Bösen stammt aus dem Grunde, welches beide Sphären gleichermaßen umfasst.55 Schellings origineller Entwurf lässt freilich noch gewichtige Fragen offen.56 Im Zusammenhang mit dem Streit um die göttlichen Dinge an der Münchner Akademie sind jedoch folgende beiden Punkte aus Sicht Schellings entscheidend: Erstens könne von der Aufhebung der Freiheit sowie einer Indifferenz von Gut und Böse auf Seiten Gottes wie des Menschen in seiner Philosophie keine Rede sein, die Fatalismus- und Atheismusanschuldigung sei somit unbegründet. Dies gelte gerade auch mit Blick auf das System Spinozas, welches nicht prinzipiell, jedoch insofern als fatalistisch einzustufen sei, als dass es von einem Willensdeterminismus geprägt ist.57 Zweitens stellen gerade die identitäts- bzw. naturphilosophischen Prinzipien die angemessene Voraussetzung eines personalen Gottesbegriffs im Kontext von Moralität und Freiheit bereit, um nicht – wie für Schelling etwa Jacobi – in Aporien der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, der Allmacht und Allgüte Gottes zu verfallen. Dies gilt insbesondere für das Prinzip des Grundes in Gott. Insofern sind, wie Schelling auch in diesem Zusammenhang gegen Jacobi betont, Theismus und ›Naturalismus‹ nicht zu trennen. Schelling formuliert das in der Denkmalschrift folgendermaßen: »Freylich mit den Begriffen eines schalen Theismus, der in Gott keine Unterscheidung zuläßt, der das Wesen, in dem alle Fülle wohnt, als ein schlechthin Einfaches – rein ausgeleertes, substanzloses, nur eben noch Fühlbares beschreibt, mit diesen Begriffen verträgt sich jene Vorstellung nicht.« »Diese verneinende, auf es selbst zurückgehende Kraft eines Wesens, ist die wahre Kraft der Persönlichkeit in ihm [...] bis er [sc. Jacobi] diese Identität in Gott selber begreift, [...], verlange er nicht, daß wir ihm auch nur einen Begriff von der Persönlichkeit Gottes zugestehen, und sein Reden von ihr für mehr als leeren Schall achten.«58 Diese gegensätzlichen Auffassungen zu Spinozismus, dem Verhältnis von Theismus und Naturalismus, sowie zur Persönlichkeit Gottes sollen

55  Vgl.

Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie, 496. Erörterung der Problemfelder der Konzeption Schellings vgl. Peetz, Zum Verhältnis von Freiheit und Wissensweise bei Schelling, 196–198. Vgl. Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie, 498–503. 57  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, 349. 58 Schelling, Denkmalschrift, 77, 99f.  Vgl. Kauttlis, Von ›Antinomien der Überzeugung‹, 28f. Vgl. auch Wenz: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, 92f. 56  Zur

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den Übergang zu einem Gesamtresümee der Positionen Jacobis und Schellings bilden. Sie sind wie gezeigt nicht als bloß graduelle Verschiedenheiten zu verstehen, sondern als prinzipielle Antagonismen ihres jeweiligen philosophischen Denkens.

3. Fazit der Plausibilität von Schellings Apologie seines ­Systems in der Denkmalschrift Seit der Freiheitsschrift von 1809 bis in die Jahre des Weltalter-Projekts konzipierte Schelling sein System in verschiedenen Kontexten mit seinem früheren naturphilosophischen Prinzip des Grundes, der als ewiger Anfang allem Bewusstsein und Sein, sowie dem Einheitsprinzip von Subjekt und Objekt vorausliegt. Erst daraus erschließen sich die Positionen zur Persönlichkeit Gottes sowie die Gestaltung einer Moralphilosophie in der Denkmalschrift aus der Perspektive Schellings. Dagegen sieht Schelling das Denken Jacobis nach klassischer Lesart in einer strikten Trennung von unmittelbarem Glauben und Wissenschaft. Diese gehe einher mit einer Entzweiung von unendlich-Göttlichem und endlich-Natürlichem, von Freiheit und Notwendigkeit. Weiter stünden einander ein den Menschen erhöhender Vernunftbegriff, und ein auf kausaltheoretischen Prinzipien beruhender, nichts als mechanistische Naturerkenntnis schaffender Verstandesbegriff gegenüber.59 Ob diese Darstellung Schellings eine angemessene Rezeption seines Kontrahenten darstellt, hat Jacobi nicht mehr beantwortet. Bekanntlich hat er nicht mehr öffentlich auf die Denkmalschrift reagiert. Schelling verweist in den diversen Kapiteln der Denkmalschrift mehrfach auf die Unkenntnis oder Nichtbeachtung Jacobis des Prinzips des Grundes in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 sowie der Freiheitsschrift, es muss als das wohl wichtigste Argument zur Verteidigung seines Systems interpretiert werden. Tatsächlich hat Jacobi, wie man einem unveröffentlichten Brief vom März 1815 entnehmen kann, 59 Vgl.

Schelling, Denkmalschrift, 51–58, 108–112. Vgl. insbesondere die Passagen aus den Göttlichen Dingen, auf welche Schelling dort u. a. rekurriert: Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811, 3–40. Vgl. 34f.: »Dem zeitlichen Wesen gehört der Verstand; dem außerzeitlichen die Vernunft. Der Verstand, isolirt, ist materialistisch und unvernünftig: er leugnet den Geist und Gott. Die Vernunft, isolirt, ist idealistisch und unverständig: sie leugnet die Natur und macht sich selbst zum Gott.« Vgl. Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie, 522f. Vgl. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Bd. 1. Tübingen 1997, 243–245.

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die Freiheitsschrift höchstwahrscheinlich erst nach 1811 rezipiert.60 Ob Jacobi sich durch eine frühere Lektüre von der Meinung über seinen Kontrahenten distanziert hätte, oder diese zumindest überdacht hätte, muss jedoch mehr als bezweifelt werden. Dies gilt erstens schon aufgrund der völlig anders gearteten Prämissen seines Theismus- und Naturverständnisses, und der Charakterisierung letzterer als einer amoralischen, ja beinahe widergöttlichen Größe.61 Zweitens hatte Jacobi im Jahr 1816, also nach der späten Rezeption der Freiheitsschrift, seine Abhandlung Von den göttlichen Dingen in der Sammlung seiner Werke neu herausgegeben.62 Dies tat Jacobi, wie er im Vorwort ausdrücklich gegen Schelling hervorhebt, ohne »Veränderung auch nur einer Sylbe in derselben.« Die Kritiken am Schellingschen System blieben bis an Jacobis Lebensende 1819 unverändert bestehen. Was den Vorwurf der prinzipiellen Amoralität, der Indifferenz bzw. Unbestimmbarkeit von Gut und Böse in Schellings Philosophie angeht, so hat dieser sich mit Recht dagegen verwehrt.63 Allerdings handelt es sich bei der Schellingschen Bestimmung von bonum und malum nicht um eine Unterscheidung im Sinne einer sittlichen Bewertbarkeit, die den Handlungsmaximen eines Subjekts zuzuschreiben ist. Jeder Einzelwille ist zunächst neutral zu betrachten, als besondere Darstellung des Allgemeinen, und soll wie angeführt in den höheren Universalwillen überwunden werden. Erst in diesem Verhältnis – oder Nicht-Verhältnis – erscheint er als gut oder böse. Das Subjekt soll in diesem Sinne aufgehoben werden, wie es Schelling auch im ersten Druck des 1. Weltalterbuches von 1811 erklärte: »Nur der Mensch bedarf der Befreyung, damit sein Wesen wieder sey,

60  Vgl. den

unveröffentlichten Brief Jacobis vom 26. März 1815 an C. Weiß aus dem Schelling-Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: »Die Darstellung der Schellingschen Religionsphilosophie in meinem Aufsatz ist wörtlich und mit der gewissenhaftesten Treue aus der Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit genommen, und zwar einzig und allein aus . Schelling hatte im Denkmal sich beschwert, daß ich von dieser Schrift keine Notiz genommen. Nun wird er von neuem schelten und heulen [...].« 61  Vgl. Jaeschke/Arndt, Die klassische deutsche Philosophie, 522f. 62  Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, in: ders.: Werke. Hrsg. v. Friedrich Roth/Friedrich Köppen. Bd. 3, Leipzig 1816, 245–460, hier 247f. 63  Jacobi hatte Schellings Schrift Philosophie und Religion aus dem Jahr 1804 auch nachweislich wahrgenommen. Vgl. die persönlichen Notizen und Anstreichungen in Jacobis Ausgabe von Philosophie und Religion, welche sich in seiner Privatbibliothek befand. Staatsbibliothek Berlin, Sign. Rara 8° Nq 1394.

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was es an sich ist, ein Blick der lautersten Gottheit, in welchem so wenig ein Subjekt oder Objekt unterschieden ist, als in ihr selber.«64 Weniger plausibel ist Schellings Verteidigung des identitätsphilosophischen Verhältnisses von realen und idealen Momenten, welches Jacobi unumschweiflich als Naturvergötterung charakterisierte, bzw. mit eigenen Worten folgendermaßen in zugespitzter Weise formulierte: »über der Natur sey Nichts, und die Natur allein sey«.65 Schellings Entgegnung, dass »die seyende abs. Identität, d. i. Gott als Subjekt, [gegenüber der nicht-seyenden – bloß objektiven Identität], ein Jenseits-, also wohl auch ein Außer- und Ueber- der Natur seyn muß«, leuchtet keineswegs unmittelbar ein. Bereits in der einschlägigen Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt von 1802 hatte Schelling erklärt, dass die Relation dieser beiden keinesfalls als ein untergeordnetes zu begreifen sei. Weiter sei jede Potenz einer Theorie der Natur für sich genommen in gleicher Dignität Darstellung des Absoluten.66 Es bleibt fraglich, ob der Naturbegriff als absolute objektive Identität gegenüber der subjektiven absoluten Identität Gottes sich bis 1812 als ein inferiores, oder in umgekehrter Weise superiores begreifen lässt. Dieses Urteil begründet die so oft artikulierte, unspezifische Spinozismusanklage Jacobis jedoch freilich nicht. Bei dieser fürchtete Schelling in der Denkmalschrift auch weniger um das Ansehen seines Systems. Denn erstens glaubte er diese mit den genannten Argumenten unmissverständlich widerlegen zu können. Zweitens hatte Schelling keine Einwände, seine Naturphilosophie in einen Zusammenhang mit den Lehren des niederländischen Gelehrten zu bringen, solange diese als durch das aktive Wechselverhältnis von idealen und realen Momenten gegenüber Spinoza, als lebendig und dynamisiert begriffen wird.67 Gravierender war der damit zusammenhängende Fatalismus- und vor allem Atheismusvorwurf, der nach Schelling im Denken Jacobis konsequent zusammengehört beziehungsweise einerlei sei.68 Die politischen Gefahren, welche von einer Atheismusanklage für eine akademische Karriere ausgehen, waren Schelling freilich seit den Ereignissen in 64 Schelling,

Die Weltalter Fragmente, 16. Denkmalschrift, 4. 66  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1859, Bd. 5, 106–124, hier 106f. 67 Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 9f. Vgl. Wilhelm Weischedel: Jacobi und Schelling. Eine philosophisch-theologische Kontroverse. Darmstadt 1969, 65. 68  Vgl. Schelling, Denkmalschrift, 36. 65 Schelling,

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Jena 1798/99 rund um Fichte und Friedrich Karl Forberg69 bekannt. Dies macht verständlich, warum Schelling in der Denkmalschrift – aller Unbedarftheit der Attacken gegen Jacobi zum Trotz - auf die Wichtigkeit einer Prävention atheistischen Gedankenguts an Universitäten oder öffentlichen Ämtern aufmerksam machte: »Mir scheint, das Publikum sollte ebendarum die Beschuldigung des Atheismus nie leicht nehmen, sondern ihr jedesmal die größte Aufmerksamkeit schenken, ja sie kann auf einen Punkt getrieben seyn, wo es selbst dem gemeinen Wesen nicht erlaubt ist, gleichgültig zu bleiben. Denn obwohl ein philosophischer Staat nie, auch entschiedne Gottesläugner verfolgen wird, (weil aller Glaubenszwang unvernünftig) so könnten doch nach meiner Ueberzeugung Menschen, welche mit dem Namen Gott nur Spiel und Betrug trieben, unmöglich öffent­ licher A ­ emter fähig gehalten werden [...].«70 Wie lang die Überzeugung Jacobis zurückreichte, dass es sich bei der Philosophie Schellings um Konzeptionen handle, welche en gros als pantheistisch und somit atheistisch einzustufen seien, zeigt ein Exemplar von Schellings Schrift Von der Weltseele von 1798 aus der Privatbibliothek Jacobis. Dort hatte Jacobi - in der 2. Auflage von 1806 - händisch bei einer Passage des Vorworts, welche die Welt als ein Hervorgehen aus dem Absoluten beschreibt, die Notiz »Welt = Natur = Gott« eingetragen.71 Umgekehrt findet man in der von Hegel und Schelling 1802 im Kritische[n] Journal für Philosophie herausgegebenen Abhandlung Glauben und Wissen diverse Polemiken gegen Jacobi. Diese lassen sich zusammenfassen in der dort vorgetragenen Überzeugung, dass Jacobi durch seine angebliche schlichte Entgegensetzung von Realem und Idealem an nichts als einer ungöttlichen Philosophie, einer bloß endlichen Vernunft interessiert sei.72 Der Streit der Systemantinomien konnte also auf eine beträchtliche Geschichte zurückblicken, auch wenn dieser erst gegen Lebensende Jacobis in seiner vollen Wirkung an die Öffentlichkeit drang. Schelling meinte diesen Kampf auf philosophischer Ebene schon im Voraus ge69 Vgl.

Christian Danz: Der Atheismusstreit um Fichte, in: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Hrsg. v. Georg Essen/ ders. Darmstadt 2012, 135–213, hier 135f., 203f. 70 Schelling, Denkmalschrift, 123. 71  Vgl. den editorischen Bericht zur Denkmalschrift in AA I, 18. 72  Jacobi bezog gleich im darauffolgenden Jahr dazu Stellung. Vgl. Friedrich Köppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts, nebst drey Briefen verwandten Inhalts Friedr. Heinr. Jacobi. Hamburg 1803, 222–224.

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wonnen zu haben, wenngleich er sich der zu erwartenden, möglichen politischen Konsequenzen an der Münchner Akademie nicht sicher sein konnte. So schrieb er bereits am 31. Jänner 1812 an seinen Verleger Cotta in überschwänglicher Manier: »Meine Schrift über Jacobi ist am 27. dieses [Monats] wie eine Bombe in die Stadt gefallen. Sie hat eine unglaubliche Sensation hervorgebracht; [...] Die Schrift ist zu wiederholten Malen in allen hiesigen Blättern angezeigt worden und wird reißend verkauft. Sie macht nicht bloß in der geschichtlichen Entwicklung meines Systems einen Abschnitt; sie hat auch mir eine Menge Freunde erworben und wird für meine äußere Lage, wie ich hoffe, anstatt nachtheilig, vielmehr vortheilhaft seyn.«73

73 

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849. Hrsg. v. Horst Fuhrmans/Liselotte Lohrer. Stuttgart 1965, 65.

II. SYSTEM UND SYSTEMKRITIK IN JOHANN GOTTLIEB FICHTES UND CARL LEONHARD REINHOLDS SPÄTPHILOSOPHIEN

Jürgen Stolzenberg Kants Freiheitstheorie und Fichtes Theorie des Verhältnisses von Absolutem und seiner Erscheinung in der späten ­Wissenschaftslehre Von göttlichen Dingen handelt die Philosophie Fichtes von ihren Anfängen an. In den frühen Aphorismen über Religion und Deismus 1 wird dem universalen Determinismus eines »rein deistischen Systems«,2 dessen erste Ursache der »Urgedanke der Gottheit«3 ist, die im individuellen Gebet zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf göttlichen Beistand und Vergebung der Sünden als ein Problem entgegenstellt, dass das deistische System »zerrüttet«.4 Der Versuch einer Kritik aller Offenbarung5 sucht, nach Fichtes Lektüre von Kants Kritik der praktischen Vernunft, die logische Möglichkeit göttlicher Offenbarung aus Prinzipien der praktischen Vernunft zu rechtfertigen. Seit dem Atheismusstreit ist von göttlichen Dingen in der Absicht auf die Begründung der Philosophie die Rede. Hier ist offenkundig Kants Theorie des sittlichen Selbstbewusstseins das Fundament, von dem aus die Rede von Gott eingeführt und gerechtfertigt wird. Dafür steht unter anderem der Fichtesche moraltheologische Imperativ: »Erzeuge nur in Dir die pflichtmäßige

1 

Johann Gottlieb Fichte: Einige Aphorismen über Religion und Deismus. Ein Fragment, in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. (ab 1970 hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky unter Mitwirkung verschiedener Autoren), Bd. II,1, 283–291. Im Folgenden zitiert als »Fichte, GA« mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 2  Fichte, GA II,1, 290. 3 Ebd. 4  Fichte, GA II,1, 291. 5  Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Critik aller Offenbarung. Königsberg 1792. 1. Auflage, in: Fichte, GA I,1, 15–123. Abweichungen und Zusätze der 2. Auflage in: Fichte, GA I,1, 125–161.

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Gesinnung, und Du wirst Gott erkennen«.6 Die Appellation an das Publikum zitiert aus Friedrich Heinrich Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza: »durch ein göttliches Leben wird man Gottes inne«.7 Das göttliche Leben ist in der Sicht Fichtes indessen ein moralisches Leben, und der Begriff Gottes wird, in Übereinstimmung mit dem, was im Dritten Buch der Bestimmung des Menschen mit Blick auf die kantische Idee eines reinen Willens ausgeführt wird, »bloß und lediglich [als] Regent der übersinnlichen Welt«8 gefasst. So koinzidiert Jacobis Wort vom Innesein Gottes in einem göttlichen Leben mit dem zitierten Imperativ Fichtes, der seinerseits auf Kants Theorie der Freiheit verweist. Fichtes Orientierung an Kants Philosophie der Freiheit gilt aber nicht nur für die Explikation des Gottesbegriffs der frühen und mittleren Phase. Sie liegt auch der späten Konzeption des Absoluten und seiner Erscheinung zugrunde. Der Titel des vorliegenden Beitrags formuliert die Hauptthese: Kants Theorie der Freiheit als Autonomie, genauer, Kants Beschreibung des sittlichen Selbstbewusstseins stellt das strukturlogische Modell dar, das nicht nur Fichtes Überlegungen zur Rationalität der Rede von Gott in der mittleren Phase, sondern auch noch seiner Spätphilosophie und der Idee vom Absoluten und seiner Erscheinung zugrunde liegt. Damit stimmt die Versicherung Fichtes überein, in seinen späten Texten nur die eine Grundeinsicht, die ihn zum Philosophen werden ließ, zur Klarheit gebracht zu haben. Die folgenden Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Im ersten Teil stelle ich fünf strukturelle Aspekte von Kants Theorie des sittlichen Selbstbewusstseins vor. In einem zweiten Teil zeige ich Fichtes Anschlussnahme an die kantische Theorie des sittlichen Selbstbewusstseins in der Schrift Die Bestimmung des Menschen. Sie führt mit dem Begriff Gottes eine neue, theologieaffine Terminologie ein. Ein dritter Teil widmet sich der Explikation des Grundprinzips der Fichteschen Spätphilosophie unter dem Titel des Absoluten und seiner Erscheinung. Auf diese Weise lässt sich zeigen, dass Fichtes späte Konzeption des Verhält6 

Johann Gottlieb Fichte: Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Jena/Leipzig 1799, in: Fichte, GA I,5, 409–453, hier 429. 7  Fichte, GA I,5, 448. In Friedrich Heinrich Jacobis Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn heißt es in der Beylage An den Herrn Moses Mendelssohn, über dessen mir zugeschickte Erinnerungen: »Geist meiner Religion ist also das: der Mensch wird, durch ein göttliches Leben, Gottes inne«, in: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke, Hamburg/Stuttgart-Bad Canstatt 1998ff., Bd. 1,1, 117. 8  Fichte, GA I,5, 437.

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nisses von Absolutem und seiner Erscheinung sich mit Blick auf seine wesentlichen strukturellen Momente in sachlicher Kontinuität mit der kantischen Freiheitstheorie hält und dem, was Fichte in der Bestimmung des Menschen entwickelt hat.

1. Zu Kants Theorie des sittlichen Selbstbewusstseins Kants Theorie des sittlichen Selbstbewusstseins operiert mit einem referenztheoretischen Modell. Es ist genauer das korrespondenztheoretische Modell der Beziehung eines Begriffs auf einen ihm entsprechenden Gegenstand. Der Begriff, der hier in Frage steht, ist die Idee der trans­ zendentalen Freiheit, die Kant unter anderem als »absolute Spontaneität der Handlung«,9 als ›spontaneitas absoluta actionum‹10 bzw. als die Fähigkeit fasst, »frei von mir selbst ohne alle Determination einer Ursache [zu] handeln«.11 Der ausgezeichnete Gegenstand, mit Bezug auf den der Begriff der transzendentalen Freiheit angewendet wird, ist das moralische Gesetz. Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes lässt sich als sittliches Selbstbewusstsein beschreiben. Es ist das Bewusstsein einer Person, dass sie in einer moralisch relevanten Situation auf eine von allen naturalen Neigungen Distanz nehmende und für alle Anderen in einer vergleichbaren Situation, und das heißt, streng allgemeingültigen Weise handeln soll. Da nur die menschliche Vernunft in der Lage ist, streng allgemeingültige Prinzipien aufzustellen, ist das sittliche Selbstbewusstsein eine Funktion dessen, was Kant reine praktische Vernunft nennt. Das ist der Gehalt der These Kants, dass »reine Vernunft […] für sich allen praktisch« ist und »(dem Menschen) ein allgemeines Gesetz [gibt], welches wir das Sittengesetz nennen«.12 Das ist zugleich der Gehalt des positiven Begriffs der Freiheit, der Freiheit als 9 

Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (begonnen). Berlin 1910ff. Im Folgenden zitiert als »Kant, AA« mit Angabe der Band- und Seitenzahl. Kants Kritik der reinen Vernunft wird als »Kant, KrV« nach der Paginierung der B-Auflage zitiert, hier B 476. 10  Kant, AA 28, 269: »Ich oder die Seele hat spontaneitatem absolutam actionum.« 11  Kant, AA 28, 268. Weiter heißt es: »Das Ich beweiset aber, dass ich selbst handele; ich bin ein Prinzip und kein principiatum; ich bin mir bewusst der Bestimmungen und Handlungen; und ein solches Subject, das sich seiner Bestimmungen und Handlungen bewusst ist, das hat libertatem absolutam. […] Sofern ich mir einer thätigen Handlung bewußt bin; so fern handele ich aus dem innern Princip der Thätigkeit nach freier Willkühr, ohne äußere Determination, nur dann habe ich spontaneitatem absolutam.« 12  Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant, AA V, 31.

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Autonomie. Es ist diejenige Freiheit, bei der nichts anderes als eine solche reine praktische Vernunft selber das Prinzip ist, das allen Absichten zu Handlungen zugrunde liegt. Der Gehalt des Begriffs des sittlichen Selbstbewusstseins lässt sich somit dahingehend beschreiben, dass das Prinzip einer reinen praktischen Vernunft sich in der Form des moralischen Gesetzes konkretisiert und von dem Subjekt des Bewusstseins für sein Handeln als verbindlich anerkannt wird. Daher lässt sich sagen, dass der Begriff der Freiheit durch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes seine objektive Realität erhält – so lautet Kants Formulierung.13 So viel zum ersten, referenztheoretischen Aspekt. Den zweiten Aspekt möchte ich den selbstreferenziellen Aspekt nennen. Hier kommt der Begriff des Willens ins Spiel. Er ist Kant zufolge mit dem Begriff der praktischen Vernunft gleichzusetzen. Die Freiheit als Autonomie ist dann als eine Eigenschaft des Willens zu verstehen. Freiheit, so führt Kant denn auch aus, ist »die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst ein Gesetz ist«.14 In einer rhetorischen Frage formuliert: »Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?«15 Was mit dieser selbstreferenziellen Formulierung, der Formulierung also, dass der Wille sich selbst ein Gesetz ist, gemeint ist, ist wie folgt zu verstehen. Auszugehen ist davon, dass Kant mit dem Begriff des Willens im Unterschied zu einem bloßen Begehren definitorisch immer auch das Moment der Rationalität verbindet. Über einen Willen zu verfügen, heißt, seine praktischen Intentionen nach allgemeinen Prinzipien oder Regeln auszurichten, die ihren Ursprung in der menschlichen Vernunft haben. Solche Regeln haben bekanntlich eine doppelte Funktion. Sie können dazu dienen, bestimmte materiale Zwecke, die im Bereich der Erfahrung gegeben sind, zu realisieren. Das sind die von Kant sogenannten technisch-praktischen Regeln. Der Gedanke eines universalen Prinzips kann aber auch selber zu dem alleinigen Zweck 13  Unter Verweis

auf das in der Anmerkung zu § 7 der Kritik der praktischen Vernunft eingeführte Faktum-Theorem führt Kant aus: »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist […]. Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch keine Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen […] werden« (Kant, AA V, 47, vgl. 48). Vgl. auch Kant, AA V, 3f. 14  Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant, AA IV, 385–463, hier 446. 15  Kant, AA IV, 446f.

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gemacht werden, der realisiert werden soll. Ist dies der Fall, dann liegt dem die Funktion eines rein vernünftigen oder eines reinen Willens zugrunde. Derjenige Wille ist somit ein reiner Wille, der nicht materiale Inhalte, sondern nur seine eigene gesetzesförmige Verfassung zum alleinigen Grund und Zweck aller intendierten Handlungen macht. Ein solcher Wille ist ein freier Wille im positiven Sinn. Er ist ein freier und insofern auch ein autonomer Wille, als er nur seine eigene, ihn wesentlich charakterisierende Rationalität zu seinem alleinigen Bestimmungsgrund macht. Genau das ist mit der These Kants gemeint, dass die Freiheit des Willens als Autonomie in der Eigenschaft besteht, dass der Wille sich selbst ein Gesetz ist. Diesen Sachverhalt hat Kant als Selbstbewusstsein einer reinen praktischen Vernunft bezeichnet.16 Das ist der Gehalt des zweiten, selbstreferenziellen Aspekts. Den dritten Aspekt nenne ich den modalen Aspekt. Er bezieht sich auf Kants bekannte These, dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ein Faktum der Vernunft ist.17 Ohne in die Diskussion der Probleme der Kant-Interpretation eintreten zu müssen, lässt sich soviel sagen, dass mit dem Faktumstheorem der Gedanke verbunden ist, dass das sittliche Selbstbewusstsein nicht aus dem Begriff der Freiheit logisch abgeleitet werden kann. Das ist deswegen nicht möglich, weil Freiheit kein Begriff ist, der sich auf einen Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis bezieht. Im Rahmen der kantischen Erkenntnistheorie kann er aber auch nicht als Gehalt einer intellektuellen Anschauung gelten, die die Existenz ihres Gegenstandes erzeugt. Daher ist das sittliche Selbstbewusstsein bzw. das Bewusstsein des Grundgesetzes einer reinen praktischen 16 

Kant, AA V, 29. Diesen Terminus führt Kant im genannten Kontext nur erst problematisch ein. Der Sache nach beschreibt er zutreffend das Selbstverhältnis einer reinen praktischen Vernunft, das dem Konzept der Freiheit als Autonomie zugrundeliegt. Vgl. näher hierzu und zum Verhältnis Kant-Fichte v. Verf.: Das Selbstbewusstsein einer reinen praktischen Vernunft. Zu den Grundlagen von Kants und Fichtes Theorien des sittlichen Bewußtseins, in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegelkongreß 1987. Hrsg. v. Dieter Henrich/Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart 1988, 181–208. 17  Kant, AA V, 31: »Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewusstsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben) herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken, dass es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt.«

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Vernunft zwar die Darstellung des Begriffs der Freiheit, als solches ist es aber zugleich ein unbedingter, logisch unableitbarer und insofern unmittelbar präsenter Sachverhalt. Das ist die Bedeutung der Rede Kants, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes ein Faktum der Vernunft sei, das man »als gegeben«18 ansehen muss. Der vierte Aspekt ist damit aufs engste verbunden. Ich nenne ihn den begründungslogischen Aspekt. Kant unterscheidet bekanntlich zwischen ratio essendi und ratio cognoscendi, und hier lautet die These: Die Freiheit ist die ratio essendi des moralischen Gesetzes, während das moralische Gesetz die ratio cognoscendi der Freiheit ist.19 Das Argument ergibt sich wiederum aus dem eben Gesagten. Weil Freiheit kein unmittelbar gegebener Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis ist, ist es nur das moralische Gesetz, von dem ein unmittelbares Bewusstsein vorliegt, »sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen«.20 Aufgrund der Tatsache, dass das sittliche Selbstbewusstsein von allen natürlichen Neigungen frei ist und durch ein reines Vernunftgesetz bestimmt wird, kann von ihm aus auf den Begriff der Freiheit geschlossen werden. Also ist das moralische Gesetz der Erkenntnisgrund, die ratio cognoscendi, der Freiheit. Umgekehrt ist die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes, denn ohne die Freiheit wäre dieses gar nicht existent. Freiheit ist somit der Realgrund, die ratio essendi, des moralischen Gesetzes. Nimmt man den selbstreferentiellen, den modalen und den begründungslogischen Aspekt zusammen, dann kommt eine Eigentümlichkeit des sittlichen Selbstbewusstseins in den Blick, die ich den epistemologischen Aspekt nennen möchte. Die Funktion einer reinen praktischen Vernunft bzw. der Begriff der Freiheit als Autonomie erlauben es zwar, das soeben erläuterte begründungslogische Verhältnis von Freiheit und moralischem Gesetz als Verhältnis einer wechselseitigen Implikation – »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz«, so drückt es Kant aus, »weisen […] wechselsweise aufeinander zurück«21 – zu verstehen. Dieses Begründungsverhältnis kann aber nicht als Beschreibung des Zustandekommens des epistemologischen Verhältnisses verstanden beziehungsweise mit ihm identifiziert werden. Das heißt, es kann nicht von dem Begriff der Freiheit ausgegangen und von ihm aus auf die Möglichkeit der Erkenntnis des ihm korrespondierenden Gegenstandes, welches das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ist, geschlos18 

Kant, AA V, 31 (Hvh. i. O.). Kant, AA V, 4, Anm. 20  Kant, AA V, 29. 21 Ebd. 19  Vgl.

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sen werden. Der Grund ist eben genannt worden: Die Vernunftidee der Freiheit ist kein Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis, und eine intellektuelle Anschauung, die ihren Gegenstand als Gegenstand einer objektiv gültigen Erkenntnis hervorbringen könnte, ist aus erkenntniskritischen Gründen auszuschließen. Die Frage, wie »das Bewusstsein jenes moralischen Gesetzes möglich«22 ist, kann daher nur unter Verweis auf das Bewusstsein der unbedingten Gültigkeit und Notwendigkeit einer moralischen Verpflichtung beantwortet werden, das aufgrund der darin enthaltenen Distanznahme von allen naturalen Neigungen »gerade auf den Begriff der Freiheit führt«.23 Es ist nun im Folgenden zeigen, dass die beschriebenen fünf Aspekte das strukturlogische Modell ausmachen, das Fichtes Konzept eines ursprünglich praktischen Selbstbewusstseins zugrunde liegt. Davon ausgehend lässt sich zeigen, dass dies das strukturlogische Modell ist, das, unangesehen aller terminologischen Variationen, auch noch dem Grundprinzip der Spätphilosophie Fichtes zugrunde liegt.

2. Fichtes Theorie eines reinen Willens in der Bestimmung des Menschen In dieser Absicht wende ich mich zunächst dem Dritten Buch der Bestimmung des Menschen zu.24 Dafür sprechen zwei Gründe: Zum einen die Nähe zu Kants Theorie der Freiheit als Autonomie, zum anderen die in der Forschung vertretene These des hier bereits eingeleiteten Übergangs zur Konzeption der Spätphilosophie Fichtes. Was es damit auf sich hat, wird sich zeigen. Fichtes Ausführungen im Dritten Buch der Bestimmung des Menschen gewinnen ihr systematisches Gewicht aus der Betonung des Bewusstseins einer unbedingten praktischen Spontaneität, die der Bildung von Zweckbegriffen zugrunde liegt.25 Fichte nennt sie einen »Trieb zu absoluter, unabhängiger Selbstthätigkeit«.26 Im Kontext der Fichteschen Theorie der Subjektivität kommt dem eine besondere systematische Funktion zu. Es ist das logisch erste reale Prädikat, das das Subjekt sich 22 

Kant, AA V, 30.

23 Ebd. 24 

Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: Fichte, GA I,6, 145–309, Drittes Buch: 253–309. 25  Fichte, GA I,6, 254. 26 Ebd.

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als seine wesentliche Qualität zuschreibt. Dieser Sachverhalt wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass dieses Prädikat nicht nur, wie es im Text heißt, »unzertrennlich […] mit dem Bewusstsein meiner selbst [vereinigt] ist«,27 sondern dass es, nach der ›niederschmetternden‹28 Einsicht am Ende des Zweiten Buchs der Bestimmung des Menschen in die bloße Idealität einer Welt von Vorstellungen, zu der auch das sich selbst denkende Ich gehört, nun, am Beginn des Dritten Buchs, mit einiger Emphase als diejenige Qualität charakterisiert wird, durch die das Subjekt des Bewusstseins allererst eine inhaltlich bestimmte Vorstellung von seiner Wirklichkeit gewinnt. »Hier«, so Fichte, » […] liegt der Punkt, an welchen das Bewusstsein aller Realität sich anknüpft«.29 Der Satz ›Ich weiß unmittelbar, dass ich auf eine schlechthin unbedingte Weise tätig sein soll‹ – mit der Formulierung Fichtes: »Ich soll […] als ein schlechthin selbstständiges Wesen handeln«, oder mit einem Wort: »Ich soll selbstständig sein«30 –, dieser Satz, so ließe sich sagen, ist der Satz des unmittelbaren praktischen Selbstbewusstseins, das sich auf diese Weise als etwas Wirkliches begreift. Davon geht Fichte aus, und um die Analyse der Implikationen dieses Sachverhalts geht es. Diese Analyse bezieht sich im weiteren Verlauf nun nicht auf bestimmte Zweckbegriffe, die entworfen werden und durch Handlungen realisiert werden sollen. Der Fokus wird vielmehr auf die Form der Unbedingtheit jenes praktischen Selbstbewussteins gelegt und sodann auf die Fähigkeit des Subjekts, diese Form der Unbedingtheit zum universalen Prinzip und Zweck aller Handlungen zu machen. Auf diese Weise, so führt Fichte aus, wird die Form der Unbedingtheit als ein Gesetz für alle konkreten Handlungen begriffen.31 In demselben Kontext findet sich für diesen Sachverhalt der Begriff einer reinen praktischen Vernunft eingeführt, die von allen empirischen Gehalten unabhängig ist, und die nur ihre eigene Form der Unbedingtheit zu einem universalen Gesetz für Handlungen – »ein[em] Gesetz einer geistigen Welt«32 – macht. Die Nähe zu Kants Konzept einer freien Vernunfttätigkeit, der eingangs genannten »absolute[n] Spontaneität der Handlung«,33 der »spontaneitas absoluta im transscendentalen Verstande«34 und ihrer 27 Ebd. 28  Vgl.

Fichte, GA I,6, 253. Fichte, GA I,6, 255. 30  Fichte, GA I,6, 254 (Hvh.i.O.). 31  Fichte, GA I,6, 289. 32  Fichte, GA I,6, 290. 33  Kant, KrV, B 476. 34  Kant, AA, 28, 268. 29 

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Darstellung in Form eines universalen praktischen Gesetzes für konkrete Handlungen ist offensichtlich. Und unter Bezug auf Kants Unterscheidung einer intelligiblen und einer phänomenalen Welt ordnet Fichte den Begriff eines reinen bzw. eines rein vernünftigen Willens, der mit dem einer reinen praktischen Vernunft identifiziert wird, denn auch einer »übersinnliche[n] Ordnung«35 zu. Fichtes sachlicher Anschluss an Kant lässt sich anhand eines pointierten Kommentars Kants in einem Brief an Kiesewetter aus dem Jahre 1790 noch einmal genauer verdeutlichen.36 Hier geht Kant von dem »transscendentalen Begriff der Caussalität eines Weltwesen überhaupt«37 aus. Er bezeichnet »die Möglichkeit der Freiheit«, sofern »sie vor dem moralischen Gesetz betrachtet wird«.38 Eben dieser Begriff einer transzendentalen Freiheit liegt der Fichteschen Idee einer unbedingten, das heißt, von allen empirischen Bestimmungsgründen unabhängigen praktischen Vernunft bzw. jenes rein vernünftigen Willens zugrunde. Kant fährt folgendermaßen fort: »Nun wird durchs moralische Gesetz jene transzendentale Idee realisiert und an dem Willen, einer Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen), gegeben, weil das moralische Gesetz keine Bestimmungsgründe aus der Natur zulässt und der Begriff der Freyheit, als Caussalität, wird bejahend erkannt, welcher ohne einen Cirkel zu begehen, mit dem moralischen Bestimmungsgrunde reciprocabel ist«.39 Kants Kommentar formuliert die These, dass der positive Begriff der Freiheit, der Freiheit als Autonomie, hinsichtlich der Möglichkeit seiner Realität dadurch zu begreifen ist, dass die transzendentale Idee der Freiheit in der Form eines universalen Gesetzes, und das heißt, in der Form des moralisches Gesetzes, als Eigenschaft des menschlichen Willens erscheint. Indem der transzendentale Begriff der Freiheit, wie Kant schreibt, »bejahend erkannt« wird, erhält er objektive Realität. Dieser Sachverhalt stimmt offensichtlich mit der Fichteschen These überein, dass jenes »Gesetz der geistigen Welt«, das Fichte denn auch das »eigentliche Gesetz der Vernunft«40 nennt, als Instanz der objekti35  Fichte,

GA I,6, 286; vgl. Fichte, GA I,6, 284: »Ich bin Glied zweier Ordnungen; einer rein geistigen […] und einer sinnlichen.« 36  Zum Folgenden vgl. Kants Brief an Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter vom 20. April 1790, in: Kant, AA 11, 153–155. 37  Kant, AA 11, 155. 38  Kant, AA 11, 154f. 39  Kant, AA 11, 155. 40  Fichte, GA I,6, 295: »Aber das eigentliche Gesetz der Vernunft an sich, ist nur das praktische Gesetz, das Gesetz der übersinnlichen Welt.«

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ven Realität jenes rein vernünftigen Willens begriffen und zugleich als oberstes Prinzip aller konkreten Handlungen in der Welt der Erfahrung anerkannt wird. Mit diesem, oben an erster Stelle genannten referenztheoretischen Aspekt ist der zweite, selbstreferenzielle Aspekt direkt verbunden. Ist nämlich das Gesetz der Vernunft nur der Ausdruck der Instanziierung der unbedingten Kausalität der Freiheit mit Bezug auf Absichten zu Handlungen, dann folgt daraus, dass die auch von Fichte so genannte reine praktische Vernunft sich in der Beziehung auf das ›eigentliche Gesetz der Vernunft‹ nur auf ihre eigene wesentliche Qualität bezieht und auf diese Weise sich selbst objektiv wird, eben weil der Gehalt dieses Gesetzes nur in der Form der Allgemeinheit besteht, die im Begriff einer reinen praktischen Vernunft enthalten ist. Der dritte, modale Aspekt, dem die These von der logischen Unableitbarkeit des Bewusstseins des moralischen Gesetzes entspricht, ist in Fichtes diesbezüglicher Verwendung des Ausdrucks »Tatsache«41 präsent sowie in dem Verweis auf ein Gefühl des Sollens,42 in dem beziehungsweise als das der unbedingte Charakter jenes Vernunftgesetzes erlebt wird, das deswegen ein unableitbares Vernunftgefühl genannt werden kann. Der vierte, begründungslogische Aspekt, das Verhältnis von ratio ­cognoscendi und ratio essendi, ist im Zusammenhang der Bestimmung des Menschen zentral. Mit Nachdruck wird die These betont, dass allein das Bewusstsein des unbedingten praktischen Gesetzes die Annahme der Existenz eines reinen, freien Willens begründet, der sich, auch das findet eine breite Ausführung, in dem durch das Gesetz der Vernunft bestimmten Bewusstsein der Pflicht darstellt und objektiviert. »Die geistige Welt [neigt] sich zu mir herab«43, so lautet die von Fichte unter Anspielung auf Kants Rede von der intelligiblen und phänomenalen Welt für die populäre Darstellung gewählte metaphorische, die logischen Verhältnisse verwischende Beschreibung des Verhältnisses der ratio essendi, während die Formulierung » [ich] erhebe […] mich selbst in diese Welt«44 begründungslogisch dem Verhältnis der ratio cognoscen-

41  Fichte, GA I,6, 286: »Dass das gesetzmäßige Wollen schlechthin um sein selbst willen gefordert werde – eine Kenntnis, die ich nur als Thatsache in meinem Innern finden […] kann …« 42  Fichte, GA I,6, 265: »Ich soll schlechthin etwas thun, damit es geschehe; etwas unterlassen, damit es unterbleibe.« 43  Fichte, GA I,6, 293. 44 Ebd.

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di entspricht. Damit dürfte deutlich geworden sein, dass die Fichtesche Freiheitstheorie, so populär und rhetorisch überhöht sie vorgetragen sein mag, in ihrem systematischen Kern mit der kantischen Theorie der Freiheit und der Beschreibung des sittlichen Selbstbewusstseins übereinkommt.

3. Ein Einwand Dieser Einschätzung steht ein Einwand entgegen. Er weist darauf hin, dass Fichte in den Schriften aus der Zeit des Atheismusstreits, und eben auch in der Bestimmung des Menschen, mit Emphase den Begriff Gottes bzw. die Rede vom »Reich Gottes«45 und vom »Glauben an eine übersinnliche, ewige Welt«46 einführt. Das hat in der Fichte-Forschung zu der These geführt, dass auf diese Weise eine »Philosophie des Absoluten mit entschieden religiösem Charakter«47 vorbereitet werde, die in der Spätphilosophie Fichtes zur Ausführung gekommen sei. Damit, so der Einwand, werde schon in der Bestimmung des Menschen der Rahmen von Kants Freiheitstheorie eindeutig verlassen. Diese These verkennt die wahre Sachlage. Die übersinnliche Welt, von der Fichte, übrigens nicht nur in der Bestimmung des Menschen, spricht, ist eine moralische Welt, eine Welt unter Gesetzen der Freiheit. Der Ausdruck Glaube hat daher keine spezifisch religiöse Bedeutung. Er bezeichnet nur den epistemischen Status jener faktischen Evidenz, dem das praktische Selbstbewusstsein entspricht, auf unbedingte, von allen empirisch wahrnehmbaren Gehalten unabhängige Weise handeln zu sollen.48 Der Begriff Gottes nun erweist sich als identisch mit der Annahme der Existenz eines rein-vernünftigen und absolut freien Willens: Als »Regent der übersinnlichen Welt«49 hat Fichte, wie eingangs erwähnt, diesen Willen in der Appellation an das Publikum aus dem Jahre 1799 bezeichnet und sodann mit dem Begriff Gottes identifiziert. Das ist der 45 

Fichte, GA I,6, 288. Fichte, GA I,6, 286. 47  Luigi Pareyson: Fichte – Il sistema della libertà. Milan 21976, 406. Vgl. auch Ives Radrizzani: Die Bestimmung des Menschen: der Wendepunkt zur Spätphilosophie?, in: Die Spätphilosophie J.G. Fichtes. Fichte-Studien, Bd. 17 (2000), 19–42. 48  Für die Einführung der Begriffe Glaube und Gott dürfte die Fichte-Kritik Jacobis der motivierende Hintergrund sein. Vgl. hierzu Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000.  49  Fichte, GA I,5, 437. 46 

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Gott Fichtes. Fichtes Gott ist somit nichts anderes als ein aus strategischen Gründen, mit Blick auf zeitgenössische Diskussionen gewählter Ausdruck für das Prinzip jener von Kant sogenannten spontaneitas absoluta, das zugleich das Prinzip einer nach universalen Vernunftgesetzen verfassten, in sich kohärenten Weltordnung ist, und es sind offenbar allein die Prädikate der Unbedingtheit und des Übersinnlichen sowie der damit verbundene Gedanke der unbedingten Wirklichkeit des Prinzips dieser Ordnung, die die Verwendung des Prädikats des Göttlichen rechtfertigen.

4. Zur Spätphilosophie Fichtes Und das gilt auch für den Gott der Spätphilosophie Fichtes. Hier, wie in der Wissenschaftslehre von 1804,50 wird der Begriff Gottes als eine unbedingte, sich selbst als etwas invariant Wirkliches realisierende Aktivität, als ein »actus« bzw. ein »esse in mero actu«,51 als Einheit von Sein und Leben gefasst. Mit dieser Konjunktion und der Verwendung des Ausdrucks Leben wird aber nur der Charakter eines höchsten unbedingten, sich aus sich selbst begründenden aktuosen Vernunftprinzips zum Ausdruck gebracht, das in derselben Funktion in früheren Texten, und auch in der Bestimmung des Menschen, durch den Begriff eines reinen und freien Willens bezeichnet worden war. Geht man den weiteren diesbezüglichen Ausführungen Fichtes genauer nach, dann bestätigt sich, unangesehen aller terminologischen Variationen und Unterschieden der systematischen Anlage der Argumentation, die These von der Kontinuität eines strukturellen Sachzusammenhangs, dessen Kern die Grundlegung einer Philosophie der Freiheit ist, die ihr Modell in Kants Philosophie der Freiheit hat. Das lässt sich in Form einer notgedrungen doxographischen Übersicht wie folgt zeigen. Wenn Fichte in den späten Wissenschaftslehren den vermutlich an Jacobi adressierten Begriff des Seins bzw. den wohl kritisch gegen Schelling gemünzten Begriff des Absoluten verwendet und von dem Bild bzw. der Erscheinung des Seins bzw. des Absoluten spricht,52 dann ist damit der 50 

Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre. II. Vortrag im Jahre 1804, in: Fichte, GA II,8, 1–421. 51  Fichte, GA II,8, 229. Zur Verwendung des Ausdrucks Gott in der Wissenschaftslehre von 1804 vgl. Fichte, GA II,8, 258. 52  Vgl. Fichte, GA II,8, 258. Die Wissenschaftslehre von 1812, um nur diese Fassung hier zu nennen, verwendet durchgängig die Ausdrücke Sein bzw. Absolutes und Bild

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Gedanke der Darstellung in der Sphäre und unter den logischen Bedingungen des Wissens gemeint, in der das so genannte Absolute, mit dem nichts anderes als jene reine, sich selbst realisierende Vernunfttätigkeit gemeint ist, zu einem begrifflich bestimmbaren Gegenstand wird, und in der es eine objektive Realität für das Wissens erhält. Das entspricht dem oben genannten ersten, referenztheoretischen Aspekt. Die daran anschließende Aussage, dass die Erscheinung sich selbst erscheint und darin nur das Absolute in der Form des Wissens erscheint, ist als Reformulierung des zweiten, selbstreferenziellen Aspekts zu verstehen.53 Eine weitere zentrale These der Fichteschen Spätphilosophie ist es, dass die Erscheinung aus der Verfassung des Absoluten analytisch nicht abgeleitet werden kann, sondern formal als ein Faktum, als ein »hiatus irrationalis«,54 begriffen werden muss. Dem entspricht der dritte, modale Aspekt. Und schließlich verweist die Formulierung, dass die Erscheinung sich selbst als Erscheinung und Bild des Absoluten begreift,55 auf das Begründungsverhältnis der ratio cognoscendi, während die Auskunft, dass die Erscheinung »bloße[s] Accidenz des Absoluten«56 ist und die Grundlage ihrer Existenz somit in dem Absoluten selber besteht, dem inversen Verhältnis der ratio essendi entspricht. Der These, dass die Erscheinung des Absoluten aus dem Begriff des Absoluten logisch nicht direkt abgeleitet werden kann – dies vor allem ist das Thema des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1804 –,57 entspricht die erkenntniskritische Einsicht, dass eine Erkenntnis des Absoluten als solchen nicht möglich ist, sondern dass es nur im Ausgang von seiner Erscheinung erschlossen werden kann.

4.1. Ein zweiter Einwand Hier liegt noch einmal ein Einwand nahe. Er macht darauf aufmerksam, dass die späte Wissenschaftslehre, genauer, die Wissenschaftslehre in den Fassungen ab 1801/02, doch von einem absoluten Wissen spricht und eine Theorie der Bedingungen dieses Wissens entwickelt, was gar nicht Gebzw. Erscheinung, vgl.: Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1812, in: Fichte, GA II,13, 35–179, hier 56–179. 53  Vgl. Fichte, GA II,13, 68. 54  Fichte, GA II,8, 248. 55  Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre [1813], in: Fichte, GA II,15, 149: Das Erscheinen »versteht sich als Bild des absoluten.« 56  Fichte, GA II,15, 136. 57  Vgl. dazu unten.

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genstand einer praktischen Philosophie sein kann. Damit wird auch das Verhältnis zur kantischen Freiheitstheorie obsolet. Die Antwort auf diesen Einwand lautet, dass das in der Orientierung an Kant beschriebene Freiheitsbewusstsein das theoretische Modell für den Sachverhalt darstellt, den Fichte als absolutes Wissen bezeichnet, und von dem aus auch das Verhältnis zu dem Gott genannten absoluten Sein verständlich wird. Um dies zu zeigen, ist in einem ersten Schritt noch einmal von dem ersten, referenztheoretischen Aspekt auszugehen. Er formuliert das Kriterium, unter dem von der Wahrheit eines Gedankens gesprochen werden kann. Ein Gedanke, der in einem Urteil ausgedrückt wird, ist dann wahr, wenn er sich auf eine ihm entsprechende Tatsache bezieht. Hierbei gilt, dass Tatsachen zwar nur durch Gedanken erfasst werden können, dass eine Tatsache aber unabhängig von unserem Denken als das, was sie ist, existiert. In einer nicht sprachphilosophischen, sondern bewusstseinstheoretischen Orientierung ist der Akt des Denkens, der einem wahren Urteil zugrunde liegt, eine Funktion des Bewusstseins, die ein Wissen begründet, dass etwas der Fall ist, und das, was der Fall ist, ist eine Tatsache. Wissen, dass etwas der Fall ist, schließt, anders ausgedrückt, ein veritatives Sein ein. Im Unterschied zum Meinen, Glauben oder Vermuten ist Wissen ein epistemischer Sachverhalt, der, so drückt es Fichte denn auch aus, durch ein »absolutes Bestehen«, eine »Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit des Vorstellens«58 charakterisiert ist. Als damit gleichbedeutend führt Fichte den Ausdruck Sein oder ruhendes Sein ein.59 Daraus wird die leicht missverständliche Verwendung des Prädikats der Absolutheit mit Bezug auf den Begriff des Wissens verständlich. Damit soll kein übermenschlich-metaphysisches Wissen, sondern allein der analytisch isolierte Charakter der von allem subjektiven Vorstellen unabhängigen, invarianten objektiven Gültigkeit alles wahren Wissens zum Ausdruck gebracht werden. Hierbei stehen bestimmte Tatsachen, von denen etwas gewusst wird, nicht im Blick. Fichtes Thema ist somit das Eidos Wissen. Es ist von dem »Wissen von etwas«60 logisch zu unterscheiden. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ergibt sich aus der Frage, wie ein solches Wissen entsteht. Ein Wissen, dem ein Sein in dem beschriebenen Sinn zukommt, ist, wie alles konkrete, bestimmte Wissen, nicht etwas, auf das wie auf einen real gegebenen Gegenstand nur hinzuweisen wäre, das nur aufzuneh58 

Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02, in: Fichte, GA II,6, 107–324, hier 140. 59  Vgl. Fichte, GA II,6, 147. 60  Fichte, GA II,6, 145.

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men und zu beschreiben wäre und das in diesem Sinne absolut genannt werden könnte. Das Wissen, dem ein Sein in dem skizzierten Sinn als wesentlicher Charakter zukommt, verdankt sich vielmehr einer mentalen Aktivität, die ihrerseits nicht durch etwas Gegebenes bedingt ist. Das so verstandene Wissen ist daher ein frei erzeugtes Wissen. Komplementär zur Qualität Sein verwendet Fichte für diesen Charakter des Wissens daher den Ausdruck Freiheit.61 Der folgende dritte Schritt ergibt sich aus dem Vergleich des logischen Status‘ beider Charaktere. Der Charakter des Seins kann nicht durch das Wissen erzeugt sein. Das ist deswegen nicht möglich, weil der Charakter des Seins gerade darin besteht, dass das, was durch ihn bestimmt ist, auch unabhängig davon, dass etwas gewusst wird, existiert. Das kann man den realistischen Aspekt nennen, der mit dem Begriff des absoluten Wissens verbunden ist. Als Wissen vom Sein weiß das Wissen aber auch, dass es das Sein nicht selber erzeugt hat, sondern, sofern es Wissen ist, nur über eine Vorstellung von ihm verfügt. Das ist der idealistische Aspekt zu nennen. Fichte bezeichnet das Wissen vom Sein daher als »Vorstellung [...] oder Bewusstseyn des Seins«,62 oder, wie erwähnt, als Erscheinung oder Bild des Seins. Das Wissen begreift sich, anders gesagt, als eine epistemische Instanz, die nicht das Sein selbst, sondern nur seine Darstellung erzeugt, die eine Darstellung im Modus des Wissens ist. Damit verfügt es über ein Wissen von seinem Wesen. Mit Fichte ließe sich sagen, dass es damit sich selbst, und zwar als Bild des Seins erscheint. Der letzte und entscheidende Schritt dieser Argumentation lautet wie folgt: Da das Wissen weiß, dass es sich auf ein Sein bezieht, das es als solches nicht erzeugt hat, und da es von ihm auch weiß, dass dieses unabhängig von seiner wissenden Beziehung auf es existiert, muss es sich die Existenz des Seins voraussetzen. Das absolute Wissen ist daher die ratio cognoscendi der Existenz des Seins. Da aber ohne die Existenz des Seins kein Wissen von ihm möglich wäre, ist das Sein die ratio essendi des Wissens vom Sein. Es ist deutlich, dass auf diese Weise das oben skizzierte Verhältnis des Absoluten und seiner Erscheinung im Modus eines absoluten Wissens, das sich selbst als Bild des Absoluten erscheint, nunmehr aus der Pers­

61  Vgl.

Fichte, GA II,6, 147. Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisungen zum seeligen Leben, oder auch die Religionslehre, in: Fichte, GA I,9, 1–212, hier 88. 62 

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pektive dessen, was Fichte absolutes Wissen nennt, rekonstruiert worden ist.63 Der strukturlogische Zusammenhang zwischen den Grundbestimmungen der kantischen Freiheitstheorie und ihrer Fichteschen Interpretation im Kontext seiner Theorie eines absoluten Wissens und des mit ihr verbundenen Begriffs eines absoluten Seins ist dann wie folgt zu verstehen. Fichte beschreibt das absolute Sein, wie erwähnt, als Einheit von Sein und Leben. Damit gibt er dem Gedanken von etwas Wirklichem, das durch den Vollzug eines unbedingten Aktes der Vernunft hervorgebracht wird, einen begrifflichen Ausdruck. Das ist Fichtes späte Interpretation des kantischen Begriffs einer transzendentalen Freiheit als einer ›absoluten Spontaneität der Handlung‹ – sofern ›sie [noch] vor dem moralischen Gesetz betrachtet wird‹. Wie für Fichte, so ist auch für Kant Freiheit der Gehalt, der sich für das Bewusstsein auf eine schlechthin unbedingte Weise in Form einer universalen Gesetzlichkeit realisiert, wodurch der Begriff der Freiheit allererst zu einem deskriptiven Gehalt des Bewusstseins wird und dadurch seine objektive Realität erhält. Dieser Gehalt, das ist noch einmal zu betonen, steht nicht für eine inhaltlich bestimmte Tatsache, er repräsentiert vielmehr nur die Form einer unbedingten und universalen Gesetzlichkeit, von der ein unmittelbares Bewusstsein vorliegt. Diese Form einer universalen Gesetzlichkeit kann mit den oben erwähnten Ausdrücken Fichtes als Form eines ›absolutes Bestehen[s], [einer] Stetigkeit, Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Vorstellens‹ beschrieben werden. In der Beziehung auf die Form einer universalen Gesetzlichkeit bezieht sich in der Perspektive Kants die reine praktische Vernunft aber doch nur auf ihren eigenen wesentlichen formalen Charakter, Prinzipien universaler Gültigkeit hervorzubringen, der in der Form des Sittengesetzes manifest wird. Dieser Bezug war der sachliche Kern von Kants Konzept des Selbstbewusstseins einer reinen praktischen Vernunft. Genau dieses nur die eigene wesentliche Qualität repräsentierende Selbstverhältnis ist die logische Struktur der Fichteschen Idee eines absoluten Wissens, die sich einem freien Akt der Vernunft verdankt, in dem die beiden Charaktere Sein und Freiheit vereinigt sind. Nun gilt, wie gezeigt, vom Fichteschen absoluten Wissen, dass es sich als Darstellung eines nicht durch es selbst erzeugten, vielmehr ihm vorausgesetzten Seins und Fürsichbestehens begreift, und dass es dieses Sein zugleich als den Grund seines Wissens 63 

Zur Analyse von Fichtes Theorie des absoluten Wissens in der Wissenschaftslehre von 1801/02 vgl. v. Verf.: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986, 294–396.

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von eben diesem Sein begreift. Ebenso begreift das kantische sittliche Selbstbewusstsein das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als ein unableitbares Faktum der reinen Vernunft und als Instanz und Garant der objektiven Realität des ihm vorausgesetzten intelligiblen Freiheitsbegriffs.

4.2. Zur Wissenschaftslehre von 1804 Die Konstruktion des Begriffs des Absoluten und seiner Erscheinung im Modus eines absoluten Wissens, das sich selbst als Bild des Absoluten begreift, aus dem Begriff des absoluten Wissens ist das Thema der Wissenschaftslehre von 1804. Im Ausgang von einer Analyse des Begriffs des absoluten Wissens werden im ersten Teil in einem langwierigen und argumentativ höchst aufwendigen Verfahren mehrere Kandidaten für den Begriff des Absoluten als höchsten Prinzips allen Vernunftgebrauchs geprüft, um alle als für diese Funktion untauglich zu verwerfen und am Ende zu dem erwähnten Begriff des Absoluten als Einheit von Sein und Leben zu gelangen. Diese Einheit wird, wie oben erwähnt, auch als »Gott« bezeichnet.64 Auch hier hat der Ausdruck Gott keine spezifisch biblisch-religiösen Konnotationen.65 Die Darstellung des so gefassten Absoluten in der Form eines ursprünglichen Gehalts des Bewusstseins, und das heißt, die Darstellung seiner Funktion als ratio essendi des absoluten Wissens, das sich als Erscheinung des Seins begreift, ist das Thema des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1804. Dessen zentrales Argument lässt sich in aller Kürze wie folgt zusammenfassen.66 Es geht von einer Bestimmung des Absoluten aus, die seine Eigenschaft betrifft, als alternativlos letztes und höchstes Prinzip aller Ver64 

Fichte, GA II,8, 258. Inwiefern damit von der Theologie als Wissenschaft vertretene Konzeptionen von Gott als unbedingter Wahrheit oder als absoluter Einheit verbunden und inwiefern damit auch noch Gehalte der christlichen Religion interpretiert werden können, ist eine Frage, die an die Theologie weiterzugeben ist. Vgl. hierzu die Untersuchung von Roderich Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewusstsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege. Tübingen 2004, zu Fichte vgl. 257–356. 66  Vgl. zum Folgenden v. Verf.: Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden. Der Übergang zur Erscheinungslehre in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, in: L’être et le phénomène. Sein und Erscheinung. La Doctrine de la Science de 1804 de J. G. Fichte. Die Wissenschaftslehre 1804 J. G. Fichtes. Hrsg. v. Jean-Christophe Goddard/ Alexander Schnell. Paris 2009, 365–377. 65 

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nunftleistungen Grund seiner selbst zu sein. Diese Bestimmung wird am Ende des ersten Teils durch den nominalisierten Reflexionsausdruck »Vonsich«67 beschrieben. Er beschreibt die Seinsart des Absoluten, Grund seiner selbst zu sein. Dieser Aspekt ist dem Absoluten am Ende und als Ergebnis des ersten Teils aber nur erst von außen, unter der Perspektive eines Dritten, zugeschrieben worden. Was es aus der Perspektive des Absoluten selbst bedeutet, Grund seiner selbst zu sein und diese seine Qualität auch zur Darstellung zu bringen, ist damit noch nicht begriffen. Das heißt, es ist noch nicht dargestellt worden, auf welche Weise dieser Aspekt als etwas Reales, und das heißt, als ein realer Gehalt aus der Verfassung des Absoluten selber begriffen werden kann.68 Aus der Perspektive des Absoluten bedeutet es, dass die Eigenschaft, Grund seiner selbst zu sein, durch das Absolute selber kraft seines Begriffs als ein realer Gehalt gesetzt werden muss. Das kann nur in einem Akt geschehen, der selber unbedingt ist, »per ­hiatum irrationalem«69, oder, wie es in diesem Kontext bezeichnenderweise auch heißt, der »absolut faktisch«70 ist. Das ist deswegen so, weil im Begriff des Absoluten per definitionem keine inhaltlich bestimmten Qualitäten enthalten sind, aus denen die Existenz dieses Aktes und diese seine Eigenschaft als logisch notwendig abgeleitet werden könnten. Damit tritt unter den veränderten systematischen Bedingungen der eingangs dargestellte dritte, modale Aspekt, der Aspekt der Faktumslogik, wieder auf. Da das Absolute selber Inbegriff aller Realität ist, kann aufgrund der vollständigen Disjunktion zwischen Realität und Idealität der Status dieses unbedingten Aktes nur als etwas Ideelles gedacht werden, oder, so der Fichtesche Terminus, als »ursprüngliche Erscheinung«.71 Das bedeutet: Das Absolute stellt sich, das heißt, den wesentlichen Charakter seiner Seinsart, nämlich Grund seiner selbst zu sein, in einem aus seinem Begriff logisch nicht ableitbaren, insofern freien Akt im Modus einer Erscheinung als etwas Reales dar. Erscheinung beziehungsweise Bild des Seins und nicht dieses selbst zu sein, ist aber, wie gezeigt, der Charakter des absoluten Wissens. Somit ist das absolute Wissen Darstellung bzw. Erscheinung oder Bild des Absoluten. Das ist offen67 

Fichte, GA II,8, 292. solche Darstellung ist Fichte zufolge eine »genetische Ableitung«; vgl. Fichte, GA II,8, 246. 69  Fichte, GA II,8, 248. 70  Fichte, GA II,8, 250. 71  Fichte, GA II,8, 258. 68  Eine

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sichtlich der Gehalt des oben genannten ersten, referenztheoretischen Aspekts. Dass in der Struktur des absoluten Wissens ein Wissen davon enthalten ist, dass es selber Erscheinung eines Seins ist, das es als solches nicht selber erzeugt hat, wurde oben gezeigt. Daraus folgt, dass es sich selbst als Erscheinung des Absoluten begreift, was der zweite, selbstreferenzielle Aspekt besagt. Der dritte, modale Aspekt, der die Faktizität des Aktes des Wissens betrifft, und der vierte, begründungslogische Aspekt sind oben genannt worden. Eine Verständigung über die Binnenstruktur der Argumentationen Fichtes, insbesondere des zweiten Teils des zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804 sowie der zentralen Argumente aller späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre, ist eine bis heute nicht hinreichend bewältigte Aufgabe. Die hier vorgeschlagene Interpretation kann dazu vielleicht Mut machen.

Violetta L. Waibel Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren 1810, 1811, 1812 und der Anspruch systematischer Nähe zu Spinoza 1. Fichtes erste Annäherungen an Spinoza Im ausgehenden 18. Jahrhundert war Baruch de Spinoza quasi in aller Munde. Friedrich Heinrich Jacobi hatte mit seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, die zunächst 1785 und noch einmal in einer erheblich erweiterten Fassung 1789 erschien, maßgeblich dazu beigetragen. Jacobi sah in Spinoza den Prototyp einer Philosophie, die, daseinsvergessen, sich in logischen Ketten eines Systemdenkens verliert, dem der Bezug zum Leben im emphatischen Sinn des Wortes fehlt. Gleichwohl galt Spinoza als der konsequenteste unter den Philosophen, die sich dieser Denkart verschrieben. Johann Gottlieb Fichte las in den 1780er und 1790er Jahren mit großer Bewunderung Jacobis Schriften. Er sah sich gewissermaßen in einem Komplementaritätsverhältnis zu Jacobi. Fasste dieser die Wahrheiten des unmittelbaren gemeinen Menschenverstandes in treffliche Gedanken, war es Fichte nach seinem eigenen Selbstverständnis, der die unmittelbar zugängliche Wahrheit auf das Reflexionsniveau der Philosophie hob und sie im Denken einholte. So kann es nicht verwundern, dass Fichte in der Grundlage der ge­ sammten Wissenschaftslehre das absolute Ich ganz im Sinne des von ­Jacobi erzeugten Bildes von Spinoza in Beziehung brachte zu dessen Substanzbegriff oder dem Sein, wie Jacobi die Sprechform prägte. Diese Beziehung ist, kaum überraschend, eine negative, habe doch Spinoza nicht erkannt, dass das höchste, letztbegründende Prinzip der Philosophie nicht ein Sein, oder eine Substanz sein könne, sondern das einzige, das Wissen der Philosophie begründende Prinzip, das absolute, freie, spontane und tätige Ich. Bereits im Paragraphen 1 der Grundlage ist zu lesen: »Ueber unsern Saz, in dem angezeigten Sinne, hinausgegangen ist Spi­ noza. Er läugnet nicht die Einheit des empirischen Bewußtseyns, aber er läugnet gänzlich das reine Bewußtseyn. Nach ihm verhält sich die ganze Reihe der Vorstellungen eines empirischen Subjekts zum einzigen reinen Subjekte, wie eine Vorstellung zur Reihe. Ihm ist das

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Ich (dasjenige, was Er Sein Ich nennt, oder ich mein Ich nenne) nicht schlechthin, weil es ist; sondern weil etwas anderes ist.«1 Man sieht, Fichte verwendet hier Jacobis Begriff des Seins für Spinozas Substanz. Spinoza selbst hatte nie vom Sein gesprochen. Die weitreichenden Implikationen, die mit der Differenz des Sprechens vom Sein statt von einer Substanz einhergehen, oder einhergehen könnten, werde ich hier nicht vertiefen. Fichte schreibt weiter: »Er [Spinoza] trennt das reine, und das empirische Bewußtseyn. Das erstere sezt er in Gott, der seiner sich nie bewußt wird, da das reine Bewußtseyn nie zum Bewußtseyn gelangt; das lezte in die besondern Modificationen der Gottheit. So aufgestellt ist sein System völlig consequent, und unwiderlegbar, weil er in einem Felde sich befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann; aber es ist grundlos; denn was berechtigte ihn denn über das im empirischen Bewußtseyn gegebne reine Bewußtseyn hinaus zu gehen?«.2 Fichte moniert, dass Spinozas Theorie zwei getrennte Entitäten für das reine und das empirische Bewusstsein vorsieht, nämlich Gott einerseits und die endlichen Modifikationen andererseits, Fichtes Ausdruck für Spinozas Modi. Ein begründbarer Zusammenhang von reinem und empirischem Bewusstsein ist demzufolge nur mit dem absoluten Ich oder mit der reinen transzendentalen Apperzeption, wie Kant sie in der Kri­ tik der reinen Vernunft denkt, gegeben. Für Kant wie für Fichte kann das reine Subjekt sich nie selbst denken, da ein Bewusstsein ohne Inhalt nicht möglich ist, aber auf der kritischen Metaebene kann über die Bedingungen der Erkenntnis und des Bewusstseins nachgedacht werden. Das reine Subjekt lässt sich daher in begründeter Weise denken, da es transzendentaler Grund von Erkenntnis und Sittlichkeit ist, während dies für das reine Sein oder die Substanz nicht gilt, wenn dies eine von der empirischen Instanz abgetrennte Entität ist, wie Fichte hier Spinoza unterstellt. Im Hinblick auf die Affinität des absoluten Ich zu Kants reiner transzendentaler Apperzeption oder dem reinen Selbstbewusstsein hält Fichte lakonisch fest: »Auf unsern Saz, als absoluten Grundsaz alles Wissens hat gedeutet Kant in seiner Deduktion der Kategorien; er hat 1 

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: ders.: Ge­ samtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1964ff., hier Abt. I, Bd. 2 (1965) (im Folgenden zitiert als »Fichte, GA« mit Band- und Seitenzahl), 263. 2 Fichte, Grundlage, GA I,2, 263.

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ihn aber nie als Grundsaz bestimmt aufgestellt.«3 Ein Blick in Fichtes 1790 angefertigten Auszug aus Kants Kritik der reinen Vernunft in der Version der B-Auflage und insbesondere in die Notizen zu § 16 lässt erkennen, dass Fichte Kants Konzeption diesbezüglich gut verstanden hat.4 Fichte ist überzeugt, auch den Grund für Spinozas fehlerhaften Systembau angeben zu können: »Was ihn auf sein System trieb, läßt sich wohl aufzeigen: nemlich das nothwendige Streben, die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntniß hervorzubringen. Diese Einheit ist in seinem System; und der Fehler ist bloß darin, daß er aus theoretischen Vernunftgründen zu schließen glaubte, wo er doch blos durch ein praktisches Bedürfniß getrieben wurde: daß er etwas wirklich gegebnes aufzustellen glaubte, da er doch bloß ein vorgestektes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte. Seine höchste Einheit, werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann.«5 Diese Wendung in Fichtes Argumentation ist angesichts des bisher Gesagten erstaunlich. Der Fehler Spinozas ist demzufolge, ein Sein in theoretischer Hinsicht als höchstes metaphysisches Prinzip abgetrennt von der Subjektivität zu behaupten, wo nur ein praktisches Bedürfnis, mithin ein Sollen in begründbarer Weise gedacht werden könne. Soll dies auch heißen, Spinoza sei von einem Sein ausgegangen, statt von einem Sollen, so muss gesagt werden, dass Fichte in der Grundlage das Sollen theoretisch-praktisch selbst erst am Ende der Schrift zur Darstellung bringt. Dass dem absoluten Ich ein Sollen einwohnt, ist mitnichten anfänglich zu erkennen. Fichte versteht zudem Spinozas philosophisches Unternehmen als ein theoretisches, nicht als ein praktisches. Auch das ist ein seltsamer Einwand, da Spinoza und Fichte beide zuerst eine prima philosophia, das ist eine Metaphysik des absoluten Ich und Nicht-Ich (Fichte mit den §§ 1–3 der Grundlage) beziehungsweise eine Ontologie der Substanz (Spinoza mit dem Ersten Teil der Ethik) behaupten und im Anschluss daran eine Erkenntnistheorie (Fichte mit der Theoretischen Wissenschaftslehre (§ 4) in der Grundlage, Spinoza mit dem zweiten Teil der Ethik) entfalten, um dann die praktische Philosophie 3 Fichte,

Grundlage, GA I,2, 262. Johann Gottlieb Fichte: Der Transscendentalen Elementarlehre Zweiter Theil, in: GA II,1, 299–318, zum § 16, 212f. Vgl. auch das Vorwort der Herausgeber zum Manuskript, GA II,1, 295–298. 5 Fichte, Grundlage, GA I,2, 263f. 4  Vgl.

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zu entwickeln (Fichte mit der Praktischen Wissenschaftslehre (§§ 5–11) und Spinoza mit den Teilen Drei bis Fünf der Ethik). Soll man daraus ablesen, dass Fichte keine genaue Kenntnis von Spinozas Architekturbau hatte? Diese Vermutung liegt jedenfalls nahe. Fichte bemerkt schließlich, »daß man, wenn man das Ich bin überschreitet, nothwendig auf den Spinozismus kommen muß! [...] und daß es nur zwei völlig consequente Systeme giebt; das Kritische [also Fichte und Kant, V.L.W.], welches diese Grenze anerkennt, und das Spinozische, welches sie überspringt.«6 In § 3 der Grundlage kommt Fichte nochmals auf Spinoza und die Mängel von dessen System, gemessen an der Wissenschaftslehre, zu sprechen, die aber hier übergangen werden können. Stichhaltig an Fichtes Kritik ist bestenfalls, dass Spinoza mit dem Sein oder der Substanz eine Trennung von Absolutem und Endlichem postuliert und den Übergang zwischen beiden nicht explizit macht und entwickelt. Angesichts von Fichtes Kritik an Spinoza, dessen Substanz am absoluten Ich gemessen wird, ist es erstaunlich, dass schon im Herbst 1794, also wenige Monate nach Fichtes Antritt der Professur in Jena, mit der er zum Nachfolger Karl Leonhard Reinholds wurde, Nachrichten in Jena kursierten, wonach er einen subjektiven Spinozismus vertrete. So schrieb Friedrich Schiller am 26. Oktober 1794 an Johann Benjamin Erhard: »Fichte scheint hier in Jena bald einen harten Stand zu bekommen. Er hat einen alten guten Freund von Leipzig her, Weisshuhn, hieher nach Jena zu ziehen veranlaßt, der ein sehr philosophischer Kopf seyn soll. Dieser Weißhuhn ist aber sehr hart hinter dem Fichtischen System her, erklärt es rund heraus für einen subjectiven Spinocism, und wird dagegen schreiben. Ich selbst habe ihn noch nicht kennen lernen können, aber alle Urtheile stimmen überein, daß er einen entschiedenen Beruf zum philosophieren habe.«7 6 

Fichte, Grundlage, GA I,2, 264. Brief von Schiller an Johann Benjamin Erhard, Jena, 26.10.1794, in: Schillers Werke. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach von Norbert Oellers u. Siegfried Seidel. Nationalausgabe, Weimar [im Folgenden zitiert als »NA« mit römischer Band-, arabischer Seitenzahl]; hier NA 27, 72). Ähnlich berichtete Schiller zwei Tage später, am 7 

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Zu dieser Zeit, also im Herbst 1794, waren dem Lesepublikum die ersten vier Paragraphen der Grundlage bereits zugänglich, jedoch noch nicht oder nicht vollständig die Paragraphen zur praktischen Wissenschaftslehre. Wortführer der Nachrichten über Fichtes subjektiven Spinozismus war dessen Freund August Friedrich Weißhuhn. Auch Friedrich Hölderlin monierte Fichtes Prinzip des absoluten Ich, das quasi mit Spinozas Substanz gleichzusetzen sei. Es ist zu beachten, dass Hölderlin das absolute Ich Fichtes nicht dem Sein sondern wörtlich der Substanz Spinozas gleichsetzt. Hölderlin hatte Spinozas Ethik wenigstens in Teilen tatsächlich gelesen, wie mehrere Zeugnisse belegen. Für Fichte gibt es dafür kein explizites Zeugnis. Hölderlin schreibt an Hegel: »Fichtens spekulative Blätter – Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre – auch seine gedrukten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten werden Dich ser interessiren. Anfangs hatt‘ ich ihn ser im Verdacht des Dogmatismus; er scheint, wenn ich mutmaßen darf auch wirklich auf dem Scheidewege gestanden zu seyn, oder noch zu stehn – er möchte über das Factum des Bewußtseins in der Theorie hi­naus, das zeigen ser viele seiner Äußerungen, und das ist eben so gewis, und noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten –«8 28. Oktober 1794 an Goethe: »Mit der Philosophie unsers Freundes Fichte dürfte es nicht diese Bewandtniß haben. Schon regen sich starke Gegner in seiner eignen Gemeinde, die es nächstens laut sagen werden, daß alles auf einen subjektiven Spinozismus hinausläuft. Er hat einen seiner alten Academischen Freunde, einen gewißen Weisshuhn, veranlaßt hieher zu ziehen, wahrscheinlich in der Meinung, sein eigenes Reich durch ihn auszubreiten. Dieser aber, nach allem was ich von ihm höre ein treflicher philosophischer Kopf, glaubt schon ein Loch in sein System gemacht zu haben, und wird gegen ihn schreiben. Nach den mündlichen Aeußerungen Fichte‘s, denn in seinem Buche war noch nicht davon die Rede, ist das Ich auch durch seine Vorstellungen erschaffend, und alle Realität ist nur in dem Ich. Die Welt ist ihm nur ein Ball, den das Ich geworfen hat, und den es bey der Reflexion wieder fängt!!« (NA 27, 74) August Friedrich Weißhuhn (1758–1795), als dessen »vertrautester Freund« sich Fichte bezeichnete (GA III,2, 38), kam im August 1794 auf Einladung Fichtes nach Jena, und starb in dessen Haus am 21. April 1795 (vgl. GA III,2, 174; 180–182 und 375). Zum Vorwurf des subjektiven Spinozismus gegen Fichtes Wissenschaftslehre vor allem durch Weißhuhn, Schelling und Jacobi vgl. Reinhard Lauth: Das Fehlverständ­ nis der Wissenschaftslehre als subjektiver Spinozismus, in: Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis. Hrsg. v. ders.: Neuried 1994, 29–54. 8  Brief von Hölderlin an Hegel, Jena, 26.1.1795, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde. Hrsg. v. Michael Knaupp. Darmstadt 1998 (Lizenzausgabe v. München 1992; im Folgenden zitiert als »MA« mit Band- und Seitenzahl); hier MA 2, 568.

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Wie Fichte gegenüber Spinoza, so moniert Hölderlin gegen Fichte eine philosophisch unbegründete Überschreitung in der Theorie: »sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts. So schrieb ich noch in Waltershausen, als ich seine ersten Blätter las, unmittelbar nach der Lectüre des Spinoza, meine Gedanken nieder; Fichte bestätiget mir«.9 An dieser Stelle ist das Papier abgerissen, so dass der Text nur lückenhaft überliefert ist. Daher gibt es keine Nachricht darüber, was Fichte Hölderlin bestätigt hat, auch wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass es Gespräche zwischen den beiden gab. Die Wendung »Fichte bestätiget mir« in Hölderlins Brief an Hegel lässt vermuten, dass sich Hölderlin und Fichte in irgendeiner Weise über die Frage, wie das absolute Ich und Spinozas Substanz zu verstehen sind und wie das Verhältnis des Prinzips zum endlichen Denken zu beurteilen ist, verständigt haben müssen. Ähnlich wie Fichte, der Spinoza vorhält, von der Trennung eines reinen und eines empirischen Bewusstseins auszugehen, aber dem Sein oder Gott kein Bewusstsein zuzugestehen, und gleichwohl doch im empirischen Bewusstsein ein reines Bewusstsein zu denken, also über das empirische Bewusstsein hinauszugehen, hält Hölderlin Fichte vor, dass dieser dem absoluten Ich ein Bewusstsein zuschreibt, wo dieses doch über keines verfügen könne. Demnach gehe auch Fichte unberechtigterweise vom empirischen zum reinen Bewusstsein über, und dies in theoretischer Absicht, wo bestenfalls eine praktische Absicht begründbar wäre, so Hölderlin. Feststeht also, dass Fichte sich seit der ersten gedruckten Fassung der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 mit Spinoza ausei9 

Brief von Hölderlin an Hegel, Jena, 26.1.1795, MA 2, 568f. Vgl. dazu näherhin v. Verf.: Hölderlin und Fichte. 1794–1800. Paderborn 2000, 27–48.

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nandersetzt. Er liest Spinoza in der ersten Phase als einen Denker, der vom Sein oder der Substanz statt vom Ich seinen Ausgang nimmt, was in Fichtes Augen in der frühen Phase der Wissenschaftslehre der falsche Ansatz ist. Wir dürfen sicher sein, dass Fichte die an die Wissenschaftsleh­ re gerichteten Vorwürfe aufgenommen und reflektiert hat. Was immer Hölderlin über das zu berichten hatte, was »Fichte [mir, also Hölderlin V.L.W.] bestätiget« hat, Fichtes Bezugnahmen zu Spinoza in den ausgeführten Wissenschaftslehren 1810, 1811 und 1812 lassen sich als ein spätes systematisches Echo auf Hölderlins Überlegungen lesen. Man muss gar nicht davon ausgehen, dass sich Fichte 15 Jahre später bewusst auf Hölderlins Kritikpunkte bezieht. Es ist jedoch gut vorstellbar, dass die systematischen Einwürfe sich in Fichtes Denken festgesetzt haben und so Anstöße für Fichtes weiteren Entwicklungsgang gegeben haben. Zudem ist zu erinnern, dass es eine ganze Reihe anderer Denker gab, die sich auf die eine oder andere Weise auf Spinoza bezogen haben, allen voran Schelling. Die Berliner Wissenschaftslehren lassen deutlich erkennen, dass Fichte sich mit einigen Schriften der Literatur seiner Zeit beschäftigt hat, da er wiederholt gegen die Adepten Spinozas, meist ohne Nennung von Namen, polemisiert. Die systematische Nähe zu Spinoza, die Fichte in den späten Wis­ senschaftslehren 1810, 1811 und 1812 herausstreicht, soll im Folgenden rekonstruiert werden. Die ebenso bei Fichte zur Sprache kommenden Differenzen zu Spinoza spielen in dieser Untersuchung eine untergeordnete Rolle. Es muss betont werden, dass es Fichtes Bild der Konzeption Spinozas ist, das hier thematisiert wird. Ob damit auch Spinozas Konzeption Gerechtigkeit widerfährt, muss hier weitgehend offen bleiben.

2. Spinoza in der Wissenschaftslehre 1810 Eine markante Differenz zur frühen Wissenschaftslehre besteht darin, dass Fichte an den Beginn der Berliner Wissenschaftslehren nun selbst ein Sein schlechthin oder Gott setzt. Dieses aber kommt zur Erscheinung und mit ihm manifestiert sich ein absolutes Wissen, und zwar als Bild vom Sein. Betrachtet man die drei ausführlich durchgearbeiteten Wissenschafts­ lehren von Fichtes Berliner Lehrtätigkeit, also die Wissenschaftslehren 1810, 1811 und 1812, so stellt man mit Erstaunen fest, dass Fichte in Spinoza nun einen Verbündeten sieht, dem er einen fast ebenso hohen

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Rang zuschreibt, wie er dies sonst im Hinblick auf Kant tut. Wie in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre ist es die Frage nach dem Anfang und dem Letztbegründungsprinzip der Philosophie, die Fichtes Blick zu Spinoza lenken. Die explizite Bezugnahme auf Spinoza artikuliert sich in der Bestimmung des Seins oder Gottes. Nicht nur wird mit dem Prinzip des Seins von Fichte auch hier wieder die Sprache aufgenommen, die Jacobi der Substanz Spinozas zuwies, um zu monieren, dass Spinoza zwar der konsequenteste aller abstrakten Denker philosophischer Systeme des Seins sei, dem jedoch das Prinzip des Lebens, die Enthüllung des Daseins als wesentliches Movens und wesentliche Tätigkeit der Philosophie mangle. Das Bündnis, das Fichte nun mit Spinoza eingeht, ist offenkundig geboren aus dem Widerstand gegen Philosophiekonzepte einiger seiner Zeitgenossen, allen voran wohl gegen Schelling, aber es ist vielleicht auch gegen Hölderlin und andere gerichtet. Auf diesen Aspekt werde ich im Folgenden nicht näher eingehen. Was ich untersuchen werde, ist die Weise, wie sich Fichte hinsichtlich des Ausgangs vom (absoluten) Sein mit Spinoza solidarisierte. In der Wissenschaftslehre 1810, der allerdings der Anfang fehlt, erklärt Fichte seine Position im Ausgang vom Sein in einem Umkehrungsverhältnis zu Spinoza: »Bei uns [ist es] umgekehrt: da das absolute erscheint, ohne Zweifel, als das was es ist, so kann man in gewißer Rüksicht sagen […] es ist ganz u. ungetheilt daßelbe in der Erscheinung, was im absoluten ist. – Nur ist es nicht auf dieselbe Weise, dort [also bei dem zuvor genannten Spinoza, ist es, V.L.W.] als im wahrhaftigem innern Seyn, hier nur als Erscheinung. [Es ist] Eine Bestimmung: dort in ihm selber; hier außer ihm selber. Erscheinung = Seyn (qualitiativ) außer seinem Seyn; [Zum] Ausdruck: Seyn – Daseyn ‹=› Seyn[, das letztere ist] nicht schlechthin durch sich bestimmt, sondern durch seine Stelle, u. sein Verhältniß. – [Es ist] Eben außer, was ja nicht ist ohne ein inner. Dagegen das innre durch sich ist. –«10

10  Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre 1810, in: ders.: Die späten wissenschaftli­ chen Vorlesungen I, 1809–1811. Hrsg. v. Hans Georg von Manz/Erich Fuchs, Reinhard Lauth/Ives Radrizzani. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 27–175, hier 31; GA II,11, 294. Die Wissenschaftslehren 1810 und 1811 werden auf Grund der leichteren Lesbarkeit durch zahlreiche Ergänzungen von Abkürzungen oder Auslassungen Fichtes, die der Herausgeber in eckigen Klammern eingefügt hat, im Wortlaut nach der Studienausgabe zitiert.

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Die Umkehrung, die Fichte hier der Wissenschaftslehre zuschreibt, betrifft nun nicht mehr die Frage, ob das erste Prinzip das (absolute) Ich oder das Sein sei, wie es im Jena der Jahre 1794/1795 diskutiert wurde. Die Umkehrung, von der Fichte spricht, betrifft die Frage, wie vom Prinzip des Seins der Übergang zum Dasein, beziehungsweise zur Erscheinung des Seins zu denken und zu konstruieren ist. Was Spinoza kritisch entgegengehalten wird, ist, dass er kein Werden und damit kein Übergehen vom Sein zum Erscheinen des Seins zu denken und darzustellen vermochte. Auch die Identität des Seins oder der Substanz oder Gottes mit sich, das behauptete Insichsein der Substanz, ferner die Identität mit den Attributen Denken und Ausdehnung wird Fichte zufolge von Spinoza nur thetisch behauptet, aber nicht einsichtig gemacht und genetisch entwickelt. Während Spinoza für alles Dasein, also vor allem für die Modifikationen, die Spinoza Modi nennt, ein Inhärenzverhältnis behaupte, kann die Wissenschaftslehre, so Fichte, das Außer-demSein-der-Erscheinung erweisen. Mit Fichtes Worten: »Eben außer, was ja nicht ist ohne ein inner.« Vom Sein her die Erscheinung zu konstruieren heißt, – das kann im Kontext der Wissenschaftslehre nicht überraschen – ein Tun im Denken vollziehen. Genau diesen Vollzugscharakter, das Werden, die Weise des Erscheinens, könne Spinoza vom Sein her nicht erklären. Stand 1794/95 die Einbildungskraft und mit ihr die Anschauung im Zentrum als das Vermögen, das die Vollzugsinstanz der Aktuosität des anfänglich absoluten, dann freien Ich darstellte, so bemerkt man überrascht, dass das Seinsprinzip in der Wissenschaftslehre 1810 ein Begriff ist, der im Denken vollzogen wird. Das Vollziehen des Absoluten geschieht, wie Fichte ausdrücklich sagt, durch einen Begriff. Fichte fasst zusammen: »Was ist bis jetzt geschehen? – . [Wir sollen] Etwas thun – eine Einsicht werden. – « Im »Vollziehen des Begriffs des Absoluten« werde eine »Sicherung vor dem innern Widerspruch« möglich, in den sich Spinoza, aber nicht nur er, sondern auch die jüngeren Philosophen, die ihm nacheiferten – mag er nun an Hölderlin, Schelling, an Jacobi oder an andere gedacht haben – verstrickt hätten. Ausdrücklich betont nun Fichte, offenkundig in Anlehnung an Kant, dass untersucht werden müsse, »wie es mit der objektiven Gültigkeit dieses Begriffs sich verhalte«.11 Für Spinoza gäbe es »[u]nmittelbar nur Gott«. Er hätte darüber nachdenken müssen, dass dies, also Gott, nur ein Begriff sei, dessen ob11 Fichte,

Wissenschaftslehre 1810, 36; GA II,11, 297.

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jektive Gültigkeit, dessen Wahrheitsanspruch allererst erwiesen werden müsse. Hätte Spinoza darüber nachgedacht, so »wäre ihm die W.L. aufgegangen.«12 Seine Methodologie ist nun offenkundig so, dass der Ausweis der objektiven Gültigkeit des Denkens des Begriffs des Seins und seiner Erscheinung, den Fichte mit der Wissenschaftslehre vollzieht, nicht der Methodologie Kants folgt. Es ist der Weg des Einsichtigmachens, des Genetisierens. Einsicht aber ruft die Anschauung auf den Plan. Gegenüber der frühen Wissenschaftslehre ist der Begriff zwar wesentlich aufgewertet, galt er doch der »Deduktion der Vorstellung« zufolge von 1794 nur als Gefäß des Begriffs,13 während alles Lebendige, alles Tätige durch Einbildungskraft und Anschauung hervorgebracht und vollzogen wurde. Doch auch in den Berliner Wissenschaftslehren spielen Einsehen, Anschauen, Intuieren, das Werden des Lichts eine zentrale Rolle. Wenn das erste Prinzip der Philosophie sich als Begriff zeigt, so stellt sich mit der Frage nach seiner Wahrheit und objektiven Gültigkeit auch die Frage nach der Realität. Philosophie, erklärt Fichte, ist »Er­ scheinung der Erscheinung«.14 Philosophie, die sich nicht erklären, begründen, rechtfertigen könne, stehe im »Widerspruche des factums mit der Aussage.«15 Dieser Widerspruch solle nun an Spinoza demonstriert werden: »A. modificirt sich [nach ihm; also Spinoza V.LW.], in x, y. z. Seine Modifikationen nehmen die Form an [:] Ausdehnung, Denken. x, y, z [sind] in beiden. Unterscheiden Sie [nun] das Modificiren u. die Modifika­ tion, Nicht das erstere, sondern das leztere ist in der Form. – . Wie weit [reicht bei ihm] nun das Denken? [Es ist für ihn eine] fertige Modifikation X.. – . Was ist Spinoza u. sein Denken? Bleibt er denn dabei? Nein, [es ist] das modificiren selbst, jenseit der Form, in dieser Duplicität der Form. [Wir haben hier also] Die Form vor der Form. – Dann ist [freilich] nur Eine [Form,] eben [die] der Spinoza. Das Denken, das die Philosophie treibt, muß erklärt, u. abgeleitet werden. [Das aber] Ist hier nicht der Fall.«16

12 Fichte,

Wissenschaftslehre 1810, 36f.; GA II,11, 298. Grundlage, GA I,2, 374. 14 Fichte, Wissenschaftslehre 1810, 39; GA II,11, 299. 15 Ebd. 16 Fichte, Wissenschaftslehre 1810, 39f.; GA II,11, 299f. In der Wendung »eben [die] der Spinoza« müsste es wohl korrekt »des Spinoza« heißen. 13 Fichte,

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Spinozas Systemaufbau mit der einen Substanz, den Attributen des Denkens und der Ausdehnung, sowie der Modi scheint Fichte diesen Überlegungen zufolge (anders als 1794/95) recht genau vor Augen zu stehen. Zur Erinnerung: Die Substanz zeigt sich als ganze aber nach je besonderen Aspekten in den Attributen. Dem Menschen sind zwei Attribute zugänglich, nämlich Denken und Ausdehnung. Jeder Modus, für Fichte hier x, y, z, ist eine konkrete Bestimmung oder Entität, die unter den Aspekten der beiden Attribute, also dem Denken oder der Ausdehnung zugänglich ist und untersucht werden kann. Fichte hält Spinoza kritisch entgegen, dass dessen System zufolge das Denken eine »fertige Modifikation X.« sei. Es fehlt die Unterscheidung des Produzierens und des Produkts, mithin des Modifizierens und der Modifikation. Fraglich ist, was ›A.‹ ist, das sich in x, y, z modifiziert. Ist hier die Substanz oder Gott gemeint, so dass ›A.‹ für das Absolute steht? Möglich ist auch, dass ›A.‹ für Ausdehnung steht. Es fällt auf, dass im folgenden Satz das Attribut ›Ausdehnung‹ durch Kursivierung hervorgehoben ist, nicht aber das Attribut ›Denken‹. Das hieße, die Ausdehnung A. modifiziert sich in die Modi x, y, z. Diese aber sind Modi der Ausdehnung, die ihrerseits gleichwohl dem Denken zugänglich sind. Da das Denken des Systemzusammenhangs dasjenige ist, was den gesamten Systembau durch seine Begriffe vor Augen führt, und dem Denken damit eine innere und eine äußere Perspektive zukommt, wie Fichte in einer sehr nachvollziehbaren Weise anführt, aber in dieser doppelten Perspektive von Spinoza nicht unterschieden wird, ist dies nach meinem Verständnis dasjenige, was Fichte Spinoza kritisch vorhält. Spinoza hat nur die innere Perspektive des Denkens reflektiert, nicht aber diejenige Instanz, die da denkt und ein System der Philosophie aufstellt. Ist dem so, wäre nun auch deutlich, was es für Fichte heißt, dass Spinoza im Faktischen verhaftet bleibt, weil er nämlich das Philosophieren selbst mit seinem ganzen Anspruch der Wahrheitsbegründung nicht einsichtig macht. Anzumerken ist noch, dass, sollte mit ›A.‹ nicht das Attribut Ausdehnung, sondern das Absolute oder die Substanz oder Gott gemeint sein, das hier ausformulierte Argument dennoch stimmig sein würde. Es gibt ein Denken, das Denken und Ausdehnung denkt, aber von Spinoza nicht eigens philosophisch untersucht und durchdacht wurde. Dies ist in meinen Augen eine triftige Kritik Fichtes an Spinoza. Gleichwohl sieht sich Fichte in großer systematischer Nähe zu Spinoza, gemessen an den Zeitgenossen, die ihm zufolge fälschlich glaubten,

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Spinoza begriffen zu haben: »Wie rein u. richtig dagegen Spinoza.«17 Diese Polemik kann sich Fichte auch hier nicht verkneifen. Denn, nur »Spinoza, Kant [waren Ausnahmen].«18 Nach dieser Charakterisierung von Fichtes sowohl affirmierender als auch kritischer Bezugnahme auf Spinoza in der Wissenschaftslehre 1810 wende ich mich nun seiner nächsten ausgearbeiteten Wissenschaftsleh­ re zu.

3. Spinoza in der Wissenschaftslehre 1811 Auch in der Wissenschaftslehre 1811 ist Spinoza auf markante Weise präsent. Ja, man gewinnt geradezu den Eindruck, der einstige Vorwurf des umgekehrten, subjektiven Spinozismus habe Fichte dazu animiert, diese Idee aufzunehmen und sie sich in einer Weise zu eigen zu machen, die er 1810 noch nicht formuliert hat. Die Wissenschaftslehre nimmt auch hier wieder den Ausgang vom Sein, das Fichte mehrfach ausdrücklich und emphatisch an Spinozas Sein (Substanz) als eine immanente Instanz zurückbindet, die zugleich als Gott begriffen wird. Spinozas Idee der Substanz als immanenter Ursache (ein ohnehin schwer erklärbares Theorem) greift Fichte nicht auf.19 Nur das Prädikat des Insichseins, der Immanenz als solcher wird als Unterscheidungsmerkmal angeführt, da die Wissenschaftslehre im Gegensatz dazu nicht nur ein Insichsein sondern auch ein Sein außer dem Sein denken kann. Sein außer dem Sein ist eine auffällige Allusion an Hardenbergs/Novalisʼ Fichte-Studien. Im letzten Abschnitt und im Zusammenhang der Wissen­ schaftslehre 1812 wird dies näher betrachtet werden. Fichte notiert in der Wissenschaftslehre 1811: »[Wir kommen zur] W.L. selbst. – . [Wir geben eine] Charakteristik, durch Abschnitt u. Gegensatz, u. so Einführung. – Es giebt keine bessere [Charakteristik, VLW] als das System des Spinoza: damit [besteht] ein gemeinschaftl[icher]. Standpunkt; sodann ein wesentlicher Gegensatz.«20 17 Fichte,

Wissenschaftslehre 1810, 46; GA II,11, 304. Wissenschaftslehre 1810, 49; GA II,11, 305. 19  Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Übers. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999, Teil I, Lehrsatz 18: »Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.« 20  Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre 1811, in: ders.: Die späten wissenschaft­ lichen Vorlesungen II. Hrsg. v. Georg von Manz/Erich Fuchs/Reinhard Lauth/Ives Radrizzani. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 1–234, hier 34; GA II,12, 163. 18 Fichte,

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Auch hier setzt sich die Tendenz fort, die Wissenschaftslehre als eine Variante von Spinozas Systemkonzept dem Verständnis näher zu bringen. War die Rede vom subjektiven Spinozismus 1794/95 von Weißhuhn als Kritik formuliert, die Fichtes philosophisches System empfindlich zu treffen beabsichtigte, so scheint er von dieser Bezeichnung veranlasst nun die Flucht nach vorne ergriffen zu haben. Zwar nimmt er diesen Terminus nicht auf, aber er zeigt in der Wissenschaftslehre 1811 erneut, was das Gemeinsame und was das Trennende zwischen Spinozas Prinzip der Philosophie und dem der Wissenschaftslehre ist. Es ist eine durchaus bemerkenswerte Behauptung Fichtes, wenn er sagt »Es giebt keine bessere [Charakteristik, um die Wissenschaftslehre zu erläutern, VLW] als das System des Spinoza: damit [besteht] ein gemeinschaftl[icher]. Standpunkt«. Das systematische Band, durch das sich Fichte mit Spinoza in Übereinstimmung sieht, ist jetzt noch enger geworden, wie einige Bemerkungen Fichtes deutlich machen. Was Fichte 1810 skizzenhaft in der Beziehung zu Spinozas Sein festgehalten hat, wird nun genauer ausformuliert und differenzierter durchdacht. Expliziter als 1810 erfährt der Leser (oder Hörer) von 1811, dass das Sein, das als Prinzip der Philosophie fungiert, in Übereinstimmung mit Spinoza zu denken ist: »Das Seyn ist schlechthin Eins, von sich, durch sich, aus sich selbst. […] In ihm ist das Seyn alles, u. ausser ihm ist kein Seyn.«21 Dieses Sein ist als unwandelbar zu denken aber auch als Inbegriff alles Seins, außer dem kein Sein zu denken ist. Im Weiteren macht Fichte nun deutlich, dass dieses Sein zu denken bedeutet, einen Begriff von ihm zu haben. Es ist dies der Begriff der Reflexion auf das Sein und mithin der Begriff der Philosophie oder des philosophischen Standpunktes, wenn man so will. Damit aber ergibt sich nun doch ein Sein außer dem Sein, denn der Begriff des absoluten Seins ist identisch und auch nicht identisch mit dem durch ihn gedachten Sachverhalt. Wenigstens muss mit dem Denken problematisch eine Identität des gedachten Sachverhalts mit dem Sein, das da gedacht wird, angenommen werden, soll mit der philosophischen Behauptung ein Wahrheitsanspruch erhoben werden können. Der Begriff des Seins repräsentiere zunächst nicht das lebendige Dasein des Seins sondern »seine leere Form, sein Bild u. Schema«.22 Das behauptete Eine Sein erweist sich somit als unterschieden, als ein Faktisches im Begriff und als das sein inneres Wesen verbürgende Sein. Es ist die Wissenschaftslehre, die »zuallererst u. unmittelbar ein fakti21 Fichte, 22 Fichte,

Wissenschaftslehre 1811, 35; GA II,12, 163f. Wissenschaftslehre 1811, 37; GA II,12, 165.

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sches Seyn am Begriffe des absoluten Seyns« findet.23 Darin unterscheidet sich die Wissenschaftslehre von der Konzeption Spinozas, so Fichtes Behauptung. Offenkundig ist, dass das absolute Sein hier bei Fichte vom Faktischen her gedacht wird. Klarer als 1810 formuliert Fichte somit den Widerspruch, der sich zwischen dem durch Evidenz sich zeigenden ursprünglichen absoluten Sein und dem faktischen Sein im Begriff der Philosophie auftut. Fichte nimmt damit die frühere Dialektik des Ausweises eines Widerspruchs und seiner notwendigen Auflösung auf, wie er sie bereits in der Grundlage entfaltet hat.24 Es muss gezeigt werden können, dass die beiden Seinsweisen vereinbar sind, soll Philosophie und ihr Wahrheitsanspruch möglich sein. Hat Spinoza auch nicht begriffen, dass die Philosophie ihren Begriff nicht bloß aufstellen, sondern selbst reflektieren und durchdringen müsse, so ist er in Fichtes Urteil doch der einzige, der das Prinzip des absoluten Seins richtig aufgefasst habe. Keinem der Adepten Spinozas sei dies gelungen. Diese Behauptung Fichtes muss hier ungeprüft stehen bleiben. Gleichwohl ist festzuhalten, dass mit der Betonung, dass es ein Begriff sei, der das absolute Sein denkt, der subjektive Spinozismus in neuem Gewand wiederkehrt. Denn offensichtlich ist es das Subjekt des Philosophen, das hier nicht Ich genannt wird, aber als Instanz des Denkens auftritt. Diesen Spinozismus könnte man etwa einen zugleich subjektiven und objektiven Spinozismus nennen, um in dieser Bezeichnung das Verhältnis von Produkt und Produzieren widerzuspiegeln. Nach Fichte ist also zu zeigen: »1.) entweder man gesteht dem einzelnen faktischen Seyn das Seyn der Form nach zu. 2.) oder man spricht ihm das Seyn der Form nach, wie es vom absoluten ausgesagt wird, durchaus u. gänzlich ab; wo man denn freilich eine andere SeynsForm substituiren muß. Den ersten Weg hat Sp[inoza]. eingeschlagen, den zweiten die W.L. durch Kants Bemerkung erleichtert.«25 Kants Wissen sei Stückwerk geblieben, aber er habe doch den entscheidenden ›Lichtgedanken‹ formuliert, der die Wissenschaftslehre möglich 23 Ebd.

24 Fichte,

Grundlage, SW I, 123, 125; vgl. ferner v. Verf., Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95), in: Systeme der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus: II. Kant und der Frühidealismus. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, 103–128. 25 Fichte, Wissenschaftslehre 1811, 39; GA II,12, 167.

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gemacht habe. In diesem Lichtgedanken verbirgt und enthüllt sich, wie der Kommentar der Herausgeber zur Stelle deutlich zu machen sucht,26 der Gedanke Kants, der die objektive Gültigkeit von Urteilen, mithin die Koinzidenz von Begriff und wahrem Sachverhalt begründet. Diese Begründung ist bei Fichte und bei Kant methodisch völlig anders ausgearbeitet. Kant entwickelt dies in den unterschiedlichen Fassungen der ›Trans­ zendentalen Deduktion‹ von 1781 und 1787. Fichte hat sich vermutlich nur mit der Deduktion von 1787 und mit den zwei Beweisschritten befasst.27 Der erste erweist die Bedingungen für die Koinzidenz von kategorial gedachten Begriffen mit einer Anschauung überhaupt. Der zweite bestätigt, dass konkrete Anschauungen trotz der mit ihnen auftretenden zufälligen Gehalte die Bedingungen einer objektiv gültigen und notwendigen Erkenntnis erfüllen. Fichte wählt freilich anstelle von Kants transzendentalphilosophischem Beweisgang einen Weg, den man, avant la lettre, phänomenologische Ontologie28 nennen könnte, weil er mit der Reflexion auf die Wechselbeziehung von Erscheinung und ontologischem Seinsgrund die unhintergehbare Verbindung eines ursprünglich Gedachten und eines Denkvollzugs zu erhellen sucht. Das Denken wäre nie zu seinem Vollzug gelangt, wäre Denken ursprünglich ein Denken von Gehaltlosigkeit. Leeres Denken oder Denken von Leere kann nichts anderes als Derivat von gehaltvollem Denken sein. Diese Einheit nennt Fichte ein ursprüngliches, absolutes Sein. Ein absolutes Sein wäre für Kant freilich kein Fall einer objektiven Gültigkeit der Erkenntnis. Dies sei hier am Rande festgehalten. Die Form, so behauptet Fichte, sei in Spinozas System für das absolute und das faktische Sein die gleiche. Die Wissenschaftslehre aber hat mit Hilfe Kants entdeckt, dass die Form des absoluten und das faktischen Seins eine jeweils andere sei. Man müsse eine andere »SeynsForm subs-

26 Fichte,

Wissenschaftslehre 1811, 39, Anm. 2; GA II,12, 167, Anm. 47. Fichtes Auszug aus Kants Kritik der reinen Vernunft mit dem Titel Der Trans­ scendentalen ElementarLehre. Zweiter Theil. Die transscendentale Logik, in: GA II,1, 299– 318. Vgl. ferner v. Verf.: Die A- und B-Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft und die negative Deduktion der teleologischen Urteilskraft (§§ 75–78), in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant Kongres­ ses (in 5 Bden.). Hrsg. v. Valerio Rohden/Riccardo R. Terra/Guido A. Almeida/Margit Ruffing. Berlin und New York 2008, Bd. 2, 805–816. 28  Jean-Paul Sartre nennt sein Hauptwerk L’être et le néant (Das Sein und das Nichts) im Untertitel Essay d’ontologie phénoménologique. (Versuch einer phänomenologischen On­ tologie). Paris 1943. Übersetzt v. Hans Schöneberg/Traugott König. Hrsg. v. Traugott König. Berlin 1993. 27  Vgl.

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tituiren«. Das wirft die Frage auf, wie das gemeint ist. Zu Kants Ausweis objektiver Gültigkeit zählt, wie bekannt, die Differenz von Verstand/ Vernunft und Sinnlichkeit, mithin von Begriff und Anschauung. Mit dieser Differenz ist Nichtzeitlichkeit und Zeitlichkeit auf den Plan gerufen, auch wenn Fichte hier auf die Zeitfrage nicht direkt zu sprechen kommt. Der (reine Begriff) ist von gesetzlicher, unwandelbarer Natur, dem Bereich der Anschauung, dem Sehen, dem Einsehen ist Wandel, Veränderung, Zeit zugeordnet. Das steht in Parallele zur Unwandelbarkeit des reinen Seins und dem Wandelbaren, Faktischen, Vergänglichen des endlichen Seins. Während Spinoza mit dem Faktum des Seins den Anfang der Philosophie setzte und es dabei geblieben ist, wird die Wissenschaftslehre das Faktum des Seins genetisch einsichtig machen: »Das absolute Seyn ist es, das durch sich selbst sich ausspricht in diesem Denken. […] am Anfange, wie Sp[inoza]. [müssen wir] jedem anmuthen die unmittelbare Evidenz: /.«29 In dem Sein der Wissenschaftslehre ist unverbrüchliche Wahrheit verankert, mithin auch ein Äquivalent zu Spinozas adäquatem Wissen gegeben. Wo dem Menschen das reine Licht der Wahrheit nicht, oder noch nicht in genetischer Konstruktion erscheint, fungiert Wahrheit, auf die der Erkennende sich immer irgendwie bezieht, als ein vorläufig geltendes Postulat. Die vorläufige Wahrheit gilt es, durchsichtig und zu gewusster Wahrheit zu machen. Trotz der erkennbaren Nähe zu Spinoza in manchen Details ist in der späteren Wissenschaftslehre, so auch in der Wissenschaftslehre 1811, ebenso ein deutlicher Abstand zu Spinozas Konzeption gegeben. Den Widerspruch zwischen absolutem und faktischem Sein sieht Fichte wie folgt gelöst: »der erste Begriff bleibt durchaus wahr: Das Seyn [ist] Eins, ausser ihm kein Seyn, in ihm kein Werden. – . Das zweite [bleibt] auch [wahr]: es ist ausser dem Seyn etwas, nur ist dies kein Seyn, sondern ein dem Seyn durchaus entgegengeseztes nemlich Erscheinung des Seyns.«30 Das Sein, genauer das reine Sein der späten Wissenschaftslehre ist Ins­ tanz und Prinzip des Wissens, das die Gültigkeit von Wahrheit und Gesetzlichkeit alles Sehens und Einsehens zu garantieren hat. Es ist ein Maßstab, der selbst inhaltsleer ist. Es ist nicht ein ›Seyn der Form‹ sondern eine ›andere SeynsForm‹, nämlich die der Wahrheit. Reines 29 Fichte,

Wissenschaftslehre 1811, 36; GA II,12, 165; vgl. ferner Fichte, Wissenschafts­ lehre 1811, 38, 46; GA II,12, 165f, 171. 30 Fichte, Wissenschaftslehre 1811, 42; GA II,12, 169.

Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren

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Wissen kann nicht sein, ohne dass etwas gewusst wird. So erscheint in diesem Wissensprinzip nachgeordnet auch das Sein der Dinge in der (ausgedehnten) Welt der Erscheinung. Fichte macht explizit deutlich, dass im Werden des Bewusstseins alle Anschauungen, alle Begriffe notwendig ihren Ausgang, ihre erste Prägung von den konkreten Dingen nehmen. Erst nachträglich lässt sich eine zweite bloß intelligible Welt bilden, die stets in einem analogischen Verhältnis zu der sinnlichen, ersten Welt steht.31 Galt 1794/95 Fichtes eigentliche Aufmerksamkeit der Konstruktion des Systems der Freiheit, mithin all jenen Kräften der Subjektivität, die die Spontaneität, Setzungsleistungen, Aneignungsleistungen des Subjekts ins Werk setzten, so erweist sich 1811 der Tatendrang der Subjektivität geradezu gezähmt. Im Ausgang vom Sein ist es das Werden des Lichts und der Erscheinung, die den Gang dieser späten Wissenschafts­ lehre bestimmen. Das Sein überformt hier den Ausgang vom Ich oder des Subjekts, das Licht ist zugleich Ausdruck und Distanznahme von der subjektiven Vernunft. Mit der ausdrücklichen Erscheinungslehre des absoluten Seins oder Gottes und der überdies daran sich anschließenden Erscheinungslehre der endlichen Erscheinung wird in der Wissenschaftslehre 1811 der sinnlichen Natur des Menschen weit mehr Rechnung getragen als in früheren Fassungen. Die genetische Einsicht, Fichtes methodische Selbstreflexion und Selbstdurchdringung des Geistes setzt dort ein, wo das Bewusstsein zuerst unmittelbar und unreflektiert seinen zu deduzierenden Gehalt sieht, denkt und repräsentiert. Im zunächst Sichtbaren die unsichtbaren Anteile des Sehens aufzudecken, ist die entscheidende Triebfeder dieser genetischen Konstruktion. So kann es nicht überraschen, dass die Freiheit und Tatkraft des Subjekts im Gang dieser Selbstaufklärung sich selbst erst spät entdeckt und reflektiert. Auch dann noch ist sie nicht eine Freiheit des Aufbruchs, sondern eine Freiheit, die sich hingibt ans Sehen, an das, was sich macht als Wahrheit, eine Freiheit, die sich macht als Sein und Gesetz und selbst nicht Freiheit ist, solange sie sich als absolute Freiheit nicht ergreift.32

31  Vgl. 32  Vgl.

Fichte, Wissenschaftslehre 1811, 20; GA II,12, 154. Fichte, Wissenschaftslehre 1811, 87–89; GA II,12, 199–201.

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4. Spinoza in der Wissenschaftslehre 1812 Das hohe Lob auf Spinozas System und sein letztbegründendes Prinzip der Substanz oder des Seins ist nicht nur Gegenstand der Wissenschafts­ lehren 1810 und 1811, sondern findet auch in der Wissenschaftslehre 1812, der letzten ausformulierten Wissenschaftslehre Fichtes, seine Fortsetzung. Fichte geht hier noch einen Schritt weiter. In der Wissenschaftslehre nova methodo (1797–1799) hatte er den Zugang und das Verständnis für das reine Subjekt, das in bestimmter Weise Inbegriff des Wissens ist, dadurch für den Nachvollzug erzeugt, dass er dazu aufforderte, ein Objekt, etwa die Wand zu denken. Hinter dem Objekt verschwindet zunächst das Subjekt, aber es lässt sich die Instanz denken, die die Wand denkt; über weitere Schritte lässt sich die Einsicht gewinnen, dass Denkender und Gedachtes auf die Selbsttätigkeit und das Handeln des Subjekts zurückzuführen sind.33 In systematisch analoger Weise ist es nun Spinozas Prinzip des Seins, das er gegenüber den Studierenden als einen sehr angemessenen Ausgangspunkt betrachtet, um in die Wissenschaftslehre hineinzukommen. Fichte formuliert: »Der beste Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza. Nicht etwa dies zu Prüfung: sondern es zu brauchen. 1) Seyn: Charakter[:] absolute Negation des Werdens. In ihm, dem Einen, alles, in ihm keins. – . Selbstständigkeit, eine Negation. Wandellosigkeit gleichfalls: hieraus Einheit. u. die andern Sätze. So Spinoza[,] so wir.«34 Diesen Befund hatte Fichte schon 1811 aufgestellt. Es ist jetzt nur eine andere Form, mit der die Aufmerksamkeit der Studierenden in Fichtes Vorlesung auf den Widerspruch gerichtet werden soll, der zwischen dem Denken des Seins und dem Anspruch, der mit dem absoluten Sein verbunden ist, besteht. Das Sagen, das Denken des Seins ist ein Vollzug im Begriff, von dem wiederum behauptet wird, dass er außer dem Sein sei und so ein Widerspruch zwischen der Faktizität des Denkens des Seins und dem Sein besteht, das kein Werden ist, sondern »[i] n ihm, dem Einen, ist Alles, in ihm wird Nichts.« Soweit also lässt 33  Vgl. Fichte, Vorlesungen

über die Wissenschaftslehre, gehalten zu Jena im Winter 1798– 1799 [Wissenschaftslehre nova methodo. Nachschrift Karl Christian Friedrich Krause], in: GA IV,3, 345–346 {Vorläufige Bemerkungen § 1, Postulat}. 34 Fichte, Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 51.

Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren

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sich mit Spinoza in die Wissenschaftslehre hineinführen. Fichte konstatiert im Weiteren eine Differenz hinsichtlich des eben benannten Widerspruchs zwischen der Wissenschaftslehre und dem System Spinozas: »Nun gehen wir ab. Er bleibt in diesem Gedanken stehen, darin ver­ lohren: es ist ein Seyn, das Seyn ist so: schlechtweg zufolge des Gedankens. So sagt er nicht, sondern so wirds ihm in seinem Sehen, u. daß es in diesem ihm so ist, weiß er selbst nicht.«35 In ›seinem‹, also Spinozas, ›Sehen‹ bedeutet hier offenbar, dass es eine Einsicht ist, die Spinoza durch die Anlage seiner Gedanken sichtbar werden lässt, ohne den Zusammenhang näherhin zu reflektieren, wie Fichte dies für die Wissenschaftslehre in Anspruch nimmt. Denn er fährt fort: »Wir aber sind gewohnt allenthalben zu reflektiren, auf das was wir treiben. (Von der Maxime der Fakten, des Thuns, als dem Gedanken von jenen, ausgehend. / finden wir es nicht als das Seyn selbst, sondern als einen Gedanken:) ich denke, als den Begriff des Seyns: inwiefern es sich ausspricht: sich ausspricht, als sich aussprechend: denn der Begriff giebt sich ja als wahr.«36 Mit der Wissenschaftslehre nimmt Fichte den gedanklichen Ausgangspunkt vom Vollziehen des Denkens, das zwar vom Sein handelt, aber nicht mit dem Sein gänzlich identisch ist und mit ihm zur völligen Deckung kommt. Damit bahnt Fichte seine Argumentation an, mit der er über Spinoza hinaus zu kommen sucht. Man darf nun erwarten, dass Fichte zeigt, wie es zu den beiden Attributen des Denkens und der Ausdehnung kommt. Statt diese beiden nur zu behaupten und zum Ausgangspunkt der Philosophie zu machen, soll ihr Gewissheitsanspruch überprüft werden: »Durch diese Reflexion, kommen wir nun aus der Gewißheit – in der Spinoza ist. Ich denke: denke ich recht? Es erscheint als wahr: ist es darum. – Ja, um diesen Zweifel recht scharf zu fassen: wir kommen in einen offenbaren Widerspruch. – . Ausser ihm kein Seyn: aber der Begriff ist, und ist ausser ihm… Protestatio facto contraria. Indem gesagt wird; es sey nichts ausser ihm, ist etwas, eben dieses Sagen, ausser ihm.«37

35 Fichte, 36 Ebd. 37 Ebd.

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 52.

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Wenn das Sein Inbegriff alles Seins ist, gibt es kein außer dem Sein Sein. Doch der Begriff vom Sein, sein Sagen, sein Denken wird per se nicht als Sein, also als etwas außer dem Sein verstanden. Darin liegt der Widerspruch, den Fichte hier untersucht und den Spinoza gar nicht erst bemerkt habe, wie er unterstellt. Er schreibt weiter: »Für Spinoza ist ein solcher Widerspruch garnicht, weil das zweite Glied, das Denken, ihm ganz verschwindet: er eine unmittelbare Fassung des Seyns, eigentlich das Seyn selbst unmittelbar zu haben glaubt. (Da sehen Sie 1.) die Absicht des Widerstreits gegen das Reflektiren. Sp. wußte es nicht. Schelling verstreitet’s 2). die sichtliche Täuschung. Wenn du nun dein Denken nicht reflektirst; ist es denn drum nicht immer. Schaft etwa deine Reflexion erst das Denken? Keinesweges, sondern sie macht es erst offenbar. [)] Ausser dem Seyn fürs erste sein Begriff. Als Faktum: blosses Faktum. Dagegen das Sein mit Nothwendigkeit[,]des Begriffs nemlich.«38 Mit diesen Überlegungen wird nun deutlich, dass Fichte nicht die Gewissheit der beiden von Spinoza als dem Menschen zugänglichen Attribute untersucht. Vielmehr konfrontiert er das Sein, das Spinoza Substanz nennt, mit dem Denken der Substanz. Damit aber steht hier nicht das Verhältnis der beiden Attribute Denken und Ausdehnung zur Diskussion. Fichte insinuiert, dass das Verhältnis von Sein und Begriff schon auf der Ebene des Absoluten zur Sprache und zur Überprüfung gelangen muss. Er fährt fort: »So wir. Anders Spinoza: denn doch übereinkommend mit uns, nur auf einem andern Punkte: die Welt: Ausdehnung u. Denken. – Also in der Hauptsache. Also auch den Widerspruch. Wir, u. Er bekommen darum die Aufgabe, diesen Widerspruch zu lösen. So – darum die Lösung. Die Ph. Die ihn wirklich löst die wahre.«39 Hier wird deutlich, dass sich Fichte 1812 nicht mehr für das von Spinoza selbst vorgesehene Verhältnis der Substanz oder des Seins zu den beiden Attributen Denken und Ausdehnung interessiert. Aus der Pers­ pektive der Argumente, die Fichte anführt, sind Denken und Ausdehnung von Beginn an nicht zwei Attribute auf gleicher Ebene, da es das

38 Ebd.

39 Fichte,

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 52f.

Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren

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Denken und nur das Denken ist, das diese Attribute des Seins oder der Substanz sichtbar werden lassen kann. Zur Verteidigung von Spinozas systematischem Ansatz lässt sich argumentieren, dass die Feststellung des Widerspruchs, nach dem der Begriff ein Außer-dem-Sein ist, der mithin den Inbegriff des Seins aufhebt, nur ein scheinbarer Widerspruch ist, da erst mit den Attributen gezeigt wird, welche Spezialformen des Seins aus menschlicher Perspektive unterschieden werden können und müssen. Auch der Begriff ist in der Perspektive Spinozas ein Sein. Fichte konzentriert sich hingegen auf die Aufgabe, den Übergang vom reinen Prinzip, das sind freilich auch die beiden Attribute, zur Faktizität zu reflektieren und einsichtig zu machen. Spinoza, so heißt es, wäre an der Eingangspforte der Wissenschaftslehre stehen geblieben, da er zwar das absolute Sein denkt, aber nicht den Widerspruch von Sein und Faktizität. Gleichwohl finden sich beide Momente, also Sein und Faktizität, nicht nur in der Wissenschaftslehre sondern auch bei Spinoza. »Warum nun grade in diese beiden Grundformen«?40 Eine Antwort auf das Nebeneinander von absolutem Sein und dem ersten Auftreten einer Mannigfaltigkeit, die sich als Denken und als Ausdehnung zeigt, habe Spinoza nicht gegeben. So gilt, oder genauer, wird von Fichte behauptet: »Eins ist, ausser diesem nichts.«41 Einerseits hat Fichte in den Wissenschaftslehren 1810 und 1811 Spinoza immer wieder vorgehalten, dass er den Übergang vom Sein zum Denken nicht konstruieren und einsichtig machen konnte. Gleichwohl beschäftigte ihn andererseits die Frage immer wieder erneut, warum es diese beiden Attribute sind, die das philosophische Denken Spinozas leiten. Die Wissenschaftslehre konstruiert nun den Zusammenhang vom Prinzip zur Erscheinung des Faktischen durch Genesis, wie Fichte schon in den Wissenschaftslehren 1810 und 1811, ja auch früher deutlich zu machen wusste. Genauer muss man sagen, die Konstruktion läuft eigentlich umgekehrt vom Faktischen zum Absoluten. Die Reflexion auf das absolute Sein zeigte, dass dieses durch einen Begriff erscheint. Die Frage nach dem, was ein Begriff ist, ruft das Bild, schließlich auch die Anschauung auf den Plan: »Was ist da für uns? der Begriff. Was? das Seyn selbst? – nein[,] sein Schema, u. Bild[,] Erscheinung: Seyn ausser seinem Seyn, entäussertes, 40 Fichte, 41 Fichte,

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 55. Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 56.

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u. s. f.«42 Dies ist Wiederholung des bislang Bekannten, jedoch mit einer entscheidenden Veränderung. Hat der Begriff ein außer dem Sein Sein erwiesen, das gleichwohl mit dem absoluten Sein in bestimmter Weise auch identisch ist, da es dieses ja darstellt, ein Außen nur ist, weil ein Innen ist, so wird nun der Zusammenhang von Differenz und Identität durch die Reflexion auf den Charakter des Bildes entwickelt. »Was ein Bild sey, erklärt nur das Bild selbst: es führt das Bild seines formalen Seyns, seinen Charakter, in seinem Seyn unmittelbar bei sich. Kann nur angeschaut werden, nicht gedacht. Das Bild des Seyns ist unabhängig vom Seyn, u. dieses von jenem. Ein Bild des Bildes aber ist nur dadurch, u. insofern wie das Bild selbst ist.«43 Das Bild erklärt evidenter als der Begriff Differenz und Identität von Zeichen und Bezeichnetem. Das scheint Fichte hier vor Augen zu stehen. Aber freilich ist es der Begriff, der die Evidenz des im Bild erschauten Zusammenhangs sagbar macht und versprachlicht. Das reflektiert Fichte hier nicht. Es ist hier offenkundig so, dass an der Stelle von Spinozas Dichotomie von Ausdehnung und Denken nun die kantische Zweistämmigkeit von Anschauung und Begriff einen neuen Stellenwert erlangt. Mit und über Kant hinaus ist es das Schema, das den genetischen Zusammenhang und Übergang von Sein und Denken, von Anschauung und Begriff verständlich machen kann. Das Tun, das Genetisieren, setzt ein sich-genetisch-Machen voraus, wie auch die Evidenz des Schemas etwas ist, das passivisch und aktivisch zugleich ist. Schema wird von Fichte in verallgemeinernder Weise als Vermittlung zwischen Anschauung und Begriff eingesetzt. Es steht in einer gewissen Analogie zum Schematismus Kants, ohne diesen im Detail hier einzusetzen. »Rein faktischer Charakter des faktischen. Drum nicht ausdenken; sondern unmittelbar sich selbst darstellen.«44 Das Finden, das Sichmachen, die Aktivität in der Passivität bezeichnet nun das Verhältnis des Bildes, das man einen unbegrifflichen Begriff nennen mag. Es findet sich der Zusammenhang von Absolutem und Faktischen, der sich im Bild zeigt. Ihn gilt es, begrifflich, im Denken und Reflektieren einzuholen. Für Fichte ergibt sich eine

42 Fichte, 43 Ebd. 44 Ebd.

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 57.

Fichtes absolutes Sein in den späten Wissenschaftslehren

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»Folgerung: nicht etwa durch die Widerlegung des Sp. wird die W.L. begründet: wenn man gleich sieht, daß jenes nicht recht ist, wie nun? – Nur durch unmittelbare Anschauung des Bildes als Bildes wird sie begründet. Nur inwiefern das Bild mit seinem absolut formalen Charakter, als Bild sich darstellt. Daß nun ausser dem Seyn ein Bild desselben sey, ist an dem Begriffe klar. Dieser ist, laut des unmittelbar faktischen Bewußtseyns: u. er ist, laut seinem Zeugnisse von sich selbst in unmittelbarer Anschauung das. – Es ist drum gefunden, was ausser dem absoluten seyn könne, (könne, weil es eben ist: denn die Möglichkeit wird hier nur geschloßen aus der Wirklichkeit, da alles ausgeht von der Fakticität, u. Wirklichkeit[)].«45 Ganz offenkundig sieht sich Fichte durch das Denken Spinozas, durch das Nachdenken über Identität und Differenz zwischen dem Ersten Teil der Ethik und der Wissenschaftslehre nun noch näher bei Spinoza, wenngleich er mit und durch ihn hindurch nun einen neuen Weg gefunden hat, die stets reklamierten Übergänge einsichtig und einsehbar zu machen. Die entscheidende Differenz zu Spinozas ist nicht ein Widerlegen, ein begriffliches Tun, sondern: »Nur durch unmittelbare Anschauung des Bildes als Bildes wird sie [die Wissenschaftslehre, V.L.W.] begründet«. Die Reflexion auf das Verhältnis von Begriff und Bild, mithin von Begriff und Anschauung erhält damit eine ganz neue Emphase und zwar in systembegründender Absicht. Jedes anfängliche Denken beginnt mit einem Bild, einem Anschauen, und zwar dem gehaltvollen Bild, das schließlich im Begriff eingeholt wird. Darum ist für Fichte offenkundig auch das Bild vom Sein das uranfängliche Tun des Wissen und Gewissheit generierenden Geistes.

45 Fichte,

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13, 57. Zu Fichtes Anlehnung an Spinoza in der Wissenschaftslehre 1812 vgl. auch Marco Ivaldo: Wesen und Grundstruktur der Erscheinung des Absoluten nach der Wissenschaftslehre 1812, in: Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre 1812. Vermächtnis und Herausforderung des transzendentalen Idealis­ mus. Hrsg. v. Thomas Sören Hoffmann. Berlin 2016, 55–69, bes. 57–60; ferner Jacinto Rivera de Rosales: Die Welt als Bild, in: Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre 1812. Vermächtnis und Herausforderung des transzendentalen Idealismus. Hrsg. v. Thomas Sören Hoffmann. Berlin 2016, 97–108, bes. 97–101. Vgl. ferner in kritischer Abgrenzung Fichtes Konvergenz mit Friedrich Heinrich Jacobi herausarbeitend Birgit Sandkaulen: Spinoza zur Einführung. Fichtes Wissenschaftslehre 1812, in: Fichtes Spätwerk im Ver­ gleich. Beiträge zum Fünften Internationalen Fichte-Kongreß »Johann Gottlieb Fichte. Das Spätwerk (1810–1814) und das Lebenswerk«, Teil III, Amsterdam/New York, 2006, 71–84.

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5. »ein Seyn außer dem Seyn im Seyn« Fichtes Überlegungen zum Bild haben eine frappierend ähnliche Form mit systematischen Überlegungen, die Friedrich von Hardenberg/Novalis in der Fichte-Studie 2 ausgeführt hat. Das soll hier nicht übergangen werden. Diese Überlegungen wurden im Herbst 1796 fixiert, also etwa 16 Jahre vor der hier in Frage stehenden Wissenschaftslehre. Dort ist zu lesen: »Das Bewußtseyn ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn. Was ist aber das? Das Außer dem Seyn muß kein rechtes Seyn seyn. Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild – Also muß jenes außer dem Seyn ein Bild des Seyns im Seyn seyn. D[as] Bewußtseyn ist folglich ein Bild des Seyns im Seyn.«46 Fichtes Dialektik von Bild und Sein scheint sich, so möchte man meinen, des Denkens eines jungen Mannes versichert zu haben, dessen Stimme sehr früh verklungen ist. Ob Fichte diese Sprechweise Hardenbergs kennengelernt hat, ist nicht nachzuweisen, aber durchaus denkbar, da es Gespräche zwischen Hardenberg und Fichte in Jena gab.47 Und es ist bemerkenswert, dass Fichte auch hinsichtlich der eigenen Theoreme sich bald des einen bald des anderen erinnert und andere

46 

Friedrich von Hardenberg (Novalis): Fichte-Studien 2, in: ders.: Novalis Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweite nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl., 6 in 7 Bden. Stuttgart, Berlin, Köln 1960–1999. Hier Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz. Darmstadt 1965, 104–296, 106. 47  Nach einem Erinnerungsregest von Johann Ludwig Doederlein hat dieser in Friedrich Immanuel Niethammers bis heute verschollenem Tagebuch einen Eintrag gelesen, demzufolge es ein Gespräch bei Niethammer mit Hölderlin, Hardenberg und Fichte gab. Es wurde dabei angeblich »Viel über Religion gesprochen und über Offenbarung und daß für die Philosophie noch viele Fragen offen bleiben.« Vgl. den Bericht von Johann Ludwig Doederlein bezüglich der Notiz Niethammers über das Zusammentreffen von Fichte, Hölderlin und Hardenberg (Novalis) in Niethammers Haus in Jena in Johann Ludwig Doederlein, Neue Hegeldokumente, in: Zeitschrift für Re­ ligions- und Geistesgeschichte. Hrsg. von Hans-Joachim Schoeps. 1. Jg., Marburg, 2–18. Vgl. auch J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, Hrsg. von Erich Fuchs u. a., Bd. 1: 1762–1798, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978; Dokument Nr. 315, 284.

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dafür zeitweilig vergisst, um es in die jeweils neuen Konzeptionen der Wissenschaftslehren zu integrieren. Die Problematik, die Fichte 1812 in Beziehung zu Spinozas Sein formuliert, liest sich, als habe er das kritisch gegen ihn Gewendete sich zu eigen gemacht. Er zeigt sich überzeugt, dass das Sein doch der bessere Kandidat für das Absolute ist als das Ich. Indem Fichte (und auch Hardenberg) zufolge sich im Bild zeigt, was allererst nachträglich über den Begriff gewonnen wird, rückt das Ursein, wenn man so will, in eine noch größere Nähe zu dem Sein, das Hölderlin oder Hardenberg schon im ausgehenden 18. Jahrhundert als Letztbegründungsprinzip reklamierten. Je länger Fichte über das Problem des Übergangs vom Absoluten zum Endlichen und noch eigentlicher vom Endlichen zum Absoluten nachdachte, desto weiter entrückt ihm das seiner selbst mächtige Subjekt. Das Subjekt, das Ich ist durch etwas begründet, das ihm substanziell entzogen ist.48 Das kann man füglich ein absolutes Sein nennen. Freilich gilt es für Fichte noch immer, dieses Sein einzuholen, durch Techniken des Geistes, die mit immer feineren Werkzeugen des Anschauens, Sehens, Einsehens, Intuierens, Evidentmachens, des Denkens und Urteilens vollzogen werden. Ein Finden im Tun, ein Tun im Finden. Fichtes Emphase für Spinoza, die systematisch gesehen, wenn auch unausgesprochen ebenso eine Emphase für Hölderlin, oder für Hardenberg, oder wen auch immer sein könnte, erfährt einen neuen gedanklichen Höhenflug, wenn er eindringlich an die Studierenden appelliert: »Halten Sie diesen sehr erläuternden Gedanken fest. / In diesem Sinne sind nun auch in der W.L. wahr u. passen Sätze des Sp. Systems: Die wahre Parallele. Eins u. Alles daßelbe. Ἓν καὶ Πᾶν. Alles in dem Einen, alles Eins. – . Allerdings, nemlich in der Einen Erscheinung. – . In ihm 48 Vgl.

aber Johannes Brachtendorf: Substanz, Subjekt, Sein – die Spinoza-Rezeption der frühen und der späten Wissenschaftslehre, in: Fichtes Spätwerk im Vergleich. Fichte-Stu­ dien, Bd. 30. Hrsg. v. Günter Zöller/Hans Georg von Manz. Amsterdam/New York 2006, 57–70. Brachtendorf entwickelt eine Linie von Fichtes früher Spinoza-Interpretation in der Grundlage über die diesbezügliche Kritik Schellings und Hegels an Fichte hin zu Fichtes neuerlicher Spinoza-Auslegung in der Wissenschaftslehre 1812. Schelling und Hegel kritisieren den relativen Charakter von Fichtes absolutem Ich, während Spinoza hingegen die Transzendentalphilosophie avant la lettre vollendet habe. Fichtes Haltung gegenüber Spinoza ist Brachtendorf zufolge trotz allen systematischen Differenzierungen seit 1794/95 die gleiche, da Spinoza auch 1812 Subjektvergessenheit attestiert wird, die nun mit einer Seinsvergessenheit einhergehe.

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leben, weben, sind wir: ja, in seiner Erscheinung: nimmer in seinem absoluten Seyn. – . – . Wenn die W.L. nun dieses geleistet hat – das Mannigfaltige als ein Alles der Fakticität –. dieses Alles als Erscheinung nachgewiesen, so hat sie den Beweiß geführt: u. darf allgemein aussprechen. Wir sprechen so: aber in der Hofnung des Erweises.«49 Ist dies nun ein Dualismus? Hier die Erscheinung, dort das absolute Sein? Oder ist dies doch eher ein metaphysischer Monismus, der einem ontologischen Dualismus Rechnung trägt? Das war Fichtes Denken nach meinem Verständnis schon von Beginn an. Diese Frage werde ich hier nicht weiter vertiefen. Auch muss dahingestellt bleiben, ob Fichte Spinozas Systemansatz wirklich verbessert hat. Klar ist, was sich Fichte in Spinozas Konzeption als Problem zeigte, hat sein Nachdenken und seinen Geist in faszinierender Weise beflügelt.

49 Fichte,

Wissenschaftslehre 1812, GA II,13. 60f.

Günter Zöller System und Leben. Praktische Philosophie beim späten Fichte »[...] nur die Gesetze sind.«1

Der Vortrag erörtert Fichtes Vorhaben einer ›angewendeten Philosophie‹, die philosophisches Denken (›Spekulation‹) und außer-, vorwie nachphilosophische Wirklichkeit (›Leben‹) in ihrer intrinsischen Verschränktheit reflektiert. Der Fokus liegt auf den von Fichte selbst so angekündigten Vorträge[n] verschiedenen Inhalts2 aus seinem letzten Lebensjahr, der postum publizierten sogenannten Staatslehre (1820), die den faktisch letzten Darstellungsstand der Wissenschaftslehre in die philosophische Grundlegung von Geschichte, Recht, Religion und Politik integriert. Die im Titel des Vortrags benannte Konjunktion von System und Leben erweist sich im Hinblick auf Fichte und speziell auf Fichtes Spätwerk, wie es exemplarisch und repräsentativ in der Staatslehre vorliegt, als reziproke Implikation von lebendig gestalteter Philosophie und philosophisch geprägtem Leben. Der Vortrag porträtiert Fichtes im eminenten Sinne praktische Philosophie3 in vier Abschnitten zum Verhältnis von System und Kritik, von System und Selbstkritik, von System und Leben sowie von reiner und angewendeter Philosophie. Im Mittelpunkt des Interesses steht durchweg die vitale Validierung des Wissens beim späten Fichte.4

1. System und Kritik Die Unterscheidung von Kritik und System ist kantischen Ursprungs, ihre Umdeutung in einen Gegensatz ein nachkantisches Manöver. In 1 

Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Abt. II, Bd. 16 (2011), 22. Im Folgenden zitiert als »Fichte, GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 2  Fichte, GA II,16, 15. 3  Zum Begriff der praktischen Philosophie bei Fichte vgl. Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung. Hrsg. v. Günter Zöller/Hans Georg von Manz. Hildesheim 2006. 4  Die folgenden Ausführungen beruhen auf langjährigen und umfassenden Forschungen und Publikationen des Autors, auf die deshalb laufend verwiesen wird.

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Günter Zöller

der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft, bei der Einführung der »Idee [...] einer besonderen Wissenschaft, unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft«5, hatte Kant zwischen der als solcher kompletten Grundlegung der Transzendentalphilosophie in Gestalt einer Kritik der reinen bloß theoretischen (›spekulativen‹) Vernunft und dem da­ rauf aufbauenden ›System‹ der Transzendentalphilosophie unterschieden. Die Fundierung durch die Kritik der reinen Vernunft gab er dabei als in sich vollständig aus, die eventuelle systematische Ausgestaltung als ein eher unkompliziertes publizistisches Projekt, das nach Art der schulphilosophischen Lehrbücher auszuführen sei.6 Bekanntlich hat Kant selbst die fakultative Vervollständigung der ersten Kritik zum System der Transzendentalphilosophie nie vorgenommen. Doch hat er, ebenfalls zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft, aber erst in deren zweiter Auflage (1787), eine weitere Unterscheidung zwischen Kritik und System ins Spiel gebracht, deren zumindest partielle Ausführung er später selbst vorgenommen hat. In dieser zweiten einschlägigen Unterscheidung steht der Kritik – genauer: der Kritik der reinen Vernunft – die auf deren Grundlage errichte »Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten«7 gegenüber. Zwar hat Kant ein separates »System der Natur«8 nicht mehr vorgelegt, von den die Ankündigung prädatierenden Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1785) und den verzweifelten Versuchen in dieser Richtung im Opus postumum einmal abgesehen. Doch liefert die späte Metaphysik der Sitten (1797) die Einlösung des zweiten der beiden Teilprojekte für ein kritisch gegründetes philosophisches System (»System der Freiheit«9). Schließlich ist das Verhältnis von Kritik und System bei Kant nicht beschränkt auf die sachliche Sequenz im Rahmen einer philosophischen Architektonik. Mit »System« bezeichnet Kant nämlich nicht nur ein philosophisches Gedankengebäude im Hinblick auf dessen verlässliche Fundierung und umfassende Ausführung, sondern auch – in Aufnahme eines schulphilosophischen Wort- und Begriffsgebrauchs – eine philosophische Grundkonzeption (»Lehrbegriff«), deren proble5 

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, B 24. Im Folgenden zitiert als »Kant, KrV«, mit Angabe der Auflage (A/B) und der entsprechenden Seitenzahl. 6 Vgl. Kant, KrV B 22f. Zu Kants Begriff des Transzendentalen vgl. v. Verf.: ­Conditions of Objectivity. Kants Critical Conception of Transcendental Logic, in: Yearbook of German Idealism/Jahrbuch des deutschen Idealismus 12 (2014), 3–28. 7  Kant, KrV B XLIII. Vgl. auch KrV A XXI. 8  Kant, KrV A 690/B 718. 9  Kant, KrV A 815/B 843.

System und Leben

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matische oder assertorische Voraussetzung es erlaubt, philosophische Probleme umfassender Art grundsätzlich zu lösen.10 In dieser doktrinalen statt architekturalen Bedeutung ist Kants System das des transzendentalen Idealismus, den er – in Reaktion auf frühe Missverständnisse – auch den »formalen« oder »kritischen Idealismus« nennt.11 Während also der architekturale Begriff des Systems bei Kant die Differenz von Kritik qua Propädeutik und Präparation und System qua Exekution und Elevation impliziert, fallen in seinem doktrinalen Begriff des Systems Kritik qua Kritizismus und System qua kritische Philosophie zusammen. Transzendentalphilosophie ist für Kant sowohl nach ihrer Grundlegung (›Kritik‹) wie nach ihrer Ausführung (›System‹) kritische Philosophie – Philosophie auf der Grundlage des Lehrbegriffs des transzendentalen Idealismus. Kants Nachfolger – die Vertreter des deutschen Idealismus – übernehmen die architekturale Differenz von propädeutischer Kritik und enzyklopädischem System von Kant, verwandeln sie aber zugleich in einen Gegensatz. Dabei wenden sie Kants Selbstinterpretation der Kritik der reinen Vernunft als einer ›bloßen‹ Propädeutik für das noch zu liefernde System gegen ihn, um ihm die, wenn nicht prinzipielle, so doch faktische Selbstbeschränkung auf die Kritik statt auf das System zunächst zuzuschreiben und sodann vorzuwerfen. Der so auf propädeutische Kritik reduzierte Kant ließ sich dann vorzüglich in Anspruch nehmen für das eigene, spezifisch nachkantische Unternehmen, das noch ausstehende System der Philosophie zu liefern – sei es als Wissenschaftslehre (Fichte), als Philosophie des Absoluten (Schelling) oder als Philosophie des Geistes (Hegel).12 Bei allem Gestus und Anspruch, über das kritische Werk Kants eigens und originell hinauszugehen, sind die nachkantischen Vertreter der klassischen deutschen Philosophie aber auch immer wieder be-

10  Vgl. dazu

v. Verf.: »Die Seele des Systems«. Systembegriff und Begriffssystem in Kants Transzendentalphilosophie, in: Systeme der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus I. Architektonik und System in der Philosophie Kants. Hrsg. v. Hans Friedrich Fulda/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2001, 53–72. 11  Kant, KrV A 491/B 519 sowie Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik in: Kant‘s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern. Berlin, später Berlin/New York 1900ff., 4, 337. Im Folgenden zitiert als »Kant, AA«. 12  Zum Verhältnis Kants zu seinen idealistischen Nachfolgern vgl. v. Verf.: Die Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus, in: Die Fragen der Philosophie. Vorlesungen zur Einführung in die Disziplinen und Epochen der Philosophie. Hrsg. v. Wilhelm Vossenkuhl/Eugen Fischer. München 2003, 295–312.

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reit, ihre Verpflichtung, um nicht zu sagen ihre Verschuldung gegenüber Kants Vorleistung einzugestehen und anzuerkennen. Hier ist es insbesondere Fichte, der Kant schon früh, durchweg und noch bis in seine letzte Zeit hinein nicht nur als wesentlichen Vorläufer und maßgeblichen Anreger für das eigene philosophische Werk benennt, sondern sogar die essentielle Identität zwischen dem kantischen Junktim von Idealismus und Kritizismus und der eigenen Lehre vom Vorrang des Wissens gegenüber dem Ding, der Erkenntnis gegenüber dem Sein und des Soll gegenüber dem Ist bekräftigt.13 Insbesondere teilt Fichte Kants Dissoziation des idealistisch ausgestalteten Kritizismus – oder des kritizistisch durchgeführten Idealismus – von einem als (transzendentalem) Realismus demaskierten und deklassierten Dogmatismus. Fichtes gekoppelte Gleichsetzung von Kritizismus und Idealismus sowie von Dogmatismus und Realismus lässt ihn so von Anfang an und bis zum Ende alle nicht exklusiv idealistische Philosophie – darunter vor allen die Naturphilosophie Schellings, aber auch den logischen Realismus Bardilis oder den Populismus von Friedrich Nicolai – als falsche Philosophie oder Unphilosophie auffassen.14 Mit Kant teilt Fichte von seinen Züricher und Jenaer Anfängen bis in seine späte Berliner Zeit auch das strategische Zeugma von kritischer Transzendentalphilosophie und kritischer Moralphilosophie. Auch wenn das komplettierte »System der Freiheit« – eine Programmformel, die sich bei Kant wie bei Fichte findet15 – bei beiden Philosophen unterschiedlich ausfällt, stimmen Kant und Fichte überein in der ultimativen Ausrichtung der theoretischen Philosophie auf die praktische Philosophie, des Erkennens auf das Wollen, des Denkens auf das Tun, des Gegenstandsbegriffs auf den Zweckbegriff und der Sinnenwelt auf die Sittenwelt.16 Bei Kant wie bei Fichte ist der reklamierte 13 Vgl.

Fichte, GA I,4, 230f. Vgl. dazu v. Verf.: From Transcendental Philosophy to ­ issenschaftslehre. Fichte’s Modification of Kant’s Idealism, in: European Journal of PhiloW sophy 15 (2007), 249–269. 14  Zum Status des Realismus im deutschen Idealismus vgl. v. Verf.: German Realism. The Self-Limitation of Idealist Thinking in Fichte, Schelling and Schopenhauer, in: The Cambridge Comnpanion to German Idealism. Hrsg. v. Karl Ameriks. Cambridge 2000, 200–218. 15  Kant, AA 6, 218 sowie Fichte, GA III,2, 298, 300. 16  Vgl. dazu v. Verf.: Am Anfang war ... die Tat. Der Primat des Praktischen und das Faktum der reinen Vernunft in der Philosophie Kants, in: Am Anfang war... Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach/Eckhard Schumacher. München 2008, 91–105 sowie ders.: Das »erste System der Freiheit«. Fichtes neue Darstellung der Wissenschaftslehre (1795–1899), in: System und Kritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 13–28.

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Primat des Praktischen, den die beiden allerdings unterschiedlich auffassen und ausgestalten, nicht reduktiv und monopolistisch, sondern Ausdruck einer normativen Ordnung und Interessenhierarchie, die das Denken in den Dienst des Handelns, die Gegenstandsbestimmung in den Dienst der Willensbestimmung und die Objekterkenntnis in den Dienst der Freiheitsverwirklichung stellt. Über den doktrinalen Konsens zwischen Kant und Fichte bei der Engführung von Kritizismus und Idealismus hinaus folgt Fichte auch der Praxis Kants, das eigene, originelle philosophische Denken durch eine präliminare Reflexion methodischer und methodologischer Art (›Kritik‹) eigens einzuführen. Beim frühen wie beim späten Fichte (1793–99; 1809–14) findet sich, zusätzlich zum Kernvorhaben der aktualisierend arrondierten Transzendentalphilosophie (»Wissenschaftslehre in specie«17), ein ganzes Korpus von Werken, mit denen in die kritisch-idealistische prima philosophia gezielt introduziert werden soll. Die kritische Protophilosophie umfasst bei Fichte verschiedene Textsorten: Einleitungen in die Wissenschaftslehre im engeren und eigentlichen Sinn, Abhandlung der für die Wissenschaftslehre relevanten psychologischen Fakten (›Tatsachen des Bewußtseins‹), differentielle Behandlung des rein logischem und des spezifisch transzendentalen Denkens (›Transzendentale Logik‹). Fichte geht mit Kant auch darin konform, den Kritizismus der als Wissenschaftslehre fortgeführten Transzendentalphilosophie nicht so sehr an distinkten Doktrinen als an einer generellen Geisteshaltung und gedanklichen Gesinnung (»Denkart«)18 festzumachen, die das eigenständige Denken in Absetzung von Tradition, Konvention und Vorurteil fordert und fördert. Der aufklärerische Imperativ des kritischen Denken gilt dabei nicht nur für die Form philosophischer Praxis, die im Selberdenken bestehen soll, sondern umfasst auch die Gehalte selbständigen Philosophierens. In Fortführung der als Vico-Prinzip be­ kannten ­Forschungsmaxime, die das richtig Erkannte (verum) und das selbst Gemachte (factum) für konvertibel erklärt, binden Kant wie Fichte das Erkennen und das Wissen an das Selbermachen und das Selbsttun. Für Fichte, der darin Kant fortführt, ist der kritische Idealismus performativ und angelegt auf Tätigkeit, die überdies eigene Tätigkeit sein soll, und zielt theoretisch auf Spontaneität und praktisch auf Freiheit.

17  18 

Fichte, GA II,8, 376. Kant, KrV B XI.

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2. System und Selbstkritik Das innige Verhältnis und die inhaltliche Identität von Kritik und System bei Fichte betreffen nicht nur die Binnenstruktur des kritisch begründeten Systems der Philosophie. Kritisch ist auch das Selbstverhältnis der Philosophie bei Fichte. Als kritische Philosophie ist die Wissenschaftslehre in eins Selbstkritik: reflexiv-produktiv bezogen auf die Möglichkeiten und Grenzen ihrer gedanklichen Leistungsfähigkeit. Auch in dieser Perspektive fungiert für Fichte Kant als Präzedenzfall und Vorbild. Die kritische Philosophie ist bei Kant wesentlich die Selbstkritik der Vernunft. Von der Transzendentalphilosophie (Kritik der reinen Vernunft) im engeren Sinn über die kritische Moralphilosophie (Kritik der praktischen Vernunft) zur kritischen Kunst- und Naturphilosophie (Kritik der Urteilskraft) geht es Kant um den Ursprung, die Möglichkeiten und die Grenzen des Vernunftgebrauchs im allgemeinen und des erfahrungsfreien, ›reinen‹ Gebrauchs der Vernunft im besonderen. Bei Fichte wird die philosophische Selbstkritik Programm und Methode. Die Wissenschaftslehre soll die ersten Prinzipien allen Wissens ermitteln und dabei die eigene Wissensform gleich mitbegründen. Künstliche Konzepte wie ›setzen‹, ›Tathandlung‹ und ›intellektuelle Anschauung‹ und Begriffsbildungen wie ›geistiges Sehen‹ und ›inneres ›Auge‹ dienen der strategischen Selbstrechtfertigung der Wissenschaftslehre als eines an ihm selbst evidenten Metawissens von den letzten Gründen und ersten Anfängen allen Wissens samt der darin involvierten Gegenstände.19 Auch die Differenzierung des artifiziell artikulierten generischen Subjekts von Denken und Handeln (›Ich‹) von dessen individuell-konkreter Instantiierung durch ein je besonderes Selbst gehört zur selbstkritischen Situierung der Wissenschaftslehre jenseits – oder vielmehr diesseits – von Psychologie und Anthropologie. So wie das Ich der Wissenschaftslehre nicht mit dem Einzelich ihres Autors zu verwechseln ist, handelt die Wissenschaftslehre nicht von einem anderen Einzelich, sondern adressiert einen identisch-invarianten ungegenständlichen Träger von Wissen und von wissensbasiertem Wollen, zu dessen Erkennen und Anerkennen die Wissenschaftslehre anleiten will. Vor allem aber erweist sich die selbstkritische Dimension der Wissenschaftslehre in deren fortgesetzter Verwandlung durch ihren Urheber, 19 

Zu Fichtes visuellen Begriffsmetaphern vgl. v. Verf.: »Life Into Which An Eye Has Been Inserted«. Fichte on the Fusion of Vitality and Vision, in: Rivista di Storia della Filosofia 69 (2014), 601–617.

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der die transzendentale Prinzipienlehre des Wissens über zwei Jahrzehnte weg immer wieder und immer wieder anders darstellt. Äußerer Anlass für die veränderte Präsentation sind zunächst die Missverständnisse und Fehleinschätzungen, die der Wissenschaftslehre in ihrer frühen publizierten Form, der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794–95, zuteil werden. Die daraufhin vorgelegte Neue Darstellung der Wissenschaftslehre oder Wissenschaftslehre nova methodo aus den Jahren 1796–99 begegnet dem individualpsychologischen Fehlverständnis des transzendentalen Ich durch die Rückführung von prinzipieller Ichheit auf ein rein-praktisches Selbstverhältnis (›reines Wollen‹) und durch die Rückführung von Individualität auf Sozialität (›Geisterwelt‹). Dramatischer und geradezu traumatisch wirkt auf Fichtes weiteres Wirken das atheistische Fehlverständnis seines moralphilosophischen Gottesbegriffs (›Atheismusstreit‹, 1798–99), das ihn indirekt und mittelbar um Amt und Würden bringt und ihn zur Schriftskepsis im Hinblick auf die Vermittlung der eigenen avancierten Transzendentalphilosophie (Wissenschaftslehre) gelangen lässt. Nach 1799 verzichtet Fichte praktisch ganz auf die Buchpublikation seiner fortgesetzten Arbeit an der Wissenschaftslehre und beschränkt deren Bekanntmachung auf zahlreiche und umfangreiche Vorlesungsreihen, die er zunächst vor einem Privatpublikum, 1805 ausnahmsweise als Professor in Erlangen sowie 1807 einmalig an der Universität Königsberg, und ab 1810 als Professor an der neugegründeten Berliner Universität hält. In den Jahren von 1800 bis 1814 trägt Fichte die Wissenschaftslehre nicht weniger als dreizehnmal vor – und immer wieder anders, mit wechselnder Terminologie und Konzeptualität, mit unterschiedlichem Aufbau, mit abweichenden historischen und systematischen Referenzen. Die ebenso serielle wie variative Präsentationsform der Wissenschaftslehre trägt dabei nicht zuletzt der sich verändernden philosophischen Diskurslage im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts Rechnung. Fichte greift gezielt auf Ausdrücke und Begriffe zurück, die dem Arsenal seiner Konkurrenten und Opponenten entstammen – vom Begriff des Lebens bei Jacobi bis zum Begriff des Absoluten bei Schelling.20 Ohne deshalb mit diesen Autoren übereinzustimmen, assimiliert Fich20 Vgl.

dazu v. Verf.: Das Absolute und seine Erscheinung. Die Schelling-Rezep­tion des späten Fichte, in: Jahrbuch des deutschen Idealismus/Yearbook of German Idealism 1 (2003), 165–182 sowie ders.: Fichte, Schelling und die Riesenschlacht um das Sein, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner. Darmstadt 2012, 221–236 sowie ders.: Fichte lesen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, 47–59.

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te den eigenen Diskurs an die philosophische Gesprächs- und Gedankenlage der Zeit, in der Absicht, auf diese Weise über seine inzwischen historisch gewordene Anregerrolle für den nachkantischen Idealismus hinaus im philosophischen Gespräch zu bleiben und weiterhin gedanklichen Einfluss auszuüben. Doch hat Fichtes Strategie der fortwährend veränderten Darstellung der Wissenschaftslehre, über die okkasionelle und opportunistische Anleihe bei fremden Theoremen hinaus, auch tiefere methodische Gründe und weitreichende systematische Folgen. Als Konsequenz ihres eminent kritischen und speziell selbstkritischen Charakters ist die Wissenschaftslehre für Fichte keine fertige Doktrin, die in fixer Form niedergelegt und verbreitet werden könnte. Das eigentümliche Element der Wissenschaftslehre ist für Fichte nicht der feste, rigide ›Buchstabe‹, sondern der bewegliche, flexible ›Geist‹. Deshalb dient die Darstellung der Wissenschaftslehre nicht der Instruktion und Indoktrination, sondern der Initiation und Inspiration. Die Wissenschaftslehre richtet sich nicht an passive Rezipienten, sondern an spontane Mitvollzieher und Mitverwirklicher eines philosophischen Denkens, das wesentlich im Vollzug seiner selbst und im je individuellem und ganz eigenen Erwerb von Einsicht besteht. Mit der immerfort veränderten Darstellungsform der Wissenschaftslehre trägt Fichte deren Kernerkenntnis Rechnung, dass Wissen nicht in der Wiederspiegelung vorgeblicher Tatsachen, sondern in der Hervorbringung normativer Gebilde besteht: gesollter Gegenstände, die als Objekte und Dinge in theoretischer Ansicht oder als Ziele und Zwecke in praktischer Einstellung zu erkennen und anzuerkennen sind. Doch gilt das über der Wissenschaftslehre waltende Wiederholungstabu nicht nur im Hinblick auf ihr Publikum, das primär hören und zuhören und erst sekundär – nachträglich oder substitutiv – lesen und nachlesen soll. Auch für Fichte selbst repräsentiert die Repetition und Reglementierung des bewegt-bewegenden Denkens, das darüber zum arretierten Gedanken zu werden droht, eine kognitive Gefährdung. Um die immer zu gewärtigende Objektivierung und Ossifizierung des eigenen, selbständigen Denkens zu vermeiden und der genuinen Agilität des Denkens gerecht zu werden, bedarf es des fortwährenden Wechsels in der Wiedergabe der Wissenschaftslehre – kein Begriff darf sich verfestigen, keine Einsicht soll sich fixieren, kein Gedankengang gelieren. Das Erfordernis von Veränderung auf der Seite von Produzent wie Rezipient bringt in die Darstellung der Wissenschaftslehre eine intrinsische Dynamik: nichts darf einfach wiederholt werden; die Form des

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Darstellung muss laufend verändert werden, damit ihr Inhalt – der geistige Gehalt der Wissenschaftslehre – als solcher erhalten bleibt. Doch ist Alteration und Variation nicht auch schon Progression und Perfektionierung. Damit der Wandel Fortschritt und die Änderung Entwicklung wird, braucht es eine gezielte Bewegung und einen Maßstab für die Zubewegung auf das Ziel. Der angestrebte Zielzustand der Wissenschaftslehre darf nun aber wiederum kein finales Produkt sein. Eine endgültige Darstellung kann es nicht geben, wohl aber die gezielt fortgesetzte Bemühung um die effektive Wiedergabe des Kernkonzepts der Wissenschaftslehre vom kritisch-idealistischen Charakter des Wissens als solchem. Wenn so die Wissenschaftslehre ihrem Wesen nach nicht ergon ist sondern energeia, nicht opus sondern operari, nicht Werk sondern Wirken, dann ist Vorsicht geboten bei der Annahme eines Entwicklungsgangs in der chronologisch manifesten Abfolge ihrer verschiedenen Darstellungen. Den späteren Darstellungen mögen Einsichten und Erfahrungen zugrunde liegen, die früheren Versionen unbekannt sind. Doch dürften dies eher Einsichten und Erfahrungen im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen in der Darstellung der Wissenschaftslehre sein und weniger solche, die der Wissenschaftslehre selbst und als solcher gelten – ihrem essentiell identischen methodisch-doktrinalen und systematischen Kern als reiner Prinzipientheorie allen Wissens wie alles Gewußten. Der gegenteilige Eindruck einer dramatischen Entwicklung der Wissenschaftslehre selbst und als solcher – namentlich ihre Fortentwicklung von kritischer Transzendentalphilosophie zu postkritischer Metaphysik oder gar antikritischer Mystik –, der sich früheren Interpreten und Exegeten ergeben haben mag, geht auf eine hochgradig selektive Lektüre von Texten und Textteilen zurück, durch die komprehensive und kontinuierliche Gedankengängen zu doktrinalen Äußerungen dogmatischer Art verformt werden. So wie das work-in-progress der Wissenschaftslehre keinen faktischen Endzustand kennt, verbietet es auch die Fixierung auf eine einzelne Darstellung, mag diese auch noch so sehr hervorragen durch die Originalität und Qualität der Präsentation. Erst recht aber widerspricht es dem Geist der Wissenschaftslehre, Teile eines umfassenden und fortlaufenden Fichteschen Textes nach Art einer Doxographie künstlich zu isolieren und kunstvoll zu präparieren. Zur Exkulpation der früheren Versuche über den späteren Fichte muß gesagt werden, daß bis vor kurzem – nämlich bis zum Abschluss der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissen-

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schaften (2012) – der volle Umfang und das ganze Ausmaß von Fichtes zwanzigjähriger Arbeit an der Darstellung der Wissenschaftslehre nicht absehbar und einsehbar waren. So konnte es scheinen, dass einzelne spätere Darstellungen, vor allem der monumentale zweite Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804, singuläre und finale, faktisch unüberbotene philosophische Leistungen lieferten. Doch im kompletten Kontext der noch folgenden späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre wie auch der vielen vorangegangenen Versionen wird jede einzelne Darstellung der Wissenschaftslehre zu einer Station neben zahlreichen weiteren und anderen auf einem Parcours, der nicht durch Steigerung und Emendation und sicher nicht durch Konversion und Retraktation, sondern durch Alteration und Variation gekennzeichnet ist.

3. System und Leben Auch wenn die seriell-variative Darstellungsform der Wissenschaftslehre keine einzelne endgültige Version und keine kontinuierlich aufsteigende Fortschrittsbewegung kennt, lassen sich in der Abfolge der insgesamt siebzehn Fassungen doch verschiedene Phasen ausmachen. Die ehemals übliche Zweiteilung in den frühen, Jenaer und den späten, Berliner Fichte muss allerdings im Licht des kritisch und komplett edierten Werkes revidiert werden. Für die Jahre nach dem erzwungenen Weggang aus Jena, die Fichte mit wenigen Ausnahmen (Erlangen 1805, Königsberg 1807) in Berlin verbringt, ist noch eine weitere Zweiteilung anzubringen, die im Hinblick auf die Vortragsfolge der Wissenschaftslehre zwischen den mittleren Jahren dort (1800–05; sieben Vorträge) und den späteren Berliner Jahren (1810–14; fünf Vorträge) unterscheidet, zu denen der Königsberger Vortrag der Wissenschaftslehre (1807) überleitet. Die daraus resultierende historische Abfolge von Frühphase, mittlerer Phase und Spätphase21 präsentiert sich auch systematisch als Dreiteilung mit je einem prominenten Konzept, das als Leitbegriff für die detaillierten Darstellungen dient: vom (absoluten) Ich beim frühen Fichte über das (absolute) Sein beim mittleren Fichte zum (absoluten) Leben beim späten Fichte. In allen drei Fällen und Phasen dient der jeweilige Leitbegriff zur konzeptuellen Artikulation der ultimativen 21  Zur

Dreiphasigkeit von Fichtes Werk im Hinblick auf eine analoge Werk­ entwicklung bei Beethoven vgl. v. Verf.: Parallelleben. Fichte und Beethoven, in: ­Fichte und die Kunst. Hrsg. v. Ives Radrizzani/Faustino Oncina Coves. Amsterdam/New York 2014, 279–301.

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Begründungsinstanz des Wissens im Hinblick auf seine Geltung unabhängig von kontingenten Umständen und zufälligen Bedingungen auf Seiten der im Wissen faktisch involvierten Subjekte und Objekte. Die phasenförmige Dreiteilung der siebzehn Darstellungen der Wissenschaftslehre weist darüber hinaus eine Wiederholungsstruktur auf, die dem Schema ABA – oder vielmehr ABA’ – folgt. Nach dem frühen Fokus der Darstellung der Wissenschaftslehre auf der transzendentalen Ichlehre mit ihrem Doppelthema von Denken und Wollen oder Erkennen und Handeln wechselt der Schwerpunkt der Darstellung beim mittleren Fichte zur transzendentallogischen Auffassung des Wissens in seiner geltungstheoretischen, ›absoluten‹ Qualität, um in den späten Darstellungen der Wissenschaftslehre wieder die praktische Prägung in Gestalt des Wollens in die prinzipielle Grundlegung des Wissens einzubeziehen. Die erste und die dritte Phase im Darstellungsgang der Wissenschaftslehre stimmen auch darin miteinander überein, dass in ihnen die Präsentation der Wissenschaftslehre mit systematisch zugehörigen Werken verbunden ist, die der Wissenschaftslehre im engeren und eigentlichen Sinn durch Propädeutik und Applikation zuarbeiten und nachfolgen. Dies gilt insbesondere für die Ergänzung der frühen und späten Darstellungen der Wissenschaftslehre durch je eine Rechts- und Sittenlehre (Grundlage des Naturrechts, 1796/97; Das System der Sittenlehre, 1798; Rechtslehre, 1812; Sittenlehre, 1812). Dagegen stehen die mittleren Darstellungen der Wissenschaftslehre systematisch isoliert, ein Umstand, der wohl auf die fehlende Einbindung von Fichtes frühen Berliner Vorlesungen in ein universitäres Lehrprogramm zurückgeht, wie es ihm vorher in Jena und später wieder in Berlin den Rahmen für eine curriculare Gesamtdarstellung des Systems der Philosophie vorgegeben hat. In der triadischen Grobgliederung ihrer Darstellungsgeschichte manifestiert sich so eine Verlaufskurve, die dem Entwicklungsgang der dargestellten Wissenschaftslehre eine zyklische Gesamtgestalt verleiht. Der späte Fichte kehrt mit dem systematischen Junktim von Leben, Wissen und Wollen auf der Grundlage seiner mittleren Phase mit ihrer Engführung von Wissen und Absolutem zu den zentralen Themen und primären Perspektiven seiner Frühphase zurück. Das repetitive Grundverhältnis zwischen den frühen und den späten Darstellungen der Wissenschaftslehre findet auch darin seinen Ausdruck, daß der späte Fichte eher summarisch und resümierend auf die Doktrinen und Details der frühen Fassungen, speziell der ersten und als einzige publizierten Version von 1794–95, verweist, ohne deren argumentative Akkuratesse

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und konstruktive Komplexität je wiederaufzunehmen. Beim späten wie auch schon beim mittleren Fichte tritt an die Stelle der frühen Vorliebe für Deduktion, Derivation und Demonstration eine Neigung zu Monotonie und Monothematik, die der eindringlichen Vergegenwärtigung zentraler Notionen und Positionen dienen sollen. Der Extremfall von Abbreviatur und Kondensation beim späten Fichte ist die radikale Reduktion des gesamten Lehrbestandes der Wissenschaftslehre auf »einen Gedanken«22 – den Gedanken, dass das Wissen, und nur das Wissen, die Erscheinung des Absoluten sei. Doch dient die formelhafte Verkürzung von Fichtes Lebenswerk nicht eigentlich der argumentativen Einführung in die Fundamentaltheorie der (späten) Wissenschaftslehre, die sie auch nicht etwa ersetzen soll. Vielmehr dient die griffige Wendung der effizienten Memorisierung, auf deren Grundlage dann das kritische System der Wissenschaftslehre in je eigenständiger Denkleistung (re-)konstruiert werden soll. Vor dem doppelten Hintergrund der frühen und der mittleren Darstellungen der Wissenschaftslehre betrachtet, liegt der originelle Beitrag der späten Darstellungen der Wissenschaftslehre denn auch nicht in doktrinalen Details und spezifischen Ergänzungen, sondern in der kritischen Selbstinterpretation der Wissenschaftslehre im allgemeinen und ihrer Lokalisierung im Verhältnis zur außer-, vor- und nachphilosophischen Wirklichkeit (›Leben‹) im besonderen. Stärker als in den vorangegangenen Darstellungen reflektiert Fichte in den späteren Vorträgen der Wissenschaftslehre auf Form und Art, aber auch auf Sinn und Zweck eines Philosophierens, das sich von der vitalen Wirklichkeit ebenso ­distinkt abhebt wie es intrinsisch auf sie bezogen ist. Besonders greifbar wird die präterphilosophische Perspektive der Spätphilosophie Fichtes in einem Vorlesungstext aus dem Jahr 1813, der die summarische Vorstellung der Wissenschaftslehre auf ihrem chronologisch späten und de facto letzten Darstellungsstand systematisch verknüpft mit der expliziten Applikation (›Anwendung‹) der Philosophie auf das Leben, der Wissenschaftslehre auf die Wirklichkeit in den Gebieten von Geschichte, Recht, Politik und Religion. Im Hinblick auf die in ihnen grundgelegte wie ausgeführte Fusionierung von purer und applizierter Wissenschaftslehre handelt sich bei diesen erst nach Fichtes Tod unter dem inauthentischen Titel Die Staatslehre (1820) herausgegebenen »Vorträge[n] verschiedenen Inhalts«23 um Fichtes philosophisches Ver22  23 

Fichte, GA II,13, 48. Fichte, GA II,16, 15.

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mächtnis, sein Opus postumum, das wie in einem Brennspiegel das systematische Anliegen Fichtes in der Wissenschaftslehre nicht nur zum Ausdruck bringt, sondern auch seiner Verwirklichung zuführt.24

4. Die reine und die angewendete Philosophie Die summarische späte Darstellung der Wissenschaftslehre im Eröffnungsteil der Staatslehre greift durchweg die seit der mittleren Darstellungsphase der Wissenschaftslehre vorfindliche Auffassung des Wissens als »Bildwesen«25 auf.26 Mit der essentiellen Identifikation von Wissen und Bild artikuliert der mittlere und späte Fichte zum einen den eigens produzierten, frei fabrizierten Charakter des Wissens, das nicht mechanisch und automatisch schon Vorhandenes wiederspiegelt, sondern gegenständliches Sein allererst – und zwar selbständig – setzt oder eben ›bildet‹. Zum anderen indiziert die Gleichsetzung von Wissen und Bilden den abgeleiteten (statt ursprünglichen) Charakter der Gegenstände des Wissens, die erst im und durch die bildende Leistung des Wissens zustande kommen. Indem der mittlere und späte Fichte den von Anfang an geltend gemachten kritischen Idealismus der Wissenschaftslehre als Idolismus und Imagismus ausformuliert, vermag er zugleich, den alternativen Realismus und opponierten Dogmatismus als Verwechslung von Bild und Ding zu demaskieren. Doch wichtiger noch als die innerphilosophische Auseinandersetzung über die Grundgestalt der Philosophie – ob Idealismus oder Realismus, Kritizismus oder Dogmatismus – ist für den Bildbegriff speziell des späten Fichte die Verwechslung von Bild und Ding durch das vorphilosophische Bewusstsein und dessen »natürliche[r] Weltansicht«.27 24  Vgl. dazu

v. Verf.: »Freiheit aller von der Freiheit aller.« Das Reich des Rechts in Fichtes geschichtsphilosophischer Staatslehre, in: Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800. Hrsg. v. ders./Tobias Döring/Barbara Vinken. München 2010, 199–213, ders.: Der Staat und das Reich. Fichtes politische Geschichtsphilosophie, in: Der Staat als Mittel zum Zweck. Fichte über Freiheit, Recht und Gesetz. Hrsg. v. ders., Baden-Baden 2011, 189–205 sowie ders.: »Die beiden Grundprincipien der Menschheit«. Glaube und Verstand in Fichtes später Staatsphilosophie, in: Philosophie und Religion. Hrsg. v. Markus Gabriel/Jens Halfwassen/Stephan Zimmermann. Heidelberg 2011, 171–191. 25  Fichte, GA II,16, 21. 26  Zum kritischen Bildbegriff Fichtes vgl. v. Verf.: Fichtebilderverbot. Historische und systematische Überlegungen zum philosophischen Umgang mit Fichtes Texten, in: Bild, Selbstbewusstsein, Einbildung. Hrsg. v. Alexander Schnell/Jan Kunes. Leiden/Boston 2016, 217–234. 27  Fichte, GA II,16, 17.

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Was dem natürlichen Bewusstsein als eine Welt von unabhängig vom Bewusstsein von ihnen existierenden Gegenständen erscheint (»System von Dingen«28), erweist sich in kritischer philosophischer Reflexion als eine Ordnung von im Wissen, durch das Wissen und für das Wissen gesetzten Erscheinungen (»System von Bildern«29). Doch der späte Fichte belässt es nicht bei der kritischen Reduktion von Gegenständen auf Erscheinungen und von Dingen auf Bilder. An die kritisch-idealistische Reduktion des Dingsystems auf das Bildersystem schließt sich in der späten Darstellung der Wissenschaftslehre, wie sie in der Staatslehre vorliegt, die weitere Zurückführung der Bilder-Dinge auf die Gesetze ihrer Generation an. Das generische Gesetz von Bildbildung oder Gegenstandsgeneration wird von Fichte als selber bildlich beschaffen aufgefasst – als »Bild überhaupt« oder »Urbild«30 für die Bildung von Bildern. Die kritisch-idealistische Einsicht in den derivativen Status vermeintlich selbständiger Dinge als bloßer nach Gesetzen generierter Bilder ergänzt und emendiert die faktische Erkenntnis der natürlichen Weltsicht durch die »genetische Erkenntniß«31 der philosophischen Weltsicht. Streng genommen haben für Fichte weder das ›System von Dingen‹ noch das ›System von Bildern‹ Bestand.32 Eigentlich gibt es nur die Gesetze, als deren Manifestation (»Ersichtlichkeit«33) die Ding-Bilder oder Bild-Dinge anzusehen sind. Der gestufte Rekurs von den Dingen auf die Bilder und von den Bildern auf die Gesetze terminiert beim späten Fichte – und exemplarisch so in der späten Staatslehre – in einem seinerseits zweifach gestalteten Gesetzesbegriff. Zunächst handelt es sich bei den Gesetzen, durch die die Bilder-Dinge allererst entstehen, um Gesetze der natürlichen Ordnung und ihrer Objekte (»Naturgesetze«34). Das auf dieser Stufe zu lokalisierende Denken über die Dinge gilt Fichte aber als defizitär. Der Rekurs auf Naturgesetzlichkeiten wiederholt für Fichte im Hinblick auf die operativen Gesetze die zuvor schon monierte Fixiertheit des dogmatischen Denkens hinsichtlich der vorgeblichen Faktizität der Dinge. Die defizitär-dogmatische Überhöhung der Naturgesetze zu Gesetzen schlechthin – eigentlich eine »Unphilosophie«35 – kennzeichnet der 28 Ebd. 29 Ebd. 30 

Fichte, GA II,16, 23 (im Original Hvh.). Fichte, GA II,16, 22 (im Original Hvh.). 32  Vgl. Fichte, GA II,16, 21. 33  Fichte, GA II,16, 21 (im Original Hvh.). 34  Fichte, GA II,16, 22. 35  Fichte, GA II,16, 20. 31 

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späte Fichte mit der dem frühen Schelling entlehnten Programmformel »Naturphilosophie«36, die dabei für das falsche dingliche Denken im allgemeinen und für die Verdinglichung der Natur zur unhintergehbaren Instanz von Gesetz- und Bildgebung im besonderen steht. Für den kritisch-idealistischen Ansatz der Wissenschaftslehre ist es dagegen charakteristisch, über die Gesetzlichkeit der Natur hinauszugehen auf eine andere Art von Gesetz, die nicht bloß blind wirkt, sondern die durch Vernunft und Überlegung zum Einsatz kommt – als praktisches Gesetz (»sittliche[s] Gesetz[]«37), das das Handeln regelt und darüber hinaus, dank der Vermittlungsleistung des Willens, das Handeln auch bewirkt. Im Verhältnis zur Gesetzlichkeit des Wollens und Handelns ist für den Fichte der Staatslehre die Gesetzlichkeit der Natur und ihrer Gegenstände nur die materiale, natürliche Grundlage (»Stoff«, »Sphäre«38) für außer- und übernatürliche, sittlich dimensionierte Tätigkeit. Nach Fichtes anti-dualistischer Auffassung ist das Materiale nur das funktionale Gegenüber für das Spirituale, dem es ebenso entgegensteht, wie es ihm entgegenkommen kann und soll. Mit dem Aufstieg von der natürlichen Gesetzlichkeit zur sittlichen Gesetzlichkeit geht beim Fichte der Staatslehre der Übergang vom Theoretischen zum Praktischen, von der Objekterkenntnis und Gegenstandsbestimmung zur Zwecksetzung und Willensbestimmung einher. Als praktisches Wissen drängt das Wissen zum Wollen und Handeln nach Maßgabe wollens- und handelnsspezifischer Normen (»sittliches Gesetz«39). Definitorisch für die Gesetzlichkeit des Wollens und Handelns, im Unterschied zur Gesetzlichkeit der Natur, ist die Kausalfunk­ tion der Freiheit als unbedingter Initiator des praktischen Handelns und der damit verbundenen Hervorbringung von gegenständlicher Wirklichkeit (»absolute[r] Anfänger des Seyns« 40). Für den späten Fichte ist Freiheit, wie schon vorher für Kant, kosmologisches Prinzip (»selbstständiger Grund von [...] Bestimmungen des Seyns«41). Der als radikal frei und absolut spontan anzusehende Wille ist aller natürlichen Determination überhoben (»keine Natur über den Willen«42) und Prinzip aller Natur und jeden Seins (»Keine Natur und kein Seyn aus-

36 

Fichte, GA II,16, 27. Fichte, GA II,16, 28 (im Original Hvh.). 38  Fichte, GA II,16, 27. 39  Fichte, GA II,16, 29 (im Original Hvh.). 40 Ebd. 41  Fichte, GA II,16, 25. 42  Fichte, GA II,16, 27. 37 

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ser durch den Willen [...]«43). Die Natur ist in Fichtes praktisch-idealistischer Perspektive nicht Ursprung und Grund, sondern Resultat und Folge (»keine [Natur], denn als Principiat«44).45 Die beim späten Fichte generell und speziell in der Staatslehre vorfindliche primär praktische Perspektive der Wissenschaftslehre nimmt die frühere Fokussierung, aus den Jenaer Jahren, auf dem Primat des Praktischen und auf der Prinzipienfunktion des Willens wieder auf. Auch die Relegation der Natur zum Materiallieferanten für freies Handeln und zur Arena sittlicher Selbstbewährung hat ihre Vorprägung beim Jenaer Fichte. Neu ist beim späten Fichte gegenüber der früheren Version der Wissenschaftslehre qua praktischem Idealismus, die ultimative Fundierung der Sittengesetzgebung in einer Instanz von Letztbegründung, die den Rekurs auf immer höhere Gesetzesarten verhindern soll und die darin an die Ausführungen zum Absoluten, zu Sein und zu Gott aus der mittleren Phase Fichtes anschließt. Der Rekurs auf ein Absolutes ist beim letzten Fichte also funktional begründet, als der philosophische Versuch, den Gesetzen der Freiheit selbst Absolutheit zu vindizieren, um deren Geltung vor dem epistemischen Skeptizismus, dem ethischen Relativismus und dem moralischen Nihilismus zu bewahren. In der Staatslehre wie in den separaten späten Darstellungen der Wissenschaftslehre geht Fichte sogar soweit, die Einführung eines absoluten Seins (›Gott‹) an die Denkgesetze des Verstandes zu binden (»Gott selbst ist in der Erkenntniß«46), um so die scheinbar absolute Realität eines Seins hinter dem Sollen doch wieder idealistisch einzuholen. ›Gott‹, ›das Absolute‹ oder ›das Sein‹ erweisen sich so als Anzeigen und Ausdrucksweisen für die unbedingte Geltung des (sittlichen) Gesetzes.47 Auch hier bestätigt sich die essentielle 43 Ebd. 44 

Ebd. (im Original Hvh.). Zum zentralen Begriff des Wollens bei Fichte vgl. v. Verf.: Thinking and Willing in Fichte’s Theory of Subjectivity, in: New Perspectives on Fichte. Hrsg. v. Da­niel Breazeale/Tom Rockmore. Atlantic Highlands 1995, 1–18, ders.: Bestimmung zur Selbstbestimmung. Fichtes Theorie des Willens, in: Fichte-Studien 7 (1995), 101–118, ders.: Fichte‘s Trans­cendental Philosophy: The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambridge 1998, ders.: Einheit und Differenz von Fichtes Theorie des Wollens, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), 430–440, ders.: Denken und Wollen beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 17 (2000), 283–298 und ders.: Thinking and Willing in Late Fichte, in: After Jena: New ­Essays on Fichte’s Later Philosophy. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Evanston, Ill. 2008, 51–66. 46  Fichte, GA II,16, 24 (Hvh. im Original). 47  Zu Fichtes radikaler Kritik an der onto-theologischen Metaphysik vgl. v. Verf.: »Das proton pseudos der gewöhnlichen profanen Philosophie«. Gott und Welt in Fichtes Er45 

System und Leben

113

Identität und substantielle Übereinstimmung des späten und des frühen Fichte. Schon in der ersten Jenaer Darstellung der Wissenschaftslehre hatte Fichte das Moment von Unbedingtheit in der Tätigkeit des Ich (›setzen‹) durch den Titel ›absolut‹ wiedergegeben (»[d]as absolute Ich«48), ohne damit eine eigene Entität losgelöst vom transzendentalen Handeln des Ich zu behaupten. Der späte Fichte verbindet die schon von früher her vertraute und nunmehr wieder aufgenommene praktische Prägung der Wissenschaftslehre mit deren praktischer Leistungsfähigkeit. Zwar ist die Wissenschaftslehre auch als transzendentale Theorie von Wollen und Handeln immer nur Theorie und vom Willen und Handeln selbst kategorial geschieden. Doch drängt die Wissenschaftslehre für den späten Fichte über sich selbst hinaus vom Wissen über das Wollen zum Wollen selbst und insbesondere vom Wissen über das moralisch qualifizierte Wollen zum ihm gemäßen Handeln (»ein sittliches Leben«49). Der späte Fichte fasst den Schritt von der philosophisch begründeten Theorie zur danach bestimmten Praxis als Übergang von der Wissenschaft zur Weisheit und sieht im Selbstüberstieg der Wissenschaftslehre zur »Weißheitslehre« 50 die Vollendung der Philosophie im Leben. Die vollendete Philosophie ist für den Fichte der Staatslehre die »angewendete[] Philosophie«.51 Genau genommen liegt die Anwendung der Philosophie also außerhalb der Philosophie selbst. Als angewendete ist die Philosophie nicht mehr Philosophie, sondern Leben – idealiter von der Philosophie bestimmtes Leben. Nach der Auffassung des späten Fichte, der darin an eigene frühere Vorstellungen anschließt, ist das vom philosophischen Wissen und dessen praktischer Weisheit geprägte Leben das ethisch gestaltete Leben. Doch kann die Philosophie, auch als zur Weisheitslehre gewandelte Wissenschaftslehre, ihre ethische Anwendung nicht einfach vorschreiben oder per Dekret vornehmen. Vielmehr muss die Anwendung der Philosophie je individuell und in eigener Initiative erfolgen. Der Modus philosophischer Instruktion im allgemeilanger Darstellung der Metaphysik, in: Fichte in Erlangen 1805. Beiträge zu den FichteTagungen in Rammenau (19.–21. Mai 2005) und in Erlangen (1.–3. Dezember 2005). Hrsg. v. Michael Gerten. Amsterdam/New York 2009, 359–379 sowie ders.: Ex aliquo nihil. Fichtes Antikreationismus, in: Der Eine oder der Andere. »Gott« in der klassischen deutschen Philosophie und im Denken der Gegenwart. Hrsg. v. Christoph Asmuth/Kazimir Drilo. Tübingen 2010, 39–54. 48  Fichte, GA I,2, 271. 49  Fichte, GA II,16, 30 (im Original Hvh.). 50  Fichte, GA II,11, 318 (im Original Hvh.). 51  Fichte, GA II,16, 15 (im Original Hvh.).

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nen und praktischer Erziehung im besonderen ist für Fichte seit seinen ­Jenaer Anfängen der Appell an die je eigene Freiheit und Verantwortung (»Aufforderung«52). Doch entwickelt Fichte in der späten Staatslehre zusätzlich noch eine Konzeption von praktischer, angewendeter Philosophie, die der Philosophie selbst und als solcher eine Domäne von Anwendung vindiziert. Die ›angewendete Philosophie‹ der späten Staatslehre ist Philosophie über Anwendung – philosophische Reflexion auf die Bedingungen, unter denen die vitale Verwirklichung des praktischen Wissens in Gestalt des ›sittlichen Lebens‹ gelingen kann – oder vielmehr allererst möglich ist. Es ist die zentrale These des späten Fichte in der Staatslehre, dass sittliches Leben – gelebte Sittlichkeit – eines gesellschaftlichen Rahmens bedarf, innerhalb dessen allererst effektiv ethisch gelebt und das heißt vor allem ethisch gehandelt werden kann. Der Staatslehre als ›angewendeter Philosophie‹ ist es nicht um die allgemein gültigen, ganz generellen Prinzipien der Sittlichkeit zu tun, die Gegenstand einer eigens aufgestellten Ethik (Sittenlehre) sind. Vielmehr geht es ihr um die konkreten, historisch spezifischen Bedingungen, unter denen ethisches Handeln nach den strengen Maßgaben von Fichtes ethischem Idealismus (System der Sittenlehre) faktisch zustande kommen kann. Der generelle Rahmen für mögliche Sittlichkeit ist für Fichte die Herrschaft des Rechts als einer politisch durchgesetzten Gesellschaftsordnung, die den einzelnen so im Verhältnis zu seinesgleichen positioniert, dass der Raum für Freiheit und speziell für freies ethisches Wollen und Tun für jeden Beteiligten gewährleistet ist. In der Durchführung ist Fichtes Staatslehre deshalb eine politische Philosophie der historischen Entwicklung von Recht als Prinzip und von Rechten als dessen Ausgestaltung. Fichtes besonderes Augenmerk gilt dabei der theoretischen Errungenschaft und der praktischen Verwirklichung von Gleichheit im Hinblick auf Recht und Rechte im Laufe der Geschichte. In juridischer Perspektive führt der Gang der Geschichte zu einer doppelten gesellschaftlichen Gleichheit: der gleichen Teilhabe aller an der rechtlichen Regelung des gesellschaftlichen Lebens (»Gleichheit des Rechts«) und der Teilhabe aller an den gleichen Rechten (»Gleichheit [...] der Rechte«).53 In der politischen Geschichtsphilosophie der Staatslehre ist die freiheitliche Zusammenführung von Rechtlichkeit und Gleichheit aber kein Selbstzweck und nicht schon das Endziel geschichtlicher Entwicklung. 52 

Fichte, GA I,3, 351. Fichte, GA I,8, 313, vgl. auch GA II,16, 120 u. 132.

53  Vgl.

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Die vernünftig verbreitete Herrschaft des Rechts (»Reich des Rechts«, »Rechtsreich[]«54) liefert ihrerseits erst die gesamtgesellschaftliche Grundlage für die massive Moralisierung und die extensive Ethisierung individueller und transindividueller menschlicher Existenz. Die generelle Freiheit von Unrecht und Gewalt befähigt und befördert für Fichte die Möglichkeit der genuin ethischen Selbstvervollkommnung des Menschen. Den präzisen Punkt für den Übergang von rechtlicher Regelung zu ethischer Einstellung lokalisiert der späte Fichte beim endlichen Absterben des Staates als Institution äußeren Rechtszwangs. Die zunehmende Einsicht der politisch gebildeten und zivisch gesinnten Bürger in den freiheitlichen Sinn und Zweck von juridischem Recht und politischer Ordnung führt, so Fichte, zur Verbreitung freiwilligen Rechttuns aus zivischer Überzeugung und damit zum faktischen Verzicht auf die Instrumente rechtlichen Zwangs (sanktionierte Gewalt, Strafe). Doch vermeidet der späte Fichte, der auch darin an sein Jenaer Frühwerk anschließt, die Konfusion von Recht und Moral (Ethik) in der Perspektive auf den sich selbst aufhebenden Staat. Die den Staat als Zwangsanstalt erübrigende allgemeine Rechtsgesinnung betrifft weiterhin das äußere rechtskonforme Handeln unter Ausschluss rein ethischer Motivation. Erst auf der Grundlage des freiwillig rechtlich befriedeten (staats-)bürgerlichen Zustandes kann jene zusätzliche Transformation zustande kommen, die jenseits des rein rechtlichen Gemeinwesens ein ethisches Gemeinwesen entstehen lässt. Ähnlich hatte schon Kant in seiner späten Religionsschrift zwischen der streng rechtlichen bürgerlichen Gesellschaft (›Staat‹) und dem ethischen bürgerlichen Gemeinwesen (›Kirche‹) unterschieden und dabei die Tugendrepublik als global und den Rechtsstaat als territorial ausgewiesen. 55 Der späte Kant und der späte Fichte teilen die der europäischen Aufklärung verpflichtete institutionelle und prinzipielle Trennung von Staat und Religion sowie von Recht und Moral – auch wenn beide die separaten Geltungssphären des Juridischen und des Ethischen in einen geschichtsphilosophischen Fortschrittsverlauf integrieren, der von der Äußerlichkeit des Rechts zur Innerlichkeit der Ethik führen soll. Speziell im Hinblick auf Fichte ist festzuhalten, dass die systematische Be54 

Fichte, GA II,16, 54. dazu v. Verf.: »[E]ine merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst«. Kant über das Verhältnis von historischem Kirchenglauben und reinem Religionsglauben. Erscheint in: Kant und das antinomische Denken. Hrsg. v. Heiner Klemme. Berlin/Boston. 55 Vgl.

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handlung der Anwendung der Philosophie auf die Sphären von Recht und Ethik in eine praktische Philosophie mündet, die dem kritischen Gedanken verpflichtet bleibt. Ganz so wie die Wissenschaftslehre in ihren späten Darstellungen nicht zu Metaphysik und Mystik mutiert, degeneriert auch Fichtes späte Rechts- und Sittenlehre nicht in politische Romantik und ethischen Sozialismus.

Martin Bondeli Reinhold über das Verhältnis von Denken und Sprechen »Das Wort ist also freylich nicht der Vater, aber es ist wohl mehr als der Pathe des ­Begriffes, dessen Vater unstreitig das ­Denkvermögen, aber dessen Mutter das Wort ist.«1

Nach einem Aufsehen erregenden Bekenntnis zu Kants kritischer Lehre, einer in den späten 1780er Jahren anhebenden Neudarstellung des kantischen Systems der Vernunft, einer sich ab Mitte der 1790er Jahre abzeichnenden Annäherung an fundamentalphilosophische Ansichten Fichtes und Jacobis sowie einer um 1800 in Anlehnung an Christoph Gottfried Bardilis Grundriß der Ersten Logik2 in Angriff genommenen Ausarbeitung eines Systems des ›Rationalen Realismus‹ gelangte Reinhold zu der Überzeugung, ein weiterer Fortschritt des wissenschaftlichen Philosophierens sei nur noch durch ein Systemdenken zu erreichen, das sich vorgängig der Aufhellung des Verhältnisses von Denken und Sprechen widme. 1806 legte er dazu eine erste zentrale Schrift vor, den Versuch einer Critik der Logik aus dem Gesichtspunkte der Sprache.3 1812 doppelte er mit der Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften4, seinem bekanntesten Spätwerk, nach. In den rund zehn Jahren bis zu seinem Tode 1823 folgten weitere beachtenswerte Publikationen, in denen er, ausgehend von Resultaten des Rationalen Realismus sowie unter einer sich verstärkenden Einbeziehung wahrheitstheoretischer Reflexionen, das Verhältnis von Denken und Sprechen unter die Lupe nahm. Zu nennen sind die 1816 veröffentlichte Schrift Das menschliche Erkenntnißver1  Karl

Leonhard Reinhold: Das menschliche Erkenntnißvermögen, aus dem Gesichtspunkte des durch die Wortsprache vermittelten Zusammenhangs zwischen der Sinnlichkeit und dem Denkvermögen. Kiel 1816, 225. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen«. 2  Christoph Gottfried Bardili: Grundriß der Ersten Logik, gereiniget von den Irrthümmern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondere; Keine Kritik sondern eine Medicina mentis, brauchbar hauptsächlich für Deutschlands Kritische Philosophie. Stuttgart 1800. Im Folgenden zitiert als »Bardili, Grundriß der Ersten Logik«. 3  Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer Critik der Logik aus dem Gesichtspunkte der Sprache. Kiel 1806. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Critik der Logik«. 4  Karl Leonhard Reinhold: Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften. Kiel 1812. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Synonymik«.

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mögen, aus dem Gesichtspunkte des durch die Wortsprache vermittelten Zusammenhangs zwischen der Sinnlichkeit und dem Denkvermögen5 und die letzte, von 1820 stammende Abhandlung Die alte Frage: Was ist die Wahrheit?6 Verglichen mit seinen früheren Schaffensphasen fanden Reinholds Denkergebnisse zum Verhältnis von Denken und Sprechen im damaligen philosophischen Diskurs nur geringe Beachtung. Und auch in der heutigen Forschung und Interpretation zu Reinhold stößt dessen Spätphase immer noch auf verhältnismäßig wenig Resonanz.7 Dies zu Unrecht. Denn Reinholds letzter Systembeitrag ist kein abseitiges Produkt des in den frühen 1790er Jahren im philosophischen Rampenlicht stehenden ersten Protagonisten des nachkantischen Systemdenkens. Reinholds eigenen Einschätzungen zufolge ist er repräsentativ für ein Problem, das ihn seit Beginn seines systematischen Philosophierens untergründig bewegte und anstachelte und das erst nach längerer Zeit

5 Reinhold,

Das menschliche Erkenntnißvermögen. Leonhard Reinhold: Die alte Frage: Was ist die Wahrheit? Bey den erneuerten Streitigkeiten über die göttliche Offenbarung und die menschliche Vernunft, in nähere Erwägung gezogen. Altona 1820. 7  Zu Reinholds sprachphilosophischen Reflexionen bzw. zu Reinholds philosophischer Spätphase äußern sich in nennenswerter Weise Herbert Adam: Carl Leonhard Reinholds philosophischer Standpunktwechsel. Heidelberg 1930, 129–134; Alfred Klemmt: Die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds nach 1800, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), 97–101, 250–277. Im Folgenden zitiert als »Klemmt, Die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds nach 1800«; HermannJosef Cloeren: Philosophie als Sprachkritik bei K. L. Reinhold. Interpretative Bemerkungen zu seiner Spätphilosophie, in: Kant-Studien 63 (1972) H. 2, 225–236; v. Verf.: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803. Frankfurt a. M. 1995, 269–272. Im Folgenden zitiert als »v. Verf., Das Anfangsproblem«; Pierluigi Valenza: Das Verhältnis zwischen Denken und Sprache in der Spätphilosophie Reinholds, in: Die Philosophie Karl Leonhard Reinholds. Fichte-Studien-Supplementa. Bd. 16. Hrsg. v. Martin Bondeli/Wolfgang H. Schrader. Amsterdam/New York 2003, 283–301. Im Folgenden zitiert als »Valenza, Das Verhältnis zwischen Denken und Sprache«; Pierluigi Valenza: Reinholds Abschied vom logischen Realismus, in: Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken K. L. Reinholds. Hrsg. v. Martin Bondeli/Alessandro Lazzari. Basel 2004, 215–235; Michael Gerten: Sprache und System. Zu K. L. Reinholds viertem, sprachphilosophischem Systemwechsel, in: Archivio die filosofia. Archives of Philosophy LXXIII (2005 N. 1–3) Pisa/Roma 2006, 167–191. Im Folgenden zitiert als »Gerten, Sprache und System«. Dirk Westerkamp: »Übereinstimmung des Seyns an sich«. Die Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs, in: Am Rande des Idealismus. Studien zur Philosophie Karl Leonhard Reinholds. Hrsg. v. Wolfgang Kersting/Dirk Westerkamp. Paderborn 2008, 187–232. Im Folgenden zitiert als »Westerkamp, »Übereinstimmung des Seyns an sich««. Silvan Imhof: Karl Leonhard Reinholds Kritik der philosophischen Sprache, in: Philosophie der Sprache im Vormärz. Hrsg. v. Sandra Markewitz. Bielefeld 2015, 47–73. Im Folgenden zitiert als »Imhof, Reinholds Kritik der philosophischen Sprache«. 6  Karl

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119

und über einige Umwege an die Oberfläche gelangte. Aber auch in Anbetracht der essentiellen Begründungs- und Darstellungsziele, die Reinhold mit seiner an Resultate von Kants Vernunftkritik anknüpfenden Elementarphilosophie oder ›Philosophie überhaupt‹ verfolgte, drängt sich der Schluss auf, dass seine künftige profilierte Beschäftigung mit dem Verhältnis von Denken und Sprechen keineswegs zufällig ist. Seit seinem Unternehmen der Elementarphilosophie sah Reinhold sich im Zusammenhang des Bemühens, das kantische System der Vernunft zu festigen, mit Fragen zum Verhältnis von Begriff und Wort konfrontiert. Reinhold vertrat bei diesem Festigungsvorhaben die Auffassung, dass das kantische System der Vernunft ausgehend von einem evidenten, »durchgängig bestimmten« Begriff des Vorstellens von etwas neu dargestellt werden und dass dieser Begriff kein anderer als die als »Satz des Bewußtseyns« zu artikulierende »Thatsache« sein sollte, »daß die Vorstellung im Bewußtseyn durch das Subjekt vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beyde bezogen werde.«8 Dabei war Reinhold sich allerdings auch darüber im Klaren, dass die Evidenz des Satzes des Bewusstseins nicht unabhängig vom Sprachgebrauch besteht, dass sie sich, mit anderen Worten, offenbar nur dann allgemein einstellt, wenn über die Bedeutung der dabei verwendeten Ausdrücke Einigkeit besteht. Vor diesem Hintergrund machte Reinhold in seinen Hauptschriften zur Elementarphilosophie wiederholt auch in einer generalisierenden Weise kenntlich,9 dass sich philosophische Begriffe nur dann befriedigend bestimmen lassen, wenn neben dem Rekurs auf begriffsdefinitorische Ideale der Klarheit und Deutlichkeit – darunter auch der Deutlichkeit im Sinne der transzendentalen Gesetzlichkeit von Erfahrung – gleichfalls der Tatsache Rechnung getragen wird, dass sich diese Begriffe nicht anders als durch gesprochene oder geschriebene »Worte festhalten, hervorrufen, und anderen mittheilen« lassen.10 Aus diesem 8  Zu

diesem Fundierungsbemühen vgl. insbesondere Karl Leonhard Reinhold: Ueber das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens. Jena 1791, 78 (Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. v. Martin Bondeli [im Folgenden RGS]. Bd. 4. Basel 2011, 50). Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Fundament«. 9  Man beachte insbesondere Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. Jena 1790, 6–9. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Beiträge I«; Reinhold, Fundament, 88–91, ders.: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Zweyter Band die Fundamente des philosophischen Wissens, der Metaphysik, Moral, moralischen Religion und Geschmackslehre betreffend. Jena 1794, 30–48. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, Beiträge II«. 10 Reinhold, Beiträge I, 8.

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Grunde bedarf es, so Reinhold in programmatischer Absicht, gleichfalls einer Exaktheit auf sprachlicher Ebene. Es ist zu vergegenwärtigen, dass Wörter als Zeichen, welche Begriffe oder Gedanken festhalten, hervorrufen und mitteilen, mehrdeutig sein können. Deshalb ist derart zu verfahren, dass sich weder eine Mehrdeutigkeit eines Wortes noch eine Bedeutungsvermengung verschiedener Wörter einstellt. Oder anders ausgedrückt: »Jedes Wort kann in der Philosophie nur einen einzigen bestimmten Begriff bezeichnen«.11 Im Falle des Wortes ›Vorstellung‹ ist es erforderlich, dass die Bedeutung eindeutig ist und dass sie dasselbe ist oder bezeichnet wie der in Form des Satzes des Bewusstseins definierte Begriff der Vorstellung. Mit diesen Überlegungen wurde somit genauer besehen das Programm einer semantischen Klärung von grundlegenden philosophischen Systemausdrücken ausgesprochen. Dies geschah allerdings noch ohne den Versuch, sich über ein entsprechendes Verfahren Gedanken zu machen. Zudem war Reinhold damals noch der Meinung, dass eine begriffsanalytische Generierung klarer und deutlicher Begriffe den Primat vor einem sprach­ analytischen Unternehmen haben sollte.12 In der Folge äußerte Reinhold sich mit vergleichbaren Reflexionen zum Verhältnis von Denken und Sprechen in der Frühphase der Ausarbeitung des Systems des Rationalen Realismus. Bei diesem System, das Reinhold als neu erachtete und im Blick auf die Skala der philosophierenden Vernunft sowohl über Kant und die eigene ehemalige Elementarphilosophie als auch über Fichtes Wissenschaftslehre und die Schelling’sche Identitätsphilosophie stellte, stand die Einsicht im Zen­trum, das erste Prinzip alles Philosophierens sei ein präreflexives »Prius κατ ̓ ἐξοχεν«, das sich auf der höchsten Stufe des Wissens als ein durch die Identitätsformel »A als A in A durch A« zu definierender Begriff des »Denkens« (»Denkens als Denkens«) manifestiere.13 Wie Reinhold im Jahre 1800 in einem Brief an Bardili zu verstehen gab, war damit der richtige Ausgangspunkt für jede kommende Systemphilosophie gefunden. Dennoch sollte auch bei diesem neuen Fundierungsunterfangen mitbedacht werden, dass der »Begriff«, der in seinem Bezug

11 Reinhold,

Beiträge I, 9. dazu Reinhold, Fundament, 90 (RGS 4, 55f.). – Man beachte zu diesem Befund auch Imhof, Reinholds Kritik der philosophischen Sprache, 47f. 13  Vgl. Bardili, Grundriß der Ersten Logik, 14f., 90; Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. dems. Hamburg 1801–1803, Heft 1, 106, Heft 3, 200. Im Folgenden zitiert als »Reinhold, ­Beyträge zur leichtern Uebersicht«. 12 Vgl.

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auf einen »Gegenstand« als »Sachzeichen« fungiert und »Sachbedeutung« hervorruft, unweigerlich an das »Wort« oder »Sprachzeichen«, welchem »Wortbedeutung« zukommt, gebunden ist.14 Demnach sollte es nicht ohne Relevanz sein, dass das Wort ›Denken‹ eindeutig und dabei in der dem definierten Begriff des Denkens entsprechenden Bedeutung verwendet wird. Was den Stellenwert dieser Reflexion betrifft, war Reinhold inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die sprachanalytische Aufgabe gegenüber der begriffsanalytischen aufzuwerten ist. Jedenfalls ging er davon aus, dass bei der Aufstellung eines auf dem Begriff des Denkens beruhenden philosophischen Systems von Anbeginn der Doppelcharakter des Denkens als einerseits »benennende, sprechende, diskurirende«, andererseits »erkennende, berechnende« Geistestätigkeit zur Geltung zu bringen ist.15 Gegen 1806, nach einer längeren Phase der auf die berechnende und erkennende Seite des Denkvermögens konzentrierten Ausarbeitung des Systems des Rationalen Realismus, begann Reinhold sich gleichfalls der sprachlichen Seite des Denkvermögens zuzuwenden. Dabei wollte er nun allerdings die Betrachtung dieser letzten Seite zur eigentlichen oder Hauptaufgabe der Philosophie erhoben wissen. Das Verhältnis von Denken und Sprechen soll in der Form eines neuen Systemansatzes abgehandelt werden, welcher »das Geschäft der ersten Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft, die Philosophia prima vollendet«16 und welcher somit den Grundlegungsteil eines kommenden Gesamtsystems der philosophischen Wissenschaften darstellt.17 Dementsprechend machte Reinhold publik, dass er nach seiner Phase des Rationalen Realismus nun einen weiteren markanten Systemwechsel vollzogen habe. Wie sich bereits um 1806 andeutete und 1812, mit dem Erscheinen der Synonymik, vollends herausstellte, ging es jetzt darum, die seit langem gehegte Idee einer semantischen Klärung zen14 Vgl.

Reinhold an Bardili. 17. Mai 1800, in: Christoph Gottfried Bardilis und Carl Leonhard Reinholds Briefwechsel über das Wesen der Philosophie und das Unwesen der Spekulation. Hrsg. v. Carl Leonhard Reinhold. München 1804, 174f. 15 Vgl. Reinhold an Bardili. 17. Mai 1800, in: Christoph Gottfried Bardilis und Carl Leonhard Reinholds Briefwechsel über das Wesen der Philosophie und das Unwesen der Spekulation. Hrsg. v. Carl Leonhard Reinhold. München 1804, 175. 16 Reinhold, Synonymik, 232. 17  Man darf behaupten, dass Reinhold mit dieser Programmatik im Rahmen der nachkantischen Systemphilosophie Neuland betritt. Bei Maimon, Fichte, Schelling, Hegel und anderen damaligen Mitstreitern kommt es zwar sehr wohl zu beachtenswerten Reflexionen über Ursprung, Funktion und Wesen der menschlichen oder einer göttlichen Sprache, jedoch nicht zu einem die Sprache in den Mittelpunkt rückenden Systemdenken.

122

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traler philosophischer Ausdrücke in Form einer Aufdeckung und Eliminierung synonymer oder homonymer Termini zur Ausführung zu bringen. Eine bestimmte Kontinuität zum vorangehenden System des Rationalen Realismus sollte bei alledem allerdings bestehen bleiben. Die philosophischen Ausdrücke, die es semantisch zu klären galt, sollten sich im Wesentlichen mit der Grundbegrifflichkeit des Systems des Rationalen Realismus decken. Ich möchte im Folgenden diese Etappendarstellung zu Reinholds Systemansatz zum Verhältnis von Denken und Sprechen nicht vertiefen und auch nicht auf Einzelabschnitte in der Entwicklung des Ansatzes selber eingehen. Ich will vielmehr aufzuzeigen versuchen, welche grundlegenden Einsichten Reinhold über Sprache allgemein sowie eigens zum Verhältnis von Denken und Sprechen gewonnen hat. Zugleich will ich darauf eingehen, wie diese Einsichten vor dem Hintergrund damaliger Reflexionen über Sprache sowie späterer sprachphilosophischer Positionen zu beurteilen sind. Dabei lässt sich allerdings ein gleichzeitiger Blick auf die früheren Phasen von Reinholds Denken wie auch eine damit einhergehende genetische Betrachtungsweise nicht umgehen. Denn es gibt offenkundig Problemdiagnosen und Grundauffassungen Reinholds zur Sprachthematik, die sich über alle oder zumindest mehrere Phasen seines Systemdenkens hindurchziehen und für ein angemessenes Verständnis des besagten Systemansatzes als bedeutsam erweisen. Ich unterteile meine Ausführungen in drei Schritte. Im ersten setzte ich bei Resultaten aus der Phase der Elementarphilosophie an (I), im zweiten bei Resultaten aus der Phase des Rationalen Realismus (II). Im dritten konzentrierte ich mich ganz auf die Phase, in der Reinhold das Verhältnis von Denken und Sprechen in den Mittelpunkt stellt (III).

I Mit der postulierten Zuordnung eines eindeutig verwendeten Wortes zu einem definierten Begriff tritt Reinhold gegen einen Missstand an, den er bis in seine Spätzeit in ähnlicher Weise beschreibt und bekämpfen zu können glaubt. Wie Reinhold in der Phase der Elementarphilosophie diagnostiziert, besteht dieser darin, dass diverse philosophische Sekten, darunter in neuester Zeit vor allem die »Popularphilosophen«, bei der Erörterung philosophischer Begriffe mit einem »willkührlichen

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123

Gebrauch der Worte« operieren,18 dies unter anderem mit der Rechtfertigung, dass es »nicht aufs Wort, sondern auf die Sache« ankomme.19 In späterer Zeit richtet Reinhold sein kritisches Augenmerk mehr und mehr auf die sogenannten spekulativen Entwürfe des nachkantischen Idealismus und formuliert seine diagnostische Aussage in einer umfassenderen Weise. Wie Reinhold in der Synonymik expliziert, zeichnen sich alle bisherigen Systeme der Philosophie dadurch aus, dass sie im Banne bald eines »besonderen, (partikulären)«, bald eines »gemeinen, (vulgären)« Sprachgebrauchs stehen und dadurch einer fatalen Sprachwillkür Vorschub leisten.20 Sie tragen dazu bei, dass man Sprache als ein nebensächliches und insofern auswechselbares Ausdrucksmittel von Gedanken versteht. Sie lassen bei ihrer Begriffsarbeit außer Acht, dass sprachliche Ausdrücke mehrdeutig sein können und öffnen dadurch der Sprachverwirrung Tür und Tor. Dieser Missstand lässt sich, so Reinholds genereller Vorschlag zur Abhilfe, nur beseitigen, wenn der besondere und der gemeine durch einen grundsätzlich anderen Sprachgebrauch überwunden werden. Reinhold konnotiert diesen von Anbeginn mit Vorstellungen einer Sprache der natürlichen Vernunft, in der Synonymik nennt er ihn den »allgemeinen« Sprachgebrauch.21 Wir wollen uns nicht darum kümmern, ob und inwieweit Reinholds Diagnosen zutreffend sind, sondern der Frage nachgehen, worauf Reinhold mit seinem Appell an einen allgemeinen Sprachgebrauch hinauswill. Zur Klärung dieser Frage gilt es auf drei Grundauffassungen hinzuweisen, die als typisch für Reinholds gesamtes Systemdenken gelten können. Reinhold geht es, so die erste, nicht darum, eine grundlegend neue, zur Verallgemeinerung geeignete philosophische Terminologie einzuführen. Es soll vielmehr an den philosophischen common sense angeschlossen, an traditionelle philosophische Ausdrücke wie »Einheit«, »Substanz«, »Grund«, »Vorstellung«, »Bewußtseyn« und so weiter angeknüpft werden. Dabei versteht sich allerdings, dass es, in Abhebung vom gemeinen Sprachgebrauch, einen common sense höherer, reflektierterer Stufe zu erreichen gilt. Es soll also eine philosophische Terminologie, die bereits vorhanden ist, jedoch einer kritischen Bearbeitung bedarf, in eine elaborierte Form gebracht werden. In diesem Sinne schreibt Reinhold über sein Projekt einer Synonymik, dass diese »Dollmetscherin des allgemeinen Sprachgebrauchs« sein und dadurch 18  Vgl.

Reinhold, Fundament, 89 (RGS 4, 55). Reinhold, Beiträge I, 6. 20  Vgl. Reinhold, Synonymik, XIf., 5f. 21  Vgl. Reinhold, Synonymik, XII, 6. 19 Vgl.

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weder neue Kunstwörter einführen noch die Aufgabe haben soll, »neue Bedeutungen der Wörter zu erfinden«. Es soll in ihr vielmehr darum gehen, die »ursprünglichen« und »wechsellosen« Wortbedeutungen, »welche von jeher stillschweigend, aber eben darum noch nie ausdrücklich, sonach auch nie deutlich, sondern immer nur verworren vorausgesetzt worden sind, durch wörtliches, ausdrückliches, deutliches Aussprechen derselben, aus der Dunkelheit und Verworrenheit hervorzuheben.«22 Zweitens argumentiert Reinhold vor dem Hintergrund eines antikonventionalistischen Sprachverständnisses in Bezug auf das Verhältnis von Wort und Begriff. Reinhold rüttelt dabei keinesfalls an der sprachhistorisch bedeutsamen Feststellung, dass sich die aktuell verwendeten geschriebenen und gesprochenen Wörter, sei dies in der Philosophie oder in der Alltagssprache, aufgrund von Prozessen der »Abstraktion« von dem Begriff oder Gegenstand, den sie bezeichnen, losgelöst haben, nur noch rudimentär eine bildliche oder lautliche Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten aufweisen.23 Dass Wörter demnach nicht als »natürliche«, sondern als »willkürliche« (künstliche) Zeichen aufzufassen sind24 und dass in dieser Hinsicht ein Konventionalismus besteht, stellt Reinhold also nicht in Frage. Hingegen wendet er sich gegen einen Konventionalismus, der mit Locke behauptet, dass grundsätzlich keine natürliche, sondern eine willkürliche, das heißt in diesem Falle: beliebige, durch freie Wahl entstandene, Zuordnung von Wort und Begriff existiert (»voluntary Imposition, whereby such a Word is made arbitrarily the Mark of such an Idea«)25 und dass dasjenige, was in diesem Rahmen als natürliche Zuordnung erscheint, nichts als eine auf Gewohnheit beruhende Konsolidierung einer willkürlichen Zuordnung ist. Bereits in der aus der Phase der Elementarphilosophie stammenden Schrift Ueber das Fundament des philosophischen Wissens gibt Reinhold zu bedenken, dass unsere vernunftgeleitete Verständigungspraxis der These eines beliebigen Sprachgebrauchs widerstreitet. Jedermann weiß, so argumentiert Reinhold in dieser Sache, »daß er weder sich selbst, noch andere ohne eine von aller Willkühr unabhängige Bedeutung der Worte verstehen würde.«26 In der Synonymik attackiert Reinhold daraufhin in aller Deut22 Reinhold, 23 Vgl.

Synonymik, 37. Reinhold, Beiträge II, 32f. – Vgl. auch Das menschliche Erkenntnißvermögen,

85–94. 24  Vgl. Reinhold, Beiträge II, 32f. 25  Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Book III, Chap. 2, § 1; Ed. with an Introduction by P. H. Nidditch. Oxford 1975, 405. Im Folgenden zitiert als »Locke, An Essay; Nidditch«. 26 Reinhold, Fundament, 88 (RGS 4, 54f.).

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lichkeit jenen Konventionalismus, der die Zuordnung von Wort und Begriff an nichts anderem als der »Gewohnheit« festmacht.27 Und in der Schrift über Das menschliche Erkenntnißvermögen erhebt er schließlich gegen jene älteren und neueren Philosophen,28 welche Wörter als »durch Uebereinkunft (Compakt, Convention)« festgesetzte Zeichen interpretieren, den Einwand, Wörter seien vielmehr die »natürlichen«, das heißt hier: mit einer natürlichen Zuordnung einhergehenden, Zeichen des »Denkbaren« oder »Uebersinnlichen«.29 Alles in allem ist unverkennbar, dass Reinhold mit dieser anti-konventionalistischen Stoßrichtung über die Forderung einer singulären und eindeutigen Wortverwendung im Verhältnis von Wort und Begriff hinausgeht. Es wird damit der Sache nach die Auffassung vertreten, dass im Verhältnis von Wort und Begriff ebenfalls der Beliebigkeit der Wahl von Wörtern Grenzen gesetzt sind und dass es dementsprechend gerade auch an dieser Stelle Kritik an einem willkürlichen Sprachgebrauch zu üben gilt. Welche Instanz oder welches Vermögen in diesem Falle der Willkür der Wortwahl entgegenwirkt und die Zuordnung von Wort und Begriff regelt, ist aus Reinholds Ausführungen während der Phase der Elementarphilosophie nicht zu erfahren. Aus den späteren Texten lässt sich entnehmen, dass Reinhold dem Konventionalismus Locke’scher Prägung einen Objektivismus entgegenhält, welcher Ansichten von Leibniz und Jacobi zusammenführt. Zum einen ist Reinhold offenkundig mit Leibniz darin einig, dass es ein die Grundlage der Wahrheit (»fundamentum veritatis«) ausmachendes Verhältnis von Wort und Ding gibt, das, sosehr die Ebene der Zeichen sich von jener der Dinge abgelöst hat, nicht willkürlich ist (»quod non est arbitrarium«).30 Zum anderen teilt er, wie der Jacobi gewidmete Vorbericht der Synonymik offenlegt, dessen sich das biblische Motiv der göttlichen Sprache zu eigen machende Auffassung, wonach das »Wort« zu jenen Geistesmedien gehört, die ursprünglich »zwischen uns und dem 27  Vgl.

Reinhold, Synonymik, 5. von der Frontstellung gegen Locke polemisiert Reinhold in dieser Sache vor allem gegen Fichte, Fries, Bouterwek und Gottlob Ernst Schulze. Vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 212–226. 29  Vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 83. 30 Vgl. Dialogus de connexione inter res et verba, et veritas realitate, in: Œuvres philosophiques latines et françoises de feu Mr. de Leibnitz. Tiré’es de ses manuscripts qui se conservent dans la bibliothèque royale à Hanovre, et publié’es par M. Rud. Eric Raspe. Avec une Préface de Mr. Kaestner, Professeur en Mathématique à Göttingue. Amsterdam/Leipzig 1765, 511. – Zu Reinholds Kenntnis der Leibniz-Ausgabe Raspes vgl. Reinhold, Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 1, Anm. 12. 28  Abgesehen

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wahren Wesen« stehen31 und die deshalb bei mimetischem Gebrauch das göttliche Wesen selbst anzukündigen vermögen.32 Reinholds Objektivismus erweist sich hiermit als eine Position, die gleichermaßen die Natur der Dinge wie den göttlichen Ursprung als Maßstab der richtigen Wort- oder Zeichenverwendung in Anspruch nimmt. Und mit diesem Doppelprofil erinnert sie nicht zuletzt an das auf Luther zurückgehende und sich im späten 18. Jahrhundert auffällig bei Johann Georg Hamann manifestierende Bemühen, das Motiv der göttlichen Sprache mit dem Appell an den natürlichen und dabei sowohl im inneren (geistigen) wie auch im äußeren (geschriebenen oder gesprochenen) Wort verankerten Wortsinn zu synthetisieren.33 Drittens stellt Reinhold im Blick auf diverse philosophische Wissensbereiche und Wissenschaften Erwägungen dazu an, unter welchen Bedingungen der Willkürspielraum im Verhältnis von Wort und Begriff eingeengt wird. Dabei gelangt er zu der Einsicht, dass das Problem der Willkür (Beliebigkeit) der Wortwahl näher besehen lediglich im Falle einer bestimmten Gruppe philosophischer Begriffe virulent ist. Problematisch sind seines Erachtens nicht diejenigen philosophischen Begriffe, die sich auf die »empirischen Vorstellungen« sowie auf die »transzendentalen Gesetze« der Ermöglichung der äußeren Erfahrung beziehen können.34 Denn die in diesen Fällen bestehende Annäherung »ab­strakter Gedanken« an die »konkreten der äußeren Erfahrung« 35 gewährt einer »Phantasie«, die bald zur Beliebigkeit der Wortwahl verführt, bald bei der Nennung eines Wortes eine »metaphorische Bedeutung« desselben kreiert,36 verhältnismäßig wenig Entfaltungsmöglichkeit. Problematisch sind vielmehr diejenigen philosophischen 31 Vgl.

Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811), in: ders.: Werke. Gesamtausgabe, Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Bd. 3. Hamburg 2000, 14. 32  Zur Gemeinschaft Reinholds mit Jacobi in diesem Punkt vgl. Valenza, Das Verhältnis zwischen Denken und Sprache, 294–301; Gerten, Sprache und System, 184f. 33  Zu Luther in dieser Sache vgl. Peter Meinhold: Luthers Sprachphilosophie. Berlin 1958, 11–16, 25f.; Bengt Hägglund: Martin Luther über die Sprache, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 26 (1984), 1–12; Ulrich Barth: Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis, in: Martin Luther. Hrsg. v. Christian Danz. Darmstadt 2015, 135f. – Dass Reinhold, der Mitte der 1780er Jahre zum Protestantismus übertrat und in der Folge eine Ehrenrettung der Lutherischen Reformation (Jena 1789) verfasste, sich gezielt auch in sprachphilosophischer Hinsicht lutherischem Gedankengut zugewandt hat, ist nicht auszuschließen. 34  Vgl. Reinhold, Beiträge II, 36f. 35  Vgl. Reinhold, Beiträge II, 38. 36  Vgl. Reinhold, Beiträge II, 43.

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Begriffe, welche, wie die Begriffe des bloßen Bewusstseins, Selbstbewusstseins oder Subjekts, dem Bereich der inneren Erfahrung, den »transzendentalen Vermögen des Gemütes«,37 zukommen und erklärtermaßen von aller äußeren, räumlich-bildlichen Erfahrung entfernt sind. Im Rekurs auf Kants Unterscheidung von philosophischen als diskursiven und mathematischen als intuitiven Vorstellungen38 bringt Reinhold ferner von Anbeginn zum Ausdruck, dass das Problem der Sprachverwirrung auch bei mathematischen Begriffen von eher geringer Relevanz ist. Später wird er diesen Befund unter Einbezug der gesamten »sogenannten exakten Wissenschaften« zur Diskussion stellen39 und präzisierend ausführen, dass nicht diejenigen Begriffe oder »Wortbedeutungen« problematisch sind, bei denen eine unterstützende Darstellung in Form von »Figuren, Zahlzeichen, Bildern und sinnenfälligen Wahrnehmungen« möglich ist,40 also beispielsweise mathematische Begriffe wie Dreieck oder Kreis, sondern diejenigen Begriffe, bei denen, wie vornehmlich bei den philosophischen Grundbegriffen der »Logik« und »Metaphysik«,41 eine unterstützende Darstellung dieser Art nicht oder nur beschränkt möglich ist. Reinhold spricht mitunter davon, dass es sich in diesem Falle um »bilderlose Wörter« handelt,42 was nicht heißen kann, dass das Wortzeichen hier nicht sinnlich ist und dass man bei der Generierung der Wortbedeutung von einem Bezug zum Vermögen der »Einbildungskraft« vollständig abstrahieren kann.43

II Kommen wir zum zweiten, mit den Anfängen des Systems des Rationalen Realismus verwobenen Schritt. Es ist augenfällig, dass Reinhold um 1800 das System des Rationalen Realismus unter anderem deshalb für vielversprechend hält, weil dessen Initiator, der sowohl 37  Vgl.

Reinhold, Beiträge II, 45. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, 763 (A 713/ B 741), 768 (A 719 / B 747). 39  Vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 85. 40  Vgl. Reinhold, Synonymik, XIII. 41  Vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 125f. 42  Vgl. Reinhold, Synonymik, XIII. 43  Man konsultiere in dieser Sache Reinholds differenzierte Überlegungen zur Sprache im Spannungsfeld von Sinnlichkeit (bzw. Bildlichkeit) einerseits und Denkvermögen andererseits in Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 4–7. 38 Vgl.

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von der Tradition der spekulativen Urteilskritik als auch von Leibniz‘ Idee einer mathematischen Universalsprache beeinflusste Bardili, die Hauptbegrifflichkeit seines Logikkonzepts unter Zuhilfenahme sinnenfälliger Zeichen entfaltet.44 Das Prinzip dieses Systems, das Denken als Denken, wird wie erwähnt mittels der Formel »A als A in A durch A« wiedergegeben.45 Die aus der Anwendung dieses Prinzips auf Stoffe oder Gegenstände resultierenden Folgebegriffe werden mittels weiterer algebrarischer Zeichen (B, C, b) und daraus zusammengesetzter Formeln ausgedrückt. Verständlicherweise schließt dieser Aspekt von Reinholds Interesse am System des Rationalen Realismus ein, dass er seine bisherigen Ansichten zum Verhältnis von philosophischen und mathematischen Begriffen in einer gewissen Hinsicht revidiert. Er hält es nun offenbar auch für möglich und sinnvoll, nicht nur bei mathematischen, sondern auch bei philosophischen Begriffen und damit im Falle der Logik und Metaphysik von einer unterstützenden Darstellung durch sinnenfällige Zeichen Gebrauch zu machen. Allerdings ist Reinhold sich bewusst, dass allein mit diesem Unterfangen der unliebsamen Sprachwillkür nur beschränkt entgegengetreten werden kann. So ist zwar nicht zu bestreiten, dass sich philosophische Begriffe im Bereich der Logik und Metaphysik unter der Einbeziehung sinnenfälliger Zeichen leichter verwenden, in einer evidenteren Weise voneinander unterscheiden und klassifizieren lassen. Aber da diese Begriffe ihrer eigentlichen Natur nach in Wortzeichen und nicht in Sachzeichen wiedergegeben werden, bleibt eine Verständigung über die Wortverwendung nach wie vor unumgänglich. Richtungweisend für die Art und Weise, wie der kommende Systemansatz zum Verhältnis von Denken und Sprechen ausfällt, wird deshalb nicht die Überlegung zu den Möglichkeiten und Grenzen einer sinnenfälligen Darstellung philosophischer Begriffe sein, sondern die 44  Allgemein

zu Bardilis System des Logischen oder Rationalen Realismus vgl. Rebecca Paimann: Das Denken als Denken. Die Philosophie des Christoph Gottfried Bardili. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009, 131–245. Zur Rezeption und Fortentwicklung dieses Systems durch Reinhold vgl. v. Verf., Das Anfangsproblem, 261–414. In Bezug auf ­Bardilis urteilskritische Haltung, die in Form einer »Ur-Theilungs- oder Objekt-lehre« zum Ausdruck gebracht wird, beachte man Bardili, Grundriß der Ersten Logik, 67. 45  Zur Interpretation sowie zu der sowohl mit Fichtes »A = A« aus dem Herleitung zum ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre als auch mit substanzontologischen Denkmustern in Verbindung zu bringenden Herkunft dieser Formel siehe v. Verf., Das Anfangsproblem, 290–294, 278, Anm. – Man beachte, was den naheliegenden Rekurs auf die Substanzontologie betrifft, insbesondere auch die strukturellen Bestimmungen zum Theorem der Veränderung des Unveränderlichen bei Aristoteles (Metaphysik. XII. 1069b–1070a).

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Tatsache, dass Reinhold mit dem Denken als Denken, das im System des Rationalen Realismus die Spitze bildet, einen unwiderruflichen prinzipientheoretischen Bruch mit seinen früheren Systemresultaten vollzieht. Das in der Phase der Elementarphilosophie vertretene erste Prinzip des Vorstellens, mit dem die Struktur eines als Beziehung und Unterscheidung zu begreifenden Verhältnisses von Subjekt und Objekt gekennzeichnet wird, wie auch die vorübergehend mit Fichte geteilte Ansicht, wonach das Subjekt, Ich oder Selbstbewusstsein den Grundstein des philosophischen Systems darstellt, werden verabschiedet. Reinhold rechnet künftig diese ehemaligen Vorschläge, wie schließlich auch den Schelling-Hegel’schen Ausgang von einer absoluten Einheit des Subjektiven und Objektiven, zu einem bei Kant beginnenden subjektiven Idealismus. Das Denken als Denken und dessen Anwendung auf die Materie will Reinhold demgegenüber als Axiom eines neuen Systems des Realismus und Objektivismus sowie als kritisch-methodisches »Scheidungsmittel der Subjektivität von der Objektivität« verstanden wissen.46 Wie diese anti-subjektivistische Abgrenzung genau zu verstehen ist und welche Motive Reinhold zu dieser führen, muss hier nicht näher verfolgt werden.47 Für uns ist die Feststellung entscheidend, dass sich mit dieser Umorientierung eine markante Veränderung in Reinholds Reflexionen zum Spannungsfeld von Wort und Begriff ergibt. Wie erwähnt hat Reinhold in der Phase der Elementarphilosophie großen Wert auf das Verständnis einer evidenten Begriffsbestimmung und auf die Erfüllung entsprechender begriffsanalytischer Aufgaben gelegt und hierbei herausgehoben, dass es den Begriff als den durch das Wort vermittelten Gedanken (›Wortbedeutung‹) aufzufassen gilt. Doch wie verhält er sich dabei zur Frage, wie Gedanken zustande kommen? Und wie zur Frage, wer Träger oder Schöpfer von Gedanken ist? Den sachlichen Ausführungen zufolge ist Reinhold davon ausgegangen, dass Gedanken Produkte eines Zusammenhangs von einerseits Form des Vorstellens und andererseits äußerem oder innerem Stoff des Vorstellens sind und dass wir über einen Grundbestand solcher Produkte je schon in uns, in unserem Gemüt, in Form eines aktualisierbaren Vermögens verfügen. Es versteht sich, dass bei einer solchen Sichtweise der Trägerschaft und Tätigkeit des Gemüts eine basale Rolle zugeschrie46  Vgl.

Reinhold, Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 3, 169. Vgl. v. Verf.: Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme für ein System des Rationalen Realismus, in: System und Systemkritik um 1800–1809. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus. Bd. 4. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg/Violetta L. Waibel. Hamburg 2018, 317–340. 47 

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ben wird. Bezeichnenderweise war Reinhold bei seinen Definitionen im Rahmen der Theorie des Vorstellungsvermögens zu der Ansicht gelangt, der »Gedanke« sei die Wirkung eines Denkens, das man seinerseits als »Handlung des Gemüths« aufzufassen habe.48 Dieses auf das Gemüt und dessen Handlung zugeschnittene Raisonnement zum Begriff des Gedankens erinnert an einen semantischen Psychologismus, der, wie schon der Konventionalismus, ebenfalls wesentlich Locke zuzuschreiben ist. Dieser Position zufolge sind die durch bestimmte Wörter hervorgerufenen Bedeutungen oder Gedanken dasselbe wie die in ebendiesen Wörtern gefassten Vorstellungen und Operationen eines Subjekts. Locke spricht davon, dass Wörter die Vertreter von Ideen im Geiste dessen, der sie benutzt, sind (»Words in their primary or immediate Signification, stand for nothing, but the Ideas in the Mind of him that uses them«).49 Wie sich Reinhold die Sache hier auch näher ausgedacht haben mag, es steht außer Zweifel, dass er mit dem Übergang zum System des Rationalen Realismus zur Frage nach dem ontologischen Status von Gedanken in einer markanten Weise Position bezieht. Die anti-subjektivistische Haltung, die mit der Annahme eines Prinzips des Denkens als Denkens einhergeht, hat zur Folge, dass das Verständnis von Gedanke oder Wortbedeutung in einer bestimmten Hinsicht als anti-psychologisch aufzufassen ist. Ein Gedanke muss zwar vorgestellt werden oder zu Bewusstsein kommen, ist als solcher aber nichts Subjektives, im Gemüt Vorhandenes, sondern etwas Objektives, in einem gegenständlichen Bereich Vorhandenes. Diese anti-psychologische Neuausrichtung gehört in der Folge zu den Bausteinen von Reinholds auf das Verhältnis von Denken und Sprechen fokussiertem Systemansatz. In diesem Sinne hält Reinhold in der Synonymik fest, der »Gedanke« sei ursprünglich kein Ergebnis des Vorstellens, sondern des reinen Denkens, genauer: der »Anwendung des reinen Denkens«. Soweit er als Bewusstsein umschrieben werden könne, sei der Gedanke ein allgemeines »reinvernünftiges Bewußtseyn«, das nicht mit dem »besondern Bewußtseyn des besondern menschlichen Einzelwesens« verwechselt werden dürfe.50 Es ist meines Erachtens nicht abwegig, Reinholds Position an diesem Punkt als eine Vorwegnahme von Freges Einstufung der Welt der Gedanken zu sehen. Frege zufolge sind »Gedanken« weder »Dinge 48  Vgl.

Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789, 314 (RGS 1, 206). 49 Locke, An Essay, Book III, Chap. 2, § 2; Nidditch, 405. 50  Vgl. Reinhold, Synonymik, 233.

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der Außenwelt« noch »Vorstellungen«.51 Sie sind nicht Dinge der Außenwelt, da sie sich allenfalls in ihrem Gehalt auf solche Dinge beziehen. Sie sind nicht Vorstellungen, da Vorstellungen jeder Art, im Unterschied zu Gedanken, ihrem Wesen nach mit einem Subjekt als Träger und einem rezeptiven oder aktiven Vermögen zu tun haben. Gedanken bilden in diesem Sinne ein autonomes, ein ›drittes Reich‹. Reinholds Nähe zu Frege ergibt sich hier genauer besehen nicht nur aufgrund der Frontstellung gegen das Vorstellungs-Paradigma. Sie wird auch augenfällig aufgrund des Versuchs, einen naiven Realismus oder Objektivismus zurückzuweisen. Wie Frege ist auch Reinhold von der Auffassung entfernt, dass Gedanken nicht mentale Vorstellungen oder Operationen, jedoch Repräsentanten von Dingen einer äußeren Welt sind. Nach Reinhold darf die »Objektivität« der Gedanken oder – wie er es auch nennt – das »Objektive an sich« nicht mit dem kantischen »Dinge an sich« verwechselt werden.52

III Wenden wir uns mit diesen Resultaten aus den ersten beiden Schritten dem letzten Systemansatz Reinholds zu. Allem voran ist zu konstatieren, dass Reinhold mit diesem Systemansatz in prononcierter Weise eine anti-instrumentalistische Sprachauffassung zur Geltung zu bringen versucht. Diese Auffassung, die Reinhold unter anderem durch Herder geläufig ist,53 besteht in der Annahme, dass Sprechen und Denken von Grund auf miteinander verwoben sind, dass Sprache insofern nicht nur Ausdruck, Werkzeug oder Organ des Denkens ist, sondern auch Bedingung des Denkens. Am klarsten in dieser Richtung äußert Reinhold sich in der Schrift Das menschliche Erkenntnißvermögen. Er polemisiert dort gegen jene philosophischen Mitstreiter, welche Sprache nur als »Mittel« des Ausdrucks von »ohne sie« bestehenden Gedanken, 51 Vgl.

Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung, in: ders.: Logische Untersuchungen. Hrsg. v. Günther Patzig. 3. Aufl. Göttingen 1986, 43. Im Folgenden zitiert als »Frege, Der Gedanke«. 52  Vgl. Reinhold, Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 6, 68. 53  Seine Übereinstimmung mit Herder, der die anti-instrumentalistische These einer ursprünglichen Verbundenheit von Vernunft und Sprache (»ratio et oratio!«) unter anderem in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache unterbreitet hat (vgl. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan, 5. Bd., Berlin 1891, 40), bekundet Reinhold im Versuch einer Critik der Logik, 89–92. Man beachte auch das Motto dieser Schrift.

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Reflexion über Sprache nur als Beiwerk der Systemkomposition begreifen. Er geißelt jene, die verkennen, dass Sprache als »unentbehrlich zur ursprünglichen Erzeugung, und Entwicklung aller Begriffe«, als »grundwesentliche Bedingung alles denkenden Vorstellens, und als innerlicher Bestandtheil des menschlichen Erkenntnißvermögens selber« anzusehen ist.54 In der Grundtendenz hat Reinhold bereits mit seinen früheren Aussagen zum Verhältnis von Wort und Begriff in einem antiinstrumentalistischen Geiste argumentiert. Jedoch äußert er sich erst jetzt dahingehend, dass es die konstitutive Rolle der Sprache für das Denken zu beachten gilt; und erst jetzt zieht er daraus die Schlussfolgerung, dass die sprachanalytische Aufgabe an erster Stelle zu stehen habe. Doch um welche Aufgabe handelt es sich nun genau? Die ausführlichste Antwort darauf gibt die Synonymik. Reinhold hält es für erforderlich, sich über das Phänomen synonymer und homonymer Ausdrücke zu verständigen. Wie er in kritischer Anknüpfung an Fragen zu den Begriffen der Synonymie und Homonymie aus Aristoteles‘ Kategorienschrift sowie aus Johann August Eberhards Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik expliziert,55 ist die Synonymie als eine »Sinnverwandtschaft« von Wörtern aufzufassen,56 die Homonymie als einheitliche Wortverwendung bei sinnverwandten Bedeutungen. In beiden Fällen kann es, wenn die sprechende Person unachtsam ist oder willkürlich verfährt, zu einer Vermengung von Bedeutungen kommen. Im ersten Falle kann eine Bedeutung nicht ausreichend differenziert, im zweiten eine Bedeutung mit einer anderen zusammengeworfen werden. Vor diesem Hintergrund verleiht Reinhold der Überzeugung Ausdruck, dass die bisherige Grundterminologie im Bereich der Logik und Metaphysik primär deshalb an Verwirrungen krankt, weil die Hüter und Pfleger dieser Wissenszweige in unmerklicher Weise mit synonymen und homonymen Ausdrücken operieren.57 54  Vgl.

Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 3. Reinhold, Synonymik, 17–24. 56 Vgl. Reinhold, Synonymik, 19. – Reinhold behauptet dazu ausdrücklich, dass Synonyme »nach unserem heutigen Sprachgebrauch« sinnverwandte und somit bedeutungsähnliche und nicht bedeutungsgleiche Ausdrücke sind. 57  Was mögliche Anregungen zu dieser Überzeugung betrifft, ist vor allem an Leibniz’ Projekt der Grammatica rationis zu denken, zu dessen Aufgaben gehören soll, synonyme Ausdrücke innerhalb der natürlichen Sprache zu tilgen (zu diesem Projekt siehe Hans Poser: Leibniz’ Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Wissenschaft. Hrsg. von Wenchao Li. Hamburg 2016, 125–127). Mit Leibniz stimmt Reinhold dabei auch insofern überein, als er das Programm einer Synonymik gleichermaßen in der Logik wie in der Metaphysik für nötig und durchführbar hält. Es geht Reinhold dementsprechend nicht, wie später im Neupositivismus der Prägung 55  Vgl.

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Reinhold versäumt es nicht, zahlreiche ältere und neuere philosophische Systeme anzuführen, in denen die basale Begrifflichkeit aufgrund mangelnder Reflexion über Synonyme und Homonyme schwankend und vieldeutig ist. In Bezug auf die Metaphysik wird an erster Stelle auf die fatalen Folgen der unbeachteten Unterscheidung bzw. der Vermengung von einerseits absoluter oder ursprünglicher Einheit, das heißt »Einheit an sich«, andererseits relativer oder abgeleiteter, die Auffassung von »Verschiedenheit« voraussetzender Einheit, das heißt »Einerleyheit«, hingewiesen.58 Reinhold beruft sich bei dieser Abgrenzung, die auch durch die beiden Ausdrücke der »Unität« und »Identität« markiert wird,59 auf Platons Warnung, die Differenz von »Einheit an sich« und Einheit als der »Allheit und dem Ganzen« zu missachten,60 und legt eine solche Missachtung vornehmlich Schellings Verständnis von Einheit als Indifferenz zur Last.61 An zweiter Stelle prangert Reinhold die Misshelligkeiten an, die sich aus der Verkennung der Bedeutungsdifferenz im Falle der Wörter »Unterschied (differentia)« und »Verschiedenheit (diversitas)« ergeben.62 Ist die Verschiedenheit die Bezeichnung für jenen Bereich, auf den sich das Denken als Vermögen der Einheit in seiner Anwendung bezieht, so der Unterschied (genauso wie der Bezug oder der Zusammenhang) ein die Bereiche der Einheit und der Verschiedenheit voneinander abgrenzender Verhältnisbegriff. Hinsichtlich der Logik schärft Reinhold ein, dass es eine »reine« Logik und eine darunter subsumierte »empirische« Logik oder »Analogik« voneinander abzuheben gilt, dass es aber irreführend ist, von einer »formalen« und davon zu unterscheidenden materialen oder realen Logik auszugehen.63 Kritisiert wird damit erklärtermaßen ein Sprachgebrauch, der seit ArisRudolf Carnaps, um eine bei der Logik der Sprache ansetzende Überwindung einer als sinnlos einzustufenden Metaphysik. Dies heißt nicht, dass Reinhold im Rahmen seiner um 1800 einsetzenden Kritik an der damals aktuellen Subjektmetaphysik nicht gelegentlich zum Ausdruck bringt, dass seines Erachtens bestimmte Ausdrücke dieser Strömung sinnlos, Indizien eines bloßen Gefühlsegoismus und deshalb zu vermeiden sind. 58  Vgl. Reinhold, Synonymik, 43–53. 59  Vgl. Reinhold, Synonymik, 50. 60  Vgl. Reinhold, Synonymik, 88. – Reinhold erwähnt Platons Theaitetos und Sophistes. Vermutlich hat er Sophistes 244e–245e vor Augen. 61 Vgl. Reinhold, Synonymik, 86–88. – Zum Disput, den Reinhold in dieser Sache seit längerem mit Schelling führt, vgl. auch Friedrich Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Landshut 1809, Anm. 4. 62  Vgl. Reinhold, Synonymik, 29–30. 63  Vgl. Reinhold, Synonymik, 256–258.

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toteles die Systeme der Logik beherrscht. Die Begründung für diese Kritik lautet dabei, dass mit dem Ausgang von einer Unterscheidung von formaler und materialer Logik der eigentliche Sinn von Logik als Lehre der Wahrheit an sich verkannt wird. Was Reinhold damit genauer meint, erhellt aus einer Erläuterung zum Wahrheitsbegriff aus der Schrift Das menschliche Erkenntnißvermögen. Reinhold expliziert dort, dass in den gewöhnlichen Systemen der Logik und Metaphysik die »logische und formale« Wahrheit einerseits und die »sogenannte metaphysische, materiale, reale, absolute Wahrheit« andererseits voneinander abgehoben werden, ohne dabei zu bedenken, was das »Wort Wahrheit ohne Beywort« zu bedeuten habe.64 Der an die gewöhnlichen Systeme der Logik und Metaphysik adressierte Vorwurf ist hiermit allerdings nicht mehr in erster Linie das unbemerkte Operieren mit synonymen oder homonymen Ausdrücken, sondern die ungenügende Reflexion über den Wahrheitsbegriff. Reinhold selber unterbreitet seit seinem Übergang zum System des Rationalen Realismus ein die Erkenntnis betreffendes Begründungsverfahren, welches er als gleichermaßen fortschreitenden wie zurückschreitenden Weg von einem ersten oder hypothetisch »Wahren« zu einem »Urwahren« beschreibt.65 Hinzu kommt, dass er im Laufe der Ausarbeitung des Systems des Rationalen Realismus sowohl zwischen Gewissheit als auf Subjekt und Gefühl bezogenem und Wahrheit als auf Objekt und Denken bezogenem Modus des Fürwahrhaltens unterscheidet als auch darauf abzielt, sowohl Gewissheit als auch Wahrheit ausgehend von der Kritik an scheinbarer, eingebildeter Gewissheit und Wahrheit zu erschließen. Vor diesem Hintergrund geht Reinhold nun dazu über zu behaupten, dass die Wörter »Wahrheit«, »Gewißheit«, »Unwahrheit«, »Ungewißheit« ursprünglich zusammengehören, dass sie lediglich »durcheinander verständlich« werden.66 Und es ist dieser mehrgliedrige Wahrheitsbegriff, den Reinhold künftig an den Anfang der Logik und Metaphysik gestellt wissen möchte. Für diese Auffassung mag es gute Gründe geben. Ob dadurch, wie Reinhold meint, die Unterscheidung von formaler und materialer Wahrheit aufzugeben ist, ist freilich eine andere Frage. Aufgrund des Anspruchs einer neuen prima philosophia ist es nicht überraschend, dass Reinhold mit der Synonymik neben dem kritischen in profilierter Weise ein konstruktives, auf verbesserte Systembildung zielendes Geschäft betreibt. Ebenso wenig ist es angesichts seiner Re64  Vgl.

Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 128. Reinhold, Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 1, 69–72. 66  Vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 132. 65 Vgl.

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flexionen über Synonymie und Homonymie verwunderlich, dass er in eigener Sache ein in der Wortwahl reflektiertes, semantisch geklärtes Grundlagensystem der Philosophie vorgelegt haben möchte. Was Reinhold in dieser Hinsicht der Sache nach darbietet, ist im Wesentlichen eine konzise und durch Lehrstücke zu den Begriffen der Analysis, des Widerspruchs und der Wahrheit präzisierte Neufassung des Systems des Rationalen Realismus. Die zentralen Begriffe dieses Systems werden nochmals entfaltet, diesmal jedoch auf der Grundlage der Zusammenstellung von acht Wortgruppen, die Reinhold als ›Familien‹ und ›Verwandtschaftstafeln‹ umschreibt. Angesichts dieser Tatsache besteht kein Zweifel, dass Reinhold keine Lehre der Synonymik präsentiert, die, wie paradigmatisch jene Eberhards, ausgewählte Ausdrücke in alphabetischer Reihenfolge behandelt. Hingegen darf man auf einen Vergleich mit Hegels System der Logik abheben, wobei hier näher besehen sowohl auf beachtenswerte Übereinstimmungen als auch auf markante Differenzen aufmerksam zu machen ist. In Bezug auf systemkompositorische Gesichtspunkte erweckt Reinholds Synonymik den Eindruck eines Parallelprojektes zu Hegels Wissenschaft der Logik.67 Wie in dieser stößt man in Reinholds Synonymik auf eine systemisch geordnete Abfolge von Schlüsselbegriffen und Lehrsätzen der klassischen Ontologie und Metaphysik, der Katego­ rien- und Erkenntnislehre Kants, der formalen Logik, einer sich über Bereiche der Natur- und Geisteswelt erstreckenden Entwicklungslogik sowie schließlich einer Theologik. Gilt es bei Hegel die logischen Bestimmungen des Systems der Logik als die »metaphysischen Definitio­ nen Gottes« zu begreifen,68 so bei Reinhold die geordneten und definierten Begriffe als eine Manifestation Gottes, als die »Offenbarung des denkenden Schöpfers am Weltall.«69 Wendet man sich begrifflichstrukturellen Gesichtspunkten zu, erscheint Reinholds Synonymik hin-

67 Zu

einer Einschätzung ähnlicher Art ist vor diesem Hintergrund bereits Klemmt gekommen. Er versteht Reinholds Synonymik allerdings nicht als Parallelprojekt, sondern als »Seitenstück zu Hegels Logik« (vgl. Klemmt, Die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds nach 1800, 262). In neuer Zeit ist sodann vertieft auf wahrheits- und sprachtheoretische Gemeinsamkeiten Reinholds und Hegels aufmerksam gemacht worden. Vgl. v. Verf.: Hegel und Reinhold, in: Hegel-Studien 30 (1995), 45–87 sowie Westerkamp, »Übereinstimmung des Seyns an sich«, 189–194. 68  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden zitiert als »Hegel, GW«). Bd. 20. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992, 121. 69 Reinhold, Synonymik, 147.

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gegen als ein Alternativprojekt zu Hegels Wissenschaft der Logik. Bildet bei Hegel ein dynamisch-antinomischer Fortgang von Sein, Nichts und Werden die Systemmatrix, so bei Reinhold, wie zur Hauptsache seinen Ausführungen zu den ersten vier Wortfamilien zu entnehmen ist, 70 eine in einem Verhältnis der Subordination stehende Dreiheit von erstens »Einheit an sich« (einer Einheit im Sinne des neuplatonischen Begriffs des unbestimmbaren Einen), zweitens »Einerleyheit« (einer Einheit, die einen Bezug auf Vielheit voraussetzt, dadurch Bedeutungen wie Einzelheit, Allheit, Gleichheit, Allgemeinheit und Wiederholbarkeit ermöglicht) und drittens »Verschiedenheit« (dem Gegenstand, auf welchen sich die Einheit in ihrer Anwendung bezieht). Diese Dreiheit soll dabei als ursprünglicher Nexus aufgefasst werden, dessen Glieder voneinander unterschieden, aber nicht getrennt, miteinander in Zusammenhang gebracht, aber nicht vermischt werden können. Diese von Reinhold zuvor auch als »Urverhältniß«, als Komplex von »Thesis«, »Hypothesis«, »Antithesis« und »Synthesis« erörterte Systemgrundlage71 bringt es mit sich, dass mehrere Denkbestimmungen, die man als typisch für Hegels dialektisches Verständnis von Fortschreiten des Begriffs bezeichnen kann, als »Blendwerke« zu betrachten sind. Eine Einheit von Einheit und Verschiedenheit, wie sie bei Hegel mit dem Absoluten als »Identität der Identität und der Nichtidentität«72 auf den Begriff gebracht wird, beruht aus der Optik Reinholds auf einer Vermischung innerhalb der dreigliedrigen Struktur. Ausgegangen werden kann von einem »Unterschied der Einheit«, nicht jedoch von einer »Verschiedenheit der Einheit«.73 Ebenso wird eine Negation, die, wie paradigmatisch bei Hegel, als negierendes Setzen durch die Einheit oder als eine selbstbezügliche doppelte Negation aufgefasst werden soll, für das Produkt einer unzulässigen Begriffsverbindung gehalten. Negation lässt sich Reinhold zufolge nur auf der Grundlage der Verschiedenheit konsistent denken: »nur zwischen einem Verschiedenen und einem anderen Verschiedenen findet ein gegenseitiges Verneinen oder Verneintwerden ohne Widerspruch statt.«74 Und was die doppelte Negation betrifft, handelt es sich Reinhold gemäß um eine Denkfigur, die

70 Reinhold,

Synonymik, 43–95. Reinhold, Beyträge zur leichtern Uebersicht, Heft 6, 24, 27; vgl. auch Synonymik, 62–67. 72  Vgl. Hegel, GW, Bd. 4. Jenaer Kritische Schriften. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968, 64. 73  Vgl. Reinhold, Synonymik, 54. 74  Vgl. Reinhold, Synonymik, 59. 71 Vgl.

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bei Lichte besehen auf die bedeutungsleeren Ausdrücke von »Nichtverschiedenheit«, »Nichtunterscheidung« und damit »Indifferenz« hinausläuft.75 Dieser Stoßrichtung gemäß ist schließlich auch der Widerspruch nicht als Motor des Fortschreitens, nicht, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik schreibt, als »das Tiefere und Wesenhaftere« als die Identität76 anzusehen. Der Widerspruch ist nach Reinhold im Gegenteil Zeichen des Falschen, ein Zusammenführen dessen, was nicht zusammenführbar ist, ein Trennen dessen, was nicht getrennt werden kann. Das Wort »Widerspruch« soll deshalb in seiner eigentlichen oder ursprünglichen Bedeutung »verwirrende Vereinigung« heißen.77 Eine Absetzung ergibt sich hiermit auch vom formalen Widerspruch, der unter anderem in Form von Sätzen der Identität oder des Widerspruchs des Typs ›A = A‹, ›A nicht = Nicht-A‹ exemplifiziert wird. Reinhold bestreitet keineswegs die Gültigkeit solcher Sätze, sieht aber Anlass, deren »Doppelsinnigkeit« als formales und ontologisches Denkgebilde sowie – und hier besteht durchaus wiederum Übereinstimmung mit Hegel – deren Unfruchtbarkeit oder »Leerheit« anzuprangern.78 Natürlich darf bei diesem Vergleich nicht übergangen werden, dass Hegel und Reinhold in Sachen Begriffsbestimmung unterschiedliche Ziele verfolgen. Hegel geht es um ein Bestimmen des Wortes ›Sein‹ in seiner Totalität, ein Bestimmen, das methodisch mit dem Anspruch dialektischen Fortschreitens einhergeht. Bei Reinhold dagegen steht ein Bestimmen auf der Basis von systemrelevanten Wortfamilien im Fokus, wobei es hinsichtlich methodischer Aufgaben vor allem darum zu tun ist, Wörter eindeutig zu verwenden und eine exakte Zuordnung der Wörter zu Begriffen zu erreichen. Da gezielt von Wortfamilien ausgegangen wird, heißt dies letztlich immer auch, dass die Bedeutungsbestimmung eines Wortes nicht isoliert, sondern in Differenz und im Zusammenhang mit anderen Wörtern der betreffenden Wortfamilie beziehungsweise in Differenz und im Zusammenhang mit anderen Wortfamilien vorgenommen werden soll. Auf dieser Basis ist es nicht abwegig zu behaupten, dass Reinhold ansatzweise den Weg zu einer Position einschlägt, die man später, so etwa im Anschluss an De Saus-

75  Vgl.

Reinhold, Synonymik, 55. Hegel, GW Bd. 11. Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Hamburg 1978, 286. 77  Vgl. Reinhold, Synonymik, 76. – Zu Reinholds Verständnis von Widerspruch vgl. auch ders., Versuch einer Critik der Logik, 29–36. 78  Vgl. Reinhold, Synonymik, 51. 76 Vgl.

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sure, als semantischen Differentialismus oder auch semantischen Inferentialismus kennzeichnen wird. Wir wollen an dieser Stelle von einer näheren Betrachtung der in der Synonymik behandelten Wortfamilien absehen und zur Beurteilung von Reinholds Auffassung zum Verhältnis von Denken und Sprechen übergehen. Welche fruchtbaren Einsichten enthält diese Auffassung? In welchen Punkten ist sie problematisch? Am besten halten wir uns an die drei markanten Gegenrichtungen, die Reinhold insgesamt einschlägt: den Anti-Psychologismus, Anti-Instrumentalismus und AntiKonventionalismus. – Mit seiner anti-psychologischen Abhebung des Denkens vom Vorstellen und dem damit einhergehenden Bemühen, die Dimension des Sprechens innerhalb des Denkens zu begreifen, trägt Reinhold entscheidend dazu bei, dass Sprache im Sinne eines eigenständigen philosophischen Systembereichs geltend gemacht wird. Die Klärung des Verhältnisses von Wort bzw. Zeichen und Wort- bzw. Zeichenbedeutung wird als eine grundlegende philosophische Aufgabe betrachtet. In diesem Rahmen wird insbesondere die dem Wort zukommende Bedeutung, der Gedanke, als eine kognitive Sphäre aufgefasst, die – ganz im Sinne Freges – weder als subjektiv (zu den Formen, Zuständen oder Akten des Subjekts gehörend) noch als objektiv (zu den Dingen der Außenwelt gehörend) anzusehen ist. Als Vorgriff auf das bedeutungstheoretische Paradigma, das mit dem Namen Freges verbunden ist, ist Reinholds Ergebnis allerdings von begrenzter Relevanz. Frege geht von komplexen Wort- oder Zeichengebilden aus. Wenn er von ›Gedanke‹ spricht, meint er primär den »Sinn eines Satzes«, und sein dabei anvisiertes Ziel ist der wahre Gedanke oder die »Tatsache«.79 Dagegen hat Reinhold, wenn er von ›Gedanken‹ spricht, lediglich philosophische Terme oder Wortfamilien, die es eindeutig zu bestimmen gilt, im Blick.80 Hinzu kommt, dass Reinholds Anti-Psychologismus mit einer allzu radikalen Ausblendung sprachlicher Subjektleistungen einhergeht. Reinhold kennt zwar durchaus neben der denkenden, vorstellen79  Vgl.

Frege, Der Gedanke, 33, 50. interessiert sich auch dort, wo er in einer allgemeineren, nicht direkt sein Systemvorhaben betreffenden Weise über Sprache diskutiert, so gut wie ausschließlich für einzelne oder für einen als mehrgliedrigen Nexus aufgefassten Komplex von Wörtern und nicht für Aussagen. Zu den hauptsächlichen Unterscheidungen, die er zum Verständnis von Wort oder Zeichen anführt (Eigennamen, allgemeine Zeichen, verschiedene Wortarten, bildliche Ausdrücke, Schemata, unbildliche Ausdrücke, metaphorische Ausdrücke), vgl. Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 75–79. 80  Reinhold

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den und erkennenden eine diskurierende oder mitteilende Funktion der Sprache, thematisiert jedoch nicht, dass gerade diese letztgenannte Funk­tion es nahelegt, über die Konstitution von Bedeutungen oder Gedanken gleichfalls im Zusammenhang von Sprechhandlungen und Prozessen der Intersubjektivität zu reflektieren.81 Es ist unbestreitbar, dass Reinhold sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus aufklärungspragmatischen Gründen stets wieder die Forderung nach einem wahren philosophischen Wissen, das gleichzeitig allgemein geltend oder allgemein akzeptiert ist, erhoben hat. Deshalb ist es letztlich aber gerade auch erstaunlich, wie wenig er sich in seiner Spätphase der Thematik einer intersubjektiven und interpretativen Verständigung annimmt. – Die Tatsache, dass Reinhold, Herder folgend, ein anti-instrumentalistisches Sprachverständnis favorisiert und dass er als Konsequenz davon die begriffserzeugende Komponente der Sprache hervorhebt, ist ebenso zu würdigen wie der Versuch, der sprachlichen Willkür im philosophischen Diskurs und der unbedachten Vieldeutigkeit philosophischer Ausdrücke in Form der Aufstellung eines Systems zu begegnen, dessen programmatische Hauptpunkte stichwortartig lauten: Erforderlich ist eine Verständigung über die Synonymie und Homonymie von Ausdrücken, Ausdrücke sollen eindeutig verwendet werden, ein bestimmter Ausdruck soll einem bestimmten und nur diesem bestimmten Begriff zugeordnet werden, es ist darauf achten, dass die Bedeutung von Ausdrücken aus der Differenz und dem Zusammenhang von Wortfamilien erschlossen wird. All dies sind, auch wenn sie nur annähernd erfüllbar sind, sinnvolle Forderungen eines semantisch reflektierten Philosophierens. Leider klärt Reinhold nicht darüber auf, wie er sich im Rahmen dieser Programmatik das Verhältnis von begriffsanalytisch bestimmter und kontextualistisch erschlossener Wortbedeutung denkt. Es wird nicht kenntlich gemacht, wie die beiden Seiten der Bedeutungsbestimmung miteinander vermittelt werden können. Doch ist dies angesichts anderer Defizite eher nebensächlich. Was vor allem zu bemängeln ist, ist die Tatsache, dass Reinhold davon ausgeht, unter der Befolgung der genannten programmatischen Hauptpunkte könne kein anderes als sein eigenes System der Philosophie, das heißt sein revidiertes System des Rationalen Realismus, vertreten werden. Für eine solche Annahme gibt es keine einsichtigen Gründe. Es gibt, anders gesagt, keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem, was Reinhold 81 

Zu Reinholds Bedeutungsobjektivismus, der sich aufgrund des Absehens von intersubjektiven und intentionalen Subjektleistungen ergibt, vgl. Imhof, Karl Leonhard Reinholds Kritik der philosophischen Sprache, 71f.

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in sprachtheoretischer Hinsicht fordert, und dem Begriffsgebäude, das er mit seinem System entfaltet. Der Anspruch, mit der Synonymik eine neue prima philosophia zu liefern, wird somit jedenfalls mit dem in diesem Werk unterbreiteten System nicht eingelöst. – Was die anti-konventionalistische Sprachauffassung Reinholds betrifft, kann man der Behauptung, dass einer Beliebigkeit in der Sprachverwendung Grenzen gesetzt sind, ebenso zustimmen wie der Forderung, dass es auch unter der Voraussetzung einer arbiträren Sprachverwendung gegen eine Form der Willkür anzukämpfen gilt. Aber unterbreitet Reinhold mit seinem an Leibniz‘ Wahrheitsidee sowie an Jacobis Gottesidee orientierten Objektivismus eine mit sprachtheoretischen Mitteln vertretbare Gegenposition? In der Schrift Das menschliche Erkenntnißvermögen äußert sich Reinhold dahingehend, dass nur das »denkende Vorstellen« durch Sprache erzeugt wird, nicht auch das »Denken als solches«.82 Diese Aussage, die belegt, dass Reinhold in einer gewissen Hinsicht den Primat des Denkens vor dem Sprechen auch in seiner Spätphase beibehalten hat,83 lässt sich zum einen so lesen, dass Reinhold nachträglich einem Instrumentalismus Einlass gewährt und die Sprache als menschliches Werkzeug eines göttlichen Denkens an sich verstanden wissen will. Zum anderen kann man diese Behauptung aber auch so interpretieren, dass Reinhold das Denken als solches als menschliches Grundvermögen versteht, mit dem sich der angestrebte allgemeine Sprachgebrauch als eine ideale, wahrheitsfundierte Sprache und mit dem sich die Gottesidee als das uns zu dieser idealen Sprache verpflichtende Gewissen begreifen lässt. Sofern Reinhold auf die erste Lesart aus ist, scheint er mit einer bald dogmatisch, bald skeptisch anmutenden Behauptung eines göttlichen Sprachfundamentes zu operieren. Sofern es ihm um die zweite Lesart geht, kann sein Objektivismus vor dem Hintergrund diskurstheoretischer Überlegungen umformuliert werden. Er lässt sich dann ganz einfach als jene Sprechsituation deuten, in welcher Personen sich in pflichtbewusster Weise wahrheitsinteressiert verhalten und dadurch um einen durch die denkende Vernunft geleiteten allgemeinen Sprachgebrauch bemühen. Welche der beiden Deutungen Reinhold auch immer vertreten haben mag, der eingeschlagene Weg zu einem anti-konventionalistischen Objektivismus lässt erkennen, weshalb er sich im Anschluss an seine systematischen Beiträge zum Verhältnis von Denken und Sprechen verstärkt 82  Vgl. 83 

Reinhold, Das menschliche Erkenntnißvermögen, 72. Man beachte in dieser Sache auch Gerten, Sprache und System, 181.

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der Wahrheitsfrage angenommen hat. Hätte Reinhold seinen Objektivismus auch in einer diskurstheoretischen Richtung weiter durchdacht, wäre es zu einem linguistic turn in der Philosophie wohl noch während der Periode des Deutschen Idealismus gekommen.84

84 

Den Teilnehmern- und Teilnehmerinnen der Tagung sowie Silvan Imhof danke ich für anregende Kritiken und Hinweise.

III. SYSTEM UND GESCHICHTE IN FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLINGS WELTALTERPHILOSOPHIE

Siegbert Peetz Schellings System der Weltalter: Zentrale Begriffe und ­Problemhorizonte 1. Problemstellung: Theismus versus Naturalismus (1810–1820) Die Erforschung der Spätphilosophie Schellings ist ein komplexes Unterfangen. Diese Feststellung gilt zunächst in Bezug auf die Textbasis. Die historisch-kritische Edition seiner Schriften hat sich bisher – mit Ausnahme der frühen Tübinger Studien – primär auf die Edition der zu seinen Lebzeiten gedruckten Schriften beschränkt. Dies erlaubt für die Entwicklung der Philosophie Schellings bis zur Veröffentlichung der Freiheitsschrift ein einigermaßen zuverlässiges Bild. Sehr schwierig hingegen wird eine Rekonstruktion der Schellingschen Denkentwicklung danach, also für die Zeit ab ca. 1810. Schellings diverse Fragmente zu den Weltaltern sind – sieht man einmal von der gedruckten Samothrake-Abhandlung ab – nicht vollständig erhalten, und seine Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung liegen bekanntlich in der Form vor, die ihnen sein Sohn Karl Friedrich August Schelling gegeben hat. Dieser hat für seine Ausgabe in der Regel späte Fassungen von Schellings Vorlesungen verwendet oder Textstücke aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und separat veröffentlicht, so dass die Form von Schellings Spätphilosophie in der Werkausgabe des Sohnes ihrerseits eine Interpretation Schellings darstellt, die Schellings Denkentwicklung selbst nicht wiedergibt. Dieser Befund ist insbesondere das Ergebnis der Veröffentlichung von Vorlesungsnachschriften in den letzten Jahrzehnten, welche teilweise erhebliche Differenzen von vorgetragener und in der Werkausgabe gedruckter Fassung von Schellings Vorlesungen zutage gefördert haben.

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Eine dieser Vorlesungsnachschriften habe ich selbst 1990 und dann in 2. erweiterter Auflage 1998 veröffentlicht. Es handelt sich um Ernst von Lasaulx‘ Nachschrift von Schellings erster Münchener Vorlesung System der Weltalter von 1827/281. Sie lässt seine um das Problem der Weltalter kreisenden Denkbemühungen erstmals im Zusammenhang erkennen und bildet daher den Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen. Schelling selbst hatte sie als Eröffnungsvorlesung zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an der neugeschaffenen Münchener Universität konzipiert. Er habe, so schrieb er damals an König Ludwig I. von Bayern, »um den Anfang meines Wirkens zugleich als einen Wendepunkt meines ganzen geistigen und wissenschaftlichen Lebens zu bezeichnen«, sich vorgenommen, »den Inhalt eines unter dem Titel: Die Weltalter lang‘ erwarteten Werks das erstemal vorzutragen.«2 Dass diese briefliche Bemerkung keine bloße, dem Anlass geschuldete façon de parler ist, möchte ich im Folgenden darlegen, indem ich einige der zentralen Begriffe und Problemhorizonte dieser Vorlesung konturiere. Meine Überlegungen gliedern sich in zwei Teile: Im ersten Teil werde ich den problem- und theoriegeschichtlichen Rahmen beleuchten, in dem Schellings Vorlesung steht. Dabei wird es einerseits um Schellings Denkentwicklung, andererseits um die Rolle gehen, die Jacobis Philosophie für die Formation von Schellings Vorlesung spielt. Im zweiten Teil werde ich einige zentrale Begriffe und Problemhorizonte der Vorlesung selbst erörtern. Thematisch geht es Schelling in dieser Vorlesung um eine Neubegründung der Metaphysik in Form einer geschichtlichen, der von ihm selbst sogenannten positiven Philosophie. Mit ihr glaubt er die Engführung von Logik und Metaphysik, wie er sie für den Rationalismus bis hin zu Hegel als konstitutiv ansieht, überwinden zu können. Die Vorlesung von 1827/28 ist die erste öffentliche Darstellung dieses Programms und insoweit so etwas wie die Ouvertüre seiner Spätphilosophie. Die These, die ich in den folgenden Ausführungen zu belegen versuche, ist diese: Schelling entwickelt in seiner Weltalter-Vorlesung einen Paulinischen Pantheismus auf Platonischer Grundlage, der seinerseits eine systematische Alternative zu den philosophischen Konzepten von Theismus und Deismus darstellen soll. Für diese Konzeption konstitutiv ist Schellings neuer Zeitbegriff des Aion, 1  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hrsg. u. eingeleitet v. Siegbert Peetz. Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1998. Im Folgenden zitiert als »Schelling, System der Weltalter«. 2  Zit. nach Horst Fuhrmans: Schelling-Briefe aus Anlaß seiner Berufung nach München im Jahre 1827, in: Philosophisches Jahrbuch 64 (1956), 291.

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dessen zentrale Bedeutung für die gesamte Spätphilosophie Schellings allererst im Licht dieser Vorlesung sowie der Urfassung der Philosophie der Offenbarung erkennbar wird.

2. Problem- und theoriegeschichtlicher Rahmen von Schellings ­Vorlesung a) Schellings Denkentwicklung von 1800 bis 1820 Was den problem- und theoriegeschichtlichen Rahmen von Schellings Vorlesung angeht, so möchte ich zwei Aspekte in den Blick rücken: Zuerst soll Schellings Denkentwicklung zwischen 1800 und 1820 grob skizziert und dann Jacobis Beitrag zu dieser Denkentwicklung herausgearbeitet werden. Was Schellings Denkentwicklung betrifft, so ist zu fragen: Wie kommt es zu diesem Neueinsatz? Schellings Vorlesung ist einzuordnen in den größeren Kontext der seit dem 17. Jahrhundert explizit werdenden Auseinandersetzung mit der Frage: In welcher Weise oder in welchen Weisen ist die Welt intelligibel? Zwei Weisen, die beide von der Intelligibilität der Welt ausgehen, ringen um die Vorherrschaft: die naturalistische Deutung, welche die Intelligibilität der Naturordnung ausschließlich aus physikalischen Gesetzen herleitet, auf der einen Seite; auf der anderen Seite die theistische Deutung, gemäß der die Intelligibilität der Welt Ausdruck einer göttlichen Absicht bzw. eines göttlichen Willens ist. Die naturalistische Variante der Welterklärung verfährt im Wesentlichen kausalmechanisch, die theistische teleologisch. Kant hat die Kontroverse in das Antinomienkapitel seiner Kritik der reinen Vernunft als nicht aufzulösende Antinomie von Epikureismus und Platonismus aufgenommen. Bekanntlich war es dann Kants Kritik der Urteilskraft, die dieses Problem erneut auf die philosophische Agenda gesetzt und damit den nachkantischen Idealismus auf den Weg gebracht hat.3 Damit kommen wir zu Schellings Rolle in dieser Entwicklung: Schelling ist derjenige, der Fichtes Gedanken der intellektuellen Anschauung aus dem Kontext der praktischen Philosophie, in dem Fichte ihn situiert hatte, herauslöst und ihn für den Gedanken einer absoluten 3  Vgl. Immanuel

Kant: Kritik der Urtheilskraft, § 76, Anmerkung, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., I. Abteilung: Werke, Bd. 5, 401–404, sowie die »Allgemeine Anmerkung zur Teleologie«, ebd., 475–485.

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Produktivität der Natur fruchtbar macht. Die Produktivität der Natur und die Reflexivität des Geistes werden von Schelling zu einer Tätigkeit amalgamiert, die sich im Kunstwerk als der Vereinigung von Natur und Freiheit selbst objektiv anschaut (vgl. System des transzendentalen Idealismus). Hieraus erwächst Schellings Identitätssystem. Dessen Defizit besteht allerdings darin, dass es Materie letztlich als »schlafenden Geist« wegerklärt und sich dadurch als unfähig erweist, Freiheit im Sinne der Möglichkeit zu moralischer Alterität in sich zu integrieren. Wie sehr Schelling dieses prinzipientheoretische Problem umgetrieben hat, zeigt sich bereits an seiner von erheblichen interpretatorischen Schwankungen durchzogenen Einschätzung des Platonischen Timaios.4 Das Pro­ blem der Alterität in der Identität bricht dann in seiner ganzen Schärfe in der Freiheitsschrift auf und erhält dort erst mit der Unterscheidung von Grund und Existierendem und deren Verhältnisbestimmung den ihm angemessenen Stellenwert. Dass diese Struktur von Grund und Existierendem die Denkentwicklung Schellings bis in die Vorlesung von 1827/28 hinein bestimmt, möchte ich im Umriss zeigen. Eine wichtige Station in dieser Entwicklung ist zunächst Schellings Freiheitsschrift. Dies insofern, als die von Schelling idealistisch grundgelegte, dann aber in der Modifikation von Kants intelligibler Tat tragisch gewendete Konzeption menschlicher Freiheit als verlorener Autonomie konzeptionell eine mögliche Verhältnisbestimmung der Momente dieser Struktur darstellt: die Herrschaft des Grundes über das Existierende. Der weitere Denkweg Schellings zielt auf die Erkundung der Möglichkeit der Umkehrung dieses Herrschaftsverhältnisses und damit auf ein System, welches die Kapazität hat, die Intelligibilität der Welt angesichts der Faktizität des radikal Bösen theistisch zu sichern. Bereits die zweite Hälfte der Freiheitsschrift geht dieses Problem an mit der Frage nach der ontologischen Grundlage der Scheidung von Grund und Existierendem. Die Indifferenz als »Ungrund« soll den faktischen Fall des Menschen heilsgeschichtlich in Identität und Liebe auffangen. Denn von ihr her wird die Vermittlung von Identität und Alterität des Absoluten aus ursprünglicher Ungeschiedenheit in Gestalt der Entwicklung von Indifferenz durch Alterität hin zu Identität zeitlich denkbar. Ein Ergebnis der Freiheitsschrift ist damit das Problem, wie ein System der Identität nunmehr geschichtlich etabliert werden kann. Soll dieses geschichtliche System aber als eine teleologisch-theistische Alternative zum Natura4  Vgl.

hierzu v. Verf.: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt a. M. 1995, 142, Anm. 278. Im Folgenden zitiert als »v. Verf., Freiheit im Wissen«.

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lismus fungieren können, muss es zuvörderst Antwort geben auf die Frage nach der Entstehung und dem Prinzip der Zeit. Dies geschieht im Horizont der Struktur von Grund und Existierendem in den Weltalter[n]. In Schellings Ausführungen über die »Genealogie der Zeit«5 führt ihn die Struktur der Scheidung von Grund und Existierendem zu einem neuen Begriff der Zeit als Selbstdifferenzierung, welche allererst die geläufige Vorstellung temporaler Sukzessivität fundiert. Denn trotz ihrer Mehrdimensionalität ist die Zeit »in jedem Augenblick ganze Zeit, d. h. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«6 und hat insofern eine organische Verfassung. Organisierendes Prinzip dieses Organismus ist der Geist, weil nur er »die Zeit als Ganzes enthält.«7 Als der die Zeit und deren Dimensionen ermöglichende Ursprung kehrt der »Ungrund« der Freiheitsschrift in den Weltalter-Entwürfen wieder als »vollkommene Lauterkeit«8, »Abgeschiedenheit von allem«9, als »Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind«.10 Die Samothrake-Abhandlung von 1815 exemplifiziert die Struktur in Form einer Aufstiegsbewegung von konkreten Gottheiten, die zwischen die Dimension des Ungrunds und der finalen Identität eingespannt werden: »ein von untergeordneten Persönlichkeiten oder Naturgottheiten zu einer höchsten sie alle beherrschenden Persönlichkeit, zu einem überweltlichen Gott, aufsteigendes System war die kabirische Lehre«.11 5 Vgl.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hrsg. v. Manfred Schröter, München 2. Aufl. 1979, 75–87 (= Druck I der Weltalter von 1811, I, 136–160). Im Folgenden zitiert als »Schelling, Weltalter«. 6 Schelling, Weltalter, 80 (= Druck I, 145). 7 Schelling, Weltalter, 82 (= Druck I, 149). 8 Schelling, Weltalter, 214. 9 Schelling, Weltalter, 215. 10 Schelling, Weltalter, 15 (= Druck I, 27). Vgl. ferner Schelling, Weltalter 44 (= Druck I, 79): »jenes urerste Wesen der Lauterkeit«, Schelling, Weltalter, 134 (= Druck II, 49): »die Gelassenheit, die an nichts denkt und sich freut ihres Nichtseyns«, Schelling, Weltalter, 133 (= Druck II, 49): »jene lautere Freyheit«“, die insofern »Nichts« ist, als ihr »keinerley Wirkungen oder Eigenschaften nach außen beygelegt werden.« 11  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber die Gottheiten von Samothrake, in: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861, Bd. VIII, 361. Im Folgenden zitiert als »SW« mit Angabe der Band- und Seitenzahl (wird ohne Abteilungsziffer durchgehend mit römischer Bandzahl zitiert). Die Gottheiten repräsentieren die Potenzen des Aufstiegs und schließlich das überweltliche Prinzip: Demeter bzw. Ceres repräsentiert den »Hunger nach Wesen« und damit den ersten Grund zur Schöpfung (Schelling, SW VIII, 352). Schellings Rede von Ceres als »Hunger nach Wesen« (Schelling, SW VIII, 352) ist ein Plotin-Zitat, vgl. Plotin Enn. III 7,4,31: ἔφεσις oὐσίας, vgl. auch Enn. III 6,7,13: ὑποστάσεως ἔφεσις, wie Schelling

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Die Erlanger Vorlesung von 1820/21 entwickelt in Ergänzung zur Samothrake-Abhandlung ein Modell der Realisierung der absoluten Freiheit im menschlichen Wissen. Sie thematisiert damit einerseits das schon in der Freiheitsschrift aufgewiesene tragische Scheitern des Versuchs der Subjektivität, das Absolute in sich zu integrieren, in der Erfahrung des Ausgestoßenseins aus Identität (Ekstasis). Andererseits weist sie der Subjektivität die neue Rolle der Selbstabscheidung als Seinkönnen zu. Von der Struktur von Grund und Existierendem macht Schelling wiederum Gebrauch, indem er jetzt dem Grund eine neue tragende Funktion zuweist: Indem die Subjektivität das Sein nicht mehr begehrt, sondern sich freiwillig auf Seinkönnen bescheidet und damit bei sich stehen bleibt, wird gerade sie zum Grund dafür, dass die absolute, von jedem Gesetz gelöste Freiheit in ihr zur Existenz kommt. Es ergibt sich so eine paradoxe Figur: Der Wille der Subjektivität zur Integration des Absoluten führt zum Verlust (vgl. Freiheitsschrift), der Verzicht auf bzw. die Abscheidung von diesem Willen, das Absolute zu sein, führt zur Präsenz des Absoluten (Erlanger Vorlesung).

b) Jacobis Impuls: Theismus versus Naturalismus Für das Verständnis der Voraussetzungen von Schellings Weltalter-Vorlesung ist es erforderlich, diese Denkentwicklung in ihr philosophisches Umfeld einzubetten. Dieses wird unter anderem durch Hegels Wissenschaft der Logik und Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker bestimmt. Darauf möchte ich hier nicht eingehen, statt dessen aber den Anteil herausstellen, den Jacobis theistische Philosophie an dieser Denkentwicklung Schellings hat. Würdigt doch Schelling selbst in der Weltalter-Vorlesung Jacobi als denjenigen, der seiner geschichtlichen Philosophie am nächsten gekommen sei.12 Überblickt man den Zeitraum zwischen 1810 und 1820, so lassen sich drei Knotenpunkte der Konstellation Schelling – Jacobi feststellen: die heftige Auseinandersetzung Schellings mit Jacobi über dessen Schrift Von den Göttlichen überhaupt von Plotins Materie-Konzept fasziniert war, vgl. hierzu v. Verf., Freiheit im Wissen, 134, Anm. 267. Ist Ceres der erste Grund zur Schöpfung, so ist Persephone die erste Potenz, der Grundanfang der sichtbaren Natur, Dionysos die zweite der Geisterwelt, Hermes die beide miteinander und mit dem Überweltlichen vermittelnde dritte Potenz, schließlich Zeus als »Demiurg« und »Herr der Welt« das überweltliche Prinzip (vgl. Schelling, SW VIII, 360). 12  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 59: »Er [Jacobi] war der geschichtlichen Philosophie am nächsten, das müßen wir zu seiner Ehre gestehen.«

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Dingen 1811/12, dann Jacobis Vorrede zur Neuausgabe von Idealismus und Realismus 1815 und schließlich Jacobis Vorbericht zum 4. Band seiner Werke 1819. Bemerkenswert ist der Synchronismus von Jacobis jeweils im Vierjahresabstand erfolgten Publikationen mit Schellings Arbeit an den Weltaltern (1811), der Samothrake-Abhandlung (1815) und dem Vorfeld der Erlanger Vorlesung (1820/21). Jacobis Einlassungen und Kritik kontrapunktieren damit geradezu die Formation von Schellings geschichtlicher Philosophie; ihnen verdankt sie entscheidende Impulse. Ich habe diesen Prozess anderenorts bereits ausführlich beschrieben13 und möchte mich daher meinem Thema entsprechend hier nur auf wenige Schlaglichter beschränken: Jacobis Philosophie ist zu einem wesentlichen Teil das Produkt der Auseinandersetzung mit der dritten Antinomie von Kants Kritik der reinen Vernunft. Jacobi entwickelt aus ihr das Konzept einer dualen Rationalität, die sich für ihn in dem von Kant thematisierten philosophiegeschichtlichen Gegensatz von Platonismus und Epikureismus konkretisiert. Diesen Gegensatz interpretiert Jacobi inhaltlich als Dualismus von Theismus und Naturalismus, wobei er das Verhältnis beider nach dem Modell einer »Scheidung ohne Trennung« konzipiert und dem Theismus die Vernunft und die Kausalität aus Freiheit (Ursache), dem Naturalismus den Verstand und die Kausalität nach Gesetzen der Natur (Grund) zuordnet: auf der einen Seite also »eine mit Weisheit wollende und wirkende Intelligenz – ein Schöpfer-Gott«, auf der anderen die mechanische »Natur der Dinge«.14 Als theistische Philosophen der Ursache nennt Jacobi Sokrates und Platon und ordnet in deren Nachfolge auch seine eigenen Bemühungen ein; als naturalistische Philosophen des Grundes betrachtet er Aristoteles, Kant und – für unseren Zusammenhang wichtig – Schelling. Jacobis Kritik in den Jahren von 1811 bis 1819 lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass er Schellings Identitätssystem als naturalistisches einstuft. Wie alle naturalistischen Systeme zeigt es Jacobi zufolge zwei Defizite: 1) Schellings Identitätssystem beruht auf kausalmechanischer Erklärung der Natur und läuft hinsichtlich der Ursache der Natur auf 13  Vgl. v.  Verf., Freiheit

im Wissen, 283–299; vgl. auch v.  Verf.: Einleitung, in: Schelling, System der Weltalter, XVI–XXI. 14  Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Hrsg. v. F. Roth/F. Köppen, Leipzig 1812–1825 (Nachdruck Darmstadt 1980), Bd. III, 382. Im Folgenden zitiert als »Jacobi, W« mit Angabe der Band- und Seitenzahl.

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eine Negation personaler Vernunft hinaus: Das Göttliche in Schellings System sei – so Jacobi – nichts anderes als »die blos werkthätige Kraft des von sich nicht wissenden Allgeistes«.15 Infolge von dessen Identifikation mit der blinden Produktivität der Natur werde das Unbedingte zum Unbestimmten. Schellings System erscheint aus der Perspektive Jacobis als eine pantheistische Spielart des Naturalismus. 2) Schellings Identitätssystem leugnet mit der Negation der Personalität des Absoluten das Wesen von Natur und Zeit: Es logifiziert die Natur und fixiert die Zeit auf iterative Präsenz. Deswegen erweist es sich als unfähig, das Hervorgehen des Bedingten aus dem Unbedingten zu erklären. Gegen diese Defizite profiliert Jacobi die Konturen seiner Philosophie der Ursache als Theismus: Was die Ursache der Natur angeht, so rückt Jacobi die Aspekte von Teleologie und Personalität in den Blick. Jacobi teilt die Ansicht der theistischen Philosophen, »welche behaupten, das Vollkommenste sey zuerst, und mit ihm und aus ihm beginne alles; oder: es gehe nicht voraus, als Anbeginn, eine Natur der Dinge; sondern es gehe voraus und es sey der Anbeginn von allem ein sittliches Principium, eine mit Weisheit wollende und wirkende Intelligenz – ein Schöpfer-Gott.«16 Was das Wesen der Zeit angeht, so stellt er den konstitutiven Zusammenhang von Zeit und Zeugung als Akt personaler Vernunft heraus: Zeit sei nur als Akt der Selbsterzeugung personaler Vernunft: »Ich bin der – Ich bin; der – Ich war; der – Ich werde seyn. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem Gefühl des Selbst- und in sich Seyns unzertrennlich verknüpft; das ist Geistesbewusstseyn, das ist ›das von dem Ewigen uns eingedrückte Sigill‹.«17 Demgegenüber sei der Gott der Identitätsphilosophie gerade durch ein Absehen von »dem Gesetze der Erzeugung«, »durch die Vertilgung des Zeitlichen« zustande gekommen. Der 1819 erschienene Vorbericht zum 4. Band seiner Werke, Jacobis philosophisches Testament, betont noch einmal die Verbindung von Vernunft und Personalität: »Es gibt keine Vernunft, als in Person, also weil Vernunft ist, so ist ein Gott und nicht blos ein Göttliches.«18 Als Re-

15 

Jacobi, W II, 97. Jacobi, W III, 382. 17  Jacobi, W III, 419f. 18  Jacobi, W IV,1, XXIVf. 16 

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präsentanten einer solchen Vernunft nennt Jacobi unter anderem So­ krates und Christus. Sie – so Jacobi – »beweisen mir mit ihrer Persönlichkeit den Gott welchen ich anbete, er ist mir als Schöpfer dieser Persönlichkeiten erhabner, denn als Urheber des Sternenhimmels nach Gesetzen innerer Nothwendigkeit, denen er selbst in seinem Werk unterworfen ist. Der Gott der Bibel ist erhabner, als der Gott, welcher nur ein Absolutes ist«.19 In Konkurrenz zum Naturalismus profiliert Jacobi einen Theismus, der diesen Naturalismus nach dem Muster einer »Scheidung ohne Trennung« ergänzen und damit der Philosophie das »Seelenauge« wieder einsetzen soll, das die vom Naturalismus dominierte Philosophie sich selbst ausgestochen hat: »eine über die Naturlehre sich erhebende, den Naturbegriff durch den Freyheitsbegriff einschränkende, eben damit aber den Verstand wahrhaft erweiternde Lehre: Philosophie in Platons Sinne.«20 Jacobis Version eines platonischen Theismus negiert nicht die bloße »Verstandeswissenschaft« eines Aristoteles, sein Theismus unterscheidet sich aber von ihr dadurch, dass Jacobi ihn als Wissenschaft nach Art des Apostels Paulus verstanden wissen will, das heißt als Wissenschaft, die »von einem Geiste geleitet wird, der in alle Wahrheit führt.« Es gibt also für Jacobi zwei parallele und jeweils in ihren Grenzen legitime Formen der Philosophie, Theismus und Naturalismus, und derjenige, der beide Formen der Wissenschaft beherrscht, ist Sokrates. Dieser sei aber »unstreitig […] mehr Paulinisch als Aristotelisch gesinnt«.21 Mit seinem Hinweis auf Paulinische Wissenschaft und auf Sokrates als ihren Protagonisten avant la lettre schafft Jacobi die Problemexposition für Schellings weitere Denkentwicklung. Dies insofern, als ihm durch Jacobi offenbar nicht nur die Notwendigkeit einer theistischen Korrektur seines Identitätssystems klar geworden ist. Darüber hinaus stellte sich ihm die Aufgabe, eine Alternative zu der starren Entgegensetzung von Theismus und Deismus auszuarbeiten. Denn weder die Eskamotierung der Natur im Theismus noch die Exilierung Gottes im Deismus hat ihn offenbar zu überzeugen vermocht. Meine These ist daher die folgende: Nicht nur in der Erlanger Vorlesung, viel mehr noch in der Weltalter-Vorlesung antwortet Schelling auf Jacobis Problemexposition mit einem Paulinischen Pantheismus auf Platonischer Grundlage. Diese These soll im Folgenden anhand zentra19 

Jacobi, W IV,1, XXIIIf. Jacobi, W II, 57f. 21  Jacobi, W IV,1, XXXIf. 20 

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ler Begriffe und Problemhorizonte der Vorlesung konkretisiert werden, wobei ich zur Begründung meiner These teilweise auch frühere und spätere Vorlesungen Schellings heranziehen werde.

3. Die Vorlesung System der Weltalter von 1827/28 a) Geschichtliche Philosophie Schellings Weltalter-Vorlesung von 1827/28 bedeutet methodisch und inhaltlich einen Neueinsatz seiner Philosophie: die Etablierung der von ihm sog. geschichtlichen oder positiven Philosophie neben der bisher herrschenden logischen Philosophie. Was bedeutet dies? Inhaltlich ist Schellings geschichtliche Philosophie der Versuch, das weltgeschichtliche Faktum des Christentums philosophisch einzuholen. Bereits in seiner Frühphilosophie hatte er dem Christentum eine geschichtliche Anschauung des Universums zugeschrieben.22 Methodisch zieht er daraus 1827 die Konsequenz, dass er das Verhältnis Gottes zur Schöpfung nicht mehr als logisches, sondern als faktisch-zeitliches begreift. Die christliche Rede von der Schöpfung der Welt durch einen frei zur Schöpfung bzw. Natur sich entschließenden Gott ist eine Tatsachenbehauptung, und dies bedeutet für die Philosophie die Umstellung von Vernunft- auf Tatsachenwahrheiten: Mit der Aussage: »Gott hat die Welt freiwillig erschaffen« ist – so Schelling – »kein logisches factum ausgesprochen, sondern eine That gegeben«.23 Die geschichtliche Wendung Schellings bedeutet: Faktisches kontingentes Sein tritt an die Stelle logischer Notwendigkeit. Der logische Primat der Möglichkeit wird durch den ontologischen Primat der Wirklichkeit ersetzt. Die Wirklichkeit Gottes geht der Möglichkeit vorher, sie ist das ontologische Prius, aus welchem sich die Möglichkeit seines Seins in Form von Potenzen ergibt. Mit dem ontologischen Charakter der geschichtlichen Philosophie – sie ist nicht mehr reine Vernunftwissenschaft – ändert sich auch der Wissensbegriff: Gegenstand der positiven Philosophie sind Sätze, deren Gegenteil möglich sein muss. Dass a = b ist, weiß ich nur dadurch, dass a nicht = c ist (was es hätte sein können). Folge ist die Ablehnung des ontologischen Arguments: Gott ist nicht mehr der Notwendigseiende als der Nichtnichtseinkönnende, sondern existierendes 22  Vgl.

Schelling, SW V, 287. System der Weltalter, 11.

23 Schelling,

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freies Seinkönnen. Sein ist nicht Prädikat, sondern Position (Tatsache) und damit Gegenstand von Erfahrung. Für die in der Vorlesung vorgenommene Grundlegung der positiven Philosophie sind die Begriffe Zeit, System und Freiheit (Seinkönnen) zentral. Diese Begriffe und die durch sie umschriebenen Problemhorizonte sollen im Folgenden konturiert werden.

b) Problemhorizont Zeit: Zeit als Aion Eines der wichtigsten Momente von Schellings spekulativer Grundlegung der positiven Philosophie ist sein neuer Begriff der Zeit. Wie schon skizziert, wird dieser neue Begriff in den Weltalter-Entwürfen der Jahre 1810 bis 1813, vor allem in der von Schelling sogenannten ›Genealogie der Zeit‹ im Druck I von 1811 grundgelegt. Aber erst in der Weltalter-Vorlesung von 1827/28 gibt Schelling ihm schließlich die spezifische Gestalt, die für seine Spätphilosophie maßgebend bleibt. Im Unterschied zu den Weltalter-Entwürfen, in denen er keine Rolle spielt24, kondensieren sich nämlich seine Überlegungen zum Problem der Zeit nunmehr in dem Begriff des Aion. Diesem gibt Schelling eine im Verhältnis zur philosophischen Tradition völlig neue Bedeutung.25 In der Weltalter-Vorlesung steht er im Zentrum der Überlegungen, was sich allein schon daran zeigt, dass er bei der Grundlegung des Zeitbegriffs 24  Für diese Phase der Schellingschen Überlegungen zum Problem der Zeit vgl. die luzide Studie von Wolfgang Wieland: Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie. Heidelberg 1956, bes. 25–45 die Ausführungen über die »Ekstasis-Struktur«, die »Rückbeziehung auf sich selbst in allem Überstieg über sich selbst«, von der her Schelling »alle Subjektivität, insbesondere das Selbstbewußtsein« verstehe (ebd., 32). Es ist interessant zu sehen, dass die Plausibilität von Wielands Argumentation nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass er die zentralen Kategorien für seine Interpretation von Schellings Zeitbegriff in den Weltalter-Entwürfen aus Schellings Erlanger Vorlesung entnimmt (vgl. ebd., 32, Anm. 12), so etwa die Termini Ekstasis und Rotation (vgl. z. B. ebd., 74). 25  Zum Aion bei Schelling vgl. Schelling, System der Weltalter, 9–18, 209. Früher: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Hrsg. u. kommentiert v. Horst Fuhrmans, Bonn 1969, 160f. (»die wahre Zeit besteht in einer Succession von Aeonen«, ebd., 161). Im Folgenden zitiert als »Schelling, Initia«. Später: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung in die Philosophie (Schellingiana Bd. 1). Hrsg. v. Walter E. Ehrhardt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 137. Im Folgenden zitiert als »Schelling, EPh«; ders.: Urfassung der Philosophie der Offenbarung. 2 Teilbände. Hrsg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 136–139. Im Folgenden zitiert als »Schelling, UPhO«. Schelling, SW XIII, 306–309, 375 sowie SW XIV, 71, 106–108, 110.

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den Auftakt und im Kontext der Überlegungen zur ökonomischen Trinität den Abschluss der Vorlesung bildet.26 Ausgangspunkt von Schellings Überlegungen ist die Aussage des Christentums, dass Gott die Welt in der Zeit geschaffen hat. Schellings Gedankengang besteht aus zwei Schritten: Im ersten dekonstruiert er den traditionellen Zeitbegriff, im zweiten bestimmt er den Aion als ›ewige Zeit‹ und damit als vermittelnde Instanz zwischen Ewigkeit und Zeit. Zunächst zu Schellings Dekonstruktion des traditionellen Zeitbegriffs: Sie besteht in der Aufhebung der seit Platon und Augustinus üblichen metaphysischen Gleichsetzung von Welt und Zeit. Ist nämlich – so Schelling – Zeit identisch mit der Dauer der Welt, also eine einzige, so ist sie nichts anderes als bloße Reproduktion von deren Präsenz: Zeit ist iterative Gegenwart. Die Zeit kommt dann nicht über die Welt hinaus, sie ist ewige Emanation der ewigen Idee und, weil sie keine Zeit außer sich hat, die sie begrenzen könnte, der Ewigkeit gleich.27 Wenn Zeit aber ewige Emanation ist, hat sie den Charakter logischer Notwendigkeit. Die bisherigen Vernunftsysteme haben Schelling zufolge mit diesem Begriff von Zeit als iterativer Präsenz operiert und damit die Zeit zur Ewigkeit gemacht.28 Zeit ist gewissermaßen atomisierte Ewigkeit, die sich in Form von Jetztstücken zu einer »homologe[n] Zeit« aufaddiert.29 Die Zeit »kann sich nur selbst sezen wie sich z.B. eine algebraische Reihe mit a selbst sezt als a + a + a […] Aus diesem Schema a + a + a ist die stetige nothwendige Wiederholung dieser Zeit-Reihe klar, welche mit gegenwärtiger Welt identisch ist.«30 In dieser kann keine wahre Vergangenheit oder Zukunft entstehen, »denn im Nachfolgenden steht 26  Vgl.

Schelling, System der Weltalter, 9–16 u. 196–212. Es ist erstaunlich, aber vermutlich auch der damaligen Editionslage von Schellings Vorlesungen geschuldet, dass Wieland die inhaltliche und systematische Neubestimmung von Aion in Schellings Philosophie ab 1827 entgangen zu sein scheint, wenn er über Schellings Verwendung des Aion-Begriffs recht pauschal in der Weise urteilt, dass Schelling mit ihm in seiner Schöpfungstheorie der Weltalter und der Spätphilosophie »auf die A.[ion]-Vorstellung der christlichen Tradition zurückgreift«. Vgl. Wolfgang Wieland: Art.: Aion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 117–119, hier Sp. 118. 27  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 14: »Eine Zeit aber die keine außer sich hat […] ist […] der Ewigkeit gleich, ja sie ist selbst jene. Ist nun die Zeit dieser gegenwärtigen Welt die einzige, ist diese Welt also als eine ewige Emanation der höchsten Idee anzunehmen, denn es ist ja nichts außer ihr das sie begrenzen könnte«. 28  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 14. 29  So Schellings eigener Ausdruck, vgl. Schelling, System der Weltalter, 208. 30 Schelling, System der Weltalter, 15.

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das Vergangene wieder auf und das Künftige muß schon wieder als Vergangenes da gewesen sein.«31 Zeit hat so rotatorischen Charakter: Sie kreist in sich selbst, indem sie auf die Wiederholung bloßer Gegenwart fixiert bleibt. Für Schelling ist sie daher »nichts anders als ein Anhalt, eine Hemmung, ἐποχη der wahren Zeit«.32 So betrachtet, erscheint die Zeit als ein »beständiges mühevolles aber eitles und nichtiges Streben Zukunft hervorzubringen, oder ein Zustand der bestimmt ist Vergangenheit zu werden ohne es je zu können«.33 Die alttestamentliche Rede: »Nichts Neues geschieht unter der Sonne« und die antike These der Ewigkeit der Welt sind Ausdruck dieses traditionellen Zeitverständnisses. Auch die sogenannten allgemeinen ewigen Wahrheiten sind in diesem Verständnis gewissermaßen arretiert, wie Schelling erläutert: »Wir fangen an zu begreifen, daß die ewigen Wahrheiten eigentlich nichts anders sind, als vom gegenwärtigen Zustand abstrahirte Säze. Es gibt im Grunde keine ewigen Wahrheiten in dem Sinne, den wir hiemit bezeichnen wollen«34 Eine so verstandene Zeit ist unlebendig und unschöpferisch; sie ist Negation der Möglichkeit des Anderen und als solche Ausdruck von Unfreiheit. Sie hat kein wirkliches Vor und Nach. Der Freiheit Gottes in der Schöpfung der Welt wird eine solche »[m]echanische Ansicht« der Zeit35 aber nicht gerecht. Sowohl Deismus wie Theismus sind jedoch in diesem Zeitverständnis gefangen: die deistische Version von Gott als Maschinenbauer (Weltzeit als Zeitmaschine) ebenso wie die theistische Version der creatio continua als mechanische Wiederholung von ewig gleichen Jetzt-Impulsen. Nun zum zweiten Punkt, der Schellingschen Neudefinition von Zeit als Aion. Die Zeit der gegenwärtigen Welt ist nach Schelling erst dann Zeit, wenn sie eine Vergangenheit von sich abscheidet und eine Zukunft sich voraussetzt. Dies bedeutet: Sie ist nicht diskreter Teil, sondern organisches Glied innerhalb eines Zeitganzen. Diese Totalität erzeugt sie selbst in jedem Augenblick jeweils neu, generiert also jeweils eine Reihe, in der sie mit der Zeit, die ihr ›voraufgeht‹, und der Zeit, die ihr ›nachfolgt‹, gleichzeitig ist. Zeit ist wahre Zeit also erst als jeweils neu generierte Folge von Weltzeiten: als vorweltliche Zeit, Zeit der gegenwärtigen Welt und nachweltliche Zeit, formal gesprochen, als Zeitreihe

31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd.

34 Schelling, 35 Schelling,

System der Weltalter, 16 (Hvh. v. Verf.) System der Weltalter, 208.

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a + b + c. Dieser wahren Zeit – so Schelling – komme es dann nämlich zu, »selbst eine ewige, ein Aeon zu sein«.36 Ewige Zeit beziehungsweise ewige Zeiten ist scheinbar eine contradictio in adiecto.37 Was bedeutet diese merkwürdige Definition von Weltzeit als Aion oder »ewiger Zeit«? Motiv und Begriffsinhalt lassen sich aus einer Passage der Urfassung der Philosophie der Offenbarung ersehen, in der es um die Einführung der vorweltlichen Zeit geht. Hier macht Schelling klar, dass es ihm mit der Einführung einer ›ewigen Zeit‹ darum geht zu verhindern, dass die Welt nur als notwendige Emanation Gottes angesehen werde, würde dies doch bedeuten, dass Gott – wie dies Jacobi annehme – die Welt von Ewigkeit, also seiner Natur nach geschaffen hätte. Deswegen sei es notwendig, »daß zwischen Gott und Welt ein Interstitium, ein vermittelnder Zwischenraum […] sei. Wenn man sagt, daß die Zeit erst mit der Schöpfung angefangen, so muß man auch annehmen, daß zwischen der absoluten Ewigkeit und der Zeit etwas in der Mitte sei, wenn man unter ›Zeit‹ die Welt, Schöpfung versteht. Dieses Mittlere zwischen Zeit und Ewigkeit kann nur das sein, was nur nicht wirklich Zeit und insofern der Ewigkeit noch gleich ist, was aber, insofern es das ist, was Zeit werden kann, einen Bezug auf die Zeit hat und also mit der Zeit verwandt ist; und doch ist es nicht von der Ewigkeit, eben weil es noch nicht Zeit ist, verschieden.«38 Dieses Mittelstück zwischen Ewigkeit und Zeit ist die vorweltliche Ewigkeit. Sie ist der Grund der Schöpfung insofern, als sie durch Zeugung der gegenwärtigen Weltzeit zum Grund von deren Existenz wird. Schelling beschreibt sie des Näheren wie folgt: »Inwiefern nun die Zeit vor der Welt für sich allein nicht Zeit ist, insofern, kann man sagen, ist sie Ewigkeit, doch nicht absolute Ewigkeit, weil sie schon mögliche Zeit ist. Man kann sie zum Unterschied von der absoluten Ewigkeit die vorweltliche nennen. Diese ist das postulierte Mittelglied zwischen Zeit und Ewigkeit (absolute Ewigkeit), wenn man unter Zeit die Zeit versteht, welche mit der Welt zugleich gesetzt ist. Denn die Welt selbst ist wieder nur eine Zeit, ein Glied jener wahren Zeit. Zeit ist nicht B allein, sondern A + B, und wenn man die Zu36 Schelling,

System der Weltalter, 15. So Hermann Sasse: Art.: Aion, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hrsg. v. Gerhard Kittel, Bd. 1. Stuttgart 1957 (ND v. 1933), 199. 38  Schelling, UPhO, 137. 37 

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kunft hinzufügt, A + B + C. Denn die wahre Zeit besteht selbst nur in der Folge von Zeiten, und inwiefern die Welt selbst ein Glied der Zeit ist, ist sie Zeit, wie das Wort ‚Welt‘ (von Währung) ein Währen bedeutet, was das griechische Wort αἰων beweist, das Zeit und Welt heißt.«39 Neu an diesem Konzept ist, dass Schelling mit der Bestimmung der Zeit als Aion der aus den Weltalter-Entwürfen vertrauten Genealogie der Zeit (Hervorgang der Zukunft aus der ›ekstatischen‹ Scheidung der Gegenwart von der Vergangenheit) nunmehr einen ontologischen Ort anweist, indem er sie als Generierung ›ewiger Zeit[en]‹ zwischen Ewigkeit und Zeit situiert, so dass sich die Sequenz Ewigkeit – ewige Zeit (Aion) – Zeit ergibt. Was bedeutet dies für die begriffliche Struktur des Aion? Hierfür ist ein Blick auf Schellings eigenwillige kantianisch grundierte Interpretation des Platonischen Zeitbegriffs in seinem Timaios-Kommentar von 1794 aufschlussreich. Interessanter Weise unterscheidet er hier Aion als die ewige Idee der Zeit (»reine Form der Anschauung«) von Chronos als dem Bild dieser Idee40 und bestimmt Ewigkeit als noumenale Zeit, Sukzessivität als phänomenale Zeit.41 Schelling nimmt damit eine im Vergleich zur metaphysischen Tradition – in der Aion als Ewigkeit strikt im Gegensatz zu Zeit verstanden wird – ungewöhnliche per­ spektivische Ausrichtung des Begriffs Aion auf Zeit vor. Diese temporale Grundierung des Begriffs Aion wird von Schelling ab 1827 in der Weise verschärft, dass der Aion nunmehr als Schematismus des Begriffs Ewigkeit fungiert, den Schelling jetzt von dem Begriff absoluter Ewigkeit selbst unterscheidet und zwischen Ewigkeit und Zeit situiert. Als ewige Zeit vermittelt Aion zwischen Ewigkeit und Zeit: Einerseits hat 39 

Schelling, UPhO 138. Schelling führt hier u. a. aus: »Plato behauptet […], daß es eine Zeitform unabhängig von aller Succeßion der Materie gebe – eine reine Zeitform, von der man nur sagen kann: sie ist, u. deren Bestimmungen man mit den Bestimmungen der Zeit, insofern sie auf Materie angewandt wird nicht verwechseln müße«. (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Kommentar zum »Timaeus.« (1794), in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Thomas Buchheim/Jochem Hennigfeld/Wilhelm G. Jacobs/Jörg Jantzen/Siegbert Peetz, Reihe II: Nachlass, Bd. 5, Stuttgart 2016, 170). Im Folgenden zitiert als »Schelling, AA« mit Angabe der Reihe, des Bandes und der Seitenzahl. Schelling bestimmt Platons αἰών hier u. a. auch mit kantischen Termini »als die reine, auf Erscheinungen noch nicht angewandte Form der Zeit in uns« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Kommentar zum »Timaeus.« (1794), in: Schelling, AA II,5, 169). 41  »Nun erhellt aber auch, was Platon oben unter Ewigkeit verstand. Nichts als die reine, auf Erscheinungen noch nicht angewandte Zeitform in uns, die nur dann, wenn sie auf Erscheinungen angewandt wird – eine Succeßion […] kennt« (Schelling, AA II,5, 170). 40 

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er einen Bezug auf Zeit insofern, als er die Generierung von deren Dimensionen, also die Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinhaltet; andererseits ist er ewig, weil diese Folge immer simultan als ganze erzeugt wird. Damit ist der metaphysische Dualismus von Ewigkeit und Zeit aufgehoben. Den zwischen Ewigkeit und Zeit interpolierten Aion bestimmt Schelling in diesem Zusammenhang als ein jeweils unteilbares Ganzes: »Der Inhalt der Zeit ist immer einer und derselbe, immer ist in jeder aufeinander folgenden Zeit die ganze untheilbare Zeit, jede verhält sich wieder als ein αἰὼν. Nur dadurch ist jene sanfte Stetigkeit zu vergleichen mit der Stetigkeit eines Stromes; aber den eigentlichen Vergleichungspunkt übersieht man gewöhnlich. Das Bild des Stromes bezieht sich nicht auf die Wellen, wo eine die andere verdrängt, sondern auf den Fluß selbst von seiner Mündung bis zu seinem Ursprung. Derselbe ist in jedem Augenblick ein anderer. Daher sagt auch der scharfsinnige Heraclit: ›Niemand steigt zweimal in denselben Strom, niemand steigt aus dem nemlichen Strom heraus‹. Der Strom ist immer derselbe und nicht derselbe, eben so ist die Zeit der Schöpfung stets eine andere.«42 Als solcher dynamischer Zeitstrom fundiert Aion die geläufige Vorstellung von Zeit als mechanischer Sukzessivität. In der Weltalter-Vorlesung unterscheidet Schelling demzufolge zwischen aionischer und chronischer Zeit, wobei er unter aionischer Zeit den mit der Schöpfung geschehenden dynamischen Prozess der Scheidung der ewigen Zeiten, unter chronischer Zeit die mechanisch wiederholte Gegenwartszeit als unvollkommenen Ausschnitt und damit als defizienten Modus dieser aionischen Zeit versteht. Schelling formt damit erkennbar antike begriffliche Vorgaben von Aion radikal um: Sein Aion ist nicht mehr derjenige Platons, der mit der Bestimmung von Aion als zeitloser Ewigkeit und von Zeit als einem beweglichen, in Zahlen fortschreitenden ewigen Bild der Ewigkeit umgekehrt Zeit an Ewigkeit orientiert und damit einen Dualismus von Ewigkeit und Zeit installiert43; Schelling teilt auch nicht Aristoteles‘ Ansicht,

42 Schelling, System der Weltalter, 209. Bereits in Druck I der Weltalter hatte Schelling diesen Sachverhalt wie folgt umschrieben: »Nicht durch diskrete, sich succedirende Theile Einer Zeit, sondern nur dadurch, daß die Zeit in jedem Augenblick die ganze ist und die ganze stets der ganzen folgt, ist jene sanfte Stetigkeit zu begreifen, die man durch das Bild eines Zeitflusses auszudrücken suchte« (Schelling, Weltalter, 80 [= Druck I, 146], Hvh. v. Verf.). 43  Vgl. Plato, Timaeus 37 d.

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der diese Unterscheidung Platons wieder zurücknimmt, »indem er den Aion als Ewigkeit mit der Zeit der Welt identifiziert«.44 Durch Schellings Neubestimmung von Aion geht dieser vielmehr als »große Zeit« prinzipiell über die »kleinere Zeit« der gegenwärtigen Welt hinaus.45 Indem Schelling die Zeit der gegenwärtigen Welt in das ›Joch‹ eines vorweltlichen und eines nachweltlichen Weltalters einspannt, macht er sie zum Glied einer Pluralität von ewigen Weltzeiten und unterscheidet sich damit grundlegend von Augustin, für den die Schöpfung von Welt und (chronischer) Zeit zusammenfällt und für den es deswegen keine aionische Abfolge von Weltaltern gibt. Für Schelling hingegen erscheint die gegenwärtige Welt vielmehr als der Mitteltakt in einem Rhythmus, mit dessen Schöpfung zugleich vorweltliche Vergangenheit als Auftakt und nachweltliche Zukunft als Schlusstakt gesetzt werden. Das Wesen der Zeit der gegenwärtigen Welt ist somit nicht mehr mechanische Wiederholung von Gegenwart, sondern jeweils gesetzte Differenz, sich im Bewusstsein ereignende Zeit als Scheidung gegenwärtiger Weltzeit von einer Vergangenheit, die ihr zugrunde liegt, und einer durch diese Scheidung generierten Zukunft, die sie transzendiert. Mit Schellings Formelsprache kann man den Sachverhalt auch so ausdrücken: Die »Zeit der gegenwärtigen Welt«46 ›existiert‹ zwar als offenbare Präsenz von a, aber auf dem ›Grund‹ der Latenz von b (als der Differenz zu deren Vergangenheit) und der Tendenz zu c (als dem Ausgespannt44  Hermann

Sasse: Art.: Aion, in : RAC, Bd. I (Stuttgart 1950), Sp. 193–204, hier Sp. 193. Dort auch die Belegstellen: Plato, »Tim. 37 D«; Arist. »cael. 2,1 p. 283 b 26 ff.; vgl. cael. 1, 9 p. 279a 23ff.«: »Denn die Grenze, welche die Lebenszeit jedes Einzelnen umschließt und außerhalb derer nichts naturgemäß existiert, ist die Existenzdauer des Einzelnen genannt worden. In analoger Weise ist auch die Grenze des gesamten Himmels, die die ganze Zeit und die Unendlichkeit umfasst, die Existenzdauer (αἰών): Sie hat ihren Namen von ihrer immerwährenden Existenz (ἀπὸ τοῦ αἰεὶ εἶναι) erhalten, da sie unsterblich und göttlich ist.« (Aristoteles: Über den Himmel. Übersetzt und erläutert v. Alberto Jori, in: ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Begr. v. Ernst Grumach. Hrsg. v. Hellmut Flashar, Bd. 12, Teil III. Darmstadt 2009, 44). Zur mythologischen Rede von Aionen im Zusammenhang mit den Namen des Zeus vgl. Aristoteles: De mundo 401 a 12–16, wo es u. a. heißt: »Sohn des Kronos und der Zeit wird er genannt sich erstreckend aus einem unendlichen Aion in einen anderen (zweiten) Aion.« In der gnostischen Spekulation hat Aion nicht (mehr) die Stellung eines obersten Ur- und Weltgottes, sondern steht (vgl. Corp. Herm. 11,2.3) als δεύτερος ϑεός bereits in einer Emanationsreihe höchster Wesen. Helios erscheint als Vater des Aion, die Oracula Chaldaica bezeichnen den Aion entsprechend als πατρογενὲς φάος (Procl. In Plat. Tim. 4 p. 242 D). Diese Angaben aus: Wolfgang Fauth: Art.: Aion, in: Der Kleine Pauly, Bd. 1. München 1979, Sp. 185–188, hier Sp. 187. 45  Diese Termini gebraucht Schelling selbst, vgl. Schelling, System der Weltalter, 208. 46 Schelling, System der Weltalter, 14.

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sein auf deren Zukunft). Das Abgeschiedene und das Kommende sind damit im Gegenwärtigen im Modus von schöpferischen Kräften/Dynameis, also als noch oder schon wirkende Potenzen kopräsent. Anders formuliert: Gegenwart ist in der Abscheidung ihres ›vergangenen‹ Grundes von sich die Zeitigung des Künftigen. Mit diesen Weltaltern als ewigen aionischen Zeiten zwischen Ewigkeit und Zeit formuliert Schelling eine Theorie der Schöpfung, gemäß der, wie er später einmal sagt, die »That der Schöpfung selbst […] das Setzende der Aeonen«47 ist. Die Tatsache der Welt ist für Schelling somit identisch mit dem Faktum, dass Gott den Aion in Form von aionischen Zeiten setzt, dabei aber selbst in seiner absoluten Ewigkeit verharrt. Aion ist folglich nicht die Ewigkeit selbst (absolute oder – wie Schelling später sagen wird – »wesentliche« Ewigkeit), sondern die mit der Ewigkeit selbst koexistierende ewige Zeit, welche mit dem Akt der Schöpfung als in sich dynamische Folge von ewigen Zeiten gesetzt wird.48 Aion meint so die Realisierung ursprünglicher Zeit im Zeitbewusstsein, welche den Zeitkreis der in sich rotierenden chronischen Zeit zu einer unendlichen Linie aufsprengt. Diese Zeitlinie wird durch die gegenwärtige Weltzeit jeweils so geteilt, dass sie in Richtung Vergangenheit

47 

Schelling, SW XIV, 110. damit gegebene ontologische Zwischenstellung des Aion als ewiger Zeit zwischen (absoluter) Ewigkeit und (chronischer) Zeit ist für das Verständnis von Schellings Spätphilosophie, insbesondere für die Dialektik von Transzendenz und Immanenz in dem Konzept von Gott als dem »Herrn des Seins« (dazu vgl. unten), von ausschlaggebender Bedeutung. Vgl. Schelling, UPhO, 138f.: »Dagegen kann die absolute Ewigkeit niemals ein Glied der Zeit werden, weil sie von der Zeit nie berührt wird. Denn zur absoluten Ewigkeit, eben weil sie lautere Einheit ist, verhält sich die Spannung der Potenzen [i.e. der aionischen Zeiten] als etwas Akzessorisches; denn die Ewigkeit wird durch die Spannung der Potenzen nicht gestört. Diese Spannung ändert an der Ewigkeit selbst nichts; sie ist in bezug auf die absolute Ewigkeit etwas Gleichgültiges und Zufälliges.« Verkannt wird der Sachverhalt von Rafael Hüntelmann, der Schellings nachweltliche Ewigkeit mit der absoluten Ewigkeit identifiziert (vgl. Rafael Hüntelmann: Schellings Philosophie der Schöpfung. Zur Geschichte des Schöpfungsbegriffs. Dettelbach 1995, 206), richtig gesehen dagegen von Peter Trawny: Die Zeit der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling. Würzburg 2002, 179–181 (mit Hinweis auf Oetingers Begriff der Ewigkeit) und 205–209, ferner Malte Dominik Krüger: Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie. Tübingen 2008, 196f. und 217f., Kurt Appel: Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008, 177, und von Grzegorz Kozdra: »Herr des Seins«. Eine Untersuchung zur philosophischen Gottesfrage in F. W. J. Schellings Münchener Vorlesungen. München 2016, 256f. Im Folgenden zitiert als »Kozdra, ›Herr des Seins‹«. 48  Die

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und Zukunft unendlich ist.49 Gegenwart wird so zu einem Zukunft und Vergangenheit generierenden (Ab-)Schnitt; die Weltzeiten werden zu unterschiedenen Abschnitten a, b, c einer identischen ›aionischen‹ Linie, die die Summe dieser Abschnitte darstellt. Nach Erläuterung der Struktur von Schellings aionischem Zeitkonzept ist nun dessen Sinn zu skizzieren. Dieser wird erkennbar, wenn man die unterschiedliche Qualifizierung der ewigen Zeiten durch Schelling in den Blick nimmt. Es fällt auf, dass für Schelling die Anbindung der Zeit der gegenwärtigen Welt an die vorweltliche Ewigkeit und an die nachweltliche Ewigkeit unterschiedliche Funktionen hat. Die Anbindung der Zeit der gegenwärtigen Welt an die vorweltliche Ewigkeit hat die Funktion, im Prozess der Schöpfung die göttliche Freiheit zu verankern. Denn die vorweltliche ewige Zeit wird von ihm als von Ewigkeit herkommender und mit der Tat der Schöpfung sich ereignender ›Tagtraum‹ des göttlichen Genius konzipiert. Gott schafft, indem er spielt: Göttliche Weisheit erscheint als Spiel der Freiheit und Lust am Sein. In der Weltalter-Vorlesung identifiziert Schelling Überlieferungsspuren dieses vorweltlichen Bewusstseins Gottes für die heidnische Antike in Platons Ideenlehre: »Gott konnte sich mit der Vorstellung der künftigen Dinge beschäftigen; alle Dinge waren als ideale Vorstellungen, gleichsam als Visionen im göttlichen Bewußtsein; alle künftigen Dinge gingen ihm gleichsam wie in einem Gesichte vorüber. Das schöne Wort ἰδέα hat wie Gesicht beiderlei Bedeutungen, den Blick und das an dem Blick vorübergehende. Die Lehren von den vorweltlichen Bildern gehören zu den ältesten 49  In

der letzten Münchener Vorlesung über Philosophie der Mythologie vom Wintersemester 1840/41 präzisiert Schelling den aionischen Hybridcharakter der vorweltlichen Weltzeit zwischen Ewigkeit und Zeit: Vor Setzung der gegenwärtigen Weltzeit der Schöpfung ist die vorweltliche Weltzeit ewig, also stillstehend und ungeschichtlich. Insofern ist sie Moment und Punkt. Nach Setzung der Schöpfung als zweiter Zeit erst wird sie zur Vergangenheit – zu einer unendlich in die Vergangenheit sich erstreckenden Linie – und damit zeitlich: »Wir müssen die geschichtliche Zeit, wenn sie nicht ins Sinnlose zurückgehen soll, durch eine erste Zeit begr[e] nz­ en; diese aber ist auch die in sich selbst absolut stillstehende ungeschichtliche, die sich als Moment oder Pun[k]t verhält, weil in ihr Anfang von Ende und Ende von Anfang nicht unterschieden ist. Sie ist auch eine Art von Ewigkeit, inwiefern in ihr kein Vor und Nach ist, weil sie nur relativ zur Zeit wird, nur indem eine andere ihr folgt, durch die sie Vergangenheit wird. [Je]tzt wird sie erst selbst Zeit, aber in ihr war keine Zeit also auch mit ihr und ehe eine zweite folgte keine Zeit« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesung 1841. Hrsg. v. Andreas Roser/Holger Schulten. Mit einer Einleitung v. Walter E. Ehrhardt (Schellingiana Bd. 6), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 144).

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Überlieferungen und die Platonische Ideenlehre ist die lezte Emanation dieser Überlieferung. Durch unsere Darstellung hat diese Lehre eine reale und völlig bestimmte Bedeutung.«50 Für das Judentum zitiert Schelling die Rede der Weisheit im Buch der Sprüche des Alten Testaments, die er »zu den kostbarsten Kleinodien [zählt], die sich erhalten haben«: »Die Weisheit nemlich spricht von sich selber: ›Der Herr hatte mich am Anfang seines Weges ehe etwas gemacht war, vom Anfange, vor der Erde, ehe die Meere waren und ihr die Berge eingesenkt wurden und die Brunnen und Wasserquellen waren, war ich bei ihm. Als er den Himmel machte, war ich dabei, als er den Zirkel über das Meer sezte, war ich. Ich bin ein Kind seiner Lust, spielend vor ihm und meine Lust ist mit den Menschenkindern‹«51 Beide Quellen enthüllen die vorweltliche Zeit als lustvolles Planspiel der göttlichen Weisheit, das in der Schöpfung als Weltenspiel verwirklicht wird. Das alttestamentliche Kinderspiel der Weisheit bei Gott erinnert auffällig an Heraklits Fragment über den Aion als spielenden Knaben, das Schelling aber nicht zitiert: »Die Zeit [Aion] ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment!« 52 Die Weisheit als ›Kind‹ Gottes spielt ihm vor, unter welchen Gestalten er erscheinen, damit aber auch zugleich sich verbergen kann. Mit der Einführung von Vision und Spiel in das vorweltliche göttliche Bewusstsein, die beide zum Grund der Schöpfung werden, wird die Schöpfung selbst zum lustvollen Spiel Gottes mit Ideen. Wie die Mode ein Kind ihrer Zeit ist und mit der Zeit wechselt, so erscheint auch Gott in seiner Schöpfung in unterschiedlichen Gestalten und spielt mit dem Reiz von Selbstverstellung, göttlicher Ironie und Gegensätzlichkeitsform der Mitteilung. Im Wechsel der von ihm angenommenen Gestalten, im göttlich-kindlichen Versteckspiel von Erscheinen und Verschwinden, Entbergen und Verbergen erscheint er gleichsam im Kleid der Zeit, das heißt als Übergang, realisiert aber gerade dadurch seine Freiheit und Herrlichkeit. Der Entschluss Gottes zur Natur kann so als geschichtli-

50 Schelling, System der Weltalter, 199f.; vgl. auch schon Schelling: Die Weltalter. Erstes Buch, in: Schelling, SW VIII, 289f. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch, SW VIII« mit Seitenzahl. 51 Schelling, System der Weltalter, 200, mit Bezug auf das AT, vgl. Spr. 8, 22–31. 52  Heraklit fr. B 52, in: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. Berlin 1903, Bd. I, 74: αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεττεύων · παιδὸς ἡ βασιληίη (Übersetzung ebd.)

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cher Akt der Freiheit begriffen werden; aus Schellings Sicht ist damit die zyklische Gegenwartszeit der Hegelschen Logik aufgehoben.53

53  Mit diesem für den Begriff des Aion konstitutiven Zusammenhang mit der Freiheit Gottes und dem Wechselspiel von Verborgenheit und Offenbarkeit knüpft Schelling – worauf bereits Trawny (vgl. Anm. 48) zu Recht hingewiesen hat – an entsprechende Überlegungen von Oetinger an. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Art.: Ewigkeit, Olam, aeon, in: ders.: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesezt (1776). Mit einem Vorwort v. Dmitrij Tschizewskij, Hildesheim/Zürich/New York 1987, 193f., hier 194: »Aus dem Prediger Salomon muß man bestimmen, was im strengsten Verstand Ewigkeit heißt. […] Salomo redt Kap. 3,14.15. von einem Circul und Umlauf des Verborgenen ins Offenbare, und des Offenbaren ins Verborgene, daß man daraus lerne, GOtt recht ehren und fürchten als den König der Ewigkeiten 1 Tim. 1,17. Es bricht aus dem Unsichtbaren das Sichtbare auf eine Zeit heraus und verschwindet auch wieder. Diese Connexion muß man ersehen. Das heißt eine Ewigkeit, wenn etwas hervorgebrachtes eine Zeitlang währet, und wieder ins Unsichtbare zurück zieht; darum heißt es Verborgenheit olam. […] Olam und aeon folgen nicht aus dem Wesen der Dingen, sondern aus der Freiheit GOttes.« Vgl. ferner ders.: Art.: Ewig, Aidios, aionios, aperantos, ebd., 192f., hier 193: »Aeonios [ist], wo das Ende und der Anfang verborgen wird.« Oetingers Artikel »Ewigkeit« erwähnt Schelling bereits im Jahreskalender von 1813 (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter. Hrsg. v. Lothar Knatz/Hans Jörg Sandkühler/Martin Schraven, Hamburg 1994, 150). Im Folgenden zitiert als »Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813«. – Eine inter­ essante Vorstufe zu Schellings aionischer Lösung des Problems der Freiheit des Schöpfergottes bilden trotz des dualistischen Rahmens Schellings Überlegungen zu Ewigkeit und Zeit in der letzten Fassung des 1. Buchs der Weltalter (1814/15). Hier führt er u. a. das Folgende aus: »Da sie [die Gottheit] aber doch nur aus ihrer freien Ewigkeit heraus sich verwirklichen kann, so muß, damit diese frei und unangetastet bleibe, zwischen der freien Ewigkeit und der That der Verwirklichung etwas seyn, das diese von jener scheidet. Dieses etwas kann nur Zeit seyn, aber nicht Zeit in der Ewigkeit selbst, sondern ihr coexistirende Zeit« (Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch, SW VIII, 306; Hvh. v. Verf.). Und weiter: »Gott seinem höchsten Selbst nach ist nicht offenbar, er offenbart sich; er ist nicht wirklich, er wird wirklich, eben damit er als das allerfreieste Wesen erscheine. Darum tritt zwischen die freie Ewigkeit und die That ein anderes, das seine von jener unabhängige Wurzel hat und ein, obwohl ewig, Anfangendes (Endliches) ist, damit ewig etwas sey, dadurch sich Gott der Kreatur annähern und mittheilen könne, damit die lautere Ewigkeit immer frei bleibe gegen das Seyn, und dieses niemals als ein Ausfluß aus dem ewigen Sein-Können erscheine, also immer ein Unterschied sey zwischen Gott und seinem Seyn« (ebd., 308; Hvh. v. Verf.). Diese mit der Ewigkeit koexistierende Zeit aber ist »jene Bewegung der ewigen Natur, da sie vom Untersten aufsteigend immer ins Höchste gelangt, und von diesem aufs neue zurückgeht, um wieder aufzusteigen« (ebd., 306f.). Ludwig Geijsen hat die hier sichtbar werdende Einpassung »ewiger Zeit« in den begrifflichen Rahmen chronisch-zyklischer Zeit durch Schelling treffend als »Circulus vitiosus Dei« charakterisiert, vgl. ders.: »Mitt-Wissenschaft«. F. W. J. Schellings Philosophie der Freiheit und der Weltalter als Freiheitslehre. Freiburg/München 2009, 463–466. Das Konzept des Aion ist die Lösung dieses Zirkels.

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Hatte die Anbindung der gegenwärtigen Weltzeit an die vorweltliche Ewigkeit den Sinn, die Freiheit Gottes zur Schöpfung der Welt im Spiel zu sichern, so hat die Anbindung der Zeit der gegenwärtigen Welt an die nachweltliche Ewigkeit die Funktion, in die Gegenwart eine messianische Spannung zu induzieren. Denn mit der Tat der Schöpfung wird nicht nur die Scheidung der gegenwärtigen von der vergangenen Weltzeit, sondern zugleich eine künftige Weltzeit generiert, mit der prinzipiell die Möglichkeit zu qualitativ Neuem verbunden ist. Der Vorgang der Differenzierung von Gegenwart und Vergangenheit bedeutet also zugleich die Aufladung von Gegenwart mit Zukunft. Die Folge der aionischen Zeiten bildet somit einen Spannungsbogen, der die gegenwärtige Schöpfung einerseits als Produkt göttlicher Freiheit in der Vergangenheit verankert und sie andererseits auf eine sie transzendierende Zukunft ausrichtet. Die gegenwärtige Weltzeit erhält hierdurch einen messianischen Index, durch den sie die gesamte vergangene Weltzeit rekapituliert und die zukünftige Weltzeit antizipiert. Insgesamt lässt sich also sagen, dass das Konzept der aionischen Zeit für Schelling den Sinn hat, die Freiheit Gottes vom und zum Sein in Form einer ›ewigen Geschichte‹ darzustellen. Aion bildet den zeitlichen Rahmen dieser ewigen Geschichte: Als in Weltaltern phrasierte ewige Zeit ist er die Realisierung der Freiheit Gottes. Ein ausgeprägtes philosophisches Muster oder Vorbild für diese Hybridbildung einer ewigen Zeit gibt es meines Wissens nicht, dafür aber wichtige philosophische Bausteine und einen höchst bedeutsamen theologischen Impuls: Was den philosophischen Aspekt betrifft, so ist zu sagen, dass Schelling mit seiner Neubestimmung von Aion die mit diesem Begriff verbundene Bedeutung der nach Phasen gegliederten »natürliche[n] Lebensganzheit« (und auch von Lebenskraft) – wie sie von der philosophischen Tradition vor Platon, etwa von Empedokles, und dann nach Platon wieder von Aristoteles geltend gemacht wurde54 – in Platons Begriff von Ewigkeit implantiert und damit den Aion zu einem Phänomen sui generis macht. Darüber hinaus zeigt sich in Schellings Aion-Konzept eine gewisse strukturelle und inhaltliche Affinität zu Plotins Bestimmung von Aion insofern, als für Plotin Aion das Leben des Geistes (νοῦς, κόσμος νοητός) bedeutet, dessen Leben so beschaffen ist, dass es »im Selben verharrt, […] »immer das Ganze gegenwär54 Vgl.

hierzu die Ausführungen zum »Äon« von Gernot Böhme: Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant. Frankfurt a. M. 1974, 68–98, Zitat ebd., 81.

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tig hat, nicht jetzt dieses, dann ein Anderes, sondern Alles zugleich«. Neben dem strukturellen Aspekt von Aion als Ganzheit ist der inhaltliche Aspekt von Aion als Theophanie zu nennen: Als Ewigkeit ist der Aion für Plotin zugleich »Gott, erscheinend und sich in seinem Wesen zeigend«.55 Andererseits bleibt aber eine entscheidende Differenz: Sie liegt darin, dass in Plotins Aion »gleichwie in einem Punkt Alles versammelt ist und niemals in Fluß hervorgeht«,56 während für Schellings Aion in Anlehnung an Heraklit gerade das Bild der Stetigkeit des Zeitstromes konstitutiv ist.57 Was den theologischen Impuls angeht, so knüpft Schelling mit seinem Konzept der Weltzeiten als ›ewiger Zeiten‹ inhaltlich und terminologisch an die Paulinische Theologie an, auf die er in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich verweist, sowie an Oetingers Ewigkeitsbegriff.58 Paulus unterscheidet nämlich einen unseligen Aion dieser Welt und einen seligen messianischen künftigen Aion, dessen Kräfte bereits im gegenwärtigen verborgen wirksam sind.59 Schelling komponiert nun aber diesen paulinischen Dualismus vom Aion dieser Welt und dem künftigen Aion mit der vorweltlichen Zeit, also der Weisheit des Alten Testaments und der Ideenvision Platons, zu einem Dreitakt der Weltzeiten und versteht diesen als Spiel von Verborgenheit und Offenbarkeit im Sinne von Oetingers Ewigkeitsbegriff. Den Weltaltern kommt so die Funktion zu, im Zwischenreich zwischen Ewigkeit und Zeit das Leben des göttlichen Geistes als das »jezuweilen Ewige« zu manifestieren – um eine Formulierung des Schelling-Hörers Jacob 55  Plotin, Enn. III 7, 5, 20 (Übersetzung v. Werner Beierwaltes), zit. nach: Plotin: Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes. Frankfurt a. M. 1967, 105. Im Folgenden zitiert als »Plotin, Enn. III 7«. Zur ‚Deifikation‘ des Aion vgl. den Kommentar von Werner Beierwaltes ebd., 194–196. 56  Plotin, Enn. III 7, 3, 16–20. Zu Plotins Konzept von Ewigkeit und Zeit vgl. die Einleitung von Werner Beierwaltes, in: Plotin, Enn. III 7, 3, 9–88, bes. 11–74. 57  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 209 und oben Anm. 42. 58 Vgl. Schelling, System der Weltalter, 211. Der Terminus χρόνοι αἰώνιοι findet sich bei Paulus, vgl. Röm. 16,25; 2 Tim. 1,9; Tit. 1,2. Zu Oetinger vgl. oben Anm. 53. 59  Zum Paulinischen Dualismus der Weltzeiten vgl. Eph. 1,21: Gott hat Christus hoch erhoben »über jegliche Herrschaft und Macht und Gewalt und Hoheit und über jeden Namen, der da genannt wird nicht allein in dieser Weltzeit, sondern auch in der zukünftigen« (οὐ μόνον ἐν τῷ αἰῶνι τούτῳ ἀλλὰ καὶ ἐν τῷ μέλλοντι); ferner Gal. 1,4: Die Gläubigen sind schon jetzt – durch die Auferstehung Jesu – von dem gegenwärtigen bösen Aion erlöst (αἰὼν πονηρός, in diesem Sinne auch ὁ νῦν αἰών), und Hebr. 6,5: Die Gläubigen haben die (pneumatischen) Kräfte des zukünftigen Aion (δυνάμεις τε μέλλοντος αἰῶνος; αἰὼν μέλλων) gekostet. Der gegenwärtige Aion als αἰὼν οὗτος findet sich bei Paulus insgesamt siebenmal: Röm 12,2; 1 Kor 1,20. 2,6 (zweimal); 2,8. 3,18; 2 Kor 4,4.

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Burckhardt zu gebrauchen.60 Platonisch-alttestamentliches Spiel lustvoller Weisheit und Paulinische messianische Spannung wachsen so im System der Weltalter zu einer neuen Einheit zusammen. Mit der ontologischen Positionierung des Aion zwischen Ewigkeit und Zeit nimmt Schelling zugleich eine Position zwischen dem Theismus Jacobis und dem Deismus der Aufklärung ein: Denn weder eine Position, die sich auf die Ewigkeit Gottes, noch eine Position, die sich auf das mechanische Zeitverständnis beschränkt, vermag die Tatsache der Schöpfung der Welt in der Zeit philosophisch angemessen zu beschreiben. Das Konzept des Aion hingegen hat die Kapazität, die Freiheit Gottes zur Offenbarung in Zeit und die Intelligibilität der Welt darzutun, ohne dessen Ewigkeit preiszugeben. Der Prozess der jezuweilen ewigen Weltzeiten ist überdies mit Schellings dynamischer Struktur von Grund, Existierendem und der Identität beider kompatibel, wie er sie in der Freiheitsschrift entwickelt hatte. Die Folge aionischer Zeiten lässt sich in den Termini dieser Struktur wie folgt ausdrücken: Das gegenwärtige Weltalter ›existiert‹ auf dem ›Grund‹ des vergangenen Weltalters und zeitigt so die nachweltliche ewige Zeit als zukünftige Identität beider.

c) Problemhorizont System: Dynamisierung der Prinzipienlehre des Platonischen Philebos Die von Schelling in der Weltalter-Vorlesung in eine Folge aionischer Zeiten transformierte Genealogie der Zeit bleibt nicht ohne Auswirkung auf die im engeren Sinne systematischen Konturen der Vorlesung. Schelling charakterisiert sie als »System der theoretischen und speculativen Philosophie«.61 Dieses System lässt sich kennzeichnen als eine Reformulierung der Prinzipienlehre Platons im Horizont von Schellings neuem aionischen Zeitkonzept. Dies soll nun des Näheren erläutert werden. Nach einführenden Bemerkungen zu den vorhergehenden logischen Systemen des Rationalismus, dass diese nämlich »das Positive ausschlie-

60  Vgl. Jacob

Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften. Hrsg. v. Peter Ganz, München 1982, 285: »Die Poesie ist für die geschichtliche Betrachtung das Bild des jezuweilen Ewigen in den Völkern«. 61 Schelling, System der Weltalter, 19.

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ßen und sich [doch] selbst dafür ausgeben«62, grenzt Schelling die Bedeutung des Ausdrucks »System« zunächst von der Bedeutung »Stocken«, »Anhalt«, ἐποχή ab, die er in der griechischen Medizin hat. System hat für ihn vielmehr eine aionisch-melodische Struktur. Dies bedeutet, dass die Momente dieses Systems nicht mechanisch isolierte Stücke, sondern Phasen eines in sich organisch gegliederten Ganzen sind: Das System ist »harmonische Aufeinanderfolge, wie in der Musik der Rhythmus der Töne«.63 Daraus folgt für die Form der Darstellung, dass Schelling »die Gegenstände nicht kapitel- oder satzweise« abhandelt, sondern »einen in die Sache eingehenden Vortrag« zu geben beansprucht.64 Bei diesem komme es darauf an, »daß das Innere der Zuhörer eine ganz andere Gestalt bekomme. Wer mir von Anfang bis Ende gefolgt ist, wird bemerken wie sein Gemüth umgestimmt sein wird.«65 Die Wirklichkeit des Systems besteht somit in dem Ereignis der sukzessiven Realisierung der »Melodie des Ganzen«: »[…] wie uns oft eine Melodie nicht verständlich ist, uns aber erst in der Folge beim Anhören einzelner Töne die ganze Melodie verständlich wird, so werden ihnen auch viele meiner Worte in der Folge verständlich werden und die Melodie wird sich ihnen selbst fortzeugen.«66 Das Begreifen des Systems ist folglich an die Erfahrung von Phasen eines inneren Zeitbewusstseins, das heißt an die Realisierung der Weltalter im Bewusstsein der Zuhörer selbst, gebunden. Für das Erreichen des hier geforderten aionischen Standpunktes gilt analog die Aufforderung, die der personifizierte Nous in der 11. hermetischen Abhandlung an Hermes richtet: »[…] verlasse die Zeit und werde Ewigkeit: so wirst du Gott erfassen«.67 Damit sind wir bei der inhaltlichen Seite des Systems. Für diese sind die 22. und 23. Vorlesung einschlägig.68 Zwei Aspekte sind zentral: Schelling nimmt mit Bezug auf Spinozas Substanz eine Korrektur der Form seines eigenen Identitätssystems vor, und er reformuliert es im Horizont von Platons Prinzipienlehre in dessen Dialog Philebos. 62 Schelling, 63 Schelling, 64 Ebd.

65 Schelling,

System der Weltalter, 12. System der Weltalter, 20.

System der Weltalter, 21. System der Weltalter, 213. 67  Aἰὼν γενοῦ. Zit. nach Eric Robertson Dodds: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Marc Aurel bis Konstantin. Frankfurt a. M. 1992, 77; vgl. auch ebd., 160. 68  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 93–102. 66 Schelling,

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Die Revision des Identitätssystems besteht in Schellings Kritik an der apriorischen Form seiner Darstellung; es hatte gewissermaßen die Form der negativen Philosophie. Schelling zufolge zeigt die Reflexion des Erkennens auf sich selbst aber, dass Erkennendes und Erkennbares Momente eines in sich gedoppelten Seins sind. Spinoza hatte mit begrenzendem Denken und unbegrenzter Ausdehnung als den Attributen der Substanz – so Schelling – zwar deren gedoppeltes Sein entdeckt, aber die beiden Attribute nicht wechselweise aufeinander wirken lassen. Nun zeigt sich aber der Vorgang des Erkennens als faktischer zeitlicher Prozess der Einschränkung eines grenzenlosen Seins durch ein begrenzendes Sein und damit das Übergewicht des idealen Seins über das reale Sein als eine Tatsache, welche die reine theoretische Vernunft allein nicht erklären kann. Es muss vielmehr ein viertes Prinzip hinzukommen, welches zu erklären vermag, warum das ideale das reale Prinzip überwiegt, anders gesagt: welches das Setzende dieses Prozesses ist. Damit ergibt sich die Notwendigkeit einer neuen aionischen Form der Darstellung. Dies ist nun der Punkt, an dem Schelling Platons Philebos ins Spiel bringt, in dem bekanntlich die Entscheidung zwischen naturalistischer und theistischer Welterklärung zur Debatte steht.69 In Anknüpfung an die bei Platon dargelegte Pythagoreische Prinzipienlehre70 erklärt Schelling das Streben des Seins nach Intelligibilität als Wirkung einer bewussten Ursache, eines positiven Willens, den er Gott nennt. Gott ist die Ursache für die Präponderanz des idealen Seins über das reale; diese Präponderanz ist das Ergebnis seiner freien Entscheidung und als solche die bessere der beiden Möglichkeiten. Damit transformiert Schelling sein naturalistisch gerahmtes Iden69 

Sokrates stellt hier nämlich die Frage: »Sollen wir, Protarchos, sagen, daß die blinde Macht des Unvernünftigen und der bloße Zufall über dem All der Dinge und dem sogenannten Weltganzen walte, oder im Gegenteil, wie unsere Vorgänger sagten, daß Vernunft und eine bewundernswerte Einsicht sie ordne und lenke?« (Phil. 28 d 5–9, Übersetzung v. Otto Apelt). Vgl. auch Sokrates‘ Autobiographie im Dialog Phaidon (Plato, Phaedo 95 e 7–102 a 1). Diesen Dialog hatte Schelling übrigens einem seiner Hörer mit den Worten empfohlen: »[…] lesen Sie ihn wieder und wieder und imbibiren Sie ihn« (Konrad Martin: Zeitbilder und Erinnerungen an meine verewigten Wohltäter, Mainz 1879, 34–45, wieder abgedruckt in Guido Schneeberger: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Eine Bibliographie, Bern 1954, 179–183, hier 183). 70  Platon entwickelt hier die Pythagoreischen Prinzipien Grenze, Unbegrenztes und Mischung beider und fügt ihnen seinerseits den Geist (νοῦς) als das Bewirkende dieser Mischung und das Werden zur Substanz überhaupt hinzu. Er versteht den Geist als Prinzip kosmischer Ordnung schlechthin: Geist (νοῦς) ist – so Platon – der »König des Himmels und der Erde« (Plato: Philebus 28 c 7–8: βασιλεύς […] οὐρανοῦ τε καὶ γῆς).

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titätssystem in einen zeitlich getakteten Monotheismus. Durch diesen wird der Weltprozess auf das Telos göttlicher Vernunft ausgerichtet und deswegen insgesamt intelligibel. Im Horizont von Platons Philebos lässt sich Schellings System auch wie folgt charakterisieren: Die Weltalter sind ein teleologischer Prozess des göttlichen »Werdens zum Sein«, mit der Erlanger Vorlesung gesagt: der »Wiederherstellung des Gezweiten zur Einheit, des Ungeistigen zur Geistigkeit, des Zufälligen zum Wesen«.71 In ihm gibt es Naturgesetze, die nicht mechanisch zeitlos, sondern temporal geprägt und auf Ergebnisse hin angelegt sind. Sie strukturieren den Prozess in Form von irreversiblen Phasen, die als je verschiedene Maßverhältnisse von unbegrenztem und begrenztem Sein, platonisch gesagt: als jeweilige Mischung von πέρας und ἄπειρον identifiziert werden können. Ursache und Strukturprinzip des solcherart zum Geist werdenden gemischten Seins ist die Steuerungsinstanz einer göttlichen Vernunft, die als »König des Himmels und der Erde« in diesem Prozess ihre Schaffenslust erprobt.72 Der sich als Folge von Weltaltern vollziehende Schöpfungsprozess wird so von Schelling als göttliche Lust an der Realisierung der Vernunft dechiffriert.73

71 Schelling,

Initia, 161. Philebus 28 c 7–8. νοῦς βασιλεύς (Phil. 28 c 7) bzw. νοῦς βασιλικός (Phil. 30 d 2). Vgl. auch schon Schellings Bezugnahme auf den Ausdruck des Paulus »βασιλεὺς τῶν αἰώνων« (vgl. 1 Tim 1,17) im Jahreskalender von 1813: Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813, 149. 73  Schellings Bezugnahme auf Platons Philebos ist bekanntermaßen nicht seine erste Bezugnahme auf diesen Dialog. Bereits in seinem Timaios-Kommentar hatte er die Prinzipienlehre des »Philebos« eingeflochten und ausführlich diskutiert. Vgl. Schelling, Kommentar zum »Timaeus.« AA II,5, 160, 162, 171, 182–192, 196. Während er die Platonisch-pythagoreischen Prinzipien dort aber transzendentalphilosophisch verstanden hatte (Schelling spricht von »subjektiven Formen« und »bloß formale[n] Weltbegriffe[n]« bzw. von αἰτία als einem »Verstandesbegriff«, vgl. ebd., 191), erhalten sie jetzt – als systematische Grundstruktur der positiven Philosophie – dezidiert ontologischen Charakter. Diese Grundstruktur lässt sich verstehen als Entfaltung des im zweiten Teil der Freiheitsschrift skizzierten ontologischen Rahmens der Struktur von Grund und Existierendem. Die Krisis bzw. Scheidung von Grund (Unbegrenztem) und Existierendem (Begrenzendes) hat ihr Ziel in der Vermittlung beider (τὸ κοινόν), welche dem anfänglichen Ungrund als nunmehr bewusst gewordenem Sein (Übergewicht des Begrenzten über das Unbegrenzte) intelligible Gestalt verleiht. 72 Plato,

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d) Problemhorizont Paulinischer Pantheismus I: Göttliches Seinkönnen als »Herr des Seins« Schelling entwickelt in seiner Weltalter-Vorlesung einen Gottesbegriff, in dessen Zentrum der Begriff eines paulinisch inspirierten Seinkönnens steht. In diesem sieht er das Mittel, die Dialektik von Transzendenz und Immanenz der Ursache der Welt von deren spezifisch aionischer Zwischenstellung zwischen Ewigkeit und Zeit her herauszuarbeiten. Dies geschieht in zweifacher Weise einmal in Form einer Auseinandersetzung mit Spinozas Begriff der causa sui (7. Vorlesung), insbesondere aber in Form des Konzepts von Gott als dem »Herrn des Seins«. Was Spinoza betrifft, so sieht Schelling dessen Verdienst darin, dass er mit der causa sui die epochale Entdeckung der Duplizität des Seins als wesendes, intransitives Sein und als prädikatives Sein gemacht hat, ohne indessen das spekulative Potential seiner Entdeckung auszuschöpfen. Die causa sui ist für Spinoza zwar eigenschaftsloses Subjekt des Seins und als solches ein Seinkönnendes, das heißt Freiheit vom und zum prädikativen Sein. Dieses Seinkönnende geht ihm aber blindlings, zeitlos, gewissermaßen ›emanativ‹ ins prädikative Sein über und verschwindet gleichsam in den Attributen Denken und Ausdehnung. Demgegenüber arbeitet Schelling den dynamischen Doppelcharakter der causa sui als des Seinkönnenden heraus: Sie kann als eigenschaftliches Sein, als Geist existieren, wenn sie will, und bleibt doch zugleich als Grund, Subjekt des Seins, von diesem als gewissermaßen ruhendes, ›gelassenes‹ Seinkönnen geschieden (7. Vorlesung). Dieses dynamische Selbstverhältnis des Systemprinzips zunächst wie Spinoza als logisch notwendiges und nicht als geschichtlich freies gedacht und so den Unterschied von Gott und Natur pantheistisch eingeebnet zu haben, kritisiert Schelling als Kategorienfehler seines früheren Identitätssystems (13. und 14. Vorlesung). Schelling vertieft sodann die aus Spinozas causa sui gewonnene, für den Begriff des Schöpfergottes konstitutive Selbstverhältnis von Seinkönnen (als Freiheit zum Sein) und Sein durch eine Reihe von Termini, die denselben Sachverhalt beschreiben: »Nichtseiendes« (μὴ ὄν), »Subjekt des Seins« bzw. »Quelle des Seins«, Wille, das ausschließlich Seiende nicht zu sein und als Geist zu sein, sowie vor allen »Herr des Seins« (24.–30. Vorlesung).74 74 

Zum Begriff »Herr des Seins« im Kontext der Münchener Vorlesungen Schellings vgl. jetzt die gründliche Untersuchung von Kozdra, ›Herr des Seins‹, für unseren Zusammenhang bes. 254–259.

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Zentral für Schellings Überlegungen zum »Herrn des Seins« ist die Abgrenzung vom Gottesbegriff des Rationalismus: Dieser hatte die Existenz Gottes in Form des ontologischen Arguments als complementum possibilitatis gedacht. Gott war dem Rationalismus das Notwendigseiende, das heißt das, was nicht nicht sein kann, also sein muss. Was die logische Philosophie in ihrem Abschlussgedanken nur negativ zu formulieren vermochte, transformiert Schelling in seiner positiven Philosophie in dem Begriff von Gott als Seinkönnen zu deren ontologischem Anfangs- oder Grundlegungsgedanken. Gott als Seinkönnen macht er zur unvordenklichen geschichtlichen Voraussetzung des Seins der Welt als Schöpfung. Gott ist Subjekt des Seins, Freiheit zum und Macht über das Sein, also Vermögen zum Sein, das im Sein Quelle (Ursache) des Seins bleibt und in diesem Sinne ›Herr des Seins‹ ist. Der Übergang vom Seinkönnen zum Sein ist aber kein notwendiger, sondern ein f­ reier: Gott als Seinkönnen ist die seiende reelle Möglichkeit, das wesende Subjekt des Seins, welches die Möglichkeit hat, prädikatives Sein zu sein oder nicht zu sein. Die Tatsache der Welt ist folglich sein freier Entschluss. Als Seinkönnen will er das Sein, behält aber im Sein die Freiheit, dieses sein zu können: Er ist im Sein Überschuss über das Sein, er verliert sich nicht in ihm. Es ist interessant zu sehen, dass Schelling sich für seine Begriffsprägung »Herr des Seins« ausdrücklich auf Newton beruft, dessen Philosophie – so Schelling – »weit beßer als seine Optik und viel erhabener als die rationalistische des Leibniz« sei.75 Newton hatte von Gott als einer vox relativa gesprochen: Gott sei ohne Herrsein, Vorsehung und Zweck­ ursachen nichts anderes als Fatum oder Natur. Die Gottheit (deitas) sei daher – so Newton – »dominatio Dei […] in servos«, also ein HerrKnecht-Verhältnis.76 Diesen Gedanken baut Schelling aus zu der These, dass der Knecht, das heißt das seiner selbst ohnmächtige substantielle Sein der Schöpfung, für Gott wesentlich sei: Um dieses Zentrum kreise er, um dieses ihm untergeordnete Sein sei es ihm zu tun; sich selbst sei Gott indessen nicht wesentlich, darum heiße er auch ἀνούσιος oder τὸ

75 Schelling,

System der Weltalter, 106. Newton: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Buch III: De mundi systemate, Scholium Generale: »Nam Deus est vox relativa & ad servos refertur: & deitas est dominatio Dei, non in corpus proprium, uti sentiunt quibus Deus est Anima mundi, sed in servos«, in: ders.: Opera quae exstant omnia. Hrsg. v. Samuel Horsley, Bd. III. London 1782 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), 171. Vgl. hierzu auch Schelling, SW X, 261 und SW XIII, 291. 76  Isaac

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ὑπερούσιον, das Nicht- oder Übersubstantielle.77 Mit dem Newtonschen Begriff Gottes als vox relativa hebt Schelling also auf das ›knechtische‹, substantielle Sein ab, auf welches Gott als übersubstantielles Sein gewissermaßen in ›exzentrischer Positionalität‹ gerichtet ist – womit Schelling zugleich die Bewegungsrichtung des Herr-Knecht-Verhältnisses bei Hegel umkehrt. Gott ist dynamische Selbstbeziehung: Als übersubstantielles An-sich-Sein will er das substantielle Sein sein, um als Geist für sich zu sein. ›An sich‹ aber bleibt er der transzendente Eine. Diesen Aspekt präzisiert Schelling in der Bestimmung des ›Herrn des Seins‹ als des Nichtseienden (μὴ ὄν). Dieses Nichtseiende hat – mit Aristoteles gesagt – eine ›steretische‹ Verfassung: Als στέρησις ist es μὴ ὄν (potentiell Seiendes), nicht οὐκ ὄν (aktuell Nichtseiendes).78 Gott als Herr des Seins ist nicht das reine Nichts, sondern das Nichtseiende, welches das Sein in sich verschlossen hat und es aus sich heraussetzen kann. Als nicht-, weil überseiender Herr des Seins ist Gott deswegen nicht nur Subjekt des Seins, sondern auch das Sein selbst: »Gott ist der Herr des Seins + dem Sein«.79 Dies bedeutet: Es gibt im Herrn des Seins keine Leere, er ist nicht der leere Anfang, der durch das Sein allererst noch mit Leben gefüllt werden müsste; der Herr des Seins setzt vielmehr das ihm immanente Leben aus sich heraus und bezieht sich damit im Sein auf sich selbst: Er ist als ›ewige Zeit‹ der seiende Eine. Diese lebendige Beziehung Gottes auf sich manifestiert sich im Prozess der Schöpfung der Welt als Sieg des Subjektiven über das Objektive bzw. des Idealen über das Reale: als Werden des Geistes. Wenn Gott also nicht Subjekt des Seins, sondern das Sein sein will, so will er Geist sein. Mit dem Platonischen Philebos formuliert: Die Tatsache der Welt besteht darin, dass die schöpferische Ursache (αἰτία) in sich das Unbegrenzte 77 Vgl.

Schelling, System der Weltalter, 106. Schelling betont mit dem Terminus »Herr des Seins« die Aspekte von Freiheit und Transzendenz des Schöpfergottes, die er an anderer Stelle mit zusätzlichen Hinweisen auf Plotins Begriff des sich wollenden Einen und auf den Ausdruck ὑπερίων – eine offensichtliche Allusion auf Hölderlins gleichnamigen Roman – noch verstärkt (vgl. Schelling, System der Weltalter, 134). 78  Vgl. hierzu auch Schellings spätere Ausführungen zu den in der griechischen Sprache gegebenen unterschiedlichen Weisen der Verneinung »ganz anlog der philosophischen Unterscheidung, daß durch das eine nur die Wirklichkeit geleugnet, durch das andere auch die Möglichkeit aufgehoben wird«. In: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der rein rationalen Philosophie, SW XI, 306-320, hier 307. Im Anschluss an Aristoteles spricht Schelling auch von dem Unterschied von unbedingter und bedingter Verneinung (ebd., 307, Anm. 1), wobei letztere identisch ist mit der Aristotelischen στέρησις bzw. dem Nichtseienden i. S. des Seinkönnenden (μὴ ὄν). 79 Schelling, System der Weltalter, 107.

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(ἄπειρον) durch das Begrenzende (πέρας) stufenweise einschränkt und sich damit in Form von Weltaltern sequenziert. Damit ist die für den Begriff konstitutive aionische Dimension erreicht: ›Herr des Seins‹ ist Gott nur insofern, als er Schöpfergott ist, das heißt in Relation zu den Weltzeiten steht. Ein Gedankensplitter Schellings aus dem Jahreskalender 1813 erhält jetzt zentrale Bedeutung, das Paulus-Zitat βασιλεὺς τῶν αἰώνων, Herr der Aione, als Epitheton Gottes.80 In dessen Licht wird klar, was der Begriff ›Herr des Seins‹ letztlich meint: das Erscheinen von Gottes Herrlichkeit in Form von geschichtlichen Epochen, also eine aionische Theophanie. Die Momente dieser aionischen Theophanie lassen sich als rhythmische Sequenz von welterzeugenden Potenzen verstehen. Sie schematisieren den göttlichen Aion als Folge von ewigen (Welt-)Zeiten, den Metamorphosen des Gottesbewusstseins. Diese Schematisierung des göttlichen Aion kommt überein mit der christlichen Lehre von der göttlichen Ökonomie und mit der jüdischen Unterscheidung von Jehova als übersubstantiellem Willen und den Elohim als den göttlichen Mächten. Es ergibt sich auf diese Weise auch ein neuer Zusammenhang von Monotheismus und Trinität: Nur der Gott, der das Sein in der aionischen Folge der drei Potenzen setzt, ist der lebendige seiende Eine und als solcher Herr des Seins. Das Motiv des einen Gottes zur Schöpfung liegt, wie bereits oben ausgeführt, darin, dass er noch diesseits aller Potenzen an sich die Lust oder den Mutwillen verspürt, ein anderer zu sein. Als Schöpfergott ist er so nicht frei von göttlicher Ironie, ein gewissermaßen spielender Gott, der in seinem Anderen sich selbst verstellt und genau hierin seine Freiheit zum Sein offenbart. Dies wird in der Schöpfung selbst wirklich durch die Sukzession der gesetzten Weltzeiten von Vater und Sohn. Die Zeit der gegenwärtigen Welt ist die Zeit des Sohnes, die aus der Scheidung von der vorweltlichen Zeit des Vaters die nachweltliche Zeit des Geistes generiert. Religionsgeschichtlich betrachtet, ist für Schelling die Zeit des Sohnes die Abfolge von Heidentum und Christentum, die ihrerseits die Emanzipation des Bewusstseins aus seiner Einschließung im natürlichen Grund zur Freiheit der Existenz Gottes im Menschen bedeutet. Das polytheistische Heidentum bereitet in seinen Mysterien den Aufstieg zum Einen Gott vor – das zeigt paradigmatisch die Samothrake-Abhandlung. Umgekehrt hat das monotheistische Christentum in der Mythologie des Heidentums den verborgenen Grund seiner Existenz, so dass Gott sich 80  Vgl.

oben Anm. 72.

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in Gestalt von übersubstantieller Einheit und substantiellem Sein in beiden zugleich zeigt und verbirgt.

e) Problemhorizont Paulinischer Pantheismus II: ­Menschliches ­Seinkönnen als messianisches Seinlassen oder: »Die Potenz wird in der Schwäche vollendet« Es ist für Schellings Weltalter-Vorlesung charakteristisch, dass die Selbstbeziehung Gottes als des Herrn des Seins in einem theogonischen Prozess besteht: Dieser beginnt mit dem ›Nichts von allem‹ als dem rein Seinkönnenden und endet mit der paulinischen Zielbestimmung Gottes als des dynamischen ›Alles in allem‹ (πάντα ἐν πᾶσιν). Schellings Konzeption des Schöpfergottes ist insofern mit seinen eigenen Worten als »paulinischer Pantheismus« zu bezeichnen.81 Dieser Prozess indessen wäre nur unvollständig erfasst, wenn man nicht zugleich die gewandelte Stellung des menschlichen Wissens in Form einer Neubestimmung der Rolle der Subjektivität in den Blick nimmt, die Schelling im Horizont seines neuen Zeitbegriffs in der Erlanger Vorlesung Initia philosophiae universae von 1820/21 explizit82 und in der Weltalter-Vorlesung von 1827/28 implizit durchführt. Um diese Neubestimmung angemessen zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Schelling bereits seit der Freiheitsschrift das Verhältnis von Subjektivität und absoluter Identität vor dem Hintergrund der Struktur von Grund und Existierendem in der Weise bestimmt hatte, dass Subjektivität nur in dem Maße in die Lage kommt, das Absolute beziehungsweise die absolute Freiheit zu wissen, wie sie dieser absoluten Freiheit zum Grund für deren Existenz wird, also bei sich bleibt und nicht sich selbst an deren Stelle setzt. Genau in letzterem nämlich hatte das in der Freiheitsschrift beschriebene tragische Scheitern menschlicher Freiheit bestanden. Demgegenüber besteht die neue Rolle der Subjektivität in der Erlanger und der Weltalter-Vorlesung darin, dass Schelling ihr die Funktion eines Reflexes der Selbstbewegung der absoluten Freiheit als des absoluten Seinkönnens zuweist. Dies kann sich im menschlichen Bewusstsein erst ereignen nach dem Zusammenbruch der alten chronischen und dem Durchbruch der neuen aionischen Zeit­ 81 

Für diesen Terminus vgl. Schelling: Philosophie der Offenbarung, 2. Teil, 26. Vorlesung, Schelling, SW XIV, 66, wo dieser paulinische Pantheismus gleichzeitig als »der gesteigertste, sublimste Monotheismus« bezeichnet wird. 82  Vgl. Schelling, SW IX, 209–246 und ders., Initia.

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erfahrung. Nach dem Scheitern ihrer Rotation in der Krisis wird Subjektivität nämlich ›ekstatisch‹ frei in dem Sinn, dass sie nunmehr die Selbstbewegung des Absoluten in Form von Potenzen reflektieren bzw. in Form von Zeitrhythmen (para)phrasieren – musikalisch könnte man auch sagen: parodieren kann.83 Die Bewegung absoluten Seinkönnens spiegelt sich auf diese Weise im subjektiven Wissen, indem dieses sich von sich selbst als dem nichtwissenden Wissen abscheidet und dadurch zu einem seiner selbst bewussten Nichtwissen mutiert – Schelling zitiert Rousseau, der angesichts dieser Annihilierung menschlichen Wissens im Horizont des Göttlichen von der »Doppelwonne des Seins und Nichtseins« gesprochen hatte.84 Unabdingbare Voraussetzung für diese Erfahrung des wissenden Nichtwissens ist die Selbstbescheidung menschlicher Subjektivität in Form der Aufgabe ihres absoluten Wissensanspruchs. Nur dadurch kann sie zum Ort absoluter Freiheit werden, dass sie das Sein selbst nicht (mehr) begehrt und aus dieser freiwillig übernommenen Rolle nicht herausfällt. Subjektivität soll deswegen sich des Seins begeben und, wie Schelling sich ausdrückt, »innerhalb des Seinkönnens stehen […] bleiben«;85 sie soll das Sein sein lassen. Ihr Seinkönnen ist damit das Seinlassen und nicht mehr – wie noch in der Freiheitsschrift – das Seinwollen. In dem Moment, in dem menschliche Subjektivität sich ihrer wirklichen Freiheit zu sein bewusst wird, gilt für sie – so Schelling – das Gesetz »Begehre nicht des Seins«.86 Nachdem sie aber gerade durch das Gesetz dazu bewogen wurde, ihr Sein zu wollen, ohne es je besitzen zu können, soll sie sich nunmehr (de)potenzieren, das heißt auf die Usurpation des Wissens absoluter Identität verzichten und als bewusstes Seinkönnen besonnen und gelassen in diesem stehen bleiben. Nur so kann das absolute Subjekt in der menschlichen Subjektivität als wissendes Nichtwissen erfahren werden. Denn wenn menschliche Subjektivität ihren überzogenen Besitzanspruch auf ›überzeitliches‹ Wissen aufgibt, öffnet sie sich Schelling zufolge für den Suchprozess sokratischer Dialektik. Schelling hat diese Bewegung der Befreiung von 83 

Mit dem Konzept der Ekstasis verbunden ist Schellings (Selbst-)Kritik an der subjektivitätstheoretischen Einbindung des Konzepts der intellektuellen Anschauung, die letztlich auf dessen Verabschiedung hinausläuft, vgl. Schelling, System der Weltalter, 51–54. Dies zeigt sich bereits im Kontext der Erlanger Vorlesung, vgl. Lore Hühn: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze des menschlichen Wissens. Stuttgart/ Weimar 1994, 195–226. 84  Vgl. Schelling, System der Weltalter, 110f. und 224; Zitat ebd., 111. 85  Vgl. Schelling, Initia, 113. 86 Schelling, Initia, 113 und 128; vgl. auch ebd., 126: »Begehre nicht deines Seins.«

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vermeintlichem Wissen bzw. des Übergangs von vermeintlichem Wissen zum wissenden Nichtwissen Denken genannt. Denken ist Befreiung der Subjektivität durch Selbstbescheidung: In dem mit dem Verzicht auf das Sein einhergehenden Prozess der (Wieder-)Erinnerung an ihre Rolle als erste Potenz wird der Subjektivität die ›Mitwissenschaft‹ der Tatsache der Welt möglich bzw. zuteil, indem Gott, der Herr des Seins, sich auf ihrem Grund als ewige Freiheit bzw. als Folge aionischer Zeiten selbst ereignet. Schellings Neubestimmung des menschlichen Seinkönnens als Seinlassen, das dem absoluten Subjekt Raum gibt, Herr des Seins zu sein, gibt seinem eigenen Modell von Grund und Existierendem eine unerwartete Wendung insofern, als menschliche Subjektivität im Verzicht auf ihren Herrschaftsanspruch ein messianisches Ereignis vorbereitet. Dieses Ereignis zeigt sich paradigmatisch im Zerbrechen der alten mechanisch-repetitiven und dem Durchbruch der neuen aionischen Erfahrung von Zeit als jeweils geschehender Scheidung der Gegenwart von der Vergangenheit, in welcher zugleich beide typologisch im Modus von Latenz und Offenbarkeit in einem Lichtungsgeschehen aufeinander bezogen werden. Das hier skizzierte Geschehen lässt sich mit Paulinischen Kategorien beschreiben: Denn möglich wird die Befreiung des Denkens aus dem starren Herrschaftswissen der Subjektivität durch den paradoxen Vorgang, dass die (erste) Potenz (des Grundes) sich des Seins entschlägt und ihr Seinkönnen als Seinlassen realisiert, das heißt gerade im Akt ihrer Deaktivierung. Damit entspricht Schellings Bestimmung des menschlichen Seinkönnens, ohne dass er dies eigens erwähnte, dem Satz des zweiten Korintherbriefs: »Die Potenz wird in der Schwäche vollendet«.87 Durch ihre Selbstdepotenzierung hebt Subjektivität als Potenz des Grundes zwar das Gesetz, welches gebietet, das Sein nicht zu begehren, nicht auf, aber sie macht es unwirksam, indem sie ihr Begehren des Seins sein lässt – sie will es nicht. Gerade dadurch aber wird sie, Subjektivität als erste Potenz, attraktiv für das Absolute, denn die von ihr freigehaltene Stelle des Seins sollizitiert den Herrn des Seins dazu, das Sein zu sein, das heißt sich dem Menschen als Herrlichkeit Gottes zu offenbaren, als welche er ihm bis dato nicht erscheinen konnte.

2 Kor. 12,9: »Die Potenz wird in der Schwäche vollendet.« (ἡ γὰρ δύναμις ἐν ἀσϑενείᾳ τελεῖται.) Dazu Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen v. D. Giuriato. Frankfurt a. M. 2006, 111. 87  Vgl.

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Es entsteht so eine in sich gegenwendige Bewegung: In dem Maße, wie der Mensch das Sein sein lässt und reines Seinkönnen wird, lässt Gott sein Seinkönnen sein und tritt in seinem Sein hervor. Dieser Stellentausch von Gott und Mensch ist zugleich ein Zeitenwandel: Subjektivität legt die chronische Zeit ab und öffnet sich damit für den Raum aionischer Zeit, in welcher Gott erscheint. Der Aion als ewige Zeit wird so zur gemeinsamen Zeit von Gott und Mensch. Indem also Subjektivität als Potenz des Seinkönnens im Stehenbleiben bei sich das Gesetz deaktiviert und sich so aus freien Stücken der zweiten Potenz göttlichen Seins unterwirft, wird sie zum Ermöglichungsgrund der ewigen Freiheit, das heißt der messianischen Realisierung Gottes als des Herrn des Seins.88

88  Vgl. hierzu auch Schellings spätere Überlegungen zum Messias-Gedanken in der Philosophie der Mythologie, SW XII, 315–321. Der Sündenfall werde nach der Geheimlehre der Juden erklärt als »Auflehnung des Menschen gegen die Herrschaft des Messias.« Der Messias leide also von Anfang an: »Der Fall erfolgt, wenn das im Menschen überwundene B [die erste Potenz] sich der Unterwerfung unter die zweite Potenz wieder entzieht. Ist dieß geschehen, so ist der Mensch in die Gewalt des nicht sein Sollenden gefallen, zugleich aber ist auch die höhere Potenz von dem menschlichen Bewußseyn ausgeschlossen, und hat sich in diesem erst wieder zu verwirklichen. Das Leiden des Messias ist also auch vom Standpunkt des A.T. kein erst zukünftiges, sondern ein gegenwärtiges, wie es in dem […] Jesaianischen Orakel durchaus als ein solches, nicht erst als ein bevorstehendes, geschildert wird; als zukünftig wird vielmehr die Verherrlichung dargestellt […] das erwähnte Orakel ist besonders darum ein für diese ganze Periode der Menschheit und der religiösen Entwicklung unschätzbares Monument, weil hier, übereinstimmend mit der parallelen Entwicklung des Heidenthums, der Messias noch nicht als König und als der Herr selbst dargestellt wird, sondern als der bloße Knecht Gottes, als der leidende, als der große Mühe und Arbeit erduldende« (Schelling, SW XII, 317f.). Vgl. außerdem Schellings »Philosophie der Offenbarung«, wo Schelling für die Zeit des Sohnes zwei Perioden unterscheidet: »die Zeit seines Leidens während der ganzen Zeit des Heidenthums, wo er als eine vom Sein ausgeschlossene […] Potenz nur eben erst wieder sich zum Herrn des ungöttlichen Seyns zu machen hat, was erst am Ende des Processes geschieht, der die ganze Zeit des Heidenthums hindurch im Bewußtseyn der Menschheit fortdauert. Da erst, wenn diese Potenz sich wieder zum Herrn des Seyns gemacht, sieht sie sich in der Freiheit, mit diesem Seyn nach ihrem Willen zu handeln, nämlich es für sich zu behalten oder das theuer erworbene und erkaufte wieder dem Vater zu unterwerfen. Damit also, mit diesem Moment der Freiheit der zweiten Persönlichkeit, beginnt eine neue Zeit, wo sie, wieder zum Herrn des Seyns geworden, mit freiem Entschluß handeln, also mit dem Seyn thun kann, was ihrem göttlichen Willen gemäß ist. Diese Zeit ist die Zeit ihrer Erscheinung im Christen­ thum, der Inhalt dieses ihres freiwilligen Thuns der Inhalt der Offenbarung« (Schelling, SW XIII, 377). Schließlich Schellings Skizze des Grundgedankens des Christentums als »einer übergeschichtlichen Geschichte« der »Person Christi« ebenfalls in seiner Philosophie der Offenbarung, in: Schelling, SW XIV, 35–54., Zitate ebd., 35.

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Schellings Neubestimmung der Rolle der Subjektivität schreibt somit das Modell von Grund und Existierendem fort, indem er der Subjektivität die Funktion des Seinlassens der Existenz ewiger Freiheit zudenkt. Er macht sie dadurch zum Träger eines theogonischen Prozesses mit messianischem Horizont, der durch die Begriffe Seinkönnen (δύναμις), Gesetz (νόμος, νέμεσις) und Weltzeiten (χρόνοι αἰώνιοι) gekennzeichnet ist, wie sie vor allem in den Ausführungen des Römerbriefs zu finden sind. Mit seinem frühen Kommentar zum Römerbrief, der sich im Wesentlichen an Kants Religionsschrift orientiert hatte, haben diese Überlegungen indessen nichts mehr gemeinsam; Schelling selbst hat dies so gesehen.89

4. Resümee Schellings Weltalter-Vorlesung von 1827/28 ist der Versuch der Durchführung eines Paulinischen Pantheismus auf Platonischer Grundlage. Mit ihm entwickelt Schelling eine kraftvolle Alternative zu Jacobis Theismus, die sich durchaus als »Philosophie in Platons Sinne«90 versteht. Anders als Jacobis Theismus aber beruht diese nicht auf dem Dualismus von einer »bloßen Verstandeswissenschaft« à la Aristoteles und der »Wissenschaft, welche von einem Geiste geleitet wird, der in alle Wahrheit führt«, à la Paulus,91 sondern vielmehr auf deren konzeptueller Verschränkung. Produkte dieser Verschränkung von Theismus und Naturalismus sind die Konzepte von Aion als der zwischen Ewigkeit und Zeit vermittelnden ›ewigen Zeit‹ sowie von Gott als einem durch die Dialektik von Transzendenz und Immanenz bestimmten personalen Selbstverhältnis: Als ›Herr des Seins‹ ist Gott ›ewige Zeit‹ und zugleich das Setzende dieser Zeit. Beide Konzepte sind zugleich Schellings Antwort auf die Einwände, welche Jacobi gegen seine Philosophie vorgebracht hatte (vgl. oben 2.b). Auf der Basis seines neuen Konzepts von Zeit als Aion und des damit verbundenen aionischen Standpunktes, auf welchen Schelling seine

89  In der Übersicht meines künftigen handschriftlichen Nachlasses vom Februar 1853 urteilte Schelling über seinen frühen Kommentar: »[…] es fehlt noch ganz an wahrem Verstand, – sie [die von ihm selbst geschriebenen Hefte] sind durchaus rationalistisch«, zitiert nach Christian Danz: Zur Entstehungsgeschichte des Textes, in: Schelling, AA II,4, 33–35, hier 34. 90  Vgl. oben Anm. 20. 91  Jacobi, W IV,1, XXXIf.; vgl. oben Anm. 21.

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Hörer gleich zu Beginn seiner Vorlesung hinführt, entwickelt er in seiner ›geschichtlichen Philosophie‹ die Theorie eines theogonischen Prozesses, welcher die in Platons Dialog Philebos entwickelte Prinzipienlehre mit dem paulinisch-messianischen Zeitkonzept der Weltalter verknüpft. Diese Verknüpfung hat zur Folge, dass der Weltprozess als bewusstseinsgeschichtliche Tatsache, das heißt als faktische Entwicklung hin zum Sieg des Bewussten über das Unbewusste beziehungsweise des Begrenzenden über das Unbegrenzte aionisch realisiert wird. Am Ende dieses aionischen Prozesses soll der ihn steuernde eine Gott ›alles in allem‹ sein. Schelling hofft auf diese Weise eine Theorie vorgelegt zu haben, welche die vollständige Intelligibilität der Naturordnung mit Bezug auf die christliche Theorie des Schöpfergottes teleologisch erklärt und so gegen reduktive naturalistische Welterklärungen das Vertrauen in die Autorität geschichtlicher Vernunft als einer in der Natur selbst wirkenden Kraft stabilisiert. Sein ›paulinischer Pantheismus‹ (siehe oben) erweist sich als Versuch einer Antwort auf die Frage: Warum ist Vernunft und nicht vielmehr Unvernunft? Die Naturordnung selbst ist Ausdruck eines zielgerichteten intelligenten Handelns, welches die Naturordnung kontinuierlich (und nicht interventionistisch) steuert, ohne sich in ihr zu verlieren. Im Vertrauen auf seine Erkenntniskraft kann der Mensch diesen Prozess sich erinnerlich machen, das heißt aus der Binnenperspektive heraus einsehen und dadurch zur Mitwissenschaft der Schöpfung und – letztlich – auch ihres intelligenten Schöpfers als Herrn dieses Prozesses gelangen. Damit geht Schelling einen nicht gerade einfachen Weg zwischen Theismus und Deismus, der göttliches und menschliches Wissen letzten Endes im Konzept wissenden Nichtwissens einander sehr annähert. Die heutige philosophische Diskussion wird im Gebiet der Naturwissenschaft von der These eines ausschließlich auf Gesetzen der Physik beruhenden evolutionistischen Naturalismus beherrscht. Dagegen hat Thomas Nagel gerade mit Blick auf die Tatsache der Existenz des Bewusstseins auf die Grenzen der Erklärungskapazität eines solchen Naturalismus hingewiesen und – unter anderem mit Bezug auf Schelling – den Gedanken einer immanenten Teleologie der Natur erneut ins Spiel gebracht.92 Weder ein lediglich auf physikalische Gesetze Bezug nehmender Naturalismus (psychophysischer Reduktionismus) noch ein teleologisch verfasster Theismus stellen für ihn allerdings die Lösung 92 

Vgl. Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Aus dem Amerikanischen v. Karin Wördemann, 3. Aufl. Berlin 2013, 32. Im Folgenden zitiert als »Nagel, Geist und Kosmos«.

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des Problems einer befriedigenden Erklärung der Existenz bewusster Wesen dar. Daher komme es darauf an, »eine integrierte naturalistische Erklärung eines neuen Typs zu finden«, in welcher nicht a limine ausgeschlossen wird, dass »in der Naturgeschichte auch Prinzipien eines anderen Typs wirksam sind, Prinzipien einer Größenordnung, die ihrer logischen Form nach eher teleologisch statt mechanisch sind«.93 Man könnte auf der Linie Schellings hinzufügen: Es gilt, das Prinzip der Teleologie bei der Erforschung der Struktur des Bewusstseins, aber auch der nicht bewussten Natur im Spiel zu halten.

93 Nagel,

Geist und Kosmos, 17.

Christian Danz »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst […] war ihrem tiefsten Sinn nach die heilig geachtete Lehre der Kabiren«. Überlegungen zum Systembegriff in Schellings ­Akademie­vortrag Ueber die Gottheiten von Samothrake  »Nereiden und Tritonen. Sirenen. Nereiden und Tritonen. Homunculus.

Drei haben wir mitgenommen, / Der vierte wollte nicht kommen; / Er sagte, er sei der Rechte, / Der für sie alle dächte. / […] Wo sind die drei geblieben? / Wir wüßten’s nicht zu sagen, / Sind im Olymp zu erfragen; / Dort west auch wohl der achte, / An den noch niemand dachte! / […] Die Ungestalteten seh’ ich an / Als irden-schlechte Töpfe, / Nun stoßen sich die Weisen dran / Und brechen harte Köpfe.«1

Johann Wolfgang Goethe, aus dessen Faust der eben zitierte Dialog zwischen Nereiden und Tritonen, den Sirenen sowie Homunculus stammt, war nicht der einzige, der sich über Schellings 1815 erschienene Abhandlung Ueber die Gottheiten von Samothrake lustig gemacht hat. Auch die Verantwortlichen an der Jenaer Universität, die den Philosophen ein Jahr später auf eine Professur für Metaphysik an der Salana berufen wollten, waren von der Schrift geradezu entsetzt. Vor allem Schellings Bedingung, nicht nur an der Philosophischen, sondern auch an der Theologischen Fakultät lehren zu wollen, ließ die Abhandlung in einem bedenklichen Lichte erscheinen. Bei den Philosophen mögen »solche historische[n] und sprachliche[n] Interpretationen […], welche kein Philolog billigen kann« noch hinnehmbar sein, aber, wie Heinrich Karl Abraham Eichstädt an Christian Gottlob von Voigt am 23. Februar 1816 – ein Jahr vor dem anstehenden Reformationssäkulum – schrieb, nicht an einer Theologischen Fakultät. »Solange nun solche Verkehrtheiten nur in der Philosophie und Philologie getrieben werden, nimmt man sie, wenn sie nur Scharfsinn ver1  Johann

Wolfgang von Goethe: Faust II, in: Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 3. München 162000, 248f. Vgl. auch Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Berlin/Weimar 21984, 391f. (17. Februar 1831) und 396f. (21. Februar 1831).

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raten, nicht sehr hoch auf; sie können sogar als glänzende ludus ingenii Bewunderung erregen. Aber wenn sie übertragen werden auf Theologie, wenn aus denselben Grundsätzen der Interpretation auch die biblischen Bücher erklärt werden und auf solche Weise die neuen Lehren gerechtfertigt werden, so möchte wohl nichts Anderes als eine Verwirrung der Köpfe die Folge davon sein.«2 Schellings Abhandlung über Ueber die Gottheiten von Samothrake, immerhin seine letzte Druckschrift, die 1815 als »Erste Beylage zum ersten Theil der Weltalter«3 erschien, stellte nicht nur Goethe vor Rätsel, auch die zeitgenössischen Rezensionen nahmen die Schrift eher verständnislos auf.4 Sie konfrontiert noch den gegenwärtigen Interpreten mit nicht geringen Herausforderungen. Zwar sind wir über den Entstehungsprozess des Textes sowie dessen geradezu chaotische Drucklegung durch das Tagebuch des Philosophen sowie seinen Briefwechsel mit Johann Friedrich Cotta relativ gut unterrichtet.5 Deutlich ist ebenfalls, dass sich die Abhandlung gegen neuplatonisch inspirierte zeitgenössische Deutungen der Mythologie als Emanation eines den Vorstellungen zugrunde liegenden Göttlichen richtet, wie sie in Heidelberg – nicht ohne Anklänge an Schelling – von Friedrich Creuzer in seiner bedeutenden Schrift Symbolik und Mythologie der alten Völker vertreten wurde.6 Aber sowohl der systematische Status der Erkundung der Götterlehre jener Insel in der Ägäis als auch die Funktion der Kabiren, also jener TopfGötter Goethes, lässt den Leser mehr oder weniger im Dunkeln. So 2  Brief H. K. A. Eichstädt an C. G. von Voigt vom 23. Februar 1816, in: Neue Schellingiana. Hrsg. v. Otto Braun, in: Euphorion 24 (1922), 384–390. 868–879, hier 873. 3  Brief F. W. J. Schellings an J. F. Cotta vom 8. August 1815, in: Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849. Hrsg. v. Horst Fuhrmans/Liselotte Lohrer. Stuttgart 1965, 98f., hier 99. Im Folgenden zitiert als »Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849«. 4  Vgl. nur die anonymen Rezensionen in: Hallesche Allgemeine Literaturzeitung 1816, I, Sp. 225–232; Jenaer Allgemeine Literaturzeitung 1816, II, Sp. 425–429. 429–438. Wohlwollend wurde die Abhandlung von Friedrich Creuzer und Friedrich Ast besprochen. Vgl. Friedrich Creuzer: Rez.: F. W. J. Schelling, Die Gottheiten von Samothrake, in: Heidelbergische Jahrbücher für Litteratur. 10. Jahrgang. 2. Hälfte. July bis December. Heidelberg 1817, Nr. 47, 737–752; [Friedrich Ast:] Rez.: Ueber die Gottheiten von Samothrace […], in: Wiener Allgemeine Literaturzeitung, Dienstag, 12. Dezember 1815, Nr. 99, Sp. 1567–1573. 5 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1814-1816. Die Weltalter II – Über die Gottheiten von Samothrake. Hrsg. v. Lothar Knatz/ Hans Jörg Sandkühler/Martin Schraven. Hamburg 2002, 61–96; Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, 86–179. 6 Vgl. hierzu Jan Rohls: Schelling und die Heidelberger Romantik. Das Verhältnis von Schelling und Creuzer seit 1804, in: Schelling in Würzburg. Hrsg. v. Christian Danz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 293–337.

Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademie­vortrag

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verwundert es auch nicht, dass die zweite Akademierede Schellings zum Namenstag des Königs in der Forschungsliteratur weniger Aufmerksamkeit erfahren hat als die über das Naturschöne von 1807.7 Viele ­Interpreten der Abhandlung über die Kabiren deuten diese als einen Neueinsatz, der in einem Zusammenhang mit der philosophischen Entwicklung Schellings seit der Freiheitsschrift von 1809 steht. Vor allem der umfangreiche gelehrte sprachwissenschaftliche Anmerkungsapparat, der dem Vortrag beigefügt ist und diesen schon rein proportional in den Schatten stellt, wurde als ein verändertes Verständnis von Mythos und Religionsgeschichte gewertet.8 Die Geschichte der Religion trete in den Fokus des Philosophen, was nicht ohne Folgen für die Konzeption systematischer Philosophie bleibe.9 Allerdings finden sich derartige Ausflüge ins Mythologische auch in früheren Texten Schellings, und zwar in direktem Zusammenhang mit Erörterungen zu naturphilosophischen Fragen. So am Ende der 1802 erschienenen Ausarbeitung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, wo der Ceres-Mythos zur Erläuterung der inneren Stufung des Seelenbegriffs herangezogen wird.10 Ganz ähnlich beschreibt dann zwei 7 

Zur Auseinandersetzung mit dem Text von 1815 vgl. Volker Reinecke: Der Wiederholungsprozess und die mythologischen Tatsachen in Schellings Spätphilosophie. Eine religionswissenschaftliche Studie unter der Voraussetzung des Verhältnisses der »Weltalter« zu der Abhandlung »Über die Gottheiten von Samothrake«. Rheinfelden 1986; Siegbert Peetz, Die Philosophie der Mythologie, in: F. W. J. Schelling. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Stuttgart/Weimar 1998, 150–168, bes. 154f., im Folgenden zitiert als »Peetz, Die Philosophie der Mythologie«; Helmut Schneider: »Die Gottheiten von Samothrake«, in: Schellings Denken der Freiheit. Wolfdietrich Schmid-Kowarzik zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Heinz Paetzold/ders. Kassel 2010, 135–148. Im Folgenden zitiert als »Schneider, Die Gottheiten von Samothrake«. 8  Vgl. nur Peetz, Die Philosophie der Mythologie, 155: »Die Deutung des Mythos als Sediment realer religiöser Erfahrung führt Schelling zu einem neuen Begriff von Positivität, mit dem er der Sache nach Hegels logische Aufhebung der Religion in der Idee ähnlich unterläuft wie vorher in seiner Naturphilosophie Fichtes logische Vereinnahmung der Natur durch das Subjekt.« 9  Vgl. hierzu auch Schellings Bemerkung in seinem Brief an Cotta vom 19. August 1814, in dem die Abhandlung über die Kabiren das erste Mal erwähnt wird. Hier heißt es über das Weltalter-Projekt: »In den Weltaltern ist nicht nur ein vollständiges metaphysischen, sondern zugleich religiöses System enthalten. Alle Ansichten sind zu dem Punct geführt, wo sie schlechterdings in’s Leben eingreifen müssen.« (Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, 87) 10 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. V. Hrsg. v. Karl Friedrich ­August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1859, 106–124, hier 124: »Die Lästerer, welche das sittliche Princip der Philosophie verläumden, kennen weder das Ziel noch die Stufen der Seele, durch welche sie zur Läuterung gelangt. Das Erste, was sie erfährt, ist die Sehnsucht; denn die Natur, um in sich den Abdruck des unsterblichen

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Jahre später Schelling in den Schlusspassagen von Philosophie und Religion diese Stufung der Seele im Rückgriff auf die Mysterienlehre der antiken Mythologie.11 Der Zusammenhang von System und Geschichte wird nun in der Tat von Schelling selbst in der Abhandlung über die samothrakischen Götter in den Fokus gerückt. Die Erkundung der Bedeutung jener von Goethe ironisierten Topf-Götter soll, wie sowohl die Rede selbst als auch die Anmerkungen sowie die Nachschrift behaupten, das »eigentliche Ursystem der Menschheit« »aus langer Verdunkelung ans Licht« bringen, und zwar, wie eigens betont wird, »nach wissenschaftlicher Entwickelung, wo möglich auf geschichtlichem Weg«12. Doch was ist unter diesem Ursystem der Menschheit überhaupt zu verstehen, und wie ist der Systembegriff in der Abhandlung von 1815 konstruiert? Da der Text selbst auf jegliche Methodenreflexionen verzichtet und seinen Gedanken gleichsam in einem Stück entfaltet, wird man gut beraten sein, ihn vor dem Hintergrund der philosophischen Entwürfe Schellings um 1810 zu lesen. Dazu leitet freilich der Untertitel der Rede – Erste Beilage zum ersten Theil der Weltalter – selbst an. In einem ersten Abschnitt ist zunächst der Systembegriff in den Blick zu nehmen, der der Rede über das samothrakische Göttersystem zugrunde liegt. Dem WissenschaftsWesens zu empfangen, ist nothwendig zugleich das Grab der Vollkommenheit. Die Seele, welche den Verlust des höchsten Gutes gewahr wird, eilt, der Ceres gleich, die Fackel an dem flammenden Berg zu entzünden, die Erde zu durchforschen, alle Tiefen und Höhen zu durchspähen, umsonst, bis sie endlich in Eleusis anlangt. Dieses ist die zweite Stufe; allein die allsehende Sonne offenbart den Hades als den Ort, der das ewige Gut vorenthält. Die Seele, welcher diese Offenbarung widerfährt, geht zur letzten Erkenntnis über, sich zum ewigen Vater zu wenden: die unauflösliche Verkettung zu lösen, vermag auch der König der Götter nicht, aber er verstattet der Seele, sich des verlorenen Guts in den Bildungen zu freuen, welche der Strahl des ewigen Lichts durch ihre Vermittlung dem finstern Schooß der Tiefe entreißt.« Vgl. hierzu Paul Ziche: Die »eine Wissenschaft der Philosophie« und die »verschiednen philosophischen Wissenschaften«. Wissenschaftssystematik und die Darstellung des Absoluten in »Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt«, in: Gegen das »unphilosophische Unwesen«. Das »Kritische Journal der Philosophie« von Schelling und Hegel. Hrsg. v. Klaus Vieweg. Würzburg 2002, 211–222. Im Folgenden zitiert als »Ziche, Die ›eine Wissenschaft der Philosophie‹«. Schellings Werke werden, sofern nichts anderes vermerkt, nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–61 (= SW, Band- und Seitenangabe); Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). 11  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 13–70, hier 68–70. 12  Schelling, SW VIII, 423.

Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademie­vortrag

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begriff Schellings sowie seinen methodischen Implikationen wird der zweite Abschnitt gewidmet sein. Vor dem Hintergrund dieser eher methodischen und systematischen Ausführungen sind dann im dritten und letzten Überlegungsgang der Systembegriff und seine Implikationen im Kabiren-Vortrag zu rekonstruieren.

1. »Das wahre System kann nicht erfunden« werden – Schellings Systembegriff um 1810 Der Systembegriff begegnet in dem Akademievortrag von 1815 an verschiedenen Stellen. So ist scheinbar unspezifisch die Rede von Göttersystemen. Aber die Entschlüsselung der samothrakischen Götter dient, woran Schelling keinen Zweifel lässt, der Rekonstruktion eines »wissenschaftlichen Systems«13 bzw. einem »Ursystem«14. Darauf weist der Autor jedenfalls eigens hin, wenn es in Anmerkung 90 heißt: »Ich sage: eines wissenschaftlichen Systems, nicht eines bloß instinktmäßigen Erkennens, etwa in Visionen oder im Hellsehen oder auf andere ähnliche Arten, die man sich heutzutage ausdenkt, da einige gerade der Wissenschaft entsagen, andere wo möglich ein Wissen ohne Wissenschaft aufbringen möchten.«15 Auf das eben angesprochene Verhältnis von Wissenschaft und Wissen und seine Bedeutung für die Entfaltung des Systems wird noch zurückzukommen sein. Zuvor ist das Verständnis von System selbst, wie es für die Abhandlung von Bedeutung ist, in den Blick zu nehmen. Hierzu sind die Fragmente des Weltalter-Projekts sowie die Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 einzubeziehen. Die Vorlesungen vom Frühjahr 1810, die Schelling in einem kleinen Kreis von Interessierten in Stuttgart gehalten hat, setzen mit einer Bestimmung dessen ein, was unter System zu verstehen sei. Dort heißt es gleich anfangs auf die Frage, wie ein System möglich sei, »es hat lange schon ein System gegeben, ehe der Mensch darauf gedacht hat, eines zu machen – das System der Welt«16. Ähnlich wie in der fünf Jahre später gehaltenen Akademierede, ist es die Aufgabe der Philosophie, dieses System der Welt zu finden, und zwar, wie erläuternd hinzugesetzt wird, 13 

Schelling, SW VIII, 362. Schelling, SW VIII, 363. 15  Schelling, SW VIII, 401. 16  Schelling, SW VII, 421. 14 

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nicht als ein erfundenes, sondern als »ein an sich, namentlich im göttlichen Verstande, bereits vorhandenes«.17 Die Bedingungen, die Schelling in den Eingangspassagen der Stuttgarter Vorlesungen für ein wahres System benennt, wären, der verwendeten Metaphorik ungeachtet, missverstanden, wollte man sie im Sinne eines Platonismus verstehen. Es sind die Bestimmungen, das macht auch der Fortgang der Ausführungen deutlich, die für das Identitätssystem konstitutiv sind. Diesem geht es, wie die Darstellung meines Systems von 1801 formuliert, um eine Darstellung der Dinge, wie sie an sich sind.18 Das Würzburger System von 1804 setzt gleich im ersten Paragraphen mit der These ein, der Grundirrtum aller bisherigen Philosophie sei der eines wissenden Ich.19 Ein System kann also nicht erfunden, sondern nur gefunden werden, und zwar allein durch ein methodisches Procedere. Konstitutiv für ein solches System sind, wie Schelling in den Stuttgarter Vorlesungen erklärt, drei Aspekte: Ein Weltsystem muss erstens »ein Princip haben, das sich selbst trägt, das in sich und durch sich besteht, das sich selbst in jedem Theil des Ganzen reproduziert«, sodann darf es zweitens »nichts ausschließen«, und schließlich muss es drittens »eine Methode der Entwicklung und des Fortschreitens haben«20. Die drei Anforderungen an den Systembegriff gelten, wie sich zeigen wird, ebenso für die WeltalterTexte als auch für den Vortrag über die samothrakischen Gottheiten. Mit den genannten Aspekten, die allesamt erst vor dem Hintergrund der Identitätsphilosophie verständlich werden, ist allerdings die Eigenart von Schellings Verständnis eines philosophischen Systems noch nicht hinreichend beschrieben. Das identitätsphilosophische Systemprogramm zielt auf strenge wissenschaftliche Evidenz, aber zugleich werden kausale und syllogistisch-deduktive Systemkonzeptionen ab-

17  Ebd. Vgl.

hierzu auch Paul Ziche: Passive Wissenschaft. Schellings Wissenschaftsphilosophie in der Zeit der Stuttgarter Privatvorlesungen, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen. Hrsg v. Lore Hühn/Philipp Schwab. Freiburg i. Br./München 2014, 121–139. Im Folgenden zitiert als »Ziche, Passive Wissenschaft«. 18  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I,10, 109–211, hier 117: »Der Standpunct der Philosophie ist der Standpunct der Vernunft, ihre Erkenntniß ist eine Erkenntniß der Dinge, wie sie an sich, d. h. wie sie in der Vernunft sind.« 19 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der gesammten Philosophie, SW VI, 140. Vgl. hierzu Sebastian Schwenzfeuer: Selbsterkenntnis. Struktur und Logik absoluter Identität in Schellings ›Würzburger System‹, in: Schelling-Studien 2 (2014), 103–125. 20  Schelling, SW VI, 421.

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gelehnt.21 Die Metapher des »Findens«, mit der Schelling in den Stuttgarter Vorlesungen den Systembegriff beschreibt, ist in diesem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang zu verstehen. Als Paradigma für ein derartiges Systemverständnis wird – ebenso wie in früheren Texten – auch in der Vorlesung von 1810 auf die Geometrie verwiesen.22 Ebenso wie diese erklärt die Philosophie nicht, sie konstruiert ihre Gehalte im Absoluten.23 Das Absolute, das Prinzip des Systems, wird nicht als solches dargestellt, sondern lediglich »indirekt«24. Aus ihm wird auch nichts abgeleitet bzw. deduziert. Die absolute Identität fungiert, wie Schelling in den identitätsphilosophischen Texten als auch in den Stuttgarter Vorlesungen betont, als Medium der Darstellung des Besonderen im Allgemeinen und umgekehrt. Deshalb kann es keinen Übergang vom Absoluten zum Besonderen in welcher Form auch immer geben. Die Systemkonzeption der Vorlesungen von 1810 knüpft damit ebenso wie die frühen identitätsphilosophischen Schriften zwar an das kantische Programm einer systematischen Philosophie als Grundlegungsinstanz der Wissenschaften an, aber es unterscheidet sich auf signifikante Weise von den Konzeptionen Hegels, Fichtes und natürlich auch des Königsbergers. Im Gegensatz zu dem Letzteren geht es um eine Erkenntnis der Dinge an sich, also um das Programm einer strikt objektiven Wissenschaft.25 Der eben knapp skizzierte identitätsphilosophische Systembegriff liegt auch den Weltalter-Texten noch zugrunde. In der Einleitung der Fassung von 1813, die im zeitlichen Kontext der Akademierede über die 21  Vgl. hierzu

v. Verf.: Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809, in: Systeme in Bewegung: Systembegriffe nach 1800–1809. Hrsg. v. Violetta L. Waibel/ dems./Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2018, 97–116; Paul Ziche: Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 147–168. 22 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 423. 23 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW IV, 333–510, hier 345. 24  Schelling, SW VI, 138. 25  Das wird, worauf Paul Ziche hingewiesen hat, schon in den Schriften der 1790er Jahre sichtbar, wo ein Prinzip eingefordert wird, welches jenseits des Bewusstseins liegen soll. Vgl. Paul Ziche: »Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft.« Zum Zusammenhang von Wissenschafts- und Personbegriff bei Schelling, in: »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Hrsg. v. Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni. Berlin 2004, 199–213, hier 201. Im Folgenden zitiert als »Ziche, ›Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft‹«. Vgl. hierzu auch Daniel Whistler: Schelling’s Theory of Symbolic Language. Forming the System of Identity. Oxford 2013. Im Folgenden zitiert als »Whistler, Schelling’s Theory of Symbolic Language«.

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samothrakischen Gottheiten steht, hebt Schelling ähnlich wie in den Stuttgarter Vorlesungen sein Verständnis von Wissenschaft von dem »bisher geltende[n]« ab.26 Letzteres kennzeichnet er als »eine bloße Folge und Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken«27, also als Kons­ truktion eines Systems durch ein diesem vorauszusetzendes Subjekt. Einem solchen Verständnis von Wissenschaft setzt er die »wahre Vorstellung« entgegen. Sie sei »die Entwickelung eines lebendigen, wirklichen Wesens […], die in ihr sich darstellt«28. Auch die Weltalter fassen wie die identitätsphilosophische Systemkonzeption die Philosophie als Darstellung des Absoluten.29 Ein System, so lassen sich die vorgestellten Überlegungen zusammenfassen, zeichnet sich durch einen strengen systematischen Zusammenhang aus. Es ist, wie die Metapher des Findens deutlich macht, das Resultat eines Forschungsprozesses. Apriorische Konzeptionen eines Systems des Wissens, wie die Kantische oder die Fichtesche,30 werden damit ebenso abgelehnt wie deduktive oder mechanische Konstruktionen. Aber wie kommt ein solches System zustande? Die methodischen Implikationen von Schellings Wissenschaftsverständnis um 1810 sind nun in den Blick zu nehmen.

2. Wissenschaft und Wissen, oder: die Konstruktion des Systems Nicht nur die Weltalter-Texte, auch die Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten, sind an einem Ideal streng objektiver Wissenschaft orientiert. Ganz in diesem Sinne erklärt Schelling in der bereits 26  Schelling,

SW VIII, 199. Die genaue Datierung des in den Sämmtlichen Werken edierten Weltalter-Fragments ist derzeit nicht bekannt. Vgl. hierzu den in der Edition von Klaus Grotsch mitgeteilten Nachlasstext, der terminologisch sowohl dem der Sämmlichen Werke als auch der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten nahekommt und von dem Herausgeber auf 1813 bis 1817 datiert wird. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Weltalter-Fragmente. Hrsg. v. Klaus Grotsch. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 167–269. 27  Schelling, SW VIII, 199. 28 Ebd. 29  Auf die identitätsphilosophischen Grundlagen der Weltalter-Texte weist auch Aldo Lanfranconi: Krisis. Eine Lektüre der »Weltalter«-Texte F. W. J. Schellings. StuttgartBad Cannstatt 1992, hin. Im Folgenden zitiert als »Lanfranconi, Krisis«. Vgl. auch ders.: Die Weltalter lesen, in: Weltalter – Schelling im Kontext der Geschichtsphilosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1996, 59–72. 30 Vgl. schon Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, SW VII, 1–126, hier 63f. Vgl. hierzu Ziche, Passive Wissenschaft, 132.

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erwähnten Nachschrift zu der Akademierede, die Beylage zu den Weltaltern, die durchaus in ihrer „Selbständigkeit“ zu verstehen sei, ziele darauf, das Ursystem der Menschheit in wissenschaftlicher Form und – womöglich – auf geschichtlichem Wege zu erheben. »Denn unzertrennlich von Geschichte ist die bis zu einem gewissen Punkt gelangte Wissenschaft und fast nothwendig der Uebergang der einen in die andere.«31 Doch was versteht Schelling um 1810 unter Wissenschaft? Und wie konstruiert er das Wissenschaftssystem? Das eben angesprochene Verhältnis von Wissenschaft und Geschichte erfährt in der Einleitung der Weltalter eine ausführliche Behandlung, und zwar im Kontext der Frage nach der Form der Wissenschaft, nachdem diese – durch die Naturphilosophie – »dem Gegenstand nach zur Objektivität gelangt ist«32. In diesem systematischen Zusammenhang unterscheidet Schelling zwischen der Seele und dem Wissen.33 Die genannte Unterscheidung zwischen der Seele, die die Wissenschaft ist und somit selbst nichts weiß, und dem Wissen findet sich in den Texten seit 1807 erstmals in der ersten Akademierede Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. Hier heißt es: »Die Seele ist also im Menschen nicht das Prinzip der Individualität, sondern das, wodurch er sich über alle Selbstheit erhebt, wodurch er der Aufopferung seiner selbst, uneigennütziger Liebe, und, was das Höchste ist, der Betrachtung und Erkenntnis des Wesens der Dinge, eben damit der Kunst, fähig wird. Sie ist nicht mehr mit der Materie beschäftigt […], sondern mit dem Geist, als dem Leben der Dinge. Auch im Körper erscheinend, ist sie dennoch frei von dem Körper, dessen Bewußtsein in ihr, in den schönsten Bildungen, nur wie in einem Traum schwebt, […]. Sie ist keine Eigenschaft, kein Vermögen, oder irgend etwas der Art insbesondere; sie weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft, sie ist nicht gut, sondern sie ist die Güte«34. 31 

Schelling, SW VIII, 423. Schelling, SW VIII, 200. 33 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter, SW VIII, 200: »Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung. In ihr liegt die höchste Klarheit aller Dinge, und nicht so wohl wissend ist sie als selber die Wissenschaft.« Vgl. auch schon Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus, AA I,9,1, 228: »Die Aristoteliker verglichen die Seele mit einer unbeschriebenen Tafel, auf welche die Züge der Außendinge erst eingegraben würden. Aber, wenn die Seele keine unbeschriebene Tafel ist, ist sie denn deßwegen etwa eine beschriebene.« Vgl. hierzu Ziche, »Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft«, 199–213. 34  Schelling, SW VII, 312. 32 

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Die Seele, so lassen sich diese Bestimmungen zusammenfassen, ist ein Prinzip strikter Allgemeinheit und darin Grundlage der Wissenschaft, die dann selbst durch höchste Objektivität sich auszeichnet. Das unterscheidet die Seele vom Persönlichen und Individuellen, die stets partikular sind. Der Seelenbegriff, der so von Schelling wörtlich in den Stuttgarter Privatvorlesungen und in den Weltalter-Texten aufgenommen ist,35 fungiert als Begründungsinstanz objektiver Wissenschaft.36 Die Seele als die Wissenschaft, also als Allgemeinheitsinstanz, ist jedoch selbst ohne Wissen. Damit konkrete Wissenschaft – zum Beispiel ein System von Göttern – entstehen kann, ist die Seele auf Wissen angewiesen. Letzteres, so ist Schelling zu verstehen, lässt sich nicht aus der unpersönlichen Seele ableiten. Deshalb befindet sich der Philosoph, wie Schelling in der Einleitung der Weltalter von 1813 erklärt, »in keinem anderen Fall als der andere Historiker auch. Denn auch dieser muß, was er zu wissen verlangt, den Aussagen alter Urkunden oder der Erinnerung lebender Zeugen abfragen, und bedarf vieler Scheidungskunst oder Kritik, um das Falsche vom Wahren, das Irrige vom Rechten in den erhaltenen Ueberlieferungen zu sondern«37. Die Einleitungen zu den Weltalter-Texten traktieren das genannte Verhältnis von Wissenschaft und Wissen gleichsam als Methodenrefle­xion eines objektiven Wissenschaftssystems.38 Doch wie baut sich ein System des Wissens auf, wenn die Seele unbestimmt und auf konkrete Wissensbestände angewiesen ist, die sich aus ihr gerade nicht ableiten lassen? Wie gestaltet sich also der Weg von der allgemeinen, aber inhaltslosen Wissenschaft zum konkreten Wissen? Aufschluss hierüber bietet eine Passage aus den Stuttgarter Privatvorlesungen. Es handelt sich 35  Vgl.

Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 469: »Also die Seele ist das Unpersönliche. Der Geist weiß, aber die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft.« 36  Das hat Paul Ziche in seinem bereits genannten Beitrag »Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft« detailliert herausgearbeitet. Vgl. auch ders., Passive Wissenschaft, 126–130. 37  Schelling, SW VIII, 202. 38  Die Abgrenzung der Philosophie als Wissenschaft von der Theosophie fußt auf dem Verhältnis von Wissenschaft und Wissen. Die Darstellung der Wissenschaft bietet zwar ein objektives Bild der Dinge, aber es bleibt, worauf Schelling eigens hinweist, von diesen unterschieden. Die »Fülle und Tiefe des Lebens« sei zwar der Wissenschaft nicht unerreichbar, aber sie gelangt dazu nur »mittelbar und durch stufenmäßiges Fortschreiten, so daß der Wissende immer von seinem Gegenstande verschieden, dagegen dieser auch von ihm getrennt bleibt und Objekt einer besonnenen, ruhig genießenden Beschauung wird« (Schelling, SW VIII, 204f.).

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um den bereits erwähnten systematischen Kontext, in dem der Seelenbegriff im Zusammenhang einer Betrachtung des menschlichen Geistes eingeführt wird. Dieser wird durch die drei Potenzen Gemüt, Geist und Seele strukturiert.39 Wissenschaft – deren höchste Form die Philosophie darstellt – entstehe durch die Beziehung der Seele als der höchsten Potenz des Geistes auf die beiden niederen Gefühl und Verstand.40 Letzterer in seiner Unterordnung unter die Seele sei die Vernunft, die auf diese Weise das »Aufnehmende der Wahrheit« sei, »das Buch, worein die Eingebungen der Seele geschrieben werden, aber zugleich auch ein Probierstein der Wahrheit«41. Das entspricht dem oben erwähnten Umstand, dass das wahre System nur gefunden werden könne. Die Vernunft wird in den Texten um 1810 als ein passives, aufnehmendes Organ verstanden.42 Doch wie kann sie dann Kriterium der Wahrheit sein? Die Vernunft, so beschreibt Schelling das in Frage stehende Prob­ lem in diesem systematischen Kontext, stoße ab, was sie nicht aufnehmen könne. Dieses, was die Vernunft »nicht in sich verzeichnen« lasse und das von ihr deshalb abgestoßen werde, sei aber auch nicht von der Seele eingegeben. Aufschlussreich für das Verständnis der genannten Prozedur ist die Weiterführung der zitierten Passage durch einen Verweis auf die Geometrie. Die Vernunft sei nämlich in dieser Hinsicht für »die Philosophie das, was der reine Raum für den Geometer. Was in der Geometrie falsch ist, einen unrichtigen Begriff, nimmt der Raum nicht an, stößt es zurück; z. B. ein Dreieck, in dem die größere Seite dem kleineren Winkel gegenüber läge«43. Was von Schelling in dem vorliegenden Kontext als methodisches Procedere, als Übergang von der Wissenschaft zum Wissen beschrieben wird, ist nichts anderes als die Methode der Konstruktion, die jedenfalls als Verfahrensweise der identitätsphilosophischen Systemkonstruktion

39  Vgl.

Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 465. Vgl. hierzu Ziche, »Die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft«, 209f. 40  Vgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 471. 41  Schelling, SW VII, 472. 42 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Rez.: F. I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus, SW VII, 511–534, hier 516; ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 472: »Bei dem Verstand ist offenbar etwas mehr Aktives, Thätiges, in der Vernunft mehr etwas Leidendes, sich Hingebendes.« Ähnlich bestimmt Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Sendschreiben An Fichte die Vernunft. Vgl. ­Friedrich ­Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte, in: ders.: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke, Bd. 2,1. Hamburg 187–258, 201. 43  Schelling, SW VII, 472.

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seit 1802 reklamiert wird.44 Auch die Weltalter-Texte machen von diesem Verfahren Gebrauch und verstehen das philosophische System als Darstellung des Absoluten in konkreten Formen. In dem skizzierten Sinne ist nicht nur die Bestimmung der wahren Wissenschaft zu verstehen, diese sei »Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens«, das »in ihr sich darstellt«45, auch der erste Teil des ersten Buches der Weltalter, der die Überschrift »Das ewige Leben der Gottheit als Ganzes oder Construktion der Gesamtidee Gottes« trägt, wird sich nicht anders als im Sinne dieser methodischen Prozedur deuten lassen. Das gilt auch für den Vortrag über die Gottheiten der samothrakischen Insel. Die systematische Funktion des umfangreichen Anmerkungsapparats der Abhandlung mit seinen sprachgeschichtlichen Erörterungen der Herkunft der Götternamen aus den Sprachen des alten Orients besteht darin, das religionsgeschichtliche Material bereitzustellen, welches für die Konstruktion eines Göttersystems erforderlich ist. Wenn es in der Anmerkung 29, die zu den methodischen Problemen solcher Etymologien Stellung nimmt, heißt, die »Grundbegriffe« der Götter »werden aber nur durch die Stelle bestimmt, welche jede Gottheit im allgemeinen Göttersystem einnimmt«46, dann wird explizit auf das Konstruktionsverfahren der Identitätsphilosophie Bezug genommen. Konkrete Phänomene werden dadurch erklärt, dass ihnen eine bestimmte Stelle in einem gemeinsamen systematischen Kontext zugewiesen wird.47 Damit sind die systematischen Grundlagen von Schellings Philosophie um 1810 soweit zur Sprache gekommen, dass wir uns nun dem Akademievortrag über die Kabirenlehre selbst zuwenden können.

44  Vgl. Friedrich Wilhelm

Joseph Schelling: Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 125–151; ders.: Fernere Darstellungen, SW IV, 391–441; ders.: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW V, 207–352, bes. 243, 252–256. Zur Kons­ truktionsmethode vgl. auch Whistler, Schelling’s Theory of Symbolic Language, 117–137. 45  Schelling, SW VIII, 199. 46  Schelling, SW VIII, 376. 47  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Miscellen, SW IV, 530: »In der Mathematik wird nicht erklärt, sondern es wird bewiesen. Der Beweis – die Construktion – ist die Erklärung. […] Wenn der dynamische Physiker von Erklärung spricht, so geschieht es höchstens aus einer alten Gewohnheit, in der That aber construirt er nur; er geht von seinem Prinzip aus, unbekümmert wohin es ihn führe, die Erscheinungen fallen, wenn er nur consequent verfährt, von selbst in ihre gehörige Stelle, und die Stelle, die sie im System einnehmen, ist zugleich die einzige Erklärung von ihnen, die es gibt.« Vgl. Ziche, Die »eine Wissenschaft der Philosophie«, 216.

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3. Das Ursystem der Menschheit Schellings Rede zum Namenstag des bayerischen Königs vom 12. Oktober 1815, die er in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat, widmet sich mit den Kabiren einem in »unbestimmbarer Vorzeit« gestifteten »geheimnisvolle[n] Götterdienst«48. »Aus den Wäldern Samothrakes erhielt«, wie der Redner im Eingang seiner Rede bemerkt, »Griechenland mit der geheimeren Göttergeschichte zuerst den Glauben an ein zukünftiges Leben«49. Ausgehend von einer »durch besonderes Glück« überlieferten Nachricht aus jener grauen Vorzeit, welche die drei Götter »Axieros, Axiokersa, Axiokersos« sowie eine weitere, vierte Gestalt Namens »Kasmilos«50 erwähnt, erkundet Schelling sowohl die »Bedeutung der einzelnen Gottheiten« als auch deren Stellung im öffentlichen und im geheimen Kultus. Aus beiden Argumentationsschritten erhalte man erst »gründlichen Aufschluß […] über den Sinn der samothrakischen Lehre, über das eigentliche, ihr zu Grunde liegende System«51. Was hat es nun mit jenen drei Göttern und dem vierten, den Goethe den Rechten nannte, auf sich, und worin besteht das System, welches dieser Götterlehre zugrunde liegt? Den methodischen Implikationen des Wissenschaftssystems zufolge, wie es Schelling um 1810 ausgearbeitet hat, ist dessen Entfaltung auf konkrete Wissensbestände angewiesen. Diese wiederum sind vergleichbar dem Geschäft des Historikers, mit dem methodischen Instrumentarium der Textkritik und der Hermeneutik kritisch auszumitteln. Das ist die Funktion des umfangreichen Anmerkungsapparats, der dem Akademievortrag von 1815 beigegeben ist.52 Dieser bietet sprachgeschichtliche Belege aus alten griechischen, hebräischen, arabischen, syrischen, chaldäischen und anderen Quellen, die jeweils mit den methodischen Mitteln der Philologie rekons­truiert werden, um die Bedeutung der Götternamen – aber nicht deren Begriff – zu erschließen.53 Eine Entscheidung über die Plausibilität der 48 

Schelling, SW VIII, 347. Schelling, SW VIII, 348. 50  Schelling, SW VIII, 349. 51 Ebd. 52  Auf diese systematische Funktion der Anmerkungen für die Ausführungen der Abhandlung weist Schelling selbst hin. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber die Gottheiten von Samothrake, SW VIII, 370. 53  Schelling greift damit die bibelhermeneutischen Instrumentarien wieder auf, die er sich in der Zeit seines Tübinger Studiums erarbeitet hatte. Diese frühen Texte zur Auslegung biblischer Bücher lassen jedenfalls eine hohe Vertrautheit mit den 49 

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sprachlichen Herleitungen der Götternamen des Kabirensystems vor allem aus der hebräischen Sprache kann folglich allein mit philologischen Mitteln herbeigeführt, aber auch nur mit diesen beurteilt werden. Mit der rein philologisch-grammatischen Erschließung der Götternamen ist jedoch die Auslegung von Texten noch nicht abgeschlossen. Ein über das philologische Einzelresultat hinausgehender Zusammenhang – der jedoch stets dessen Interpretation schon mitbestimmt – kommt in jedem Fall allein durch eine Konstruktion bzw. Interpretation zustande. Ganz in diesem methodisch durchreflektierten Sinne geht Schelling in der Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten vor, wenn er bemerkt, die »Grundbegriffe« der Götter »werden nur durch die Stelle bestimmt«, die sie im »allgemeinen Göttersystem« einnehmen. Die Kenntnis dieses Systems wenigstens in seinen »Grundzüge[n]« ist also bereits vorausgesetzt, andernfalls würde man »nur rathen und aufs gerathewohl versuchen, aber ohne zu irgend einer Gewißheit zu gelangen«54. Die Maßstäbe streng objektiver Wissenschaft, wie sie von Schelling um 1810 für die Wissenschaft formuliert werden, gelten auch für die Abhandlung über die Kabiren. Sie werden hier gleichsam am konkreten religionsgeschichtlichen Fall exemplifiziert. Den Begriff der samothrakischen Götter konstruiert Schelling auf der Grundlage der philologisch erschlossenen Bedeutungen ihrer Namen sowie ihrer Folge im Rückgriff auf seine Potenzenlehre.55 Axieros – die erste Gottheit – symbolisiert, wie zahlreiche Wendungen aus dem zeitgenössischen Debatten über die methodischen Instrumentarien der Auslegung von alten Urkunden erkennen. Der für das oben skizzierte Wissenschaftsverständnis skizzierte und so auch in der Akademieabhandlung von 1815 zugrunde gelegte Zusammenhang von Philosophie und Historie begegnet indes bereits in den frühen Texten, explizit in der Magisterdissertation und in dem Mythenaufsatz von 1793. Vgl. hierzu Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung. Hrsg. v. Christian Danz. Tübingen 2012; Christopher Arnold: Schellings frühe Paulus-Deutung. Eine Untersuchung zur Entwicklung von F.W.J. Schellings Schriftinterpretation im Zusammenhang der Tübinger Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen Theoriebildung seit der Frühaufklärung. Diss. Wien 2016. 54  Schelling, SW VIII, 376. Dem entspricht es, wenn von Schelling »atomistische Verfahren« der Rekonstruktion der Grundbegriffe der Götter abgelehnt werden, denen zufolge »etwas, das als ein Ganzes nicht begreiflich scheint, durch Zusammenstückelung zu erklären« (Schelling, SW VIII, 411). 55  Die Göttergestalten sowie ihr Zusammenhang symbolisieren, ohne dass der Begriff in der Rede ausdrücklich genannt wird, die Potenzen und ihre Abfolge. Der Potenzen-Begriff wird von Schelling lediglich in der Anmerkung 112 verwendet. Vgl. Schelling, SW VIII, 220. Auf den Zusammenhang der Götterfolge mit den Potenzen wird auch in der Literatur regelmäßig hingewiesen. Vgl. nur Schneider, Die Gottheiten von Samothrake, 142f.

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Akademievortrag deutlich machen, die zum Teil wortwörtlich in dem Weltalter-Text von 1813 verwendet werden, die erste Natur, nicht aber die erste Potenz. Der Redner, der dieser samothrakischen Gottheit in seinen Ausführungen den meisten Raum einräumt, beschreibt sie als Sucht, Hunger, Schmachten, als Nacht oder verzehrendes Feuer.56 Gemeint ist die in den Weltaltern so genannte »nie stillstehende rotatorische Bewegung« der drei Potenzen, »in der keine Unterscheidung ist«57. Die Scheidung dieser Bewegung, also den Verzicht der Potenzen, das Seiende zu sein, symbolisiert die zweite samothrakische Gottheit Axiokersa. Sie entspricht der ersten Potenz als Grund der Natur bzw. der Materie als »primum Existens«58, um die Wendung aus der System­ darstellung von 1801 aufzugreifen. Schelling beschreibt jene Gottheit in naturphilosophischen Wendungen als »Grundanfang der ganzen sichtbaren [äußeren] Natur«59 oder als »bewegende Kraft, durch deren unablässiges Anziehen aus der ersten Unentschiedenheit alles wie durch Zauber zur Wirklichkeit oder Gestaltung gebracht wird«60. Sie repräsentiert die Erscheinung der absoluten Identität als Schwerkraft oder als Grund des Seins. Die weiteren samothraktischen Gottheiten, Axiokersos sowie Kasmilos, symbolisieren die zweite und die dritte Potenz, also das Licht sowie den Menschen als Indifferenzpunkt.61 Alle drei Potenzen bzw. samothrakischen Götter in ihrer Abfolge fungieren als Darstellungen der absoluten Identität. Schelling bezeichnet letztere als »gegen die Welt freie[n] Gott«62, der über dem notwendigen Zusammenhang der Potenzentrias sei. Das Absolute – der überweltliche, freie Gott – hat auch hier den Status eines Mediums, in dem die samothrakischen Götter als eine von unten nach oben aufsteigende Kette bzw. – um den naturphilosophischen terminus technicus zu gebrauchen – als Kohärenz-Reihe kons-

56  Vgl.

Schelling, SW VIII, 351–354. Zu Schellings Begriff der Sucht vgl. Jörg Jantzen: Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person, in: »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Hrsg. v. Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni. Berlin 2004, 215–225. 57  Schelling, SW VIII, 229. Vgl. Schelling, SW VIII, 361: »Das Tieffste Ceres, deren Wesen Hunger und Sucht, und die der erste entfernteste Anfang alles wirklichen Seyns ist.« 58  Schelling, AA I,10, 144. 59  Schelling, SW VIII, 361. 60  Schelling, SW VIII, 355. 61  Vgl. Schelling, SW VIII, 361. 62  Schelling, SW VIII, 361.

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truiert werden.63 Der wissenschaftliche Begriff dieses Göttersystems baut auf der philologischen Rekonstruktion der Bedeutung der Götternamen auf und beschreibt deren Abfolge als eine unauflösliche Verkettung bzw. mit Anspielung auf das naturphilosophische Phänomen des Magnetismus, der von Schelling als Kohärenz gedeutet wird, als »magisch Vereinigte«64, die sich am Ende – in der Gestalt des Mittlers – in Indifferenz auflösen. Doch worin besteht das Ursystem der Menschheit, welches durch die samothrakische Götterlehre repräsentiert wird und auf dessen Erschließung der Akademievortrag zielt? Schelling selbst beschreibt es als »Darstellung des unauflöslichen Lebens selbst, wie es in einer Folge von Steigerungen vom Tiefsten ins Höchste fortschreitet, Darstellung der allgemeinen Magie und der im ganzen Weltall immer dauernden Theurgie, durch welche das Unsichtbare ja Ueberwirkliche unablässig zur Offenbarung und Wirklichkeit gebracht wird«65. Dieses Ursystem besteht nicht aus einzelnen, inhaltlich beschreibbaren Systemteilen, einem Aggregat oder aus Dingen. Es symbolisiert die religionsgeschichtliche Herausbildung des Raums oder Mediums, in dem alle Symbolisierungen und Konstruktionen erfolgen.66 Das allein ist das Unsichtbare und Überwirkliche, welches unablässig zur Offenbarung und Wirklichkeit kommt, von dem in der eben zitierten Stelle die Rede war. Blickt man von diesem Resultat noch einmal zurück auf das Ende von Schellings eingangs bereits erwähntem Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt aus dem Jahre 1802, in dem der Ceres-Mythos zur Darstellung eines inneren Stufengangs der Seele herangezogen wurde, in dem diese zur Läuterung gelangt, dann lassen

63  Vgl. hierzu

Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I,10, 153–157. Zur Verbindung der Begrifflichkeiten von Kohärenz und Verkettung vgl. ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 428. 64  Schelling, SW VIII, 367. Zur Bedeutung des Magnetismus für die Konstruktion in den Weltaltern vgl. auch Lanfranconi, Krisis, 214–222. 65  Schelling, SW VIII, 368. 66  Vgl. hierzu Ziche, Passive Wissenschaft, 132: »Es geht dann [sc. in der von Schelling behaupteten Erkenntnis der Dinge an sich, wie sie u. a. in seiner Kritik an in der Kantischen und Fichteschen Erkenntnistheorie in SW VII, 63f. geltend gemacht wird] nicht mehr um eine Pluralität von Dingen an sich, sondern um das nur anschaulich zugängliche In-Einheit-Sehen; das Ding an sich ist kein Ding, sondern – genau wie in der Methode der Konstruktion – das umfassende Worin des Erkennens.«

Überlegungen zum Systembegriff in Schellings Akademie­vortrag

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sich die vorgetragenen Überlegungen noch etwas genauer fassen. Von Ceres, die die Seele symbolisiert, wird hier gesagt, das erste, »was sie erfährt«, sei »Sehnsucht«67. Erläutert wird das mit dem Hinweis, die Natur, um »den Abdruck des unsterblichen Wesens zu empfangen«, sei notwendig »zugleich das Grab der Vollkommenheit«68. Die Entzogenheit der Vollkommenheit führt dazu, dass Ceres mit einer am flammenden Berg entzündeten Fackel die Erde in »alle[n] Tiefen und Höhen« durchforscht, aber – wie der Autor hinzusetzt – »umsonst«69. Die Erforschung der Natur durch die Wissenschaft, die hier durch Ceres symbolisiert wird, repräsentiert die zweite Stufe auf dem Weg der Seele zu ihrer Läuterung. »[A]llein die allsehende Sonne offenbart den Hades als den Ort, der das ewige Gut vorenthält. Die Seele«, so Schelling den Gedankengang abschließend, die Seele, »welcher diese Offenbarung widerfährt, geht zur letzten Erkenntniß über, sich zum ewigen Vater zu wenden: die unauflösliche Verkettung zu lösen, vermag auch der König der Götter nicht, aber er verstattet der Seele, sich des verlorenen Guts in den Bildungen zu freuen, welche der Strahl des ewigen Lichts durch ihre Vermittlung dem finsteren Schooß der Tiefe entreißt.«70 Die hier im mythologischen Bild dargestellte Läuterung der Seele beschreibt nichts anderes als die identitätsphilosophische Konstruktion der Natur im Medium des als absolute Identität gefassten Absoluten. Dieses ist selbst nicht darstellbar, wohl aber erscheint das verborgene Gut – die absolute Identität – in ihrem Fackellicht in den Bildungen.71 Ebenso bleiben in dem 14 Jahre später gehaltenen Kabirenvortrag alle Darstellungen des Unsichtbaren an die unauflösliche Verkettung der Potenzen gebunden, die selbst der König der Götter nicht lösen kann. Das Überwirkliche erscheint lediglich indirekt in seinen symbolischen Darstellungen. Eben diese Erkenntnis setzt jenen Läuterungsprozess der Seele voraus, in dem diese aller Persönlichkeit und Individualität abstirbt, um sich als Allgemeinheit inne zu werden. Diesen Prozess der Selbsterfassung der Seele symbolisiert das Kabirensystem. Auf den zuletzt angedeuteten praktischen Sinn der Lehre der Kabiren weist Schelling am Ende seines Vortrags selbst hin, indem er zunächst die von ihm 67 

Schelling, SW V, 124.

68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd.

71 Ziche,

Die »eine Wissenschaft der Philosophie«, 220.

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Christian Danz

vorgebrachte Interpretation von dem alten Kultus unterscheidet,72 und sodann bemerkt, „die Einweihung in die Geheimnisse“ hätten „mehr die Absicht, sich für Leben und Tod den höheren Göttern zu verbinden, als Aufschluß über das Weltall zu erhalten“73. Den Prozess einer Läuterung der Seele, der die Grundlage einer allgemeingültigen Wissenschaft darstellt, hat jeder für sich selbst durchzumachen. In seinem Briefwechsel mit Cotta hat Schelling seine Abhandlung über die samothrakischen Gottheiten als »Gegenstück meiner früheren akademischen Abhandlung« Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur aus dem Jahre 1807 bezeichnet.74 Nicht zu Unrecht, da auch diese Akademierede anhand der Geschichte der Malerei einen gestuften Läuterungsprozess der Seele beschreibt. »Wir haben gesehen, wie aus der Tiefe der Natur das Kunstwerk emporwachsend mit Bestimmtheit und Begrenzung anhebt, innere Unendlichkeit und Fülle entfaltet, endlich zur Anmuth sich verklärt, zuletzt zur Seele gelanget: aber getrennt mußte vorgestellt werden, was in dem Schöpfungsakt der zur Reife gediehenen Kunst nur Eine That ist.«75

72 Vgl. Schelling, SW VIII, 368: »In diesen Ausdrücken [sc. wie von Schelling in dem Vortrag rekonstruiert] freilich wurde sie [sc. die Lehre der Kabiren] dort, in Samothrake, schwerlich vorgetragen«. 73 Ebd. 74  Brief F. W. J. Schellings an J. F. Cotta vom 8. August 1815, in: Schelling und Cotta. Briefwechsel 1803–1849, 98. 75  Schelling, SW VII, 321–323.

IV. DAS SYSTEM DER ABSOLUTEN REFLEXION BEI GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

Philipp Schwab Vom Prinzip zum Indefiniblen. Schellings Systembegriff der Weltalter und der Erlanger ­Vorlesung im Lichte der Auseinandersetzung mit Hegel Am 28. Mai 1821 meldet Hegels Schüler Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs dem Meister nach Berlin: »Aus einem Briefe von Erlangen weiß ich, daß Schelling sehr polemisch gegen uns verfährt. – Schade für ihn! –«.1 Diese Äußerung ist für die insgesamt fast 50 Jahre umspannende ›Auseinandersetzung‹ zwischen Schelling und Hegel in gewisser Weise charakteristisch. Worauf genau sich nämlich Hinrichs bezieht, ist durchaus unklar. Um kurz den historischen Kontext einzuholen: Schelling, seit 1806 in München weilend, hatte mit königlichem Reskript vom 5. Oktober 1820 die Bewilligung erhalten, »künftig an der Universität zu Erlangen wohnen zu dürfen« – übrigens unter »Fortbezug des bisherigen Gehaltes von 3000 fl. jährlich«2 durch die beiden Akademien in München und ohne feste Lehrverpflichtung; mithin, wie er seinem Bruder durchaus zufrieden mitteilt, »völlig frei [...], berechtigt zu lesen und nicht zu lesen«.3 Schelling reist Ende November 1820 nach Erlangen und lässt sich nach eigenem Bericht »durch Anhalten und Bitten vieler Studierender, an die sich selbst Professoren angeschlossen, be1  Brief

von Hinrichs an Hegel, Heidelberg, 28.5.1821, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. 2. Aufl., Hamburg 1961. Bd. 2, 265. Im Folgenden zitiert als »Hegel, Briefe«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 2  Personalakt Schelling. Archiv der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, A2/1 Nr. S 191, 1v. Die Transkription der zitierten Materialien zum Hintergrund von Schellings Erlanger Vorlesung stammt von Alexander Bilda (Freiburg). 3  Brief von Schelling an Karl Eberhard Schelling, München, Anfang Oktober 1820, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Aus Schellings Leben. In Briefen. 3 Bde. Hrsg. v. Gustav Leopold Plitt. Leipzig 1869f. Bd. 2, 444f. Im Folgenden zitiert als »Plitt«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl.

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wegen, noch im Januar einen philosophischen Cursus anzufangen, wenigstens um meinen guten Willen zu zeigen.«4 Dieser ›Cursus‹, mit dem Schelling erstmals seit knapp 15 Jahren wieder eine universitäre Lehrtätigkeit aufnimmt, ist die Vorlesung Initia philosophiae universae, die Schelling vom 4. Januar bis zum 31. März 1821 hält – im Übrigen die einzige längere Vorlesung in Erlangen, an die sich nur noch drei kurze ›Sommerkurse‹ von 4–12 Stunden anschließen, jeweils etwa Ende August 1821, 1822 und 1823.5 Zum Zeitpunkt von Hinrichs’ Brief befand sich Schelling seit drei Wochen zur Erholung in Karlsbad;6 die Bemerkung kann mithin allein auf die Initia oder Äußerungen Schellings in ihrem nahen zeitlichen Umfeld verweisen. Nun findet sich aber in den durchaus zahlreichen Dokumenten zu dieser Zeit – allem voran Schellings eigenem Vorlesungsmanuskript, zwei Nachschriften und dem Auszug der Sämmtlichen Werke, sodann einer ganzen Reihe von Hörer- und Zeitungsberichten – der Name Hegels nicht ein einziges Mal. Gewiss lassen sich einige Partien der ersten Vorlesung in Erlangen möglicherweise auf Hegel beziehen. So gibt es dort wenige und knappe Bemerkungen zur ›Dialektik‹, die aber in den früheren Weltalter-Fragmenten noch wesentlich umfänglicher und kritischer ausgefallen waren.7 Auch findet sich etwa in Schel4 

Brief von Schelling an Schlichtegroll, Erlangen, 5.5.1821, Biblioteka Jagiello  nska ´ Krakau. Sammlung Autographa: Schelling, F. W. J.(ehemals Preußische Staatsbibliothek zu Berlin), 1r. 5  Vgl. zu den hier angezeigten Zusammenhängen und Hintergründen zukünftig ausführlicher den editorischen Bericht und die Materialien in Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesungen WS 1820/21, in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff., Abt. II, Bd. 10,1–2. Im Folgenden zitiert als »Schelling, AA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 6  Schelling reist am 6. Mai nach Karlsbad und kehrt am 11. Juni nach Erlangen zurück. Vgl. August von Platen: Die Tagebücher des Grafen August von Platen. Aus der Handschrift des Dichters. 2 Bde. Hrsg. v. Georg von Laubmann/Ludwig von Scheffler. Stuttgart 1896/1900. Bd. 2, 454, 463. 7  Vgl. im Auszug des Sohnes, der auf Schellings Manuskript und zwei nicht erhaltenen Nachschriften basiert: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke. 14 Bde. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. IX, 214, 239. Im Folgenden zitiert als »Schelling, SW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Vgl. auch in der Nachschrift Enderleins: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1969, 56, 116. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Initia«. Die polemischste Partie lautet: »Dieses Geschäft ist eigentlich das der bloßen Dialektik, welche keineswegs die Wissenschaft selbst, wohl aber die Vorbereitung zu ihr ist.« (Schelling, SW IX, 214) Alle diese Partien sind in der ausführlicheren Polemik der

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lings Stichworten zur ersten Vorlesungsstunde die folgende kryptische Notiz zur Entwicklung der philosophischen Systeme in »unsrer Zeit«: »Während alle andern p – keine Fortschritte (Berlin). Babel«.8 Diese Partie ist allerdings in den Nachschriften nicht dokumentiert oder gar weiter ausgeführt. Im Ganzen betrachtet kann jedenfalls von einer ausführlichen und expliziten Polemik gegen Hegel in den Initia keineswegs die Rede sein. Erstmals in Vorlesungen ausdrücklich zu Hegels Philosophie hat sich aber Schelling offenbar in einem der genannten ›Sommerkurse‹ geäußert, nämlich in der Einleitung in die Philosophie mit Schwerpunkt Geschichte der neueren Philosophie vom Sommer 1822. Auch hier ist aber nur ein kurzes und nicht sehr weit gehendes Exzerpt überliefert, das Schellings Sohn in Manuskripte zur Geschichte der neueren Philosophie aus der späteren Münchener Phase einmontiert hat9 – dies übrigens gemäß der Weisung seines Vaters, aus dem entsprechenden, heute nicht mehr erhaltenen Erlanger Manuskript »höchstens Einzelnes historisch zu benützen.«10 Diese problematische Überlieferungslage der Erlanger Zeit kann, wie eingangs bemerkt, für weite Teile der ›Auseinandersetzung‹ zwischen Schelling und Hegel als exemplarisch gelten. Zu einem ausführlichen wechselseitigen ›Streit‹ kommt es nämlich an keiner Stelle. Gerade in den entscheidenden Perioden der ›Entzweiung‹ beider Denker nach ihrer eher kurzen Zusammenarbeit in den Jahren 1801–1803, des ›Bruchs‹ um 1807 und der darauf folgenden impliziten Kritik finden sich kaum ausdrückliche Bezugnahmen auf den jeweils anderen; der kritische ›Austausch‹ ist auf wenige Briefzeilen beschränkt.11 Erst nach dem Tode Hegels 1831 erscheinen Texte, die explizite Auseinandersetzungen der ehemaligen ›Bündnispartner‹ enthalten, und selbst diese sind großteils Kompilationen von zweiter Hand, deren Authentizität doch wenigstens

Weltalter bereits abgedeckt. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hrsg. v. Manfred Schröter. München 1946, 5f., 8f., 113–115, 117f., 191, 206–208. Im Folgenden zitiert als »Schelling, WA«. Vgl. auch ders., SW VIII, 201f., 205f. Vgl. dazu unten, 2.a). 8  Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Nachlass Schelling 103, 5. Vgl. zukünftig Schelling, AA II,10,1. 9  Vgl. Schelling, SW X, 161–164. 10  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Übersicht meines künftigen handschriftlichen Nachlasses [1853], in: Horst Fuhrmans: Dokumente zur Schellingforschung IV. Schellings Verfügung über seinen literarischen Nachlaß, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 14–26, hier 15. 11 Vgl. Brief von Hegel an Schelling, Bamberg, 1.5.1807, in: Hegel, Briefe 1, 162; Brief von Schelling an Hegel, München, 2.11.1807, in: Hegel, Briefe 1, 194.

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fraglich ist.12 Diese unklare Quellenlage mag ein Grund dafür sein, dass dem Verhältnis ›Schelling – Hegel‹ bemerkenswert selten größere Untersuchungen gewidmet worden sind.13 Gleichwohl sieht sich die Interpretation nicht auf bloße Mutmaßungen verwiesen. Vielmehr lässt sich der gewissermaßen ›verhinderte Dialog‹ zwischen Schelling und Hegel sachlich rekonstruieren. In den schmalen expliziten Bezugnahmen der früheren Zeit sind die systematischen Zentralmotive der ›Auseinandersetzung‹ doch erkennbar, obschon knapp markiert. Diese lassen sich zu den jeweils zeitnahen Hauptschriften beider Denker in ein Verhältnis setzen; und von dort her wiederum lassen sich die Linien zu späteren Texten ausziehen, wie dies im Folgenden beispielhaft für Schellings Denken der Jahre 1811–1821 skizziert werden soll. Im Hintergrund steht dabei die leitende These, dass das systematische Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Schelling und Hegel im Begriff der Differenz liegt.14 Beide Denker nämlich gehen 1801 zunächst gemeinsam von dem Gedanken aus, die Grundlegung einer Phi12  Dies

gilt etwa gleichermaßen für Schellings Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, für die erstmals 1836 erschienene Schelling-Darstellung in Hegels Geschichte der Philosophie (die aber wohl in zentralen Stücken auf einer Jenaer Vorlesung von 1805/06 basiert) und für die Hegel-Kritik in Schellings erster Berliner Vorlesung. Vgl. Schelling, SW X, 126–164. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl-Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969–1971. Bd. 20, 420–454. Im Folgenden zitiert als »Hegel, TWA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung. 1841/42. Hrsg. v. Manfred Frank. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1993, 121–139. Im Folgenden zitiert als »Schelling, Offenbarung«. Eine Ausnahme bildet die zwar knappe, aber zeitgenössisch folgenreiche Hegel-Kritik in Schellings Vorrede zur Cousin-Schrift von 1834. Vgl. bes. Schelling, SW X, 212f., vgl. auch ders., SW X, 214f., 223. 13 Vgl. aus der jüngeren Forschung bes. Paul Ziche: Mathematische und naturwissenschaftliche Modelle in der Philosophie Schellings und Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; Franck Fischbach: Du commencement en philosophie. Étude sur Hegel et Schelling. Paris 1999; Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels »Phänomenologie des Geistes« und Schellings »Freiheitsschrift«. Paderborn/München 2006; Christopher Lauer: The Suspension of Reason in Hegel and Schelling. London 2010. Kürzlich hat Schmied-Kowarzik eine einführende Gesamtdarstellung Schellings vorgelegt, die der Auseinandersetzung mit Hegel große Bedeutung beimisst. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk. Freiburg/München 2015, hier bes. 182–196, 232–237, 250–255. 14  Vgl. zur ›Differenz‹ als Zentrum der Debatten der Klassischen deutschen Philosophie ausführlicher v. Verf.: A = A. Zur identitätslogischen Systemgrundlegung bei Fichte, Schelling und Hegel, in: International Yearbook of German Idealism 12 (2017), 261–288. Im Folgenden zitiert als »v. Verf., A = A«.

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losophie des Absoluten könne allein in dem Prinzip ›absoluter Identität‹ gelingen. Ihr ›Bündnis‹ entzweit sich dann aber sukzessive über der Frage, wie genau die Differenz im Verhältnis zu dieser absoluten Identität zu fassen sei – und diese ›Frage nach der Differenz‹ bleibt, so die These, auch für die späteren Phasen der Auseinandersetzung bestimmend. In dieser Perspektive wird das Verhältnis Schellings und Hegels lesbar als Abfolge wechselseitig sich zu überbieten suchender Entwürfe, eine Philosophie des Absoluten aus einer Theorie der Differenz zu gewinnen.15 Für die folgenden Überlegungen entscheidend ist es dabei, dass beide Denker im Verlauf der ›Debatte‹, von der Frage nach der Differenz bewegt, den Gedanken eines unmittelbar-ersten und systemkonstituierenden Prinzips auflösen – und sich damit in je eigener Weise von der prominentesten Erstbegründungsoption des Früh­ idealismus distanzieren. Im Konkreten soll nun gezeigt werden, dass Schelling aus dem ›Streit‹ und ›Bruch‹ mit Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes 1807 manifest wird, einen wesentlichen Impuls oder Anstoß in die Phase seiner Weltalter-Philosophie und die Erlanger Periode mit hinübernimmt – nämlich eben die kritische Ablösung eines erstbegründenden, vor dem System ausweisbaren Prinzips reiner Identität. Dabei soll aber zugleich sichtbar werden, dass Schelling keineswegs Hegel folgt, sondern eine gänzlich eigenständige Konzeption des Anfänglichen entwickelt. An die Stelle des begründenden Prinzips rückt bei Schelling sukzessive immer deutlicher der spannungsreiche Gedanke eines kons­ tituierenden Entzugs,16 der als solcher die Dynamik der Bewegung des Systems freisetzt – so insbesondere unter den Titeln des ›Ungrunds‹ und des ›Indefiniblen‹. Eben dadurch wird das tendenziell statische, an Paradigmen der Geometrie orientierte Modell prinzipientheoretischer Erstfundierung abgelöst, das noch Schellings Identitätsphilosophie dominiert. Eingrenzend sei dazu bemerkt, dass Schellings Denkbewegung freilich keineswegs so verstanden werden soll, als sei sie allein, sozusa15  Dass

in dieser Perspektive einige Implikationen für das Verhältnis des ›deutschen Idealismus‹ zum Denken des 20. Jahrhunderts liegen, sei nur nebenbei angemerkt. 16  Vgl. zu diesem Motiv in verschiedenen Hinsichten und Kontexten Dirk Quad­ flieg: Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida. Bielefeld 2007, 160; Markus Gabriel: Die Welt als konstitutiver Entzug, in: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Hrsg. v. Joachim Bromand/Guido Kreis. Berlin 2010, 85–100; Matthias Flatscher: Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein. Freiburg/München 2011, bes. 327–332.

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gen ›monokausal‹, durch den Streit mit Hegel initiiert und bestimmt; vielmehr gilt es allein einen, allerdings doch zentralen Zug in Schellings Denken gleichsam herauszupräparieren, der wesentlich auf diese ›implizite Debatte‹ verweist. Die Einlösung dieser These bedarf eines gewissen Vor- oder Anlaufs. Gerade um Schellings Ablösung des Prinzipiengedankens als ein ›langes Echo‹ des Bruchs mit Hegel sichtbar zu machen, ist in einem ersten Teil zunächst auf den Prinzipiengedanken selbst sowie auf die frühen Konstellationen zwischen Schelling und Hegel einzugehen, wenigstens in schematischen Grundzügen.17 Vor diesem Hintergrund wird sich im zweiten Teil, der die Linien zu den Weltaltern und den Erlanger Initia verfolgt, eine Kontinuität und Fortschreibung des Disputs unmittelbar ergeben.

1. Das Prinzip des Systems und die Auseinandersetzung ­zwischen Schelling und Hegel bis 1810 a) Die prinzipientheoretische Aporie Der von Fichte und dem frühen Schelling geteilte Gedanke, dass es zur Konstitution der Philosophie als Wissenschaft eines »absolut­ersten« und »schlechthin unbedingten« Prinzips oder »Grundsaz[es]« 18 bedürfe, markiert den Einsatz der Klassischen deutschen Philosophie nach Kant im engeren Sinne.19 Dabei besteht die Funktion dieses ersten und fun17 

Die Darstellung beschränkt sich auf eine Anzeige derjenigen Aspekte, die zum Verständnis des Folgenden unerlässlich sind. Einzelnes ist an anderer Stelle eingehender erörtert. Vgl. zur frühen Konstellation bis 1801 v. Verf., A = A. Vgl. zur Konfrontation um 1807 v. Verf.: Von der Negativität zum Ungrund. Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift, in: Systembegriffe nach 1800–1809. Systeme in Bewegung. Hrsg. v. Violetta L. Waibel/Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2018, 131–155. Im Folgenden zitiert als »v. Verf., Negativität«. Vgl. zu Schellings Identitätsphilosophie bis 1810 v. Verf.: »Uebergang von Identität zu Differenz«. Die Bestimmung des Systemprinzips in den Stuttgarter Privatvorlesungen vor dem Hintergrund von Schellings Denkentwicklung seit 1801, in: System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings »Stuttgarter Privatvorlesungen«. Hrsg. v. Lore Hühn/ders. Freiburg/München 2014, 35–70. Im Folgenden zitiert als »v. Verf., Uebergang«. 18  Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff., Abt. I, Bd. 2, 255. Im Folgenden zitiert als »Fichte, GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 19 Vgl. bei Fichte bes. GA I,2, 44, 114f., 120f.; vgl. bei Schelling bes. AA I,1, 265, 273; AA I,2, 69–80, 87.

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dierenden Prinzips vornehmlich darin, die Einheit und die Geschlossenheit des Systems der Philosophie zu sichern.20 Hat dieser Ansatz der Fundierung aus einem Prinzip in systemtheoretischer Hinsicht zunächst einen hohen Grad an Evidenz, so führt er zugleich eine sachliche Schwierigkeit mit sich. Einerseits muss nämlich dem ersten Prinzip aufgrund seiner Bestimmung als ›Fundament‹ und Einheitsgarant des Systems offenkundig reine Identität zukommen. Gäbe es mehrere erste Prinzipien oder bestünde das eine erste Prinzip aus mehreren unterschiedenen Elementen, dann bliebe die Grundlegung und Ableitung des einen und in sich einheitlichen Systems zweifelhaft; auch müsste stets weiter nach einem ›Höheren‹ gefragt werden, das die Einheit dieser im Prinzip unterschiedenen Aspekte verbürgte. Andererseits aber lässt gerade die reine, fugenlose Identität des Prinzips es wenigstens fraglich erscheinen, wie es überhaupt etwas anderes als nur sich selbst, wie es also Differenz, und damit das System, soll begründen können. Anders gefasst: Kommt dem konstituierenden Prinzip reine Identität zu, und nichts weiter, so bleibt unklar, wie ein Prinzipiiertes, ein Begründetes aus ihm abzuleiten oder von ihm her zu bestimmen sein soll. Wird nämlich die Differenz oder das Differente in das Prinzip selbst gesetzt, so droht es als ›einigendes‹ und identisches aufgehoben zu werden; hat aber die Differenz schlechthin jenseits des Prinzips ihren Ort, dann steht sein Allein- und Erstbegründungsanspruch in Frage. Dabei verweist diese Zweiseitigkeit, die als ›prinzipientheoretische Aporie‹ bezeichnet werden kann, keineswegs auf einen korrekturbedürftigen ›Fehler‹; vielmehr handelt es sich offenkundig um ein Sachproblem, das im Gedanken eines fundierenden Prinzips überhaupt liegt. Die benannte Aporie lässt sich bereits Fichtes Konstellation der drei Grundsätze von 1794 ablesen – sofern diese im Sinne eines prinzipientheoretischen Grundlegungsanspruchs interpretiert wird.21 Unter dieser Perspektive erscheint Fichtes früher Ansatz, schematisch dargestellt, zunächst folgendermaßen: Das Prinzip der Philosophie kann – wie auch wenig später für Schelling – nur im ›absoluten Ich‹ liegen; allein diesem 20  Vgl.

bei Fichte z. B. GA I,2, 114; vgl. bei Schelling z. B. AA I,2, 85f. eine solche Interpretation, die hier freilich nur skizziert werden kann, spricht neben zentralen Partien von Fichtes Text selbst insbesondere auch der Kontext, namentlich Fichtes erstmals in der Aenesidemus-Rezension formulierter Anspruch, Reinholds ›Satz des Bewusstseins‹ durch einen ›höheren‹ Grundsatz zu fundieren (vgl. Fichte, GA I,2, 45, 48, 57, 64f.). Vgl. auch die in den vorherigen Anm. genannten Stellen aus Fichtes Programmschrift (v. a. §§ 1 u. 2), die doch recht unzweideutig einen prinzipientheoretischen Grundlegungsanspruch formulieren. 21  Für

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kommt reine Identität zu, namentlich Identität von Setzen und Sein, von Form und Gehalt, von Erkennendem und Erkanntem, dies alles ununterscheidbar in der unmittelbaren Selbsterkenntnis intellektueller Anschauung.22 In der entscheidenden Frage nach der Differenz besteht Fichtes Lösung 1794 darin, neben oder nach dem ersten absoluten Akt, in dem das Ich sich selbst setzt, einen zweiten, sozusagen ›teilweise‹ (nämlich allein der Form nach) unbedingten Akt auszuweisen: die absolute Entgegensetzung des Nicht-Ich, die, wie Fichte eigens hervorhebt, nicht vollständig aus der Selbstsetzung abzuleiten ist.23 Da aber diese Entgegensetzung einen Widerspruch produziert, sofern absolut gesetztes Ich und absolut entgegengesetztes Nicht-Ich sich beständig wechselseitig aufheben, wird ein dritter Akt notwendig, der Ich und NichtIch quantitativ teilbar und damit zugleich als begrenzt setzt.24 In dieser – freilich noch hochgradig erläuterungsbedürftigen – Kons­ tellation liegen bereits all jene Motive versammelt, die im weiteren Verlauf der Klassischen deutschen Philosophie die Debatten bestimmen werden, namentlich die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Hegel. Im vorliegenden Kontext sind vor allem zwei ineinander verschränkte Spannungsfelder bedeutsam,25 die durch den Prinzipiengedanken selbst unmittelbar aufgeworfen werden: Erstens ist klärungsbedürftig, warum und wie genau das Prinzip (hier: das Ich) dazu kommt, aus sich herauszugehen oder sich etwas entgegenzusetzen. In seiner reinen Identität selbst liegt dazu offen22  Vgl. Fichte, GA I,2, 259–261. Zwar fällt der Begriff der ›intellektuellen Anschauung‹ in der Grundlage selbst nicht, er findet sich aber prominent in der AenesidemusRezension (vgl. die vorherige Anm.). Ohne diese Bestimmung ist weder Fichtes Begriff des ›Für-sich-Seins‹ in den Schritten 7–10 von § 1, noch seine Abweisung der Frage »was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtseyn kam?« erklärbar (Fichte, GA I,2, 260). Vgl. zum Begriff Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94–1801/02. Stuttgart 1986, bes. 165f. 23  Vgl. Fichte, GA I,2, 264–267. 24  Vgl. Fichte, GA I,2, 268–271. 25  Ein dritter Fragebereich betrifft den Status desjenigen, das der Identität entgegensetzt wird. Zwar ist das Entgegensetzen des Nicht-Ich als solches unbedingt, zugleich aber sind das Entgegensetzen und sein Produkt auch dreifach durch das Ich und sein Selbstsetzen bedingt: Das Entgegensetzen als solches ist allein durch ein vorheriges ›Setzen‹ möglich; sodann ist das Nicht-Ich durch das Ich gesetzt, insofern selbst ›passiv‹, und zugleich ist es seiner Bestimmung nach die bloße Negation des Ich, eben das Nicht-Ich. Hier wird der Ausgangspunkt für die erste Debatte zwischen Fichte und Schelling liegen – indem Schelling bekanntlich der ›Passivität des NichtIch‹ die ›Produktivität der Natur‹ entgegenstellen und ihr mit der Naturphilosophie eine eigene Wissenschaft zuweisen wird (vgl. u.).

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bar keine Notwendigkeit. Dass diese Frage von entscheidender Bedeutung ist, braucht keineswegs von außen an Fichte herangetragen zu werden. Vielmehr benennt dieser selbst in einem Brief an Reinhold die »Hauptfrage« der Wissenschaftslehre folgendermaßen: »Wenn das Ich ursprünglich nur sich selbst sezt, wie kommt es denn dazu, noch etwas anderes zu setzen, als ihm entgegengesezt? aus sich selbst herauszugehen?«26 Die zweite Spannungsebene zeigt sich im Blick auf die Struktur der drei Sätze im Ganzen. Vom Ergebnis her betrachtet erweisen sich nämlich nicht der erste und der zweite Grundsatz als gleichrangig; vielmehr sind der zweite und der dritte Grundsatz gleichursprünglich. In diesem Sinne ist Fichtes Gefüge der Grundsätze entschieden nichtlinear; vielmehr wird rückwirkend der zweite Grundsatz durch den dritten modifiziert: Zugleich mit der Setzung des Nicht-Ich (2. Grundsatz) müssen Ich und Nicht-Ich als teilbar gesetzt werden (3. Grundsatz), um die Einheit der Grundlegungsfigur nicht aufzuheben; dies betont Fichte ausdrücklich.27 Mit dieser ›Vermeidung‹ eines harten Widerspruchs zwischen Ich und Nicht-Ich aber entsteht eine neuerliche Spannung, indem sich nämlich der Begriff des Ich verdoppelt: Von dem absoluten, »untheilbar[en]« Ich ist ein dem Nicht-Ich entgegensetztes, »einschränkbare[s]« und endliches Ich zu unterscheiden.28 Eine Spannung besteht mithin zwischen dem absoluten Ich als Prinzip einerseits – und der quantitativen Relation von begrenztem Ich und begrenztem Nicht-Ich andererseits. In Fichtes Text der Paragraphen 1–3 ist nämlich eine rückwirkende Modifikation auch des ersten Grundsatzes durch die beiden folgenden nicht nachzuweisen, die auch prinzipientheoretisch fragwürdig wäre. Vielmehr erscheint die »absolute Thesis« des ersten Grundsatzes29 dem im dritten Grundsatz erreichten Verbindungsgefüge von Antithesis und Synthesis gleichsam enthoben. Diese prinzipientheoretische Aporie verschiebt sich in den folgenden Jahren in mehreren Konstellationen – so bereits in § 5 der Grundlage selbst, formuliert doch Fichte hier die These, es müsse »schon ursprünglich im Ich selbst eine Verschiedenheit seyn«,30 die er als Duplizität von

26 

Brief von Fichte an Reinhold, Oßmannstedt, 2.7.1795, in: Fichte, GA III,2, 345. die ausführliche Erläuterung in Fichte, GA I,2, 270f., wo es u. a. heißt: »So wie dem Ich ein Nicht-Ich entgegengesezt wird, wird demnach das Ich, dem entgegengesezt wird, und das Nicht-Ich, das entgegengesezt wird, theilbar gesezt«. 28  Fichte, GA I,2, 271. 29  Fichte, GA I,2, 276. 30  Fichte, GA I,2, 405. 27  Vgl.

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»centripetale[r] und centrifugale[r] Richtung der Thätigkeit« des Ich31 auszuweisen sucht. Gleichwohl ist die Frage nach der Vermittlung von prinzipiierender Identität und prinzipiierter Differenz nicht durchweg als Grundmotiv in den idealistischen Debatten bis 1801 präsent. Eben diese Frage steht dann aber im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Hegel und Schelling. Hier sind als unmittelbarer Hintergrund von Schellings Denkentwicklung ab 1811 zwei ›Knotenpunkte‹ bedeutsam, die es kurz anzuzeigen gilt: einerseits die vermeintlich ›gemeinsame‹ Positionierung Schellings und Hegels 1801 und andererseits der ›Bruch‹ beider um das Jahr 1807.

b) Schelling und Hegel um 1801 In der Konstellation um 1801 scheint sogleich der zentrale Streitpunkt zwischen Schelling und Hegel auf, er wird aber nicht als solcher ausdrücklich, und dies wohl vor allem aufgrund der gemeinsamen Abgrenzung von Fichte. Schelling hatte in den Jahren bis 1800 eine Trennung und Duplizität zweier gleichrangiger Grundwissenschaften entwickelt, der real-objektiven Naturphilosophie und der ideal-subjektiven Transzendentalphilosophie. Die erste Debatte innerhalb der Klassischen deutschen Philosophie beginnt nun damit, dass Fichte gegen diese ›Zweiheit‹ eben den transzendentalphilosophischen und prinzipientheoretischen Erstbegründungsanspruch des absoluten Ich einklagt: In diesem, als »dem ideal-realen, real idealen«, seien doch bereits die beiden von Schelling einander entgegengesetzten Bewegungen »unmittelbar vereinigt«; die Duplizität der Wissenschaften beruhe auf einer »Verwechselung«.32 Durch diese Kritik sieht sich Schelling offenbar dazu genötigt, umgehend eine eigene integrierende Konzeption der Einheit beider Wissenschaften vorzulegen – und dies soll die programmatische Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 leisten.33 Gegenüber dem Vorrang des Objektiven in der Naturphilosophie und dem Vorrang des Subjektiven in der Transzendentalphilosophie 31 

Fichte, GA I,2, 407. von Fichte an Schelling, Berlin, 15.11.1800, in: Schelling, AA III,2, 276. Fichte bezieht sich hier im Einzelnen auf Formulierungen aus der »Einleitung« zu Schellings System des transscendentalen Idealismus, vgl. bes. Schelling, AA I,9,1, 30f. 33  Vgl. dazu Schellings Erläuterungen zu Beginn der »Vorerinnerung«, Schelling, AA I,10, 109. Ob diese ›Grundlegung‹ gelingt, ist dabei durchaus fraglich, vgl. Sebastian Schwenzfeuer: Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schellingschen Naturphilosophie. Freiburg/München 2012. 32  Brief

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fasst Schelling nun 1801 – man kann beinahe sagen ›zwangsläufig‹ – die prinzipiierende »Vernunft [...] als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven«;34 und das »höchste Gesetz für das Seyn der Vernunft« ist dann das durch den Satz »A = A« ausgedrückte »Gesetz der Identität«.35 Bemerkenswert ist dabei das Folgende: Obschon das Systemprinzip in Schellings »absolute[m] Identitäts-System«36 1801 einen anderen ›Ort‹ einnimmt als im transzendentalen Idealismus, lehnt sich Schelling offenkundig systematisch in zweifacher Hinsicht an die frühere Gestalt der Systembegründung an. Einerseits ist auch das Prinzip der Identitätsphilosophie als ›Einheitsgarant‹ des Systems und mithin als seinem Wesen nach differenzfreie Identität verstanden. Entscheidender noch ist andererseits, dass auch die Lösung der ›Frage nach der Differenz‹ auf ein früheres Motiv zurückgreift, nämlich eine quantitative Bestimmung. Differenz ist für Schelling 1801 nicht im Wesen, sondern allein in der Form der Identität gegeben; auch in ihr aber besteht zwischen Subjekt und Objekt »kein Gegensatz«, vielmehr ist »keine andere, als quantitative Differenz« möglich – »so nämlich, daß zwar das Eine und gleiche Identische, aber mit einem Uebergewicht der Subjectivität, oder Objectivität gesezt werde.«37 Hegels Stellungnahme zu Schelling in der Differenzschrift 1801 erweist sich vor diesem Hintergrund als zutiefst ambivalent. Einerseits ergreift Hegel klar die Position Schellings im Disput mit Fichte; namentlich affirmiert er, dass Schelling dem ›subjektiven‹ Prinzip der Transzendentalphilosophie das ›objektive‹ Prinzip »in der Naturphilosophie entgegengestellt, und beyde in einem höhern, als das Subjekt ist, vereinigt« habe.38 Andererseits aber weicht Hegels Bestimmung des Systemprinzips selbst, obschon unausdrücklich, deutlich von Schellings Identitätsbegriff ab. Dabei bezeichnet nun in der Tat die ›Differenz‹ bzw. ›Nicht­ identität‹ den Unterschied. Gerade im Abschnitt »Vergleichung des Schelling’schen Princips der Philosophie mit dem Fichte’schen« – und damit doch wohl eigentlich im Blick auf Schellings Identitätsbegriff – steht die folgende, bekannte Partie: »So gut die Identität geltend ge-

34 

Schelling, AA I,10, 116. Schelling, AA I,10, 118. 36  Schelling, AA I,10, 115. 37  Schelling, AA I,10, 124f. 38  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg 1968ff. Bd. 4, 7. Im Folgenden zitiert als »Hegel, GW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 35 

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macht wird, so gut muß die Trennung geltend gemacht werden [...]. Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einsseyn ist zugleich in ihm.« 39 Gegenüber der nachgeordneten, quantitativen Differenz in Schellings Darstellung wird hier eine deutlich stärkere Akzentuierung der ›Nicht­ identität‹ greifbar: Sie ist mit der Identität gleichursprünglich; Identität ist überhaupt nur als Relation von Identität und Nichtidentität – und damit durchaus nicht als wesenhaft ›reine‹ Identität. Diese Konzep­ tion stützen Partien des ersten Teils der Differenzschrift, in dem Hegel unter anderem in einer bemerkenswerten Auslegung den Identitätssatz als Antinomie begreift, die Identität und Differenz zugleich ausdrücke: »A = A enthält die Differenz des A als Subjekts und A als Objekts, zugleich mit der Identität, so wie A = B die Identität des A und B, mit der Differenz beyder.«40 Obschon sich bei Hegel 1801 durchaus noch die Rede von der absoluten Identität als »ächt[em] Princip der Spekula­ tion« findet,41 so ist doch der Sache nach hier bereits der Gedanke eines konstituierenden Prinzips reiner Identität aufgehoben.

c) Hegel und Schelling um 1807 Es ist dieser zunächst implizite Dissens in der Frage nach der Differenz, der unmittelbar zum Bruch zwischen Schelling und Hegel im Umfeld der Phänomenologie des Geistes 1807 führt. Hegels berühmte und oft zitierte, in ihren Hintergründen aber selten genauer ausgeleuchtete Polemik gegen ein »Absolutes« als »Nacht«, in der, »wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind«,42 zielt direkt auf eine Auffassung des Absoluten als unterschiedslose Identität. Dieser Kritik gegenüber erscheinen die bekannten Invektiven gegen die ›intellektuelle Anschauung‹ als nachgeordnet:43 Intellektuelle Anschauung wird von Hegel allein insofern kritisiert, als sie methodisch eine unterschiedslose Identität impliziere. In direkter Abgrenzung vom Begriff differenzfreier Identität skizziert sodann Hegel programmatisch seine eigene Auffassung, der gemäß die als Subjekt gedachte lebendige Substanz die »reine einfache Negativität« sei und eben damit – dies eine zentrale Bestimmung – die 39 

Hegel, GW 4, 64. Hegel, GW 4, 26. 41  Hegel, GW 4, 6. 42  Hegel, GW 9, 17. 43  Vgl. Hegel, GW 9, 12, 18. Vgl. hierzu ausführlicher v. Verf., Negativität. 40 

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unmittelbare »Entzweyung des Einfachen« oder die »sich bewegende Sichselbstgleichheit«.44 Das hegelisch gedachte Absolute ist mithin unmittelbar und unhintergehbar durch die Negativität strukturierte, bewegliche Einheit – und eben damit nicht mehr reine Identität, der die Differenz bloß nachgeordnet bliebe. Die im vorliegenden Kontext entscheidende Pointe dieses Ansatzes besteht darin, dass Hegel nun explizit den Gedanken eines ›einfachen‹ und ›unmittelbaren‹ Prinzips überhaupt zurückweist. Ist nämlich das »Wahre« allein »sich wiederherstellende Gleichheit«, nicht aber »ursprüngliche« oder »unmittelbare« Einheit,45 so ist für Hegel »ein sogenannter Grundsatz oder Princip der Philosophie, wenn es wahr ist, schon darum auch falsch [...], weil er Grundsatz oder Princip ist«.46 Der Fortgang des Systems sei deshalb die »Widerlegung« des Grundsatzes im Aufweis seines »Mangel[s]«; und »mangelhaft aber ist er, weil er nur das Allgemeine oder Princip, der Anfang, ist.«47 Mithin entwickelt Hegel seine ›Dialektik des Anfangs‹ unmittelbar aus der Kritik am idealistischen Prinzipiengedanken.48 Dabei buchstabiert er die Konsequenzen seiner früheren Analyse aus, der Identitätssatz A = A enthalte zugleich Identität und Nichtidentität – und hebe sich damit als ein ›absolut-erster‹ und einfacher Satz selbst auf. Sofern das Absolute durch die Negativität strukturierte Selbstvermittlung ist, kann es nicht angemessen in einem statischen ›ersten Satz‹ und überhaupt nicht als ›reine Selbstpräsenz‹ eines anfänglichen Prinzips begriffen werden. Dies richtet sich offenkundig gleichermaßen gegen eine frühidealistische Prinzipienbegründung in der Form Ich = Ich wie auch gegen das Prinzip absoluter Identität in der Identitätsphilosophie. Diese Abweisung eines ersten Prinzips reiner Identität als einer tendenziell statischen und abstrakten Gestalt der Systembegründung gibt nun, so die These, einen Impuls für Schellings Denken der folgenden Jahre, in denen dieser sukzessive eine eigenständige Auflösung des Prinzipiengedankens entwickeln wird. Schelling hat die Polemik Hegels wenigstens in Teilen auf sich selbst bezogen; so spricht er in seiner Antwort – dem letzten Brief zwischen beiden Denkern – doch recht drastisch von dem Punkt »verschiede44 

Hegel, GW 9, 18f. Hegel, GW 9, 18. 46  Hegel, GW 9, 21. 47 Ebd. 48 Vgl. die direkt folgenden Erörterungen zur »negative[n]« und »positiven Seite« der Widerlegung des Anfangs (ebd.). 45 

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ner Ueberzeugung oder Ansicht«, der sich »zwischen uns ohne Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen« würde.49 Erste und für das Folgende wichtige ›Nachwirkungen‹ aus dem Bruch mit Hegel lassen sich schon Schellings Freiheitsschrift von 1809 entnehmen. Zwar wird der Name Hegels hier nicht genannt; wenigstens rückblickend aber hat Schelling selbst bereits dieses Werk als Reaktion auf die Phänomenologie verstanden, spricht er doch 1835 in einem Brief an Beckers von dem »stillen Widerspruch« gegen Hegel, den schon die »Abhandlung über die Freiheit [...] deutlich genug zu erkennen gegeben hatte«.50 Schon in der Schrift von 1809 zeigt sich, dass Schelling zwar offenkundig Impulse Hegels aufnimmt, ihm aber in den systematischen Konsequenzen keineswegs folgt. Zunächst sieht sich Schelling offenbar dazu genötigt, schon in der einleitenden Diskussion des Pantheismus seinen Begriff der Identität – erstmals in seinem Werk – scharf von einer »Einerleiheit« abzugrenzen und vielmehr, durch die Bestimmung der »Copula«, als relationale, lebendige Identität auszuweisen.51 Dem entspricht es, dass die Hauptuntersuchung nicht mehr mit einem Begriff der Identität, sondern gerade mit einem Unterschied beginnt – mit der zentralen Unterscheidung »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist.«52 Diese Unterscheidung bestimmt Schelling zur dualen Differenz zweier Prinzipien als lebendiger Einheit fort, der Dualität von ›Prinzip des Grundes‹ und ›Prinzip des Verstandes‹.53 Hier greift zwar Schelling offenkundig auf frühere Konzeptionen zurück – etwa den Begriff des ›Bandes‹ aus dem sogenannten Anti-Fichte von 180654 –, verschärft sie aber im Abweis unterschiedsloser Identität. 49 

Brief von Schelling an Hegel, München, 2.11.1807, in: Hegel, Briefe 1, 194. Hier hebt Schelling vor allem auf den Begriff der ›intellektuellen Anschauung‹ ab, auf den er bis zum Schluss als zentralen Punkt des Dissenses zurückkommen wird. Vgl. hierzu v. Verf., Negativität. 50  Brief von Schelling an Beckers, München, 21.10.1835, in: Plitt 3, 113. Schelling macht hier einige Zusätze zu einem Manuskript von Hubert Beckers vor dem Druck. Dabei dürften die Partien im Haupttext des Briefes – wie die oben zitierte Passage – großteils direkt von Schelling stammen. Die (deutlich weniger gehaltvollen) Fußnoten hingegen hat wohl der Herausgeber Plitt nachträglich aus Beckers’ Schrift ergänzt, um den Kontext anzuzeigen. Vgl. hingegen die umgekehrte Darstellung in Schellingiana rariora. Hrsg. v. Luigi Pareyson. Turin 1977, 601f. 51  Schelling, SW VII, 341. 52  Schelling, SW VII, 357. 53  Vgl. Schelling, SW VII, 354f., 359, Anm., 361–368, 406, 411f. 54  Vgl. Schelling, SW VII, bes. 54–58. Vgl. dazu v. Verf., Uebergang, 44–46.

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Die differenz- wie auch prinzipientheoretisch entscheidende Neuerung der Freiheitsschrift aber zeigt sich dort, wo Schelling am »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung«55 nach demjenigen fragt, das der dualen Unterscheidung von Grund und Existierendem noch vorausgeht. Hier wäre nach früheren Systemkonzeptionen der Ort des Prinzips der Philosophie; und noch im Ansatz von 1806 findet sich an dieser Systemstelle ein Begriff unterschiedsloser Identität von Sein und Denken.56 Eben diese Bestimmung aber fällt in der Freiheitsschrift geradezu aus – und erstmals rückt an den Ort des systemkonstituierenden Ersten ein Element des Entzugs, der Ungrund. Im Vorblick insbesondere auf die Erlanger Vorlesung ist es bedeutsam, auch die Art und Weise der Einführung des Ungrundes zu beachten. Schelling gibt nämlich nicht eine einfache Bestimmung, sondern nähert sich dem Ungrund ›performativ‹ mit einem Satzabbruch und einer doppelten, sich selbst korrigierenden Frage: »Sie [die Liebe] ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen? [...] [W]ie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund?«57 Die ›Ungreifbarkeit‹ dieses entzogenen Ersten zeigt sich auch in den paradoxalen Formulierungen, die den Ungrund umschreiben: Er sei »nichts anderes [...] als eben das Nichtseyn« der »Gegensätze« und habe »darum auch kein Prädicat [...] als eben das der Prädicatlosigkeit«.58 Der Ungrund wird zwar auch mit dem identitätsphilosophischen Begriff der »Indifferenz« bezeichnet, er ist aber ausdrücklich nicht die »absolute Identität« von Grund und Existierendem – sondern »ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen«.59 Schelling rekurriert mithin durchaus auf Aspekte seines früheren Identitätsbegriffs, so insbesondere auf die Gegensatzlosigkeit, er nimmt aber zugleich eine wesentliche Umbestimmung vor: Die anfängliche Indifferenz ist nun nicht mehr die unmittelbare Selbstprä-

55 

Schelling, SW VII, 406. Schelling, SW VII, 52f. 57  Schelling, SW VII, 406. 58 Ebd. 59 Ebd. 56  Vgl.

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senz der Identität als Vernunft, sondern das uneinholbar dem Denken Entzogene. Damit ist die Richtung vorgegeben, in der die Weltalter und die Erlanger Initia weiterdenken werden. Was Schelling an dieser Stelle allerdings noch nicht formuliert, ist die ausdrückliche Problematisierung eines ersten Prinzips überhaupt – wenngleich dieses de facto bereits durch den Un-grund abgelöst ist; durch das Motiv eines Grundes, der zugleich nicht Grund ist.60 In dieser Hinsicht sind – als letzter Schritt im Übergang zur Weltalter-Philosophie – die Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 aufschlussreich. Sofern Schelling hier eine resümierende Gesamtschau seines Systems gibt, tritt letztmals affirmativ der Gedanke einer absoluten Identität als Prinzip auf – obschon mit deutlicher Distanzierung, indem Schelling unmittelbar die ›Neuerungen‹ der Freiheitsschrift einträgt, namentlich den Abweis des Einerleiheits-Vorwurfs. Zu Beginn heißt es dort: »Was ist Princip meines Systems? – Dieses Princip ist auf verschiedene Weise ausgedrückt worden: a) als Princip der absoluten Identität schlechthin, wohl zu unterscheiden von absoluter Einerleiheit; die hier gemeinte Identität ist eine organische Einheit aller Dinge.«61 Dabei fragt sich allerdings, inwiefern eine organologisch gedachte Identität noch die Funktion eines erstbegründenden Prinzips übernehmen und, wie zuvor, als ›totale Indifferenz‹ des Subjektiven und Objektiven gedacht werden kann – und nicht zufällig bricht Schelling die Herleitung aus einem ersten Prinzip nach wenigen Seiten ab.62 Eine explizite Problematisierung des Prinzipiengedankens findet sich aber erst mit den Weltaltern.

60 

Dieser eigentümliche Status des Ungrunds hat auch die Aufmerksamkeit des Denkens im 20. Jahrhundert auf sich gezogen. Vgl. dazu v. Verf.: Ungrund und Metaphysik des Bösen. Von Heideggers erster zu Derridas letzter Auseinandersetzung mit Schelling (1927–2002), in: L’héritage de Schelling. Interprétations aux XIXème et XXème siècles/Das Erbe Schellings. Interpretationen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gérard Bensussan/ Lore Hühn/ders. Freiburg/München 2015, 209–255. 61  Schelling, AA II,8, 68. 62  Vgl. v. Verf., Uebergang, 52–64.

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2. Die Auflösung des Prinzips in Schellings Weltaltern und der Erlanger Vorlesung a) Die Weltalter In den Weltaltern lassen sich mehrere Nachklänge des ›Bruchs‹ mit Hegel vernehmen. So findet sich in der seit 1811 nur geringfügig modifizierten »Einleitung« eine Kritik an der »von Zeit zu Zeit gehegte[n] Meynung, die Philosophie durch Dialektik endlich in wirkliche Wissenschaft verwandeln zu können«; diese sei aber, so Schelling, allenfalls ›Durchgangsstadium‹ zum wahren Element der geschichtlichen Philosophie als Erzählung.63 In diesem Zuge unternimmt auch Schelling den Versuch einer partiellen Rehabilitierung der ›Anschauung‹, ohne diese aber im früheren Sinn als ›intellektuelle‹ zu apostrophieren.64 Schließlich enthalten die Weltalter Passagen, in denen Schelling die Zurückweisung des Einerleiheits-Vorwurfs sowie die eigene Lehre von der Kopula vertieft und dabei verschiedene Ebenen von Identität, Gegensatz und Widerspruch differenziert.65 Im Folgenden gilt aber das Interesse zwei verwandten Partien aus den Weltaltern und den Erlanger Initia, die unmittelbar den Gedanken eines begründenden Prinzips im Singular betreffen – und gerade darin recht deutlich auf den ›Bruch‹ mit Hegel um 1807 verweisen. Zur Einordnung dieser Partien ist noch ein letzter Rückgriff notwendig. Bereits sehr früh hatte sich nämlich Schelling von der spezifischen Fassung des ›ersten Prinzips‹ in der Form eines Grundsatzes distanziert. Schon 1796 heißt es in der Antikritik auf eine anonym erschienene Rezension Erhards zu Schellings Vom Ich, der Zweck dieser Schrift sei es gewesen,

63 

Schelling, WA, 5. Vgl. insgesamt die in Anm. 7 genannten Stellen. Diese Kritik kontrastiert übrigens mit einer gewissen ›Wertschätzung‹ der Dialektik, die besonders gegen Ende der Freiheitsschrift zum Ausdruck kommt, vgl. ders., SW VII, 342, 400f., 407f., 413–415 und dazu v. Verf., Negativität. Vgl. zum Verhältnis von Dialektik und Erzählung auch Siegbert Peetz: Produktivität versus Reflexivität. Zu einem methodologischen Dilemma in Schellings Weltaltern, in: Weltalter – Schelling im Kontext der Geschichtsphilosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1996, 73–88, hier 82–86. 64 Vgl. Schelling, WA, 6f., 17, 114–116, 205–208; ders., SW VIII, 202–204. Vgl. auch die bemerkenswerte und bereits auf die Erlanger Vorlesung vorausweisende Erörterung der ›intellektuellen Anschauung‹ als eines ›nichtwissenden Wissens‹ (vgl. Schelling, WA, 214); vgl. auch die inhaltlich verwandten Partien zum ›Außer-sichgesetzt-Werden‹ (vgl. Schelling, WA, 163f.; ders., SW VIII, 295f.). 65  Vgl. Schelling, WA, 26–29, 126–129; ders., SW VIII, 213f.

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»die Philosophie von der Erlahmung zu befreyen, in welche sie durch die unglücklichen Untersuchungen über einen ersten Grundsatz der Philosophie unausbleiblich fallen mußte – zu beweisen, daß wahre Philosophie nur mit freyen Handlungen beginnen könne, und daß abstrakte Grundsätze an der Spitze der Wissenschaft der Tod alles Philosophirens seyen«.66 Der frühe Schelling betont mithin – gerade auch gegen Reinholds Auffassung des ›obersten Grundsatzes‹, die ein theoretisches Verständnis nahelege67 – den spezifisch praktischen Charakter der freien Handlung im Prinzip des Ich. Dieses frühe Plädoyer für ein ›lebendiges‹ Prinzip greift Schelling 15 Jahre später wieder auf, wendet es aber nun, im Zuge der Auseinandersetzung mit Hegel, gegen den Gedanken eines konstituierenden Prinzips als solchen. Die erste entsprechende Partie findet sich am Ende der sogenannten ›ersten Hälfte‹ der frühesten Weltalter-Fassung von 1811: »Es ist angenommen, ein jedes sogenanntes System müsse nach seinem Princip beurtheilt werden. Es fragt sich aber, was unter Princip zu verstehen ist. Inwiefern bey jeder Entwickelung die Einerleyheit des sich entwickelnden Subjekts vorausgesetzt wird, in so fern hat unstreitig ein jedes System nur Ein Subjekt, Ein Lebendiges, das sich in ihm entwickelt. Allein von dem Princip in diesem Sinn läßt sich eben darum nicht gleichsam ein für allemal der feste Begriff geben; denn da es in einer beständigen Bewegung, Fortschreitung, Steigerung begriffen ist, kann jeder Begriff nur für einen Moment gelten; es ist als Lebendiges in der That nicht Eines, sondern unendlich Vieles. Hieraus ist denn wohl zu ersehen, daß in keinem lebendigen Ganzen wissenschaftlicher Kunst irgendwo ein Punkt sey, da man gleichsam anhalten, oder den man fest machen könnte, sondern daß schlechterdings die Entwickelung des Ganzen abgewartet werden muß, ehe der vollständige Begriff des sich entwickelnden Subjekts gegeben werden kann. Denn dieses Subjekt ist in der 66 

Schelling, AA I,3, 192. Abgrenzung von Reinhold zeigt deutlich eine Partie aus dem System des transscendentalen Idealismus: »Seit Reinhold die wissenschaftliche Begründung der Philosophie sich zum Zweck gesetzt hatte, war viel von einem ersten Grundsatz die Rede, von welchem die Philosophie ausgehen müßte, und unter welchem man insgemein einen Lehrsatz verstand, in welchem die ganze Philosophie involvirt seyn sollte. Allein es ist leicht einzusehen, daß die Transscendental-Philosophie von keinem Theorem ausgehen kann, schon darum, weil sie vom Subjectiven, d. h. von demjenigen ausgeht, was nur durch einen besondern Act der Freyheit objectiv werden kann« (Schelling, AA I,9,1, 61). 67  Diese

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Mitte und am Ende so gut wie im Anfang, und es ist nicht das, was es in diesem oder jenem Punkt der Entwickelung ist; es ist überhaupt nichts Einzelnes, sondern das Eins und Alles in dem Ganzen. Wer daher dem Subjekt einer solchen Entwickelung eine proteische Natur vorwirft, der hat es im Groben besser getroffen, als er wohl selber verstand.«68 Die bemerkenswerte Hindeutung auf das ›Proteische‹ zum Schluss verweist wohl auf Johann Jacob Wagners Polemik im System der Idealphilosophie von 1804, in der dieser von Schelling als »unser[em] Proteus«69 spricht. Diese Polemik wiederum – und nicht die oft diesbezüglich zitierte Schelling-Darstellung Hegels70 – dürfte eine der frühesten, wenn nicht die erste Quelle für das Schelling in der Philosophiegeschichtsschreibung hartnäckig anhängende Epitheton eines ›Proteus der Philosophie‹ sein. Der Sache nach erscheinen aus der zitierten Partie vier Aspekte wesentlich: Erstens verabschiedet Schelling nun explizit die Bestimmung eines erstbegründenden und vor dem System ausweisbaren Prinzips. Wenn sich von dem Prinzip im schellingschen Sinne nicht ›ein für allemal der feste Begriff geben‹ lässt, kann von einer Fundierung des Systems durch das Prinzip offenbar nicht mehr gesprochen werden. Zweitens ist es auffällig, dass Schelling hier den zuvor stets polemisch abgewiesenen Begriff der ›Einerleiheit‹ affirmativ wendet. Dabei kommt es aber zu einer weit reichenden Verschiebung: Nicht mehr ist die Identität das Prinzip des Systems – gleichwohl aber ist das Subjekt des Systems, das Absolute, eines, und eben nicht mehrere. Das Subjekt hat also Identität allein noch im ›numerischen‹ Sinne; der starke idea­ listische, prinzipientheoretische Identitätsbegriff fällt demgegenüber gänzlich aus. Schelling dürfte den Begriff der ›Einerleiheit‹ hier – im Sinne des tradierten Wortgebrauchs etwa noch in Kants »Amphibolie 68  Schelling,

WA, 47. Vgl. zur Interpretation der Weltalter bes. Aldo Lanfranconi: Krisis. Eine Lektüre der »Weltalter«-Texte F. W. J. Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992. Eine Diskussion der hier ausgelegten Partie ließ sich in der Forschung nicht nachweisen. 69  Johann J. Wagner: System der Idealphilosophie. Leipzig 1804, XXXIII–XXXV. Wagner bezieht sich hier auf Schellings Philosophie und Religion; in der Rede vom ›Proteus‹ zitiert Wagner Verse aus der Telemachie in Odyssee IV, vv. 415–419 über die Wandlungsfähigkeit und Unfassbarkeit des ›ägyptischen‹ Meeresgottes. Popularisiert hat die Wendung von Schelling als ›Proteus‹ wohl v. a. Noack, der bei einer Verwendung dieses Ausdrucks gerade auf Wagner verweist. Vgl. Ludwig Noack: Schelling und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag zur Culturgeschichte des deutschen Geistes. 2 Bde. Berlin 1859. Bd. 2, 8. Vgl. auch ebd., 83, 122, 179, 217. Vgl. auch bereits ebd., Bd. 1, 73, 354, 392, 408f. 70  Vgl. z. B. Hegel, TWA 20, 420–422, 445f.

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der Reflexionsbegriffe«71 – gerade deshalb verwenden, weil er eine sozusagen ›offenere‹, beweglichere Sich-selbst-Gleichheit des Subjekts ausdrückt als eine Bestimmung strenger und reiner Identität. Markant ist drittens die dominierende Bestimmung der Bewegung und Entwicklung. Von einem Prinzip im Sinne eines ersten, ›festen Begriffs‹ oder ›Fundaments‹ kann eben deshalb nicht gesprochen werden, weil das in der Entwicklung begriffene ›Subjekt‹ sich in dieser Bewegung keiner definitiven und abgeschlossenen Form fügt. Gerade aufgrund dieser ihm wesentlichen Entwicklung ist das Subjekt des Systems nicht bloße Identität, sondern im Durchgang durch verschiedene ›Orte‹ oder ›Positionen‹ ein beständig sich Wandelndes und insofern ›nicht Eines, sondern unendlich Vieles‹. Augenfällig ist schließlich viertens, dass die ›Dynamik‹ des Subjekts insbesondere eine Bestimmung desselben am Anfang des Systems als eine bloß vorläufige erscheinen lässt. Im Gegenzug akzentuiert Schelling, dass die ›Wahrheit‹ des Systems und seines Subjekts sich erst im Blick auf das Ganze und das Resultat zeige. Dabei sind der Weg und das Werden zum Ganzen als Resultat dem Absoluten wesentlich – und dies offenbar keineswegs im Sinne einer bloß nachträglichen Explikation dessen, was im anfänglichen Prinzip schon unmittelbar enthalten ist. Die Partie lässt sich insgesamt lesen als Abweis einer statischen Betrachtung des Prinzips, dessen anfängliche Bestimmung als reine Identität bereits sein Wesen erfasse und ausspreche. Dabei kommt Schelling in zentralen Aspekten – so zur Entwicklung, dem Resultat und dem Ganzen – systematischen Bestimmungen Hegels durchaus nahe, expliziert doch dieser in der Phänomenologie des Geistes den oben zitierten Grundbegriff der »sich bewegende[n] Sichselbstgleichheit« bekanntlich wie folgt: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn.«72 Gewiss ist der Gedanke des ›Werdens‹ in der Klassischen deutschen Philosophie seit Fichtes Rede von der Wissenschaftslehre als der 71 Vgl.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902ff., Abt. I, Bd. 3 u. Bd. 4, A 260–289/B 316–346. 72  Hegel, GW 9, 19.

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»pragmatische[n] Geschichte des menschlichen Geistes«73 prominent, und Hegels Phänomenologie selbst verdankt vieles offenkundig Schellings Konzeption der Philosophie als einer »fortgehende[n] Geschichte des Selbstbewußtseyns« im System des transscendentalen Idealismus.74 Bemerkenswert ist allerdings, dass Schelling hier erstmals das ›Werden‹ direkt gegen den Gedanken eines konstituierenden Prinzips stellt, ja geradezu ›ausspielt‹ – den er noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen hatte aufrechterhalten wollen. In den Weltaltern schließt sich unmittelbar an die zitierte Partie eine Kritik an der Konzeption des Systems als »Ganzes von Sätzen« an, »die alle ein festes, stehenbleibendes Seyn aussagen«.75 Hier findet sich eine Partie, in der Hegels lakonische Bemerkung über Prinzip und Grundsatz von 1807 fast wörtlich widerklingt – wenngleich Schelling dabei von Sätzen des Systems überhaupt und nicht vom ersten Grundsatz oder Prinzip spricht: »In Bezug auf lebendige Wissenschaft kann man dagegen sagen, daß ein jeder Satz schon dadurch, daß er als Satz ausgesprochen wird, falsch ist.«76 Auf dieses Echo von Hegels Verdikt aus der Phänomenologie folgt eine für die Weltalter-Philosophie charakteristische Reformulierung der ›Einheit von Subjekt und Objekt‹, die stets so auftritt, als gebe sie den ›wahren Sinn‹ der Identitätsphilosophie wieder – aber deren frühere Fassung doch offenkundig verschiebt:77 »Zum Beispiel, der Satz: das Urwesen ist absolute Einheit von Subjekt und Objekt, ist als eine für sich geltende Wahrheit ausgesprochen, offenbar falsch, weil dasselbe in andrer Beziehung auch wirkende Einheit, in andrer vielleicht gar Gegensatz von Subjekt und Objekt ist. Aber eben so falsch ist sein widersprechender: das Urwesen ist Nichteinheit von Subjekt und Objekt, einzeln genommen. Dagegen im lebendigen Zusammenhang des Ganzen, welches ihm seine Stelle und mit ihr die Gränze seiner Gültigkeit bestimmt, kann jeder von beyden Sätzen als wahr erscheinen. Daher man nun vielmehr umgekehrt sagen möchte: jeder Satz sey außer dem System falsch, nur im System,

73 

Fichte, GA I,2, 365. AA I,9,1, 25. Vgl. zum Thema auch Jürgen Stolzenberg: »Geschichte des Selbstbewußtseins«. Reinhold – Fichte – Schelling, in: International Yearbook of German Idealism 1 (2003), 93–113. 75  Schelling, WA, 47. 76  Schelling, WA, 48. 77  Verwandte und teils explizitere Rückverweise auf die Identitätsphilosophie finden sich in Schelling, WA, 15f., 26, 130, 228; ders., SW VIII, 236. 74  Schelling,

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im organischen Zusammenhang des lebendigen Ganzen gebe es eine Wahrheit.«78 Hier kehrt das organologische Systemmodell wieder, das oben aus den Stuttgarter Privatvorlesungen zitiert worden war. Die Verschiebung gegenüber der identitätsphilosophischen Konzeption etwa der Darstellung von 1801 besteht aber darin, dass Schelling dem Verhältnis von Subjekt und Objekt im ›lebendigen Ganzen‹ des Systems sozusagen verschiedene systematische ›Stellungen‹ zuweist – unter denen der ›absoluten Einheit‹ respektive Identität oder Indifferenz von Subjekt und Objekt keineswegs die Funktion zukommt, das Wesen des Absoluten auszusagen oder als Prinzip der Systementwicklung voranzustehen. Zum Abschluss des Passus macht Schelling selbst noch einmal deutlich, dass ein allein anfänglich gedachtes Prinzip keineswegs das Wesen des Systems im Ganzen zu erfassen vermöge – und auch dies liest sich wie die Zurückweisung eines ›Missverständnisses‹ auf Seiten Hegels: »Gewöhnlich wird der Begriff von Princip nicht in jenem höheren Sinne genommen: er bedeutet den Meisten schlechtweg den Anfangspunkt. Wie ungenügend oder verkehrt sodann die Ansicht werden müsse, wenn die Natur des Ganzen nach der Natur des Ersten beurtheilt wird, leuchtet von selbst ein.«79 b) Die Erlanger Initia philosophiae universae In eine verwandte Richtung weisen Passsagen zum Systembegriff aus der vierten Stunde der ersten Erlanger Vorlesung von 1821,80 die aber 78 

Schelling, WA, 48. Bemerkenswert ist dabei, dass Schelling durchaus noch Elemente früherer Systembestimmungen modifizierend aufnimmt; so findet sich eine verwandte Ausführung zur Systematizität schon in Fichtes Programmschrift, in der es heißt, dass »die einzelnen Sätze [...] erst im Ganzen, durch ihre Stelle im Ganzen, und durch ihr Verhältniß zum Ganzen« zur »Wissenschaft« werden (Fichte, GA I,2, 114). 79  Schelling, WA, 48. 80  Gerade die wichtige 4. Vorlesungsstunde ist in Schellings Manuskript nicht erhalten, was umso bedauerlicher ist, als wichtige Partien in den Nachschriften nicht wiedergegeben sind. Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf den Auszug von Schellings Sohn in den Sämmtlichen Werken, der auf Schellings Manuskript (und zwei weiteren, nicht erhaltenen Nachschriften) basiert. Auch wenn der Sohn zweifellos im Einzelnen geglättet und gekürzt hat, so entspricht doch seine Wiedergabe der Vorlesungen 3 und 5–11 Schellings eigenem Manuskript in hohem Maße. Vgl. zur Erläuterung zukünftig Schelling, AA II 10, 1–2. Vgl. zur Interpretation der Initia bes. Manfred Durner: Wissen und Geschichte bei Schelling. Eine Interpretation der ersten

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einen entscheidenden Schritt weiter gehen und zugleich die wesentliche Abgrenzung von Hegel sichtbar machen. Auch hier fragt Schelling zunächst nach dem ›Subjekt‹ des Systems und schließt eine erläuternde Bemerkung zum ›Prinzip‹ an: »Was ist dieses Subjekt, das in allem ist, und in nichts bleibt? Wie sollen wir es nennen? – (Im Vorbeigehen, diese Frage ist identisch mit der sonst so gewöhnlichen, was Princip der Philosophie sey. Nämlich das Princip der Philosophie ist das, was nicht etwa nur im Anfang Princip ist und dann aufhört es zu seyn, sondern was überall und immer, was im Anfang, Mittel und End’ gleicherweise Princip ist. – Ferner hat man sonst wohl auch unter Princip einen obersten Satz verstanden. Da man nämlich die Philosophie nur als eine Kette von auseinander folgenden Sätzen betrachtete, stellte man sich vor, daß es einen obersten Ring in dieser Kette geben müsse – einen ersten Satz, aus welchem sodann ein zweiter, aus diesem wieder ein dritter folgt u. s. f. So hatte Cartesius als obersten Satz sein: Cogito ergo sum. Fichte: Ich bin Ich. Allein in einem lebendigen System, das nicht eine Folge von Sätzen ist, sondern von Momenten des Fortschreitens und der Entwicklung, kann von einem solchen obersten Satze nicht die Rede seyn).«81 Schelling gibt hier im Wesentlichen eine Variation der oben zitierten Partie der Weltalter. Wieder wird die Kritik an ›toten Sätzen‹ und einem ›obersten Satz‹ im Namen der ›lebendigen Entwicklung‹ des SystemSubjekts geführt; und wieder dynamisiert Schelling das Prinzip, indem er es mit in die Bewegung und Entwicklung des Systems durch ›Anfang, Mittel und End’‹ hineinnimmt. Ausdrücklicher als zuvor wird hier aber zum einen die Zurückweisung eines bloß anfänglichen Prinzips. Dies verbindet Schelling zum anderen mit einer schärferen Abgrenzung von der Tradition, wird doch die Frage nach dem Prinzip als eine ›gewöhnliche‹ abgetan; galt in der Frühphilosophie die Kritik an ›toten Sätzen‹ allein einer Grundlegung reinholdschen Typs, so weitet Schelling hier die Kritik auf Descartes und insbesondere auf Fichte aus. Die schroffe Zurückweisung verdeckt allerdings, dass diese Kritik durchaus auch eine unausdrückliche Revision der eigenen Frühphilosophie enthält, gilt sie doch sachlich in gleicher Weise für Schellings frühe Versuche der Transzendental- und Identitätsphilosophie, das Prinzip als absolute Identität im Ausgang von dem Satz A = A zu bestimmen. Auch Erlanger Vorlesung. München 1979; Lore Hühn: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens. Stuttgart/Weimar 1994, 195–227. 81  Schelling, SW IX, 215f. Vgl. die kürzere Parallelstelle in ders., Initia, 16.

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wenn die Ableitungsreihe der Sätze klar auf Fichtes Programmschrift82 verweist, wo dort auch vom obersten Grundsatz als ›Ring‹ die Rede ist,83 so findet sich hingegen das Bild von der »Kette des Wissens«, die »nur in einem obersten unbedingten Puncte Haltung bekömmt«, in dieser Form nicht beim frühen Fichte, aber mehrfach in Schellings Vom Ich.84 Eine ›Weiterentwicklung‹ möglicherweise auch des eigenen Systems deutet aber eine Zusatzbemerkung an, die die Nachschrift Enderleins notiert: »Das ging damals, wo die Philosophie noch aus Sätzen bestund.«85 In den Erlanger Initia zieht Schelling allerdings durchaus weitreichendere Schlüsse aus der Abweisung des Prinzips als noch in den Weltaltern. Hier nämlich kehrt im Versuch einer Definition des ›absoluten Subjekts‹ das Entzugsmotiv der Freiheitsschrift wieder, was sich bereits durch die bekannte, einleitende Frageform abzeichnet: »Also was ist Princip des Systems, was ist jenes Eine Subjekt, das durch alles geht, und in nichts bleibt? Wie sollen wir es nennen, was von ihm aussagen? – Wir wollen erst sehen, was die Frage: was ist es? selbst bedeutet. ›Etwas namhaft machen, das es ist‹. Nun dieß ist leicht. Soll ich etwa sagen: A ist B? Freilich! Aber es ist auch nicht B. Allein ich verlange eine genaue Bestimmung desselben, ich verlange, daß sein Begriff mit festen Grenzen umschrieben, definirt werde. Wenn man eine Definition verlangt, so will man wissen, was das Subjekt definitiv ist, und nicht bloß so ist, daß es auch etwas anderes oder gar das Gegen­ theil davon seyn kann. Dieß ist hier der Fall. Ich kann weder bestimmt sagen, A sey B, noch bestimmt, es sey nicht B. Es ist sowohl B als nicht B, und es ist weder B noch nicht B. Es ist nicht so B, daß es nicht auch nicht B wäre, und es ist nicht so nicht B, daß es schlechterdings und auf keine Weise B seyn könnte. Und dasselbe würde der Fall seyn mit 82  Vgl.

bes. Fichte, GA I,2, 115. Fichte, GA I,2, 125f., wo es im Blick auf den »absolut-ersten Grundsatz« heißt: »Verbreite von ihm aus sich unser Wissen in noch so viele Reihen, von deren jeder wieder Reihen u. s. f. ausgehen, so müssen doch alle in einem einzigen Ringe festhangen, der an nichts befestiget ist, sondern durch seine eigne Kraft sich, und das ganze System hält«. 84  Schelling, AA I,2, 93, vgl. bes. auch ders., AA I,2, 100: »Das vollendete System der Wissenschaft geht vom absoluten, alles entgegengesezte ausschliessenden Ich aus. Dieses als das Einige Unbedingbare bedingt die ganze Kette des Wissens, beschreibt die Sphäre alles Denkbaren, und herrscht durch das ganze System unsers Wissens als die absolute alles begreifende Realität.« Vgl. auch ders., AA I,2, 87f. Das Bild von Kette und Ring findet sich, in etwas anderem Sinne, auch in Hegels Differenz­schrift. Vgl. Hegel, GW 4, 28. 85 Schelling, Initia, 16. 83 Vgl.

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jeder andern Bestimmung, mit C, mit D u. s. f. Was bleibt nun übrig? Soll ich etwa die ganze Reihe hersagen, soll ich sagen: es ist A, B, C, D u. s. f. Aber, meine Herrn, das ist ja eben die ganze Wissenschaft, das ist ja eben schon das System selbst. Was bleibt also übrig? Antwort: ich muß eben das Indefinible, das nicht zu Definirende des Subjekts selbst zur Definition machen. [...] Es ist nichts, das es wäre, und es ist nichts, das es nicht wäre. Es ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen, das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche.«86 Darin zeigt sich Schellings weitreichendste Konsequenz aus den Spannungen in der Prinzipienreflexion, die sich im frühen Idealismus abzeichneten und die für Schelling selbst spätestens seit der Debatte mit Hegel dringlich werden: Gerade weil das Absolute als lebendig sich entwickelndes nicht in die Definition eines ›einfachen Satzes‹ eingefasst und als anfänglich-konstituierendes Prinzip ›ein für alle Mal‹ bestimmt werden kann, muss – nur scheinbar paradox – das Indefinible zu seiner Definition gemacht werden. Das Absolute selbst und als solches widersteht seiner Erfassung im Begriff. Gegenüber dem Verfahren der Freiheitsschrift nimmt Schelling dabei in den Initia einen ›Umweg‹, indem er die fest-stellende Frage ›Was ist...?‹ aufgreift, um sie zu unterlaufen – und eben dadurch sichtbar zu machen, dass das Absolute selbst jeder einschließenden Begrenzung entgeht. Zeigt sich in den Aspekten des Werdens, des Resultats und des Ganzen zweifelsohne eine Nähe zu Hegel, so entfaltet doch der mittlere Schelling, offenbar von Hegels Kritik an der differenzfreien Identität und dem konstituierenden Prinzip durchaus angestoßen, sukzessive eine gänzlich eigenständige und von der hegelschen Negativität klar abstechende Konzeption des Absoluten als Differenz: Es ist gerade der Entzug des Anfänglichen als Alterität und Exteriorität, der den Raum für die Entwicklung des Systems eröffnet und ihre Dynamik freisetzt. Obschon unter gänzlich gewandelten systemarchitektonischen Vorzeichen wird dieses Motiv des Indefiniblen und dem Begriff Entzogenen dann auch in Schellings Spätphilosophie gerade als Kritik an Hegels Philosophie wiederkehren – nämlich als das »unvordenkliche Sein, als allem Denken vorausgehend«.87

86  Schelling,

SW IX, 216f. Vgl. die kürzere (und einen leicht modifizierten Vorlesungsverlauf wiedergebende) Parallelstelle in ders., Initia, 16–19. 87 Schelling, Offenbarung, 161.

Anton Friedrich Koch Die Begriffslogik als Metaphysikkritik Raum und Zeit auf der einen Seite und das singuläre, prädikative Urteil auf der anderen sind bekanntlich wie füreinander geschaffen, wie Kant und Strawson uns überzeugend vor Augen geführt haben. Raum und Zeit sind die Formen der sinnlichen Anschauung und der Einzelheit und bilden zusammen das Individuationsprinzip der Dinge. Und die so individuierten Dinge fallen alsdann unter Allgemeinvorstellungen, die alle Welt Begriffe nennt. Nur Hegel nicht. Was Hegel Begriff nennt, ist das zentrale Thema der 1816 erschienenen Subjektiven Logik oder Lehre vom Begriff, die den zweiten Teil der Wissenschaft der Logik ausmacht. Da deren erster Teil, die objektive Logik, zwei Bücher enthält, die Lehre vom Sein und die Lehre vom Wesen, kann man die subjektive Logik qua Lehre vom Begriff auch als das dritte Buch der Logik bezeichnen. Das, was alle Welt Begriffe nennt und was intern mit Raum und Zeit verflochten ist, gehört für Hegel der Sphäre der Vorstellung an. Diese Sphäre thematisiert er unmittelbar jenseits seiner Lehre vom Begriff, nämlich gleich zu Beginn der Philosophie der Natur. Mit Raum und Zeit als den allgemeinen Formen der Einzelheit kommen dann zugleich die Allgemeinvorstellungen, wenn auch zunächst nur implizit, ins Spiel. Nennen wir sie kurz die Allerweltsbegriffe, um sie von dem zu unterscheiden, was in der Wissenschaft der Logik betrachtet wird, nämlich von den Denkbestimmungen im allgemeinen und von den Begriffsbestimmungen oder Begriffsmomenten im Besonderen, nämlich dem Allgemeinen, dem Besonderen und dem Einzelnen. Hegels Logik kann äußerlich definiert werden als die singuläre streng voraussetzungslose Theorie. Ihr ist nichts vorgegeben: keine Termini, keine Theoreme, keine Methode, kein Thema. Sie muss sich dies alles selber suchen, und zwar in ihrer sukzessiven Entwicklung, Schritt für Schritt. Im Nachhinein weiß man dann mehr über sie, kennt ihre Termini und Theoreme und kann auch ihre Methode und Thematik benennen. Im Rückblick sehen wir beispielsweise den Weg, den wir in ihr zurückgelegt haben und erkennen seine Windungen und Wendungen und deren allgemeines Muster. Deswegen darf im Abschlusskapitel der Begriffslogik und der Logik überhaupt (das unter der Überschrift ›Die absolute Idee‹ die met’hodos, Methode, den abgeschrittenen Weg,

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thematisiert) endlich auch das prekäre D-Wort fallen, ohne dass es jetzt noch theoriepolitisch unkorrekt wäre: ›Dialektik‹ beziehungsweise ›dialektisch‹. Zugleich lässt sich nun auch der Gegenstand der Logik äußerlich umreißen: Sie handelt vom Sein und vom Denken, und zwar um den Preis, dass auch die Negativität mitbetrachtet werden muss. Dass die Negativität mit von der Partie ist, wird bei allen Wohlmeinenden, allen eleatisch Gesinnten, einiges Augenverdrehen auslösen; denn die Negativität – und man könnte ja auch gleich sagen: das Nichts – ist das Anti-Thema par excellence. Aber so ist es eben; dem Aufbau der voraussetzungslosen Theorie kann sich nur verschreiben, wer bereit ist, einen Pakt mit dem Nichts zu schließen und seine Seele (oder seinen Geist) an die Antinomie zu verschenken, in der vagen Hoffnung, dass auch diese, auch die Antinomie der Negativität, am Ende gelöst und man selbst gerettet werde. Diese Lösung und Rettung hätte sich in der Begriffslogik zu vollziehen, nachdem zuvor über die ganze objektive Logik hinweg der Knoten der Antinomie geschürzt – und immer neu geschürzt – wurde. Ich muss gestehen, dass ich nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit der Hegelschen Logik immer noch nicht weiß, ob die Lösung in der absoluten Idee gelingt oder ob Hegel nur so tut, als sei sie gelungen. Wenn sie gelingt, so muss dies damit zusammenhängen, dass nach dem Werden in der Seinslogik und dem Schein in der Wesenslogik als Lösungsressource nun das Selbstbewusstsein in Anspruch genommen wird. Davon später mehr. An die Begriffslogik jedenfalls knüpft sich die theoretische Hoffnung auf endgültige Behebung der Antinomie der Negativität; ob zu Recht oder zu Unrecht, will ich nicht entscheiden. Meine These ist vielmehr die recht unspektakuläre Behauptung, dass sich in der Begriffslogik das fortsetzt, was schon für die objektive Logik charakteristisch war: dass nämlich die Logik insgesamt als eine kritische Darstellung der Metaphysik bzw. als eine implizite Kritik der Metaphysik gelesen werden kann. Michael Theunissen hat 1978 die objektive Logik sehr konsequent als Metaphysikkritik interpretiert.1 In der Begriffslogik hingegen glaubte er mehr Affirmation denn Kritik zu erkennen: eine affirmative Theorie der Intersubjektivität als des Prinzips der prekären kategorialen Strukturen, von denen die objektive Logik handelt. Und vor ­ Theunis1 

Vgl. Michael Theunissen: Sein und Schein: die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a. M. 1978.

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sen h ­ atten andere, orthodoxere Interpreten eine ontologisierte Subjektivität in der Rolle des affirmativ zu behandelnden Prinzips gesehen.2 Doch so oder so, in der Begriffslogik schien affirmative Theoriebildung zu walten. Im Unterschied zu all diesen Ansätzen soll hier jedoch die Begriffslogik als Fortführung der kritischen Darstellung der Metaphysik behandelt werden. Eine ganz wesentliche Differenz der Wissenschaft der Logik zur sonstigen Metaphysik ist es, dass letztere eine Teilklasse der Allerweltsbegriffe, nämlich die sogenannten Kategorien (und Reflexionsbegriffe) vor Augen hat, die man daher als die genuin metaphysischen Allerweltsbegriffe bezeichnen kann. Von ihnen, näher den Kategorien, hatte Kant aber gezeigt, dass sie Sinn und Bedeutung erst durch ihre transzendentale Schematisierung, also erst durch ihren Bezug auf reine Anschauungen gewinnen. Davon kann zwar im Nachhinein wieder abstrahiert, die Kategorien können nachträglich entschematisiert werden; doch dies führt nach Kants Diagnose aus dem Bereich der Erkenntnis hinaus in einen Bereich transzendentalen Scheins. Die vorkantische Metaphysik hatte demzufolge gar nicht mit ursprünglichen, sondern mit bearbeiteten, mit nachträglich entschematisierten Kategorien zu tun und hat diese teils, qua Ontologie, thematisiert und teils zur Theoriebildung verwendet, qua spezielle Metaphysik. Insgeheim und gegen ihre Absicht war die alte Metaphysik damit nach Inhalten und Methode von der Vorstellung des Raumes und der Zeit abhängig, ohne die sie ihre Kategorien nicht hätte gewinnen können. Die Wissenschaft der Logik gewinnt ihre Inhalte und Methode demgegenüber ohne Bezug auf Raum und Zeit, also ohne Bezug auf die Sphäre der Vorstellung. Dann aber kann sie schon aus diesem Grund keine direkte Theorie der Kategorien (und Reflexionsbestimmungen) sein, sofern wir diese wie üblich als Prädikate, das heißt als Allerweltsbegriffe, verstehen. Auf indirekte Weise ist sie allerdings doch eine kritische Kategorienlehre, weil die logischen Inhalte, die sie entwickelt und kritisiert, die Denkbestimmungen, leicht in die Form von metaphysischen Allerweltsprädikaten transponiert werden können. Hegel lädt selbst zu solcher Transposition ein, wenn er in der enzyklopädischen Logik sagt, die logischen Inhalte könnten als (eines das andere ablösende und überbietende) Prädikate des Absoluten verstanden werden.

2 Vgl.

dazu auch Hans-Peter Falk: Das Wissen in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Freiburg/München 1983, 13.

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Von Hause aus aber sind die logischen Inhalte keine Prädikate. Prädikate oder Allerweltsbegriffe sind ungesättigte, ergänzungsbedürftige Denkinhalte, also bloße Satzfunktionen, die durch Einzeldinge, zuletzt raumzeitliche Einzeldinge, als ihre Argumente gesättigt werden müssen. Die logischen Inhalte hingegen sind vollständige Inhalte des reinen Denkens, sind satzwertig und gesättigt. Aber sie sind nicht propositional gegliedert, sondern urtümliche, vorpropositionale Sachverhalte, kurz Ur-Sachverhalte: satzwertige, aber nicht satzartige, und dabei rein logische Inhalte des Denkens und des Seins. Das Dasein beispielsweise, mit dem nach dem Zusammenbruch des Werdens die eigentliche logische Entwicklung anhebt, hat nicht irgendeine Qualität als sein Prädikat, sondern ist Qualität durch und durch: ein logisches Quale und vielmehr sogar das logische Quale par excellence. Als Quale aber ist das Dasein weder Einzelvorstellung noch Prädikat, sondern ein logischer Ur-Sachverhalt, noch unterhalb der propositionalen Artikulation. Nun soll mit dem Übergang vom Wesen zum Begriff aber die Propositionalität als solche erreicht werden, und zwar noch ganz unabhängig von einer philosophischen Theorie des Raumes und der Zeit. Der Begriff ist nichts anderes als der Logos selber oder die Prädikation oder Proposition selber. Zugleich wird er, zweitens, eingeführt als das Prinzip aller in der Logik vorangegangenen Inhalte, das heißt als das Prinzip der seinslogischen, quasikategorialen Bestimmungen und der wesenslogischen Reflexionsbestimmungen und Modalitäten. Drittens endlich soll er die logische Grundlage dessen sein, was später in Raum und Zeit als selbstbewusste Persönlichkeit, das heißt als transzendentale Subjektivität und zugleich individuelle Person auftritt. Oder vielmehr wird, umgekehrt betrachtet, das Selbstbewusstsein personaler Subjekte als Interpretament für die mit dem Begriff erreichte logische Struktur herangezogen. Der Begriff ist Hegel zufolge also mindestens dreierlei: die Propositionalität oder prädikative Struktur als solche, ferner das Prinzip der Kategorialität und drittens die Struktur des Selbstbewusstseins. Seine Entwicklung besteht darin, dass er sich qua prädikative Struktur entfaltet, im Urteilskapitel, und sich in die syllogistische Struktur überführt, im Schlusskapitel, und dass er dann in Objektivität übergeht, in Mechanismus, Chemismus und Teleologie, bevor er als Idee zu sich zurückkehrt – und all dies ohne Rücksicht auf den möglichen Beitrag von Raum und Zeit zur Theorie der Urteile, Schlüsse und Objekte. Doch bevor dieser Gang der Begriffslogik als fortgesetzte Metaphysikkritik gewürdigt werden kann, muss noch ein Wort über den Gang

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der Logik insgesamt vorausgeschickt werden. Das Programm einer streng voraussetzungslosen Theorie nötigt uns zunächst, am Beginn des ganzen Unternehmens, einen gemeinsamen Faktor aller möglichen Wahrheitsansprüche anzunehmen. Hegel bezeichnet ihn in naheliegender Weise als das Sein. Das Programm nötigt uns zweitens dazu – damit etwas geschieht –, als die denkbar einfachste logische Grundoperation die Negation anzunehmen. Sie führt aber alsbald in Beziehung auf das Sein zu dem Widerspruch, dass dasjenige, was per definitionem robust gegen mögliche Verneinungen fortbesteht, eben das Sein, nun negiert werden muss. Dieser Widerspruch nötigt uns drittens zur Annahme von etwas Neuem und Drittem gegenüber dem Sein und der Verneinung, nämlich dem Werden, das wir als Phänomen unabhängig von der Logik kennen. Das Werden ist das alternativlose widerspruchsentschärfende Interpretament für den Widerspruch des Seins und der Verneinung. Der springende Punkt ist hier wie auch wiederholt später, dass uns das rein logische Programm einer voraussetzungslosen Theorie jeweils alternativlos bestimmte Interpretamente aufdrängt, die in einer gegebenen Situation problemlösend bzw. widerspruchsmildernd sind. Die Problematik des Anfangs und des ersten Fortgangs wurden durch das Sein und die Verneinung gelöst; ihr Widerspruch erfordert dann zur Lösung den Rekurs auf das Werden. Am Ende der Seinslogik ist aber nach langwierigem Krisenmanagement die Lösungskraft des Werdens erschöpft. Die finale Inkonsistenz der Seinslogik – der allseitige Widerspruch der absoluten Indifferenz – nötigt uns als Lösung ein ganz neues Interpretament auf: den absoluten Schein, hinter dem ein unbekanntes Wesen sich verbergen möge. Phänomenal kennen wir relativen Schein: Eine Wand etwa scheint uns blau zu sein, ist aber weiß und wird nur mit blauem Licht bestrahlt. Das Blau, von dem wir uns täuschen lassen, ist hier tatsächlich vorhanden, aber nicht als Eigenschaft der Wand, sondern als Eigenschaft des ungewöhnlichen Lichtes, mit dem sie beleuchtet wird. Der Schein ist nicht absolut. Die Inkonsistenz am Ende der Seinslogik drängt uns aber dazu, durch Extrapolation vom relativen Schein, in dem wir auf Reales bezogen bleiben und es nur falsch konzipieren (die Wand selber als blau, statt allein das Licht), zu absolutem Schein überzugehen. Im absoluten Schein, als dessen Ausdruck man selbstverneinende Denkinhalte wie die Lügnersätze betrachten mag (›Was ich gerade sage, ist nicht wahr‹), verstellt sich das Denken seine Offenheit für das Reale und verschließt

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sich in sich. Sein Fenster nach draußen wird zum Spiegel, in dem es nur sich selber reflektiert. In diesem Sinne sagt Parmenides, dass die Negation gar nicht gedacht werden kann, weil sie das vernehmende Transzendieren zum Seienden unterbindet. Das epistemische Transzendieren zum Realen, zum unbekannten Wesen hinter dem Schein, ist zu Beginn der Wesenslogik in der Tat vollkommen unterbunden. Das Denken erreicht das Wesen also nicht direkt, sondern höchstens indirekt durch die Operation des Setzens, näher des Voraussetzens (des Setzens als nicht gesetzt). Später erfüllt sich diese Voraussetzung aber doch noch und tritt das Reale aus dem Grund in die Existenz hervor, allerdings in der typisch wesenslogischen Dualität von An-sich und Erscheinung, Innerem und Äußerem. Am Ende der Wesenslogik jedoch, mit dem Übergang zum Begriff – und vorwegnehmend und zusammenfassend schon im Kapitel über das Absolute – wird die Dualität überwunden und wird das reine logische Denken selbstbezüglich. Es versteht sich nun als den Modus, kraft dessen der logische Raum oder das Absolute sich über die ganze objektive Logik hinweg selber ausgelegt und restlos manifestiert hat. Hier also wird als Lösung der Inkonsistenz des Wesens auf das außerlogisch bekannte Phänomen des Selbstbewusstseins, das Cartesische Cogito, die kantische transzendentale Apperzeption rekurriert. Derjenige Schein, welcher nunmehr der Modus ist, ist nicht mehr ein undurchsichtiger Spiegel, durch den das Denken sich in sich selbst verschließt. Vielmehr weiß und durchschaut sich das Denken jetzt selbst als Schein und als vollkommen nichtig, so dass alles, was sich ihm zeigt, wieder auf die Rechnung des Realen und Absoluten gesetzt werden kann. Mit dem Selbstbewusstsein des Modus, dem Sich-selbst-Wissen-als-Modus, wird somit ipso facto das prädikative Als eingeführt und sodann in der Begriffslogik expliziert. Davon ist nun als nächstes zu handeln. Das reine Selbstbewusstsein als Interpretament des Begriffs kommt phänomenal nicht abgezogen für sich vor, sondern stets als Apperzeption: Ad-Perzeption, als Hinzugewahren zum Gewahren von anderem. Alles Weltbewusstsein ist schon Selbstbewusstsein, und alles Selbstbewusstsein ist auch Weltbewusstsein. Das mitvorkommende Andere im Selbstbewusstsein aber ist (außerlogisch betrachtet) das Reale in Raum und Zeit, das wir wahrnehmen, erinnern und erwarten. Das Selbstbewusstsein, das sich von dem Realen unterscheidet – nennen wir es kurz das Ich – streicht sich dem Realen gegenüber durch als nichtig und transparent. Infolgedessen kann das Reale in seiner Objektivität unverstellt so anscheinen und sich zeigen, wie es ist; das

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Ich ist nur Modus, nur sich als transparenten Schein wissender Schein. Und doch greift es auch über das Reale über; denn indem es sich von dem Realen unterscheidet, steht es über beiden: über sich selbst und dem Realen. Das ist das Phänomen des reinen Selbstbewusstseins, die Cartesisch-Kantische Evidenz, die im Übergang zur Begriffslogik als widerspruchslösend in Anspruch genommen wird. Sie gleicht in ihrer Struktur nämlich genau derjenigen des Begriffes, der als Allgemeines übergreift über sich und sein Anderes, das Besondere, und der als Allgemeines doch dem Besonderen gegenüber selbst nur ein Besonderes ist. Das Allgemeine kommt also in doppelter Rolle vor: sowohl als übergreifendes Allgemeines wie auch als dem Besonderen koordiniertes Allgemeines. Sofern es dem Besonderen koordiniert ist, ist es freilich seinerseits nur ein Besonderes neben dem Besonderen. Dann aber, wenn wir hier zwei koordinierte Besondere haben, ist das Besondere als solches diesen beiden als ihre übergreifende Gattung zugleich übergeordnet. Der Begriff gliedert sich also in zwei offene, dihairetische Baumstrukturen, die einander überlagern. In der einen sind dem Allgemeinen als solchem zwei einander koordinierte besondere Allgemeine, nämlich das Allgemeine und das Besondere, subordiniert. In der anderen sind umgekehrt dem Besonderen als solchem zwei einander korrelierte allgemeine Besondere, das Besondere und das Allgemeine, subordiniert. Zugleich sind alle erwähnten Posten in den dihairetischen Baumstrukturen auch jeweils in sich reflektiert und somit Einzelne, noch vor allem möglichen Bezug auf Raum und Zeit. So kommen alle drei Begriffsmomente, das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne – alle in rein logischer Fassung, vor dem Bezug auf Raum und Zeit – in den Baumstrukturen des Begriffs zur Geltung und zu ihrem Recht. Die erwähnte Strukturgleichheit zum Selbstbewusstsein ist bemerkenswert, und ebenso ihre Grenze. Das Selbstbewusstsein, das zugleich Weltbewusstsein ist, bildet wie das Allgemeine die übergreifende Einheit zweier Korrelate: seiner selbst und des Realen, das insofern in der Rolle des Besonderen auftritt. Dann aber verschwindet es auch zweitens neben dem Realen als ein sich als nichtig wissender Schein, wodurch das Reale in die Stellung des Absoluten und Übergeordneten kommt. Als solches umgreift es zwei korrelierte Besondere unter oder in sich, nämlich sich selbst qua objektive Welt sowie das Selbstbewusstsein des jeweiligen innerweltlichen, individuellen Subjektes. Abstrakt kann man sagen, dass im Selbst- und Weltbewusstsein einerseits die Subjektivität sich und die Objektivität umgreift und zu-

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gleich andererseits die Objektivität sich selbst und die Subjektivität. Aber dieses wahrhafte, in sich gedoppelte Subjekt-Objekt oder ObjektSubjekt wird erst in der Idee endgültig erreicht, denn der Begriff regrediert zunächst einmal wieder hinter und unter seine Bestimmung. Das Besondere nämlich als Moment des Begriffes versteht sich nicht als Modus, der sich gegenüber seinem Anderen, also dem Allgemeinen selbst als nichtig anerkennte und dem Allgemeinen den ganzen logischen Raum überließe, sondern es bleibt sperrig und opak neben dem Allgemeinen stehen. So fällt der Begriff sogleich wieder hinter die in nuce schon erreichte Klarheit des Selbstbewusstseins zurück, was die erfreuliche Konsequenz hat, dass die Wissenschaft der Logik noch etwas weitergehen muss, um den Rückfall wiedergutzumachen, und dabei weitere logische Strukturen freilegen kann. Wenn die Einheit des Selbstbewusstseins und des Begriffs aber nach dem Rückfall des Begriffs ins Opake nun durch die Kopula bzw. durch das prädikative Als interpretiert werden muss, teilt sich der Begriff in Subjekt und Prädikat. Seine beziehungsweise deren Einheit wird wieder opakes anfängliches Sein, näher Dasein oder Qualität. Aus dem Begriff ist so das prädikative Urteil geworden. Das Dasein als logisches Quale, wie wir es vom Anfang der Seinslogik kennen, ist als Kopula nun das Durchgehende und Verbindende der beiden je in sich reflektierten Urteilsextreme, ist deren Ganzes. (Im Begriff qua Selbstbewusstsein war das übergreifende Allgemeine in dieser Rolle.) Dem daseinslogischen Charakter der Kopula folgt der Charakter der in Frage kommenden Prädikate: Sie werden einfache qualitative Bestimmungen sein müssen. Die weitere Entwicklung des Urteils besteht dann darin, dass sich die Kopula allmählich aus seinslogischer Unmittelbarkeit wieder zur Höhe des Begriffs emporarbeitet, und zwar über zwei wesenslogische Zwischenstufen: eine anfängliche, reflexionslogische und eine dem Ende der Wesenslogik zugehörige modalitätslogische. So folgen auf das Urteil des Daseins, auch qualitatives Urteil genannt, das Urteil der Reflexion und das Urteil der Notwendigkeit. Zuletzt folgt, viertens, das Urteil des Begriffs, mit dem die Einheit des Urteils, das heißt die Kopula, wieder begrifflichen Charakter erreicht, der sich in der Logik des Schlusses durch die verschiedenen syllogistischen Formen hindurch entfaltet. Die Kopula qua Begriff wird zum Terminus medius, der die Extreme, nunmehr der Unterbegriff als Nachfolger des Subjekts und der Oberbegriff als Nachfolger des Prädikats, verbindet.

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Über den Schluss des Daseins und den Schluss der Reflexion stellt sich im Fortgang, nämlich im Schluss der Notwendigkeit, zuletzt die Transparenz des Begriffes vollkommen wieder her, allerdings auf über das Ziel hinausschießende Weise, so dass in übermäßiger Transparenz alle Differenzierung verlorengeht und vom Schluss nur etwas ganz einfaches, Opakes und Unbezogenes übrigbleibt: das Objekt als eines unter vielen Objekten, die äußerlich und mechanisch aufeinander bezogen sind. Dies ist der Ausgangspunkt des zweiten Abschnitts der Begriffslogik, in dem unter der Überschrift ›Die Objektivität‹ der Mechanismus, der Chemismus und die (äußere, nicht organische) Teleologie betrachtet werden. Es folgt der Schlussabschnitt, ›Die Idee‹, mit den Kapiteln ›Das Leben‹, ›Die Idee des Erkennens‹ und ›Die absolute Idee‹, danach, schon jenseits der Logik, der Übergang zur Philosophie der Natur, also zur raumzeitlichen Sphäre der Vorstellung bzw. des Diskurses. Wo ist nun aber die Metaphysikkritik innerhalb der Begriffslogik zu verorten? Werden nicht im ersten Abschnitt statt der Metaphysik die allgemeine, formale Logik und im zweiten Abschnitt verschiedene Ontologien der Naturwissenschaften kritisch dargestellt? Und ist nicht vielleicht dieser Übergang von der allgemeinen Logik zur Wissenschaftstheorie ein Systemfehler in der Wissenschaft der Logik? Sollte die Philosophie der Naturwissenschaft nicht besser im Rahmen der Philosophie der Natur abgehandelt werden? Schauen wir näher zu. Die Wissenschaft der Logik zeichnet insgesamt die Evolution des logischen Raumes nach, und diese Evolution kommt mit dem Ende der Wesenslogik keineswegs zum Stehen. Der ganze logische Raum wird im ersten Kapitel des ersten Abschnitts der Begriffslogik als der Begriff betrachtet, näher als eine schwebende dihairetische Struktur von Allgemeinem und Besonderem, von begrifflicher Subordination und Koordination, bis hin zum Einzelnen, einem rein begrifflichen Einzelnen, dem die raumzeitliche Weise der Einzelheit noch abgeht. Eine solche dihairetische Struktur aber ist charakteristisch für den Platonischen Kosmos der Ideen, und die Aufgabe des Philosophen qua Dialektikers ist es nach Platon, die Sub- und Koordinationsverhältnisse der Ideen durch Einteilungs- und Definitionsarbeit zu klären und nachzuzeichnen. Insofern kann das erste Kapitel der Begriffslogik als eine kritische Darstellung der exoterischen Platonischen Ideenmetaphysik gelesen werden. Die Metaphysik betrachtet jeweils den ganzen logischen Raum, und die Wissenschaft der Logik als Hegels Nichtstandard-Metaphysik betrachtet dessen Evolution. In einer Standardmetaphysik wird die Evolution

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auf einem bestimmten Entwicklungsstand gleichsam eingefroren und der betreffende Stand als die ewige, unwandelbare Grundstruktur des logischen Raumes präsentiert. Wie sich die logische Abfolge der Entwicklungsstadien des logischen Raumes zur historischen Abfolge metaphysischer Theorien in Beziehung setzen lässt, ist jedoch oft nicht leicht zu sagen. Hegel selbst bringt Parmenides mit dem seinslogischen Beginn in Korrelation: Parmenides sei es gewesen, der das reine Sein des Anfangs zu denken unternommen habe. Die Platonische Philosophie sollte ihre logische Entsprechung dann schon recht bald in den Anfangskapiteln der Seinslogik finden. Aber diese Erwartung wird enttäuscht, es sei denn, man bezieht bestimmte Aspekte der Logik des Unendlichen auf die Ideenlehre oder bestimmte Aspekte der Logik der Quantität auf Platons esoterische, ungeschriebene Lehre. Doch solche Zuordnungen bleiben letztlich vage und unergiebig. Wenn nun statt dessen das Anfangskapitel des dritten Buches der Wissenschaft der Logik als eine kritische Darstellung der Ideenmetaphysik gelesen werden kann, so könnte man im Sinne Hegels schlussfolgern wollen, dass Platon keineswegs seine eigene Zeit in Gedanken gefasst habe, sondern seiner Zeit im Denken vielmehr weit voraus gewesen sei, sogar weiter in der Entwicklung des Denkens als zum Beispiel Spinoza, dessen Substanzmetaphysik ihren logischen Ort am Ende der Wesenslogik hat. Diese Schlussfolgerung braucht indes nicht gezogen zu werden. Die Anfänge der drei Bücher der Logik lassen sich nämlich historisch synchronisieren. Wie wir etwa das Seinsdenken des Parmenides zu Beginn der Seinslogik wiederfinden, so seine Behandlung der Negativität und des Scheins zu Beginn der Wesenslogik. Und nun finden wir eben die zeitlich nicht lange darauf folgende Platonische Ideenmetaphysik zu Beginn der Begriffslogik wieder. Der ganze logische Raum – der Inbegriff alles Realen und Denkbaren – ist der Begriff, das heißt der Platonische Ideenkosmos mit seiner dihairetischen Baumstruktur, die der ideenkundige Dialektiker nachzuzeichnen versteht. Aber jede Standardmetaphysik scheitert an der Dynamik des logischen Raumes, der eben nicht das bleibt, als was eine jeweilige Standardmetaphysik ihn vorstellt. Er bleibt nicht reines Sein, wie die Eleaten glaubten; er bleibt nicht singuläre Substanz, wie Spinoza lehrte; und er bleibt nicht dihairetisch strukturierter Ideenkosmos, wie Platon nahelegte. Er wird Urteil: ›Alle Dinge sind ein Urteil‹, sagt demnach Hegel – nicht in eigenem Namen, sondern indem er einem bestimmten Stand der Evolution des logischen Raumes seine Stimme leiht.

Die Begriffslogik als Metaphysikkritik

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Die Dinge sind ein Urteil: Das bedeutet, dass ihnen die prädikative Struktur eingezeichnet ist. Dinge, denen die prädikative Struktur eingezeichnet ist, sind Tatsachen, keine Objekte. Der Entwicklungsstand des logischen Raumes, auf dem alle Dinge ein Urteil sind, ist demnach der Stand der Tatsachenontologie. Indem die logische Entwicklung über ihn hinausgeht, vom Urteil zum Schluss, erweist sich die Tatsachenontologie als unhaltbar und transitorisch und die Begriffslogik in ihrem Urteilskapitel als fortgesetzte Metaphysikkritik. Auf der nächsten Entwicklungsstufe des logischen Raumes sind alle Dinge ein Schluss, ein Syllogismus. In einem Syllogismus hängen drei Urteile und ipso facto drei Begriffe in Einheit zusammen und verweisen weiter über den jeweiligen Schluss hinaus auf andere Schlüsse, in denen die Prämissen des ersteren als Konklusionen hergeleitet werden. Wenn alle Dinge ein Schluss sind, so sind sie als Tatsachen logisch aufeinander bezogen und folgen auseinander in vielfältigen Weisen. Die Welt der Dinge zeigt sich hier als ein logisches Gewebe. Die entsprechende Ontologie wird keine einfache Tatsachenontologie mehr sein, sondern die Ontologie eines inferentialistischen Netzes von Tatsachen. Aber auch sie ist in der Entwicklung des logischen Raumes nichts Letztes und Bleibendes. Allerdings ist der nun nachfolgende Übergang vom Schluss zur Objektivität auffälliger und einschneidender, als es die Übergänge innerhalb des Abschnitts ›Subjektivität‹ waren. Dort wurden wir von der dihairetisch baumstrukturierten Ideenwelt, zur Welt als Gesamtheit der Tatsachen und dann zur Welt als inferentiellem Netz geführt. In all diesen Welten: der Ideen, der Tatsachen und der logischen Netze, gab es reichhaltige logisch-begriffliche Strukturen, die nun aber beim Übergang zur Welt der Objekte fürs erste ganz entfallen. Die logische Struktur hat im disjunktiven Schluss sozusagen ihr ontologisches Blatt überreizt; die Struktur ist transparent und funktionslos geworden. Hier ist das nunmehr in Mittelposition stehende, das heißt: »vermittelnde Allgemeine auch als Totalität seiner Besonderungen und als ein einzelnes Besonderes, ausschließende Einzelheit gesetzt, […] so daß ein und dasselbe Allgemeine in diesen Bestimmungen als nur in Formen des Unterschieds ist«3, 3  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986. TheorieWerkausgabe Bd. 8, 344 (§ 191). Im Folgenden zitiert als »Hegel, TWA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl.

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sagt Hegel in der kleinen Logik und beschreibt den Übergang im Fortgang wie folgt: »Diese Realisierung des Begriffs, in welcher das Allgemeine diese eine in sich zurückgegangene Totalität ist, deren Unterschiede ebenso diese Totalität sind und die durch Aufheben der Vermittlung als unmittelbare Einheit sich bestimmt hat, ist das Objekt.«4 Die Vermittlung, die der Schluss als solcher ist, hat sich im disjunktiven Schluss auf die Spitze getrieben und zugleich aufgehoben. Der Begriff ist nach seinem anfänglichen Selbstverlust realisiert, aber realisiert als ein unmittelbares »in sich vollständiges Selbständiges«, das heißt als Objekt.5 Im Urteilskapitel wurden nacheinander in vier Rubriken die Urteile des Daseins, der Reflexion, der Notwendigkeit und des Begriffs abgehandelt, im Schlusskapitel hingegen nur in drei Rubriken die Schlüsse des Daseins, der Reflexion und der Notwendigkeit. Wo, so könnte man fragen, bleibt der Schluss des Begriffs? Die Antwort muss lauten, dass die Vollendung des Schlusses als disjunktiver Schluss die Wiederherstellung des Begriffes als solchen ist, freilich nun als des unmittelbaren Begriffes, welcher das Objekt ist. Der Schluss des Begriffes, den wir vermissen, ist insofern schlicht die Objektivität. Diese Abschnittüberschrift, ›Objektivität‹, und auch die vorangegangene, ›Subjektivität‹, sind vom Standpunkt der äußeren Reflexion aus gewählt. Vom Ende der Logik her, von der ›Idee‹ her, weiß Hegel schon um die je korrelative Einseitigkeit der logischen Entwicklung im ersten und zweiten Abschnitt der Begriffslogik: Erst kommt die subjektive Seite des logischen Raumes, dann die objektive. Aber das reine Denken, das wir betrachten, weiß noch nichts von dieser jeweiligen Einseitigkeit. Für es ist die Subjektivität des Begriffs, des Urteils und des Schlusses und dann die Objektivität des mechanischen, chemischen und teleologischen Objektes jeweils das Ganze des Seins und des Denkens, jeweils der ganze logische Raum. Alle Dinge sind erst Begriff, dann Urteil, dann Schluss, schließlich Objekt. Da der logische Raum sukzessiv als Subjektivität und als Objektivität auftritt, geraten Subjektivität und Objektivität für das reine Denken nicht in Korrelation zueinander – noch nicht. Erst in der Idee werden sie gleichzeitig präsent sein und wird das betrachtete reine Denken schließlich seine eigene Reflexion, seine ei4  5 

Hegel, TWA 8, 345 (§ 193). Hegel, TWA 8, 346 (§ 193, Anm.).

Die Begriffslogik als Metaphysikkritik

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gene Hintergrund- oder Metatheorie werden, die wir zuvor in unserer äußeren Reflexion beisteuern mussten. Diese Fusion der betrachteten logischen Entwicklung und ihrer theoretischen Betrachtung war mit dem Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik schon in nuce erreicht. Aber der Begriff fiel, wie wir sahen, in seiner Urteilung sogleich wieder hinter sich selbst zurück und der Spalt zwischen betrachteter Logik und Hintergrundlogik öffnete sich erneut. Deswegen konnte die Korrelation von Subjektivität und Objektivität, Selbstbewusstsein und Realem, die im Begriff als solchem schon gedacht war, wieder verloren gehen und der logische Raum infolgedessen zunächst einseitig als Subjektivität und dann einseitig als Objektivität erscheinen. Über die verschiedenen Schritte innerhalb der Abschnitte ›Objektivität‹ und ›Idee‹ kann nicht mehr im Einzelnen gesprochen werden. Ganz summarisch sei darin erinnert, dass die äußere Zweck-Mittel-Relation überraschenderweise vor der inneren Zweckmäßigkeit auftritt, nämlich noch am Ende des Abschnitts ›Objektivität‹. Das objektiv Vorhandene ist als Objektives schon wesentlich auf den Begriff qua Zweck bezogen, auf Zwecke, die nicht die des Objektiven selber, sondern die von externen Akteuren sind. Mit der inneren Zweckmäßigkeit, derjenigen belebter Organismen, gehen wir dann schon zur Idee über, in der das Objektive und das Subjektive nun synchron auftreten und miteinander vermittelt werden. Der logische Raum ist nun Organismus und entwickelt sich weiter zu einem Raum, in dem Erkenntnis und Wissen auftreten, zunächst die theoretische und dann auch die praktische Erkenntnis (oder Erkennen im engen Sinn und Wollen). Am Ende steht die absolute Idee, in der nicht nur Erkennen und Wollen, sondern auch überhaupt Subjektivität und Objektivität in die transparente, dynamische Einheit kommen, die sich schon im gewöhnlichen Selbstbewusstsein phänomenal aufweisen ließ. Mit der absoluten Idee soll das Versprechen einer definitiven Entschärfung der Antinomie der Negation eingelöst und soll die opake Notwendigkeit der Substanz endgültig in die durchsichtige Freiheit des nunmehr realisierten Begriffes überführt sein. Damit erlischt auch die Notwendigkeit eines Fortgangs. Die absolute Idee sammelt in sich den bisherigen Gang der Logik und führt im Kreisgang an den Anfang zurück, nun aber so, dass in Freiheit ein neuer Durchgang, beginnend mit der Unmittelbarkeit des Seins, durchlaufen werden kann. Die Idee entschließt sich ohne Not, sondern vielmehr frei, das unmittelbare Sein des Anfangs als Natur in der äußeren Mannigfaltigkeit von Raum und Zeit aus sich zu entlassen. Weil sie sich dazu

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entschlossen hat, weil es folglich das materielle Raum-Zeit-System gibt, geht das Philosophieren auch jenseits der Logik weiter. Aber das ist dann eine neue Geschichte.

Burkhard Nonnenmacher Hegels Philosophie des Absoluten In den Zeitraum von 1811–1821 fällt das Erscheinen der Wissenschaft der Logik (1812–1816), die erste Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) und das Erscheinen der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Von den wenigen kleinen Schriften dieses Zeitraums besonders zu nennen ist zudem Hegels Jacobi-Rezen­sion von 1817, auf die ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal zurückkomme.1 – Hegels Philosophie des Absoluten betreffend kann über den Zeitraum von 1811–1821 damit zunächst einmal ganz formal gesagt werden, dass sie in ihm in der Wissenschaft der Logik ihr logisches Fundament erhält, auf das dann die erste Auflage der Enzyklopädie den ersten Entwurf des ›Systems der Totalität‹ des reifen Hegel gründet. – Doch worin besteht dieses logische Fundament, wie verhält es sich zum Jenaer und zum frühen Hegel und welche Entwicklung erfährt Hegels Systemgedanke im benannten Zeitraum? Ich möchte mich mit dieser Thematik im Folgenden in vier Schritten auseinandersetzen: In einem ersten Schritt skizziere ich Hegels Programm einer Philosophie des Absoluten ausgehend von der Überlegung, dass eine Philosophie des Absoluten, die ihren Gegenstand ernst nimmt, sich selbst in ihrem Gegenstand verorten muss. Ein zweiter Schritt skizziert die Durchführung von Hegels Programm im reifen System, also im auf die »absolute Idee« am Ende der Logik gegründeten System, in dem sich die absolute Idee im »Entschluß«2 zur »Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes«3 als »System der Totalität«4 realisiert, um eben genau damit das spätestens ab der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes formulierte Programm zu vollenden, nämlich, dass »das Wahre […] das Ganze« sein muss5 und »nur als System wirklich« 1 

Hegels Werke werden zitiert nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff. Im Folgenden zitiert als »Hegel, GW«. Eine Ausnahme bilden Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Sie werden zitiert nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bde. 3–5: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1–3. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1983–1985. Im Folgenden zitiert als »Hegel, VPR«. 2  Hegel, GW 12, 253. 3  Hegel, GW 21, 34. 4  Hegel, GW 12, 250. 5  Hegel, GW 9, 19.

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sein kann.6 Ein dritter Schritt dient der Vertiefung. Hier gehe ich der Frage nach, inwiefern alles bis dahin Entwickelte in Hegels prinzipieller Absage an eine abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem gründet. Ein vierter Schritt ventiliert schließlich die systematischen Implikationen dieser Absage und stellt einen Bezug zur JacobiRezension Hegels von 1817 und der in ihr enthaltenen Bezugnahme auf den Theismusstreit her.

1. Das Programm von Hegels Philosophie des Absoluten Der Gegenstand der Philosophie ist nach Hegel das Absolute und die Aufgabe der Philosophie besteht darin, begrifflich zu explizieren, was das Absolute ist. Anders als die »vormalige Metaphysik«7 beginnt Hegels Umsetzung dieses Programms jedoch weder mit einer in der Tradition der Gottesbeweise stehenden Klärung der Frage, ob es »das Absolute« gibt, noch mit einer in der Tradition des »kritischen Standpunkts«8 stehenden Verhandlung der Frage, inwieweit wir das Absolute erkennen können. Vielmehr rückt Hegel die Frage ins Zentrum, inwiefern sich die Philosophie des Absoluten selbst in ihrem Gegenstand verorten muss, um diesen adäquat bestimmen zu können, und inwieweit damit der Begriff des Absoluten selbst zum Absoluten und dessen Wesen gehört. Keineswegs will sich Hegel hiermit jedoch über zuvor geäußerte metaphysikkritische Argumente hinwegsetzen, sondern im Gegenteil zeigen, dass gerade in der Auseinandersetzung mit dieser dritten Frage, auch die Fragen nach dem Wesen, der Existenz und der Erkennbarkeit des Absoluten eine abermals revidierte Beantwortung erfahren können. Ziel Hegels ist es dabei, zu zeigen, dass ein vermeintlich mit aller Metaphysik fertiger Standpunkt gerade nicht als letztmöglicher Standpunkt propagiert werden kann, sondern vielmehr selbst als das Produkt einer nur zur Hälfte zu Ende gedachten »Aufklärung« konzediert werden muss, welche die »Öden« des »Verstandes« nur vorschnell als der Weisheit letzten Schluss behauptet, um sich dann allenfalls noch in eine Region des »warmen Gefühls«9 zu flüchten, welchem Unterfangen Hegel eine ebenso dezidierte Absage erteilt, wie einer sich selbst zum Absoluten stilisierenden Endlichkeit. 6 

Hegel, GW 9, 22. Zum Begriff der »vormalige[n] Metaphysik« vgl. Hegel, GW 20, 70. 8  Zum Begriff des »kritischen Standpunkts« nach Hegel vgl. bes. Hegel, GW 9, 53. 9  Vgl. hierzu u. a. Hegel, VPR 5, 176. 7 

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Beginnen möchte ich meine weiteren Ausführungen vor diesem Hintergrund mit einem einfachen Argument, das ersten Aufschluss darüber geben soll, warum Hegel die Frage nach der Verortung der Philosophie des Absoluten im Absoluten ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Es besteht darin, dass, wenn das Dargestellte das Absolute ist, die Möglichkeit, dass die Darstellung unabhängig von ihrem Dargestellten ist, von vornherein ausscheidet, weil ansonsten das Absolute nicht widerspruchsfrei gedacht werden könnte. Denn wäre die Darstellung des Absoluten vom Absoluten unabhängig, dann wäre seine Darstellung durch etwas anderes bedingt. Genau das aber widerspräche seinem Begriff, denn das Absolute unterläge dann einer Einschränkung, der es per definitionem nicht unterliegen kann. Dass die Philosophie das Absolute zur Darstellung bringen soll, bedeutet deshalb, dass sie es mit einem Dargestellten zu tun hat, dessen Darstellung ein Sichdarstellen des Dargestellten ist, und somit ist gerade auch das, was Philosophie ist, als aus dem Absoluten selbst hervorgehend zu begreifen. Im zweiten Teil der Wissenschaft der Logik, der Lehre vom Wesen, sagt Hegel deshalb: »Es soll aber dargestellt werden, was das Absolute ist; aber diß Darstellen kann nicht […] äussere Reflexion seyn, […] sondern es ist die Auslegung und zwar die eigene Auslegung des Absoluten […].«10 Das Absolute zu thematisieren, bedeutet also, dass das »Absolute als Verhältniß zu sich selbst«11 wirklich sein muss. Doch was heißt das? Bedeutet das nur, dass, wenn es zu einer Darstellung des Absoluten kommt, auch diese Darstellung ein Vorgang im Absoluten sein muss, da dieses nichts außer sich haben kann? Oder bedeutet das, dass das Absolute überhaupt nur als sich-darstellend begriffen werden kann und wenn ja, welche Konsequenzen hat das für den Begriff des Absoluten? Genau diese Frage, inwieweit das Absolute von seinen Selbstdarstellungen, Bestimmungen und Äußerungen gar nicht getrennt werden kann, sondern überhaupt nur als Verhältnis zu sich selbst wirklich ist, beschäftigt Hegel bereits früh unter der Überschrift ›Leben‹ und verfolgt ihn bis zum Schluss unter den Überschriften ›Geist‹, ›Idee‹ und ›System‹. Spinozas Argument, dass es außer dem Absoluten nichts geben kann und demzufolge alles als Attribut oder Modus desselben betrachtet werden muss, bildet dabei auch für Hegel einen entscheidenden Ausgangspunkt, und noch in der Enzyklopädie von 1830 bezeichnet er deshalb die Lehre von der »Idealität des Endlichen« als 10  11 

Hegel, GW 11, 370. Hegel, GW 11, 369.

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den »Hauptsatz der Philosophie«,12 denn nach Hegel muss eben jedwede Philosophie des Absoluten ihren Ausgang von der Reflexion der Unmöglichkeit einer abstrakten Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem nehmen und sich hierauf aufbauend dann fragen, wie alles Endliche im Absoluten enthalten sein kann, einschließlich aller bestimmten Ausdrücke und Darstellungen desselben. In Abgrenzung von Spinoza gibt sich Hegel jedoch gerade nicht mit dessen Antwort auf die Frage, nach dem Wie des Enthaltenseins des Endlichen im Unendlichen zufrieden. Anders als Spinoza möchte Hegel nämlich nicht nur definieren »Per Deum intelligo ens absolute infinitum, hoc est, substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam, et infinitam essentiam exprimit«13, sondern im Sinne einer voraussetzungslos das Voraussetzungslose14 thematisierenden Philosophie will Hegel darüber hinaus die Frage verfolgen, wie die in Spinozas Definition nur genannte, aber nicht weiter bestimmte Beziehung zwischen dem Partizip »constans« und dem Prädikat »exprimit« näher zu konkretisieren ist. Richtungsweisend wird das schon zu Hegels Frankfurter Zeit im sogenannten Systemfragment von 1800 deutlich. Denn auch im Sinne der vom Systemfragment intendierten »Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung«15 ist es eben bereits genau nicht ausreichend, nur das Endliche im Unendlichen enthalten und vereinigt zu denken (das wirft Hegel Spinoza ja gerade vor). Vielmehr gilt es für Hegel darüber hinaus bereits hier, das unendliche Leben »zugleich als Entgegensetzung«16 zu denken, und damit das Unendliche als das sich wesentlich in seine bestimmte Gestalt entäußernde und hierin allein wirkliche Absolute, – ohne dass das Unendliche dabei freilich selbst zu einem Endlichen werden darf, i.e. zu einem »verendlichten Unendlichen«, das in Wahrheit ein bloß »verunendlichtes Endliches« 17 ist, wie Hegel dann später im ersten Teil der Wissenschaft der Logik, der Lehre vom Sein, formuliert.18

12 

Hegel, GW 20, 133. Benedictus de Spinoza: Ethik. Zweisprachige Ausgabe, revidierte Übersetzung von Jakob Stern. Stuttgart 1990, 4 (De Deo, Definitio VI). 14  Vgl. hierzu auch Hegels Rede vom »Absolut-Absolute[n]« in Hegel, GW 11, 372. 15  Hegel, GW 2, 344. 16  Hegel, GW 2, 343. 17  Hegel, GW 21, 132. 18 Vgl. hierzu auch Friedrich Hermanni: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen. Tübingen 2011, 203–214. 13 

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Bereits im Systemfragment steht damit also folgendes zentrales Problem im Raum: Weder darf nur alles Endliche im Absoluten aufgelöst werden,19 weil damit das Absolute nur noch die Nacht wäre, in der »alle Kühe schwarz sind«,20 noch kann andererseits das Endliche selbst zum Unendlichen erklärt werden. Denn damit wäre die Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem ebenso aufgehoben, nur mit dem Unterschied, dass hier das Absolute noch nicht einmal mehr als die bloße Nacht ›erschiene‹, sondern schlichtweg nicht mehr vorhanden wäre. Es bliebe dann nur ein zu einem bloßen Positivismus verkommener Pantheismus, der einer Verabsolutierung des Endlichen gleichkäme. – Die schwierige Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist deshalb, ein Modell dafür zu entwickeln, wie es gelingen kann, weder das Absolute dem Endlichen nur abstrakt entgegenzusetzen noch trivial mit diesem zu identifizieren. Wie hängt dieses Problem nun aber mit dem zuvor verhandelten Gedanken zusammen, dass die Darstellung des Absoluten im Absoluten selbst zu verorten ist? Ist es Hegels Programm, die schwierige Aufgabe, dass das Absolute dem Endlichen weder abstrakt entgegengesetzt noch trivial mit ihm identifiziert werden darf, darüber zu lösen, dass er das Verhältnis von Endlichem und Absolutem als Darstellungsverhältnis bestimmt? Und wenn ja, wie soll jenes Darstellungsverhältnis das zuvor explizierte Problem lösen? Und vor allem, ab wann verfolgt Hegel dieses Programm? Ich beginne mit einer vorsichtigen Antwort auf die letzte Frage: Obgleich Hegel bereits im Systemfragment »die Lebendigen« als »Äußerungen des Lebens, als Darstellungen desselben«21 bestimmt und verlangt, dass »das Natur betrachtende, denkende Leben« seine »Entgegensetzung seiner selbst gegen das unendliche Leben«22 aufheben soll, muss hier dahingestellt bleiben, inwieweit sich auch bereits am Systemfragment ausmachen lässt, dass es gerade das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung erlauben soll, das ins Auge gefasste, aber gleichwohl schwierige Verhältnis einer Einheit von Einheit und Unterschied näher zu explizieren. Explizit formuliert findet sich diese Strategie dann

19  Vgl.

hierzu auch Hegel, GW 11, 376. berühmte, häufig als Polemik gegen Schelling beurteilte Formulierung Hegels findet sich freilich erst in der Phänomenologie des Geistes (vgl. Hegel, GW 9, 17). Der Sache nach artikuliert Hegel dasselbe Problem jedoch bereits im Systemfragment. 21  Hegel, GW 2, 342. 22 Ebd. 20  Diese

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jedoch bereits kurz darauf 1801 in der Differenzschrift, an deren Ende Hegel, ihr gesamtes Programm zusammenfassend, sagt: »Wenn das Bedürfniß der Philosophie, ihren Mittelpunkt nicht erreicht, zeigt es die zwey Seiten des Absoluten, welches inneres und äusseres, Wesen und Erscheinung zugleich ist, getrennt; das innere Wesen, und die äussere Erscheinung besonders.«23 Hegel sagt damit erstens, dass die Darstellung des Absoluten nicht nur Selbstdarstellung des Absoluten sein muss, sondern dass zudem gelten soll, dass die Erscheinung des Absoluten von dessen Wesen selbst nicht getrennt werden darf. Aber auch das ist eben noch nicht alles. Denn in der Tat ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Differenzschrift doch gerade zu zeigen, dass a) die »Entzweiung« der »Quell des Bedürfnisses der Philosophie« ist und dass b) das »einzige Interesse der Vernunft« darin besteht, jene »festgewordenen Gegensätze« aufzuheben, die darin begründet sind, dass sich in der »Bildung des Zeitalters« nach Hegel »das, was Erscheinung des Absoluten ist, vom Absoluten isoliert und als ein Selbständiges fixiert [hat].«24 Was bedeutet das nämlich im Blick auf die zuvor zitierte Aussage Hegels, dass dann, wenn das Bedürfnis der Philosophie ihren Mittelpunkt nicht erreicht, Wesen und Erscheinung getrennt gezeigt werden? Doch offenbar nicht nur, dass die Aufhebung der Trennung von Wesen und Erscheinung des Absoluten nur die Aufhebung irgendeiner Entzweiung ist, die es eben auch aufzuheben gilt, sondern vielmehr, dass exakt diese Entzweiung der Mittelpunkt ist, von dem aus alle Entzweiung aufgehoben werden können soll. – Was die zitierten Aussagen der Differenzschrift formulieren, ist deshalb also nicht nur erstens, dass die Erscheinung des Absoluten von dessen Wesen selbst nicht getrennt werden darf, sondern vielmehr gilt zweitens, dass dieses Programm zugleich Hegels Strategie dafür ist, seine zuvor an einer »Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung«25 orientierte Philosophie des Absoluten weiterzuentwickeln. Und genau das bedeutet wiederum drittens, dass Hegel spätestens hier nun also explizit dafür votiert, dass es gerade unter der Idee eines von seiner Erscheinung nicht zu trennenden Absoluten gelingen soll, die bereits zuvor ins Auge gefasste Aufgabe zu lösen, dass das Absolute dem Endlichen weder abstrakt entgegengesetzt noch trivial mit ihm identifiziert werden darf. 23 

Hegel, GW 4, 91. Hegel, GW 4, 12f. 25  Hegel, GW 2, 344. 24 

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In den Mittelpunkt des gesamten philosophischen Interesses gerückt ist damit das Programm, das Absolute darüber als Aufhebung aller Entzweiung zu entwickeln, dass gezeigt wird, dass am Absoluten einerseits zwar Erscheinendes und Erscheinung momenthaft unterschieden sind und andererseits dieser Unterschied gleichwohl als aufgehoben gesetzt werden muss. Wie dieses Programm umgesetzt werden kann, beschäftigt darauf Hegels gesamtes weiteres Denken. Denn Hegel lässt eben genau diesen Gedanken eines von seiner Erscheinung nicht zu trennenden Absoluten nie wieder los, sondern macht ihn vielmehr zum zentralen Gedanken seines gesamten weiteren Schaffens, auch wenn er freilich letztlich begriffslogisch und nicht wesenslogisch gedeutet werden muss, ich gehe darauf gleich noch ausführlicher ein. Zuvor möchte ich aber noch einmal an den Anfang meiner Ausführungen zurückkehren, der darin bestand, Hegels Philosophie des Absoluten als eine maßgeblich am Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung orientierte Philosophie des Absoluten in den Fokus zu bringen. Als der entscheidende Punkt des bereits in der Differenzschrift artikulierten und bis ins Berliner System fortgeführten Programms einer am Begriff der Darstellung orientierten Philosophie des Absoluten hat sich im Vorausgegangenen gezeigt, dass für Hegel die Frage nach der Darstellung des Absoluten zur Frage nach dem Absoluten selbst wird. Beides ist nicht zu trennen. Und zwar das eben genau nicht nur aus einer subjektivistischen Perspektive, sondern im Sinne eines das Absolute weder als bloße Fiktion noch nur als ein unerkennbares Jenseits bedingt denkenden, sondern vielmehr absolut denkenden Standpunkts, den zu entwickeln die Aufgabe der Phänomenologie des Geistes ist.26 An deren Anfang steht deshalb das wie der Vogel nur mit einer Leimrute zu fangende, jenseitige Absolute27, i. e. der skeptische »Standpunkt der Reflexion«28, der die Trennung von Subjekt und Objekt und das Credo absoluter

26 

In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1824 entwickelt Hegel den »spekulativen Begriff der Religion« in exakt diesem Sinne im Rekurs auf die in der Seinslogik entwickelte Dialektik von Endlichem und Unendlichem (vgl. bes. Hegel, VPR 3, 193–214) als die Aufgabe, zu begreifen, dass »Gott nicht ein Abstraktum, sondern das schlechthin Konkrete ist«, vgl. VPR 5, 146. Vgl. hierzu auch Friedrich Hermanni: Arbeit am Göttlichen. Hegel über die Religion des religiösen Bewusstseins, in: Religion und Religionen im deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling. Hrsg. v. ders./Burkhard Nonnenmacher/Friedrike Schick. Tübingen 2015, 155–183, hier 155f. 27  Vgl. Hegel, GW 9, 53. 28  Vgl. Hegel, VPR 3, 194f.

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Endlichkeit zu seiner Voraussetzung hat.29 An ihrem Ende dagegen steht das »absolute Wissen«, in dem die Trennung von Subjekt und Objekt darin überwunden ist, dass nicht nur die Erscheinung des Absoluten als im Absoluten geschehender Vorgang begriffen wird, sondern vielmehr die Erscheinung des Absoluten als das Absolute selbst und deshalb seine »Entäusserung« als »die Entäusserung ihrer selbst«.30 Spätestens jetzt lässt sich deshalb festhalten, dass Hegels Philosophie des Absoluten in zentraler Weise dadurch charakterisiert ist, dass sie das Absolute als ›Geist‹ begreift. Denn unter ›Geist‹ versteht Hegel eben nicht nur irgendetwas und mancherlei, sondern genau das, was gerade entwickelt wurde, das ist die Tatsache, dass das Absolute als nicht nur definitorisch vorausgesetzte, sondern vielmehr kategorial zu bestimmende, von Hegel »Manifestation«31 genannte essentielle Einheit seiner selbst mit seiner Erscheinung zu begreifen ist. Die Ontologie dieser Einheit zu entfalten ist dann die Aufgabe der Wissenschaft der Logik, die Hegel deshalb als »die eigentliche Metaphysik« bezeichnet,32 weil sie allererst die möglichen Kategorien entwickelt, in denen diese Einheit gedacht werden kann, beziehungsweise weil sie allererst zeigt, dass die fundamentalen Bestimmungen unseres Denkens allesamt als bestimmte Konkretionsformen dieser Einheit zu begreifen sind. Von höchster Wichtigkeit ist jedoch zudem, dass auch die Logik deshalb keineswegs für sich in Anspruch nimmt, das Absolute bereits abschließend und vollständig zu bestimmen. Denn das soll nach Hegel nur im System-Ganzen gelingen und am Ende der Wissenschaft der Logik steht deshalb gerade nicht ein bereits für sich fertiger und völlig in sich beschlossener Begriff, sondern vielmehr die »absolute Idee«, die sich allererst im »Entschluß«33 zur »Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes«34 als »System der Totalität«35 realisieren soll, um eben genau damit das spätestens ab der Vorrede zur Phänomenologie formulierte Pro-

29 Vgl.

hierzu auch Axel Hutter: Hegels Philosophie des Geistes, in: Hegel-Studien 42 (2007), 81–97, hier 89f. 30  Vgl. Hegel, GW 9, 433. 31  Vgl. Hegel, GW 11, 380f.; GW 20, 382. 32  Vgl. Hegel, GW 21, 7. 33  Vgl. Hegel, GW 12, 253. 34  Vgl. Hegel, GW 21, 34. 35  Hegel, GW 12, 250.

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gramm zu vollenden, nämlich, dass »das Wahre […] das Ganze« sein muss36 und »nur als System wirklich« sein kann37.

2. Die Durchführung des vorgestellten Programms im »System der Totalität« Wie entfaltet Hegels reife Philosophie des Absoluten, fundiert durch Hegels Wissenschaft der Logik und skizziert in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, das Absolute als »Manifestation«38, i. e. als das »[Ä]ußern«39 und »Auslegen seiner selbst«40? – Will man sich mit dieser gleichermaßen zentralen wie globalen Frage in Hegels Denken anhand der Wissenschaft der Logik und anhand Hegels reifem System näher auseinandersetzen, gilt es zunächst zu fragen, wie der reife Hegel die Maxime der Phänomenologie, dass das Wahre das Ganze sein muss, mit dem bereits in der Differenzschrift ins Auge gefassten Programm zusammenbringt, dass das Absolute als Geist oder Manifestation41 zu begreifen ist, das heißt als Einheit seines Wesens und seiner Erscheinung. Hierzu fürs erste wieder nur eine kurze Überlegung: Wenn es außer dem Absoluten nichts geben kann, muss alles Endliche in ihm von ihm unterschieden sein. Für Spinoza bedeutet das, dass alles Attribut oder Modus, oder, wie Hegel sagt, »Bestimmung«42 des Absoluten ist. Ist das Absolute jedoch zudem als Geist bestimmt, dann hat das zur Konsequenz, dass prinzipiell alles, was ist, als bestimmte Form oder als bestimmter Ausdruck der von Hegel als ›Geist‹ bezeichneten Einheit von Wesen und Erscheinung begriffen werden können muss. Doch welche Konsequenzen ergeben sich hieraus? Nur die, dass die Aufgabe der Philosophie dahingehend präzisiert werden muss, dass sie letztlich alles als Geist-Struktur zu interpretieren hat? Freilich ist das für Hegel noch nur die eine Seite seiner Philosophie des Absoluten. Denn die andere, nach Hegel ebenso zu berücksichtigende Seite ist, 36 

Hegel, GW 9, 19. Hegel, GW 9, 22. 38  Hegel, GW 20, 382. 39  Hegel, GW 11, 368. 40  Hegel, GW 11, 393. 41  Der Hegel der Differenzschrift verwendet den Begriff ›Manifestation‹ freilich noch nicht. Der Sache nach lässt sich der oben zitierte Mittelpunkt der Philosophie in der der Differenzschrift (Hegel, GW 4, 91) aber bereits unschwer als das Programm erkennen, das Absolute als ›Manifestation‹ zu begreifen. 42  Hegel, GW 11, 370. 37 

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dass der Begriff des Geistes selbst nur im und als »System der Totalität« wirklich sein soll.43 Die Pointe der Maxime, dass das Wahre das Ganze sein muss, ist deshalb also keineswegs nur, dass alles als Geist auszuweisen ist. Vielmehr geht es Hegel darüber hinaus darum, ebenso umgekehrt zu durchdenken, dass der Geist selbst nur im Ganzen als Geist für sich selbst ist, sodass man es qua System also gerade nicht nur mit besonderen Formen einer an und für sich schon fertigen Wahrheit zu tun hat, sondern vielmehr mit Formen, die selbst allererst genau den einen Geist-Begriff bilden sollen, den sie allesamt ausdrücken. Als zentrale, das Programm der Differenzschrift noch einmal steigernde Pointe des reifen Systems zeigt sich deshalb, dass für den reifen Hegel das konsequent als Einheit von Wesen und Erscheinung gedachte Absolute offenbar zum Begriff dieser Einheit werden muss, der selbst nur in seinen Bestimmungen wirklich ist, i. e. selbst nur als und qua System durchdacht werden kann. Denn wenn das Absolute im SystemGanzen konstruiert werden soll, das System-Ganze aber ein System von Formen des Geistes ist, die allererst in ihrer Gesamtheit dasjenige begreifbar machen, was es begrifflich zu fassen gilt, dann eben gilt, dass im System-Ganzen offenbar in Einem das Absolute als Geist und als Begriff des Geistes konstruiert werden soll. Erst hiermit beginnt sich dann freilich in vollem Umfang zu zeigen, inwiefern in Hegels reifer Philosophie des Absoluten Gegenstand und Methode miteinander verknüpft sind:44 Denn nicht geht es nach dem zuletzt Gesagten ja nur mehr um das Programm eines mit seiner Darstellung verknüpft sein sollenden Absoluten, sondern darüber hinaus darum, dem Begriff dieser Verknüpfung an sich selbst seinen Gegenstand zu erzeugen, indem er selbst als Einheit seiner Allgemeinheit und Besonderheit qua System konstruiert wird. Es ist sehr wichtig, diesen in der Hegel-Forschung in seinem logischen Ernst bisweilen unterschätzten Umstand in Hegels reifem System nicht aus dem Blick zu verlieren. Hegel geht es um die absolute Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Er weist selbst unermüdlich darauf hin. Eine der prominentesten Stellen findet sich in der Einleitung der Enzyklopädie: Im Ausblick auf das ganze System heißt es hier erstens, dass die philosophische Idee, i. e. das im Denken qua System der

43 

Hegel, GW 20, 56. hierzu auch Dieter Henrich: Die Formationsbedingungen der Dialektik. Über die Untrennbarkeit der Methode Hegels von Hegels System, in: Revue international de philosophie 139/140 (1982), 139–162. 44 Vgl.

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Philosophie konstruierte Absolute45, »in jedem Einzelnen [seiner Teile]« in »einer besondern Bestimmtheit« »erscheint«. Zweitens gilt aber zusätzlich, dass dieses Erscheinen für die philosophische Idee, respektive für das im Denken qua System der Philosophie konstruierte Absolute, keineswegs kontingent ist.46 Denn vielmehr soll drittens gelten, dass eben dieses »System« der »eigenthümlichen Elemente« der Idee, das ist ihrer Weisen, in besonderer Bestimmtheit zu erscheinen, gerade und allererst »die ganze Idee ausmacht«,47 sodass die Idee also selbst all-einig im und als das System ihres Erscheinens in besonderer Bestimmtheit besteht. Ich sage dasselbe noch einmal zugespitzter: Jene Einheit von Allgemeinem und Besonderem, die die Idee als Begriff des Begriffs am Ende der Logik absolut denkt, besteht darin, dass sie sich selbst als Einheit ihrer Allgemeinheit und Besonderheit konstruiert. Sie denkt diese Einheit nicht nur, sondern stellt diese selbstreferentiell her. Und zwar das genau qua System, das ist als die absolute Idee, die sich »ihrer absolut sicher und in sich ruhend«48 an die Natur entlässt,49 um sich darin absolut zu verwirklichen, dass sie sich selbst als System und Geschichte ihres Erscheinens in besonderer Bestimmtheit qua System der Totalität konstruiert und hierin frei selbst-bestimmt. Hegels Metapher des Kreises steht für genau diesen Gedanken. Denn die im System entworfene Geschichte der Selbstfindung der Idee (wirklich im Übergang der Natur in den endlichen Geist, der sich wiederum zum absoluten Geist erhebt, auf dessen höchster Stufe, der Philosophie, sich die Idee selbst findet) ist eben nicht nur ein Rückgang der Idee in sich selbst, sondern zugleich der Vorgang ihrer freien Selbstbestimmung. Oder noch anders ausgedrückt: Das System ist die realisierte Idee, die sich genau darin realisiert, konkretisiert und bestimmt, dass sie sich im System der Totalität diejenigen Bestimmtheiten setzt, als deren Wahrheit sie sich begreift. Eine hervorragende Möglichkeit, das eben begriffslogisch exponierte Verhältnis von Logik und Realphilosophie noch weiter zu verdeutlichen, bietet meines Erachtens das ebenfalls in den Zeitraum von 1811 45 

Hegel, GW 20, 56. Ebd., § 15 der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830. Alle Stellen finden sich exakt so aber auch bereits in der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817, nämlich hier in § 6. 47  Ebd., § 15 der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830. Alle Stellen finden sich exakt so aber auch bereits in der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817, nämlich hier in § 6. 48  Hegel, GW 12, 253. 49 Ebd. 46 

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bis 1821 fallende Manuskript zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1821. Zu Beginn der bestimmten Religion des Ma­ nuskripts heißt es: »Daß der Begriff nicht von Anfang für sich herausgebildet ist, nicht unmittelbar, ist Natur des Begriffs«50. Die bestimmte Religion ist deshalb der »Weg zum Begriff [der Religion]«51, ohne den der Begriff nicht ist, was er ist.52 Nur hierüber wird der »erfüllte Begriff der Religion«53 gewonnen, wie dann die Vorlesung von 1827 ergänzt.54 Was lässt sich hieraus für das oben Entwickelte lernen? Die bestimmte Religion ist die Realisierung des Begriffs der Religion. Betrachtet werden kann sie aus zwei Perspektiven: Erstens ist sie Selbstbestimmung des Begriffs der Religion, das heißt »Entwicklung der Bestimmtheiten, in die er sich setzt«55, wie Hegel im Manuskript sagt. So betrachtet ist die bestimmte Religion Selbstbestimmung Gottes als absoluter Geist, in der Sphäre der Religion. Andererseits ist die bestimmte Religion zweitens »das Werden des Begriffs«56, wie das Manuskript ebenfalls sagt, in der der »Geist« allererst »seine wahrhaft unendliche Bestimmtheit« erlangt, nämlich das in »bestimmte[n] Stufen des Bewusstseins, des Wissens vom Geiste«57, wie es in der Vorlesung von 1827 heißt. Wie verhalten sich nun aber beide Perspektiven zueinander? Das Manuskript sagt hierzu, dass die »Auflösung« der Bestimmtheiten des Begriffs und die »Rückkehr« aus ihnen »eben der Begriff selbst [ist]«58. Das bedeutet, dass jene Erfüllung des Begriffs, gerade darin Erfüllung ist, dass sich der Begriff als Rückkehr aus jenen Bestimmtheiten begreift, in die er sich selbst setzt. ›Nicht von Anfang für sich herausgebildet‹ ist der Begriff damit deshalb nicht, weil er gerade darin besteht, sich als Wahrheit jener Bestimmtheiten seiner selbst zu setzen. Das heißt der Begriff setzt sich also deshalb in diese Bestimmtheiten, weil er sich nicht unmittelbar als jene aus der Negation seiner Negationen gewonnene Identität denken kann. 50 

Hegel, VPR 4, 2.

51 Ebd. 52 Vgl.

hierzu auch Friedrich Hermanni: Kritischer Inklusivismus. Hegels Begriff der Religion und seine Theorie der Religionen, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 55 (2013), 136–160. 53  Hegel, VPR 4, 412. 54 Vgl. hierzu auch v. Verf.: Hegels Begriff des Absoluten und die Religionen, in: Religion und Religionen im deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling. Hrsg. v. Friedrich Hermanni/ders./Friedrike Schick. Tübingen 2015, 131–153. 55  Hegel, VPR 4, 1. 56  Hegel, VPR 4, 2. 57  Hegel, VPR 4, 414f. 58  Hegel, VPR 4, 2.

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Was lässt sich damit nun aber für das Verhältnis der beiden Perspektiven konstatieren? Unmittelbar betrachtet ist die bestimmte Religion nur die Erhebung zur absoluten Religion, i.e. der Anfang von deren Werden. In Wahrheit betrachtet ist die bestimmte Religion für Hegel dagegen der durch den Begriff der Religion beschlossene Anfang seiner Selbstrealisierung, eben weil er als ›erfüllter‹ Begriff erst dann wirklich ist, wenn er sich dazu bestimmt, die Rückkehr aus bestimmten Bestimmungen zu sein, beziehungsweise wenn jene Bestimmungen als seine Bestimmungen gedacht sind und er als deren Wahrheit gedacht ist. Zurück zum oben beschriebenen Verhältnis von Logik und Realphilosophie. Hier verhält es sich ähnlich. Ebenso wie sich der Begriff der Religion in der bestimmten Religion erst erfüllt, weil er nur als die Rückkehr aus jenen Bestimmungen ist, ebenso erfüllt sich die am Ende der Logik entwickelte absolute Idee erst in der Realphilosophie. Denn deren Bestimmungen sind die selbstgesetzten Bestimmungen der Idee, als deren Wahrheit sie sich begreift und sich hierin als System der Totalität realisiert. Genau deshalb sagt Hegel auch in der enzyklopädischen Logik zu Beginn des Idee-Kapitels in der Begriffslogik mit Blick auf das ganze System: »Das Absolute ist die allgemeine und eine Idee, welche als urtheilend sich zum System der bestimmten Ideen besondert, die aber nur diß sind, in die Eine Idee, in ihre Wahrheit zurückzugehen.«59 So viel fürs erste zum als absolute Einheit von Allgemeinem und Besonderen verstandenen reifen System Hegels. – Nur, was hat jene Einheit von Allgemeinem und Besonderen nun aber eigentlich mit der zuvor verhandelten Einheit von Absolutem und seiner Selbstdarstellung zu tun? Ist die begriffslogische Einheit von Allgemeinem und Besonderem die Wahrheit der wesens- und reflexionslogisch gesuchten Einheit von Dargestelltem und seiner Darstellung? Exakt so entwickelt es Hegels Logik, wenn sie im Übergang der Wesens- in die Begriffslogik den Begriff zur Wahrheit des als Manifestation verstandenen Absoluten erklärt. Ich komme unten noch einmal ausführlicher hierauf zurück. Zunächst soll dieser Hinweis für die bislang entwickelte System-Skizze genügen. Mehrere weitere Fragen schließen sich jedoch unmittelbar an das zuletzt Entwickelte an: Bereits die Differenzschrift sagt, dass das Absolute nicht nur als ein Etwas gedacht werden soll, das unter anderem auch die Eigenschaft besitzt, auf sich selbst Bezug nehmen zu können, son59 

Zitiert nach Hegel, GW 20, 215, § 213 Anm. der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830. Der Text findet sich aber auch bereits exakt so in der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817, nämlich hier in § 162, Anm.

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dern vielmehr soll es als das allein in seinem Verhältnis zu sich selbst Wirkliche gedacht werden und hiermit als absolute Selbstbezüglichkeit.60 Weshalb aber soll der Versuch, dies zu denken, an sich selbst seinen Gegenstand entwickeln? Bzw. warum soll gelten, dass die Philosophie allererst ihren Gegenstand herstellt, indem sie ihre Versuche, das Absolute als Geist zu begreifen, als System der Totalität entfaltet? Und was bedeutet es, dass sie sich hierin zugleich als voraussetzungslose Philosophie verwirklichen soll? Ist hierin der Versuch zu sehen, das in seinem Sichfürsichausdrücken allein wirklich sein sollende Absolute letztlich mit einer systematisch entwickelten Voraussetzungslosigkeit des Philosophierens koinzidieren zu lassen? Auch wenn diese schwierigen Fragen hier nicht »wie aus der Pistole«61 beantwortet werden können, ist es doch wichtig, dass sie genannt werden. Denn in der Tat steht mit ihnen nicht nur die Frage im Raum, inwiefern in der entwickelten wechselseitigen Durchdringung von Allgemeinem und Besonderem in Hegels reifem System eine Vollendungsgestalt der von ihm anvisierten Aufgabe zu sehen ist, das Absolute als absolute Selbstbezüglichkeit zu begreifen. Sondern vielmehr ergeben sich genau aus dieser Fragestellung noch einmal weitere Fragen, die, wie gleich deutlicher werden wird, keinesfalls nur unter dem Aspekt des Vollendungs- und Abschlussgedankens des hegelschen Systems virulent sind, sondern ebenso sehr die Frage nach seinem Ausgangspunkt und die Frage nach einem möglichen Einstieg der Auseinandersetzung mit ihm betreffen. Zunächst zur Einstiegsfrage: Hat man es in Hegels reifem System nicht nur mit besonderen Formen einer an und für sich schon fertigen Wahrheit zu tun, sondern mit Formen, die allererst den einen GeistBegriff bilden, den sie allesamt ausdrücken, dann stellt sich die Frage, inwiefern sich in ihm Ganzes und Teile wechselseitig voraussetzen. Das bringt folgende Schwierigkeit mit sich: Weder kann eine systematisch geführte Auseinandersetzung mit Hegel nur einzelne Teile aus dessen System herausgreifen und dabei in Vergessenheit geraten lassen, aus welchem Ganzen die von ihr bearbeiteten Teile gehauen sind, noch kann sie sich umgekehrt damit zufrieden geben, das Hegelsche System lediglich ›über den Wolken‹ zu skizzieren, um so die konkrete Durchführung schuldig zu bleiben. Wie ist mit diesem Problem umzugehen? Die Bemühung von bloßen Schlagworten wie ›Holismus‹ hilft 60 Vgl.

hierzu auch Dieter Henrich: Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung, in: Hegel-Studien Beihefte 18 (1978), 204–324, hier 206. 61  Hegel, GW 9, 24.

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hier wenig. Vielmehr gilt es, den Grund jener Wechselbeziehung von Teil und Ganzem in Hegels reifem System stets im Blick zu behalten. In der Tat besteht er nämlich mitnichten im bloßen Wunsch, in einer Philosophie der absoluten Reflexion zuvor entwickelte subjektivitätstheoretische Entwürfe zu überbieten, sondern vielmehr gründet jener Anspruch der Überbietung einer absolut gesetzten Entgegensetzung von Subjekt und Objekt wiederum selbst noch einmal im bereits oben genannten, aber noch nicht ausführlicher entfalteten Grundgedanken von Hegels Philosophie des Absoluten, nämlich der Absage an eine abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem. – Der dritte Teil meines Beitrags möchte deshalb jetzt ausführlicher auf diese Absage eingehen, um von hier aus das Programm des reifen Systems Hegels noch klarer beleuchten zu können.

3. Hegels Absage an eine abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem Hegels Absage an eine abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem gründet weder in einer wie aus der Pistole geschossen geforderten Einheit von Allgemeinem und Besonderem noch in einer wie aus der Pistole geschossen geforderten Einheit von Wesen und Erscheinung. Vielmehr gründet sie im Argument, dass ein am Endlichen seine Grenze habendes Unendliches selbst ein Endliches ist, woraus Hegel folgert, dass das wahre Unendliche sein Anderes in sich schließen muss, wenn es nicht selbst nur ein Endliches sein soll. Im Folgenden sei dieses Argument und seine Stellung bei Hegel in einem ersten Schritt deshalb soweit umrissen, dass in einem zweiten Schritt gefragt werden kann, wie viel von ihm für das rechte Verständnis der zuvor gegebenen Systemskizze abhängt. In der Wissenschaft der Logik, in der »Lehre vom Seyn«, entwickelt Hegel, dass das Unendliche dem Endlichen deshalb nicht entgegengesetzt werden kann, weil das Unendliche dann selbst ein »Etwas« ist, das durch »Anderes« bestimmt ist.62 Damit ist genau nicht das gedacht, was mit ihm gedacht sein soll, nämlich dasjenige, was nicht durch anderes begrenzt ist und hierin Unendliches ist. Für Hegels Begriff des Absoluten ist dieser Gedanke von zentraler Bedeutung. In der Logik 62 Vgl.

hierzu das Kapitel »b. Wechselbestimmung des Endlichen und Unendlichen« in Hegel, GW 21, 126–130.

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der Enzyklopädie von 1830 heißt es dann deshalb entsprechend:63 »Es kommt allein darauf an, nicht das für das Unendliche zu nehmen, was in seiner Bestimmung selbst sogleich zu einem Besonderen und Endlichen gemacht wird.«64 Zwei Bemerkungen folgen: Erstens die Aussage, dass von diesem »Unterschied« das wahrhafte Unendliche, [ab] hängt«,65 sowie zweitens die Aussage, dass sich dieser »Unterschied erledigt […] durch die ganz einfachen, darum vielleicht unscheinbaren, aber unwiderleglichen Reflexionen«,66 die eben wiedergegeben wurden. Freilich ist hiermit erst der Ausgangspunkt von Hegels Begriff des Absoluten gewonnen, der in folgender Reflexion besteht: »Der Dualismus, welcher den Gegensatz von Endlichem und Unendlichem unüberwindlich macht, macht die einfache Betrachtung nicht, daß auf solche Weise sogleich das Unendliche nur das Eine der Beiden ist, daß es hiermit zu einem nur Besondern gemacht wird, wozu das Endliche das andere Besondere ist. Ein solches Unendliches, welches nur ein Besonderes ist, neben dem Endlichen ist, an diesem eben damit seine Schranke, Gränze hat, ist nicht das, was es seyn soll, nicht das Unendliche, sondern ist nur endlich.«67 Die Aufgabe, die es zu lösen gilt, ist deshalb, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie das Absolute als wahrhaft Unendliches gedacht werden kann. Hegels erste Antwort auf diese Frage lautet, dass das Unendliche das Endliche nicht außer sich haben kann, sondern alles in sich enthalten muss, wenn es nicht selbst nur ein Endliches sein soll. Und eben hierher rührt eigentlich die bereits oben exponierte schwierige Aufgabe, die es für Hegel zu lösen gilt, nämlich einen Entwurf zu entwickeln, in dem das Absolute dem Endlichen weder abstrakt entgegengesetzt ist noch trivial mit ihm identifiziert wird.68 Gewonnen wird der Ansatz zur Lösung dieser Aufgabe von Hegel nun aber bereits ebenfalls in der Seinslogik, nämlich das in einer fili63  Die

folgenden Zitate sind der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830 entnommen und zwar hier der Anmerkung zu § 95, vgl. Hegel, GW 20, 133. In der ersten Auflage der Enzyklopädie von 1817 (vgl. hier § 47) findet sich die gesamte Anmerkung noch nicht. Dass Hegel das im Folgenden Zitierte erst später einfügt, zeigt aber freilich gerade, wie wichtig und grundlegend die entwickelte Problematik für Hegel ist. 64  Hegel, GW 20, 133. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Vgl. hierzu ausführlicher v. Verf.: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels »Wissenschaft der Logik« und reifem System. Tübingen 2013.

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granen Analyse der Dialektik von Endlichem und Unendlichem. Das Kernargument dieser Analyse kann (gemäß der Seinslogik von 1831) wie folgt wiedergegeben werden: Wenn das Unendliche dem Endlichen entgegengesetzt ist, hat es an dem ihm gegenüberstehenden Endlichen »seine Grenze«69. So sind prima facie »nur zwey Endliche vorhanden«.70 Damit ist das Endliche in der Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem sich selbst entgegengesetzt, beziehungsweise in seinem Anderen auf sich bezogen, das heißt »Beziehung auf sich«.71 Und genau das liefert dann aber bereits den Anfangsgedanken der wahren Unendlichkeit. Denn hiermit wird das Endliche zu eben jener »Selbstständigkeit und Affirmation seiner, welche das Unendliche seyn soll«.72 Das heißt mitnichten, dass nun doch die unendliche Endlichkeit zum Absoluten erklärt wird. Aber das heißt, dass das wahrhaft Unendliche sich selbst sein Anderes entgegensetzen muss, um in diesem Sich-selbst-Entgegengesetztsein als das Nichtandere, oder wahrhaft Unendliche vermittelt zu sein. Entsprechend formuliert Hegel in der Seinslogik von 1831 dann bereits ebenfalls: »Wie also das Unendliche in der That vorhanden ist, ist der Proceß zu seyn, in welchem es sich herabsetzt, nur eine seiner Bestimmungen, dem Endlichen gegenüber und damit selbst nur eines der Endlichen zu seyn, und diesen Unterschied seiner von sich selbst zur Affirmation seiner aufzuheben und durch diese Vermittlung als wahrhaft Unendliches zu seyn.«73 Nimmt man dies ernst, dann ist nach Hegel das wahre Unendliche nur als »In-sich-Zurückgekehrtseyn«, nur als diejenige »Beziehung seiner auf sich selbst«,74 die sich darin gewinnt, dass sich das Unendliche selbst als Endliches setzt und sich hierin als sich selbst Entgegengesetztes reflektiert. Das wahre Unendliche wird damit zur einzigen Realität, die alle endlichen Momente aus sich erschafft, und das ›Wesen‹, der ›Begriff‹, sowie die sich in die Realphilosophie entlassende ›Idee‹, 69 

Hegel, GW 21, 131.

70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 

Hegel, GW 21, 135f. Interessant ist, dass sich auch diese Stelle in der Seinslogik von 1812 noch nicht findet. Dies zeigt abermals (vgl. Anm. 63), dass Hegel die in der Dialektik von Endlichem und Unendlichem verhandelte Problematik so wichtig ist, dass er stets weiter um eine noch klarere und eindringlichere Form ihrer Darstellung ringt. 74  Hegel, GW 21, 136.

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aber auch noch der ›absolute Geist‹ werden von Hegel deshalb als Weiterbestimmungen von exakt diesem Gedanken bezeichnet. Ich muss es hier bei dieser groben Skizze belassen. Die Durchführung von Hegels Programm kann hier nicht ausführlicher dargestellt werden. Sehr wohl aber kann mit dem zuletzt Entwickelten im Blick auf das zuvor Entwickelte Folgendes festgehalten werden: Auch die Nicht-Entgegensetzbarkeit von Absolutem und seiner Darstellung gründet noch in der Nicht-Entgegensetzbarkeit von Endlichem und Unendlichem. Denn auch das erst in der Wesenslogik ventilierte Argument, dass wir jedwede Auslegung des Absoluten als Selbstauslegung des Absoluten denken müssen, speist sich freilich noch aus der in der Seinslogik entwickelten Absage an eine Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem. Nun soll aber das Wesen die Wahrheit des Seins und der Begriff die Wahrheit des Wesens sein. Wie geht damit zusammen, dass der Ausgangspunkt von Hegels Philosophie des Absoluten die in der Seinslogik entwickelte Absage an eine abstrakte Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem ist? Stellt man sich diese Frage ist zweierlei zu unterscheiden: Hegel geht es nicht nur darum, unsere Erkenntnis des Absoluten als durch das Absolute vermittelte Erkenntnis zu denken, sondern Hegel geht es zudem um die Frage, warum denn das Absolute sich selbst entgegensetzen soll, nachdem ausgemacht ist, dass jenes Sich-selbst-Entgegensetzen die einzige Möglichkeit ist, in der Dialektik von Endlichem und Unendlichem nicht die Endlichkeit selbst zum Absoluten zu erklären. Hegels Antwort auf diese Frage ist folgende These: dass Absolute muss sich selbst entgegensetzen, um sich mit sich selbst zu vermitteln. Und zwar das zunächst einmal in dem ganz schlichten Sinne, dass der Begriff wahrer Unendlichkeit eben nur darin vorhanden ist, dass die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufhebung jener abstrakten Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem nur darin vorhanden ist, dass die aus ihr resultierende Dialektik durchdacht wird. Die Wesenslogik als Reflexionslogik entfaltet exakt diesen Gedanken als Einheit von Wesen und Erscheinung. Erst die Begriffslogik begreift aber dann den gerade benannten einfachen logischen Zusammenhang. Erst hier wird klar, warum der erfüllte Begriff nur als Rückkehr aus seinen Bestimmungen wirklich ist, oder schlichter gesagt: weshalb geistige Wirklichkeit mit Bewegung und Aufhebungen einhergeht und sich methodisch in ›Anfang‹ ›Fortgang‹ und ›Resultat‹ entfaltet. Was Hegels reifes System entfaltet, sind Fürsichseinsformen dieses Gedankens. Er soll das Wahre von allem sein und umgekehrt erst darin,

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als das, was er ist, begriffen werden, indem er als Wahrheit von allem gedacht ist. Das ist die einfache begriffslogische Explikation der oben zunächst wesenslogisch beschriebenen Einheit von Wesen und Erscheinung. Fundiert sind all diese Überlegungen jedoch in der Absage an die Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem und der Überzeugung, dass diese Entgegensetzung letztlich nur im zuletzt skizzierten Sinne begriffslogisch aufgehoben werden kann. Das System als System des Erscheinens der Idee in besonderer Bestimmtheit ist deshalb auch nicht nur Durchexerzierung des Begriffs, sondern vielmehr der Versuch, eben jene abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichen genau darin als konsequent aufhebbar vorzuführen, dass schlechthin alle Entgegensetzung als bestimmtes Fürsichsein des Begriffs durchdacht werden kann. – Das ist meines Erachtens sehr wichtig. – Denn nimmt man das ernst, dann lässt sich nun Folgendes festhalten: Hegels Absolutes wirkt nicht nur alles in Allem, sondern es ist sich in allem offenbar und alles ist Moment jenes Geschehens des Fürsichseins des Absoluten. Wem das zu viel ist, der kann mit zwei Alternativen liebäugeln: Nämlich entweder mit der These, dass das Absolute zwar alles in allem wirkt, dass aber deshalb nicht ausgeschlossen sei, dass das Absolute dem Menschen als Jenseits gegenübersteht, das vom Menschen nicht erkannt werden kann. – Oder mit der These, dass Hegels Logik nicht mit den Gedanken Gottes vor Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes koinzidiert, wie Hegel in ihrer Einleitung behauptet,75 sondern lediglich den Versuch darstellt, eine Philosophie der absoluten Refle­xion zu entwickeln, die dann doch wieder als vom endlichen Menschen betriebene indiziert werden muss. Beiden Positionen wirft Hegel vor, den entscheidenden Punkt seiner Argumentation nicht ernst genommen zu haben, nämlich die Nichtentgegensetzbarkeit von Endlichem und Unendlichem. Es ist nach Hegel also dieselbe Uneinsichtigkeit, die beiden Positionen zugrunde liegt, das ist die sich an sich selbst klammernde Endlichkeit, die sich als Selbstbescheidung versteht, aber nach Hegel schlicht nicht frei genug ist, mit jenem einfachen Ausgangsgedanken ernst zu machen. Nicht unterschlagen sei in diesem Kontext jedoch freilich, dass man mit diesem Ausgangsgedanken nur dann ernst machen kann, wenn einem am Begriff des Absoluten überhaupt noch irgendetwas liegt und man nicht bereits vorentschieden hat, dass es schlicht Humbug ist, sich 75 

Hegel, GW 21, 34.

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auf dergleichen einzulassen. Auch jene Humbug-These ist jedoch freilich eine These, die Argumente liefern muss und dabei mindestens zwei unterschiedliche Gesichter annehmen kann: Das eine Gesicht bekennt sich zur absoluten Endlichkeit und hebt die Trennung von Profanem und Religiösem zugunsten des Profanen mit moralisierenden und ästhetisierenden Einsprengseln auf. Das andere Gesicht bekennt sich ebenfalls zur absoluten Endlichkeit, allerdings das mit der Behauptung, genau hierin, dem Religiösen seinen Raum zu belassen. Hegel begegnet beiden Entgegnungen mit demselben, oben entwickelten Argument. Wem dies nicht gefällt, muss deshalb zeigen, dass Hegel falsch liegt. In seinem Grundargument. Oder zumindest im Versuch einer konsequenten Umsetzung desselben qua System.

4. Systematische Schlussfolgerungen und ein Blick auf Hegels Jacobi-Rezension von 1817 Der vorgeschlagene Rückbezug des reifen Systems Hegels auf die in der Wissenschaft der Logik entwickelte wesens- und begriffslogische Strategie zur Aufhebung der Dialektik von Endlichem und Unendlichem macht zwei Dinge deutlich: Erstens, dass nach Hegel letztlich auch »der Geist die Idee als seine absolute Wahrheit«76 erkennen muss, wie Hegel selbst in der Begriffslogik sagt und worauf in der Literatur auch immer wieder hingewiesen worden ist.77 Wäre dem nicht so, bliebe nämlich schlicht rätselhaft, wie gelten können soll, »die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie«78, wie Hegel am Ende der großen Logik betont. – Allerdings bedeutet das gerade nicht, dass die gesamte Realphilosophie nur als angewandte Logik zu verstehen ist, weil freilich zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die absolute Idee am Ende der Logik gerade nicht bereits für sich fertig ist, sondern vielmehr allererst qua System vollständig realisiert werden soll.79 Ansonsten bliebe

76 

Hegel, GW 12, 178. stellvertretend für viele andere hierzu Lu de Vos: Geist, in: Hegel-Lexikon. Hrsg. v. Paul Cobben/Paul Cruysberghs/Peter Jonkers/ders. Darmstadt 2006, 222– 227. 78  Hegel, GW 12, 236. 79 Vgl. hierzu auch Jan Rohls: Gott, Trinität und Geist. Ideengeschichte des Christentums. Bd. III/2. Tübingen 2014, 728. 77 Vgl.

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nämlich ebenso rätselhaft, weshalb nach Hegel das Wahre notwendig das Ganze sein muss und nur als System wirklich sein kann. Zweitens – noch wichtiger – scheint mir jedoch folgende, ebenfalls im oben Entwickelten enthaltene Konsequenz zu sein: Sie besteht darin, dass Hegels reifes System keineswegs nur eine Selbstreferentialisierung der bereits in der Differenzschrift beschriebenen Einheit von Wesen und Erscheinung des Absoluten verfolgt. Vielmehr gilt meines Erachtens das Folgende: Das reife System ist der konsequente Durchführungsversuch eines Grundgedankens, den Hegel bereits früh verfolgt und der darin besteht, dass mit der abstrakten Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem alles ebenso steht oder fällt, wie für Luther alles an der Alleinwirksamkeit Gottes hängt. Auch Hegel steht meines Erachtens noch in dieser Tradition. Denn auch Hegel geht es wie Luther noch darum, dass der Mensch unabhängig vom Absoluten kein Fünkchen aus sich heraus kann, gefolgt von der Frage, was das für die erkenntnistheoretische Beschreibung des Verhältnisses des Menschen zu Gott bedeutet. Auch hier darf es keine in sich widersprüchliche Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem geben. Denn »Gott absolut vornehin an die Spitze der Philosophie als den alleinigen Grund von allem« zu »stellen«, bedeutet eben, dass Gott als »das einzige principium essendi und cognoscendi«80 zu denken ist,81 wie Hegel bereits 1802 in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Traugott Krugs Schriften betont. Freilich entwickelt Hegel in der Ausarbeitung dieses Programms dann eine andere Position als Luther. Freilich spricht Hegel nicht vom Deus absconditus. Aber dennoch sei Folgendes nicht vergessen: Ebenfalls bereits 1802, in Glauben und Wissen, wirft Hegel Kant vor, dass dessen Erkenntnistheorie auf der in sich widersprüchlichen Annahme gründe, dass das Absolute als ein »Jenseits« zu setzen ist, dem das endliche Subjekt dergestalt entgegengesetzt ist, dass sein Erkennen des Absoluten unabhängig von diesem stattfindet.82 Hegel wendet sich ganz entschieden gegen diese Voraussetzung. Nämlich das mit folgender, aus zwei Schritten aufgebauten Begründung: Ein erster Schritt reklamiert, dass Kant das menschliche Erkennen des Absoluten Gott selbst entgegengesetzt denkt und damit zwei Absoluta,83 oder, wie 80 

Hegel, GW 4, 179. auch Jörg Dierken: Gott und Religion. Zum Verhältnis von Theologie und religiösem Bewußtsein in der Religionsphilosophie Hegels. Univ. Diss. Heidelberg 1987, hier 2. 82  Vgl. Hegel, GW 4, 346. 83  Vgl. ebd. 81  Vgl. hierzu

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Hegel dann in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes sagt, dass er »voraussetzt«, »daß das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich getrennt von dem Absoluten doch etwas reelles, oder hiermit, daß das Erkennen, welches, indem es außer dem Absoluten, wohl auch außer der Wahrheit ist, doch wahrhaft sey […]«.84 Ein zweiter Schritt reflektiert dann, dass die Konsequenz aus dieser Voraussetzung ist, dass das Absolute damit nicht länger »allein wahr«85 ist, denn das Absolute hat natürlich auch dann am endlichen Erkennen eine Grenze, wenn dieses irgendetwas für sich zu sein beansprucht. Genau das widerspricht dem Begriff des Absoluten aber ebenso wie ein an der Alleinwirksamkeit Gottes zweifelnder Pelagianismus und genau deshalb will Hegel das religiöse Bewusstsein des Menschen als Sichdenken Gottes im Menschen verstehen, eben weil ansonsten von vornherein der »Primat der göttlichen Wirklichkeit und ihrer Selbstbekundung« missachtet wäre, wie es Wolfhart Pannenberg treffend formuliert hat.86 Ich komme zum Schluss: Mit dem Entwickelten ist nicht gesagt, Hegels Position sei unproblematisch. Und ebensowenig, dass man nicht versuchen kann, sie zu kritisieren. Nur muss man ihr freilich, will man mit Hegel im Dialog bleiben, wiederum selbst mit Argumenten begegnen. Dies gilt für jede nach Kant der spekulativen Theologie den Rücken kehren wollende Position. – Auch und gerade für Jacobi. – Vor genau diesem Hintergrund nun noch einige wenige Bemerkungen zur Jacobi-Rezension Hegels, also seiner Rezension des dritten Bands von Jacobis Gesammelten Werken, der unter anderem auch die den Theismusstreit auslösende87 Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung enthält. In der Literatur ist bemerkt worden, dass die Jacobi-Rezension Hegels von 1817 einen »Umschwung«88 im Vergleich zum gegen Jacobi 1802 in 84 

Hegel, GW 9, 54.

85 Ebd. 86  Vgl.

Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. 3 Bde. Gütersloh 1988–1993. Bd. I, 141. Freilich hat dies weitreichende Konsequenzen für die Frage nach der Entgegensetzbarkeit von natürlicher Theologie und Offenbarung. Hierauf kann an dieser Stelle nicht ausführlicher eingegangen werden. 87  Vgl. Georg Essen/Christian Danz: Einleitung, in: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Hrsg. v. dens, Darmstadt 2012, 1–6, hier 5. 88  Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Stuttgart 2003, 254.

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Glauben und Wissen angeschlagenen Ton bedeute. Und in der Tat: Hegel lobt Jacobi und seine Kritik an Spinoza entschieden: »Jacobi hatte diesen Uebergang von der absoluten Substanz zum absoluten Geiste, in seinem Innersten gemacht, und mit unwiderstehlichem Gefühle der Gewißheit ausgerufen: Gott ist Geist, das Absolute ist frey und persönlich.«89 Jedoch folgt auch hier die Kritik auf dem Fuß. Denn Hegel sagt eben nicht nur: »So hat Jacobi von der Vernunft, als dem Uebernatürlichen und Göttlichen im Menschen, welches von Gott weiß, behauptet, dass sie Anschauen ist«90, sondern Hegel sagt zudem: »Ein todtes, sinnliches Ding ist allein ein Unmittelbares nicht durch die Vermittlung seiner mit sich selbst. – Jedoch hat bey J. der Uebergang von der Vermittlung zur Unmittelbarkeit, mehr die Gestalt einer äußerlichen Wegwerfung und Verwerfung der Vermittlung. Es ist in sofern das refectirende Bewußtsein, welches getrennt von der Vernunftanschauung [ist]; ja er geht noch weiter und erklärt sie sogar für etwas, was dieser Anschauung hinderlich und verderblich sey.«91 Hegel hält diese Grundentscheidung Jacobis nicht nur für die halbe Wahrheit, sondern für die ganze Unwahrheit. Denn für ihn kann alle Unmittelbarkeit, sofern sie nicht tot, sondern lebendig und geistig sein soll nur »in einer sich selbst aufhebenden Vermittlung hervorgeh[en]«.92 Freilich baut Hegel diesen Punkt in den wenigen Bemerkungen, mit denen er auf Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen Bezug nimmt, nicht weiter aus. Freilich ist Hegel um einen versöhnlichen Ton bemüht. Er macht Jacobi sogar durchaus Zugeständnisse.93 Doch auch wenn Hegel 1817 die 1802 an Jacobi geäußerte Kritik einer abstrakten Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem nicht wiederholt, – der Sache nach geht Hegel dennoch kein Iota mit Jacobi mit. Nicht vergisst Hegel nämlich, dass auch dann, wenn auch Jacobi auf dem von ihm vorgeschlage89 

Hegel, GW 15, 11.

90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 

So sagt Hegel auf, GW 15, 27 Jacobis Satz zitierend »Gott ist, und ist außer mir ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder ich bin Gott. Es gibt kein Drittes« über diesen Satz: »Man wird diesen Gegensatz vielmehr als dem ganzen übrigen Sinn Jacobi´s widersprechend ansehen können, und namentlich demjenigen, was S. 253 mit einem schönen Bilde in Ansehung des Christentums ausdrückt, und als die offenbare Richtung der Schrift von den göttlichen Dingen angegeben wird, [nämlich:] ›auf mannichfaltige Weise darzuthun, daß der religiöse bloße Idealist, und der religiöse bloße Materialist sich nur in die beyden Schalen der Muschel teilen, welche die Perle des Christentums enthält‹ […]«.

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Burkhard Nonnenmacher

nen Weg gegen eine abstrakte Entgegensetzung vom Absolutem und Endlichen anzugehen versucht, für ihn, Hegel, dieses Programm allein im Begriff vollendet werden kann.94 Wer genau liest, findet deshalb auch in der Jacobi-Rezension von 1817 ein dickes Fragezeichen hinter der Position Jacobis seitens Hegel, nämlich das in der schallend zum Ausdruck gebrachten Überzeugung Hegels: »Wenn die Dämmerung des Geistreichen darum lieblich ist, weil das Licht der Idee in derselben scheint, so verliert sie dies Verdienst da, wo das Licht der Vernunft leuchtet, und was ihr gegen dieses eigenthümlich zukommt, ist dann nur Dunkelheit […].«95 Hegel positioniert sich hiermit erneut klipp und klar. Wer dem widersprechen will, muss entweder zeigen, dass Hegels Position falsch ist, oder zumindest, dass Hegels begriffliche Anstrengungen zu überbieten sind. Mit »Versicherungen«96 lässt sich Hegel dabei nicht abspeisen. Auch das macht seine Jacobi-Rezension deutlich. Und das ist wichtig. Denn für die Diskussion von Hegels Systemgedanken ruft dies folgenden Punkt in Erinnerung: Nicht kann es einer am Argument orientierten Auseinandersetzung mit Hegel nur um die Frage der Stichhaltigkeit von Hegels Argumentation gegen eine abstrakte Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem gehen, sondern mindestens ebenso sehr muss sie sich der Diskussion um den rechten Weg ihrer Aufhebung stellen. Bloße Versicherungen über die Gangbarkeit alternativer Wege helfen hier wenig, sondern sind zum von Hegel vorgelegten Entwurf in Beziehung zu setzen.

94  Auf

die Frage, welche Rolle in diesem Zusammenhang Kants methodologische Kritik an Jacobi spielt, wie er sie in brillanter Form 1786 in seinem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientiren? geäußert hat, kann hier nicht eingegangen werden (vgl. Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902ff. Bd. VIII, 133–147). Freilich bildet sie ein zusätzliches Diskussionsfeld in der Auseinandersetzung mit Jacobi. Auch heute noch. 95  Hegel, GW 15, 24. 96  Hegel, GW 15, 25.

Kurt Appel Gott in Hegels spekulativer Philosophie. Zum Gang der Arbeit Die Tagung, die dem vorliegenden Band zu Grunde liegt, ist dem Theismus-Streit mit Schwerpunkt 1811–1821 gewidmet. In den folgenden »Ausführungen« sollen daher einige Überlegungen zur Gottesfrage in Hegels Hauptwerk, der in dieser Epoche entstandenen Wissenschaft der Logik, ausgeführt werden. Dies erfolgt in vier Schritten: In einem ersten Schritt werden Grundgedanken zu Hegels Dialektik vorgestellt, die ihren Höhepunkt in Hegels Logik findet. Das zweite Kapitel geht auf das zentrale Resultat von Hegels erstem großen Hauptwerk, der Phänomenologie des Geistes ein. Im dritten Abschnitt wird ein kurzer Gang durch die Wissenschaft der Logik vorgenommen1 mit Blick auf einige beispielhafte Bezüge zur Gottesfrage. Der vierte Abschnitt enthält ein Résumé. Ziel der Arbeit ist dabei weder eine umfassende Darstellung der Gottesfrage in Hegels Philosophie noch eine grundlegende Diskussion der Logik. Beides würde einen Artikel dieser Art überfordern. Desiderat ist vielmehr, einen zentralen oft übergangenen Aspekt der Gottesfrage, wie er in Hegels philosophischem Hauptwerk deutlich wird, aufzuzeigen und eine Richtung jenseits klassischer Behaftungen (Theismus-Atheismus, Hegel als Denker eines totalitären Systems etc.) aufzuweisen, die für eine heutige Diskussion der Bedeutung von ›Gott‹ wichtig sein könnten. Zu bedenken ist dabei, dass gerade Hegels Hauptwerk eine ungeheure Offenheit des Gedankens mit sich führt, die vorschnelle Antworten eines Besseren belehrt. Es ist ein denkerisches Exerzitium, sich der Welt zu nähern, kein Lehrbuch, aus dem unmittelbare Resultate folgen. Darin steckt vielleicht auch eine erste ›Antwort‹, wie die Gottesfrage im Ausgang von Hegel zu stellen sein könnte. Dem zufolge ist der dritte Abschnitt (Der Gang der Wissenschaft der Logik) abhebbar von den anderen Teilen (1.1., 1.2., 2., 4.). Während Letztere auf den zentralen Gedanken Hegels in Bezug auf die Gottesfrage hinführen, soll der dritte 1  Eine

bis heute herausragende Darstellung der Wissenschaft der Logik liegt vor in Leo Lugarini: Orizzonti Hegeliani di comprensione dell’essere. Rileggere la scienza della logica. Milano 1992. Vgl. ebenso Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Hegels ­Wissenschaft der Logik, VI/1–3. Frankfurt a. M./Bern 1974. Die Darstellung von Liebrucks ist die bis heute wohl umfassendste und spekulativste Darstellung des Hegelschen Systems, deren Lektüre allerdings vertiefte Kenntnisse der Hegelschen Philosophie erfordert. Einen guten Einblick, der als klassisch bezeichnet werden kann, gibt Klaus Hartmann: Hegels Logik. Berlin/New York 1999.

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Abschnitt den Vollzug der Logik, der für die Exposition der Gottesfrage von Bedeutung ist, andeuten.2 Um zur zentralen These des Artikels zu gelangen, kann er in der Lektüre (mit Ausnahme der einleitenden Überlegungen zur Logik, welche in den ersten drei Unterpunkten des dritten Abschnittes vorliegen) übersprungen werden.

1. Einige Bemerkungen zu Hegels Dialektik a) Das Absolute als Weltumgang des Menschen 1) Entscheidende Gehalte des Hegelschen Denkens finden sich bereits in den theologischen Jugendschriften3, die eine philosophische Interpretation des Lebens Jesu darstellen. Hegel denkt darin als einer der ersten Philosophen des Abendlandes in geschichtlichen Gestalten. Waren die Kategorien des Aristoteles dem Urteil entnommene Formen des Seins, so diejenigen Kants Formen des Bewusstseins. Hegels Jugendschriften denken konsequent in der Vereinigung beider Positionen vom Bewusst-Sein aus. Diese Einheit von Bewusstsein und Sein nennt Hegel später Begriff, der daher die Wirklichkeit schon immer in sich enthält. Der Subjekt-Objekt-Gegensatz wird zunächst aufgehoben zugunsten einer Sicht, die Objektivität als Resultat menschlicher Weltbegegnung in intersubjektiven Kontexten denkt. Man könnte von einem SubjektSubjekt-Objekt-Denken sprechen. Objekte sind der vergegenständlichte Weltumgang des Menschen, den dieser mit anderen Menschen – sozial, kulturell und geschichtlich vermittelt – pflegt. Dessen Essenz tritt in der Gestalt des Absoluten auf. Hegel stellt in den Jugendschriften zwei Weltumgänge einander gegenüber: einerseits den technisch-praktischen, in dem das Absolute als Gesetz gegenübertritt, andererseits den sympathetischen, in dem Gott die Gestalt der Liebe hat. Der zweite Weltumgang weiß, dass die Objekte weder unabhängig vom Subjekt noch dessen Resultat sind, 2 

Eine interessante Verhältnisbestimmung von Philosophie und Logik nimmt vor Myriam Gerhard: Zur ›Revolution der Philosophie durch ihre Zurückführung auf die Logik‹, in: Hegels Aktualität. Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit. Hrsg. v. Johann Kreuzer. München 2010, 93–108. 3  Vgl. v. Verf.: Entsprechung im Wider-Spruch. Berlin/Wien 2003. In diesem Buch habe ich eine detaillierte theologische Interpretation der Hegelschen Jugendschriften versucht. Vgl. auch Hubertus Busche: Das Leben der Lebendigen. Hegels politischreligiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten, in: Hegel-Studien. Beiheft 31. Bonn 1987.

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sondern mit diesem in einem permanenten Wechselverhältnis stehen und es dadurch auch konstituieren. Als solche sind sie lebendig, und die Beziehung zwischen dem Subjekt (als Einzelnes und intersubjektives Allgemeines) und seinem Gegenstand ist immer die Beziehung von Lebendigen. Dieses Geschehen nennt Hegel in der Phänomenologie des Geistes ›Geist‹. 2) Heute reduzieren selbst angesehene Hegel-Experten den Geist auf eine Interaktion zwischen Subjekten4. Hegel muss dann als Atheist angesehen werden. Dagegen steht bei Hegel von Beginn an Intersubjektivität in der Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem. Hegels Satz, dass das ›Ich Wir ist‹ muss dahingehend verstanden werden, dass das Wir vom Ich nur in dem Maße gedacht werden kann, in dem das Ich vom Wir gedacht wird. Mit anderen Worten: Der Geist ist niemals eine Summe von interagierenden Individuen. Theologisch gewendet kann dies so zum Ausdruck gebracht werden, dass der Gang des Menschen zum anderen Menschen immer schon der Gang des Menschen zu Gott und Gottes Gang zum Menschen ist. 3) Bereits in den Jugendschriften betont Hegel, dass sich Gott in Entsprechung zum jeweiligen Weltumgang des Menschen offenbart, das heißt sich an dessen Welt bindet, was bis heute als Pantheismus missverstanden wird. Diese Bindung bedeutet nicht, dass Gott den jeweiligen Weltumgang rechtfertigt. Er entspricht ihm vielmehr, indem er ihn aufhebt5, das heißt indem der Mensch erkennen muss, dass sein bisheriges Wissen dem Gegenstand nicht gerecht geworden ist. 4) Jede Epoche bringt in ihrer Konzeption des Absoluten ihren Weltumgang zum Ausdruck beziehungsweise wird durch das Absolute zum Ausdruck gebracht (siehe oben). Da das Absolute zum Ausdruck gebrachtes Weltgeschehen ist, hat es zeitliche Konnotation. Heute begegnet das Absolute vielfach als sinnentleertes Gesetz und die Zeit als gleichförmiges Fortschreiten. 5) Der okzidentale Mensch ist ›Kantianer‹, denn er denkt vom Urteil her. Er fixiert die ihm begegnende Welt als Objekt und haftet an dieses immer ausdifferenziertere, ›positive‹ Bestimmungen (im Sinne des Positivismus). Damit unterwirft er das Andere, worin nach Hegel 4  Dieses

fundamentale Hegel-Missverständnis findet sich schon bei Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénoménologie de l‘esprit professées de 1933 à 1939 à l‘École des Hautes Études, réunies et publiées par Raymond Queneau. Paris 1947. 5  In der dreifachen Bedeutung ›bewahren‹, ›außer Kraft setzen‹ und ›auf eine höhere Stufe heben‹.

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die Unmoralität des abendländischen Denkens besteht, welches seinen Kulminationspunkt in Kant hat. Die beiden spekulativen Hauptwerke Hegels – die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik – sind jene Schriften, in denen das Urteil auch in der Form der Darstellung, die nicht vom Inhalt getrennt werden kann, hinter sich gelassen wird. Diese Form und der damit verbundene Inhalt, d. i. die Dialektik des spekulativen Satzes (siehe unten), bedeuten eine Dynamisierung des Seins und damit die Darstellung der Zeit (Genitivus Subjectivus!). Hegel spricht wenig (wenngleich an bedeutsamen Stellen) über die Zeit im Sinne eines Gegenstandes, weil sein spekulatives Denken inhärent zeitlich ist.6 6) Drei Begriffe sind in der Fragestellung dieses Artikels besonders zu berücksichtigen: ›Bewusst-Sein‹, ›Positivität‹ und ›Negativität‹. Mit Bewusst-Sein ist die Einheit von Subjekt und Objekt gemeint, wie sie bereits in der Monade von Leibniz begegnet7. Hegel denkt diese Einheit als ständige Bewegung. Mit dem Bewusstsein ändert sich der Gegenstand, der seinerseits wiederum auf das Bewusstsein zurückwirkt. Positivität (oder das Positive) bezeichnet das Verdinglichte, Fixierte, Festgehaltene. Die Dinge zu positiveren meint, sie ihrer Transzendenz, das heißt ihres Hinausweisens über sich zu berauben, um sie beherrschen zu können. Der dritte entscheidende Begriff ist der Begriff der Negativität.8 In ihm ist die Selbststruktur (im Sinne der Monade) des Wirklichen mitzulesen. Das Ich ist bei Hegel kein Gegenstand mit festgelegten Eigenschaften (siehe unten). ›Ich‹ ist Bewusst-Sein als Weltbegegnung. Es lässt sich nie in der Welt als reiner unbewegter Gegenstand verorten und bleibt der Welt gegenüber negativ. Dabei ändert es sich und seinen Gegenstand in seinem Weltbezug und wird darin verändert. In der Ne-

6  Eine

umfangreiche Darstellung über die Zeitthematik bei Hegel unter Einbeziehung der Naturphilosophie und der Wissenschaft der Logik bietet Wilfried Grießer: Geist zu seiner Zeit. Mit Hegel die Zeit denken lernen. Auf dem Weg zu einer ›Metaphysik der Zeit‹. Würzburg 2005. 7 Vgl. dazu Ernst Cassirer: Einleitung, in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. 2 Bde. Hamburg 1996, XV–CIII. 8  Eine lesenswerte Darstellung der Hegelschen Dialektik unter besonderer Berücksichtigung der Negativität gibt Slavoj Žižek. Vgl. Slavoj Žižek: Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism. London/New York 2012. Die klassische immer noch absolut lesenswerte Darstellung liegt vor in Klaus Düsing: Zum Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. 3. erweiterte Aufl. Bonn 1995.

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gativität gegenüber sich und dem Anderen ist es, wie Hegel sagt, sich auf sich beziehende Negativität. Es ist in dieser Negativität Selbstbezug, allerdings – da es nicht fixierbar ist – negativer Selbstbezug.

b) Der spekulative Satz und die dialektische Methode 1) Eine der Hauptschwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem hegelschen Denken, nicht zuletzt in Bezug auf die Gottesfrage, ist die Wissensauffassung unseres Zeitalters, die dazu führt, dass in positivierten Gedankenbestimmungen gedacht und eine spekulative Erfassung des Seins verfehlt wird. Die Welt soll mittels des Urteils bestimmt werden. Ausgangspunkt ist das zu fixierende Subjekt, an das Prädikate angeheftet werden, wobei das Sein die äußerliche Zusammenfügung der beiden für sich bestehenden Sphären darstellt. Dem gegenüber denkt Hegel bereits in seinen Jugendschriften das Sein nicht als Inbegriff von Prädikaten, sondern als Weltumgang des Menschen, der zugleich der den Weltumgang des Menschen aufhebende Gang Gottes zum Menschen ist. 2) Die Grundform des spekulativen Satzes trägt die Form des Ich = Ich. Bereits Leibniz hat die Monade in der Dialektik von Subjekt als Inneres und Prädikat als Gesamtheit von dessen Äußerungen gedacht. Die Monade ist damit daseiendes Urteil. Kant geht einen Schritt weiter und ersetzt die Welt, die zur bloßen Erscheinung herabsinkt, durch die Urteilsform. Jede Verbindung (Synthesis), die der Verstand durchführt, muss begleitet sein von der Form des ›Ich denke‹, dem schlechthin Einheitsfunktion zukommt. Heidegger verortet diese Urteilsfunktion in verstehender Auslegung des In-der-Welt-Seins. Fichte, Schelling und Hegel gehen im Anschluss an Kant von der Einheitsfunktion des ›Ich denke‹ aus. Das absolute Ich als Begleiter jeder Ichsetzung vermittelt sich über die durch es gesetzte Gegenständlichkeit. Dafür wird die Formel Ich = Ich geprägt. Hegel wirft Schelling und Fichte vor, dass sie die Spannung, die sich durch diese Formel zum Ausdruck bringt, entweder in die Identität eines absoluten Denkens (Fichte) oder in eine solche des absoluten Seins (Schelling) aufheben wollen.9 Dagegen ist für ihn entscheidend, dass das Ich in einer negativen Beziehung zu seinem Gegenstand ist. Es 9  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9 in Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft he­ rausgegeben von der rheinisch-westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg.

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kann sich in seinem Gegenstand nicht unmittelbar verorten und wird sich erst im Selbstverlust, den es am Gegenstand erlebt, in seiner Wahrheit finden. Darin wird Hegel mit Heidegger insofern übereinstimmen, als für beide eine absolute Selbstidentität unmöglich ist. Heidegger führt als Grund den Tod an, bei Hegel ist es die Freiheit, das heißt die Unverfügbarkeit des sich je neu formierenden Gegenstandes, in der dieser dem Ich entspricht. Ein wichtiger Aspekt der Philosophie Hegels besteht darin, dass das Ich einen wirklichen Selbstbezug erst im Verlust des Gegenstandes, den es als seinen betrachtete, herstellen kann. Darin geht es als sich erhalten wollendes Ich verloren. Dadurch gibt es – wie bei Kant – kein ›IchSubstrat‹, von dem ausgegangen werden könnte. Vielmehr zeigt sich, was Ich ist, nur in der sich ständig neu konstituierenden Beziehung zwischen dem Ich und seinem Gegenstand, in der beide Seiten einem ständigen Prozess der Negation unterliegen. 3) Negation ist bei Hegel keine undialektische Vernichtung. Letztere entstammt der Welt der Positivität, die es mit fixierten Gegenständen zu tun hat. Dagegen ist die Negation bei Hegel bestimmte Negation, das heißt das negierte Moment bleibt darin aufbewahrt. Da aber auch dieses nicht fixiert ist, zeigt sich in der Negation reine Bewegung, die einen Zugang zur Frage der Zeit eröffnet. Wichtig ist dabei, dass diese Bewegung vom Bewusstsein immer wieder momenthaft als Gegenstand festgehalten wird. 4) In der negativen Bewegung zwischen Ich und seinem Gegenstand verändern beide Seiten einander. Das Ich bewegt den Gegenstand, der Gegenstand bewegt das Ich. Die Bewegung zwischen diesen beiden Seiten nennt Hegel den spekulativen Satz, der bei ihm die Urteilsform ersetzt. Das Urteil bleibt hierarchisch. Ausgangspunkt ist ein fixiertes Subjekt, an dem (ebenfalls fixierte) Eigenschaften als dessen Prädikate identifiziert werden. Der spekulative Satz dagegen ist die Bewegung des Subjekts in das Prädikat und die Gegenbewegung der Prädikate in das Subjekt. 5) Man könnte zur Erläuterung dessen die Aussage ›Du hast blaue Augen‹ heranziehen: Wenn dieser Satz mehr ist als eine Identifizierung zur Beherrschung und Verurteilung des Anderen, zeigt sich das Phänomen, dass die Farbe ›blau‹ der Augen nicht mehr die Bedeutung hat, eine Farbe abzuheben und zu identifizieren, sondern untrennbar mit v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede. Hamburg 1980, III 23. Im Folgenden zitiert als »Hegel, PhdG«.

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dem Du des angesprochenen Menschen verschmilzt. In Liebe gesprochen wird aus diesem Satz folgen, dass im Inhalt der Farbe Blau der Augen (der gegenständlichen Seite) das gesamte Antlitz des geliebten Menschen und die gemeinsame Geschichte enthalten ist, sodass diese Farbe nicht mehr davon losgelöst werden kann und alle Eigenschaften des Anderen im Blau der Augen aufgehoben sind. Es liegt darin kein Urteil im Sinne einer Identifikation, denn es ist jede Möglichkeit genommen, das ›blau‹ als meine Zuschreibung anzugeben. Vielmehr gründet die in den Augen auftretende Farbe in einem geistigen Geschehen, welches Vor-Gabe der Geschichte ist, aus der heraus dieser Satz, wenn er in Liebe gesprochen ist, erwächst. Formal gesehen sind das Subjekt ›Du‹ und das Prädikat ›blaue Augen‹ gleichen Umfangs ohne tautologisch zu sein. Die Kopula drückt die bestimmte Negation sowohl des ›Du‹ als auch der ›blauen Augen‹ als fixierte Größen aus. Insofern beide Größen negativ aufeinander bezogen und in dieser Bestimmtheit Negationen waren, liegt in der Bewegung dieser beiden Größen in­einander eine doppelte Negation vor. 6) Hegel schreibt am Eingang der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes im 17. Absatz10, nach einer kurzen Reflexion über die Dignität von Vorreden überhaupt, folgenden Satz, der das Leitmotiv seines Systems, also der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik, angibt: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.«11 Nach Hegel ist die Substanz eben so sehr als Subjekt zu fassen, was den zentralen Inhalt des spekulativen Satzes als Ausdruck des Ich = Ich ausmacht. Die Substanz, d. i. das Absolute, das »an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte«12, ist kein bloßes Objekt, sondern sie eröffnet sich in ihrer grundsätzlichen Entzogenheit und wird damit Subjekt, ohne ihren Charakter als Substanz zu verlieren. Sie zeigt sich als Einheit von Vergegenständlichung – das Andere wird in jeder Stufe als Gegenstand festgehalten – und Entgegenständlichung, insofern das Andere in der unaufhebbaren Differenz zu jeder gegenständlichen Repräsentation das Selbst konstituiert. Die Substanz ist das Nichtverfügbare, der freie Begriff, d. i. die Einsicht, dass das Sein in seiner geistigen Dimen10 

Hegel, PhdG, 18.

12 

Hegel, PhdG, 53.

11 Ebd.

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sion Denken ist. Sie stellt das Moment der Alterität in jeder Selbstbezüglichkeit dar. 7) Hegels Philosophie ist eine Variation des spekulativen Satzes von Paragraph 17 der Vorrede der Phänomenologie des Geistes. Das Ich, so wird die Phänomenologie des Geistes zeigen, wird in allen Versuchen, sich selbst in den Gegenständen seiner Welt zu finden, scheitern. Dadurch wird es die Wirklichkeit zunehmend in ihrem Selbststand erfahren und gerade in der Anerkennung desselben Anerkennung erfahren. Es wird die Wirklichkeit frei aus sich entlassen und sich selbst in der Andersheit des Anderen als Sich-Anders-Werden empfangen. In diesen Gedanken ist nicht zuletzt das von Hegel in den Jugendschriften angezeigte sympathetische Weltbild enthalten, wobei allerdings die Entfremdungsschritte, die das Selbst erleiden muss, um die Welt als Selbst zu erfahren, erst in Hegels Phänomenologie des Geistes voll entfaltet werden. 8) Die Welt des Bewusst-Seins besteht nicht aus bloßen Objekten. Vielmehr entspricht der Gegenstand dem Bewusstsein, indem er sich entzieht. Hegel spricht in seinen spekulativen Hauptwerken nie von Thesis, Antithesis und Synthesis. Denn hinter dieser Figur, in der Fichte die Dialektik von Ich und Nicht-Ich (im Ich = Ich) denken will, steckt für Hegel eine gewaltsame Vereinigung äußerlich Entgegengesetzter. Dagegen ist das Ich die Negation des Gegenständlichen (und die Negation des Gegenständlichen ist Ich). In dieser Negativität erfährt es sich als Selbstbezug. Das Ich hält das Negative des Gegenständlichen, in dem es Selbstbezug ist, fest (und damit auch sich selbst). In diesem Festhalten ist es Position. Die Wahrheit der Position ist allerdings die negative Bewegung sowohl des Gegenstandes als auch des Selbst, also die Negation. In dieser wiederum stellt sich das Ich als Selbstbezug her, wenngleich als negativer (das heißt dieser kann nicht bleibend festgehalten werden), also ist in jeder Negation dieselbe auch negiert. Sie ist Negation der Negation. Der Gegenstand ist in dieser Bewegung als Selbstbezug gesetzt, insofern darin der Selbstbezug negiert und der Gegenstand freigelassen ist. Die Welt ist gerade in ihrem Rückgang in das Subjekt ›unabhängig‹. Sie ist Bewusst-Sein. 9) Die Manifestation des Bewusst-Seins ist die Sprache13: Sie ist die Verbindung und Trennung von Bewusstsein und Gegenstand des Bewusstseins. Der Sprecher behält sich nicht als isoliertes Ich, sondern steht in der 13  Hier

ist nicht nur an die gelautete Sprache zu denken, auch nicht notwendigerweise an menschliche, sondern an jedes System, in dem sich selbstreflexive Bedeutungen erstellen.

Gott in Hegels spekulativer Philosophie. Zum Gang der Arbeit

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Spannweite von Bewusstsein und Sein – er ist Selbstsetzung im Sichanders-Werden. Dies zeigt sich, wenn ein Satz vom Sprecher ausgeht: Dessen Bedeutung wird, das Ich ›verlassend‹, in eine Öffentlichkeit und einen Verstehens- und Verweishorizont gestellt, der niemals rein auf der Bewusstseinsseite des Sprechers liegen kann, da er sonst nichts bezeichnen könnte. Das Ich vernimmt und erfährt sich, wenn es in der Sprache beim Anderen ist. Auch der Gegenstand manifestiert sich als Differenz von Bewusstsein und Gegenstand. Der Mensch hat es weder mit reinen Objekten zu tun, denn von denen wüsste er nichts; noch steht er vor reinen, in sich seienden Worten, mit denen man nichts anfangen könnte. Daher kommt keinem der Pole ein Prius oder isolierte Existenz zu, sondern Bewusst-Sein ist die bestimmte Negation beider. Es tritt nicht äußerlich zum Sein, sondern enthält als die Differenz von Sein und Bewusstsein beide als aufgehobene Seiten in sich. Da damit der Gegenstand ebenso wie das Bewusstsein Momente des Bewusst-Seins sind und sich dieses in der Differenz zweier Seiten bewegt, ist das Bewusst-Sein immer schon ein gedoppeltes. In jeder sprachlichen Äußerung verlässt sich das Bewusst-Sein und empfängt sich durch Anderes. Es ist nie bloß in sich. Daher sind alle seine Äußerungen und Gegenstände, mittels derer es sich auf sich selbst bezieht, bereits in einen allgemeinen Horizont hineingestellt. In der Sprache ist der Sprecher (wenigstens im Sich-Selbst-Vernehmen) Angesprochener, in jedem Akt der Erkenntnis vollzieht sich Selbsterkenntnis, die ein Anerkanntwerden impliziert, da eine reine solipsistische Introspektion nicht möglich ist. 10) Das Bewusst-Sein ist »Subject, Person, Freyes« als »Beziehung des Negativen auf sich selbst«14. Es erfährt sich als Differenz, das heißt es ist negative Selbstbeziehung als Beziehung auf Anderes. Es gibt kein Ich-Substrat, welches danach zu Anderem geht, sondern ›Ich‹ ist SichAnders-Werden. Es spricht, indem es sich erhält im Sprechen zu Anderem bzw. im Sprechen des Anderen. Das Bewusst-Sein ist als Differenz zu Anderem und zu sich selbst und daher das Allgemeine, welches sich besondert und welches als Differenz des Selbstbezugs identisch mit sich und so als Differenz das Einzelne ist.

14 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12 in Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der rheinisch-westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Hamburg 1981, 246. Im Folgenden zitiert als »Hegel, WdL Bd. 2«.

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11) Bei Hegel tritt Gott in den drei Begriffsmomenten des Allgemeinen, des Besonderen und des Einzelnen auf. Gott ist das Allgemeine des Bewusst-Seins, das heißt das Sein als der Raum der Sprache und der dialektischen Bewegung von Bewusstsein und Gegenstand (siehe oben), was Hegel den Vorwurf des Pantheismus eingebracht hat. Insofern das Bewusst-Sein sich besondert in 1) über sich auf sein Anderes hinausweisendes Sein und 2) über sich auf sein Anderes hinausweisendes Bewusstsein, ist Gott Relation. Er ist die Relation von Sein und Bewusstsein, das Subjekt-Objekt, welches im Über-Sich-Hinausweisen der Subjekte auf ihr Anderes der Geist als intersubjektives Geschehen ist. In Akzentuierung der Objektseite müsste man weiter diesen Satz dahingehend ergänzen, dass Gott, insofern auch die Gegenstände über sich hinausweisen und nie isoliert existieren, ›interobjektives‹, das heißt lebendiges relationales Geschehen ist. Als sich auf sich beziehender Unterschied (von Bewusstsein und Sein) ist das Ich Unterschied an ihm selbst, es tritt als ›Gedoppeltes‹, das heißt als intersubjektives Ich auf. Es empfängt sein Ich im Gegenstand als Anerkanntes durch das Andere (es ist Selbstbezug in der Negativität des Gegenstandes), insofern dieses ›Selbst‹ ist. Die Sprache stellt ihre Bedeutungen demgemäß in einen allgemeinen Raum und wird erst zur Sprache im Vernommenwerden. Gott als das (allgemeine) Besondere des Bewusst-Seins ist die Intersubjektivität, die Subjektivität des Subjekts, worin das Credo der Linkshegelianer besteht. Der darin unterbelichtete Aspekt besteht darin, dass Gott auch das Moment des Einzelnen, die Differenz des Selbstbezugs als Differenz, d. i. die sich als Differenz bestimmende Differenz ist. Er ist der einzelne Einzelne. Denn das menschliche Individuum ist immer an den Gegenstand gebunden, es hat immer eine positive Seite und ist damit – in der Abstraktion als bloß Menschliches (nicht, insofern es Anteil an Gott hat) – das sich Besondernde als Besonderndes. Mit anderen Worten: Solange der Mensch noch im Sinne einer Anwesenheit repräsentiert werden kann, solange ihm ›Positivität‹ zukommt, das heißt solange er von seinen Eigenschaften bestimmt wird und als Objekt der Sprache fungiert, bleibt er in seiner Individualität noch in der Sphäre der Besonderungen. Erst wo die Differenz als Differenz des Selbstbezugs nicht mehr repräsentierbar ist, bewegt man sich in der Sphäre des absolut Einzelnen. Daher ist Gott als reine Differenz (absolute Negativität, Negation der Negation), entgegen dem, was über Hegels Philosophie von theologischer Seite üblicherweise vorgebracht wird, die absolute Individualität.

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12) Kant hat die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem in jener Fassung vorweggenommen, die uns gebietet, die Menschheit in der Person jedes Anderen als Zweck zu betrachten. Bei Hegel ist das Einzelne Bewegung des Allgemeinen sowohl als Genitivus Subjectivus als auch als Genitivus Objectivus. Bereits in den Jugendschriften begreift Hegel, dass dadurch die Verletzung, die der Andere durch mich erfährt, die gesamte Menschheit verletzt und auf mich unmittelbar zurückschlägt. Könnte diese Verletzung wiederum einem einzigen Menschen verziehen werden, so wäre der gesamten Menschheit vergeben. Wichtig sind diese Gedanken für die Bestimmung der Freiheit. Kant hat begriffen, dass sie nicht aus der der Mechanik angehörenden Kausalität resultiert. Bei Hegel manifestiert sich Freiheit weder im Sinne einer Naturkausalität noch im Sinne einer intelligiblen Wahl (an die Schelling zumindest phasenweise denkt), die aus einem Set von Möglichkeiten getroffen wird15. Vielmehr ist sie diejenige Selbstbestimmung, die weiß, dass sie in ein und derselben Hinsicht (im Sinne des Genetivus Subiectivus und des Genetivus Obiectivus) Bestimmung eines allgemeinen geistigen Geschehens ist. Konkreter ist sie das bestimmende Bestimmtwerden im menschlichen Weltumgang in der Differenz von Einzelnem und Allgemeinem. Darin – gegen jeden Totalitätsgedanken – verbirgt sich die Differenz Gottes, in der die Freiheit liegt. Der große Hegel-Interpret Bruno Liebrucks bringt dies mit den Worten zum Ausdruck, dass der Mensch nur als Marionette Gottes frei ist. Gott ist dabei allerdings nicht als Anfang, als causa prima oder als höchste Idee gedacht. Er manifestiert sich vielmehr in der Bewegung, die ›zwischen‹ Selbstanfangen und Angefangenwerden, zwischen Bewusstsein und Sein, zwischen Ich und Wir liegt. 13) Einen entscheidenden Schlüssel für diesen Freiheitsgedanken gibt das Phänomen der Liebe. In ihr bestimmt sich der Mensch als durch die geliebte Person Bestimmter. In der liebenden Vereinigung erfährt er den Anderen als Differenz. Die Freiheit ist darin weder Wahlfreiheit noch Selbstanfangenkönnen. Die Liebe unterliegt auch nicht im Sinne einer heteronomen Fremdbestimmung dem Anfang (dem Zwang) des Anderen. Sie ist frei, weil es keinen positivierbaren Anfang und kein damit verbundenes Handeln in ihr gibt. Die Kausalität beziehungsweise die Ökonomie der Beziehung sind in ihr völlig außer Kraft gesetzt. Höchste Aktivität und höchste Passivität, Selbstwerdung 15  Zum

Freiheitsverständnis bei Hegel vgl. Andreas Arndt: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx. Berlin 2015.

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und Selbstverlust gehen unmittelbar in ihr zusammen und weisen auf ein nichtrepräsentierbares Drittes (insofern die Liebe nicht als Handlung der Liebenden bestimmt werden kann). An ihm erfahren die Liebenden den unwiederbringlichen Verlust aller Repräsentationen (Positivitäten), indem es jenes Moment ist, in dem der Andere nicht mehr distanzierbar und damit das Ich ganz und gar Anderes geworden ist. Damit ist die Freiheit der Liebe eine Freiheit, die im Anderen anfängt.

2. Die Phänomenologie des Geistes und das Ende der Form der Vorstellung 1) Die Phänomenologie des Geistes ist die Darstellung der Wissensgestalten, in denen sich das jeweilige Bewusstsein zu verorten strebt. Eine von mehreren Gliederungsmöglichkeiten16 besteht in der Einteilung in das Geistkapitel (mit seinen Vorläufern Bewusstsein-SelbstbewusstseinVernunft), in das Religionskapitel und in das Kapitel Das absolute Wissen. 2) Im Geistkapitel versucht sich das Bewusst-Sein in den Gegenständen seines Weltumgangs zu verorten – diese sind unter anderem Sinnlichkeit, Wahrnehmung, die Welt der Gesetze, die beobachtende Vernunft, die praktische Vernunft, die Sittlichkeit, ferner die sich im Urteil des Verstandes zum Ausdruck bringenden Geltungsansprüche von Recht/ Eigentum, von Bildung, von der absoluten Freiheit und seinem nihilistischem Terror, von der Moralität als gehemmtem Terror und vom (harten Herzen des) Gewissen(s) als dessen Internalisierung. Das BewusstSein scheitert aber in dieser Selbstreflexion mittels seiner Gegenstände, die es im Reflexionsprozess ständig verändert. Dies manifestiert sich von der Seite des Bewusstseins darin, dass es sich nicht in seinen Gegenständen findet und von diesen getrennt bleibt und von Seiten des Gegenstandes darin, dass dieser nicht frei hervortreten kann, sondern immer dem abstrakten Urteil oder dem Handlungsdispositiv des Bewusstseins (das heißt dessen Auffassung des Gegenstandes als zu Behandelnder) unterliegt. 16 

Zu einer möglichen Gliederung der Phänomenologie des Geistes, wie sie sich vom Kapitel Das absolute Wissen her nahelegt vgl. Thomas Auinger: Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2003. Eine großartige Einführung, in der auch verschiedene Strukturmuster deutlich werden, liegt vor bei Franco Chiereghin: La fenomenologia dello spirito. Introduzione alla lettura. Roma 2008. Eine aktuelle Gesamtdarstellung von Hegels Phänomenologie des Geistes liegt vor bei Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Hamburg 2014.

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3) Das Religionskapitel symbolisiert in seinen Gestalten den Verlust an Substantialität, den das Bewusstsein dadurch erleidet, dass es sich nicht in seinen Gegenständen erhalten kann. Stellt also das Geistkapitel den Versuch einer positiven Selbstrepräsentation des Bewusstseins dar, so ist die Religion dessen negative Seite. Das Bewusstsein bringt in der Religion den Verlust dessen zum Ausdruck, was ihm als Substanz gegolten hat (angefangen von der unmittelbaren Sinnlichkeit), und macht – an der numinosen Welt – die Erfahrung eines zunehmenden Entzugs an Gegenständlichkeit. Weil der Gegenstand nicht mehr dem vorgefertigten Geltungsanspruch des Subjekts unterworfen ist, vermag er zunehmend in seiner Negativität jenseits aller semantischen und noetischen Positivierungen hervorzutreten. Die Substanz wird auf diese Weise Subjekt. Dieses besteht in der Form freien Andersseins, welches nicht mehr dem Handeln und dem Urteil des Bewusstseins unterworfen ist.17 Dessen Erkennen verwandelt sich in Anerkennen, welches, da nicht mehr dem Bewusstsein unterworfen, Anerkennen des absoluten Geistes (Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus) ist. Die Freiheit ist also bei Hegel keine Freiheit des Selbstanfangenkönnens, vielmehr besteht sie in der Erkenntnis des Absoluten, der die Erkenntnis der freien, das heißt unverfügbaren Wirklichkeit entspricht. Daher vermag das Subjekt nur zu beginnen, was schon an ihm begonnen, es vermag nur zu erkennen, was sich schon zur Erkenntnis gegeben hat. 4) Mit dem Wissen der Religion um den Verlust der positiven Selbstdarstellungsmöglichkeit des Ichs und seiner damit verbundenen Welt nimmt Hegel nicht zuletzt das Resultat der kantischen Vernunftkritik auf, wonach die Vernunftideen nicht als Totalitäten existieren, in denen die Wirklichkeit absolut bestimmt wäre. In der Religion wird der Verlust der substantiellen Welt des Ichs vorzugsweise in Todesbildern gestaltet, z. B. als lebensbedrohliche Befremdlichkeit des Tieres, als Undurchdringlichkeit des Zeichens (in der ägyptischen Religion), als Leidensweg des Künstlers, als Negativität der Sprache18, als Götter und Menschen unterwerfende (Todes-)Macht des Schicksals in Epos 17 

Hegel verwendet für diese Außerkraftsetzung des Urteils die Figur der Verzeihung. Diese stellt auch kein Handeln seitens des Subjekts dar, denn als Handeln könnte sie nur den überheblichen Standpunkt des Verzeihenden zum Ausdruck bringen. Daher kann nach Hegel nur das verziehen werden, was im Absoluten schon verziehen ist. Vgl. dazu Falk Wagner: Philosophisch begriffene christliche Religion zwischen Voll-Endung und Umformung, in: Religion und Gott im Denken der Neuzeit. Hrsg. v. Albert Franz/Wilhelm G. Jacobs. Paderborn u. a. 2000, 146–182, bes. 156. 18  Agamben hat auf sehr schöne Weise den Zusammenhang von Sprache und Tod, den Hegel gesehen hat, nachgezeichnet. Vgl. Giorgio Agamben: Die Sprache und

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und Tragödie, als alles Substantielle zerlachende Komödie und nicht zuletzt in der Vorstellung vom Tode Gottes, wie er sich in der offenbaren Religion angesichts des Kreuzes ausdrückt. Die Verwendung der Todesbilder ist deshalb hervorzuheben, weil es Hegel damit gelingt, die Nichtrepräsentierbarkeit des Bewusst-Seins zu verdeutlichen. Im Gegensatz aber zu Heidegger wird bei Hegel das Sein-zum-Tode nicht den letzten Vollzug des Bewusst-Seins ausmachen. 5) Generell wird darauf abgehoben, dass bei Hegel die Religion der Form der Vorstellung des Bewusst-Seins zuzuordnen ist, während das absolute Wissen dessen philosophische Selbsterfassung ausdrückt. Allerdings ist damit nicht geklärt, was mit ›Form der Vorstellung‹ gemeint ist. Denn diese liegt gerade nicht in einem sinnlichen Zugang zum Sein, den die Religion gegenüber der Bildung neu erschließt im Hinter-sich-Lassen der Geltungsansprüche. Letztere charakterisierten das Bildungskapitel, welches aufzeigte, wie sehr dessen reflexive Verstellungen jeden Zugang zum Anderssein der Wirklichkeit verunmöglichen. Der Mangel der Form der Vorstellung liegt darin, dass sie, mit Hegel gesprochen, noch dem Verstandesdenken verhaftet ist. Ihr gehört der gesamte kantianisch geprägte Wissensapparat mit seinem Urteilsschema an. Die Religion überwindet einerseits die Vorstellung, indem bei ihr, wie gezeigt wurde, der Schritt vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein des Absoluten bzw. von der Substanz zum Subjekt vollzogen wurde. Andererseits ist sie der Vorstellung noch da verhaftet, wo ihre (negativen) Gestalten als solche festgehalten und zeitlich distanziert werden. Wenn Hegel am Ende der Phänomenologie des Geistes von der Tilgung der Zeit spricht, so ist damit nicht der Übergang von der geschichtsbezogenen Phänomenologie in eine zeitlose Logik gemeint, sondern der Umstand, dass die Form der Negativität nicht im Sinne einer zeitlichen Distanzfigur festgehalten werden kann, indem der Eintritt des Absoluten in eine unüberbrückbare Vergangenheit oder in eine uneinholbare Zukunft ausgelagert wird. 6) In der zeitlichen Distanzierung liegt der letzte Versuch des Bewusst-Seins, sich zu erhalten, das heißt das Sich-Anders-Werden, dem es unterliegt, zu beruhigen, um ein Fundament für sich zu bewahren – und sei es auch in Gott als absolut Anderem und ›Anfang‹ oder ›Ende‹ der Welt (und des ›Ichs‹). Erst wo es das vollzieht, was im absoluten Geist vollzogen ist, nämlich ein Ablassen von jedem Selbstbehalt – Gott der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Frankfurt a. M. 2007, 67.

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ist der, der an und für sich bei uns ist –, tritt der Übergang in das absolute Wissen ein, welches also das sich von sich lösende Wissen ist. Dieser Übergang markiert in seiner radikalen Offenheit auch einen neuen Zugang zur Sinnlichkeit, welche im Gegensatz zum Eingang der sinnlichen Gewissheit nicht mehr im Zeichen des Reflexionsallgemeinen steht, sondern das Einzelne als Einzelnes begreifen kann. 7) Das absolute Wissen fasst sich nicht mehr in positiven (Geist) oder negativen (Religion) Gestalten seines Bewusst-Seins, sondern es ist reiner Übergang – zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denken und Sein, zwischen Sprache und Bewusstsein, zwischen Einzelnem und Allgemeinem, letztlich zwischen Substanz und Subjekt, um die verschiedenen Dimensionen des Ich = Ich, welches im spekulativen Satz zum Ausdruck kam, einzuholen. Von dem bisher Ausgeführten her kann die Reichweite der Wissenschaft der Logik und ihres Anfangs19 deutlicher gemacht werden. Die Dialektik von Sein und Nichts ist weder ein bloßer Rückgriff auf die griechische Philosophie (Parmenides, Heraklit) noch ein abstrakter Anfang, um überhaupt irgendeine Dynamik in Gang zu bringen, sondern schließt an das Resultat der Phänomenologie des Geistes an. In ihr hat sich der Geist am Ende als Bewusst-Sein in seiner sich entziehenden Negativität erfasst und ist so an sich der Übergang von Sein und Nichts. Damit ist der Gang der Phänomenologie des Geistes im wahrsten Sinne des Wortes die Voraus-Setzung des Bewusst-Seins in seiner logischen Bewegung selber, welches sich in der Dialektik von Sein und Bewusstsein in bestimmten Gestalten (Sprache als Referenz auf das Sein) und in deren Verlust (Sprache als Referenz auf das Nichts/die Negativität) zum Ausdruck gebracht hat.

3. Der Gang der Wissenschaft der Logik 1) Die Wissenschaft der Logik ist als die reine – das heißt nicht mehr auf bestimmte Gestalten und deren Weltumgangsweisen verweisende – Bewegung des Bewusst-Seins die Form des absoluten Geistes selber. Jede logische Figur bringt eine bestimmte Bewusst-Seins-Dialektik des absoluten Subjekts, das heißt Gottes selber zum Ausdruck. Gott IST (im Sinne des spekulativen Satzes) Sein, Nichts, Werden, Dasein, Für19  Vgl.

zur Frage des Anfangs der Logik ist sehr interessant Iris Harnischmacher: Der metaphysische Gehalt der Hegelschen Logik. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 224–281.

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sichsein, Quantität, Maß, Schein, Identität und Unterschied, der Widerspruch des Positiven und des Negativen, der Grund und die Existenz, die Erscheinung als wesentliches Verhältnis von Ganzem und Teil, Kraft und ihrer Äußerung, Innerem und Äußerem. Er ist das sich zum Modus bestimmende Absolute, die sich zur Zufälligkeit bestimmende Notwendigkeit, die absolute Substanz als causa sui, die Wechselwirkung von aktiver und passiver Substanz (Sprachraum), der Begriff (das BewusstSein) in der Dialektik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, der sich zur Objektivität bestimmende Schluss, das Leben, ferner analytisches, synthetisches und praktisches Erkennen (des Guten) sowie die absolute Idee (der Freiheit) und ihr Ent-Schluss in Natur und Geschichte. 2) Den in der Wissenschaft der Logik aufgeführten Kategorien entsprechen bestimmte Weisen der Auffassung des Absoluten. So denkt der Pantheismus Gott als Sein, die heutige agnostische Auffassungsweise setzt das Absolute als Unendlichkeit des Endlichen, viele theistische Positionen dagegen Gott als verendlichtes Unendliches, wenn er (oder sie) als der/die ›ganz Andere‹ dem Endlichen gegenübersteht, womit Gott und Welt als Andere identisch sind. Der Materialismus, um eine weitere Kategorie aus dem Bereich der Seinslogik im Rahmen dieser Beispiele heranzuziehen, fasst das Absolute als Quantität oder als Maß (im Sinne der Gesetzmäßigkeit) aller Dinge. Wesenslogisch begegnet Gott z. B. als absolute Substanz, als alles sich unterwerfende schicksalhafte Notwendigkeit der griechischen Religion, als allmächtige causa sui eines metaphysisch geprägten Christentums oder als passive Substanz, die man mit dem Sprachraum beziehungsweise mit der Logizität, aus der heraus Denkbestimmungen getroffen werden können, in Verbindung bringen könnte. Begriffslogisch wäre Gott zum Beispiel der Endzweck der Welt oder auch die Idee des Guten, als die ihn die großen monotheistischen Religionen begreifen. 3) Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von Gott und Sprache, dem Bruno Liebrucks ein monumentales Werk gewidmet hat20, worin Hegels Philosophie im Allgemeinen und der Wissenschaft der Logik im Besonderen zentrale Bedeutung im Hinblick auf dieses Verhältnis zugemessen wird. Die Sprache der Wissenschaft der Logik ist nicht denotativ 20 Vgl.

dazu Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. 7 Bde. Frankfurt a. M. u. a. 1964–1979. Für eine an Liebrucks orientierte Hegel-Darstellung vgl. Franz Ungler: Bruno Liebrucks’ ›Sprache und Bewußtsein‹. Vorlesung vom WS 1988. Mit einem Geleitwort von Josef Simon. Aus dem Nachlass. Hrsg. v. Max Gottschlich. Freiburg/München 2014.

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im Sinne der Abbildung einer außersprachlichen Wirklichkeit, da alle Wirklichkeit in die logischen Stufen des Bewusst-Seins zurückgegangen ist. Genau in diesem Umstand liegt die besondere Verständnis- und Interpretationsschwierigkeit der Wissenschaft der Logik. Sie stellt einen Bedeutungsraum dar, in dem die einzelnen Kategorien nicht mehr eine Referenz auf das Sein (im Sinne des Gegenständlichen) zum Ausdruck bringen, sondern auf das Nichts im Sinne eines negativen Verweisungszusammenhanges, aus dem jede (niemals abbildbare und festhaltbare) Bedeutung entspringt. Damit ist in der Wissenschaft der Logik der in zeitgenössischen Philosophien (Levi-Strauss, Lacan, Agamben etc.) herausgearbeitete Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat verwirklicht. Die theologische Konsequenz daraus besteht darin, dass Hegels Logik nicht über Gott spricht, sondern den gedanklichen Vollzug des Absoluten selber darstellt, was ein deutlich anderes Licht wirft auf Hegels berühmtes Diktum der »Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.«21 4) Am Ende der Phänomenologie des Geistes hat sich, wie gezeigt wurde, das Absolute als reines Übergehen (von Referenz auf Sein in Referenz auf Nichts) dargestellt, der Übergang von Sein und Nichts, insofern er festgehalten wird, bildet das Dasein, welches sich als Qualität zeigt. Diese ist also das Sein mit einer Grenze (einem Nichts), das heißt bestimmtes, endliches Sein. In der Negation der Grenze hebt es sich selbst auf und ist als Beziehung des Sich-Selbst-Aufhebens Fürsichsein. Darin ist die Negation der Qualität(en) (Grenze; omnes determinatio est negatio) in sich reflektiert und die Qualitäten fallen in ihrem Grenzesein in Eins zusammen und machen die Quantität des Eins aus, welches so die in sich gegangene Negation der Qualität ist. Das Eins ist als in sich gegangene Negation das sich von sich selbst Abstoßen (Repulsion) in die vielen Eins, womit wir beim Atomismus angelangt wären. Diese vielen Eins unterscheiden sich durch Nichts, wobei dieses vorgestellte Nichts der leere Raum und der Raum überhaupt die vorgestellte Kategorie der Quantität ist. Dadurch fallen die vielen Eins wieder in ihrem Ausschließungspunkt zusammen (Attraktion) und sind als der Wechsel von Repulsion und Attraktion abwechselnd diskrete und kontinuierliche 21 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813), in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 11 in Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der rheinisch-westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Hamburg 1978, 21. Im Folgenden zitiert als »Hegel, WdL Bd. 1«.

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Größe. Deren Einheit ist die Zahl, die sich gegen ihre immanente Grenze in die unendliche Zahlenreihe (quantitativer unendlicher Progress) repelliert (1 = 1, 1 = 2 als sich von sich abstoßen, 1 = 3, und so weiter). Als dieses Sein im Sich-äußerlich-Sein ist sie das quantitative Verhältnis zwischen in sich reflektierter Einheit (Eins) und Anzahl, sie ist in ihrer Äußerlichkeit Selbstbezug und damit wiederum qualitativ bestimmt. Damit ist der Eintritt in das Maß vollzogen, welches die sich als (Selbst-) Verhältnis bestimmt habende und damit wiederum qualitativ gewordene Quantität ist. Nach Hegels Auffassung liegt also die tiefere Wahrheit der Mathematik in den mathematischen Gesetzen der Natur, die Maßverhältnisse (vor allem Potenzverhältnisse, da in ihnen Einheit und Anzahl22 identisch ist) zum Ausdruck bringen. In der Kategorie des Maßes manifestiert sich bereits die Kategorie der Relation, da die Äußerlichkeit des Bezugs auf Anderes den Selbstbezug des Maßes bildet. Insofern geht das Maß sofort über in ein gegenseitiges Sich-Messen von verschiedenen Maßen. Die Wahrheit des Maßes aber ist die absolute Indifferenz (jener absolute Aufhebungspunkt, in dem das ständige Umschlagen von Qualität in Quantität und Quantität in Qualität, das heißt das ständige Umschlagen von Sich-äußerlich-Sein und In-sichBestimmen, übergeht) und damit (als Indifferenz, die indifferent gegen sich ist) die Beziehung des Negativen auf sich selbst, das heißt das Wesen. 5) Den zweiten Teil der Logik, der den logischen Status der Reflexionsphilosophie (Kant, Fichte) angibt, nennt Hegel Wesenslogik. Sie ist nicht mehr ein Übergehen von Bestimmungen, sondern das BewusstSein (Ich = Ich) als die Bewegung von Nichts zu Nichts, das heißt die negative Beziehung auf sich, die reine Beziehung oder der Schein23, der die reflektierende Tätigkeit selber ist. Diese Reflexion ist als die Bewegung von Nichts zu Nichts Setzen, welches die Unmittelbarkeit des Anfangs als Resultat (Negatives, Refle­ xion) ist – daher kann es bei Hegel niemals einen positivierbaren Anfang geben. Ferner ist sie als Setzen negative Beziehung auf sich als Negatives und damit Aufheben des Setzens oder Voraussetzen. Macht sie den Anfang beim Vorausgesetzten, ist sie äußere Reflexion, aber im Setzen der Voraussetzung hebt sie dieses zugleich auf und ist so bestimmende Reflexion oder vermittelte (wesentliche) Unmittelbarkeit. Die Pointe besteht also 22 Vgl.

zum Beispiel die Potenz x2, in der als x mal x die Einheit auch als Anzahl gesetzt ist. 23  Alle seinslogischen Bestimmungen versuchten den Zusammenfall von Sein und Nichts zu verhindern. Im Schein ist dies aufgegeben und er ist so die Wahrheit der Identität von Sein und Nichts.

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letztlich darin, dass gerade der Ausgang bei einer bewusstseinsunabhängigen Realität eigenes Setzen des Bewusstseins ist und umgekehrt das eigene Setzen des Bewusstseins immer ein vorausgesetztes Element mit sich führt. 6) Die Reflexion als die Beziehung von Nichts zu Nichts ist die Identität. Diese enthält als Identität den Unterschied in sich. Beide, Identität und Unterschied, sind die ganze Reflexion (Satz der Identität) und so verschieden. Die Identität, die gleichgültig gegen den Unterschied ist, ist die Gleichheit; der Unterschied, der gleichgültig ist gegen die Identität, ist die Ungleichheit. Beide bilden den Gegensatz des Positiven (Gleichheit mit sich) und des Negativen (Ungleichheit mit sich) und sind in diesem Gegensatz gesetzt. Näherhin ist das Positive das Gesetzte als Identität des Negativen mit sich (als in sich reflektierte Gleichheit), während das Negative als in sich reflektierte Ungleichheit sich selbst ausschließende Reflexion und so setzender Grund ist. Damit ist das Wesen der absolute Gegenstoß in sich selbst, sich Setzen in seinem sich selbst Aufheben. Der Gegensatz des Positiven und Negativen ist zu Grunde, das heißt in seinen Grund gegangen. Das Wesen als Grund ist negatives, das heißt zu Grunde gegangenes Setzen und als Begründetes das Gesetztsein als Gesetztsein (das heißt nicht als unmittelbar Positives, sondern als durch das Setzen des Grundes Vermitteltes). Der Inhalt als Vorausgesetztes der setzenden Negativität des Grundes ist die Bedingung der Grundbeziehung. 7) Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Wesenslogik die Sphäre der Notwendigkeit, konkret der notwendigen Vermittlung ist. Die Identität ist nicht ohne Unterschied, das Positive nicht ohne Negatives, der Grund nicht ohne Folge (und umgekehrt). Wird Gott als bloßer Grund der Welt gesetzt, macht man ihn von der Welt abhängig. Sagt man, er ist etwas außer der Grund-Folgebeziehung, ist er die von der Grundbeziehung vorausgesetzte Bedingung. Die Sphäre der Freiheit liegt erst in der Logik des Begriffs vor, noch nicht in der des Wesens. Nach Hegel manifestiert sich der freie Gott erst im teleologischen Gottesbeweis, der dem objektiven Begriff zugehört und vor allem im ontologischen Gottesbeweis, der zum Ausdruck bringt, wie sich der Begriff zur Objektivität bestimmt. Dabei kann hier schon darauf verwiesen werden, dass die Freiheit bei Hegel die Fähigkeit ist, das Gute – theoretisch und praktisch (in der guten Tat) – zu erkennen. Die Indifferenz ist bloßes Moment der Freiheit, welches in der Sphäre des Wesens als absolute Notwendigkeit und in der Sphäre des Begriffs als das Allgemeine auftritt.

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8) Die Bedingung ist das Material des Grundes, der Grund ist die vorausgesetzte Totalität der Bedingungen. Diese Totalität ist die Existenz als Aufgehobensein der Bedingungen. Die Existenz ist aber, wie die Dialektik von Ding und Eigenschaften bzw. Materien zeigt – jede ist im Nichtsein des Anderen – Erscheinung. Deren letzte Bestimmung ist die Identität von Innerem und Äußerem, das heißt von Wesen/Vermittlung und Sein/Unmittelbarem, welche die Wirklichkeit ist. In ihrer ersten Form ist sie das spinozistische Absolute als Zusammenfassung aller Metaphysik, welches alles Endliche in sich aufgehoben hat. Sie ist der logische Status des kosmologischen Gottesbeweises, in dem sich das Absolute als die Wahrheit des Endlichen erweist. Das Absolute ist absolute Identität als negative Beziehung (Reflexion) auf sich, das heißt es ist sein eigenes Moment (insofern kann es bei Hegel kein Ganzes mehr als umfassende Totalität geben!) als Vermittlung an ihm selbst und darin sein eigener Modus. Als dessen Modalitäten stellen sich dar die Wirklichkeit (der Seinsaspekt, das heißt die Unmittelbarkeit des Absoluten), die Möglichkeit (der Wesensaspekt, das heißt die Vermittlung des Absoluten) und die Notwendigkeit (als notwendige Vermittlung beider). 9) Die formelle Wirklichkeit ist die Unmittelbarkeit der Äußerlichkeit und enthält als negative Beziehung auf sich als ihr Ansichsein die formelle Möglichkeit (alles ist möglich, was sich nicht widerspricht). Diese ist selber der Widerspruch, denn sie enthält die Möglichkeit von A und Non A. Als solche Nurmöglichkeit (das heißt als Sein, das zugleich Nichtsein ist) hebt sie sich in die Wirklichkeit auf (sie ergänzt sich an der Wirklichkeit) und ist als Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit die Zufälligkeit (eine Wirklichkeit, die möglich ist) oder, da sich Möglichkeit und Wirklichkeit in ihr aufheben, die formelle Notwendigkeit. Im rastlosen Umschlagen der formellen Notwendigkeit hebt sich die Form auf und wird so ein (mannigfaltiger) Inhalt oder reale Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit reflektiert sich in die zufällige Mannigfaltigkeit ihrer Möglichkeiten (reale Möglichkeit) als Voraussetzung (d. i. der zufällige Anfang), die sich in dieser mannigfaltigen Zufälligkeit als nur Möglichkeit nicht halten lassen und in die Wirklichkeit übergehen. Dieses Umschlagen von realer Wirklichkeit und Möglichkeit ist die reale Notwendigkeit. Die reale Notwendigkeit hat ihre Voraussetzung an der Zufälligkeit ihres Anfangs (äußerliche Reflexion), insofern dieser aber ihr eigenes Setzen ist (bestimmende Reflexion), bestimmt sie sich aus sich selbst zur Zufälligkeit und ist so absolute Notwendigkeit. 10) In der absoluten Notwendigkeit wird ausgesprochen: Das Sein ist, weil es ist. Es ist, weil es ist und es ist, weil es ist. Hiermit deutet sich

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in ihr bereits die Sphäre des Begriffs beziehungsweise der Liebe an. Allerdings ist die Notwendigkeit unmittelbar noch das blinde Schicksal (die Wahrheit der griechischen Religion) und als absolute Vermittlung – hier ist die Relationalität und ihre Wahrheit, die Notwendigkeit, auf die Spitze getrieben und es gilt der Satz: alles ist Beziehung – die Wahrheit des Wesens. Ihre erste Konkretion ist das Verhältnis der Substanz und ihrer Akzidentien. Die Substanz ist die absolute Macht – der allmächtige Gott –, die im Setzen der Akzidentien identisch mit sich ist. Sie bringt das Endliche hervor und lässt es vergehen. Darin ist sie die absolute Notwendigkeit. 11) Die Allmacht hat ihren Ort in der Kategorie der Substanz. Als solche ist sie nicht die höchste Bestimmung Gottes, sondern wird aufgehoben in der Liebe. Aber auch hier gilt, dass die Allmacht nicht als solche verschwinden kann, sie bleibt Moment. Der Gott Hegels vermag alles, er manifestiert sich auch in akzidentellen Ereignissen, aber in einem tieferen Sinne ist sein Vermögen die Liebe. 12) Im Setzen der Akzidentien setzt sich die Substanz als das Negative ihrer selbst und ist so die Ur-Sache, die reine Tätigkeit (dies war der Grund noch nicht, er war das Setzen des Negativen, aber nicht die sich absolut bestimmende Macht), die causa sui, die in der Wirkung mit sich identisch ist. Die Ursache ist die Substanz und im Sich-Unterscheiden ist sie als die absolute Macht das Setzen der Wirkung, die keinen eigenen Inhalt gegen die Ursache hat (wie umgekehrt aber auch der UrSache kein eigener Inhalt gegen die Wirkung zukommt). 13) Hier zeigt sich bereits an, dass das Anorganische nicht Ur-Sache des Lebendigen, das Lebendige nicht Ur-Sache des Geistigen sein kann. Vielmehr setzt das Geistige sich das Lebendige und das Anorganische voraus. Dem Anorganischen werden dabei viele Milliarden ›Jahre‹ zugemessen, da es das ›Außer-sich-Sein‹ des Lebendigen, das noch abstrakte Sich-Verlaufen ist. 14) Die Wirkung ist zunächst die Notwendigkeit der Ursache. So ist alles Ursache und ebenso Bewirktes. In diesem unendlichen Progress zerstört sich aber das Verhältnis von Ursache und Wirkung selber: Wir kommen zu keiner Ursache, da alles nur bewirkt ist (die sich daraus ergebenden Antinomien sind bei Kant entfaltet), damit hebt sich aber auch die Wirkung auf. Was bleibt, ist nicht der sich aufhebende unendliche Progress, vielmehr reflektiert sich die Kausalität in ihrem Anderswerden in sich selbst. Die Ursache ist damit nicht mehr Ursache eines Anderen, sondern Ursache ihrer selbst und die Wirkung nicht mehr Wirkung eines Anderen, sondern Wirkung ihrer selbst. Die eine Seite

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ist das Setzen der aktiven Substanz, die andere Seite ist das ursprüngliche Gesetztsein, das Substrat, an dem sich das Setzen der Ursache vollzieht, die passive Substanz. Dabei zeigt sich, dass die aktive Substanz erst im (Voraus-)Setzen der passiven Substanz aktiv ist. So aber ist sie die passive Substanz der (ursprünglich) passiven Substanz, die sich aktiviert hat usw. Das Anundfürsichsein (aktive Substanz, Freiheit) erweist sich als Gesetztsein. Wir haben den Status der Wechselwirkung erreicht. Die darin enthaltene antimetaphysische Spitze Hegels24 wird gerne übersehen. Dass das Anundfürsichsein Gesetztsein ist, war die zentrale Erfahrung des urteilenden Gewissens der Phänomenologie des Geistes, an der sein Geltungsanspruch zerbrochen ist. Denn es erkannte, dass der von ihm als anundfürsich (absolut) bestimmte Ort seines Urteilens und Handelns durch und durch gesetzter Ort war, das heißt selber schon bestimmt durch ein unverfügbares geistiges Geschehen, mit dem es in Wechselwirkung stand. Der Anfang ist daher bei Hegel nicht der Anfang eines absoluten Ortes, sondern die bewusste Übernahme des geistigen Geschehens, in dem sich das Bewusst-Sein immer schon vorgefunden hat. 15) Mit der Wechselwirkung erfolgt der Übertritt in die Sprache. In einem Gespräch gibt es kein Ursache-Wirkungsschema, sondern in der Sprache vollzieht sich die Wechselwirkung von ausgesprochenem Wort (aktive Substanz) und dem darin immer schon vernommenen Sprachraum (passive Substanz), aus dem der Anspruch des Anderen erfolgt. Sprechen ist daher nur als Angesprochener möglich. 16) Mit der Darstellung der Wechselwirkung vollzieht sich der Eintritt in die dritte Sphäre der hegelschen Logik, in die Sphäre des Begriffs. Er ist als die Kontinuität der Substanzen das Allgemeine (der geistige Raum des Bewusst-Seins), welches sich gegen seine abstrakte Allgemeinheit als Besonderes bestimmt und im Einzelnen identisch mit sich ist. Zu betonen ist, dass das Allgemeine nicht mit dem aristotelischen Artallgemeinen gleichgesetzt werden kann (z. B. dem Hundsein), welches im Einzelnen (diesem Hund da) identisch mit sich ist. Denn die Natur dringt nur in die Sphäre der Besonderung vor. Einzig das absolute Selbstbestimmen des Geistes ist das Allgemeine, welches im Einzelnen identisch mit sich ist. Der Begriff ist nach Hegel die Freiheit – die, wie hier noch einmal betont werden soll, nur als Freiheit des absoluten Geistes die Freiheit des Menschen ist. Freiheit ist also kein Prädikat des 24  Vgl.

auch Walter Jaeschke: Wer denkt metaphysisch?, in: Hegels Aktualität. Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit. Hrsg. v. Johann Kreuzer. München 2010, 151–177.

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Menschen. Ihren höchsten Ausdruck findet sie in der Liebe, wie Hegel schon in seinen Jugendschriften aufgezeigt hat. Die Freiheit bestimmt sich aus dem substanziellen Horizont der Allgemeinheit (und sie ist allgemein in diesem Bestimmen), sie geht darin aber nicht in eine endliche Bestimmtheit (im Sinne einer akzidentellen Festschreibung) über, sondern ist in diesem Bestimmen mit sich identisch. Sie ist, wie Hegel sagt, das ›bestimmte Bestimmte‹25 und so das Moment der Einzelheit, in welchem sich das Allgemeine konkretisiert. Das wahrhaft Einzelne ist nicht der empirische Mensch als zählbarer, denn als Empirischer ist er besondert. Vielmehr liegt die wahre Einzelheit da vor, wo jede Positivität hinter sich gelassen ist. Einzig ist in diesem Sinne Gott als absoluter Geist und der Mensch, insofern er an der göttlichen Natur Anteil hat, was nach Hegel geschichtlich in Jesus von Nazareth manifest wurde. 17) Der Begriff ist die Identität von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, im Urteil (›Das Einzelne ist allgemein‹) legt sich diese Einheit auseinander, um sich im Schluss zu vermitteln. Im vollständigen Schluss (dem disjunktiven) fallen das Vermittelnde (das Allgemeine als Totalität seiner Besonderungen) und das Vermittelte (die ausschließende Einzelheit), das heißt Vermittlung (Begriff) und Unmittelbarkeit (Sein), zusammen, und der Begriff gibt sich daher Dasein in der Objektivität. Im disjunktiven Schluss ist jedes der Glieder das Ganze (welches seine Einteilung in sich enthält) und seine Einteilung (welche das Ganze in sich enthält), daher die Identität von Vermittlung (Ganzem) und Vermitteltem (Einteilung), daher auch die Aufhebung der Vermittlung und die Unmittelbarkeit des Seins. Auf diese Weise hat sich der Begriff Objektivität gegeben. 18) Mit der Objektivität ist der Begriff in den härtesten Gegensatz getreten. Das Ich erfährt ›innigste Verwandtschaft im Fremden‹ (Humboldt), konkret in der anorganischen und organischen Welt, im Leben (Idee des Lebens) und im Anderen. Der Begriff weiß sich als Körper, indem er einerseits erfasst, dass seine Wahrheit der Widerstand, das Unverfügbare, das Fremde ist, andererseits, indem er erfasst, dass die Welt, in der er lebt, begeistete Welt ist. Dies entwickelt Hegel in den Schlusskapiteln der Wissenschaft der Logik: in der Idee des Erkennens (theo­ retische Vernunft) und in der Idee des Guten (praktische Vernunft), die beide in ihrer Einseitigkeit von der absoluten Idee aufgehoben werden.

25  Vgl.

Hegel, WdL, Bd. 1, 409.

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19) Ein wichtiger Punkt ist der Übergang von der Idee des Lebens zur Idee des Erkennens, in der die Idee in ihrem Fürsichsein (das heißt die Subjektivität an der Objektivität) hervortritt. Der Gattungsprozess erzeugt das Individuum, indem er es zugleich in dessen Tod in sich zurücknimmt. Das heißt, das tierische oder pflanzliche Individuum ist nicht für sich, sondern es erhält das Fürsichsein durch die Gattung durch die es bestimmt ist (sollte ein Hund auf die Idee kommen, fliegen zu lernen, hat er seine Gattung gesprengt). Auf diese Weise hat sich die Idee des Lebens als das Allgemeine (und Fürsichsein) der Gattung bestimmt. Üblicherweise wird daran festgehalten, dass Hegel auch den Tod des menschlichen Individuums auf diese Art fasst, das heißt dass die menschliche Unsterblichkeit bei ihm eine solche der Gattung ist. Dies ist aber deshalb nicht haltbar, weil das menschliche Individuum nicht im Gattungsprozess aufgeht. Es ist im Sinne der Idee des Erkennens für sich das Allgemeine, welches als Tier sterblich ist, nicht aber als Bild Gottes. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf eine wichtige Parallele zur Phänomenologie des Geistes: Dort hat sich am Ausgang des Kapitels Kraft und Verstand der Unterschied des Gesetzes weiterbestimmt zum Unterschied als solchem, das heißt zum sich auf sich beziehenden Unterschied des Lebens. Dieses ist als absoluter Unterschied identisch mit sich, das heißt das Leben ist im Hervorbringen und Zurücknehmen des Lebensprozesses (der Lebendigen) in sich reflektiert. Dieser in sich reflektierte Unterschied ist nichts anderes als das Selbstbewusstsein, welches in seinem Sich-Unterscheiden identisch mit sich ist. So ist auch in der Phänomenologie des Geistes das Selbstbewusstsein nicht nur die Wahrheit des Lebens (und das Gesetz aller Gesetze), sondern es gilt auch, dass das Leben in seiner Gesamtheit selbstreflexiven Charakter aufweist. 20) Die Idee des Erkennens, die in ihrem Fürsichsein die Wahrheit der Idee des Lebens ist, hat sich als subjektive Idee (endliches Erkennen) eine Welt vorausgesetzt. Welt und Zeit existieren nicht unabhängig vom Geist. Aufbewahrt ist aber das Moment der Endlichkeit: Der Geist gestaltet sich als Leib, als Natur, als endliches Wesen in der (voraus)gesetzten Zeit. Er erfährt sich als Glied der Schöpfung. Die Welt ›vor‹ dem Menschen (bzw. ›vor‹ dem Auftreten selbstreflexiven Bewusstseins, wo immer dies konkret verortet wird) ist ewige Vergangenheit und nicht bloß chronologisches ›Vorher‹. 21) Damit soll nicht mit Bezug auf Hegel die Evolutionslehre in ihrem naturwissenschaftlichen Wert geleugnet werden. Aber die Evolution

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vollzieht sich nicht unabhängig von der selbstreflexiven Existenz, das heißt selbstreflexives Bewusstsein in körperlicher Gestalt ist Resultat der Evolutionsgeschichte als deren Voraussetzung26. Leibniz hat ausgeführt, dass mit der Monade die Welt beginnt. Dies ist auch die Auffassungsweise Hegels. Der wahre Anfang besteht nicht im kausalen Hervorbringen einer Substanz (z. B. einer sich selbst organisierenden Materie oder eines göttlichen Werkmeisters). Vielmehr liegt der Anfang im ausgesprochenen (›ursprünglichen‹) Wort27, welches sich den Sprachraum voraussetzt. Der Geist erkennt die Natur als das Andere seiner selbst, wobei sich die Geistigkeit der Natur darin zeigt, dass sie dem Geist ›Widerstand‹ leistet (auf allgemeinste Weise als Zeit und Raum). Die Welt ›vor‹ dem Auftreten selbstbewusster Monaden (Dinosaurier etc.) ist selbstverständlich keine Illusion. Vielmehr ist sie als ewige Vergangenheit selbstreflexiver Existenz gesetzt, aber kein Zeitstrom, in und aus dem das Selbstbewusstsein irgendwann (chronologisch verortbar) auftaucht. Insofern der Mythos den zeitlichen Status einer ewigen (das heißt nie in die chronologische Zeit eingetretenen) Vergangenheit in Bezug auf selbstreflexive Existenz hat, ist die Evolutionsgeschichte der authentische Mythos unserer Zeit. Ihr logisches Element tritt uns darin entgegen, dass die ewige Vergangenheit der Sprache als chronologische Abfolge der Zeit entgegentritt. Darin erkennen wir, dass die vorsprachliche Natur eine Geschichte hat, was wiederum ihr an sich seiendes sprachliches Element ausmacht. 22) Der Idee des Wahren tritt die Welt als vorgefundene, das heißt als gegenständliche im Sinne der Positivität entgegen, aber sie erfasst nicht die Welt als freie, als geistige, als Begriff. Sie gelangt daher nur zur Objektivität, die Subjektivität ist ihr verschlossen. Diese realisiert sich erst in der Idee des Guten. Die Idee des Wahren weiß noch nicht, dass wirkliches Erkennen Anerkennen ist. Sie glaubt, dem Gegenstand Erkenntnis zu vindizieren, indem sie ihn analysiert oder in der Synthese in seiner Systematik darstellt. Zum freien Subjekt gelangt sie dadurch aber nicht. Erst unter der Ägide der Idee des Guten erkennt sie, dass der Zweck und damit der Logos und wahre Gegenstand der Welt dieser Mensch hier und jetzt ist. Auf diese Weise ist auch in der Wissenschaft der Logik der Primat der praktischen Vernunft und die grundsätzliche Grenze allen theoretischen Erkennens ausgesprochen. 26 Vgl.

dazu Hans-Dieter Klein: System der Philosophie. Bd II: Naturphilosophie. Frankfurt a. M. u. a. 2006. 27  Vgl. Hegel, WdL, Bd. 2, 237.

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Kurt Appel

23) Während in der theoretischen Idee die Subjektivität der objektiven Welt gegenübersteht, versucht die praktische Idee (Kant) sich in der Wirklichkeit, die sie wie die Idee des Erkennens als vorgefundene betrachtet, zu realisieren. Sie will die Wirklichkeit der Subjektivität gemäß machen, ihre ›Mittel‹ sind dabei das Recht, die Moralität, der Staat, die Technik. Auf diese Weise ist das Gute das zu Verwirklichende, wobei diese Verwirklichung, weil die Welt vorgefunden ist, nie vollkommen gelingen kann. Sie wird daher ins Postulat ausgelagert und die Welt wird letztlich als amoralisch, das heißt – theologisch gesprochen – als von Gott verlassen angesehen. Der Idee des Wahren gilt die Wirklichkeit als positiver, ›unverrückbarer‹ Gegenstand. Der Idee des Guten gilt die Welt als ein Aufzuhebendes. Beide betrachten damit die Welt als unbegeistet Vorgefundenes. Dieser abstrakte Standpunkt ändert sich zu dem Zeitpunkt, an dem die praktische Idee sich in konkretes Handeln umsetzt. Durch die konkrete Handlung wird nämlich die Welt sowohl als sich der Handlung öffnende – andernfalls könnte der Mensch nicht eine Handlung setzen – als auch als gegenständliche Welt erfahren. Damit verschwindet sie als fremde und das Handeln erkennt gerade in der Unverfügbarkeit der Welt deren Güte an, der es zu entsprechen sucht. Damit hebt es sich als Handeln (im Sinne subjektiver Verwirklichung) auf und vollzieht den Übergang von der Idee des Guten zur absoluten Idee: Diese ist die Vereinigung von Theorie und Praxis, das Wissen, dass sich Erkennen in der Anerkennung vollzieht. In der Verwirklichung des Guten in der konkreten guten Tat teilt sich die Welt konkret mit, das heißt, es verschwindet das abstrakt-allgemeine Kleid, welches das theoretische Wissen über die Welt geworfen hat. In der absoluten Idee manifestiert sich das Wissen, dass die Praxis nicht als Vertilgung des Gegenständlichen im Sinne der Subjektivierung eines vorgegebenen Objektiven aufgefasst werden darf. Vielmehr ist sie als gute Tat der Verzicht auf die eigene Geltung in Form der Poiesis und des Urteils. In diesem Wissen tritt die Dignität des Gegenstandes hervor, die in dem Maße anwächst, in dem (an)erkannt wird, dass der Gegenstand gerade in seiner Kontingenz begeistet ist. 24) In der absoluten Methode als Realisierung der absoluten Idee28 steht der Begriff der Entsprechung im Zentrum. Dieser hat sich bereits am Eingang der Phänomenologie des Geistes in der Frage nach der Entsprechung von Begriff und Gegenstand als Leitmotiv hegelscher Philosophie eta28 

Zu einer Interpretation der absoluten Idee vgl. Gudrun von Düffel: Die Methode Hegels als Darstellungsform der christlichen Idee Gottes. Würzburg 2000.

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bliert. Diese Entsprechung des Absoluten ist eine doppelte: Sie ist erstens die menschliche Entsprechung des Begriffs im Von-sich-Ablassen in der guten Tat und der Anerkennung der Wirklichkeit als freies Anderssein. Zweitens ist sie Entsprechung Gottes im Ent-Schluss der Logik zu Natur und Geschichte – am Ende der Logik wird also noch einmal deutlich gemacht, dass jeder Schluss seine Gegenbewegung, das heißt Auflösung in sich trägt –, in der das Absolute in der Kontingenz des sich Ereignenden an und für sich bei uns ist.

4. Résumé Der vielleicht interessanteste, aber am meisten unterbelichtete Aspekt in Hegels Zugang zur Gottesfrage liegt darin, dass in der Wissenschaft der Logik auf Grund des Umstandes, dass sie nicht mehr in Gestalten denkt, auch die denotative Sprache als solche aufgehoben ist. Die Wissenschaft der Logik ist in gewisser Hinsicht jene berühmte Leiter, die ›jenseits‹ und ›diesseits‹ der Sprache weist, in der sich das Absolute – in der sukzessiven Aufhebung des Sprachgegenstandes und aller damit verbundenen Positivitäten – ›ausspricht‹. Weil darin auch jede Fixierung und Positivierung der Gegenstände außer Kraft gesetzt ist, können diese ›außerhalb‹ ihrer semantischen und pragmatischen ›Einkleidungen‹ frei hervortreten. Der absolute Geist in Hegels Wissenschaft der Logik ist deshalb nicht – wie in der metaphysischen Tradition – der Bürge der Sprache29 oder die Sprache selbst, sondern auch deren Krisis und damit die Krisis des Subjekts. Was bleibt, ist nicht die Heteronomie einer fremden Macht oder der Wahnsinn zusammengebrochener Bedeutungen, sondern die Negativität/das Nichts einer (göttlichen) Logik, auf die Sprache im Letzten verweist, deren Darstellung sich aber denotativer Ausdrucksweise im letzten entzieht und welche doch alle meine Vorstellungen begleiten können muss ...

29  Sehr

schön bringt Giorgio Agamben diesen Zusammenhang von Gott und Sprache in der metaphysischen Tradition auf den Punkt, wenn er festhält: »[…] so bezeichnet der Name Gottes im Monotheismus die Sprache selbst […]«. Vgl. Giorgio Agamben: Das Sakrament der Sprache Eine Archäologie des Eides (Homo sacer II/3). Aus dem Italienischen von Stefanie Günthner. Berlin 2010, 64. Und weiter: »Der Gottesname besitzt mithin keinerlei semantischen Gehalt oder, besser gesagt, er hebt jedes Signifikat auf und setzt es in Klammern, um durch eine reine Erfahrung des Wortes eine reine und nackte Existenz zu bekräftigen« (ebd. 68).

Michael Hackl Das Seinsollen des Vernünftigen. Logik und objektiver Geist in G. W. F. Hegels Philosophie »Es ist nicht mehr so sehr um Gedanken zu tun. Wir haben deren genug, genug und schlechte, schön und kühne. Sondern um Begriffe.«1

1. Freiheit und Recht Das Zeitalter der Aufklärung und der damit einhergehende Paradigmenwechsel,2 die Wendung vom Objekt zum Subjekt, ist nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch politisch von höchster Bedeutung. Immanuel Kant wies 1784 darauf hin, dass es zwar »bequem« sei, nicht selbst zu denken, es sich aber lohnt, die Unmündigkeit hinter sich zu lassen und den Mut zu fassen, sich des eigenen Verstandes »ohne Leitung eines andern zu bedienen« und für den eigenen Willen und die eigenen Auffassungen einzutreten und hierfür Verantwortung zu tragen.3 Freilich ist es kein Leichtes, für den eigenen Willen einzutreten, allerdings bedürfen wir seiner, um ein verantwortungsvolles Miteinander und in Folge auch einen Rechtsstaat zu begründen. Nur wenn wir fähig sind, frei zu entscheiden, können wir für unser Handeln verantwortlich gemacht und für dieses zur Rechenschaft gezogen werden: sodann ist es uns möglich, Gesetze aus eigener Kraft zu formulieren, die auch Geltung für uns haben. Die Gesetze nicht selbst zu formulieren, steht, um mit Wilhelm Hegel zu sprechen, dem »Rechte der Vernunft eines jeden Menschen entgegen« – unterwirft sich der Mensch einem »fremden Kodex«, gibt er seine Vernunft und seine Freiheit preis: »mit dieser Veräußerung hörte er auf, Mensch zu sein«.4

1 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, Bd. 2, 557. Im Folgenden zitiert als »Hegel, TWA«, mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2  Zu den Paradigmen vgl. Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1970, bes. Kap. IX., X. u. XIII. 3  Immanuel Kant: Kant´s Gesammelte Schriften. 22 Bde. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. VIII, 35. 4  Hegel, TWA 1, 189f.

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Michael Hackl

Der von Kant propagierte Freiheitsanspruch war freilich nicht neu, so wurde schon in der 1776 verfassten Virginia Declaration of Rights auf die Bedeutung der Freiheit für das Sein des Menschen hingewiesen; so wurde erklärt, »[t]hat all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights«.5 Dieses Verständnis war es dann auch, das grundlegend für die wenige Wochen später verfasste United States Declaration of Independence war und wesentlichen Einfluss auf die 1789 verfassten Bill of Rights sowie die für Europa so wichtige Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen hatte.6 Maßgeblich für diese Entwicklung ist der Schutz der persönlichen Freiheit durch das Recht. Der Zweck des auf Freiheit basierenden Rechts ist es, die Freiheit auf allgemeine, aber auch auf besondere Weise zu verteidigen und zu schützen: nicht unbegründet spricht später Carl Schmitt von »Freiheitsrechte[n]«, deren Schutz dem Staate obliegt und der darin seine »Existenzberechtigung« findet.7 Die Freiheit bedarf des Schutzes durch das Recht, dennoch ist der Schutz der Freiheit nicht über die Freiheit zu stellen, schließlich ist die Freiheit der Zweck schlechthin. Angesichts der zweckhaften Verbindung von Freiheit und Recht, verwundert es nicht, dass sich die Philosophie seit der Aufklärung, die die subjektive Freiheit betont, auch auf Fragen der Rechtsstaatlichkeit fokussiert: stärker als Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte ist es Hegel, dessen philosophisches System auf der Verwirklichung der Freiheit durch die Vernunft gründet. Die Wirklichkeit des Vernünftigen, kommt bei ihm der Verwirklichung der Freiheit gleich, vice versa.8 5 

The Virginia Declaration of Rights, 12. Juni 1776 (§ 1). Jefferson: Writings. New York 1984, 19–24, 62–67, 1501. 7  Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin 1970, 163f. Auch wenn Carl Schmitt mit Vorbehalt zu betrachten ist (vgl. Carl Schmitt: Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 39, Heft 15, 1934, 945–950), sind seine verfassungsrechtlichen Arbeiten noch heute von Belang (vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1976). Zu den Freiheitsrechten und ihrer Bedeutung für die Formulierung der Gesetze mit besonderer Berücksichtigung der Stellung der Natur vgl. v. Verf.: Die Rechte der »natürlichen Mitwelt« und die »Sphären der Freiheit«. Eine metaphysische Antwort, in: Vorbedingungen des Rechts (Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie. ARSP Beiheft 150). Hrsg. v. Markus Abraham/Till Zimmermann/Sabrina Zucca-Soest. Stuttgart 2016, 171–181. 8  Ob Hegels Denken, um sich der Worte Eduard Gans’ zu bedienen, »Gemeingut« ist, oder ob sie sich in ihrer »Kunstsprache« verliert (Eduard Gans: Vorwort, in: Georg Wilhelm Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten: D. Ph. Marheineke, D. J. Schulze, D. Ed. Gans, D. Lp. v. Henning, D. H. Hotho, D. K. Michelet, D. F. Förster. Berlin 1832–1845, Bd. 8, V–XVII, hier XVII. Im Folgenden zitiert als »Georg Wilhelm Hegel’s Werke«. Das Vorwort von Gans wird im Fol6  Vgl. Thomas

Das Seinsollen des Vernünftigen

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2. Das Vernünftige und das Wirkliche Dass Hegels Verständnis vom Vernünftigen oftmals missverstanden wurde, belegt die vielfach zitierte Wendung: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« aus den Grund­ linien der Philosophie des Rechts von 1821 sehr deutlich.9 Diese, wie er in der zweiten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1827 erklärt, »einfachen Sätze« haben viel Kritik erfahren müssen,10 weil das Vernünftige fälschlicherweise mit dem Existierenden gleichgesetzt wurde.11 Hegels Vorstellung von der Entfaltung der Idee der Freiheit widerspricht dem eindeutig, wird nämlich das Vernünftige dem gleichgesetzt, was ist, wäre nur Vernünftiges, wodurch es nichts zu verwirklichen gäbe. Dass Hegel weder das Reale zu legitimieren suchte, noch ein »philosophischer Royalist« oder gar preußischer Staatsphilosoph war,12 zeigt sich schon daran, dass seine Philosophie des Rechts über die Staatskonstruktion in Preußen hinausging und sich seine Ausführungen als progressive Entfaltung des Rechts darstellen.13 Seine Darstellung charakterisiert das Bestehende keineswegs als vernünftig, vielmehr verfolgt genden zitiert als »Gans, Vorwort«), hängt nicht nur von der rechtsphilosophischen Position ab, sondern vom gesamten Systementwurf, ist sie doch nur Teil derselben. Daher ist Hegels Konzeption stets in seiner Ganzheit zu betrachten. 9  Hegel, TWA 7, 24. 10  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hrsg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (bzw. Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste). Hamburg 1968ff., Bd. 19, 32 (§ 6). Im Folgenden zitiert als »Hegel, GW«, mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen; TWA 8, 47 (§ 6). 11  Vgl. Gans, Vorwort, X–XI; Anonym [Heinrich Eberhard Gottlob Paulus]: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Von D. Georg Wilh. Friedr. Hegel, in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Nr. 25. Nr. 26, April 1821, 392–405, bes. 396–398. Selbst nach Hegels klärenden Worten ließen sich manche von dem irrenden Gedanken der Gleichsetzung von Wirklichkeit und Existenz nicht abbringen vgl. Jakob Salat: Schelling und Hegel oder Rückblicke auf die höhere Geistesbildung im deutschen Süden und Norden nebst vielen den neuesten Gang derselben characteristischen Aufklärungen; zugleich eine Rechtfertigung gegen Professor Rosenkranz. Heidelberg 1842, 34. 12  Brief von Nikolaus von Thaden an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 8.8.1821, in: Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, Bd. 2, 278–282, hier 279. 13  Karl-Heinz Ilting: Hegels Begriff des Staates und die Kritik des jungen Marx, in: ders.: Aufsätze über Hegel. Hrsg. v. Paolo Becci/Hansgeorg Hoppe. Frankfurt a. M. 2006, 71–99. Im Folgenden zitiert als »Ilting, Aufsätze über Hegel«; vgl. hierzu auch die Darstellung von Jacques d’Hondt: Hegel in seiner Zeit. Berlin, 1818–1831, aus dem Französischen v. Joachim Wilke. Berlin 1984, 17–33, 122–136.

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sie den Anspruch, dass das Reale dem Vernünftigen entsprechen soll. Das Vernünftige kommt in Hegels System dem vernünftigen Begreifen gleich, welches in der Wissenschaft der Logik methodisch dargelegt wurde, findet sich doch in ihr der Weg des spekulativen Wissens »ausführlich entwickelt« – damit das Vernünftige aber wahrhaft zum Ausdruck kommt, muss »das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Grunde beruh[en].«14 Somit beruht die Verwirklichung des Vernünftigen auf der Forderung, das Existierende auf vernünftige Weise zu organisieren:15 die Welt ist nicht notwendig vernünftig. Für die Philosophie des Rechts, den objektiven Geist heißt das, dass dieser gemäß dem spekulativen Wissen zu organisieren ist, weshalb es zu klären gilt, wie sich das Vernünftige zum Realen verhält. Wirklich ist nicht das Reale an sich, sondern was der Realisierung der Idee gleichkommt. Daraus folgt nicht, dass das Reale vernünftig ist, sondern, dass das Reale vernünftig sein soll. Eben darum betont Carl Ludwig Michelet: »wenn auch das Wirkliche vernünftig ist, dennoch nicht alles Vernünftige, alles Sollen16 schon wirklich ist. Dies Vernünftige, dem noch die Wirklichkeit fehlt, ist nun der Schatz der Wissenschaft […] und so in der That zur Realisierung der Ideale gelangt«17 – allerdings ist Vernünftiges, das nicht wirklich wird, ohne Bedeutung. Deswegen merkt Hegel in seiner Vorlesung zur Philosophie des Rechts von 1818/19, aber noch deutlicher in seinem Handexemplar der Grundlinien der Philosophie des Rechts an, »daß die sogenannten bloßen Begriffe etwas Nichtiges sind – sondern wesentlich deren Verwirklichung – Realisierung. Wirklichkeit ist nur die Einheit des Inneren und Äußeren – daß der Begriff nicht ein bloßes Innere sei, sondern ebenso reales, – und das Äußere, Reale nicht eine

14 

Hegel, TWA 7, 12f. Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Berlin 1844, 334f. An anderer Stelle schreibt Rosenkranz: »Die Entgegensetzung von Vernunft und Wirklichkeit ist nur eine Formulierung der Opposition von Begriff und Realität« (Karl Rosenkranz: Aus einem Tagebuch. Königsberg Herbst 1833 bis Frühjahr 1846. Leipzig 1854, 102; vgl. Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg 1998, 419. Im Folgenden zitiert als »Hösle, Hegels System«). 16  Hervorhebung, M.H. 17  Carl Ludwig Michelet: Anthropologie und Psychologie der Philosophie des subjectiven Geistes. Berlin 1840, 158; ders.: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843, 396. Im Folgenden zitiert als »Michelet, Entwickelungsgeschichte«. 15 

Das Seinsollen des Vernünftigen

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begrifflose Realität, Dasein – Existenz, sondern sei wesentlich durch den Begriff bestimmt«.18 Damit der der Logik entlehnte Gedanke wirklich wird, muss er sich im Realen darstellen und, wie Hegel betont, an »Manifestation« gewinnen.19 Nebst den zahlreichen Variationen20 des hegelschen Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit ist es David Friedrich Strauß’ Mitschrift von Hegels letzter Vorlesung zur Philosophie des Rechts von 1831,21 in der sich Hegel abermals, und sehr deutlich, über das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit äußert: »Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich was existirt, das Schlechte ist ein in sich selbst Gebrochenes und Nichtiges.«22 Wirklich ist nur dasjenige, was vernünftig ist. Ist das Reale nicht gemäß der Vernunft entfaltet, ist es auch nicht wirklich und somit ein Nichtiges – daher besteht die Aufgabe einer Rechtsphilosophie im hegelschen Sinne darin, vernünftig organisiert zu sein. Sofern wir das Reale nicht entsprechend dem Vernünftigen gestalten, ist kein Wirkliches. Mündlich erklärt Hegel hierüber:

18  Hegel,

TWA 7, 29f. (§ 1 H), Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Naturrecht und Staatswissenschaft, Vorlesungsnachschrift von C. G. Homeyer 1818/19, in: ders.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973f., Bd. 1, 227–351, 243 (§ 6). Im Folgenden zitiert als »Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie«. 19  Hegel, TWA 6, 201, 186; TWA 8, 279f. (§ 142). 20  Wenn Hegel gegenüber Heinrich Heine bemerkt, dass die Worte aus der Vorrede der Philosophie des Rechts auch heißen könnten: »Alles, was vernünftig ist, muß sein« (Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg. v. Günther Nicolin. Hamburg 1970, 234f.), dann ist dies nicht im Sinne einer Notwendigkeit zu fassen, sondern als Aufgabe zu verstehen. Dass dem so ist, deutet sich insbesondere in Michelets Ausführungen an. Dieser ergänzte nämlich Hegels Worte über die Philosophie von der »immer zu spät« kommenden und erst »mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnenden »Eule der Minerva« (Hegel, TWA 7, 28), dass die Philosophie auch der »Hahnenschlag eines neuen Morgens sei«. Dem hat Hegel nicht widersprochen, sondern ergänzte: »Was vernünftig ist, das ist wirklich«, weil »bisher noch nicht alles Vernünftige wirklich geworden ist, mit den Worten: ›Alles vernünftige Recht wird wirklich‹« (Carl Ludwig Michelet: System der Philosophie als exacter Wissenschaft. 5 Bde. Berlin 1876–1881, Bd. 5, 562; Bd. 1, 123f., im Folgenden zitiert als »Michelet, System der Philosophie«; ders.: Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie. 2 Bde. Berlin 1866, Bd. 1, Vf.; ders.: Geschichte der letzten Systeme in Deutschland. 2 Bde. Berlin 1837/38, Bd. 2, 622f.). 21  Es handelt sich nicht nur um die letzten Vorlesungen zur Philosophie des Rechts, sondern um Hegels letzte Vorlesungen überhaupt: er ist nämlich während der Vorlesungszeit in Berlin verstorben. Vgl. ebd., 627. 22  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie des Rechts. Vorlesungsnachschrift von D. F. Strauß 1831 mit Hegels Vorlesungsnotizen, in: ders.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, 907–913, hier 912. Vgl. Hegel, TWA 8, 49 (§ 6); TWA 12, 53.

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»Die Welt ist diese Verwirklichung der göttlichen Vernunft; nur auf ihrer Oberfläche herrscht das Spiel vernunftloser Zufälle. Sie kann daher wenigstens mit ebensoviel und wohl noch mit größerem Rechte als das zum Manne werdende Individuum die Prätention machen, für fertig und selbständig zu gelten, und der Mann handelt deshalb ganz vernünftig, indem er den Plan einer gänzlichen Umgestaltung der Welt aufgibt und seine persönlichen Zwecke, Leidenschaften und Interessen nur in seiner Anschließung an die Welt zu verwirklichen strebt.«23 Das Streben hin zur Verwirklichung des Vernünftigen findet sich nicht erst in Hegels späteren Darstellungen, sondern schon in seinen ersten Vorträgen zur Rechtsphilosophie. So heißt es in der von Dieter Henrich herausgegeben Nachschrift der Vorlesung zur Philosophie des Rechts von 1819/20: »Was vernünftig ist, wird wirklich und das Wirkliche wird vernünftig«,24 während es in der aus demselben Jahr stammenden Mitschrift von Johann Rudolf Ringier heißt: »was vernünftig ist, ist wirklich und umgekehrt«.25 Gleichwohl sich anhand der Mitschriften nicht eindeutig eruieren lässt, welche Bedeutung dem Werden des Vernünftigen beizumessen ist, lässt sich dies an Hegels eigener Notizen festmachen: »Man kann etwa meinen, es könne ein Rechtssystem und einen Rechtszustand geben, der rein vernünftig – nur vernünftig sei, – Ideal, – man fordert, daß es so sein soll – höchste Forderung. Sie hat Richtiges in sich, aber auch Unrichtiges – Richtiges: die Vernunft soll das Herrschende

23 

Hegel, TWA 10, 84 (§ 396 Z). Friedrich Wilhelm [sic!] Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hrsg. v. Dieter Henrich. Frankfurt a. M. 1983, 51. Dieses Verständnis findet sich sowohl in früheren als auch in späteren Vorlesungen zur Philosophie des Rechts, so 1824/25: »Einerseits ist, was vernünftig ist, auch wirklich, das Vernünftige ist nicht so schwach, nicht wirklich zu sein und andererseits was unvernünftig ist, ist auch da, existiert, aber es ist nicht wirklich. Was nur existiert ist nur erscheinend, die Wirklichkeit ist etwas ganz Anderes« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie des Rechts. Vorlesungsnachschrift von K. G. v. Griesheims 1824/25, in: ders.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, 67–752, hier 654, § 272). 1818/19 heißt es wiederum: »Die Vernunft entwirft ein Ideal des Staats, der Staatsverfassung, von dem die Gestalt der Wirklichkeit sehr verschieden ist. – Zum Charakter des Vernünftigen gehört das Allgemeine. Es ist aber noch unvollständig, solange nicht die Idee in die Wirklichkeit tritt« (ders.: G.W.F. Hegels Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannemann [Heidelberg 1817/18] und Homeyer [Berlin 1818/19]. Hrsg. v. Karl-Heinz Ilting. Stuttgart 1983, 238f., § 2). Die Mitschrift Wannemanns wird im Folgenden zitiert als »Hegel, Vorlesungen 1817/18«. 25  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Philosophie des Rechts. Berlin 1819/20. Nachgeschrieben von Johann Rudolf Ringier, in ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Hamburg 1983ff., Bd. 14, 8. 24  Georg

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sein26, und ist es in einem gebildeten Staate – im Ganzen auch – mehr Vernunft darin, als man meint, davon ist schon gesprochen«.27 Da die Vernunft das Herrschende sein soll, ist das Vernünftige nicht dem Realen gleichzusetzen, ansonsten wäre es notwendiger Weise wirklich. Das Sollen weist darauf hin, dass es uns zukommt, das Vernünftige zu verwirklichen. Es liegt in unserer Verantwortung, das Recht vernünftig zu gestalten. Erst von dieser Warte aus ist es zweckhaft, von einem Sollen zu sprechen.28 Schließlich ist »[a]lles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, […] vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf. Die Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist zur Erkenntnis des Begriffes selbst das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment der Idee.«29 Da das zu Leistende in der Philosophie des Rechts nicht notwendig, sondern ein Gesolltes ist, ist es zweckmäßig, dass Hegel nicht den Menschen an sich, sondern die Person, also das frei wollende Wesen an den Anfang seiner Konzeption des objektiven Geistes stellt.30 Die Vorbehalte, dass Hegel die Person ohne weitere Erklärung einführt, sind irreführend.31 Bekanntermaßen hat Karl-Heinz Ilting auf den entwickelten Personenbegriff in der Heidelberger Enzyklopädie hingewiesen, doch im Grunde kommt dessen Explikation nicht dem objektiven Geist zu, sondern wurzelt im subjektiven Geist. Die Freiheit der Person tritt nämlich durch »das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst [hervor], deren jedes als freie Einzelheit absolute Selbständigkeit hat«.32 Dabei ist 26 

Hervorhebung, M.H. Hegel, TWA 7, 42 (§ 3 H). 28  »In der Tat impliziert der Unterschied zwischen Ist- und Soll-Sätzen keineswegs, daß alles, was ist, nicht so ist, wie es sein soll; er besagt nur, daß das, was etwas sein soll, aus nichts, was ist, folgt« (Vittorio Hösle: Praktische Philosophie in der modernen Welt. München 1995, 23; ders.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung und die Verantwortung der Philosophie. München 1997, 67). 29  Hegel, TWA 7, 29 (§ 1). 30  Hegel, TWA 7, 93 (§ 35); 95 (§ 36); TWA 10, 306 (§ 488). Vgl. Michelet, System der Philosophie, Bd. 3, 241 (§ 455). »Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit.« (Hegel, TWA 7, 399, § 257). 31  Karl-Heinz Ilting: Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit, in: ders.: Aufsätze über Hegel, 135–165, bes. 154–165. 32  Hegel, TWA 10, 226 (§ 436). 27 

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die Person zunächst nichts anderes als das freie, selbstbewusste Subjekt, welches am Ende des subjektiven Geistes steht: darum kann Hegel auch davon sprechen, dass die Person frei sei und Rechte hat, ohne dass dies im objektiven Geist erklärt werden müsste – es kommt also der Person zu, das Vernünftige zu wollen. Da das Wissen um das eigene Selbst ein Prozess der wechselseitigen Anerkennung von realen Menschen ist, der wesentlich ideal ist, lässt sich davon sprechen, dass das Werden der Person auf intra-intersubjektive Weise geschieht.33 Demgemäß gründet auch der 1817/18 von Hegel formulierte Anspruch: »Das Vernünftige soll sein34«, welches »seine Existenz nur in dem Selbstbewußtsein eines Volkes« hat,35 auf der intra-intersubjektiven Einheit des selbstbewussten Subjekts, welches dem Selbstbewusstsein des Volkes zu Grunde liegt – immerhin ist das Wesen des Volks die intersubjektive Gemeinschaft der freien, selbstbewussten Wesen. Die Freiheit des Subjekts ist das den objektiven Geist Durchdringende, weshalb das freie Selbst dem Vernünftigen Ausdruck zu verleihen vermag und die Welt vernünftig gestalten kann. Aber ohne Einsicht in das Vernünftige weiß auch der Freie nicht, was zu tun und was der Inhalt des Sollens ist.36

33 

Ausgangspunkt des objektiven Geistes ist das selbstbewusste Wesen, welches »die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins« erreicht (Hegel, TWA 3, 149). In der hier zu verortenden »intrapersonalen Beziehung«, welche sich als »allegorische[r] Kampf zwischen Geistseele und Leibseele« darstellt (Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt a. M. 2005, 414f., 417f. Vgl. Hegel, TWA 10, 213, § 424), gründet das Wissen um die eigene Freiheit. So verstanden ist der Mensch frei (Hegel, TWA 3, 255, 233, 242; TWA 10, 34, § 85 Z). Freiheit ist aber auch ein intersubjektiver Prozess, immerhin ist es die Bezugnahme realer Wesen, die den intrasubjektiven Prozess vorantreibt; entsprechend gründet Freiheit nicht bloß im intrasubjektiven, sondern im intra-intersubjektiven Prozess, schließlich sind auch die anderen Menschen Moment der Verwirklichung von Freiheit, wenngleich das Hervortreten von Freiheit wesentlich intrasubjektiv ist. 34  Hervorhebung, M.H. 35 Hegel, Vorlesungen 1817/18, 197 (§ 136). 36  Eben darum ist Hegels in der 1822/23er Vorlesung zur Philosophie des Rechts Formuliertes »was vernünftig ist, muß geschehen« nicht im Sinne von Notwendigkeit zu fassen (Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 192, § 134), sondern ist mit dem Anspruch an das freie Wesen verbunden, welches sich als vernünftig fasst und darum das Vernünftige zu tun hat, wenngleich es dies nicht notwendigerweise tun muss.

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3. Logik und Realphilosophie Das Wissen um die eigene Freiheit ist wesentlich dafür, dass Sollen überhaupt möglich ist, doch um den Inhalt des Sollens fassen zu können, ist es notwendig, das Vernünftige zu begreifen und seine systematische Entfaltung innerhalb der Gesamtkonzeption konkret zu bestimmen. Bei näherer Betrachtung des hegelschen Systemaufbaus fällt auf, dass dieser im Wesentlichen zwei- beziehungsweise dreigeteilt ist; dreigeteilt ist er in Logik, Natur und Geist, wobei jedes der drei Momente sich wiederum dreigliedrig darstellt. Anders jedoch die Logik, diese ist im Grunde zweigliedrig, obgleich die zwei Teile wiederum in drei Glieder geteilt sind. Zweigliedrig ist im Übrigen auch die übergeordnete Ordnung des gesamten Systemaufbaus, nämlich: Logik und Realphilosophie. Gleichwohl es sich beim hegelschen System um eine äußerst komplexe Systemstruktur handelt, gibt Hegel über den eigentlichen Systemzusammenhang überraschend wenig Auskunft; aber gerade diesen müssen wir verstehen, um das wesentliche Verhältnis, den methodischen Zusammenhang von Logik und Realphilosophie näher zu bestimmen. Nur wenn wir dieses zu fassen wissen, lässt sich die Einbettung der Logik in die Realphilosophie verstehen und wir vermögen zu begreifen, wie sich das Vernünftige im Realen entäußert. Auch wenn sich Hegel über diesen Zusammenhang kaum äußert, findet sich zumindest in den überarbeiteten Fassungen der Enzyklopädie eine Andeutung hierüber. So erklärt er nun, deutlicher als in der Heidelberger Enzyklopädie, dass die »Idee […] das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objectivität [ist]. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er sich in der Form äusserlichen Daseyns gibt […]. – Die Idee ist Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, daß die Objektivität dem Begriffe entspricht, – nicht daß äußerliche Dinge meinen Vorstellungen entsprechen; dies sind nur richtige Vorstellungen, die Ich Dieser habe.«37 Das Ideelle äußert sich in seinen Bestimmungen, während das Reelle wesentlich Darstellung ist; hiermit wird nicht nur auf die methodische Beziehung beider Seiten hingewiesen, sie dient sogleich als Beleg für die Bedeutung des subjektiven Wissens für die Logik, geht es doch um die Vorstellungen, die Ich habe. Beide Seiten stehen nicht unvermittelt 37 

Hegel, TWA 8, 367f. (§ 213); GW 19, 166 (§ 213), vgl. GW 13, 98 (§ 162).

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nebeneinander, schließlich weist Hegel schon im nächsten Paragraphen darauf hin, dass die Idee als »Vernunft […], ferner als das Subjekt-Objekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Endlichen […] gefaßt werden« muss.38 Die Wirklichkeit des Vernünftigen stellt sich demnach als vermittelte Einheit von Logik und Realem dar – damit das Reale wirklich ist, muss es im Sinne der Vernunft gefasst und organisiert sein. Hegels System als geschlossene Einheit zu fassen, haben anders als die spätere Hegel-Forschung, von Ausnahmen, wie Vittorio Hösle, abgesehen, die direkten Schüler Hegels versucht. Dass sie sich in besonderer Weise dieser Aufgabe gewidmet haben, hängt gewiss damit zusammen, dass sie sich dem gelehrten Systemgedanken verpflichtet fühlten, aber auch, dass sie, darauf deuten ihre glühenden Verehrungen hin, das Wesen des »Meister[s]« Philosophie zu verwirklichen suchten.39 Zwar deuten die unterschiedlichen Konzeptionen der Schüler darauf hin,40 dass Hegel auch im mündlichen Vortrag seine Konzeption nur schattenhaft preisgab, dennoch sind die Systeme der Schüler im Wesentlichen so entfaltet, wie es der Meister wohl gelehrt hat, weisen sie doch allesamt denselben systematischen Anspruch auf. Trotz unterschiedlicher Darstellungen ist nicht in Abrede zu stellen, dass es, um mit Dieter Wandschneider zu sprechen, eine »Strukturentsprechung« zwischen Logik und Realphilosophie in Hegels Konzeption geben muss.41 Dieses Verhältnis bestärkt Hegel seit seiner 1827 überarbeiten Enzyklopädie, spricht er doch nun davon, »[w]enn Gedan-

38 

Hegel, TWA 8, 370 (§ 214). Ludwig Michelet: Vorerinnerung, in: Georg Wilhelm Hegel’s Werke. Bd. 1, ­XXXIff., hier XXXII. 40  Beispielhaft zu den Konzeptionen und zum näheren Diskurs vgl. Karl Rosenkranz: Epilegomena zu meiner Wissenschaft der logischen Idee. Als Replik gegen die Kritik der Herren Michelet und Lassalle. Königsberg 1862, bes. 77–86; ders.: Wissenschaft der logischen Idee. 2 Bde. Königsberg 1858/59; Carl Ludwig Michelet: Logik und Metaphysik: Rosenkranz und Hegel; Rosenkranz´ Wissenschaft der logischen Idee, in: Der Gedanke. Philosophische Zeitschrift, erster Jahrgang, erster Band, erstes Heft. Hrsg. v. ders. Berlin 1861, 20–58. Im Folgenden zitiert als »Michelet, Logik und Metaphysik«; ders.: Rosenkranz und Hegel. Schluss des Berichts; Rosenkranz Wissenschaft der logischen Idee, in: Der Gedanke. Philosophische Zeitschrift, erster Jahrgang, erster Band, zweites Heft. Hrsg. v. ders. Berlin 1861, 81–111; ders.: System der Philosophie; Johann Eduard Erdmann: Grundriss der Logik und Metaphysik, Halle ²1843. 41  Dieter Wandschneider: Die Stellung der Natur im Gesamtentwurf der Hegelschen Philosophie, in: Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg. v. Michael John Petry. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 33–64, hier 55. Im Folgenden zitiert als »Wandschneider, Stellung der Natur«. 39  Carl

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ke und Erscheinung einander nicht vollkommen entsprechen42, so hat man zunächst die Wahl, das eine oder das andere für das Mangelhafte anzusehen«.43 Obwohl Hegel schon in der großen Logik diese Wortwahl ins Feld führt, verzichtet er in der Heidelberger Enzyklopädie auf diese.44 Dass sich dieser Verweis bereits in der Logik findet und in die überarbeitete Enzyklopädie Eingang gefunden hat und in der letzten Fassung derselben beibehalten wurde, dient als Beleg dafür, dass das Entsprechungsverhältnis wesentlich für sein systematisches Verständnis ist. Einen klaren Anhaltspunkt, auf welche Weise sich beide Seiten methodisch entsprechen, liefert Hegel leider nicht – wie sich dieses Verhältnis methodisch fassen lässt, erläutert Lorenz Bruno Puntel in seiner systematischen Gesamtbetrachtung Darstellung, Methode und Struktur: »Entsprechung besagt hier im weitesten Sinn, daß eine bestimmte realsystematische Sphäre eine Beziehung zu einer bestimmten logischen Sphäre oder Bestimmung aufweist. Diese Beziehung kann aber verschiedene Stufen der Bestimmtheit haben. Sie kann zuerst nicht näher oder nicht speziell bestimmt sein: in diesem allgemeinen Sinn weisen alle realsystematischen Sphären eine Entsprechung zu irgendeiner logischen Sphäre oder Bestimmung auf; denn eine solche Beziehung ist die minimale Bedingung dafür, daß überhaupt von einem Enthaltensein der realsystematischen Sphären in der Logik die Rede sein kann.«45 Hinsichtlich einer systematischen Bezugnahme ist es also keineswegs notwendig, dass jede logische Kategorie einer bestimmten realphilosophischen Kategorie zuzuordnen ist, aber ebenso wenig darf die Realphilosophie von der Logik gänzlich unabhängig stehen – auf jeden Fall müssen die logischen Kategorien mit den realphilosophischen korrespondieren, sodass sich ein Korrespondenzverhältnis beider Seiten ausmachen lässt. Um das Korrespondenzverhältnis näher zu bestimmen, ist es sogleich notwendig zu klären, ob die Logik die Realphilosophie, oder ob die Realphilosophie die Logik bestimmt. Obgleich nicht zu be42 

Hervorhebung, M.H. Hegel, TWA 8, 125 (§ 47); GW 19, 62 (§ 47). 44  »Die Methode ist daraus als der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl Subjektive als Objektive, zum Gegenstande habende Begriff, somit als das reine Entsprechen des Begriffs und seiner Realität, als eine Existenz, die er selbst ist, hervorgegangen« (Hegel, TWA 6, 551). 45  Lorenz Bruno Puntel: Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G.W.F. Hegels. Bonn 1973, 118. Im Folgenden zitiert als »Puntel, Darstellung, Methode und Struktur«. 43 

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streiten ist, dass sich beide Seiten wechselseitig bedingen, ist nicht zu übersehen, dass der erkenntnistheoretische Status der Logik ein anderer ist, immerhin fasst sie Hegel als reine Wissenschaft,46 weswegen sie als Grund aller Wissenschaft verstanden wird. Allerdings ist sie »zunächst ein isoliertes System von Abstraktionen, das auf sich selbst beschränkt, nicht über die anderen Kenntnisse und Wissenschaften übergreift. […] Die erste Bekanntschaft mit der Logik schränkt ihre Bedeutung nur auf sie selbst ein; ihr Inhalt gilt nur für eine isolierte Beschäftigung mit den Denkbestimmungen […]. Erst aus der tieferen Kenntnis der anderen Wissenschaften erhebt sich für den subjektiven Geist das Logische als ein nicht nur abstrakt Allgemeines, sondern als das den Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine […]. So erhält das Logische erst dadurch die Schätzung seines Wertes, wenn es zum Resultate der Erfahrung der Wissenschaften geworden ist«.47 Die Logik ist gemäß Hegels Auffassung Ausdruck der subjektiven Denkbestimmungen, weswegen ihr gewissermaßen das Kant’sche Ich denke zu Grunde liegt;48 bekanntermaßen verwirft Hegel in der großen Logik Kants Ich denke und degradiert es zu einer Erscheinung, »wovon man nicht den geringsten Begriff habe«.49 Doch dieses Verständnis impliziert keineswegs eine Ablehnung des denkenden Ich als zentrales Moment der Philosophie, sondern mahnt vielmehr, dass dieses Wissen auf den Begriff zu bringen ist. Sofern, wie bei Kant, das Ich denke kein logisch Entwickeltes ist, ist es zu verwerfen:50 wird das Ich denke als logisch Entwickeltes verstanden, entspricht es dem Fundament unseres Denkens. Immerhin verlangt Hegels Konzeption, wie Kant in seiner ersten Kritik erklärt, dass das »Ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar

46 

Hegel, GW 11, 24. Hegel, GW 11, 28. 48  Vgl. Hegel, TWA 6, 254, 488–490. 49  Hegel, TWA 6, 490, 253–259. 50  Das hier als Ich denke Bezeichnetes ist freilich kein Persönliches, sondern Ausdruck des vernünftigen Denkens, zu dem das vernünftige, denkende Subjekt Zugang hat. Gegenüber dem Anspruch, dem denkenden Ich, als individuell Gefasstes, Allgemeinheit zuzusprechen wehrt sich Hegel klarerweise. Besonders deutlich wird dies in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts: »In der Tat ist mein Überzeugtsein etwas höchst Geringfügiges, wenn ich nicht Wahres erkennen kann; so ist es gleichgültig, wie ich denke, und es bleibt mir zum Denken jenes leere Gut, das ­Abstraktum des Verstandes« (Hegel, TWA 7, 276, § 140). 47 

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nicht gedacht werden könnte«.51 Die Bestimmungen werden nur durch das Subjekt fassbar – würde von einem anderen Denken als dem Subjektiven die Rede sein, wäre schlechthin nicht zu verstehen, um welches logische Denken es sich in der Logik überhaupt handelt. In der Logik geht es ausschließlich um das begreifende Denken: freilich wird das Denken hier als Allgemeines und nicht bloß als Einzelnes verstanden, jedoch haben wir grundsätzlich nur zu einem Denken Zugang, nämlich dem eigenen, dem Selbstdenken – auch wenn dieses Denken als Wesen allen Denkens verstanden wird, ist und bleibt es das Denken des Subjekts. Mittels der Logik des Denkens wird das begreifende Denken in allen seinen Bestimmungen konkret beschrieben, wodurch es als Allgemeines gefasst wird: so gesehen ist die Logik eine deskriptive Wissenschaft. Es ist der Logik wesentlich, das Denken zu begreifen.52 Dies verdeutlicht Hegel auch in der 1831 erweiterten Allgemeinen Einteilung der Logik seiner großen Logik: »Die Logik bestimmte sich danach als die Wissenschaft des reinen Denkens, die zu ihrem Prinzip das reine Wissen habe, die nicht abstrakte, sondern dadurch konkrete lebendige Einheit, daß in ihr der Gegensatz des Bewußtseins von einem subjektiv für sich Seienden und einem zweiten solchen Seienden, einem Objektiven, als überwunden und das Sein als reiner Begriff an sich selbst und der reine Begriff als das wahrhafte Sein gewußt wird.«53 Logik ist nach Hegel weder subjektivistisch noch objektivistisch, sondern stellt auf allgemeine Weise das begreifende Denken dar, unabhängig davon, dass uns dieses nur auf subjektive Weise zugänglich ist. Auch wenn damit nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich das Subjekt hinsichtlich der Betrachtung seines Denkens irren kann, entspricht dieses Verständnis nicht dem von Friedrich Nietzsches »Irrthum«,54 schließlich wird das Ich denke nicht in seiner Besonderheit, sondern in seiner Objektivität, in seiner Allgemeinheit gefasst. Obgleich sich selbst die Logik der kulturellen Bedingtheit nicht entziehen vermag, kann es geltungstheoretisch nicht ihr Anspruch sein, sich bloß als mögliche Perspektive darzustellen. Wäre das logische Denken perspektivistisch, 51 

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, 177f., B 131f. 52  Vgl. Michelet, Entwickelungsgeschichte, 396. 53  Hegel, TWA 5, 57. 54  Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hrsg. v. Girogi Colli/ Mazzino Montinari. Berlin/München ²1988, Bd. 2, 50.

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müsste es unterschiedliche Logiken geben, was implizieren würde, dass es nicht auf allgemeine Weise nachvollzogen werden könnte. Dabei ist aber anzuerkennen, sofern sich das Denken als logisch konsequenter, das heißt durchdachter darstellt, ist die bisherige Position zu verwerfen, sodass es letztlich nur eine geltende Logik geben kann. Die Logik ist Ausdruck des rationalen Wissens im Allgemeinen. Somit ist sie nicht nur die einzig uns zugängliche Form des Denkens, sondern die Form des Denkens überhaupt. Um des Denkens höchster Ausdruck zu sein, muss sich die Logik auch gemäß des sich selbst begreifenden Denkens weiterentwickeln. Eine Philosophie, die auf einer Wissenschaft der Logik, das heißt auf der Wissenschaft vom denkenden Subjekt fußt, muss diesen Weg beschreiten. Wer auf eine Form von Wissen pocht, die unserem Denken nicht zugänglich ist, verfällt einer schlecht spekulierenden Wissenschaft, ist es doch so nicht möglich, das Geglaubte, die These zum Wissen zu erheben. Dies ist aber der Anspruch einer jeden vernünftigen Wissenschaft. Trotz der subjektiv idealistischen Anklänge ist Hegels Philosophie nicht als solche zu begreifen, aber aufgrund ihrer Hinwendung zur und der Betonung der Subjektivität kann sie, wie es Hösle zuspitzt, »als absoluter Idealismus der Subjektivität« bezeichnet werden.55 Obgleich auch für Hegels Idealismus gelten dürfte, dass seine »Begriffe keineswegs bloße Konstrukte, sondern Eide sind, die das Wesen der Wirklichkeit ausmachen«,56 gipfelt seine Logik aus besagten Gründen in einer »Theorie der absoluten Subjektivität«57 – gleichwohl jene Konzeption Natur und Geist als ganzheitliche Einheit zu fassen sucht, ist schwerlich zu bestreiten, dass sich das von ihm begründete Fundament der reinen Wissenschaft auf das Denken des Subjekts beschränkt.

4. System und Geschichte In der hegelschen Systemkonzeption kommt der Geschichte, angesichts ihrer Stellung und Bedeutung hinsichtlich der Verwirklichung des Vernünftigen, eine besondere Rolle zu. Hegels Schüler Michelet ist hierauf gesondert eingegangen und hat deutlich gemacht, dass die Ge55 Hösle,

Hegels System, 9. Hösle: Nach dem absoluten Wissen, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Hrsg. v. Klaus Vieweg/ Wolfgang Welsch. Frankfurt a. M. 2008, 627–654, hier 632. 57 Hösle, Hegels System, 9. 56 Vittorio

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schichte nicht bloß dem objektiven Geiste zukommt, sondern sogar den »Schlussstein des Systems der Philosophie« bilden muss,58 das heißt, auch der absolute Geist muss eine Geschichte haben. Obzwar Michelet darin zuzustimmen ist, dass die Geschichte »nicht bloß die praktische Probe des Systems als der empirische Beweis desselben: sondern zugleich sein Abschluss« ist,59 gilt es zu klären, ob das von Hegel angestrebte System tatsächlich einer Erweiterung von Logik, Natur und Geist hin zu Logik, Natur, Geist und Geschichte bedarf, oder ob die Bestimmung der Geschichte anderer Qualität ist als die von Logik, Natur und Geist. Entspricht die Geschichte in gleicher Weise, wie die anderen Teile der Realphilosophie, der Logik, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der »Hahnenschlag eines neuen Morgens« für das logische Verständnis hat und ob die Geschichte derselben Struktur folgt wie die Natur.60 Angesichts dessen, dass der Lauf der Geschichte von freien Menschen gestaltet wird, während in der Natur, wie Hegel klarstellt, strenge Gesetzmäßigkeiten herrschen, kann dies nur wenig überzeugen. Dass die Geschichte, wie das Reale als solches, nur gemäß unserem begreifenden Denken, also gemäß den logischen Kategorien, zu beschreiben ist, ist aufgrund der Stellung der Logik unzweifelhaft, schließlich können wir das Reale nur so fassen, wie wir denken und dementsprechend ist die fortschreitende Weltgeschichte, gleichwohl sie auf Freiheit fußt, nur in ihrer »Notwendigkeit zu erkennen«.61 Das impliziert jedoch nicht, dass die Geschichte an sich vernünftig und wirklich ist, sondern dass wir sie, wie überhaupt alles, nur gemäß unseren vernünftigen Kategorien, das heißt, so wie wir denken, fassen können – dass sich die Geschichte als vernünftig erweist, unterliegt keiner Notwendigkeit, die Verwirklichung des Vernünftigen in der Geschichte ist vielmehr eine Aufgabe. 58 Michelet,

System der Philosophie, Bd. 4, V. System der Philosophie, Bd. 3, 668. »Wenn die Geschichte diese Verwirklichung aller Vernunftideen bis zum Ende durchgeführt hat, ist sie daher selbst Vernunfterkenntnis geworden. Die Praxis der Geschichte, wie sie aus der Theorie der ewigen Denkkraft hervorgegangen war, ist nunmehr wieder in den Schooss ihrer Mutter zurückgekehrt. Indem die Philosophie der Geschichte als das System exacter Philosophie endet, hat sie sich wieder zu ihrem Anfang hingewendet. Die Philosophie der Geschichte setzt sich als Logik fort; und wir fangen von Vorne an, nachdem wir den Kreislauf des Systems geschlossen haben. Indem auf diese Weise Anfang und Ende innig in einander geschlungen sind, müssen wir auch die beiden Seiten des Menschengeistes, Theorie und Praxis, in Eins verschmelzen« (Michelet, System der Philosophie, Bd. 5, 684f.). 60 Michelet, System der Philosophie, Bd. 5, 562. Vgl. hierzu Anm. 20. 61  Hegel, TWA 12, 32. 59 Michelet,

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Das Problem der Entwicklung hat Eduard Gans zufolge schon Johann Wolfgang von Goethe kritisiert, so merkt dieser an, dass Hegel trotz seiner »Kenntnisse in der Natur wie in der Geschichte« nicht umhinkomme, seine philosophischen Gedanken »immer nach den neuen Entdeckungen, die man doch stets machen würde«, zu »modifizieren«, wodurch sie »ihr Kategorisches verlören«.62 Diese Kritik trifft in noch stärkerem Maße auf die Geschichte als auf die Natur zu. Obwohl wir hinsichtlich unseres Begreifens auf unser Denken angewiesen sind, folgt daraus nicht, dass Natur und Geschichte dem notwendigerweise entsprechen: wenngleich wir die Welt nach Hegel nicht anders ordnen können, als wir dies gemäß unserem Denken tun, unterscheidet sich für ihn die Rolle der Natur doch wesentlich von der der Geschichte, schließlich ist sie wandelbar, während jene schlechthin unwandelbar ist. Darum lässt sich auch sagen, dass in der Natur das Vernünftige wirklich ist, wohingegen sich in der Geschichte das Vernünftige erst verwirklichen muss – da Hegel die »zeitliche[] Evolution« entschieden ablehnt,63 ist eine Andersgeartetheit der Natur schlechthin ausgeschlossen. Hegel schließt zwar nicht aus, dass es immer wieder neue Kenntnisse über die Natur gibt, allerdings implizieren diese nicht, dass die Natur wandelbar ist. Nicht ohne Grund korrespondiert die höchste objektiv logische Kategorie, nämlich die Wirklichkeit, mit der realphilosophischen Kategorie, der Physik, also der realen Bestimmung der Naturgesetze – auf dieser Ebene tritt das reine Sein und damit das Vernünftige hervor. Im Gegensatz dazu ist es das Wesen der Geschichte, nicht reines Sein, sondern ein Fortschreitendes, ein sich Entwickelndes, welches dem Vernünftigen im geschichtlichen Fortschritt Ausdruck verleiht, zu sein. Ehedem die Natur unveränderlich ist, ist die Geschichte veränderlich, weswegen davon auszugehen ist, dass sich die vom absoluten Geist formulierte Philosophie auch geschichtlich entfaltet: da es die Philosophie ist, die uns Aufschluss über unser rationales, unser begreifendes Denken gibt, ist auch die Logik in derselben Weise geschichtlich, wie die Entwicklung der Kultur, also von Kunst, Religion und Philosophie. Zwar ist die Logik selbst nicht geschichtlich, aber ihre Ausbildung geschieht in der Zeit. Obgleich die Darstellung des logischen Kategoriensystems wandelbar ist, ist es deren Geltung, trotz möglicher Neubestimmungen, als Ausdruck des Vernünftigen, nicht. Wir können uns nach Hegel nicht 62  63 

203.

Eduard Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände. Berlin 1836, 311. Dieter Wandschneider: Naturphilosophie. Hrsg. v. Vittorio Hösle. Bamberg 2008,

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über die Kategorien erheben, sie sind Ausdruck unseres Denkens. Ändern kann sich nur ihre Darstellung, nicht ihre methodische Geltung – gleichwohl sich mittels wandelnder logischer Kategorien auch unsere Ordnung von der Natur ändern muss, wird sie nur anders begriffen, ihr Sein bleibt unveränderlich. Anders verhält es sich mit der Geschichte: sie ist ein Gesolltes. Daher ist es nur konsequent, dass sich die Geschichte bei Hegel auf den objektiven und absoluten Geist beschränkt, ist sie doch nichts Notwendiges, sondern Ausdruck der Freiheit: wäre die Geschichte schon geschrieben, wäre auf unserem Erdenrund keine Freiheit. Maßgeblich für das von Hegel forcierte Geschichtsverständnis ist, dass die Geschichte vom Sein der Natur und des subjektiven Geistes vollständig ausgeklammert wird, während sie mit Blick auf die Ausbildung des objektiven und absoluten, das heißt intersubjektiven Geistes von zentraler Bedeutung ist. Obzwar die Natur in allen drei Fassungen der Enzyklopädie als ein »an sich […] lebendiges Ganzes« gefasst wird,64 welches sich als ein »System von Stufen« darstellt, »deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert«,65 impliziert dies keineswegs einen evolutionstheoretischen Anspruch;66 so hält es Hegel für »eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie […], die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. […] Solcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der 64 

Hegel, TWA 9, 36 (§ 251); GW 13, 115 (§ 196). Hegel, TWA 9, 31 (§ 249); GW 13, 114 (§ 195). 66  Auch wenn es wohlbegründete Argumente für die Vereinbarkeit des hegelschen Systems mit der Evolutionstheorie gibt, ist dies von Hegel nicht in Betracht gezogen worden und kann daher schwerlich als Wesensmerkmal seiner Systemkonzeption gedeutet werden. Vgl. Dieter Wandschneider: Hegel und die Evolution, in: Hegel und die Lebenswissenschaften. Hrsg. v. Olaf Breidbach/Dietrich von Engelhardt. Berlin 2001, 225–240; ders.: Die Entäußerung der Idee zur Natur bei Hegel und ihre ontologische Bedeutung, in: Natur zwischen Logik und Geschichte. Beiträge zu Hegels Naturphilosophie. Hrsg. v. Wolfgang Neuser/Steffen Lange. Würzburg 2016, 61–71; ders.: Naturbegriff und elementare Naturbestimmungen in Hegels Naturphilosophie, in: Idealismus heute. Aktuelle Perspektiven und neue Impulse. Hrsg. v. Vittorio Hösle/Fernando Suárez Müller. Darmstadt 2015, 156–175, bes. 162f.; Wolfgang Bonsiepen: Hegels kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Evolutionstheorie, in: Hegels Philosophie der Natur. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann/Michael John Petry. Stuttgart 1986, 151–171; Hösle, Hegels System, 316. 65 

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Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen«.67 In einer mündlichen Anmerkung nimmt Hegel auch auf die mosaische Schöpfungsgeschichte Bezug: »Heute entstanden die Pflanzen, heute die Tiere und heute der Mensch. Der Mensch hat sich nicht aus dem Tiere herausgebildet, noch das Tier aus der Pflanze; jedes ist auf einmal ganz, was es ist.« Wenn er dem hinzufügt, dass der Mensch »als erst geboren […] noch nicht vollständig [ist], aber schon die reale Möglichkeit von allem dem, was es werden soll« in sich trägt,68 wird der Mensch zwar als ein sich entwickelndes Wesen verstanden, das umfasst aber keine zeitliche Evolution, sondern impliziert lediglich, dass gesetzte Fähigkeiten hervortreten. Der Geist stellt sich hierbei als natürliche Seele dar, welche, wie es in der ersten und zweiten Fassung der Enzyklopädie treffend heißt, seine »innre Idee«69 ist; in der letzten, 3ten Auflage wird dies abgewandelt zur »seiende[n] Seele, welche Naturbestimmtheiten an ihr hat. Diese haben sozusagen hinter ihrer Idealität freie Existenz, d. i. sie sind für das Bewußtsein Naturgegenstände, zu denen aber die Seele als solche sich nicht als zu äußerlichen verhält. Sie hat vielmehr an ihr selbst diese Bestimmungen als natürliche Qualitäten.«70 67 

Hegel, TWA 9, 31f. (§ 249); vgl. Hegel, GW 13, 114f. (§ 195). Dieses Verständnis wird in einem Zusatz der 1830er Enzyklopädie noch verschärft: »Die zwei Formen, in denen der Stufengang der Natur gefaßt worden, sind Evolution und Emanation. Der Gang der Evolution, die vom Unvollkommenen, Formlosen anfängt, ist, daß zuerst Feuchtes und Wassergebilde waren, aus dem Wasser Pflanzen, Polypen, Molusken, dann Fische hervorgegangen seien, dann Landtiere; aus dem Tiere sei endlich der Mensch entsprungen. Diese allmähliche Veränderung nennt man Erklären und Begreifen, und diese von der Naturphilosophie veranlaßte Vorstellung grassiert noch; aber dieser quantitative Unterschied, wenn er auch am leichtesten zu verstehen ist, so erklärt er doch nichts. Der Gang der Emanation ist dem Morgenlande eigen; sie ist eine Stufenfolge der Verschlechterung, die vom Vollkommenen, von der absoluten Totalität, von Gott anfängt: er habe erschaffen, und Fulgurationen, Blitze, Abbilder von ihm seien hervorgetreten, so daß das erste Abbild ihm am ähnlichsten sei. Diese erste Produktion habe wieder tätig gezeugt, aber Unvollkommeneres, und so fort herunter, so daß jedes Erzeugte immer wieder erzeugend gewesen sei, bis zum Negativen, zur Materie, zur Spitze des Bösen. Die Emanation endet so mit dem Mangel aller Form. Beide Gänge sind einseitig und oberflächlich und setzen ein unbestimmtes Ziel. Der Fortgang vom Vollkommeneren zum Unvollkommeneren ist vorteilhafter, denn man hat dann den Typus des vollendeten Organismus vor sich« (Hegel, TWA 9, 32f., § 249 Z). 68  Hegel, TWA 9, 349 (§ 339 Z). 69  Hegel, GW 13, 185 (§ 311); GW 19, 295 (§ 391). 70  Hegel, TWA 10, 51 (§ 391); GW 19, 295, (§ 391).

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Gemäß dessen spricht Hegel auch in Bezug auf die Individualität vom »Erwachen der einzelnen Seele«,71 und das, obwohl das Erwachen eine Erhebung der Notwendigkeit in die Freiheit bedeutet. Diese Entwicklung ist keine mögliche, sondern eine notwendige – sie ist nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern ist schlechthin notwendig. Das Erwachen musste sein. Hierbei handelt es sich nämlich nicht um einen Akt der Freiheit, schließlich erhebt sich das unfreie Wesen zur Freiheit und kann als unfreies Wesen die Freiheit nicht wirklich wollen. Erst wenn es sich als frei weiß, hat es Freiheit und daher lässt sich, mit Jean-Paul Sartre auch sagen, dass der Mensch »dazu verurteilt [ist], frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat«.72 Sartres Worte treffen Hegels Anliegen sehr gut, unterliegt doch das Wissen um die Freiheit erst der Freiheit, wenn es um diese weiß. Ohne ein Wissen von ihr kann es keine Freiheit und somit auch keinen Entschluss zur Freiheit geben. Daher kann nicht vom freien, es muss stattdessen vom notwendigen Erwachen gesprochen werden: die Freiheit ist das Resultat einer Entwicklung der Notwendigkeit. Dass sich der Selbstbewusstseins-Prozess, das Hervortreten der Freiheit als geschichtlicher Prozess darstellt, ist freilich anderer Qualität. Obwohl am Ende des Prozesses Freiheit steht, ist seine Geschichte eine Geschichte der Notwendigkeit. Das Selbstbewusstsein gründet bekanntlich in dem »Trieb, das zu setzen, was es an sich ist«73 – der Trieb ist dem Natürlichen, also dem Notwendigen und nicht der Freiheit zuzuordnen, schließlich ist er kein Moment des Wollens aus Freiheit, sondern ein schlechthin blindes Wollen. Darum erklärt Hegel, dass der Trieb, wie auch die Leidenschaft »nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjekts, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist«.74 Das Naturhafte, das Blinde ist es, welches mittels des begehrenden, anerkennenden Selbstbewusstseins den reflektierenden, freien Willen hervorbringt,75 durch den es möglich ist, sich vom Naturhaften zu erheben und »zwischen Neigungen zu wählen«.76 71 

Hegel, TWA 10, 87 (§ 398); GW 13, 186 (§ 316); GW 19, 298 (§ 398). Sartre: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften I. 4 Bde. Hamburg 1991, Bd. 4, 125. 73  Hegel, TWA 10, 213f. (§ 425); vgl. GW 13, 199 (§ 345). 74  Hegel, TWA 10, 298 (§ 475). 75  Hegel, TWA 10, 299 (§ 476); 219 (§ 430). 76  Hegel, TWA 10, 299 (§ 477). »Die Freiheit des Willens ist nach dieser Bestimmung Willkür – in welcher dies beides enthalten ist, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe« (Hegel, TWA 7, 65f., § 15). 72  Jean-Paul

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Das Selbstbewusstsein hat sich von der »Unreinheit und Zufälligkeit, die e[s] im praktischen Gefühle und in dem Triebe hat«, wie es Hegel nennt, »befreit«.77 Diese Verhältnisbestimmung von Trieb und Freiheit wird von Hegel 1830 abermals bestärkt, so erklärt er in dem dem Psychologie-Kapitel neu hinzugefügten dritten, schließenden Abschnitt Der freie Geist: »Wenn das Wissen von der Idee, d. i. von dem Wissen der Menschen, daß ihr Wesen, Zweck und Gegenstand die Freiheit ist, spekulativ ist, so ist diese Idee selbst als solche die Wirklichkeit der Menschen, nicht die sie darum haben, sondern [die] sie sind. […] Es ist dies Wollen der Freiheit nicht mehr ein Trieb, der seine Befriedigung fordert, sondern der Charakter, – das zum trieblosen Sein gewordene geistige Bewußtsein.«78 Das neustrukturierte Ende des subjektiven Geistes stellt klar, dass der Trieb in der Freiheit des Willens aufgehoben ist. Dies ist der Grund, warum Hegel sogleich am neugestalteten Anfang des objektiven Geistes erklärt, dass die Freiheit, »zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, […] die Form von Notwendigkeit« enthält.79 Dieser Gedanken von Hegel ist nicht neu, sondern bringt in seiner Darstellung des Systems das zum Ausdruck, was in den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820/21 schon aufgezeigt wurde: »Der nur erst an sich freie Wille ist der unmittelbare oder natürliche Wille. Die Bestimmungen des Unterschieds, welchen der sich selbst bestimmende Begriff im Willen setzt, erscheinen im unmittelbaren Willen als ein unmittelbar vorhandener Inhalt – es sind die Triebe, Begierden, Neigungen, durch die sich der Wille von Natur bestimmt findet.«80 Das selbstbewusste, freie Wesen ist das Resultat des Triebes der Natur: in ihm ist der Trieb zu seinem Ende gekommen.81 Weil der Trieb im

77 

Hegel, TWA 10, 304 (§ 485). Hegel, TWA 10, 302 (§ 483). 79  Hegel, TWA 10, 303 (§ 484); 302 (§ 483). 80  Hegel, TWA 7, 62 (§ 11). 81  In den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es hierzu: »Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person. In der Persönlichkeit liegt, daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß« (Hegel, TWA 7, 93, § 35). 78 

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subjektiven Willen aufgegangen ist, ist er für den objektiven Geist nicht mehr von Bedeutung. Von Bedeutung ist von nun an der freie Wille. Bei genauerer Betrachtung des objektiven Geistes fällt auf, dass Hegel der Trieb nur noch als Abgrenzungsmoment zur Natürlichkeit dient.82 Hieraus folgt freilich nicht, dass dem Subjekt das Natürliche fremd sei, sondern nur, dass es unsere Natur ist, geistiges und freies Wesen zu sein. Demgemäß liegt auch die Gestaltung der Geschichte in der Hand der Freiheit: ob wir nun bereit sind, dank unserer Freiheit die Freiheit wirklich werden zu lassen, obliegt der Freiheit, nicht der Natur, also der Notwendigkeit. So verstanden tritt das freie Subjekt natürlicherweise hervor, wohingegen der intersubjektive Geist in Form des objektiven und absoluten Geistes wahrhaft auf Freiheit gründet. Deren Darstellung ist wesentlich freies Wollen. Schon deswegen stellt sie sich als zeitlicher Prozess dar, schließlich ist die Verwirklichung der Freiheit im intersubjektiven Geist nicht notwendig, sondern bloß möglich. Aber eine Möglichkeit, die wirklich werden kann: wirklich kann sie nur in der Geschichte werden, weswegen ihre Verwirklichung eine immerwährende Aufgabe ist. Ist sie wirklich, folgt daraus nicht, dass sie auf ewig wirklich ist. Die Verwirklichung der Freiheit geschieht in der Zeit, weswegen sie niemals abgeschlossen sein kann. Dass dieses Verständnis von Freiheit das Fundament einer Philosophie des Rechts sein muss, deutet Hegel bereits 1817/18 in Heidelberg an: »Dazu, daß der an und für sich freie Wille sei, gehört, daß er mit Notwendigkeit geschieht. Die Freiheit muß sein, nicht aber im Sinne des Zufalls, sondern im Sinne der Notwendigkeit.«83 Diese Auffassung hat zur Folge, dass sowohl die Natur als auch der subjektive Geist einer anderen Sphäre als der geschichtlich verstandene intersubjektive Geist angehören müssen; indes Erstere aus Notwendigkeit Freiheit hervorgebracht hat, fußt Letztere auf Freiheit. Nur dem intersubjektiven Geist kommt es zu, das Vernünftige zu verwirklichen. Natur und subjektiver Geist sind ohne weiteres Zutun vernünftig, ihr bloßes Sein ist Ausdruck des Vernünftigen. Jene Momente sind nicht vernünftig zu organisieren, sie sind schlechthin vernünftig. Schließlich sind sie gemäß ihrem Sein strukturiert und daher kann kein Sollen 82 

Die Triebe stellen, wie im Moralkapitel der Grundlinien der Philosophie des Rechts dargetan, die bloße Natürlichkeit dar, welche zwar an sich »gut oder auch böse sein können«, aber ihre Bestimmungen obliegen der »Zufälligkeit, die sie als natürliche haben« (Hegel, TWA 7, 261, § 139). Die Zufälligkeit ist aber nicht Moment der wirklichen Vernunft, weswegen es der freie Wille ist, der den objektiven Geist vorantreibt. 83 Hegel, Vorlesungen 1817/18, 177 (§ 127).

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Einfluss auf sie nehmen – diese Sphäre muss demnach der Sphäre des Seins entsprechen, während sich der intersubjektive Geist als Sphäre des Sollens darstellt.84 Die Sphäre des Seins entäußert sich auf natürliche Weise, nämlich so, wie sie beschaffen ist, während die Sphäre des Sollens erst zu organisieren ist. Daher ist die Sphäre des Sollens nicht notwendig und auch nicht notwendigerweise vernünftig, sie muss erst vernünftig werden, wohingegen die Sphäre des Seins wesentlich vernünftig ist. Die Sphäre des Sollens entspricht demnach der Sphäre der Freiheit und, obgleich aus Notwendigkeit Freiheit hervortritt, die Sphäre des Seins der Sphäre der Notwendigkeit. Anders als in der Sphäre des Seins gründet die Sphäre des Sollens zwar auf Freiheit, daraus folgt jedoch nicht, dass sie sich auch in freier Weise darstellen muss. Demnach Ist die Sphäre des Seins, während die Sphäre des Sollens ein Gesolltes ist: damit sich Freiheit verwirklicht, muss sie im intersubjektiven Geist, also in der weltgeschichtlichen Entwicklung hervortreten.

5. Die Sphäre des Sollens als geschichtliche Darstellung Obgleich die Geschichte die ganze Sphäre des Sollens umfasst, beschränkt sich Hegels Darstellung der Geschichte bloß auf den objektiven Geist; der absolute Geist ist zwar geschichtlich strukturiert, hat jedoch in Hegels Darstellung – wie von Michelet gefordert und eigens ausführt85 – keine eigene Geschichte. Die Geschichte wird von Hegel als der Ort verstanden, an dem der »an sich seiende Geist sich zum Bewußtsein und Selbstbewußtsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines an und für sich seienden Wesens bringt und sich auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird. Indem diese Entwicklung in der Zeit und im Dasein und damit als Geschichte ist, sind deren einzelne Momente und Stufen die Völkergeister; jeder als einzelner und natürlicher in einer qualitativen Bestimmtheit ist nur eine Stufe auszufüllen und nur ein Geschäft der ganzen Tat zu vollbringen bestimmt.«86

84  In

anderer Bedeutung gebraucht auch Hösle jene Begriffe vgl. Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997, 241. 85  Vgl. Michelet, System der Philosophie, Bd. 4 u. 5. 86  Hegel, TWA 10, 347 (§ 549); GW 13, 238 (§ 449).

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Dem fügt Hegel im darauffolgenden Paragraphen hinzu, dass das jeweilige Selbstbewusstsein »Träger der diesmaligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes in seinem Dasein und die objektive Wirklichkeit, in welche er seinen Willen legt«,87 ist. Dieses Verständnis findet sich durchgängig bei Hegel, was darauf hindeutet, dass die Verhältnisbestimmung von Selbstbewusstsein und Wirklichkeit aus seiner Sicht keiner Überarbeitung mehr bedarf. In der Geschichte des objektiven Geistes tritt der an sich seiende Geist hervor, welcher, sofern er wirklich sein soll, gemäß dem Begriff der Idee der Freiheit organisiert sein muss. Hierfür ist es notwendig, dass die Sphäre des Sollens die Sphäre des Seins methodisch zu ihrem Grunde hat; nur so lässt sich davon sprechen, dass »in dem Gange des Geistes (und der Geist ist es, der nicht nur über der Geschichte wie über den Wassern schwebt, sondern in ihr webt und allein das Bewegende ist) die Freiheit, d. i. die durch seinen Begriff bestimmte Entwicklung das Bestimmende und nur sein Begriff sich der Endzweck, d. i. die Wahrheit, sei, da der Geist Bewußtsein ist, oder mit andern Worten, daß Vernunft in der Geschichte sei, wird teils wenigstens ein plausibler Glaube sein, teils aber ist es Erkenntnis der Philosophie.«88 Es ist das denkende Ich, das vernünftige Selbstbewusstsein, welches die Geschichte auf vernünftige Weise zu gestalten hat; darum kann nach Hegel auch nur jenes Volk das »weltbeherrschende« sein89, welches sich als wahrhaft frei fasst, schließlich ist das Vernünftige dasjenige, was sich selbst als Freies zu begreifen vermag. Während die Geschichte der Natur, wie es in einer Anmerkung von Michelet in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt, »bei den ursprünglichen Gesetzen stehenblieb und keinen Fortschritt macht«,90 gilt dies für den intersubjektiven Geist freilich nicht, denn Geschichte ist »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« und das, obwohl dieser Fortschritt, gemäß unserer Begrenztheit des Denkens nur »in seiner Notwendigkeit zu erkennen« ist.91 Auch wenn wir die Geschichte nur in ihrer Notwen87 

Hegel, TWA 10, 352 (§ 550); TWA 7, 26. Hegel, TWA 10, 352 (§ 549). 89  Hegel, TWA 10, 353 (§ 550). 90  Hegel, TWA 18, 21, Anm.; TWA 20, 465. 91  Hegel, TWA 12, 32; Diese Bestimmung wird auch an einer anderer Stelle der Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte deutlich: »Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar. Die nähere Bestimmung dieser Stufen ist in ihrer allgemeinen Natur 88 

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digkeit erkennen können, ist damit nicht gemeint, dass sie notwendig ist, sondern nur, dass die Geschichte, auch als Geschichte der Freiheit, logisch notwendig zu fassen sei. Es kann schlechthin nicht anders sein, weil wir die Geschichte nur gemäß unserem Denken fassen können und diese Struktur ist nach Hegel, da sie sich nur bedingt entwickelt und geschichtlich ist, als Struktur des Notwendigen zu fassen – sie ist bedingt geschichtlich, da das Denken des Menschen nicht wandelbar ist, der Mensch ist, wie er ist. Er kann sich nicht ändern, ändern kann sich nur unser Verständnis vom Begriff des Logischen. Das Logische ist Ausdruck unseres Denkens, jedoch ist unser Begriff von diesem wiederum Ausdruck der Kultur und damit der Geschichte – also ist unser Begriff vom Denken bedingt durch Kultur und Geschichte und dementsprechend wandelbar. Die Geschichte der Freiheit kann nicht als notwendig verstanden werden: wäre doch dies eine contradictio in adiecto. Hätten die freien Wesen keine Gestaltungsmöglichkeiten in der Geschichte, müsste der Lauf der Welt einer übermächtigen Vorhersehung folgen, was schlechthin unter der Voraussetzung wirklicher Freiheit unmöglich ist, so wären Freiheit und Notwendigkeit Eins: nämlich notwendig. Die Sphäre der Notwendigkeit mag sich zwar als entwickelnd darstellen, dennoch lässt sich nicht davon sprechen, dass es sich hierbei um einen »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« handelt. Denn im »Bewußtsein der Freiheit« zu leben impliziert nicht nur das Wissen um die Freiheit, sondern umfasst auch die Tat, was mit einem notwendigen Lauf der Geschichte im Widerspruch steht. Dieses Geschichtsverständnis ist wesentlich für Hegels Auffassung, andernfalls wäre unerklärlich, wieso die Sphäre des Seins keine Geschichte besitzt, während die Sphäre des Sollens geschichtlich strukturiert ist – die Kultur ist demnach der Ort der Verwirklichung der Freiheit.

logisch, in ihrer konkreteren aber in der Philosophie des Geistes anzugeben. Es ist hier nur anzuführen, daß die erste Stufe das schon vorhin angegebene Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit, die zweite das Heraustreten desselben in das Bewußtsein seiner Freiheit ist. Dieses erste Losreißen ist aber unvollkommen und partiell, indem es von der mittelbaren Natürlichkeit herkommt, hiermit auf sie bezogen und mit ihr, als einem Momente, noch behaftet ist. Die dritte Stufe ist die Erhebung aus dieser noch besonderen Freiheit in die reine Allgemeinheit derselben, in das Selbstbewußtsein und Selbstgefühl des Wesens der Geistigkeit. Diese Stufen sind die Grundprinzipien des allgemeinen Prozesses; wie aber jede innerhalb ihrer selbst wieder ein Prozeß ihres Gestaltens und die Dialektik ihres Überganges ist, dies Nähere ist der Ausführung vorzubehalten« (Hegel, TWA 12, 77f.).

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Hegel hat explizit gemacht, dass nur jener Teil der Realphilosophie geschichtlich gefasst ist, dem das freie Subjekt zu Grunde liegt. Zwar wird das Hervortreten der Subjektivität, und damit der Freiheit, als natürliche Entwicklung gefasst, doch dagegen kann die auf Freiheit basierende Entwicklung schwerlich eine natürliche sein, ansonsten müsste sich die Geschichte im »Bewußtsein der Freiheit« als notwendig darstellen, wodurch aber die Freiheit aufgehoben würde. Eine Geschichte, die den freien Willen zu ihrem Grund hat, kann nicht notwendig sein. Zwar wird das Hervortreten der Freiheit als Moment der Notwendigkeit verstanden, ihre Verwirklichung ist es jedoch keineswegs – damit das Vernünftige wirklich wird, ist es notwendig, dass die vernünftigen Subjekte die Welt vernünftig gestalten, ohne ihr Zutun wird die Geschichte nicht vernünftig. Nehmen wir unseren Einfluss nicht wahr, sind wir nur Zuschauer des Weltgeschehens, was nicht nur unsere Freiheit überflüssig machen, sondern sie sogleich aufheben würde. Durch unseren Einfluss können wir die Geschichte im Sinne der Vernunft oder wider die Vernunft gestalten. Die Philosophie des Rechts ist der Bereich, in dem das Vernünftige wirklich werden soll. Da der Wille der Person jeder vernünftigen, auf Freiheit fußenden Philosophie des Rechts vorausgehen muss, kommt es dieser zu, das Vernünftige wirklich werden zu lassen: weil der Entfaltung des Vernünftigen das Wissen von der Freiheit vorausgehen muss, hängt die Verwirklichung im Realen von der Freiheit ab.92 Sofern sich das Wissen um die Freiheit nicht im Realen verwirklicht, besteht ein Widerspruch, der nur in der Freiheit begründet sein kann, andernfalls müssten beide Seiten einander – wie in der Natur – entsprechen. Ohne die Möglichkeit zur Freiheit, ist das, was Ist und nicht das, was Seinsoll: ohne Freiheit wäre die Geschichte in jedem Moment ihrer Darstellung vernünftig. Die Vernunft verwirklicht sich nur, wenn sich die ideale Form der Freiheit auch im Realen darstellt. Diese Entfaltung hängt wiederum davon ab, ob das Volk eine »beschränkte Vorstellung« oder »das wahrhafte Bewußtsein der Freiheit hat«.93 Ein Volk kann sich nämlich nur jene Gesetze und jene Verfassung geben, »die ihm angemessen ist und für

92 

»Mit dem, was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei« (Hegel, TWA 12, 32; TWA 17, 191). 93  Hegel, TWA 16, 75; TWA 12, 540.

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dasselbe gehört.«94 Nur wenn die Freiheit das Bestimmende ist, kann sich der Staat auch als wahre Idee der Freiheit präsentieren;95 dies meint nichts anderes, als dass das Vernünftige im an sich seienden Geiste wirklich wird.96 Dies wirft die Frage auf, inwiefern die Idee der Freiheit für die Gestaltung des intersubjektiven Geistes von Bedeutung ist.

6. Seins- und Wesenslogik sowie die Natur Um der Bestimmung dessen, was die Idee der Freiheit ausmacht, nachzukommen, bedarf es eines tiefgründigeren Blickes in die Logik und den Systemaufbau; dies ist notwendig, weil der »Begriff […] das Freie« und die Logik, als Ganzes, wesentlich für die gesamte Systemkonstruktion ist.97 Neben der Scheidung der realphilosophischen Kategorien in Natur und Geist ist auch in die zwei genannten Sphären zu differenzieren. Wohingegen Natur und Mensch so beschaffen sind, wie sie sind, sind Sittlichkeit, Kunst, Religion und Philosophie so beschaffen, wie sie aus und mit Freiheit geschaffen wurden. Indes sich nun der objektive Geist gemäß den Prinzipien der Idee der Freiheit darstellt, ist der absolute Geist zweigliedrig. Einerseits stellt sich auch er gemäß den Prinzipien dar, aber andererseits ist er, insbesondere das philosophische Wissen, kons­ titutiv für das Wissen von und für die Darstellung der Idee der Freiheit, schließlich gründet das logische Wissen auf unseren philosophischen Auffassungen. Der Wandel der geltenden Paradigmen dient als Beleg dieser Entwicklung. In diesem Sinne ist auch die Logik wandelbar – allerdings verwirklicht sich das Vernünftige nur, wenn die formulierten Prinzipien der Sphäre des Seins die Sphäre des Sollens durchdringen. Obgleich die Philosophie auf die Logik wirkt, ist sie höchster Organisationsgrund des intersubjektiven Geistes.98

94 

Hegel, TWA 7, 440 (§ 274); TWA 10, 336 (§ 540); TWA 4, 250 (§ 28); »Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre« (Hegel, TWA 7, 440, § 274). 95  Hegel, TWA 7, 292 (§ 142); TWA 10, 301 (§ 482); Vgl. Andreas Arndt: Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel, in: Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen. Hrsg. v. Michael Hackl/Christian Danz. Göttingen 2017 (im Druck). 96  Vgl. Hegel, TWA 10, 318 (§ 514). 97  Hegel, TWA 8, 307 (§ 160). 98  Wie das Verhältnis des absoluten Geistes, der Kultur zur Wissenschaft der Logik ist, kann hier nur angedeutet werden, hierfür bedarf es einer eigenständigen Ausarbeitung. Vgl. Anm. 59.

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Die Struktur des objektiven Geistes ist keineswegs willkürlich, sondern folgt der Notwendigkeit unseres Denkens. Wenn Hegel in seiner Philosophie der Geschichte, der Geschichte des objektiven Geistes darauf hinweist, dass von »der Idee der Freiheit als der Natur des Geistes und dem absoluten Endzweck der Geschichte« zu sprechen ist,99 dann ist Freiheit der Endzweck der Geschichte, welcher das Reale durchdringen und sie gemäß ihrer darzustellen hat: so wird Freiheit wirklich. Die Idee der Freiheit, die im Staat wirklich werden soll, muss also mit der Wissenschaft der Logik in Einklang stehen, wäre dem nicht so, gäbe es keine Entsprechung zwischen beiden Seiten, was nicht nur die Entsprechung an sich in Zweifel ziehen würde, sondern – was viel gewichtiger ist – auch zur Folge hätte, dass es zumindest zwei verschiedene, unvermittelte Begriffe des Vernünftigen geben müsste. Es kann aber nur Eine Vernunft geben, andernfalls würde das vernünftige Begreifen für die Organisation des Realen keine Rolle spielen: jeder könnte auf seine eigene Vernunft pochen. So wäre keine allgemeingeltende Begründung möglich – wer aber begründet, nimmt unweigerlich für sich in Anspruch, dass die Begründung auch von anderen jederzeit nachvollzogen werden kann. Ohne diese Bezugnahme wäre jedwede Begründung schlechthin zweck- und sinnlos. Kann die vorgelegte Begründung von jedem und jederzeit auf allgemeine, rationale Weise nachvollzogen werden, gibt es auch nur Eine Vernunft, gibt es doch nur ein Wesen und eine Form des Wahren. Dass der in der Logik formulierte Vernunftbegriff nichts mit dem Realen gemein hat, hat Theodor Litt versucht darzulegen. Denn damit würde, so Litt, der Logik »mehr zugemutet«, als sie »zu leisten imstande« ist.100 Eine Entsprechung zwischen Logischen und Realen würde nicht nur die »Reinheit [der Logik] trüben«, sondern würde, wie Litt glaubt, gar ihre »Aufgabe verfehlen«.101 Dass Hegel ein anderes Verständnis vor Augen hatte, ist schwerlich zu bestreiten, ging es ihm doch keineswegs darum, was Litt zu explizieren sucht, die Logik als »blosse Ontologie« zu fassen. Stattdessen hat Hegel, um mit Michelet zu sprechen, »die Wurzeln aller realen Wissenschaften in seiner Metaphysik angelegt«102 – dies betont Hegel eigens in einem Fragment: »In jeder be99 

Hegel, TWA 12, 38. Litt: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung. Heidelberg 1953, 256. Im Folgenden zitiert als »Litt, Hegel«. 101 Litt, Hegel, 243, 240, 242. 102 Michelet, Logik und Metaphysik, 54; vgl. Vittorio Hösle: Begründungsfragen des objektiven Idealismus, in: Philosophie und Begründung. Hrsg. v. Forum für Philosophie 100  Theodor

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sonderen philosophischen Wissenschaft ist das Logische, als die reine allgemeine Wissenschaft, hiermit das Wissenschaftliche in aller Wissenschaft vorausgesetzt.«103 Die Realphilosophie muss von den logischen Kategorien durchdrungen sein, nur so kommt in ihr das Vernünftige zum Ausdruck. Weil die logischen Kategorien die Kategorien des Denkens sind und wir, als Denkende, das Reale nur in jener Weise vernünftig begreifen können, wie wir denken, haben wir das Reale gemäß unserem vernünftigen Denken zu organisieren. Wir begreifen die Welt ohnehin nur so, wie es unsere Art und Weise des vernünftigen Begreifens zulässt, dennoch impliziert das nicht, dass wir die Welt vernünftig begreifen: dies ist nur möglich, wenn wir Einsicht in unser vernünftiges Denken haben und dies zu explizieren wissen. Die Welt kann auch in nicht-vernünftiger Weise begriffen werden, wir müssen sie ja noch nicht einmal begreifen und können die Augen vor ihr verschließen. Methodisch ist dies zu fassen, wie das Verhältnis der Mathematik zu den Naturwissenschaften: wir können die Welt auch falsch berechnen. Um die Natur auf vernünftige Weise zu ordnen, bedienen sich die Naturwissenschaften der Mathematik, ist sie doch Ausdruck unseres logischen, rationalen Denkens. Eben darum wird auch von den Naturwissenschaften nur dasjenige (empirische) Phänomen als gesetzmäßig gefasst, welches mathematisch beschrieben und erklärt werden kann. Darin gründet der Anspruch auf Gesetzmäßigkeit.104 Wie auch die Mathematik, so wächst die Bestimmung der logischen Kategorien an ihren Aufgaben. Aus apriorischen Gründen ist anzunehmen, dass sich eher Fehler in der Logik, denn in der Realphilosophie finden, schließlich dient uns das Reale als »Leitfaden«,105 der uns im Idealen bloß in Abstraktion zugänglich ist. Da das Verhältnis ohnehin wechselwirkend ist, müssen sie letztlich eine Einheit bilden. Daher weist Hegel in seiner Enzyklopädie darauf hin, dass die »Übereinstimmung« verschiedener Sphären als »äußere[r] Prüfstein der Wahrheit« anzusehen ist,106 weswegen die Entfaltung der Logik in der Realphilosophie den äußeren Prüfstein darstellt, der innerliche Prüfstein ist das

Bad Homburg. Frankfurt a. M. 1987, 212–267, bes. 243f.; ders.: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. München 2013, 134, 138. 103  Hegel, TWA 11, 524 (§ 11). 104  Vgl. hierzu Richard Feynman: The Character of Physical Law. Cambridge, Mass. u. a. 1965, 40f., 46–50. 105 Hösle, Hegels System, 114 Anm. 106  Hegel, TWA 8, 47 (§ 6).

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vernünftige Denken selbst. Auf diese Weise entfaltet sich auch Hegels Entsprechungsverhältnis: während das Denken zum eigenen Prüfstein wird, müssen sich die logischen Kategorien im Realen erweisen. Beispielhaft zeigt sich dies an der Korrespondenz von Hegels seinslogischen Kategorien Sein, Nichts, Werden und Dasein mit den realphilosophischen Kategorien der Mechanik, nämlich Raum, Zeit, Bewegung und Materie.107 Dass in der Hegel’schen Konzeption der Anfang der Logik mit dem Anfang der Realphilosophie korrespondiert, ist kein Zufall, schließlich entsprechen beide Ebenen jeweils den Momenten mit den wenigsten Voraussetzungen. Deren Zusammenhang basiert darauf, dass die logische Methode »die Seele und der Begriff des Inhalts« sei, welche nicht bloß »äußerliche Form« ist,108 wohingegen die Natur »als die Idee in der Form des Anderssseins« verstanden wird, die die »Äußerlichkeit« ausmacht.109 Hegel fasst demnach, wie das Verständnis des Prüfsteins belegt, die Logik als das Innere und das Reale als das Äußere – das ist auch der Grund, warum er dem Anfang der Logik die Qualität und dem Anfang der Realphilosophie die Quantität zuordnet.110 Gleichwohl Hegel an dieser Stelle vom eigentlichen Aufbau der Logik abweicht und es Michelet zufolge in der Natur, anders als in der Logik, »keine inneren Unterschiede« gibt und darum »nicht qualitativ gegeneinander bestimmt« sind,111 ist einzuwenden, dass Hegel an später Stelle der Naturphilosophie dennoch die Qualität ins Spiel bringt, so ist im Abschnitt Die Physik die Rede von einer »qualifizierte[n] Materie«.112 Trotz etwaiger Zuordnungsfehler ist nicht die ganze Systemkonstruk­ tion zu verwerfen, von Bedeutung ist vielmehr die Gesamtkomposition, wäre es doch mehr als beachtlich, wenn sich bei einer derart umfassenden Betrachtung keine Fehler finden würden: hinzukommt, dass – gemäß der hegelschen Konzeption – die Fehler nicht zwangsläufig im vernünftigen Denken, sondern auch in unserem Wissen vom und über 107 Hösle,

Hegels System, 106, 106–115; ders.: Raum, Zeit, Bewegung, in: Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg. v. Michael John Petry, 247–292. Im Folgenden zitiert als »Hösle, Raum, Zeit, Bewegung«. 108  Hegel, TWA 8, 392 (§ 244). 109  Hegel, TWA 9, 24 (§ 247). 110  Hegel, TWA 9, 42 (§ 254); Hösle: Raum, Zeit, Bewegung, 259f., 286; Wandschneider, Stellung der Natur, 55–57. 111 Michelet, System der Philosophie, Bd. 2, 22 (§ 167). 112  Hegel, TWA 9, 107 (§ 271). Hösle: Raum, Zeit, Bewegung, 260; ders.: Hegels System, 156. Hösle macht angesichts der Gliederungsproblematik den Vorschlag, dass man überlegen sollte, »ob nicht die Reihenfolge in der Wissenschaft der Logik Qualität  Quantität, mit der Hegel sich gegen die ganze Tradition von Aristoteles bis Kant gestellt hat, wieder umzukehren wäre« (Hösle, Raum, Zeit, Bewegung, 260).

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dem Realen gründen können. Entscheidend ist also, unabhängig von einzelnen fragwürdigen Zuordnungen, dass sich, in Anknüpfung an Puntels Überlegung, zwischen beiden Seiten durchgehende Entsprechungen ausmachen lassen. Für den Systemaufbau und das Entsprechungsverhältnis von Logik und Realem ist von zentraler Bedeutung, dass die Seinslogik der Mechanik, das heißt der erste Teil der Logik dem ersten Teil der Realphilosophie, also dem ersten Teil der Naturphilosophie zuzuordnen ist. Wird die Seinslogik der Mechanik zugeordnet, stellt sich die Frage, welchen Momenten der Realphilosophie die Wesens- und welchen die Begriffslogik zuzuordnen ist; in der Allgemeinen Einteilung der Logik erklärt sich Hegel dahingehend, dass der »ganze Begriff […] im denkenden Menschen, aber auch schon, freilich nicht als bewußter, noch weniger als gewußter Begriff, im empfindenden Tier und in der organischen Individualität überhaupt ist«,113 was darauf hindeutet, dass die Begriffslogik nicht bloß dem denkenden, vernünftigen Subjekt, sondern der Organik als Ganzes entspricht, schließlich ist ihr höchster Ausdruck der der Individualität. Diese Darstellung deckt sich im Übrigen auch mit Hegels naturphilosophischen Ausführungen, in denen das Tier als die »niedrigste Stufe« des Bewusstseins gefasst wird,114 welches sich nur an sich und nicht als wahres Selbst begreift. Das Tier ist »nur an sich der Begriff, aber nicht für sich selbst«,115 während im denkenden Subjekt, im Geist die »Wahrheit der Natur geworden« ist.116 Gerade weil der Begriff der Individualität gleichkommt, ist er sowohl der Organischen Physik als auch dem denkenden, vernünftigen Subjekt zuordnen: mit Blick auf die Korrespondenz von Logik und Realphilosophie ist diese Zuordnung von besonderer Bedeutung, immerhin ist der subjektive Geist, die höchste realphilosophische Kategorie der Subjektivität, wie der höchste Begriff, das Freie ist.

113 

Hegel, TWA 5, 58. Hegel, TWA 8, 24f. 115  Hegel, TWA 9, 534 (§ 374); 432 (§ 351 Z); 434 (§ 351 Z). Zur praktischen Dimension dieses Tierverständnisses vgl. v. Verf.: Verantwortung für die Freiheit. G. W. F. Hegels »freie[s] Selbst« und die »natürliche Mitwelt« K. M. Meyer-Abichs, in: Hegel Jahrbuch. Hrsg. v. Andreas Arndt/Jure Zovko/Myriam Gerhard. Berlin, München/Boston (im Druck). 116  Hegel, TWA 10, 43 (§ 388). An anderer Stelle schreibt Hegel hierzu: »Erst der animalische Organismus ist in solche Unterschiede der Gestaltung entwickelt, die wesentlich nur als seine Glieder existieren, wodurch er als Subjekt ist. Die Lebendigkeit als natürliche zerfällt zwar in die unbestimmte Vielheit von Lebendigen, die aber an ihnen selbst subjektive Organismen sind, und es ist nur in der Idee, daß sie ein Leben, ein organisches System desselben sind« (Hegel, TWA 9, 337, § 337). 114 

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Wie die Seinslogik der Mechanik zuzuordnen ist, so muss die Begriffslogik der Organischen Physik sowie dem subjektiven Geist zugeordnet werden, denn hierin drücken sich die Bestimmungen der Subjektivität aus. Da die Wesenslogik, wie Hegel in seiner Einteilung fortfährt, »zwischen der Lehre vom Sein und der vom Begriff inmitten« steht,117 muss sie der Physik entsprechen, befindet doch nur sie sich zwischen Mechanik und Organik. Dass dies auch Zweck der Entsprechung ist, deutet sich schon an Hegels Fortentwicklung und Umarbeitung seiner Enzyklopädie an. Während in der Heidelberger Enzyklopädie die Physik noch mit seinslogischen Kategorien wie Repulsion korrespondiert,118 hat Hegel in der letzten Auflage der Enzyklopädie den Aufbau dahingehend geändert, dass innerhalb der Physik nun auf wesenslogische Reflexionsbestimmungen rekurriert wird.119 Daher wird die Physik nun als jener Bereich verstanden, in dem »logisch in die Sphäre des Wesens« eingetreten wird.120 Für diese Einteilung spricht, dass sowohl Seins- als auch Wesenslogik der objektiven Logik und die Begriffslogik der subjektiven Logik zuzuordnen sind. Dass Mechanik und Physik wiederum als Moment der objektiven Logik gefasst werden, ist insofern schlüssig, als dass die hier wirkenden Gesetzmäßigkeiten objektive Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen und darum wirklich sind, indes die subjektiv logischen Kategorien Organik und subjektiver Geist wesentlich subjektiv und aufgrund ihrer Individualität auch Ort der Freiheit sind. Zwar ist die Ausbildung der Subjektivität wie auch der Freiheit notwendig, ihre Entäußerung hingegen geschieht in Freiheit. Sofern die Korrespondenzen zwischen Logik und Realphilosophie nicht willkürlich sind,121 ist die Begriffslogik dem Organischen sowie dem subjektiven Geist zuzuordnen.122 Somit geht dem intersubjektiven Geist die Sphäre der Freiheit voraus; unbeantwortet bleibt jedoch, welcher Teil der Logik der Sphäre des Sollens entspricht und welche Rolle sie diesbezüglich einnimmt.

117 

Hegel, TWA 5, 58. Hegel, GW 13, 125 (§ 205); TWA 9, 60–62 (§ 262); 80 (§ 267); TWA 8, 283f. (§ 143 Z); 205–209, (§§ 97f.). 119  Hegel, TWA 9, 111 (§ 275); 118, (§ 276). 120  Hegel, TWA 9, 110 (§ 274 Z); vgl. Michelet, System der Philosophie, Bd. 2, 182 (§§ 225f.). 121  Hösle spricht diesbezüglich von einer »durchgehenden linearen Entsprechung zwischen Logik und Realphilosophie« (Hösle, Hegels System, 112; vgl. ders./Dieter Wandschneider: Die Entäußerung der Idee der Natur und ihre Zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel, in: Hegel-Studien 18. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler. Bonn 1983, 173–199, 178f.). 122  Vgl. Wandschneider, Stellung der Natur, 54; Hösle, Hegels System, 112. 118 

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7. Die Begriffslogik und der Übergang von der Natur zum Geist Die Begriffslogik kann sich aus systematischen Gründen nicht auf die Organische Physik beschränken, tritt doch die wahre Subjektivität erst mit dem denkenden Ich, dem Menschen, hervor. Zudem muss das Geistkapitel Teil der Logik sein, wäre dies nicht der Fall, wäre das ordnende und denkende Ich, ein Willkürliches und kein Vernünftiges. Da das Geistkapitel nicht von der Logik ausgeschlossen sein kann, schließlich ist es nach Hegel Moment der Realphilosophie, gilt es nun zu klären, wie sich die Begriffslogik einerseits zum subjektiven Geist und andererseits zum objektiven sowie absoluten Geist verhält. Im Unterschied zur objektiven Logik, die Ausdruck der »Bestimmungen des Denkens […] oder vielmehr des Vernünftigen« ist, stellt sich die subjektive Logik als »das freie selbstständige, sich in sich bestimmte Subjektive oder vielmehr das Subjekt selbst« dar.123 Wenn Hegel in der überarbeiteten Fassung der großen Logik darauf hinweist, dass auf den Unterschied »kein besonderes Gewicht zu legen« und diese Differenzierung auch gliederungsmäßig in der Enzyklopädie ohne Belang ist,124 kann das nur heißen, dass beide Seiten einander gleichgültig sind. Die Differenz ist nicht ohne Weiteres aufzuheben, denn erst mit der Subjektivität, also mit der Lehre des Begriffs, erhebt sich das Vernünftige zum Wissen von sich. Die methodische Differenz ist von ähnlicher Qualität, wie die zwischen Anorganischem und Organischem – gleichwohl sie nicht voneinander zu trennen sind, ist es nur dem Subjekt möglich, sein Sein zu fassen und diesem wahrhaft Ausdruck zu verleihen. Die Entsprechung von Begriffslogik und Subjektivität ist nicht von der Hand zu weisen, allerdings beantwortet dies nicht, wie die Begriffslogik mit der Organik und dem Geist im Einzelnen korrespondiert. Während Michelet darzulegen sucht, dass die Organik der logischen Kategorie Teleologie entspricht,125 deuten Hegels Ausführungen darauf hin, dass es die Idee des Lebens ist, die der Organik entspricht; denn nach Hegel ist die »dritte Weise der Naturerscheinung allein […] ein Dasein der Idee und die Idee als natürliche das Leben. Die tote unorganische Natur ist der Idee nicht gemäß und nur die lebendig-organische eine Wirklichkeit derselben. Denn in der Lebendigkeit ist erstens die Realität der Begriffs123 Zu

objektiver und subjektiver Logik vgl. Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a. M. 1980, bes. 23–60. 124  Hegel, TWA 5, 62. 125 Michelet, System der Philosophie, Bd. 2, 313 (§ 282).

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unterschiede als realer vorhanden; zweitens aber die Negation derselben als bloß real unterschiedener, indem die ideelle Subjektivität des Begriffs sich diese Realität unterwirft; drittens das Seelenhafte als affirmative Erscheinung des Begriffs an seiner Leiblichkeit, als unendliche Form, die sich als Form in ihrem Inhalte zu erhalten die Macht hat.«126 Dieser Hinweis aus der Philosophie der Ästhetik findet sich auch am Anfang der Organischen Physik, erklärt Hegel doch auch hier, dass die »Idee […] zur Existenz […], zunächst zur unmittelbaren, zum Leben« kommt.127 Dass eine enge Verbindung jener Kategorien vorliegt, wird auch daran ersichtlich, dass es zwischen der Organik und der Idee des Lebens auffallend viele Parallelen gibt.128 Indes kann es nicht sein, dass dies die einzigen Korrespondenzen zwischen Idee und Realphilosophie sind, ansonsten wäre der Geist, ist doch die Ideenlehre der Abschluss der Logik, von ihr vollkommen ausgeschlossen, was zur Folge hätte, dass das organische Leben dem völlig entwickelten Begriff entsprechen müsste. Auch wenn jeder Moment des Begriffs »selbst der ganze Begriff […], aber die Einzelheit, das Subjekt, […] der als Totalität gesetzte Begriff« ist,129 bedarf es des denkenden Subjekts, des Geistes. Dies führt Hegel in seiner großen Logik näher aus: »Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein. Ich habe wohl Begriffe, d. h. bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist. Wenn man daher an die Grundbestimmungen, welche die Natur des Ich ausmachen, erinnert, so darf man voraussetzen, daß an etwas Bekanntes, d. i. der Vor126 

Hegel, TWA 13, 160, 157. Hegel, TWA 9, 337 (§ 337); Vgl. Hösle, Hegels System, 112. 128  Hösle meint sogar, dass man hier gar nicht mehr von Entsprechung, sondern von »Identität« sprechen sollte (Hösle, Hegels System, 113). Dafür spricht auch die Gliederung, wird doch die Organik nach dem Vorbild der Logik entfaltet (vgl. Hegel, TWA 9, 368–371, § 342 Z; 337, § 337): »a) […] Gestalt; b) […] Assimilation; c) […] Gattungsprozeß« (Hegel, TWA 9, 435, § 352). Diese triadische Struktur entspricht »Eins: Eins« dem logischen Abschnitt über die Idee des Lebens (Hösle, Hegels System, 109): hier wird ebenso in Gestaltungs-, Assimilations- und Gattungsprozes gegliedert (Hegel, TWA 8, 373–377, §§ 216–222.). Des Weiteren erklärt Hegel im Objektivitätskapitel der Begriffslogik (Hegel, TWA 8, 374, § 217), dass der Schluss E–B–A dem Mechanismus (Hegel, TWA 8, 355, § 198), der Schluss A–E–B dem Chemismus (Hegel, TWA 8, 358, § 201) und der Schluss B–A–E der Teleologie entspricht (Hegel, TWA 8, 363, § 207). Das weist nicht nur auf weitere Korrespondenzen zwischen Logik und Natur hin, sondern zeigt sogleich, dass die Organik mit der Idee des Lebens gleichzusetzen ist, schließlich sind sie jeweils der Schluss der drei Schlüsse. 129  Hegel, TWA 8, 311 (§ 163). 127 

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stellung Geläufiges erinnert wird. Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht.«130 Weil Logik und Realphilosophie einander »durchgehend [...] linear« entsprechen,131 bleibt für den Geist, wie Hösle berechtigterweise anmerkt, in der Logik nicht mehr viel Platz – von den insgesamt 27 Kapiteln der Logik bleiben schlussendlich nur zwei für den Geist übrig.132 Puntel versucht diesen fragwürdigen Umstand damit zu erklären, dass er von der »Gleichursprünglichkeit« von Logik, Phänomenologie und Psychologie spricht und daher die Idee des Guten und die absolute Idee der Wesensstruktur des Geistes gleichsetzt.133 Dieser Ansatz ist insofern problematisch, als dass er der Grundstruktur der Philosophie Hegels widerspricht; schließlich setzt die Psychologie die Phänomenologie hinsichtlich ihrer »Begriffsentwicklung voraus« und stelle sich als deren »Wahrheit« dar.134 Wie das Verhältnis von Logik und Geist tatsächlich zu fassen ist, deutet Hegel in seiner großen Logik an, hier wird darauf verwiesen, dass die Idee des Erkennens »Seele, Bewußtsein und Geist«,135 also den Kategorien des subjektiven Geistes, entspricht. Daher ist für die Betrachtung weiterer Entsprechungen die Gliederung der Idee des Erkennens in Das Erkennen und Das Wollen von Bedeutung, weshalb zu klären ist, wie die jeweiligen Kategorien realphilosophisch einzuordnen sind. So ist Idee des Wollens als das »umgekehrte Verhältnis gegen die Idee des Wahren« zu fassen,136 weswegen sie deren praktischen Ent­faltung darstellen muss. Somit muss die Idee des Wollens derselben Ebene der realphilosophischen Kategorie zuzuordnen sein, wie die des Erkennens. Da nun die Idee des Erkennens der Psychologie zuzuordnen ist, hat Das Erkennen dem Abschnitt Der theoretische Geist und Das Wollen dem darauffolgenden Abschnitt, nämlich Der praktische Geist, zu entsprechen. Folglich ist eine Entsprechung der Idee des Wollens mit dem objektiven Geist ausgeschlossen, denn jede logische Kategorie korrespondiert nur mit einer realphilosophischen Kategorie. Der Idee des Er130 

Hegel, TWA 6, 253; dieser Hinweis findet sich in: Hösle, Hegels System, 113. Hegels System, 112. 132 Hösle, Hegels System, 114. 133 Puntel: Darstellung, Methode und Struktur, 135, 135–144, 163–173, 212–223; Hösle, Hegels System, 102. 134 Hösle, Hegels System, 117. 135  Hegel, TWA 6, 494. 136  Hegel, TWA 8, 385f. (§§ 232f.). 131 Hösle,

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kennens ist keine weitere Kategorie zugeordnet, sodass es einen direkten Übergang von Das Wollen in Die absolute Idee gibt: dies wirft nicht nur die Frage auf, mit welcher realphilosophischen Kategorie Die absolute Idee korrespondiert, sondern auch, welchem Teil der Logik Der freie Geist entspricht. Eigentlich müsste Der freie Geist gliederungsmäßig mit dem dritten Unterkapitel der Idee des Erkennens korrespondieren, allerdings existiert ein solches nicht. Da Hegel in der großen Logik darauf hinweist, dass in der Idee des Erkennens noch Trieb137 – also Natürliches – ist, den es aufzuheben gilt, bestätigt sich, dass Der freie Geist nicht mehr ihr, sondern der absoluten Idee gleichzusetzen ist, er ist mehr als nur Trieb, hier ist wirkliche Freiheit. Weil die absolute Idee mit dem letzten Abschnitt des subjektiven Geistes korrespondiert, kann es keine Entsprechung zwischen Logik und intersubjektiven Geist geben, was uns vor die Frage stellt, inwiefern dieser überhaupt noch für die Gesamtkonzeption von Bedeutung ist. Dass Der freie Geist eine besondere Rolle für Hegels Systemkonstruktion einnimmt, wird besonders daran ersichtlich, dass sowohl die Fassungen der Enzyklopädie von 1817 als auch von 1827 nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Idee des Absoluten mit dem intersubjektiven Geist korrespondiert. In beiden Fassungen endet der Abschnitt zum subjektiven Geist mit Der praktische Geist, weswegen die logische Kategorie der Idee des Absoluten mit dem intersubjektiven korrespondieren muss. Diese für Hegel unzufriedenstellende Beziehung wird in der letzten Fassung seiner Enzyklopädie dahingehend korrigiert, dass dem subjektiven Geist Der freie Geist als abschließendes Moment hinzugefügt wird. Sodann wird die Subjektivität, und damit die Freiheit des Subjekts, zur höchsten Kategorie erhoben, woraus folgt, dass der intersubjektive Geist nicht mehr durch die Logik abgedeckt ist. Dass diese Neustrukturierung von Hegel so angedacht war, belegt die neue Zuordnung der Einheit von theoretischem und praktischem Geist: während sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage der Enzyklopädie das Kapitel Der objective Geist mit »Der objective Geist ist die Einheit des theoretischen und praktischen« einsetzt,138 fällt dies in der Fassung von 1830 dem Kapitel Der freie Geist, also dem freien Sub-

137  138 

Hegel, TWA 6, 572. Hegel, GW 13, 224 (§ 400); GW 19, 352 (§ 482).

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jekte zu.139 Hegel zufolge »weiß« sich der freie Geist »als frei«140, weswegen dieser, und nicht erst der objektive Geist, als der »wirkliche freie Wille«, »die Einheit des theoretische und praktischen Geistes« darstellt.141 Da der freie Geist dem lebendigen, denkenden Subjekt zukommt, muss er letztlich sogar die Einheit der Idee des Lebens, der Idee des Erkennens und der Idee des Wollens bilden. Als solche muss er, wie Hegel fortfährt, mit der absoluten Idee gleichzusetzen sein, schließlich ist die »absolute Idee […] zunächst die Einheit der theoretischen und der praktischen Idee und damit zugleich die Einheit der Idee des Lebens und der Idee des Erkennens. Im Erkennen hatten wir die Idee in der Gestalt der Differenz, und der Prozeß des Erkennens hat sich uns als die Überwindung dieser Differenz und als die Wiederherstellung jener Einheit ergeben, welche als solche und in ihrer Unmittelbarkeit zunächst die Idee des Lebens ist. Der Mangel des Lebens besteht darin, nur erst die an sich seiende Idee zu sein; dahingegen ist ebenso einseitigerweise das Erkennen die nur für sich seiende Idee. Die Einheit und Wahrheit dieser beiden ist die an und für sich seiende und hiermit absolute Idee.«142 Im Abschnitt Der freie Geist kulminiert das vernünftige Wissen und das Sein der Freiheit, womit die Verwirklichung des Vernünftigen in der Sphäre des Sollens dem freien Subjekt zukommt. Dieser schon im Realen, anhand des Personenbegriffs begründete Gedanken, bestätigt sich nun auch mittels des Korrespondenzverhältnis von Logik und Realphilosophie. Hegel hebt den subjektiven Freiheitsbegriff mit Blick auf die Verwirklichung der Freiheit gesondert hervor, weswegen er am neu gefassten Übergang zum objektiven Geist hinzufügt, dass es jenes Verständnis von Freiheit ist, das »den Inhalt und Zweck der Freiheit hat, […] selbst zunächst nur Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens [ist] und sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt, zur rechtli139  Vgl. Hegel, TWA

10, 300 (§ 481); TWA 8, 388 (§ 236 Z). Wenn Hegel im Abschnitt Der objektive Geist der 3ten Auflage seiner Enzyklopädie damit einsetzt, dass der »objektive Geist […] die absolute Idee, aber nur an sich seiend [verstanden wird]; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit nur die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr« (Hegel, TWA 10, 303, § 483), wird deutlich, dass sich die Verwirklichung des Subjekts nicht auf den objektiven Geist beschränken kann, sondern auch auf den absoluten Geist, als unendlichen Geist Bezug nehmen muss, da jener nur den endlichen Teil umfasst. 140  Hegel, TWA 10, 301 (§ 482). 141  Hegel, TWA 10, 300 (§ 481). 142  Hegel, TWA 8, 388 (§ 236 Z).

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chen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit.«143 Die Verwirklichung des Vernünftigen fällt in den Bereich des intersubjektiven Geistes, wobei es keine Gewissheit gibt, dass sich das Vernünftige auch verwirklicht: nur, wenn sich die logischen Kategorien im Realen verwirklichen, verwirklicht sich auch die Idee der Freiheit.

8. Der Übergang von der Sphäre des Seins zur Sphäre des Sollens Vittorio Hösle hat in Hegels System darauf hingewiesen, dass es »auf Basis der ›Wissenschaft der Logik‹ […] nicht möglich [ist], dieses Übergehen des subjektiven Geistes […] in den intersubjektiv bestimmten objektiven und absoluten Geist zu legitimieren.« Das Fehlen der Entsprechungen, welches er als »Überschießen« der Realphilosophie über die logischen Kategorien bezeichnet, ist nach Hösle schlechthin nicht zu akzeptieren,144 da sich die Logik so nur auf Teilbereiche des Realen erstreckt und nicht das Ganze abdeckt. Sofern das Reale des intersubjektiven Geistes außerhalb der Logik des Begriffs steht, könnte sie, wie Hösle erklärt, schwerlich wirklich und vernünftig sein: doch gerade dies fordert Hegel unablässig. Hösle weist auf die Notwendigkeit hin, dass die Hegel’sche Logik einer kategorialen Erweiterung bedarf und fordert, dass auf die zweigeteilte, das heißt auf die objektive und die subjektive Logik, ein dritter die Logik abschließender Teil, nämlich eine intersubjektive Logik, folgen muss, die mit dem nicht abgedeckten realphilosophischen Teil kor­ respondiert. Hösles Ansatz stellt einen gangbaren Weg einer an Hegel orientierten Systemkonzeption dar, wobei er über diese hinausgeht, fokussiert sich seine Darstellung doch auf den Begriff der Intersubjektivität, wohingegen sich Hegels Darstellung auf den der Subjektivität fokussiert. Hösles Entwurf darf als konsequente Fortführung einer geschlossenen Systemkonzeption verstanden werden, dabei unterscheidet ihn grundlegend das Zeit- und Geschichtsverständnis von Hegel. So kann es nicht sein, dass die durch die Logik abgedeckten Bereiche divergierenden Zeitbegriffen unterliegen. Hösle ist sich dessen bewusst, hebt er doch gerade darum die Bedeutung der Evolutionstheorie für eine entsprechende Systemkonzeption hervor,145 während Hegel an der Ungeschichtlichkeit der Sphäre des Seins und sogleich an der ge143 

Hegel, TWA 10, 302 (§ 482). Hegels System, 122f., 131, 259, 664. 145  Vgl. Hösle: Moral und Politik, bes. Kap. 4.1 u. 4.2.; ders./Christian Illies: Darwin. Freiburg, Basel/Wien 1999, 179–181. 144 Hösle,

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schichtlichen Offenheit der Sphäre des Sollens festhält. Das Verhältnis von Zeit und Logik ist hier freilich nicht, wie bei Carl Friedrich von Weizsäcker, im Sinne einer »Logik zeitlicher Aussagen« zu fassen,146 sondern deutet bloß darauf hin, dass die Sphäre des Seins, aufgrund ihrer Geschichtlichkeit, in anderer Weise von der Logik durchdrungen ist als die Sphäre des Sollens. Wäre die Sphäre des Sollens logisch bestimmt, also dem Sein unterworfen, wäre in ihr das Vernünftige bereits wirklich, aber das ist es ja, zumindest laut Hegel, eben nicht. Wird das von Hösle aufgezeigte Überschießen der Realphilosophie über die Logik logisch aufgehoben, ist kein Sollen mehr möglich, weshalb die Welt determiniert, oder im Mindesten »prädeterminiert« gefasst werden muss.147 Konsequenterweise spricht Hösle in seiner Geschichtsphilosophie davon, dass die Geschichte »Regeln«, konkreter: einer »innere[n] Logik« folgt.148 Dies vorausgesetzt, ist der Lauf der Geschichte nicht als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«, sondern schlechthin als Fortschritt der Notwendigkeit zu fassen. Auch wenn es zweckmäßig ist, Hegels Verständnis der zeitlichen Evolution zu kritisieren und sogar für obsolet zu erklären, führt diese Wandlung dazu, dass die Differenzierung des zeitlichen Horizontes der beiden Sphären getilgt wird, wodurch sowohl die Sphäre des Sollens als auch die Sphäre des Seins als notwendig gefasst werden müssen. Hegel hat auf diese Differenz sehr viel wert gelegt, schließlich drückt sich gemäß seiner Konzeption erst in den unterschiedlichen Sphären die Möglichkeit von Freiheit aus. Auch wenn Hegels Begriff der Zeitlichkeit im Realen einer neuen Entfaltung bedarf, ist das von ihm insistierte Überschießen der Geschichtlichkeit über die Logik insofern aufrechtzuerhalten, als dass Freiheit, was Hegels zentrales Anliegen ist, nicht zum Schein werden soll. Denn nicht die Logik der Vernunft macht die Geschichte, die kulturell bedingte vernünftige Logik soll die Geschichte vernünftig machen. Dies ist der Anspruch der hegelschen Systemkonzeption: die Idee der Freiheit verwirklicht sich nicht aus Notwendigkeit, ihre Verwirklichung kommt dem freien, vernünftigem Subjekt zu. Obwohl Hegel aufgrund seines Geschichts- und Freiheitsverständnisses keine intersubjektive Logik im Sinn gehabt haben dürfte, stehen sowohl der objektive als auch der ab146  Vgl.

Carl Friedrich von Weizsäcker: Zeit und Wissen. München/Wien 1992, 278, 192–236, 278–284; ders.: Aufbau der Physik. München/Wien 1975, 47–99. 147  Vgl. Vittorio Hösle: Die Philosophie und die Wissenschaften. München 1999, 28, 21f. 148 Vittorio Hösle: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon (Elae 1). Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 61, 106f.

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solute Geist nicht unabhängig von der Logik. So sind beide gemäß dem Begriff, also gemäß der Idee der Freiheit zu organisieren. Wenn am Übergang zur Lehre des Begriffs dargelegt wird, dass »die Wahrheit der Notwendigkeit […] die Freiheit, und die Wahrheit der Substanz der Begriff ist«,149 folgt daraus, dass aus Notwendigkeit Freiheit hervortritt, sie aber erst als wirkliche Freiheit Wahrheit ist. Somit ist die Sphäre des Sollens, gleichwohl sie keiner geschichtlichen Notwendigkeit obliegt, in logisch notwendiger Weise zu organisieren, nämlich in der Weise der notwendig hervortretenden Freiheit. Die Sphäre des Seins ist Moment der notwendig entwickelten Freiheit, womit sie den Inhalt, das Seinsollen der Sphäre des Sollens ausmacht. Dieser Anspruch wird in den Grundlinien der Philosophie des Rechts gesondert hervorgehoben, wird doch hier darauf verwiesen, dass die Systematizität der Logik wesentlich für die Ausbildung der Begrifflichkeiten ist und alle »seine[] Glieder auf dem logischen Geiste« beruhen.150 Damit die Idee der Freiheit wirklich ist, muss der intersubjektive Geist – als höchste Form des Geistes – wesentlich dem Begriff entsprechen; da der Begriff wiederum die »Wahrheit des Seins und des Wesens« ist, muss der objektive und der absolute Geist die logischen Momente des Seins und des Wesens umfassen. Immerhin hat der Begriff diese zu seiner Voraussetzung. Wie beide »in ihn als in ihren Grund zurückgegangen sind, so hat er umgekehrt sich aus dem Sein als aus seinem Grunde entwickelt.«151 Soll die Sphäre des Sollens dem Begriff, also wesentlich der Idee der Freiheit entsprechen, darf sie sich nicht auf einen Teil der Logik beschränken. Nur das Ganze der vernünftigen Logik ist Ausdruck der sich wissenden, wirklichen Freiheit. 149 

Hegel, TWA 8, 303 (§ 158). 7, 12. An folgender Stelle erklärt Hegel, warum er die logischen Übergänge in seiner Philosophie des Rechts nur am Rande ausgeführt hat: »Die Natur des spekulativen Wissens habe ich in meiner Wissenschaft der Logik ausführlich entwickelt; in diesem Grundriß [Grundlinien der Philosophie des Rechts] ist darum nur hier und da eine Erläuterung über Fortgang und Methode hinzugefügt worden. Bei der konkreten und in sich so mannigfaltigen Beschaffenheit des Gegenstandes ist es zwar vernachlässigt worden, in allen und jeden Einzelheiten die logische Fortleitung nachzuweisen und herauszuheben. Teils konnte dies, bei vorausgesetzter Bekanntschaft mit der wissenschaftlichen Methode, für überflüssig gehalten werden, teils wird aber es von selbst auffallen, daß das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht. Von dieser Seite möchte ich auch vornehmlich, daß diese Abhandlung gefaßt und beurteilt würde. Denn das, um was es in derselben zu tun ist, ist die Wissenschaft, und in der Wissenschaft ist der Inhalt wesentlich an die Form gebunden« (Hegel, TWA 7, 12f.). 151  Hegel, TWA 8, 304 (§ 159). 150  Hegel, TWA

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Dabei kann dem objektiven Geist nicht bloß, wie den vorhergehenden realphilosophischen Kategorien, eine logische Kategorie zugeordnet sein; es kommt dem selbstbewussten Wesen zu, die absoluten Idee, die Idee der Freiheit als Ganzes, in der Geschichte, zu verwirklichen, wohingegen die vorhergehenden Abschnitte bloß die Momente der Notwendigkeit auf dem Weg zur Freiheit sind, weswegen sich die Freiheit im Rahmen des intersubjektiven Geistes in seiner Ganzheit darzustellen hat. Eben deswegen muss sowohl der objektive als auch der absolute Geist Ausdruck des Ganzen der Freiheit sein. Demnach kann der intersubjektive Geist nicht bloß auf Teilen der Logik, also der Idee der Freiheit fußen, sondern muss das Ganze umfassen: dabei stellt sich in der Philosophie des Rechts der »an sich seiende Geist« als »Weltgeist« dar,152 während in der Kultur der für sich seiende Geist hervortritt. Somit bringt Ersterer die Verwirklichung der Freiheit im Endlichen und Letzterer die Freiheit im Unendlichen zum Ausdruck – da im absoluten Geist, der Kultur, das Wesen der Logik zum Ausdruck gebracht und in sich bestimmt wird, kommt es dem objektiven Geist zu, das kulturell bestimmte Vernünftige zu verwirklichen. Die Kunst, die Religion und die Philosophie sind jene Orte, die das Vernünftige in sich zu begreifen suchen und das Fundament des vernünftigen Begreifens und damit das Verständnis des Denkens aus Freiheit selbst begründen. Im objektiven Geist geht es wesentlich darum, das Vernünftige im Realen wirklich werden zu lassen, wohingegen im absoluten Geist das Vernünftige im Idealem des Realen überhaupt erst begriffen werden muss. Der freie Geist stellt sich als Idee des Absoluten dar, während sich im intersubjektiven Geist, die Idee der Freiheit »sich selbst frei entläßt«.153 152 

Hegel, TWA 10, 347 (§ 549). 6, 573. Hegel macht dies in seiner Wissenschaft der Logik explizit: »Indem die Idee sich nämlich als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität setzt, somit in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt, so ist sie als die Totalität in dieser Form – Natur. Diese Bestimmung ist aber nicht ein Gewordensein und Übergang, wie (nach oben) der subjektive Begriff in seiner Totalität zur Objektivität, auch der subjektive Zweck zum Leben wird. Die reine Idee, in welcher die Bestimmtheit oder Realität des Begriffes selbst zum Begriffe erhoben ist, ist vielmehr absolute Befreiung, für welche keine unmittelbare Bestimmung mehr ist, die nicht ebensosehr gesetzt und der Begriff ist; in dieser Freiheit findet daher kein Übergang statt; das einfache Sein, zu dem sich die Idee bestimmt, bleibt ihr vollkommen durchsichtig und ist der in seiner Bestimmung bei sich selbst bleibende Begriff. Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend, um dieser Freiheit willen ist die Form ihrer Bestimmtheit ebenso schlechthin frei, – die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit. – Insofern diese nur nach der abstrakten Unmittelbarkeit des Seins ist und vom Bewußtsein gefaßt wird, ist 153  Hegel, TWA

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9. Die Logik der Sphäre des Sollens Trotz dessen, dass es im objektiven Geist wesentlich darum geht, den Staat »als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen« und nicht das Vernünftige selbst auszuformulieren,154 darf nicht übersehen werden, dass es diesem zukommt, die »Wahrheit des Freiheitsbegriffes« hervorzubringen,155 obgleich sich die absolute Idee hier nur als »an sich seiend«,156 als bestimmt und erst in der Kultur als für sich seiend, als bestimmend gefasst wird.157 Damit das Vernünftige innerhalb der Sphäre des Sollens wirklich ist, muss die an sich seiende Bestimmung der für sich seienden Bestimmung gleichkommen, weswegen die Sphäre des Sollens als Ganzes methodisch dem Ganzen der Sphäre des Seins zu entsprechen hat. Strukturell folgt daraus, dass der erste Teil der Philosophie des Rechts, das abstrakte Recht der Seinslogik, der zweite Teil, die Moralität der Wesenslogik und der dritte und abschließende Teil, die Sittlichkeit der Begriffslogik zuzuordnen ist: demnach entspricht die Seinslogik dem Besitz,158 die Wesenslogik der Reflexion des Willens, dem »wahrhaft konkreten«159 Willen und die Begriffslogik dem »zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene[n] Begriff der Freiheit.«160 Wenn der objektive Geist gemäß jenen Prinzipien entfaltet ist, ist er wirklich und vernünftig.

sie als bloße Objektivität und äußerliches Leben; aber in der Idee bleibt sie an und für sich die Totalität des Begriffs und die Wissenschaft im Verhältnisse des göttlichen Erkennens zur Natur. Dieser nächste Entschluß der reinen Idee, sich als äußerliche Idee zu bestimmen, setzt sich aber damit nur die Vermittlung, aus welcher sich der Begriff als freie, aus der Äußerlichkeit in sich gegangene Existenz emporhebt, in der Wissenschaft des Geistes seine Befreiung durch sich vollendet und den höchsten Begriff seiner selbst in der logischen Wissenschaft als dem sich begreifenden reinen Begriffe findet« (Hegel, TWA 6, 573). 154  Hegel, TWA 7, 26. 155  Hegel, TWA 7, 287 (§ 141). 156  Hegel, TWA 10, 303 (§ 483). 157  Hegel, TWA 8, 367 (§ 212). 158  Hegel, TWA 10, 306 (§ 488). 159  Hegel, TWA 7, 205 (§ 106). 160  Hegel, TWA 7, 292 (§ 142). Vgl. Vittorio Hösle: Der Staat, in: Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Christoph Jermann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 183–226, 196, 220f., 223. Im Folgenden zitiert als »Jermann, Anspruch und Leistung«; Vittorio Hösle, Wahrheit und Geschichte, 743, Anm.; ders., Hegels System, 586; Michael Theunissen: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg. v. Dieter Henrich/Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart 1982, 317–381, bes. 330.

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Sofern sich die Philosophie des Rechts methodisch gemäß der Sphäre des Seins darstellt, deren Fundament der »Wille [ist], welcher frei ist«, kommt es dem Rechtssystem zu, das »Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur« zu fassen.161 Die zweite Natur ist eine Schöpfung aus Freiheit, gleichwohl ihre Natur das notwendige Gewordensein der Freiheit ist. Entsprechend betont Michelet, dass sich der Geist »sich selbst mit Bewusstsein eine Welt der Freiheit, die Welt des Geistes [schafft]; eine zweite Schöpfung, während das bewusstlose Hervorgehen der Natur aus der logischen Idee die erste Schöpfung war. Die Eine ist freilich ewig, wie die andere.«162 Die zweite Schöpfung wird durch die strukturelle Entfaltung der ersten Schöpfung zum geschöpften Seinsollen des Vernünftigen durch das freie Subjekt. Die erste Schöpfung, die Sphäre des Seins besticht durch ihr Ist, die zweite Schöpfung, die Sphäre des Sollens hingegen wesentlich durch ihr Sollen: Letztere stellt sich als Sphäre der Freiheit dar. Obwohl Hegels Explikation des Laufs der Geschichte der Freiheit als kontinuierlichen Prozess »von Osten nach Westen« und seine Darstellung Europas als »Ende der Weltgeschichte« wenig überzeugend ist,163 so liefert er doch noch nicht einmal eine apriorische Begründung für jene Bewegung,164 ist sein Gedanke, dass es sich bei der Weltgeschichte um eine »Entwicklung des Begriffes der Freiheit« handelt,165 sehr ergiebig – auch wenn die Geschichte nicht notwendig, also vorherbestimmt ist, ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit nicht zufällig. Beispielsweise wussten die »Orientalen« noch nicht, »daß der Geist oder Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist, aber ebendarum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Dumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit derselben, die selbst nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann.«166

161 

Hegel, TWA 7, 46 (§ 4). System der Philosophie, Bd. 3, 242 (§ 455). 163  Hegel, TWA 12, 134. Vgl. Vittorio Hösle: Eine unsittliche Sittlichkeit. Hegels Kritik an der indischen Kultur, in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskurs­ ethik. Hrsg. v. Wolfgang Kuhlmann. Frankfurt a. M. 1986, 136–182, bes. 148. Im Folgenden zitiert als »Hösle, Eine unsittliche Sittlichkeit«. 164 Hösle, Eine unsittliche Sittlichkeit, 148. 165  Hegel, TWA 12, 539f., 77; TWA 7, 505 (§ 346). 166  Hegel, TWA 12, 31. Vgl. Anm. 92. 162 Michelet,

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Erst mit dem Christentum ist das Wissen um die Freiheit in die Welt getreten. Der Mensch hat seine Freiheit erkannt und begriffen, dass sie »seine eigenste Natur« ausmacht.167 Die Tragweite dieses kulturellen Widerstreits spiegelt sich in aller Deutlichkeit in Wolfgang Mozarts Entführung aus dem Serail wieder; während der Aufseher des Bassa Selim, Osmin, der englischen Zofe Blonde erklärt: »ich befehle, du mußt gehorchen!«, erwidert diese selbstsicher, dass sie »keine Ware zum Verschenken« und als Engländerin »zur Freiheit geboren« sei. Denn, so Blonde: »Ein Herz, so in Freiheit geboren, lässt niemals sich sklavisch behandeln, bleibt, wenn schon die Freiheit verloren, noch stolz auf sie, lachet der Welt.« – Osmin vermag hierauf nur noch erstaunt zu antworten: »Wer hat solche Freiheit gesehen!«168 Der divergierende Freiheitsbegriff ist Ausdruck des unterschiedlichen kulturellen Verständnisses, welches grundlegend für das Wissen von der Freiheit ist. Das (kulturelle) Selbstverständnis ist maßgeblich für das Wissen um die Freiheit. Daher ist keine natürliche Entwicklung auszumachen, die den Fortschritt für notwendig erklärt, stattdessen ist die Auffassung eine Folge des kulturellen Selbstverständnisses. Auch wenn Hegel andeutet, dass Manche »empfänglicher« für die Kultur Europas,169 für die Kultur der Freiheit seien als Andere, darf dies nicht im Sinne psychologischer oder physiologischer Merkmale verstanden werden, sondern als bewusstseinslogische Annäherung an das kulturelle Selbstverständnis. Das Wissen um die Freiheit ist eine Frage des Wissens um das eigene Selbst, des Selbstverständnisses.170 Darum ist es überhaupt erst möglich, das Wissen um die Unfreiheit hinter sich zu lassen und sich zur Freiheit zu erheben. Gleichwohl es möglich ist, sich mittels der Vernunft von der Unfreiheit zur Freiheit zu erheben, ist es in umgekehrter Weise vernunftgemäß nicht möglich, hinter das eigene Bewusstsein von der Freiheit zurückzufallen. Wer sich aus Freiheit zur Unfreiheit entschließt, den begleitet stets das Bewusstsein, dass er sich mit freiem Willen zur Unfreiheit entschieden hat, was einer Abkehr der Freiheit aus Freiheit 167 

Hegel, TWA 12, 31. Amadeus Mozart: die entführung aus dem serail. staatsoper unter den linden. Programmheft der Neuinszenierung an der Staatsoper unter den Linden (Berlin) vom 7. Juni 2009, 60f. Michael Thalheimers Inszenierung an der Berliner Staatsoper von Mozarts Entführung aus dem Serail fördert pointiert die kulturellen Differenzen zu Tage. 169  Hegel, TWA 12, 109. 170  Vgl. Friedrich Hölderlin: Werke in drei Bänden. München/Wien 1992, Bd. 2, 49f.; Jacques Lacan: Schriften. 3 Bde. Hrsg. v. Norbert Haas. Weinheim/Berlin 1986, Bd. 3, 61–70. 168  Wolfgang

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gleichkommt. Das heißt jedoch nicht, dass eine Abkehr von der Freiheit nicht möglich ist, sondern nur, dass diese Abkehr wider die Vernunft ist. Das Wissen um die Freiheit ist das schlechthin Vernünftige. Darum ist es auch der Anspruch aller Vernunft, dass Freiheit wirklich wird – sofern sich die Menschen von dem Vernünftigen abwenden, laufen sie Gefahr, das Wissen um die Freiheit und damit den Rechtsstaat preiszugeben. Hegel, ganz dem Denken der Aufklärung verpflichtet, wusste das. Darum appellierte er nicht nur an die Vernunft, sondern forderte auch: »Das Vernünftige soll sein«.171 Das zeigt, dass es weniger die normative Geltung der Gesetze ist, die Hegel in den Blick nimmt, für ihn ist die Idee der Freiheit das wahrhaft Normative. Obzwar die Konzeption der Logik und damit der Idee der Freiheit nicht mehr in Beziehung zur Kultur diskutiert werden kann,172 ist die Rolle, die Hegel der Philosophie des Rechts zuspricht, klar formuliert. Die Welt ist im Sinne der Vernunft, also der Idee der Freiheit zu strukturieren. Dass dies, besonders mit Blick auf weltgeschichtliche Entwicklungen, kein Leichtes ist, weiß Hegel: doch all dies ist für ihn kein Argument, die Freiheit preiszugeben. Für Hegel gilt, wie für den Founding Father of the United States of America, Benjamin Franklin, dass diejenigen, »who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety, deserve neither liberty nor safety«.173 Freiheit lässt sich nur aus und mit Freiheit verwirklichen. Dass das von Hegel geforderte und zu verwirklichende Freiheitsverständnis noch heute von immenser Bedeutung ist, wird an der Abkehr von der Freiheit zugunsten der Sicherheit deutlich.174 Bedenkt man, 171 Hegel,

Vorlesungen 1817/18, 197 (§ 136). Vgl. Vittorio Hösle: Die Stellung von Hegels Philosophie des objektiven Geistes in seinem System und ihre Aporie, in: Jermann, Anspruch und Leistung, 11–53, hier 30f.; Hösle, Hegels System, 420–423. 172  Es fällt auf, dass der intersubjektive Geist wesentlich dual gegliedert ist, während Hegels Konzeption des Geistes im Wesentlichen triadisch (Hegel, TWA 8, 382, § 230 Z) und die Natur tetradisch gegliedert ist (vgl. Hegel, TWA 9, 467, § 358; 338, § 337 Z; vgl. Hösle, Hegels System, 149). Darum ist es notwendig, dass hierin die Kategorien Mechanik, Physik, Organische Physik und Subjektiver Geist Eingang finden. Es ist jedoch keineswegs so, als stünden objektiver und absoluter Geist einander unvermittelt nebeneinander: ihr Vermittlungsmoment ist die Geschichte, wodurch objektiver und absoluter Geist in Einheit mit der Geschichte wiederum triadisch gegliedert sind. 173  Benjamin Franklin: Memoirs of the Life and Writings. London 1818, 270; vgl. Thomas Jefferson: Writings, 1065f. 174  Zu den Entwicklungen im Allgemeinen vgl. Ilija Trojanow/Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitsstaat, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Freiheit. München 2009, und im Besonderen vgl. Mark Sidel: More Secure, Less Free? Antiterrorism Policy & Civil Liberties after September 11. Ann Arbor, Mich. 2007; Constanze Kurz: Wie eine Wölfin im Staatspelz. Überwachsungsmekka England, www.faz.net, 25.7.2016 (ab-

Das Seinsollen des Vernünftigen

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dass ein nicht unerheblicher Teil der Wissenschaftslandschaft der Überzeugung ist, dass der freie Wille eine Illusion ist,175 verwundert es nicht, dass die Freiheit in zunehmenden Maße, auch im Politischen, Geringschätzung erdulden muss: ändert sich die Sphäre des Seins, so auch die Sphäre des Sollens. Der Verlust der Freiheit lässt die Aufklärung, die bahnbrechenden rechtlichen Errungenschaften geradezu lächerlich erscheinen; wer dies in Kauf nimmt, für den ist die wirkliche Freiheit in ebensolcher Weise lächerlich. Dass die Menschen wesentliche Einschränkungen der Freiheit zugunsten ihrer Sicherheit in Kauf nehmen, ist trotz alles Verständnisses für die Bedeutung der eigenen Sicherheit, Ausdruck einer zurückgedrängten Wertschätzung der Freiheit. Gleichwohl Hegel die Bedeutung der Freiheit und der Notwendigkeit für die Staatlichkeit betont, hängt der Status der Freiheit nicht von der rechtsphilosophischen Konzeption ab, sondern im Wesentlichen von der zu Grunde liegenden metaphysischen Begründung. Ob diese dem hier verfolgten Anspruch gerecht wird, steht freilich auf einem anderen Blatt – auf jeden Fall ist Hegels Systemkonstruktion mit Nachdruck darauf ausgerichtet, die Sphäre des Sollens aus und im Sinne der Freiheit zu organisieren. Hegel wäre nicht bereit, sich von der Freiheit abzuwenden und sich einer Nichtigen, aber bequemen Welt hinzugeben.176

gerufen am 31.7.2016: http://www.faz.net/-gqz-8jos2); Frankreich verlängert Ausnahmezustand bis 2017, www.faz.net, 20.7.2016 (abgerufen am 31.7.2016: http://www.faz. net/-gpf-8jjfb); Reinhard Müller: Wie gut ist Deutschland gegen den Terror gerüstet? Nach den Anschlägen, www.faz.net, 28.7.2016 (abgerufen am 31.7.2016: http://www. faz.net/-gpf-8jr7r). 175  Vgl. Wolfgang Prinz: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Hirnfoschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Hrsg. v. Christian Geyer. Frankfurt a. M. 2004, 20–26, bes. 25f.; Gerhard Roth: Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung, in: Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Hrsg. v. Gerhard Roth/Klaus-Jürgen Grün. Göttingen 2006, 9–27, bes. 25f.; Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2004, bes. 230–239. 176  Michelet hebt in besonderer Weise die Bedeutung der Freiheit für die Entwicklung der Geschichte hervor: »So läßt sich das Ziel der Weltgeschichte: die Realisierung der vernünftigen Freiheit und die Ausbildung aller sittlicher Verhältnisse des Geistes, wie sie der Idee entsprechen […] – mit einem Wort, die Wissenschaft ins Leben zu führen« (Michelet, Entwickelungsgeschichte, 399f.).

V. SYSTEM UND SPRACHE BEI FRIEDRICH SCHLEIERMACHER UND FRIEDRICH SCHLEGEL

Jan Rohls Schleiermachers Enzyklopädie und Glaubenslehre  1. Die Idee der Universität Im Vorfeld der Gründung der Berliner Universität veröffentlichte Schleiermacher 1808 seine Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Wie Kant und die Idealisten war er zwar davon überzeugt, dass die Philosophie die geistige Mitte der Universität bilde. Aber zugleich meinte er, dass die Universität das gesamte Gebiet des Wissens zumindest in seinen Grundzügen abdecken und die Idee des Wissens sich im realen Wissen verwirklichen müsse. Das verlange eine systematische Durchdringung des gesamten Wissensstoffs. Diese enge Verbindung des realen Wissens mit der Idee des Wissens war es, die Schleiermacher gegen eine Trennung von Universitäten als streng wissenschaftlichen Einrichtungen und stärker handwerklich ausgerichteten berufsspezifischen Fachhochschulen votieren ließ. Er ging dabei von der traditionellen Gliederung der Universitäten in vier Fakultäten aus: die philosophische, die theologische, die juristische und die medizinische. Die philosophische Fakultät sah er deshalb als die geistige Mitte der Universität an, weil durch sie das berufsspezifische Studium an den übrigen drei Fakultäten in den organischen Zusammenhang des Wissens integriert werde. »Offenbar nemlich ist die eigentliche Universität, wie sie der wissenschaftliche Verein bilden würde, lediglich in der philosophischen Facultät enthalten, und die drei anderen dagegen sind die Specialschulen, welche der Staat entweder gestiftet, oder wenigstens, weil sie sich unmittelbar auf seine wesentlichen Bedürfnisse beziehen, früher und vorzüglicher in seinen Schutz genommen hat.«1 1  Friedrich

Daniel Ernst Schleiermacher: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Hrsg. v. Dirk Schmid. Kritische Gesamtausgabe. Bd. I/6. Berlin/New York 1998, 53. Im Folgenden zitiert als »Schleiermacher, Universitätsschriften«.

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Jan Rohls

Die theologische, juristische und medizinische Fakultät werden so von der philosophischen Fakultät unterschieden, insofern sie nicht aus rein wissenschaftlichem Interesse, sondern aus anderweitigen Bedürfnissen des Staates entstanden sind. Aus der Sicht des Staates stellt es sich daher so dar, dass die philosophische Fakultät wie der wissenschaftliche Verein als solcher ursprünglich ein bloßes Privatunternehmen war, das durch den wissenschaftlichen Sinn der in den drei positiven Fakultäten Angestellten subsidiarisch herangezogen wurde. Geschichtlich gesehen ist die philosophische Fakultät also sekundär gegenüber den berufsspezifischen Fakultäten, die durch das Bedürfnis entstanden sind, eine für den Staat unentbehrliche Praxis theoretisch zu fundieren. So entstand die juristische Fakultät aus dem staatsbildenden Bedürfnis, aus einem anarchischen einen rechtlichen Zustand hervorgehen zu lassen, verbunden mit dem Gefühl, dass dazu ein organisches System von Gesetzen einschließlich ihrer Auslegungsprinzipien erforderlich sei. Was die Entstehung der theologischen Fakultät betrifft, so liegt ihr ursprünglich ein kirchliches Interesse zugrunde. »Die theologische hat sich in der Kirche gebildet, um die Weisheit der Väter zu erhalten, um, was schon früher geschehen war, Wahrheit und Irrthum zu sondern, nicht für die Zukunft verloren gehen zu lassen, um der weiteren Fortbildung der Lehre und der Kirche eine sichere bestimmte Richtung und einen gemeinsamen Geist zu geben; und wie der Staat sich näher mit der Kirche verband, mußte er auch diese Anstalten sanctioniren und unter seine Obhut nehmen.«2 Indem nun der wissenschaftliche Geist die bloß handwerkliche empirische Behandlung des Stoffs besiegte und das Gefühl eines inneren Zusammenhangs allen Wissens sich immer klarer ausbildete, kam es zur Vereinigung von Theologie, Jurisprudenz und Medizin in einem einzigen Körper und zur äußerlichen Darstellung auch jenes Zusammenhangs allen Wissens in der philosophischen Fakultät. In ihr sei »die ganze natürliche Organisation der Wissenschaft enthalten, die reine transcendentale Philosophie und die ganze naturwissenschaftliche und geschichtliche Seite«3. Gemeint sind die als Transzendentalphilosophie bezeichnete Dialektik sowie die spekulative Physik und die Ethik. Die übrigen drei Fakultäten haben ihre Einheit hingegen nicht unmittelbar in der Erkenntnis, sondern »in einem äußeren Geschäft, und verbinden, 2 Schleiermacher, 3 Ebd.

Universitätsschriften, 54.

Schleiermachers Enzyklopädie und Glaubenslehre

339

was zu diesem erfordert wird, aus den verschiedenen Disciplinen«4. Gemeint sind die Disziplinen der Philosophie. Wenn auch die philosophische Fakultät historisch gesehen den berufsorientierten Fakultäten nachgeordnet sein mag, teilt Schleiermacher doch die Auffassung, die Kant in seinem Streit der Fakultäten vertreten hatte, dass sie sachlich gesehen ihnen vorgeordnet ist. »Sie ist doch die Erste deshalb, weil Jedermann ihre Selbstständigkeit einsehen und gestehen muß, daß sie nicht wie die übrigen, sobald man von einer bestimmten äußeren Beziehung hinwegsieht, in ein ungleichartiges mannigfaltiges zerfällt und aufgelöst werden kann. Sie ist auch deshalb die Erste und in der That Herrin aller übrigen, weil alle Mitglieder der Universität, zu welcher Facultät sie auch gehören, in ihr müssen eingewurzelt sein.«5 Das meint Schleiermacher gerade auch der theologischen Fakultät gegenüber ausdrücklich betonen zu müssen. Denn bei den Theologen sei man sich wie bei den Juristen nie ganz sicher, »daß nicht das Studium allmählig immer mehr einer handwerkmäßigen Tradition sich nähere, oder in ganz unwissenschaftlicher Oberflächlichkeit verderbe, wenn nicht alle Lehrer zugleich auf dem Felde der reinen Wissenschaft eignen Werth und Namen haben, und eine Stelle als Lehrer verdienen«.6 Schleiermacher verlangt also von jedem Lehrer an der theologischen Fakultät eine Verankerung in der Philosophie. Anders gewendet: die Theologie ist in seinen Augen nur dann eine Wissenschaft, wenn sie über ein philosophisches Fundament verfügt.

2. Die theologische Enzyklopädie Nach der Eröffnung der Berliner Universität im Wintersemester 1810/11 las Schleiermacher über die Encyklopädie der theologischen Wissenschaften, eine Vorlesung, die er bis zu seinem Tod regelmäßig wiederholte. Bereits in Halle hatte er 1804/05 zweimal über »Encyclopaedia et Methodologia studii theologici« gelesen, und nach Schließung der Hallenser Universität gab er noch vor Eröffnung der Berliner Universität 4 Ebd.

5 Schleiermacher, 6 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 56. Universitätsschriften, 57.

340

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in der preußischen Hauptstadt 1808 »Eine allgemeine encyclopädische ­Uebersicht des theologischen Studiums«7. Bereits 1811 erschien dann als Verwirklichung eines lange gehegten Plans bei Reimer die Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. In ihr unternimmt Schleiermacher den Versuch, die von ihm in der Universitätsschrift verlangte wissenschaftliche Fundierung des Theologiestudiums in Aphorismen zu skizzieren. Der berufsorientierte Charakter des Studiums der christlichen Theologie kommt dadurch zum Ausdruck, dass die christliche Theologie definiert wird als »der Inbegrif derjenigen wissenschaftliche Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Anwendung ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist«.8 Mit dem christlichen Kirchenregiment ist die pfarramtliche Leitung der christlichen Kirche gemeint, die das Studium der christlichen Theologie voraussetzt. In der Universitätsschrift hatte Schleiermacher erklärt, dass die drei berufsspezifischen Wissenschaften ihre Einheit nicht unmittelbar aus der Erkenntnis, sondern aus dem äußeren Geschäft, das heißt dem Beruf haben, zu dem das Studium hinführt, und dass sie die Kenntnisse, die dazu erforderlich sind, aus verschiedenen Disziplinen in sich verbinden. Auf die Theologie angewandt bedeutet dies, dass in ihr Kenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen miteinander vereinigt sind, die für die Leitung der christlichen Kirche erforderlich sind. »Dieselben Kenntnisse ohne diese Beziehung hören auf theologische zu sein, und fallen jede einer andern Wissenschaft anheim.«9 Die berufsspezifische Beziehung der Theologie auf den Beruf der Kirchenleitung oder des Kirchenregiments, das heißt des Pfarrers, ist das eine; das andere ist ihre inhaltliche Beziehung auf eine bestimmte Religion, das Christentum. Durch ihren Bezug auf das Christentum als bestimmte, positive Religion ist die christliche Theologie selbst eine positive Wissenschaft. Dabei geht Schleiermacher davon aus, dass jede positive Religion, die sich als selbstständige soziale Größe, das heißt als Kirche gestaltet, eine Theologie ausbildet, deren Organisation aus der Eigentümlichkeit der jeweiligen Kirche resultiert. Und da er zudem meint, dass die christliche Kirche die am meisten entwickelte und die meisten Sprach- und Bildungsgebiete durchdringende sei, hält er die christliche Theologie für die am komplexesten organisierte und gebildetste. Für Schleiermacher gehören also Theologie und Kirchenleitung derart eng zusammen, dass eine Kirchenleitung ohne die wissenschaft7 Schleiermacher,

Universitätsschriften, XXXVIf. Universitätsschriften, 249. 9 Schleiermacher, Universitätsschriften, 250. 8 Schleiermacher,

Schleiermachers Enzyklopädie und Glaubenslehre

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lichen Kenntnisse der Theologie ebenso wenig möglich ist wie eine Theologie ohne den Zweck der Kirchenleitung. Insofern der Kirchenleitung der Trieb, zum Wohle der Kirche tätig zu sein, also das religiöse Interesse, zugrunde liegt, sind wie Kirchenleitung und Theologie so auch religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist für Schleiermacher aufs engste miteinander verbunden. Allerdings gibt es Unterschiede, je nachdem, ob der Schwerpunkt – wie beim Theologen – auf dem Wissen und der Kenntnis oder wie – beim Kleriker – auf der Kirchenleitung und dem realen Handeln liegt. Aber ungeachtet dieser Schwerpunktdifferenzen müssen sowohl beim Kleriker als auch beim Theologen religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist, Kirchenleitung und Theologie miteinander verbunden sein. Was die einzelnen Teile und Disziplinen der Theologie betrifft, so setzt Schleiermacher voraus, dass auch wenn kein Theologe die ganze Aufgabe der Theologie vollständig lösen kann, sondern jeder sich gemäß seinem Talent auf etwas Besonderes konzentriert, er gleichwohl eine allgemeine Kenntnis von allen Teilen der Theologie haben muss. Vor allem muss er über eine »richtige Anschauung von dem Zusammenhange der verschiedenen Teile der Theologie unter sich und mit dem Zwekk« verfügen.10 Von daher erklärt sich auch Schleiermachers Bestimmung der Aufgabe der theologischen Enzyklopädie, das Wesen und den Zusammenhang der verschiedenen Teile der Theologie in den Blick zu nehmen. Da aber die Organisation der Theologie aus der Eigentümlichkeit der Kirche resultiert, muss zunächst das Wesen der Kirche bestimmt werden. Das ist eine Aufgabe, die sich laut Schleiermacher nicht auf rein empirischem Wege lösen lässt. Vielmehr soll die Ethik als philosophische Disziplin den Nachweis erbringen, dass die Bildung und die Existenz von Kirchen als Vereinen zur Entwicklung des Menschen notwendig hinzugehören. Das Wesen der christlichen Kirche und damit das Wesen oder die Idee des Christentums zu bestimmen, ist dann die Aufgabe dessen, was Schleiermacher die philosophische Theologie nennt, die er als die Wurzel der gesamten Theologie bezeichnet. Diese Disziplin betrachtet er ebenso wie ihren Namen als neu. »Sie ist so wenig bearbeitet, daß ihr sogar noch der bestimmte und allgemeingeltende Name fehlt.«11 Die Metapher von der Wurzel macht bereits deutlich, dass Schleiermacher in seiner theologischen Enzyklopädie auf den seit Descartes klassischen Vergleich zwischen den Wissenschaften und dem Baum mit seinen 10 Schleiermacher, 11 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 252. Universitätsschriften, 253.

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Zweigen und Ästen zurückgreift. Denn wie die philosophische Theologie die Wurzel so ist für ihn die praktische Theologie die Krone des theologischen Studiums. Sie ist die Darstellung einer Technik der Kirchenleitung, dem Christentum sein eigentümliches Gebiet, das heißt die Kirche als das zu regierende Ganze, zu sichern und anzueignen und in ihm die Idee des Christentums immer reiner darzustellen. Diese Technik setzt voraus zum einen den Besitz der Idee des Christentums, also die in der philosophischen Theologie erworbene Kenntnis des Wesens des Christentums oder der christlichen Kirche, und zum andern die Kenntnis der faktischen christlichen Kirche als des zu regierenden Ganzen, das im Werden, das heißt im fortschreitenden Wandel begriffen ist. In der Kirche als einem Werdenden muss die jeweilige Gegenwart zum einen als Produkt der Vergangenheit und zum andern als Keim der Zukunft begriffen werden. Die Kirche ist somit eine geschichtliche Größe, und ihre Geschichte im ganzen Umfang behandelt die historische Theologie, die den eigentlichen Körper des gesamten theologischen Studiums darstellt. Sie bildet einerseits die Bewährung der philosophischen Theologie, insofern sie jeden Zeitpunkt in Bezug auf die Idee des Christentums darstellt, und sie bildet andererseits die Begründung oder Voraussetzung der praktischen Theologie, indem sie jeden Zeitpunkt in Bezug auf den vorangegangenen, also als Resultat kirchenleitenden Handelns darstellt. Da die Ethik die philosophische Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte ist, setzt die historische ebenso wie die praktische Theologie die philosophische Ethik vo­raus. Die Grundlage des theologischen Studiums bildet somit für Schleiermacher die philosophische Theologie, während die auf die Ausübung der Kirchenleitung sich beziehende praktische Theologie das Studium beschließt. Da aber die philosophische Theologie im Fächerkanon noch nicht als eigene Disziplin ausgebildet ist, muss jeder sie neben der historischen Theologie für sich selbst bilden.

3. Die philosophische Theologie Schleiermacher gliedert seine theologische Enzyklopädie dementsprechend in drei Teile. Der erste Teil handelt von der philosophischen, der zweite von der historischen und der dritte von der praktischen Theologie. Der erste Teil entwickelt nach einer Einleitung in die philosophische Theologie die Grundsätze der Apologetik und der Polemik, die als die beiden Teile der philosophischen Theologie gefasst werden. In der

Schleiermachers Enzyklopädie und Glaubenslehre

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Einleitung bezieht sich Schleiermacher auf seine bereits zuvor geäußerte Auffassung zurück, dass sich das Wesen des Christentums nicht auf rein empirischem Wege ermitteln lasse. Ebenso wenig sei es aber möglich, es rein wissenschaftlich aus Ideen abzuleiten. Was das Wesen des Christentums ist, lässt sich mit anderen Worten weder rein a posteriori noch rein a priori bestimmen. Nun meint Schleiermacher, dass die Bestimmung des Wesens des Christentums die Bestimmung des Wesens oder der Idee der Kirche und der Religion voraussetze und eine lebendige Darstellung dieser Idee müsse »auch das Gebiet des veränderlichen darin nachweisen, welches die Keime alles individuellen enthält«.12 Daher sei die Bestimmung des Wesens des Christentums »nur durch Gegeneinanderhalten des geschichtlich in ihm gegebenen, und des in der Idee der Religion und der Kirche als veränderliche Größe gesezten zu bestimmen«.13 Das impliziert angesichts der Pluralität der geschichtlichen Religionen und der als Religionsgesellschaften verstandenen Kirchen zugleich einen Vergleich des Christentums mit ihnen, so dass man das Christentum wie jede andere positive Religion nur verstehen kann »mit ihrem Verhältniß des Neben- und Nacheinanders zu andern zugleich«.14 Das bedeutet aber auch, dass die philosophische Theologie ihren Standpunkt über dem Christentum einnimmt, insofern sie von der allgemeinen Idee der Religion und Kirche ausgeht. Wenn die philosophische Theologie nun das Verhältnis des geschichtlich gegebenen Christentums zu dessen Idee untersucht, so betrifft das nicht nur allgemein den Inhalt des jeweiligen geschichtlichen Zustands des Christentums, sondern auch die Art und Weise, wie es zu diesem Zustand gekommen ist, also seine spezifischen Entstehungsbedingungen. An diesem Punkt bringt Schleiermacher die philosophische Ethik ins Spiel, die für ihn ja die »Wissenschaft der Geschichtsprincipiien« ist.15 Sie ist daher auch in der Lage darzustellen, wie dasjenige wird, was in einem geschichtlichen Ganzen, also auch im geschichtlichen Christentum reiner Ausdruck der Idee ist und was von der Idee abweicht und als Krankheitszustand zu betrachten ist. Dasselbe gilt aber nicht nur vom Christentum als Kirche oder Religionsgesellschaft, sondern auch von allen Parteien innerhalb des Christentums, also den unterschiedlichen christlichen Konfessionen. Die Aufgabe der philosophischen Theologie ist demnach eigentlich die Kritik, das heißt die kritische Beurteilung 12 Schleiermacher, 13 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 253. Universitätsschriften, 256.

15 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 257.

14 Ebd.

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des geschichtlich gegebenen Christentums und seiner Konfessionen am Maßstab der Idee des Christentums. Philosophisch heißt sie, weil die Idee des Christentums selbst nur gewonnen wird über die Idee der Kirche als Religionsgesellschaft, das heißt aber über eine philosophische Disziplin, nämlich die Ethik. Faktisch wird die philosophische Theologie als derartiges kritisches Unternehmen nur geleistet von Einzelnen, die einer bestimmten Kirchenpartei angehören und von deren Gültigkeit oder Wahrheit überzeugt sind. Daher wollen sie zum einen die Geltung der Kirchenpartei nach außen verteidigen und zum andern gegen krankhafte Abweichungen im Innern der Kirchenpartei vorgehen. Deshalb ist die philosophische Theologie aufgrund des Verwurzeltseins dessen, der sie ausübt, nicht nur für jede Kirchenpartei eine besondere, sondern sie gliedert sich auch stets in die zwei Momente der Apologetik und der Polemik. Schleiermacher versteht unter dem Christentum eine bestimmte geschichtliche Realisierung der Idee der Kirche, und da diese Idee sich in einer Pluralität geschichtlicher Erscheinungen realisiert, muss das spezifische Wesen des Christentums, das dieses von anderen Realisierungen der Idee unterscheidet, angegeben werden können. Das spezifische Wesen des Christentums drückt sich aber wie das jeder Religionsform ideal in deren Dogmen und real in ihrer Verfassung aus. Die Apologetik als Verteidigung der Geltung des Christentums als einer besonderen geschichtlichen Realisierungsgestalt der Idee der Kirche zeigt dabei zunächst unter Zuhilfenahme der Begriffe Offenbarung, Wunder und Eingebung, wie das Christentum als eine »neue und ursprüngliche Thatsache« entstanden ist.16 Entscheidend für Schleiermacher ist, dass es sich beim Christentum um eine gegenüber Judentum und Heidentum nicht nur neue, sondern auch ursprüngliche Religionsform handelt. Dies gilt ungeachtet dessen, dass man die geschichtliche Realisierung der Idee der Kirche als eine einzige fortlaufende Reihe betrachten und so auch von einem geschichtlichen Hervorgehen des Christentums aus dem Judentum und Heidentum sprechen kann. Das Verhältnis dieser beiden vorangehenden Religionsformen zum Christentum lässt sich dann mit den Begriffen Weissagung und Vorbild bestimmen, womit Schleiermacher auf das Modell von Weissagung und Erfüllung und von Typos und Antitypos anspielt. Das Christentum als geschichtliche Realisierung der Idee der Kirche ist aber aufgrund seiner Geschichtlichkeit zugleich zeitlich und veränderlich, so dass unter Bezugnahme auf Kanon und Sakrament an16 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 260.

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gegeben werden muss, worin das bei aller Veränderung Bleibende seines Wesens in der Lehre und der Gemeinschaft zu erblicken ist. Da die Kirche im Sinne der Religionsgesellschaft für Schleiermacher zudem ein notwendiges Element in der Entwicklung der Menschheit ist, muss darüber hinaus gezeigt werden können, dass das Christentum als geschichtliche Realisierung der Idee der Kirche mit anderen ebenso notwendig zur Entwicklung der Menschheit gehörigen gesellschaftlichen Organisationen kooexistieren kann. Deshalb müssen Umfang und Grenzen der kirchlichen Hierarchie und der Kirchengewalt dementsprechend bestimmt werden. Schließlich ist die Apologetik wie die philosophische Theologie überhaupt standpunktgebunden, argumentiert also immer von einer besonderen Kirchenpartei innerhalb des Christentums aus. Daher muss sie in Bezug auf Konfession und Ritus nicht nur begründen, wie sie gemeinsam mit anderen Kirchenparteien in der christlichen Kirche, sondern auch, wie sie als besondere Kirchenpartei für sich existiert, wobei Schleiermacher durchaus damit rechnet, dass die Existenz bestimmter abgesonderter Kirchenparteien eine zeitlich begrenzte Sache sein kann. Die negative Seite der philosophischen Theologie ist die Polemik als Auffindung und Kritik dessen, was in der geschichtlichen Erscheinung des Christentums dessen Idee widerspricht. Diese Widersprüche können unterschiedliche Ursachen haben und unterschiedlicher Art sein. Die ursprüngliche Kraft der Idee kann sich bis zum Indifferentismus und somit zur Selbstaufhebung der Idee abschwächen. Es kann aber auch in der Erscheinung etwas, das der Idee widerspricht, so stark werden, dass es zum Separatismus und zur Zerstörung der geschichtlichen Erscheinung der Idee führt. Was innerhalb der Erscheinung des Christentums dessen Idee widerstreitet, kann entweder in der Lehre als Ketzerei oder Häresie oder in der Gemeinschaft als Spaltung oder Schisma auftreten. Die Häresie tritt zuerst auf in Gestalt der Meinung Einzelner, das Schisma in Gestalt von Konventikeln.

4. Die historische Theologie Die philosophische Theologie als Apologetik und Polemik setzt zwar das Material der historischen Theologie, nämlich die ganze Geschichte des Christentums bis in die Gegenwart, voraus. Aber sie begründet selbst das Urteil über die jeweiligen geschichtlichen Zustände des Christentums und der Christentumsgeschichte insgesamt. Sie gibt also mit der Idee des Christentums einen Maßstab zu ihrer Beurteilung an

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die Hand. Die Geschichte insgesamt gliedert sich für Schleiermacher in Perioden und Epochen. Während ein Zeitraum, in dem das ruhige Fortbilden überwiegt, als gesetzmäßiger Zustand eine geschichtliche Periode bildet, stellt einer, in dem das plötzliche Entstehen überwiegt, eine Revolution dar und bildet eine geschichtliche Epoche. Die Christentumsgeschichte lässt sich zum einen als eine einzelne Periode innerhalb der Religionsgeschichte insgesamt ansehen, zum andern aber auch als eine eigene geschichtliche Einheit, die zu einer bestimmten Zeit entstanden ist und deren Verlauf eine Reihe von Perioden ist, die durch Epochen voneinander getrennt sind. Die historische Theologie geht von dieser zweiten Ansicht aus. Der für Schleiermachers Einteilung der historischen Theologie zunächst entscheidende Satz lautet: »Da jeder geschichtliche Verlauf die weitere Entwiklung einer Kraft darstellt in ihrem Zusammensein mit andern: so wächst mit der Zeit auch die Einwirkung von diesen, und es wird schwieriger die ursprüngliche Kraft in der Aeußerung rein anzuschauen.«17 Denn die Kraft erscheine am reinsten in ihren frühesten Äußerungen. Wenn es daher der oberste Zweck der Theologie ist, das Wesen des Christentums in jedem künftigen Augenblick reiner darzustellen und so kirchenleitend auf die geschichtliche Erscheinung der christlichen Kirche einzuwirken, dann muss sie es in seinen frühesten Äußerungen besonders herausheben. Daher kommt der Kenntnis vom Anfang des Christentums, also vom Urchristentum, in dem der Lehrbegriff und die Kirchenverfassung des Christentums erst wurden, eine ausgezeichnete Stellung in der historischen Theologie zu, da es als »reinster Repräsentant des christlichen Princips« gilt.18 Weil die Kenntnis des Urchristentums sich auf das richtige Verständnis jener wenigen Schriften stützt, die den Kanon bilden, heißt dieser Teil der historischen Theologie exe­ getische Theologie. Dass Schleiermacher den jüdischen Codex nicht zum Kanon rechnet, ergibt sich zwangsläufig aus seiner Bestimmung der Idee des Kanons. »Die Idee des Kanon ist, daß er die Sammlung derjenigen Documente bildet, welche die ursprüngliche absolut reine und deshalb für alle Zeiten normale Darstellung des Christenthums enthalten.«19 Das Christentum wird von Schleiermacher ja gerade nicht als eine Fortsetzung des Judentums, sondern als eine gegenüber Judentum und Heidentum eigene positive Religion betrachtet, deren Prinzip 17 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 267. Universitätsschriften, 268. 19 Schleiermacher, Universitätsschriften, 272. 18 Schleiermacher,

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sich am reinsten in den Schriften ihrer Entstehungszeit manifestiert. Anders als das Verhältnis nach hinten zum jüdischen Kanon sieht er das Verhältnis nach vorne, da man zwischen Entstehung und Fortbildung nicht eindeutig unterscheiden kann. Daher »muß die Erscheinung des Kanon, welche nur die Documente der Entstehungszeit enthalten kann, nothwendig schwanken«.20 Allerdings sei bereits innerhalb des Kanons selbst die Unzertrennlichkeit von Entstehung und Fortbildung dadurch angedeutet, dass er zwei Arten von Dokumenten enthalte, nämlich zum einen die Evangelien als Dokumente des Zusammenseins Christi mit seinen Jüngern und zum andern die Apostelgeschichte und die Briefe als Dokumente des Zusammenseins der Jünger zur Gründung des Christentums. Schleiermachers Aussage vom Schwanken der Grenzen des Kanons beziehen sich sowohl auf den ersten wie auch auf den zweiten Teil des Kanons. Denn für unsicher gegenüber den apokryphen Evangelien, die aus den Zeiten des Kanons stammen, hält er den ersten Teil des Kanons für unsicher gegenüber den apostolischen Vätern den zweiten Teil. Daher müsse die Kirche mit Hilfe der sogenannten höheren Kritik immer noch in der Bestimmung des Umfangs des Kanons begriffen sein, um den faktischen Kanon mit seiner Idee in Einklang zu bringen. Allerdings möchte Schleiermacher es ausschließen, dass die Alte Kirche bei ihrer Kanonbildung im Wesentlichen falsch entschieden hat. Als Mittelpunkt der exegetischen Theologie betrachtet er die Auslegungskunst, das heißt die Hermeneutik. Natürlich setzt er als Protestant die Kenntnis des griechischen Urtextes auf dem Hintergrund der Kenntnis der zeitgenössischen semitischen Dialekte voraus. Doch sie bildet nur die Voraussetzung des Verstehens und der Auslegung des Kanons. Schleiermacher führt auch den Grund an: »Die Auslegung des Kanons gehört zu den schwierigsten, theils weil das Speculativreligiöse in dem unbestimmten Sprachgebrauch nicht nationaler Schriftsteller aus einer im Ganzen ungebildeten Sphäre sehr vielen Mißdeutungen ausgesezt ist, theils weil die Umstände, welche den Gedankengang des Schriftstellers motivirten, uns häufig ganz unbekannt sind, und erst durch die Schriften selbst müssen errathen werden.«21 Dabei lehnt Schleiermacher – wiederum gut protestantisch – jede autoritative, lehramtlich verbindliche Auslegung des Kanons ab und fordert 20 Ebd.

21 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 275.

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stattdessen, dass jeder Theologe zu einem eigenen Verständnis des Kanons kommen soll. Seine Auslegung folgt denselben allgemeinen hermeneutischen Regeln wie die Auslegung jeder anderen Schrift, und ihr Ziel besteht in der Nachkonstruktion des dem Kanon bzw. seinen einzelnen Schriften zugrundeliegenden Schreibaktes. Aufgrund der historischen Gebundenheit jeder Schrift kann sie »nur vollkommen verstanden werden durch die Kenntniß der Litteratur, der sie angehört, des Zeitalters und besonders des Publicums, für welches sie geschrieben wurde, und der besondern Beziehungen, aus denen sie hervorgegangen ist«.22 Neben der exegetischen Theologie, die sich mit den normativen Dokumenten der Entstehungszeit des Christentums befasst, hat es die historische Theologie in engerem Sinne mit der Kirchengeschichte zu tun. Deren Gegenstand ist das Christentum, wie es von seiner Entstehung bis jetzt geworden ist und gewirkt hat. Als theologische Disziplin soll die Kirchengeschichte das, was auf fremde Einwirkungen zurückgeht, von dem, was rein aus dem Prinzip des Christentums hervorgegangen ist, unterscheiden. Die fremden Einwirkungen bei der kirchlichen Lehre kommen durch die zeitgenössische Philosophie und Bildung, bei dem kirchlichen Leben durch die zeitgenössischen politischen Verhältnisse und die Geselligkeit. Beim kirchlichen Leben unterscheidet Schleiermacher wieder zwischen der Sitte und dem Kultus, wobei sich der Kultus zur Sitte so verhalte wie das beschränkte Gebiet der Kunst zu dem größeren Gebiet der Geselligkeit. Die kirchliche Verfassung bezieht sich zwar auf Kultus und Sitte, drückt aber zugleich das Verhältnis der Kirche zum Staat aus. Daher meint Schleiermacher, dass die größten Revolutionen und Epochenbrüche in der Kirchengeschichte diejenigen seien, die sich in der Verfassung manifestieren, da sie nicht allein die Kirche, sondern das Verhältnis der Kirche zum Staat betreffen. Anders stehe es hingegen mit der Entwicklung der Lehre des Christentums in Gestalt der theoretischen und praktischen Dogmen. Das bringt die folgende Aussage zur Geltung: »Nur wenn man die Bildung des Lehrbegriffs isolirt betrachtet, kann man sich die Aufgabe stellen, eine innere mit dem Wesen des Christenthums in Bezug stehende Gesezmäßigkeit in seiner Entwiklung aufzufinden.«23 Schleiermacher sieht die allmähliche Bildung des Lehrbegriffs durch zwei Faktoren bedingt. Zum einen durch die »fortschreitende Betrachtung des christlichen 22 Schleiermacher, 23 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 276. Universitätsschriften, 283.

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Princips nach allen Beziehungen«, das heißt durch das Bemühen, ihn seinem ganzen Umfang nach in Übereinstimmung zu bringen mit dem christlichen Prinzip und, da dieses am reinsten im urchristlichen Kanon enthalten ist, mit dem Kanon.24 Zum andern aber ist die Bildung des Lehrbegriffs bedingt durch »das Aufsuchen des Ortes für die Aussagen des christlichen Gefühls in dem geltenden philosophischen System«.25 Damit wird deutlich, dass Schleiermacher den Lehrbegriff auf Aussagen des christlichen Gefühls zurückführt und bestrebt ist, deren Ort in einem vorausgesetzten philosophischen System anzugeben. Insofern muss der Lehrbegriff sich nicht nur aus dem Kanon deduzieren lassen, sondern er muss auch mit vorausgesetzten philosophischen Aussagen harmonieren. Schleiermacher meint allerdings, dass das Gleichgewicht beider Faktoren in der Entwicklung des Lehrbegriffs nur selten gegeben sei. Denn das »Bestreben philosophische Systeme in die Theologie einzuführen, pflegt mit der Anwendung einer richtigen Schriftauslegung im Gegensaz zu stehen«.26 Er möchte hingegen sowohl die Selbstständigkeit der Theologie gegenüber der Philosophie sichern als auch vermeiden, dass die Theologie zu einer bloßen Schriftauslegung wird. Der dritte Teil der historischen Theologie ist die Kenntnis des gegenwärtigen Augenblicks oder die geschichtliche Kenntnis des Christentums in seinem gegenwärtigen Zustand. Schleiermacher unterscheidet dabei die Dogmatik als Darstellung des Lehrbegriffs einer Kirche oder Kirchenpartei in der Gegenwart von der kirchlichen Statistik als Darstellung der gegenwärtigen Verfassung der Kirche. »Diejenige theologische Disciplin, welche unter dem Namen der thetischen oder dogmatischen Theologie bekannt ist, hat es eben zu thun mit der zusammenhangenden Darstellung des in der Kirche jetzt grade geltenden Lehrbegriffs.«27 Da der Lehrbegriff das theoretische und praktische Dogma ist, kann es sich bei der Dogmatik weder um eine zusammenhängende Darstellung einer vom Lehrbegriff abweichenden bloß subjektiven Überzeugung noch um eine nur den Kanon reproduzierende rein biblische Theologie handeln. Auch darf sie nicht alle zwischen den Kirchenparteien bestehende Streitpunkte ausklammern. Entscheidend für Schleiermachers Verständnis der Dogmatik ist, dass er für eine angemessene Verbindung von 24 Ebd. 25 Ebd.

26 Schleiermacher, 27 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 284. Universitätsschriften, 288.

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Orthodoxie und Heterodoxie plädiert. Dieses Plädoyer ergibt sich gerade aus seiner Charakterisierung der Dogmatik als historischer Theologie. Denn jeder für sich darstellbare Moment der Entwicklung des Lehrbegriffs liegt zwischen zwei Epochen, der vergangenen und der künftigen. Er ist daher einerseits bestimmt durch das, was in der Kirche bereits vorhanden ist, und er bereitet andererseits die künftige Epoche vor, wobei diese Vorbereitung wesentlich das Werk Einzelner ist. Daher erscheint das, was vorbereitenden Charakter hat, anders als das kirchliche Erbe nicht als Einheit, sondern als Vielheit. Diese beiden den jeweiligen Moment der Entwicklung des Lehrbegriffs konstituierenden Faktoren sind verantwortlich für das Orthodoxe und Heterodoxe am Lehrbegriff. Denn jedes »Element des Lehrbegriffs, welches in dem Sinn construirt ist, das bereits bestehende und fixirte zusammt seinen natürlichen Folgerungen fest zu halten, ist orthodox«.28 Und »jedes Element, welches in dem Sinne construirt ist, den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und neue Darstellungen von dem Wesen des Christenthums zu eröffnen, ist heterodox«.29 Schleiermacher hält beide Elemente für die Entwicklung des Lehrbegriffs für gleich wichtig. Denn selbst das Antiquierte fortschrittshemmend festhalten zu wollen, sei falsche Orthodoxie, unter Preisgabe des Wesentlichen am Christentum alles beweglich machen zu wollen, falsche Heterodoxie. Vielmehr müsse jede Darstellung des Lehrbegriffs zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Fundament und Hauptgebäude orthodox, in einzelnen Teilen hingegen heterodox sein. Auch gehöre zur vollständigen Kenntnis des gegenwärtigen Augenblicks der Entwicklung des Lehrbegriffs die Berücksichtigung aller gleichzeitig vorhandenen Positionen, wobei die Erfassung des Gesamtzustandes vom Dogmatiker divinatorische Fähigkeiten verlangt. Jedes Element, das in die Darstellung des Lehrbegriffs aufgenommen wird, das heißt jeder Lehrsatz der Dogmatik muss sich sowohl am Kanon als auch an der Spekulation, also der Philosophie bewähren. Nur wenn er sich am Kanon bewährt, ist ein Lehrsatz für Schleiermacher orthodox, wobei die Bewährung am Kanon vermittelt ist durch das Symbol oder das Bekenntnis. Das Symbol sei nämlich für die laufende Periode der Kirchengeschichte und deren Anfang das, was der Kanon für die Christentumsgeschichte insgesamt und deren Anfang sei. Wie der Kanon normative Bedeutung für die ganze Christentumsgeschichte so habe das Symbol normative Bedeutung für die laufende Periode der Christentumsgeschichte. Da diese Periode bestimmt sei durch den 28 Schleiermacher, 29 Ebd.

Universitätsschriften, 289.

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seit der Epoche der Reformation bestehenden Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken, müsse auch die Beziehung zwischen diesen beiden Religionsparteien dargestellt werden. Neben die Bewährung jedes dogmatischen Lehrsatzes an dem durch das Symbol vermittelten Kanon kommt bei Schleiermacher die Bewährung an der Philosophie zu stehen. Dabei denkt er nicht an ein bestimmtes philosophisches System, sondern meint, dass die Darstellung des Lehrbegriffs sich an jedes »wahrhaft philosophische System« anschließen könne.30 Die Einschränkung liegt hier in dem Adjektiv ›wahrhaft‹, da er natürlich solche philosophischen Systeme als nicht anschlussfähig ansehen muss, die die Religion ausschließen. Durch den Bezug auf je verschiedene philosophische Systeme erhalten die einzelnen Lehrsätze zwar einen verschiedenen Ausdruck, aber dadurch wird laut Schleiermacher »die Identität der ursprünglichen religiösen Affection des Gemüthes, welche durch die Lehre repräsentiert werden soll«, nicht aufgehoben.31 Der Bezug auf die Philosophie gestaltet sich allerdings bei der theoretischen und der praktischen Seite des Lehrbegriffs, das heißt bei der Glaubenslehre oder Dogmatik im engeren Sinn und der christlichen Sittenlehre, verschieden. Denn: »Die theoretische Seite des Lehrbegriffs verhält sich zur rationalen Theologie wie die praktische Seite zur Pflichtenlehre der rationalen Ethik.«32 Mit der rationalen Theologie ist dabei der gleichnamige Teil der speziellen Metaphysik gemeint. Schleiermacher hält die ursprünglich nicht vorhandene Trennung von christlicher Glaubens- und Sittenlehre zwar für durchaus zweckmäßig, betrachtet es aber als deren Nachteil, dass zum einen sich beide zum Teil auf völlig verschiedene philosophische Systeme beziehen und zum andern der Zusammenhang beider Disziplinen nicht mehr deutlich wird. Daher sieht er es als notwendige Aufgabe an, »bei jedem einzelnen Satz der einen auf das, was sich daraus für die andere ergiebt, zurükzuweisen«33. Schleiermacher hat sich in seiner eigenen christlichen Sittenlehre bemüht, deren Abhängigkeit von seiner Dogmatik herauszustellen. Die Dogmatik selbst erschien elf Jahre nach der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums 1821 unter dem Titel Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt.

30 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 291.

32 Schleiermacher,

Universitätsschriften, 293. Universitätsschriften, 294.

31 Ebd.

33 Schleiermacher,

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5. Die Glaubenslehre Wie die theologische Enzyklopädie geht auch die Glaubenslehre auf Vorlesungen zurück, die Schleiermacher ab Wintersemester 1804/05 in Halle und ab Sommersemester 1811 in Berlin gehalten hat. Im Titel der als Glaubenslehre gefassten Dogmatik schlägt sich das unionistische Inte­ resse des reformierten Theologen an einer Überwindung des Gegensatzes zwischen Reformierten und Lutheranern nieder, dem er in einem Brief an Gustav von Brinckmann vom 17. 12. 1809 Ausdruck verlieh. Denn mit seinen Lehrbüchern hoffte er, »eine theologische Schule zu gründen, die den Protestantismus wie er jetzt sein muß ausbildet und neu belebt, und zugleich den Weg zu einer künftigen Aufhebung des Gegensazes beider Kirchen frei läßt und vielleicht bahnt«.34 Die bereits damals angekündigte Abfassung der Dogmatik im Anschluss an die theologische Enzyklopädie zog sich allerdings bis 1818 hin. In der Vorrede der Glaubenslehre streicht Schleiermacher den unionistischen Charakter seiner Dogmatik heraus. Er sieht sich als den ersten, »der eine Glaubenslehre nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche aufstellt, als ob sie Eine wäre«.35 Da er davon überzeugt sei, dass zwischen Lutheranern und Reformierten keine dogmatische Scheidewand bestehe, habe er versucht, »das Wesen der evangelischen Glaubens- und Lebensansicht in seinen eigenthümlichen Grenzen als in beiden Confessionen dasselbe darzustellen«.36 Die konfessionellen Lehrunterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten heben in Schleiermachers Augen die Einheit der evangelischen Kirche nicht auf. Wenn er statt von ›evangelisch‹ auch von ›protestantisch‹ spricht, so betont er damit zugleich den Gegensatz gegen den Katholizismus, an dem Schleiermacher festhält. Seine Glaubenslehre ist die Umsetzung jenes Konzepts von Dogmatik, dass er in der theologischen Enzyklopädie entwickelt hatte. Das wird bereits im ersten Satz der Einleitung deutlich, wenn Schleiermacher die dogmatische Theologie der historischen Theologie zuordnet, indem er sie als »die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden

34 

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), Teilbd. 1. Hrsg. v. Hermann Peiter. Kritische Gesamtausgabe. Bd. I/7,1. Berlin/New York 1980, XX. Im Folgenden zitiert als »Schleiermacher, Der christliche Glaube«. 35 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 6. 36 Ebd.

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Lehre« definiert.37 Denn neben der räumlichen Beschränkung auf eine bestimmte Kirchengesellschaft – in diesem Fall die evangelische Kirche im Unterschied zur römisch-katholischen und orthodoxen – sei für die Dogmatik die zeitliche Beschränkung wesentlich. Verliere doch jede Darstellung der Lehre mit der Zeit ihre ursprüngliche Bedeutung und behalte nur noch eine geschichtliche. Schleiermacher bezieht das auch auf seine eigene Dogmatik, die ihre Geltung dann verliere, wenn es zur Aufhebung des Gegensatzes von Katholiken und Protestanten komme. Das zweite Moment, das die Dogmatik neben der räumlichen und zeitlichen Beschränktheit auszeichne, sei der Bezug auf die geltende Lehre. »Geltend heißt die Lehre, welche in öffentlichen Verhandlungen als Darstellung der gemeinsamen Frömmigkeit gebraucht wird.«38 Die dritte Eigenschaft der Dogmatik betrifft schließlich die Art der Darstellung der Lehre. Die Dogmatik soll nämlich im Unterschied etwa zu Katechismen nicht volkstümlich, sondern wissenschaftlich sein und sich durch Vollständigkeit auszeichnen. Was die Forderung des wissenschaftlichen Zusammenhangs, also der Systematik betrifft, so wendet sich Schleiermacher gegen die daraus möglicherweise abgeleitete, aber irrige Ansicht, der dogmatischen Darstellung müsse auch eine den ungläubigen Leser überzeugende Kraft innewohnen. Denn der wissenschaftliche Zusammenhang betrifft in seinen Augen ausschließlich die Entfaltung des Glaubens für den Gläubigen. Das bedeutet, dass sich die dogmatischen Lehrsätze auf die frommen Gemütszustände des gläubigen Subjekts beziehen. Damit wendet sich Schleiermacher nicht zuletzt gegen zeitgenössische rationalistische und idealistische Alternativen, wonach »entweder das eigenthümlich christliche als ein unvollkommneres in eine allgemeingültige Religionslehre verschwinden soll, oder auch das eigenthümlichst christliche soll sich gefallen lassen, aus der allgemeinen Vernunft unmittelbar hergeleitet und erwiesen zu werden«39. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen Bretschneider, der der Dogmatik als Darlegung kirchlicher Meinungen eine höhere Theologie überordnet, die die eigentlichen Religionswahrheiten unabhängig von den kirchlichen Meinungen produzieren soll. Denn die Dogmatik ist für Schleiermacher bezogen auf die kirchliche Lehre, die ihrerseits Ausdruck der Frömmigkeit und, da stets vermischt mit Unrichtigem, ver37 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 9.

39 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 12.

38 Ebd.

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änderlich ist. Die jeweils zeitgebundene Dogmatik könne daher immer nur durch die Darstellung einer mehr von Unrichtigem gereinigten kirchlichen Lehre überboten werden. Und auch wenn man sich die Dogmatik in ihrer höchsten Vollendung denke, erschöpfe sich die historische Theologie nicht in ihr, sondern insofern die kirchlichen Lehren bedingt seien durch die Kenntnis der Schrift und die Kenntnis der Christentumsgeschichte, sei die Dogmatik bedingt durch die exegetische Theologie und die Kirchengeschichte. Wenn man fragt, weshalb man sich überhaupt um die Dogmatik als Wissenschaft vom Zusammenhang der gegenwärtig geltenden kirchlichen Lehre bemüht, so gibt Schleiermacher zwei Gründe an. Zum einen soll der verworrene Zustand des Denkens über die frommen Gemütszustände aufgehoben, und zum andern soll dieses Denken »von anders entstandenem Denken, welches auf denselben Inhalt hinausläuft, desto bestimmter« unterschieden werden40. Fromme Gemütszustände sollen solche Zustände des Gemüts sein, die eine unmittelbare Beziehung auf das höchste Wesen, also auf Gott, in sich schließen. Primär machen sie sich nur als einzelne Erregungen, und zwar oft auch nur im mimischen Ausdruck, bemerkbar. Erst sekundär, nämlich wenn auf sie reflektiert wird, werden sie gedanklich erfasst und sprachlich artikuliert. Dabei entsteht zugleich das Bedürfnis nach einer ordnungsgemäßen, das heißt systematisierenden lehrhaften Erfassung der sprachlichen Artikulation der frommen Gemütszustände. Schleiermacher ist der Auffassung, dass bereits die Schriften des Kanons »die ersten Keime eines geordneten Ausdruks über unsere auf Gott gerichteten Gemütszustände« enthielten41. Allerdings finden sich in der Bibel neben diesen systematisierenden Äußerungen auch eine dichterische Bildersprache, die Gemütserrungen evozieren will, und, wo man das Christentum gegenüber Juden und Heiden verteidigt, eine rednerische Sprache, die den Gegner zur Konversion bewegen möchte. Die Herkunft vieler Ausdrücke aus der poetischen und rhetorischen Sprache sorge allerdings auch für eine Unklarheit, die nur beseitigt werden könne »durch vielseitige Anknüpfung an unbestrittenes und durch Aufstellung eines strengen Zusammenhangs«.42 Nur dadurch werde letztlich der verworrene Zustand des Denkens über die frommen Gemütszustände in einen geordneten Zustand überführt. Doch das ist nur der eine Zweck der Dogmatik als Wissenschaft vom Zusammenhang der gegenwärtig geltenden 40 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 14.

42 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 15.

41 Ebd.

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kirchlichen Lehre. Der andere Zweck ist die Abgrenzung des Denkens über die frommen Gemütszustände von einem anders entstandenen Denken, das sich auf denselben Inhalt bezieht. Schleiermacher geht nämlich davon aus, dass auch jene Wissenschaft, die auf die »Anschauung des Seins in allen seinen verschiedenen Verzweigungen« ausgerichtet ist, sich wie die Dogmatik auf das höchste Wesen, also Gott, bezieht. Gemeint ist damit die in einer rationalen Theologie mündende Metaphysik. Dieser in beiden Fällen vorliegende Bezug auf Gott führe oft zu einer Verwechselung der beiden Arten von Denken. Denn »im einzelnen kann oft zweifelhaft sein, ob ein Gedanken, der etwa vom höchsten Wesen aussagen will, zunächst der Ausdruk einer frommen Erregung des Gemüthes ist, oder ob unmittelbar aus der höheren Wissenschaftlichkeit entsprungen«.43 Nur durch den Zusammenhang des Denkens, in den der betreffende Gedanke gehört, lasse sich erkennen, ob es sich bei ihm um einen metaphysischen oder um einen dogmatischen Gedanken handle. Schleiermacher ist sich dabei wohl bewusst, dass diese Trennung von metaphysischer Philosophie und dogmatischer Theologie nicht am Anfang stand. Allerdings ist seine Sicht der ursprünglichen Einheit von Metaphysik und Dogmatik durchaus eigenwillig. Er meint nämlich, »daß nach dem Untergang aller aus dem hellenischen Alterthum entsprungenen Weltweisheit die neuere sich nur aus der christlichen Theologie, in welcher ihre ersten Keime eingewachsen waren, allmählig entwickelt hat«.44 Schleiermacher dreht die aufgeklärte These von der Hellenisierung des Christentums gleichsam um, indem er statt von einem Einfluss der paganen Philosophie auf die frühe christliche Theologie von einem Ursprung der nachpaganen Philosophie in der christlichen Theologie ausgeht. Daraus erkläre sich auch die Vermischung von Philosophie und Theologie, die er als einen für beide unvollkommenen Zustand der Verwirrung betrachtet. Wie er daher die neuzeitliche Emanzipation der Philosophie von der Theologie begrüßt, so fordert er die entsprechende Emanzipation der Theologie von der Philosophie, und zwar vor allem von der rationalen oder natürlichen Theologie als Teilbereich der Metaphysik. Diese Emanzipation müsse dazu führen, »daß jeder Saz, welcher der Theologie angehört, auch gleich an seiner Gestalt für einen solchen erkannt, und von jedem analogen philosophischen unterschieden werden kann«.45 Nur wenn man die dogmatische Theologie so von der Philosophie tren43 Ebd. 44 Ebd.

45 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 15f.

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ne, vermeide man es, theologische Sätze deshalb zu verwerfen, weil sie sich nicht philosophisch begründen lassen. Für Schleiermacher ist nämlich alles dogmatische Denken in Begriffen und Sätzen nichts anderes als eine »zerlegende Betrachtung der ursprünglichen frommen Gemüthszustände«.46 Denn die Dogmatik trete nur im Zusammenhang mit der Frömmigkeit auf, wogegen philosophische Aussagen über Gott und das Verhältnis des Menschen zu Gott im Zusammenhang mit dem Denken über das endliche Sein und dessen Veränderungen stünden. Schleiermachers Dogmatik geht als Glaubenslehre aus von dem Bedürfnis, zum einen die Erregungen des christlich frommen Gemüts in Lehrsätzen darzustellen und zum andern die Lehrsätze in einen ge­nauen Zusammenhang zu bringen. Auch wenn die Mitteilung der frommen Gemütszustände zunächst durch symbolische Handlungen und heilige Zeichen und nicht durch die Rede geschehe, setze das Christentum die Mitteilung durch fromme Dichtung und Rede ebenso voraus wie die Darstellung der frommen Gemütszustände in der Lehre. Als Wissenschaft ist die Dogmatik aber zudem bestrebt, Zusammenhang in das zu bringen, was als Lehre ausgedrückt ist. Dabei führt Schleiermacher die Philosophie zwar als höchstes Erzeugnis des Strebens nach Zusammenhang an, aber die Trennung von Theologie und Philosophie bedeutet für ihn nicht, dass die Theologie auf dieses Streben verzichtet, da es für ihn ein Grundcharakteristikum von Wissenschaft überhaupt ist. Auch wenn die Dogmatik sich daher letztlich auf fromme Gemütszustände bezieht, kann sie als Wissenschaft in seinen Augen nur von den Wissenden in der Gesellschaft betrieben werden. Dabei darf nur das als Lehre dargestellt werden, was in dem Ganzen der frommen Erregungen enthalten ist. Und zwar muss jede Lehre so dargestellt werden, wie sie im Zusammenhang mit den übrigen Lehren im Lehrgebäude erscheint, das selbst ein Abbild des Ganzen der frommen Gemütszustände ist. Da es die dogmatische Theologie mit den christlichen frommen Erregungen zu tun hat, muss Schleiermacher zufolge zunächst festgestellt werden, »was in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei oder nicht«.47 Darüber, worin das Wesen der christlichen Frömmigkeit besteht, herrsche aber gegenwärtig keine Einigkeit. Den Streit darüber möchte Schleiermacher allerdings nicht der Tatsache anlasten, dass man überhaupt den Versuch unternommen habe, das Denken über die frommen Gemütszustände wissenschaftlich zu bearbeiten. 46 Schleiermacher, 47 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 16. Der christliche Glaube, 18.

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»Der beklagte Zustand der Verworrenheit im kirchlichen Denken über das Wesen des Christenthums, ist kein Ereigniß weder des eigentlich sogenannten scholastischen Zeitraumes, während dessen die dogmatische Theologie in der höchsten Blüte stand, noch des ihm an Spitzfindigkeit und Formelreichthum am nächsten kommenden nach der Reformation.«48 Doch sei der Streit inzwischen derart eskaliert, dass das Bedürfnis, das Wesen der christlichen Frömmigkeit zu bestimmen, umso stärker geworden sei. Wie in seiner theologischen Enzyklopädie vertritt Schleiermacher auch in der Glaubenslehre die These, dass eine solche Bestimmung einen Standpunkt über dem Christentum erfordere, um es mit anderen Glaubensarten zu vergleichen. Solange wir nämlich unseren Standpunkt im Christentum hätten, wäre unser Gemüt christlich erregt, so dass wir uns auch nicht gleichmäßig zum Christentum und den anderen Glaubensarten verhalten könnten, »sondern das christliche wird uns erfreuen und anziehn, und das unchristliche wird uns abstoßen und widerwärtig sein«49. Unser Gefühl hätte bereits darüber entschieden, welche Glaubensart wahr und welche falsch ist, während es doch darauf ankomme, sich klar zu machen, wie die christliche und wie die unchristliche Glaubensart beschaffen ist. Es geht Schleiermacher dabei nur insofern um einen Standpunkt über dem Christentum, als er ein Urteil darüber ermöglicht, was das Christentum mit anderen Glaubensarten gemeinsam hat und durch welche Besonderheiten es sich von ihnen unterscheidet. Keineswegs sei mit diesem Standpunkt über dem Christentum aber ein rein philosophischer Standpunkt gemeint, so dass die Philosophie über dem Christentum zu stehen komme. Die Erkenntnis des Wesens des Christentums habe vielmehr eine theologische Abzweckung. »Wir wollen aber nur urtheilen zum Behuf des besseren Einwirkens auf das Christenthum; denn darauf zwekt alle Theologie ab und vor allen die dogmatische. Und somit wird hier keine Weisheit feil geboten, welche über das Christenthum soll gestellt werden.«50 Ein derartiger Vergleich des Christentums mit anderen Glaubensarten setze allerdings voraus, dass es in allen Glaubensarten etwas Gemeinsames gebe, was ihre Verwandtschaft ausmache, und etwas Besonderes, weshalb wir sie voneinander unterscheiden. Doch selbst über »den all48 Schleiermacher, 49 Schleiermacher, 50 Ebd.

Der christliche Glaube, 19. Der christliche Glaube, 22.

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gemeinen Begriff der Frömmigkeit und der daraus entstehenden Verbindungen wird noch immer gestritten«.51 Die Aufgabe einer Bestimmung des allen geschichtlichen Glaubensarten gemeinsamen Wesens der Frömmigkeit und ihrer Eigentümlichkeiten anhand eines Grundgedankens weist Schleiermacher der Religionsphilosophie zu, einer Disziplin, die identisch ist mit der philosophischen Theologie der theologischen Enzyklopädie. Er betrachtet sie als Zweig der wissenschaftlichen Geschichtskunde, also der Ethik. Eine allgemein anerkannte Religionsphilosophie als wissenschaftliche Unterabteilung der Ethik gibt es aber Schleiermacher zufolge ebenso wenig wie eine allgemein anerkannte Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit und des Christentums. Daher geht er in der Dogmatik so vor, dass er unabhängig von der vollständigen Ausarbeitung der Religionsphilosophie das Wesen der Frömmigkeit und das Eigentümliche des Christentums bestimmt. Die Ausgangsbasis bilden dabei die Seelen mit ihren frommen Erregungen, und zwar einmal die einzelne Seele in einem bestimmten Zustand und zum andern die in Bezug auf ihre frommen Erregungen zu kirchlichen Gemeinschaften verbundenen Seelen. Wenn man die einzelnen Seelen, die nicht derselben kirchlichen Gemeinschaft angehören, im Hinblick auf ihre frommen Gemütserregungen in den Blick nimmt, so kann man das Wesen der Frömmigkeit ermitteln. Wenn man hingegen darauf achtet, wodurch sich die frommen Seelen zu derselben kirchlichen Gemeinschaft verbinden und von den übrigen unterscheiden, so kommt man der Eigentümlichkeit der christlichen Glaubensweise nahe.

6. Frömmigkeit, Christentum und Protestantismus Die Frömmigkeit wird von Schleiermacher zunächst an sich, das heißt ihrem Wesen nach als »Neigung und Bestimmtheit des Gefühls« charakterisiert und somit vom Wissen und Tun abgehoben, auch wenn aus frommen Gefühlen ein Wissen und Tun hervorgehen können.52 Wäre sie nämlich ihrem Wesen nach ein Wissen, so würde die Vollkommenheit des Wissens des Inhalts der Dogmatik zugleich die Vollkommenheit der Frömmigkeit sein. Wäre sie hingegen an sich ein Tun, so ließe sie sich inhaltlich nicht von anderem Tun unterscheiden, da »auch das scheußlichste neben dem vortrefflichsten, und neben dem sinnvollsten 51 Schleiermacher, 52 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 23. Der christliche Glaube, 26.

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das leerste und bedeutungsloseste, Anspruch darauf macht, fromm zu sein«.53 So wenig Schleiermacher allerdings in Frage stellt, dass das fromme Gefühl das Wissen wie das Tun begleiten kann, insofern es entweder jeden Wissensakt oder jedes Tun auf die höchste Einheit alles Erkennens oder Handelns bezieht, so wenig bestreitet er, dass ein auf das fromme Gefühl gerichtetes reflexives Wissen oder in der gegenseitigen Mitteilung frommer Gefühle bestehendes Tun zur vollständigen Entwicklung der Frömmigkeit gehöre. Gehört die Frömmigkeit gattungsmäßig zum Gefühl als unmittelbarem Selbstbewusstsein, so besteht ihre spezifische Differenz gegenüber anderen Gefühlen darin, »daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott«.54 Das fromme Gefühl ist also für Schleiermacher ein nicht auf die Welt als den endlichen Bereich möglicher Wechselwirkung bezogenes reines Abhängigkeitsgefühl unter Ausschluss jedes Freiheitsgefühls. Da auf jede Einwirkung des Endlichen eine Gegenwirkung des Ich und somit ein dem Abhängigkeitsgefühl korrelierendes Freiheitsgefühl möglich ist, muss sich das reine Abhängigkeitsfühl auf »die einfache und absolute Unendlichkeit«, das heißt auf das höchste Wesen oder Gott beziehen.55 In der Frömmigkeit sei daher aller innerweltliche Gegensatz gegen das Endliche aufgehoben. Das einzelne Ich nimmt alles Endliche, also die Welt, mit in sein Selbstbewusstsein auf und fühlt sich als solches abhängig von Gott. Der Begriff Gottes lässt sich Schleiermacher zufolge, auch wenn er zuvor nicht bekannt wäre, allein durch die Reflexion des Denkens auf die frommen Erregungen gewinnen. Als die höchste Stufe des menschlichen Gefühls komme die Frömmigkeit allerdings niemals getrennt von der niederen Stufe des sinnlichen Gefühls vor, und da jeder Augenblick weder ganz ohne frommes noch ganz ohne sinnliches Gefühl sei, nehme in unterschiedlichem Maße in jedem Augenblick das fromme das sinnliche Gefühl in sich auf. Nur aufgrund dieser Aufnahme habe das fromme Gefühl dann auch teil an dem Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen. Denn »jeder gegebene Gemüthszustand, wenn die Richtung auf das Abhängigkeitsbewußtsein von Gott ihn ergreift, wird sich entweder als Hemmung oder als Förderung vergleichungsweise darstellen, und also eine fromme Erregung veranlassen«, die dann entweder freudig und erhebend oder

53 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 28. Der christliche Glaube, 31. 55 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 32. 54 Schleiermacher,

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niedergeschlagen ist.56 Durch die erregende Kraft der Äußerungen des frommen Selbstbewusstseins kommt es laut Schleiermacher zur Bildung von Gemeinschaften, wobei er die bestimmt begrenzten frommen Gemeinschaften, in denen festgelegt ist, wieweit die Gleichheit der frommen Gemütszustände reichen muss, um dazu zu gehören, als Kirchen bezeichnet. Dabei sei das Christentum von anderen frommen Gemeinschaften nicht dadurch unterschieden, dass sich seine Anhänger durch einen höheren Grad frommer Erregbarkeit auszeichneten. Vielmehr geht Schleiermacher von einem der Religionsphilosophie zugewiesenen Vergleich der in der Geschichte auftretenden bestimmt begrenzten frommen Gemeinschaften aus und unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen und verschiedenen Arten der Frömmigkeit. Wenn die Frömmigkeit das Gefühl der reinen Abhängigkeit alles Endlichen sei, dann bildeten diejenigen Gestalten der Frömmigkeit die höchste Entwicklungsstufe, die alle frommen Erregungen auf die Abhängigkeit alles Endlichen von einem einzigen unendlichen und höchsten Wesen zurückführten. Dieser selbst nicht mehr überbietbare Monotheismus sei dem Fetischismus und Polytheismus überlegen und setzte die Fähigkeit voraus, »sich im Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt zu einen, d. h., sich selbst schlechthin als Welt oder die Welt schlechthin als sich selbst zu fühlen«.57 Damit meint Schleiermacher allerdings nicht, dass sich geschichtlich der Monotheismus notwendigerweise aus dem Fetischismus und Polytheismus erst entwickelt habe. Vielmehr hält er es durchaus auch für möglich, dass es neben Fetischismus und Polytheismus irgendwo ursprünglich einen Monotheismus gegeben habe, aus dem sich dann die drei großen monotheistischen Gemeinschaften, die jüdische, christliche und islamische gebildet haben. Von diesen trügen jedoch das Judentum und der Islam noch Spuren der untergeordneten Entwicklungsstufen. Denn das Judentum zeige durch die Beschränkung der Liebe Jahwes auf einen bestimmten Stamm noch Spuren des Fetischismus und neige in seiner Geschichte auch vielfach zum Polytheismus, während die Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit der Vorstellungswelt im Islam polytheistisches Erbe sei. Dagegen sei das Christentum der reine Monotheismus. Neben der Unterscheidung dreier Entwicklungsstufen kennt Schleiermacher die Unterscheidung zweier Arten der Frömmigkeitsformen. Es gebe nämlich die, 56 Schleiermacher, 57 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 40. Der christliche Glaube, 50.

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»bei denen in Bezug auf die frommen Erregungen das natürliche in den menschlichen Zuständen dem sittlichen untergeordnet wird, und diejenigen, bei denen umgekehrt das sittliche darin dem natürlichen untergeordnet wird«.58 Mit dem Natürlichen sei gemeint das passive Bewegtsein des Menschen als eines Teils der Natur durch die Einwirkung von außen, mit dem Sittlichen das Selbstbewusstsein des Menschen als einer der Natur aktiv gegenübertretenden geistigen Kraft. Wenn das passive Bewegtsein durch die Natur nur in Bezug auf die aktive Selbsttätigkeit des Menschen eine fromme Erregung bewirkt und somit das Bewusstsein sittlicher Zwecke vorherrscht, haben wir es Schleiermacher zufolge mit einer teleologischen Frömmigkeitsform zu tun. Wenn dagegen das Selbstbewusstsein des Menschen als eines selbsttätigen Wesens sich nur in Bezug auf sein passives Bewegtsein durch die Einwirkung von außen zur frommen Erregung steigere, handle es sich um eine ästhetischen Frömmigkeitsform. Im ersten Fall sind somit in der frommen Erregung die passiven Zustände nur Anlass zum Bewusstsein von Aktivität, im zweiten ist jeder aktive Zustand nur das Ergebnis der von Gott geordneten Einwirkung der Natur auf den Menschen. Der Islam gehöre daher der ästhetischen Frömmigkeitsform an, weil in ihm der Mensch seine aktiven Zustände als notwendige göttliche Schickungen erfahre, während das Judentum mit dem Christentum die teleologische Frömmigkeitsform repräsentiere. Denn für das Christentum sei die Idee des Reiches Gottes als der Gesamtheit der sittlichen Zwecke zentral, und diese Idee sei nur »der allgemeine Ausdruk davon, daß im Christenthum aller Schmerz und alle Freude nur in dem Maaße fromm sind, als sie auf die Thätigkeit des Menschen in diesem Reich bezogen werden, und daß jede fromme Erregung, die von einem leidentlichen Zustand ausgeht, in ein Bewußtsein thätiger Bestimmung endet«.59 Beim Christentum handelt es also Schleiermacher zufolge um die reins­te monotheistische und teleologische Form der Frömmigkeit. Die spezifische Differenz gegenüber anderen Frömmigkeitsformen, die wie es selbst monotheistisch und teleologisch sind, besteht darin, dass alles Einzelne in ihr auf das Bewusstsein der Erlösung durch Jesus von Nazareth bezogen wird. Die Person Jesu ist demnach nicht nur der Stifter 58 Schleiermacher,

59 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 54. Der christliche Glaube, 57.

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und damit der geschichtliche Ausgangspunkt des Christentums, sondern auch die Ursache der Erlösung, auf die alle religiösen Erregungen im Christentum bezogen werden. Durch diese Bindung der Erlösung an die Person des Stifters unterscheidet sich für Schleiermacher das Christentum auch von Judentum und Islam, bei denen der innerliche Charakter der Frömmigkeit nicht derart eng an Moses oder Mohammed gebunden ist. Jesus sei nämlich nicht nur der Stifter des Christentums, sondern zugleich der Erlöser der Christen. Da er die Erlösung ausschließlich auf die frommen Erregungen bezieht, kann es sich für Schleiermacher nur um die Erlösung von einer Hemmung dieser Erregungen handelt. Aber »es giebt nur Eine Hemmung, welche im höheren Selbstbewußtsein unmittelbar als solche anerkannt wird, nämlich wenn die Einigung des sinnlichen Bewußtseins selbst mit dem frommen Abhängigkeitsgefühl gehemmt ist«, das heißt »eine nicht vorhandene Leichtigkeit der Erhebung des sinnlichen Selbstbewußtseins zum frommen« gegeben ist.60 Die Erlösung von dieser Hemmung führt Schleiermacher nicht nur auf die erlösende Tätigkeit Jesu zurück, sondern die Einzigkeit Jesu gegenüber anderen erlösenden Faktoren besteht für ihn darin, dass in ihm selbst keinerlei Hemmung der Frömmigkeit gegeben ist und er selbst daher keiner Erlösung bedarf. Als der Gründer einer vollkommenen Erlösung eigne ihm vollkommene Frömmigkeit, so dass auch das von ihm gestiftete Christentum die vollkommenste fromme Gemeinschaft sei, in die alle andern übergehen sollen. Damit meint Schleiermacher die spezifische Differenz des Christentums benannt zu haben, ohne dass er damit den Anspruch verbunden wissen möchte, einen Beweis für die Notwendigkeit oder Wahrheit des Christentums geliefert zu haben. Er beschließt die Ausführungen über das Spezifikum des Christentums vielmehr mit dem bezeichnenden Satz: »Wir verzichten also hier auf jeden andern Beweis für die Nothwendigkeit und Wahrheit des Christenthums als den jeder in sich selbst trägt, indem er sich bewußt ist, daß seine eigne Frömmigkeit keine andere Gestalt annehmen kann als diese, und indem er sich ibn deren geschichtlichem und innerm Zusammenhang befriedigt fühlt: und das ist der Beweis des Glaubens.«61 Bekanntlich lehnt Schleiermacher die aufgeklärte Unterscheidung von natürlicher und positiver, offenbarter Religion ab. Er kennt nur ge60 Schleiermacher, 61 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 65. Der christliche Glaube, 68.

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schichtliche Religionen, bei denen das Eigentümliche, der individuelle Inhalt das Gegebene, Positive ist, und den Begriff der Offenbarung fasst er so weit, dass damit gemeint ist »ein Neues aus einem geschichtlichen Zusammenhang nicht zu erklärendes und zwar von einem einzelnen Punkt ausgehendes«62. Gemeint ist, »daß kein Anfangspunkt einer eigenthümlich gestalteten frommen Gemeinschaft erklärt werden kann aus dem Zustande des Kreises innerhalb dessen er hervorgetreten ist und fortwirkt«.63 Doch dies bedeutet für Schleiermacher nicht, dass die Offenbarung und also auch die Offenbarung in Christus etwas schlechthin Übernatürliches ist. Vielmehr meint er, das Hervortreten des Geoffenbarten sei »eine Wirkung der in der menschlichen Natur liegenden Entwiklungskraft, welche nach uns verborgenen aber göttlich geordneten Gesezen in einzelnen Menschen an einzelnen Punkten hervortritt«.64 Dementsprechend müsse, wenn Christus ein Mensch war und in ihm zugleich das Göttliche offenbar war, in der menschlichen Natur die Möglichkeit liegen, das Göttliche in sich aufzunehmen. Zwar bestreitet Schleiermacher nicht den geschichtlichen Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum. Aber er sieht es weder als Fortsetzung noch als Erneuerung des Judentums an, sondern als eine eigentümliche Frömmigkeitsform, die hinsichtlich ihrer Eigentümlichkeit vom Judentum ebenso getrennt ist wie vom Heidentum. Wenn nun aber das Christentum sich dadurch auszeichnet, dass alle frommen Gemütszustände durch die Beziehung auf Jesus als Erlöser bestimmt sind, ist es Aufgabe der christlichen Glaubenslehre, diese Gemütszustände in Lehrsätzen zu beschreiben und vollständig zusammenzustellen. Dabei muss das Ketzerische als das, was dem christlichen Grundtypus oder dem Wesen des Christentums widerspricht, ausgeschieden und darf nur das Kirchliche zurückbehalten werden. Schleiermacher kennt vier natürliche Ketzereien, die dem Wesen des Christentums deshalb widersprechen, weil sie entweder manichäisch die Erlösungsunfähigkeit oder pelagianisch die Erlösungsfähigkeit des Menschen verabsolutieren oder weil sie entweder doketisch die Gleichheit des Erlösers mit uns oder ebionitisch seine Unterschiedenheit von uns leugnen. Zudem ist Schleiermacher der Auffassung, dass eine heutige Glaubenslehre sich zu dem konfessionellen Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus nicht gleichgültig verhalten könne und daher entweder katholisch oder protestantisch sein müsse. Dagegen weisen die Lehrunter62 Schleiermacher, 63 Schleiermacher, 64 Ebd.

Der christliche Glaube, 73. Der christliche Glaube, 78.

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schiede zwischen den beiden protestantischen Konfessionen in seinen Augen nicht auf eine Verschiedenheit der frommen Gemütszustände zurück. Damit begründet er auch den unionistischen Ansatz seiner eigenen Dogmatik, die »die bisher symbolischen Lehrverschiedenheiten zwischen beiden nicht anders behandeln wird als andere in einzelnen Lehrstükken von verschiedenen Lehrern verschieden beliebte Darstellungen«.65 In diesem Sinne versteht Schleiermacher seine Glaubenslehre als protestantische Dogmatik, wobei er den Protestantismus nicht nur als Reinigung des Katholizismus von Missbräuchen, sondern auch als eigentümliche Form des Christentums erblickt. Als solche erkenne er aber den Katholizismus als eine fremde, jedoch gleichfalls eigentümliche Form des Christentums neben dem Protestantismus an. Der Gegensatz zwischen beiden Konfessionen lasse sich vorläufig so fassen, »dass der Protestantismus das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der Katholizismus aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältniß zur Kirche«.66 Denn während der Katholizismus den Protestantismus beschuldige, zwar die Beziehung auf Christus festzuhalten, aber das Christliche zu zerstören durch Auflösung der Gemeinschaft, werfe der Protestantismus dem Katholizismus vor, zwar an der Gemeinschaft festzuhalten, aber das Christliche zu zerstören durch Vernachlässigung der Beziehung auf Christus. Da der Protestantismus der persönlichen Eigentümlichkeit einen freieren Spielraum in der Glaubenslehre gewähre als der Katholizismus und der protestantische Lehrbegriff, wie er in den Bekenntnisschriften vorliegt, eine genaue Bestimmtheit entbehre, könne auch jede protestantische Dogmatik eine eigentümliche Ansicht enthalten, die aber nicht auf Kosten des Gemeinsamen gehen dürfe. »Das Bestreben ein gemeinsames festzustellen, muß sich in der Glaubenslehre aussprechen durch Berufung auf die Bekenntnißschriften, und wo diese nicht ausreichen, auf die heilige Schrift und auf den Zusammenhang mit andern Theilen der Lehre.«67 Mit den Bekenntnisschriften meint Schleiermacher dabei alle öffentlichen Glaubenserklärungen protestantischer Gemeinschaften, mit der heiligen Schrift das Neue Testament in dem von der protestantischen Kirche anerkannten Umfang und das 65 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 97. Der christliche Glaube, 99. 67 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 103. 66 Schleiermacher,

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Alte Testament nur, insofern das Neue sich darauf bezieht. Damit will er nicht etwa den Bekenntnisschriften einen Vorrang vor der Schrift einräumen, sondern nur sagen, dass die Bekenntnisschriften bloß in dem, worin sie alle zusammenstimmen, das Wesen des Protestantismus zum Ausdruck bringen, während die Widersprüche zwischen ihnen das Recht abweichender Meinungen begründen. Gerade weil der protestantische Lehrbegriff nicht genau bestimmt ist, meint Schleiermacher den Gegensatz von Orthodoxie und Heterodoxie in der Dogmatik wie folgt charakterisieren zu können. Am meisten orthodox sei, was am buchstäblichsten mit dem Symbolischen der Bekenntnisschriften und der seit langem vorherrschenden Schriftauslegung übereinstimme. Heterodox sei dagegen das, was in einem zumindest scheinbaren Widerspruch zum Symbolischen und der herrschenden Schriftauslegung stehe. Damit ist aber zugleich die Möglichkeit der Veränderung gegeben. Denn da »das symbolische selbst ein Gegenstand historischer Kritik und Auslegung ist, und der dogmatische Schriftgebrauch auf einer fortschreitenden Kunst beruht: so kann, was zu einer Zeit orthodox war, zu einer andern völlig veraltet sein«68. Und »aus demselben Grunde, wie das orthodoxe kann ein antiquiertes werden, auch das heterodoxe kann orthodox werden, und dies muß jeder zugeben, der eine fortschreitende Auslegungskunst und eine noch fortgehende Entwiklung des protestantischen Geistes zugiebt«69. 7. Schluss Am Ende der allgemeinen Bestimmung der Aufgabe der protestantischen Dogmatik stellt Schleiermacher fest: »Der Dogmatik ist wesentlich eine wissenschaftliche Gestaltung, welche sich zeigen muß in dem dialektischen Charakter der Sprache und in dem systematischen der Anordnung.«70 Mit dem dialektischen Charakter der Sprache meint er das Kunstgerechte in der auf Mitteilung von Erkenntnis ausgerichteten Rede. Schleiermacher unterscheidet die Dogmatik zwar strikt von der Philosophie, auch wenn er nicht bestreitet, dass das Christentum auf die philosophische Spekulation einen großen Einfluss gehabt hat und christliche Philosophie und christliche Glaubenslehre lange Zeit mit­ einander vermischt waren. Aber obgleich er in der Dogmatik weder 68 Schleiermacher, 69 Ebd. 70 Ebd.

Der christliche Glaube, 108.

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philosophische Beweise noch Ableitungen aus spekulativen Grundsätzen zulässt, verlangt er von der Dogmatik doch eine streng wissenschaftliche Gestaltung. Und da das dogmatische Sprachgebiet notwendigerweise mit dem psychologischen, ethischen und metaphysischen zusammenhänge, könne die Trennung der Dogmatik von der Philosophie nie einen Verzicht auf die philosophische Sprache und die Aneignung eines philosophischen Systems implizieren. Allerdings könne ein Theologe nur ein solches System annehmen, »welches die Ideen Gott und Welt irgendwie auseinanderhält, und welches einen Gegensaz zwischen gut und böse bestehen läßt«.71 Und von jedem Einzelnen, in dem das spekulative Bewusstsein erwacht ist, verlangt Schleiermacher, er müsse »sich der Uebereinstimmung zwischen den Aussagen von diesem und den Erregungen seines frommen Gefühls auf das genaueste bewußt zu werden suchen, weil er sich nur in der Harmonie dieser beiden Funktionen, welche zusammen die höchste Stuffe seines Daseins bilden, der höchsten Einheit seiner selbst bewußt werden kann«72.

71 Schleiermacher, 72 Schleiermacher,

Der christliche Glaube, 112. Der christliche Glaube, 109.

Andreas Arndt Schleiermachers Dialektik und die Frage nach dem System 1. In der ohnehin eher spärlichen Literatur zu Schleiermachers Dialektik – bei der die philosophischen Untersuchungen noch spärlicher sind als die theologischen – wird der Begriff des Systems in seiner Bedeutung für Schleiermacher, wenn überhaupt, ganz unterschiedlich, ja sogar entgegengesetzt, bewertet und gewichtet. Dies gilt bereits für die Diskussionen des 19. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Erscheinen der von Ludwig Jonas verantworteten Ausgabe der Dialektik im Rahmen der Sämmtlichen Werke (1839).1 Ich kann diese Diskussion hier nicht im Einzelnen nachzeichnen, sondern möchte nur einige exemplarische Beobachtungen mitteilen.2 Der Hegel-Schüler Karl Ludwig Michelet rechnete bereits 1838 Schleiermacher ganz selbstverständlich unter die »letzten Systeme der Philosophie in Deutschland«, auch wenn er ihm systematische Inkonsequenz vorwirft.3 Auf der anderen Seite machte Schleiermachers Schüler, der Philosophiehistoriker August Heinrich Ritter, geltend, Schleiermacher habe eine »Scheu vor systematischer Construction« gehabt.4 Nicht anders sind maßgebliche Positionen im 20. Jahrhundert verteilt. Falk Wagner etwa diskutiert Schleiermachers Dialektik im Blick auf systematische Begründungsansprüche der Philosophie, um ihm dann einen »Ausfall der Vernunft im System des

1 

Friedrich Schleiermacher: Dialektik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlas­ se. Hrsg. v. Ludwig Jonas. Berlin 1839 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4,2). – Jetzt: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, 2 Bde., Hrsg. v. An­ dreas Arndt, Berlin/New York 2002 (Kritische Gesamtausgabe. Berlin/New York/Boston 1980ff., Abt. 2, Bde. 10,1 und 10,2. Im Folgenden zitiert als »Schleiermacher, KGA«). 2  Vgl. hierzu die instruktive Zusammenfassung bei Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers. Darmstadt 1984, 64–78. 3  Karl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Berlin 1838, 46–112; zur Dialektik urteilt Michelet aufgrund seiner Mitschriften der Vorlesungen über die philosophische Ethik, deren Einleitung in der Tat eine Art Kurzversion der Dialektik bietet. 4  August Heinrich Ritter: Die christliche Philosophie nach ihrem Begriff, ihren äußeren Verhältnissen und ihrer Geschichte bis auf die neuesten Zeiten, Bd. 2. Göttingen 1859, 751.

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Wissens« zu attestieren, also wiederum systematische Inkonsequenz.5 Demgegenüber bestreitet Wolfgang Hagen Pleger rundheraus, »daß Schleiermacher [...] ein philosophisches System entwickelt hätte [...]. Das Zentrum der Philosophie Schleiermachers liegt in seiner Dialektik, die selbst aber nicht als System, sondern als ›Kunstlehre des Streitens‹ auftritt.«6 Eine dritte Position nehmen diejenigen Interpreten ein, die Schleiermacher einerseits eine Systemabsicht, ihm andererseits jedoch einen Vorbehalt gegenüber allen abschließenden Systematisierungen zusprechen, die gewissermaßen immer wieder von der Skepsis durchkreuzt werden. Hierher gehören zum Beispiel Fritz Weber7 und Jonas Cohn. Letzterer verweist, meines Erachtens durchaus zutreffend, auf die Quelle des Schleiermacherschen Systembegriffs, wenn er schreibt: »Die Dialektik hat bei ihm den Begriff des Systems selbst ergriffen. Es ist, als klinge in dem reif gewordenen Schleiermacher, der die Romantik längst überwunden hat, das Wort seines Jugendfreundes Friedrich Schlegel nach: ›Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden‹. Das bedeutet: ein System zu haben, das sich seines Ungenügens stets bewußt bleibt, das immer wird und nie ist.«8 Tatsächlich, so meine These, ist Schleiermachers Dialektik auch im Blick auf den Systembegriff als Ausarbeitung der frühromantischen Auffassungen aus der Zeit der philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel zu verstehen. Die Dialektik setzt in dieser Hinsicht die sich bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) ab-

5 

Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation. Gütersloh 1974, 277. Die schon im Untertitel pointiert gegen Wagner gerichtete Interpretation von Hans-Richard Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systema­ tische Interpretation. München 1979, lässt sich auf die Bedeutung des Systembegriffs für Schleiermacher so gut wie gar nicht ein. 6  Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie. Berlin/New York 1988, 9f. – In diesem Sinne argumentiert auch Friedrich Kümmel: Schleiermachers Dialektik. Die Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnisgründen und Wissensgrund. Hechingen 2008, der ›System‹ letztlich mit dem Systementwurf Hegels gleichsetzt und infolgedessen Schleiermachers Dialektik als Kritik am Systemdenken verstehen will. 7  Fritz Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Eine Studie aufgrund seiner frühes­ ten Abhandlungen. Gütersloh 1973, 57. 8  Jonas Cohn: Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie. Leipzig 1923, 44f.

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zeichnende Position nahtlos fort.9 Grundlage der scheinbaren Paradoxie in Schlegels Athenaeum-Fragment 46, das Cohn zitiert,10 ist die Spannung und Wechselwirkung zwischen dem System der Vernunft auf der einen und dem ›objektiven‹ System der ›Welt‹ auf der anderen Seite.11 Da der Systemzustand der ›Welt‹ sich ständig ändert und ebenso der des Wissens, das ihn unendlich in immer neuen Anläufen einzuholen versucht, treten die Systeme der Vernunft und der Welt nie nahtlos zusammen, sondern die Prozessualität der ›Welt‹ geht über alle Systemversuche immer wieder hinaus; die prozessierende Einheit des subjektiven und objektiven Systems vollzieht damit genau jene Bewegung, die Schlegel der Ironie zuschreibt, nämlich den »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«,12 wobei es die Aufgabe des Erkenntnis- und Wissensprozesses ist, diese Selbstvernichtung als Moment der Skepsis in sich aufzunehmen.13 Schleiermachers Dialektik mag, wie Jonas Cohn meint, das frühromantische Spiel mit Paradoxien (wie auch die Ironie14) längst hinter sich gelassen haben, jedoch bleibt er in der Sache denjenigen Positionen verpflichtet, die aus dem Symphilosophieren mit Friedrich Schlegel erwachsen waren. Dabei setzt Schleiermacher in der Dialektik einen starken eigenen Akzent dadurch, dass er – vor aller Wechselwirkung mit der Empirie im realen Wissensprozess – ein kategoriales System der Begriffe und Urteile voraussetzt, auf dessen Basis sich erst der Wissensprozess konstituiert. Ich werde im Folgenden zunächst dieses System darstellen (2.) und dann in einem weiteren Schritt dessen Beziehung auf das ›objektive‹ System der ›Welt‹ thematisieren (3.). Zum Schluss werde ich dann kurz auf die Frage eingehen, wie Schleiermachers Konzeption sich zu denen seiner Zeitgenossen und namentlich zu Hegels Systemkonzeption verhält (4.). 9 

Vgl. v. Verf.: Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers ›Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre‹ (im Druck). 10  Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. a. Paderborn u. a. 1958ff. Bd. 2, 172. Im Folgenden zitiert als »Schlegel, KFSA«. 11  Im Blick auf Schleiermachers Dialektik vgl. hierzu Sarah Schmidt: Die Kons­ truktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung. Berlin/New York 2005, 200–204. 12  Schlegel, KFSA 2, 172, Nr. 51. 13  Während Schlegel den Skeptizismus – allerdings eher im Hegelschen Sinne des ›sich vollbringenden Skeptizismus‹ zum Ingredienz des Wissensprozesses macht, verhandelt Schleiermacher bei grundsätzlicher Polemik gegen den Skeptizismus unter dem Terminus ›Kritik‹. 14 Vgl. v. Verf.: Schleiermachers Ironieverzicht, in: Ironie in Philosophie, Literatur und Recht. Hrsg. v. Bärbel Frischmann. Würzburg 2014, 103–111.

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2. Wenn ich eingangs die Kontinuität zwischen den 1803 eingenommenen Positionen Schleiermachers und denen der Dialektik sehr stark betont habe, dann darf das nicht darüber hinweg täuschen, dass Schleiermacher sich zu dieser Kontinuität gewissermaßen erst durchringen musste. Auch wenn das Projekt der Dialektik ihm, wie er sagte, schon lange im Kopfe herumgespukt sein mochte,15 so bedurfte es doch einer erneuten und vertieften Reflexion, um das Gespenst zu materialisieren. Zweifel daran, dass das Ganze sich auch systematisch fügen müsste, hatte Schleiermacher noch während der Niederschrift seiner vorbereitenden Notizen zur ersten Vorlesung 1811: »Das Wissen als gemeinsames sezt eine Einheit in Allem und eine Ergänzung, so daß jedes mit dem andern zusammenstimmen muß. Aber auch daß das Ganze ein System bildet?«16 Hier ist allerdings schon ausdrücklich vom Wissen die Rede, also von einer Einheit des Denkens und Seins, die sich, wie sich zeigen wird, für Schleiermacher schließlich als Wechselwirkung zweier Systeme darstellt. Der Beginn der Vorlesung 1811 lässt dann keinen Zweifel mehr daran, dass das Wissen im Ganzen, als Wissenschaft, ein System bildet; hier ist von dem »Systeme coordinirter Wissenschaften« die Rede, jedoch beruhe die »Architectonic« dieser Wissenschaften nicht auf einheitlichen Prinzipien aller dieser Wissenschaften selbst.17 Diesen Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Schleiermacher die Totalität des Wissens – von ihrer Prozessualität ist hier freilich noch nicht die Rede – als System ansieht, dieser Systemcharakter des Wissens überhaupt sich aber noch nicht in einheitlichen, selbst wiederum systematisch abzuleitenden und darszustellenden Prinzipien niederschlägt. Hier setzt die Aufgabe der Dialektik als ›Kunstlehre‹ des werdenden Wissens ein. Da diese Bestimmung, wie erwähnt, gern benutzt wird, um die Dialektik einem Systemdenken gegenüberzustellen (gemeint ist meist Hegel), lohnt es sich jedoch, hier kurz innezuhalten und die verschiedenen Ebenen zu klären, von denen bei Schleiermacher die Rede ist. Da ist zunächst die objektive Seite des Wissens, das zu wissende und gewusste Sein. Offenbar ist die Totalität des Seins (das, was er an späterer Stelle unter der Idee der Welt fassen wird) für Schleiermacher als die Voraussetzung der Tota15  Schleiermacher

an Gaß, 29.12.1810, in: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Hrsg. v. W. Gaß. Berlin 1852, 78. 16  Schleiermacher, KGA II/10,1, 20, Nr. 104. 17  Schleiermacher, KGA II/10,2, 5.

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lität des Wissens – des Ganzen der Wissenschaft – selbst systematisch strukturiert, wenn jene auch systematisch ist. Nicht umsonst betont er ja von Anfang an die durchgängige Parallelität des Denkens und Seins. Was bedeutet es dann aber, dass die Prinzipien des Wissens, ungeachtet der systematischen Gerichtetheit des Wissens im Ganzen, weder gesichert noch auf allgemein anerkannte Weise systematisch hergeleitet sind? Diese Frage ist nicht schon dadurch zu beantworten, dass die Kunstlehre ein solches Wissen um die Prinzipien des Wissens noch nicht hervorgebracht habe, denn es gibt für Schleiermacher keine »specifische Verschiedenheit der Principien des Wissens und der Construction«.18 Im Wissen um das Werden und die Konstruktion des Wissens in der Kunstlehre sind also die gesuchten Prinzipien des Wissens bereits präsent und wirksam, und insofern die dialektische Hervorbringung des Wissens nicht ohne Bewusstsein über das dabei geübte Verfahren erfolgen kann, schließt sie auch ein Bewusstsein über die Prinzipien des Wissens und der Wissenschaften ein. Worin liegt dann aber der Mangel an allgemein anerkannten Prinzipien des Wissens und der Wissenschaften begründet, der doch den Ausgangspunkt der Dia­ lektik bildet: den Zustand des streitigen Wissens? Die Antwort auf diese Frage werde ich noch zurückstellen müssen, da zuvor noch einige weitere Klärungen vonnöten sind. Nur so viel sei als These vorweggenommen: der Mangel der Prinzipien liegt gar nicht in ihrer systematischen Herleitung durch die Betrachtung des Prozesses des werdenden Wissens, sondern in ihrer systematischen Bewährung in der Hervorbringung des realen Wissens. Anders gesagt: Die Kunstlehre der Dialektik würde sich erst dann in ein gesichertes und allgemein anerkanntes System der Prinzipien des Wissens aufheben lassen, wenn das reale Wissen vollendet wäre. Dies aber ist nach Schleiermacher nie der Fall, denn sonst wäre die Idee der Welt, die Totalität dessen, was überhaupt real gewusst werden kann, nicht transzendental. Das hindert aber nicht, dass die Dialektik im Bewusstsein der Unabschließbarkeit des Wissensprozesses als Methodenlehre auftreten kann, welche – mit Kant zu sprechen – die »Bestimmungen der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft« enthält.19 Die Kunstlehre ist darum Kunstlehre, weil sie sich auf die

18 

Schleiermacher, KGA II/10,2, 10. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, B 735f. Im Folgenden zitiert als »Kant, KrV«, mit Angabe der Auflage (A/B) und der entsprechenden Seitenzahl. 19 

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»Form des Wissens« bezieht und dabei »vom Inhalt« abstrahiert,20 jedenfalls von den bestimmten empirischen Gehalten. Dies entspricht wiederum dem kantischen Programm der transzendentalen Logik, die es »bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird«.21 In diesem Sinne kann Schleiermacher behaupten, seine Betrachtung der Formen des Begriffs und des Urteils seine eine Betrachtung des Denkens, »rein abgesehen vom Wissen«; diese Bestimmung der Form des Begriffs und des Urteils sei aber zugleich »das Prinzip des Denkens im Allgemeinen«.22 Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist keineswegs so zu verstehen, als verfolge Schleiermacher das Programm eines reinen, vo­ raussetzungslosen Denkens wie etwa Hegel in seiner Wissenschaft der Logik. Der Unterschied besteht darin, dass Schleiermacher das Denken hier nicht in der Weise selbstreflexiv macht, dass die Form ihr eigener Inhalt wird, wie es in der Selbsterfassung des Begriffs bei Hegel der Fall ist. Das kantische Programm eines Systems der Vernunft wird in der Dialektik vielmehr so verstanden, dass die subjektiv den Menschen einwohnende Vernunft sich zugleich als Totalität des mit und durch die Vernunft zu wissenden realisiert – als ein System des Wissens und der Wissenschaften. Aber auch die subjektiv den Menschen einwohnende Vernunft bildet, wenn auch nur auf einer formalen Ebene, ein System. In der Vorlesung 1811 heißt es zur Begriffsbildung: »Richtig wird gebildet wenn der Gegenstand ein Glied im System der Begriffe abbildet. Dieses System ist angeboren d. h. es wohnt uns ein als eine Thätigkeit um vermittelst der Einigung mit der realen Seite zum Bewußtsein zu kommen. Wie ein erstes Zusammentreffen dieser Art könne Erinnerung heißen.«23 Entscheidend hierbei ist, dass das ›angeborene‹, das heißt apriorisch mit der Vernunft vorausgesetzte System nicht dadurch zum Bewusstsein kommt, dass die Vernunft sich als formale selbst reflektiert, sondern dadurch, dass dieses System im Blick auf reale Wissensprozesse in Aktion tritt, das heißt sich als Wissen realisiert. Das ›Wiedererkennen‹ der formalen Bestimmungen im realen Wissen bedeutet zugleich, dass sich das angeborene System der Begrif20 

Schleiermacher, KGA II/10, 2, 11. Kant, KrV B 81. 22  Schleiermacher, KGA II/10,2, 19. 23  Schleiermacher, KGA II/10,1, 56. 21 

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fe und Urteile als formale Bestimmung von Objektivität bewährt, das heißt Bestimmungen des Seins selbst zum Ausdruck bringt. Diese Bewährung ist in der formalen Erfassung dieses Systems – des Denkens als Denken – nicht gesichert, und deshalb bleibt die Ungewissheit der Prinzipien des Wissens bis zur vollständigen Realisierung des Wissens überhaupt auch dann bestehen, wenn das formale System als solches in der Dialektik bereits entwickelt ist. Man darf sich aber hierbei nicht täuschen: Trotz aller Bescheidenheitsrhetorik gegenüber konkurrierenden philosophischen Positionen ist Schleiermacher sich der von seiner Kunstlehre immer schon in Anspruch genommenen Prinzipien bereits auf der formalen Ebene sehr sicher. Hierzu heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1818/19: »Die Erforschung dieser Regeln [der Konstruktion des Wissens, A.] ist nichts als das Erforschen und Suchen des Wissens. Es wird also etwas entstehen, was den philosophischen Systemen völlig adäquat ist.«24 Dass die formalen Bestimmungen des Denkens als Denken ein System bilden (bzw. die Systeme des Begriffs und des Urteils) hat eine doppelte Funktion. Zum einen geht es um die Einheit der Vernunft in allen Denkenden. Ohne diese Voraussetzung wäre ein Wissen für Schleiermacher ebenso wenig möglich wie ohne den Bezug des Denkens aufs Sein. Letzteres erfordert jedoch auch, dass die formalen Bestimmungen zugleich objektive Bedeutung haben, das heißt, dass sie nicht nur äußerlich an Gegenstände herangetragene Formen sind, sondern allgemeine Formen nicht nur des Denkens sondern ebenso des Gedachten. Entsprechend ordnet Schleiermacher die logischen Formen des Begriffs und des Urteils auch den von ihm im Rückgang auf die Kons­ tellation von Parmenides und Heraklit unterschiedenen Seinsweisen des ›stehenden‹ und ›fließenden‹ Seins zu: »Das System der Begriffe bildet das stehende Gerüst, das System von Urtheilen die lebendige Ausfüllung.«25 Der Syllogismus ist bekanntlich für Schleiermacher keine eigene logische Form (und damit auch keine Form des Seins), sondern nur eine Kombination von Urteilen.26 An dieser Auffassung ändert sich in der weiteren Entwicklung der Dialektik nach 1811 grundsätzlich nichts. In den Aufzeichnungen zur Dialektik 1814/15 wird ausdrücklich festgehalten:

24 

Schleiermacher, KGA II/10,2, 113. Schleiermacher, KGA II/10,1, 40. 26  Vgl. Schleiermacher, KGA II/10, 102, Nr. 138. 25 

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»Es kann also eine Allen gemeinsame Begriffsproduction nur geben inwiefern diese in der Einerleiheit der Vernunft gegründet ist. D. h. Giebt es ein Wissen so muß das System aller das Wissen constituirenden Begriffe in der Allen einwohnenden Einen Vernunft auf eine zeitlose Weise gegeben sein«.27 Und auch hier konstituieren die formalen Systeme des Begriffs und der Urteile das reale Wissen in der Weise, dass ihnen die Modifikationen des Seins als stehend beziehungsweise fließend entsprechen: »das System der Begriffe ist ein stehendes Sein, wenn man sie nemlich als vollendet sezt, und eben so das System der substantiellen Formen jede auf ihrer Stuffe betrachtet ist unveränderlich. Und dagegen das System der Urtheile ist in beständigem Fluß; kein Prädicat wird dem Subject als dauernd beigelegt, die Beilegung muß immer erneuert werden; eben so ist das System der Ursachen und Wirkungen im Fluß.«28 Wie eine Zusammenfassung dieser Überlegungen liest sich folgende Passage in der anonymen Nachschrift zum Kolleg 1818/19: »Ist es wahr, daß das ganze System der Gesetze der Gedankenverbindung nichts anderes sein kann, als die Darstellung der Art und Weise, wie das Sein selbst getheilt und verbunden ist, so sind jene selbst wieder nichts, als das Aufsuchen des einen im andern.«29 Erst in der Wechselseitigkeit des Denkens und Seins im realen Wissensprozess tritt das formale System des Denkens als Denken ins Bewusstsein und bewährt es sich als Prinzip des Wissens. Dieser Wechselseitigkeit wende ich mich jetzt zu.

3. Das System der formalen Vernunftbestimmungen – Begriff und Urteil – sichert die Selbigkeit der Vernunft in allen Denkenden und in allen Denkakten, die auf ein Wissen zielen. Sie bilden zugleich ein kategoriales Gerüst, um die zwei grundlegenden Formen des Seins – das stehende und das fließende Sein – erfassen und darstellen zu können. Die formalen Bestimmungen haben insofern, kantisch gesprochen, einen Bezug auf mögliche Gegenstände der Erfahrung überhaupt, aber nicht 27 

Schleiermacher, KGA II/10, 114, Nr. 176. Schleiermacher, KGA II/10, 131, Nr. 196. 29  Schleiermacher, KGA II/10,2, 109. 28 

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auf bestimmte Gegenstände. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Schleiermacher mit Kant die Voraussetzung zweier Stämme der Erkenntnis teilt, die er intellektuelle und organische Funktion nennt. Zu dem angeborenen System der formalen Denkbestimmungen tritt die ›Organisation‹ der Denkenden, das heißt ihre körperlich-sinnlichen Funktionszusammenhänge, die mit der intellektuellen Funktion koordiniert sind: »Wenn und sofern jedes Denken ein gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden ist, ist das Wissen dasjenige Denken welches Product der Vernunft und der Organisation in ihrem allgemeinen Typus ist«.30 Im Blick auf diese organische Seite des Erkennens spricht Schleiermacher in der Vorlesung 1811 auch von einem »System der organischen Functionen«, womit gemeint ist, dass jeder Mensch ein Glied dieses Systems, des »Inbegriff[s] aller organischen Functionen«, ist und dadurch auch die Selbigkeit im sinnlichen Erkennen der ›Welt‹ gewährleistet ist.31 Dem organischen System kommt also eine vermittelnde Funktion zwischen dem formalen intellektuellen System der Begriffe und dem objektiven System der ›Welt‹ zu. Beide Funktionen sind in jedem Moment des Bewusstseins gegenwärtig und stehen in Wechselwirkung miteinander. »Da nun das Bewußtseyn ein Continuum ist, so müssen wir in jedem Moment eine doppelte Thätigkeit setzen, eine des Sinnes, die nach außen geht, und mit den Dingen zusammen das Organische gibt, und eine der Vernunft, rein nach innen, welche das ganze System, alle formalen Elemente des Denkens und Wissens enthält.«32 Auch hier gilt, wie in Kants Kritik der reinen Vernunft: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«.33 In diesem Sinne heißt es in der Nachschrift zu dem Kolleg 1822 über das System der Begriffe: »Das Angeborensein geht dem Denken voraus, und es kann nichts andres damit gemeint sein, als daß dieselbe Richtung auf dasselbe System von Begriffen in allen angelegt ist, denn sonst würde aus allen organischen Impressionen kein Denken.«34 Umgekehrt gilt aber auch: wäre »in dem einen [...] 30 

Schleiermacher, KGA II/10,1, 91. Schleiermacher, KGA II/10,2, 16. 32  Schleiermacher, KGA II/10, 57. 33  Kant, KrV B 75. 34  Schleiermacher, KGA II/10,2, 466 (1822). 31 

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dasselbe System von Begriffen angelegt wie im andern, aber er empfinge keine organischen Impressionen, die jenen Begriffen gemäß wären, so könnte er auch nicht denken.«35 Die Beziehung zur ›Welt‹ vermitteln demnach zwei Systeme, die im Wissensprozess einander bedingen und ergänzen: das formale System der Begriffe in der intellektuellen Funktion und das System der organischen Funktionen. Die Welt ist dann, wie es in der Nachschrift zur Vorlesung 1822 heißt, »die Gesammtheit dessen, woraus die organischen Vorstellungen entstehn, und allen muß es dasselbe sein, woraus ihre organischen Vorstellungen entstehn«.36 Dies gilt, nebenbei bemerkt, sowohl für das theoretische als auch für das praktische Verhalten zur Welt, denn nach Schleiermachers Auffassung sind Handeln und Wissen letztlich gleichzusetzen: »Wissen ist Handeln und Handeln Wissen (Passivität ist nicht Wissen und Bewußtlosigkeit nicht Handeln)«.37 Nun ist die ›Welt‹ für Schleiermacher nicht eine formlose Masse als tote Grundlage des Denkens und Handelns, sondern selbst schon immer gestaltet, das heißt intellektuelle und organische Funktion in ihrer den Weltbezug vermittelnden Einheit finden darin ihre Entsprechung in der Einheit und wechselseitigen Durchdringung des Idealen und Realen. Sofern sich aber in dem primär durch die organische Funktion vermittelten Weltbezug erst das Miteinander von intellektueller und organischer Funktion als Wissen realisiert, gilt, dass die Einheit beider Funktionen erst dann vollständig wäre, wenn der Wissensprozess abgeschlossen, mithin die Totalität des Wissbaren in das Wissen aufgenommen wäre. Hierzu heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1811: »Nur in der Totalität alles einzelnen Erkennens hätten wir die reine Identität der organischen Function und des formalen Elements. In der höchsten Vollendung können wir nie dahin kommen; wir sind daher immer im Bilden des Wissens vom höchsten begriffen, aber ohne es vollenden zu können.«38 Dies gilt in einer doppelten Hinsicht. Zum einen wäre die reine Identität der formalen beziehungsweise intellektuellen Funktion mit der organischen Funktion eine vollständige Einigung des Idealen und Realen. Dies ist im Wissen, um das es hier geht, nicht erreichbar, denn 35 Ebd. 36 Ebd. 37  38 

Schleiermacher, KGA II/10,1, 210. Schleiermacher, KGA II/10,2, 38.

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das Wissen setzt nach Schleiermacher den Gegensatz des Denkens und des Gedachten voraus. Das Absolute als die diesem Gegensatz voraus– und zugrundeliegende Einheit sei deshalb auch wissensmäßig nicht vollziehbar, sondern bleibe für das Wissen transzendent. Hier tritt, wie bekannt, das unmittelbare Selbstbewusstsein als Analogon des transzendentalen Grundes beziehungsweise der Idee Gottes ein, der Idee, worin alles Wissen, sofern es auf die Einheit des Idealen und Realen zielt, gründet und von wo es seinen Ausgang nimmt. Dies bedeutet, dass das Wissen von seinem Ursprung her gewissermaßen entelechetisch auf eine Einheit aller Entgegensetzungen gerichtet ist, die Einheit der Welt als Totalität. Diese Vorstellung der Totalität, die allem Wissen vorschweben muss, ist gleichbedeutend mit der Vorstellung eines systematischen Ganzen. Im Anschluss an diec eben zitierte Stelle heißt es dazu: »Wie können wir zum Wissen der Totalität kommen? [...] indem wir unser Erkennen des Endlichen in einen Grundriß zusammenzufassen suchen, eine Vorstellung der Totalität zu erlangen suchen; es giebt kein wahres einzelnes Wissen, als was sogleich mit dem Streben nach dem Systematischen, nach der Totalität unternommen ist.«39 Eine systematische Tendenz ist daher nach Schleiermacher dem Wissen überhaupt und auf allen Ebenen eingeschrieben. Näher betrachtet stellt sich dies so dar, dass das formale bzw. intellektuelle System der angeborenen Begriffe zusammen mit dem System der organischen Funktionen die subjektive Seite des menschlichen Erkennens bildet, die sich dann als Bewusstsein und Wissen realisiert, wenn sie die Welt als Totalität zum Objekt hat. Im eigentlichen Sinne systematisch, das heißt zur vollkommenen Einheit gebracht wären diese Teilsysteme erst dann, wenn sie vollständig miteinander konvergierten, das heißt formale und organische Funktion im Wissen der Totalität der Welt identisch wären. Weil dieser Zustand nicht erreichbar ist, tritt an die Stelle des vollendeten Wissens der Totalität die Vorstellung der Totalität als Ziel des Prozesses. Anders gesagt: das System als die Totalität der Welt kann nicht gewusst werden, aber es gibt gleichwohl dem Wissensprozess eine systematische Struktur. Auch nach Schleiermacher muss man sich daher entschließen, System und Systemlosigkeit zu verbinden, damit ein Wissen zustande kommen kann.

39 Ebd.

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Andreas Arndt

Die Annäherung an die Totalität der Welt ist dabei nicht nur auf die Vorstellung eines abschließenden Systems hin geordnet und gerichtet, sie kann durch Teilsysteme vermittelt sein (wie durch das System der Begriffe und der organischen Funktionen) und sich auch durch Teilsysteme bewegen, die untergeordnete Einheiten im Rahmen des obersten Gegensatzes, des Idealen und des Realen, darstellen. Jedes System, so heißt es in der Nachschrift zum Kolleg 1818/19, »hat wieder ein Zusammensein mit einem andern System, dem es coordinirt ist, und mit dem es gemeinschaftlich unter einem höhern steht. Sehe ich nun auf ein Sein im System a, das rein durch das System a bestimmt ist, so ist es gleich, ob ich es empirisch oder speculativ fasse. Ist es aber auch durch das System b begründet, so muß ich erst auf das System c, das über a und b hinaufliegt sehen. Das System c hat aber wieder ein höheres über sich, und so komme ich bis auf das Höchste hinauf, wo die Totalität gegeben ist; ist die ein unmittelbarer Gegenstand des Wissens, so findet die Durchdringung des Speculativen und Empirischen Statt.«40 4. Schleiermachers Dialektik ist nach dem, was bisher gezeigt wurde, nicht antisystematisch oder als Kritik des Systemdenkens in der Klassischen Deutschen Philosophie aufzufassen. Wer Schleiermacher in dieser Richtung stilisieren will, ignoriert, dass der Systemgedanke vielmehr eine entscheidende Voraussetzung seiner Dialektik ist, ohne den sie – um es in Anlehnung an ihren Urheber zu formulieren – ein bloßes Aggregat von Observationen zum Wissensprozess wäre. Auch, dass sich das Wissen gleichwohl nicht als System realisieren lässt, diese Überzeugung, die Friedrich Schlegel zum Paradox zugespitzt hatte, ist eine Konsequenz des Systembegriffs und seiner spezifischen Voraussetzungen. Wenn Schleiermachers Dialektik aber nicht aus einem Gegensatz zur Systemphilosophie heraus zu verstehen ist, ist es für ihr Verständnis umso wichtiger, die Unterschiede zu anderen Positionen des Systemdenkens näher zu bestimmen. Ich möchte dies zum Schluss im Blick auf Friedrich Schlegel und Hegel wenigstens andeuten. Was Schlegel betrifft, so muss er in vielerlei Hinsicht als Ideengeber für Schleiermachers Dialektik gelten, auch für deren Systembegriff. So40 

Schleiermacher, KGA II/10, 224.

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weit Schlegels weithin fragmentarisch vorgetragene Konzeption sich rekonstruieren lässt,41 gibt es vor allem einen Punkt, an dem beide – auch unter der Voraussetzung, dass sich das Absolute begrifflich nicht denken lässt – nicht übereinstimmen. Während Schlegel, kurz gesagt, das Transzendentale historisieren will, weshalb es in der widersprüchlichen Form ironischer Selbstbrechung der Reflexion zugleich eingeholt und verfehlt, jedoch nicht außerhalb der Bewegung der Reflexion gestellt wird, entzieht Schleiermacher es der Reflexion, die lediglich einen auf diese Voraussetzung hinführenden Charakter hat. Soweit Friedrich Schlegel sich mit seiner Konzeption von Dialektik in einer großen sachlichen Nähe zu Hegel bewegt, ist damit auch schon eine entscheidende Differenz zwischen Schleiermacher und Hegel bezeichnet. Während Schlegel und Hegel den Begriff der Identität, der mit dem Gedanken des Absoluten als absoluter Einheit notwendig verbunden ist, selbst nicht im Sinne eines formalen absoluten Prinzips fassen, sondern das Absolute – wenn auch auf unterschiedliche Weise – als Totalität bestimmen, setzt Schleiermacher die Identität als relationslose, schlechthinnige Identität sowohl der Reflexion als auch der Totalität, der Idee der Welt, entgegen. Hegel dagegen setzt dort an, wo Schleiermacher ein angeborenes formales System der Begriffe qua intellektuelles Vermögen voraussetzt, indem er die reinen Gedankenbestimmungen aus der Selbstreflexion des Denkens abzuleiten versucht. Dies führt nach seiner Auffassung zugleich auf den Begriff des Absoluten, weil die Formen der Selbsterfassung des Begriffs im reinen Denken, das heißt dem Denken des Denkens, nicht von außerhalb des Denkens liegenden Faktoren bestimmt und in sich systematisch ableitbar sind. Sie sind in einem technischen Sinne absolut, weil sie von nichts anderem dependieren. Dass diese Selbstreflexion des Denkens ein Wissen sei, sofern die Form sich dabei zu ihrem eigenen Inhalt macht, liegt jedoch außerhalb dessen, was Schleiermacher interessiert. Ihm geht es vielmehr darum, zu zeigen, dass das Denken erst dann ein inhaltsvolles Wissen werden kann, wenn die formalen Denkbestimmungen durch das System der organischen Funktionen mit der ›Welt‹ vermittelt werden. Seine Di­ alektik als Kunstlehre versteht sich vor allem als Theorie des werdenden Wissens in der Realisierung dieser Vermittlung. Vermutlich hätte Schleiermacher in Hegels Programm – wobei offen bleiben muss, ob 41 Vgl.

Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. München 2012, 230–244.

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und wieweit er die Wissenschaft der Logik jemals wirklich zur Kenntnis genommen hat42 – nicht mehr gesehen als eine Abstraktion des Transzendentalen gegenüber der ›Welt‹, eine Abstraktion, aus der dann im Nachhinein der Bereich des realen Wissens abgeleitet werden soll. In diesem Sinne jedenfalls hat Schleiermacher die philosophischen Systeme seiner Zeitgenossen auf dem Boden der Klassischen Deutschen Philosophie verstanden und sich von ihnen abgrenzen wollen. Die Nachschrift zum Kolleg 1818/19 erläutert dies ausführlich: »Wenn wir unser Wissen des endlichen Seins ableiten von einem Wissen des unendlichen als seines Grundes, so können wir nicht weiter sagen, daß unser Wissen des Einen ein anderes sei als das des andern, denn das Wissen des Endlichen ist dann nur eine Fortsetzung der Thätigkeit wodurch wir das Ursprüngliche wissen. Diese Aufgabe haben sich die meisten neuern Systeme gestellt, das Wissen in solche Gesammtheit zu vereinigen, daß unser Wissen um das, was einer Begründung bedarf, und dasjenige was die Begründung ist, dasselbe sei, oder mit anderen Worten das Reale von dem Transcendenten abzuleiten. So wenig die Dialectik die Aufgabe der Logik ist, so wenig ist sie die Aufgabe dieser regenerirten Metaphysik. Sowenig wir uns begnügen bloß ein gegebenes Denken zu beurtheilen, eben so wenig macht die Dialectik den Anspruch die Gegenstände des realen Wissens, das Sein und Thun aus dem Jenseits des Gegebenen Liegenden, als ursprünglich Vorausgesetztem, in einer und derselben Reihe abzuleiten.«43 Nun lässt sich der Entschluss, rein denken zu wollen, den Hegel für seine Logik voraussetzt, tatsächlich als Abstraktion verstehen, die dann im Blick auf die Natur (und den Geist) wieder zurückgenommen wird,44 jedoch ist damit bei Hegel nicht das Programm einer Ableitung verbunden, gegen das Schleiermachers allgemein gehaltene Polemik sich richtet. Vielmehr ist auch Hegel der Auffassung, dass die reinen Denkbestimmungen, das kategoriale System der Wissenschaft der Logik, sich im realen Wissensprozess (bei Hegel: den Realwissenschaften der Natur und des Geistes) bewähren müsse. In seiner Enzyklopädie der philosophi­ schen Wissenschaften im Grundrisse heißt es hierzu, dass im Durchgang durch Natur und Geist »das Logische« wieder erreicht werde, aber »mit 42 

Vgl. v. Verf.: Friedrich Schleiermacher als Philosoph. Berlin/Boston 2013, 213–225. Schleiermacher, KGA II/10,2, 124f. 44  Vgl. v. Verf.: Wer denkt absolut? Die absolute Idee in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹, in: Revista Eletrônica Estudos Hegelianos Ano 9, nº 16, Junho 2012, 22f.; http://www.hegelbrasil.org/Reh_16_02.pdf. 43 

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der Bedeutung, daß es die im concreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit« ist.45 Hierzu gehört auch, dass das Absolute für Hegel keine für sich zu stellende Entität ist, wie häufig angenommen, sondern Methode: das Absolute ist die absolute Idee als dialektische Methode. Hier so scheint mir, liegt dann doch auch eine sachliche Beziehung auf die Dialektik als Kunstlehre, die in Übereinstimmung und Verschiedenheit mit Hegel allererst auszuloten wäre, eine Beziehung, die aber überhaupt nicht in den Blick tritt, wenn Schleiermachers Konzeption als Gegensatz zum Systemdenken seiner Zeitgenossen aufgefasst wird.

45  §

574 in der 2. und 3. Auflage, Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 19. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Hamburg 1989, 415; ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 20. Unter Mitarbeit v. Udo Rameil. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992, 569, und § 474 in der 1. Auflage: ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 13. Unter Mitarbeit v. Hans-Christian Lucas. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Klaus Grotsch. Hamburg 2001, 246.

Jure Zovko Vernunftkritik in Schlegels Wiener Vorlesungen (1812) Da das Thema der inzwischen traditionell gewordenen Wiener Tagung »System und Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus« die Zeitspanne von 1811 bis 1821 deckt, werden in diesem Vortrag die letzten und philosophisch bedeutendsten Wiener Vorlesungen Schlegels nicht berücksichtigt, nämlich Philosophie des Lebens, die 1828 veröffentlicht wurden, beziehungsweise die posthum erschienenen Philosophische[n] Vorlesungen, insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes (1830). Schlegels Stellung zur klassischen Deutschen Philosophie für diese Zeitperiode wird hier an Hand seiner Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur, die er 1812 in Wien gehalten und 1815 mit der Widmung dem Fürsten Metternich veröffentlicht hat, dargestellt. Es werden ferner Schlegels Beiträge aus der kulturkonservativen Zeitschrift Deutsches Museum (1812–13) einbezogen, sowie seine nachgelassenen Fragmente. Meine Intention ist, nachweisen zu versuchen, dass immerhin dieses Dezennium des Schlegelschen Schaffens keineswegs als erzkonservativ, sondern als Nachhall seiner kritischen Epoche gekennzeichnet werden sollte. Es ist unbestreitbar, dass Schlegels eigenartige Biographie durch eine Synthese der divergierenden Ansichten des revolutionären Kritikers und des konservativen Reaktionärs charakterisiert ist und als solche oft bis auf die Spitze getrieben wird: »Deutschtum anstelle des frühen Kosmopolitismus, ein christlicher Gott anstelle des Unendlichen, patriarchalische Familienstruktur anstelle der Gleichstellung der Frau, restaurativer Konservativismus statt Revolutionsgeist, gläubige Demut statt verunsichernder Ironie«.1 Immerhin gibt es etliche Meinungen, dass Schlegels komplexes Werk eher als eine »Kontinuität im Wandel« zu deuten ist.2 Schlegels reichhaltige Aufsätze nach seiner Konversion zum Katholizismus, in denen er, wie er selbst in den Ankündigungen seiner Zeitschrift Deutsches Museum behauptet, sein Urteil im Bereich der Kunst, der Literatur, der Geschichte und der Philosophie des Le1  Vgl. Bärbel

Frischmann: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J.G. Fichte und Fr. Schlegel. Paderborn/München/Wien/Zürich 2005, 19f. 2  Vgl. Berbeli Wanning: Friedrich Schlegel zur Einführung. Hamburg 1999, 7–23; 101. Zur Kontinuität des Schlegelschen Denkens vgl. auch v. Verf.: Carl Wilhelm Friedrich von Schlegel, in: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Bd. 23. Berlin 2007, 40–42.

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bens auch gegen die Strömungen der Zeit äußern will,3 sind meines Erachtens nicht angemessen gewürdigt, weil über Schlegels postkritische Schriften Explikationsversuche à la Walter Benjamin weiterhin vermisst werden. Benjamins primäre Intention war, aufzuzeigen, inwiefern Schlegel seine Gedankenmotive nach der Auflösung des Jenenser Romantikerkreises »in seine spätere Lebensarbeit hinüberrettete«.4 Wenn man vom Standpunkt der hermeneutischen Billigkeit Schlegels postkritische Schriften analysieren und bewerten will, muss man zugeben, dass etliche durchgehende Motive und Themen aus der kritischen Epoche auch in Schlegels späten Opus enthalten sind, wie beispielsweise das interdependente Verhältnis von Poesie und Philosophie, Kunst und Leben, Kritik an der Dingontologie, bzw. das konsistente Plädieren für die dialogische Form des Denkens. Das schlagfertige Gerede von einem ›Kritik-‹ und ›Ironieverzicht‹ nach der ›Wende‹ lässt sich meines Erachtens mit Hilfe der genaueren hermeneutischen Explikation der bereits genannten Termini in Schlegels Wiener Vorlesungen Geschichte der alten und der neuen Literatur aus dem Jahre 1812 widerlegen. Ironie wird beispielsweise in diesen Vorlesungen als Maßstab des gelungenen Kunstwerkes betrachtet, in welchem das Leben poetisiert und bestimmt wird, wozu man »der mannigfaltigen Bildung und der reichlichen Ironie« bedarf.5 Die erste Dekade nach Schlegels Konversion zum Katholizismus dürfte man meines Erachtens als postkritische Etappe seines Denkens bezeichnen. Die Gründe dafür sind vor allem Schlegels Aufgeschlossenheit als Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Museum (1812) verschiedene Meinungen zu tolerieren, bzw. sein verstärktes Interesse an der Forschung und Bewertung der Kulturgeschichte, Kunst und Literatur, das auch für die Athenaeumzeit maßgebend war. Als Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Museum hat Schlegel im Vorwort die Richt­linien gegeben, wie das wissenschaftliche Profil einer Zeitschrift aussehen sollte, nämlich sie dürfte nicht »wie eine enge Schulstube sein [...], wo einer allein auf dem Thron sitzt und von oben herab doziert, ohne daß 3  Friedrich

Schlegel wird zitiert nach der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitw. v. Jean-Jacques Anstett/Hans Eichner. Paderborn 1958ff. Im Folgenden zitiert als »KFSA« mit Angabe der Bandnummer und Seitenzahl. Hier vgl. KFSA 3, 339. 4  Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt a. M. 1973, 12. 5  Friedrich Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur. Gehalten zu Wien im Jahre 1812. Wien 1815, Bd. 2, 317. Im Folgenden zitiert als »Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur« mit Angabe der Bandnummer und Seitenzahl.

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man ihm dreinreden darf«.6 Dagegen behauptet er, dass eine angesehene Zeitschrift die Form einer »Gelehrten-Republik« haben sollte, wo, wie im Parlament, verschiedene Stimmen gehört werden sollen, »damit aus dem Streit eine gemeinsame und wahrhaft öffentliche Meinung hervorgehe, oder der bleibende Zwiespalt wenigstens klar ans Licht trete.«7 Analog dürfte aus einer Zeitschrift die Opposition nicht ausgeschlossen bleiben. Haben wir heutzutage irgendwo eine solche philosophische Zeitschrift, die nach Schlegelschem Model der Toleranz herausgegeben wird? Auch der Vorwurf vom deutschen Nationalismus bzw. der Preisgabe der internationalen Aufgeschlossenheit lässt sich keineswegs ohnehin festhalten. Schlegel war eindeutiger Gegner der Ansicht, dass die Nation und die nationale Literatur das Höchste und Wertvollste sei. Im Deutschen Museum äußert er sich klipp und klar gegen die ›patriotische Abgötterei‹, weil sie eine eindeutige Form des Egoismus ist. In der Ankündigung des Deutschen Museums wird erwähnt, dass die Zeitschrift vornehmlich Themen aus Philosophie und Kulturgeschichte behandeln wird, nämlich »Geschichte im weitesten und höchsten Sinne des Wortes, Philosophie des Lebens, die Literatur, unseres Volkes und unseres Zeitalters, und die Kunst des Schönen«.8 Schlegels radikale Distanznahme von der Moderne und vom Republikanismus geschieht meines Erachtens erst in der Zeit der Herausgabe der Zeitschrift Concordia, das heißt in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens. Dass Schlegel auch nach der Konversion zum Katholizismus die Kerngedanken der kritisch-hermeneutischen Reflexion im Wesentlichen beibehalten hat, ist aus seinen wertvollen Beiträgen zum Wesen der ›philosophischen Kritik‹ und Über die deutsche Literatur ersichtlich. Kritik ist »kein geschlossener Lehrbegriff, sondern von mehr unbestimmter und ganz freier Art«, es ließe sich nicht »ein unabänderlicher Kanon derselben aufstellen«, sondern sie müsse »auf verschiedene Weise geübt und nach allen Seiten hin ausgebildet werden.«9 In der Rezension von Adam Müllers Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1808) schrieb Schlegel, dass sich sein Konzept der philosophischen Kritik qua »verbindende[m] Mittelglied zwischen dem Leben und der literärischen Welt« durchgesetzt hat. Kritik als freie Tätigkeit im Bereich der Geisteswissenschaften ist mit der romantischen Form des »Symphilosophierens« vergleichbar. Sie sollte von mehreren 6 

Schlegel, KFSA 3, 261.

8 

Schlegel, KFSA 3, 339. Schlegel, KFSA 3, 148.

7 Ebd. 9 

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Personen »auf verschiedene Weise geübt, und nach allen Seiten hin ausgebildet werden«.10 Das ehemalige Ideal des kritischen Symphilosphierens soll durch Verpflichtung zur Literatur- und Philosophiekritik transformiert werden. Schlegels Intention in den Wiener Vorlesungen Geschichte der alten und neuen Literatur war, seine »Arbeiten im Gebiete der Litteratur, der poetischen Kunstgeschichte und Kritik« die fragmentarisch geblieben sind, jetzt auch als eine »systematische Übersicht des Ganzen« darzustellen.11 Der im Aufsatz Über die deutsche Literatur, aus der Zeitschrift Deutsches Museum definierte Vorsatz, die »innere Welt« des menschlichen Geistes und seine künstlerischen Objektivationen zu bewerten, bleibt weiterhin das Hauptthema der Schlegelschen frühen Wiener Vorlesungen. Im Brennpunkt der Erforschung und der kritischen Analyse bleibt »die Philosophie des Lebens, der Genuß der schönen Künste und das Studium der Geschichte«.12 Dies sind nach Schlegels Einschätzung vorzügliche Attraktionen für den Geist gebildeter Menschen. Kritisch wird dabei die Leistung der Philosophie beurteilt: »Daß die Philosophie ihr Zeitalter oft mehr irre leite und in die unglückliche Verwirrung stürze als wirklich aufkläre und in der Wahrheit erhalte, lehrt die Erfahrung und die Geschichte auch unsers Zeitalters«.13 Nach Schlegels Ansicht haben die Philosophen seiner Epoche durch ihre gegenseitigen Streitigkeiten, das Edelste, was es bei Menschen gibt, in Misskredit gebracht, nämlich »das Streben nach Erkenntnis und die Erforschung der Wahrheit«.14 Philosophen haben oft gegen ›die Würde der Sprache‹ durch ihre abstrakten Begriffe gesündigt, die die Dichter und Schriftsteller und immer wieder mit ihrer sprachlichen Kreativität bereichert haben. In der Hinsicht vertritt Schlegel die Ansicht, dass man die Rolle der Literatur in der Erziehung der Bürger und für das geistige Leben nicht weiterhin geringschätzen sollte. Die Gebundenheit von Geist und Sprache, wie sie sich im literarischen Schaffen manifestiert, bleibt für Schlegel eine hervorragende Sache des Nachdenkens und Ergründens. Schlegel spricht von der »ursprünglichen Würde der Sprache«, die wir in den literarischen Kunstwerken erkunden.15

10 Ebd.

11 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, XI. Schlegel, KFSA 7, 127. 13 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, 9. 14 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, 10. 15 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, 13. 12 

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Schlegels Wende zum vielfältigen Reichtum der europäischen Kultur war ein Schritt des verantwortlichen Kunsttheoretikers und Kritikers, der sich damit als anerkannter Kulturforscher in fast allen Bereichen der Geisteswissenschaften erweisen sollte – mit dem eindeutigen Zweck, die Fülle und den Reichtum der europäischen Kultur zu recherchieren und ihre Relevanz für die Epoche der Moderne zu ergründen und zu beurteilen. Literatur wird in den Wiener Vorlesungen (1812) zum »Inbegriff aller intellectuellen Fähigkeiten« erhoben.16 Platon und Homer haben als Dichter und Philosoph mehr erobert als die größten Politiker und Heerführer der Geschichte.17 Der tiefe Gegensatz zwischen der verkündeten Versprechung und der durchgeführten Praxis der Französischen Revolution, war ein Anlass, dass Schlegel in den Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur als primäres Ziel aufgestellt hat, »der großen Kluft« entgegenzuwirken, »welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt«18. Die Hinwendung zur kulturellen Lebenswelt der europäischen Geistesgeschichte bedeutet zugleich eine Distanzierung von den Grundlinien der Philosophie des Deutschen Idealismus. Während im ersten Band der Zeitschrift Europa »der Idealismus als die wesentliche Bedingung sine qua non, als Erhaltungsmittel und Grundlage unserer neuen Literatur«19 betrachtet wurde, wird in den Kölner Vorlesungen diese bedeutende philosophische Formation der Moderne als System betrachtet, das den Menschen in »absolute Einsamkeit« führt und daher unter allen philosophischen Systemen »am meisten Furcht erregt.«20 Bei der Analyse der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte in den frühen Wiener Vorlesungen nehmen Lessing und Fichte als prominente Vertreter des Protestantismus besondere Rollen an. Lessing als Begründer der Kritik »hat in einem gewissen Sinne das beschlossen, was durch Luther begonnen war; er hat den deutschen Protestantismus bis zu Ende durchgeführt«.21 Fichte wird beispielsweise als »wissenschaftlicher Selbstdenker nach dem protestantischen Princip der Freiheit«, der »als unbedingter Idealist und vollendeter Protestant jenen Gipfel erreicht hat, der auf diesem Wege nun nicht weiter überschritten wer16 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, XIV. Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, 17. 18 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, VII. 19  Schlegel, KFSA 3, 7. 20  Schlegel, KFSA 12, 151. 21 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 296. 17 Schlegel,

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den konnte«.22 Fichte wird wegen der Fehlentwicklung der kantischen Philosophie getadelt, weil er »in seinem eigenen Ich den Punkt des Archimedes gefunden zu haben glaubte« und versuchte demzufolge »die Welt in Bewegung zu setzen und das Zeitalter völlig umzukehren«.23 Immerhin würdigt Schlegel Fichte zusammen mit Schiller wegen seiner kritischen Distanz zur Französischen Revolution. Hinsichtlich der Analyse der postrevolutionären Zeit im Europa bemerkt Schlegel, dass es äußerst schwierig ist, »eine Zeit zu verstehen, der man selbst angehört«.24 Über eigenes revolutionäres Engagement redet er nicht, aber bedauert, dass viele Intellektuellen in dem Zeitalter unkritisch befangen waren. Der besondere Verdienst Schillers war, dass er das Versagen und Misslingen der Französischen Revolution durchblickt und die kantische Idee der Kultivierung des Menschen aktualisiert hat. Nach Schillers Urteil kann man echte Freiheit erst durch die ästhetische Bildung des Menschen erreichen, indem der Mensch seine tierische Natur zur zweiten moralischen Natur transformiert hat. Schlegel meint, dass Kants Philosophie die Epoche nach der Französischen Revolution am entschiedensten beeinflusst hat. Aus dem ›inneren Kampfe‹ mit den chaotischen postrevolutionären Folgen sind nach Schlegels Urteil ›die vortrefflichsten Werke‹ der deutschen Literatur entstanden, wie beispielsweise Schillers Dramen, Räuber, Don Carlos, Wallenstein-Trilogie, Goethes Faust und andere klassische Werke. Schlegel, der in der Frühphase seines Schaffen das Interessante, Individuelle und Charakteristische zum Prinzip des künstlerischen Schaffens gemacht, begrüßt nun die Rückkehr des Schönen in der Kunst und Sprache. Schlegels Absicht in den Vorlesungen Geschichte der alten und neuen Literatur war ferner, die miserable Situation der Abstraktheit der mechanistischen Welt- und Menschenkonzeption aufzuheben. Er wandte sich entschlossen gegen den materialistischen Reduktionismus der französischen Aufklärungsphilosophie, in der »der Mensch selbst fast zur Maschine geworden«25 ist. Kants wertvoller Verdienst bestand nach Schlegels Urteil darin, dass seine kritische Philosophie nicht reduktionistisch verfahren hat, sondern sich dem atheistischen Geiste und Einfluss der neueren französischen Literatur und Philosophie wider22 Ebd.

23 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 305. Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 306. 25  Schlegel, KFSA 7, 76. Hier kritisiert Schlegel ähnlich wie Kant die biologistische Konzeption des Menschen von Julien Offray de Lamettrie. 24 Schlegel,

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setzt hat. Schlegels Einwand gegen Kant war, dass seine Terminologie durchaus abstrakt war, er operierte mit den »todten Begriffen vom Raum und Zeit«, seine kritische Philosophie »schlägt sich dann immer zwischen seinem eigenen Ich und der äußeren Sinnenwelt«, was an sich ein Spezifikum der Philosophie seit Descartes ist.26 Es ist eigentlich ein Paradox, dass nach Schlegels Urteil das größte Verdienst der kantischen Philosophie in der Einsicht bestand, »daß die Vernunft in sich selbst streitend ist und an und für sich leer und ohne Inhalt ist«.27 Die postkantischen Philosophen in Deutschland haben diese scharfsinnige Leistung nicht anerkannt, sondern die Vernunftphilosophie in zwei Richtungen weiterentwickelt: »als Kunstwerk der Ichheit, und als unbedingte Weltwissenschaft«.28 Schlegel hat »diese Hauptformen des Irrtumes, die aus Kantischen Philosophie hervorgingen«, nämlich Fichtes Wissenschaftslehre und Schellings Naturphilosophie nicht genauer analysiert.29 In seiner berühmten Jacobi-Rezension (1812) hat Schlegel eine Wende von der Vernunft, die er als ›ratio‹ gedeutet hat, zum Verstand (intellectus) unternommen. Die Fähigkeiten des Intellekts sollen ergründet werden, weil er uns »das Höhere, das Frühere und Ursprünglichere« zu ergründen vermag, während »Vernunft nichts als der in der Ichheit befangene, in den leeren Ungrund verirrte Verstand« ist.30 Unmittelbar mit der Vernunftkritik ist auch Schlegels Zweifel an der Universalität der wissenschaftlichen Methode gekoppelt. Schlegel lehnt nämlich die seit der Aufklärungszeit übliche Tendenz ab, Philosophie nach den szientifischen Kriterien zu gestalten. In seinem 1808 veröffentlichten Fichte-Aufsatz kritisiert er Bacons wissenschaftliche Methode des neuen Organons, die Kant fortgesetzt hat. Dies hat zur Folge, dass »der Einfluß und das glänzende, aber unpassende Beispiel der Mathematik und der Physik den spekulativen Geist, der ersten Wirkung nach, mehr überfüllte als bereicherte«.31 Mit der Distanznahme von der Vernunft- und Methodenlehre ergründet Schlegel gleichfalls, wie eine »Rückkehr aus den durch Kant veran-

26 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 309f. Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 310. 28 Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 312. 29 Ebd. 30  Schlegel, KFSA, Bd. 8, 456. 31  Schlegel, KFSA, Bd. 8, 84. Kant befasst sich in der Kritik der reinen Vernunft mit der Frage, wie Metaphysik »den sicheren Gang einer Wissenschaft« nehmen soll (Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, 22f., B XVIIIf.). 27 Schlegel,

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laßten Irrtümer[n]« möglich ist.32 Es ist beachtenswert, dass Schlegel einen Lösungsvorschlag in der Philosophie von Friedrich Hardenberg Novalis sieht, weil seine hinterlassenen Dichtungen und Fragmente in sich einen Samen enthalten, der uns Anregungen geben kann, wie »zu dem einen Ziel der wahren Liebe und der wahren Erkenntnis« anzukommen ist.33 Schlegel hat eingesehen, dass auch in Schellings Spätdenken ein Abschied von der Vernunftphilosophie stattgefunden hat. Leider haben die meisten Leute »von Schelling nur das schnelle Weltconstruiren und ein dynamisches Spielen mit allerley immer veränderten Natursystemen, sich angeeignet: an der neuen Entwicklung und ganz veränderten Richtungen in seinem Innern, werden wohl nur wenige den wahren Anteil nehmen«.34 Schlegel hat in den frühen Wiener Vorlesungen durch seine Kritik der abstrakten Vernunftphilosophie keineswegs einen Abschied von der Vernunft unternommen, sondern versucht aufzuzeigen, dass seit der Aufklärung eine Berufung auf abstrakte Vernunft eine Menge »bedeutungsleerer Lebensformen«35 hervorgebracht hat, die nach Schlegel keine Relevanz für Geistes- und Kulturgeschichte einer Nation haben. Wenn Tiefe und Fülle der Vernunft mit Einbildungskraft und Fantasie beziehungsweise mit der Kreativität des Willens verbunden wird, entstehen nach Schlegels Ansicht neue Möglichkeiten für die Kunst und Literatur. Schlegel betrachtet Dante als gelungenes Beispiel, wie einen Künstler, der »Stifter und Vater der modernen Poesie« genannt wird,36 Religion, Kunst und Philosophie zu »eine[r] Art von Mythologie, wie sie damals möglich war« zu vereinigen und zu bilden vermochte.37 Ähnlich wie Dantes Poesie durch die Distanznahme von der scholastischen Tradition eine poetische Ganzheit des Heilskosmos hervorgebracht hat,38 meint Schlegel, dass ein analoger Weg in der deutschen Geistesgeschichte möglich sei, durch die Distanzierung von der abstrakten Vernunftphilosophie den Geist für die Tiefe der Kreativität anzuregen. In den Wiener Vorlesungen bewertet Schlegel Dantes Poesie als »Inbegriff der gesamten christlichen Bildlichkeit und Sinnbildlichkeit«, als Prototyp der romantisch-christlichen Poesie, die einen mythologischen 32 Schlegel, 33 Ebd.

34 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 313.

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 322. Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 2, 329. 36  Schlegel, KFSA 2, 297. 37  Schlegel, KFSA 2, 327. 38  Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1961, 231–234. 35 Schlegel,

Vernunftkritik in Schlegels Wiener Vorlesungen (1812)

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Spiegel der unsichtbaren Welt künstlerisch thematisiert. Dante ist es durchaus gelungen »die alte heidnische Mythologie neu zu beleben und christlich zu deuten.«39 Dante war nämlich Lieblingslektüre im Kreis der Jenenser Romantiker zu dem neben Friedrich Schlegel und Dorothea Veit auch August Wilhelm und Caroline Schlegel, Tieck mit seiner Frau, aber auch Schelling gehörten. Zehn Jahre nach seiner Konversion zum Katholizismus behauptet Schlegel in einer nachgelassenen Notiz (1818), dass er in der ersten Epoche seiner Philosophie »davon durchdrungen war, die Philosophie müsse kritisch seyn – aber in einem ganz anderen und viel höheren Sinne als bei Kant«.40 Es handelt sich bei ihm um eine »lebendige Kritik des Geistes« die nach Schlegels Urteil »überall siegreich durchdrungen und anerkannt worden« ist. »Was darin einzig fehlte, ist der geistige Mittelpunkt der Erleuchtung und des Glaubens, den ich jedoch frühzeitig anfing zu suchen. Üebrigens ist diese Kritik allerdings ›ein Licht, welches sich selbst erleuchtet,‹ und Ueberzeugung unmittelbar gewinnt, ohne Demonstration«.41 Demonstration bleibt als Form des verrechnenden Denkens, das sich auf abstrakte logische Prinzipien stützt. Die eigentliche Intention der Schlegelschen Wiener Vorlesungen ist, den Grundgedanken der Kölner Vorlesungen fortzusetzen, und dabei nachzuweisen, dass die eigentliche Quelle »aller Schwierigkeiten und Irrtümer der ganzen Philosophie« in der Verdinglichung der Vernunft liegt.42 Es ist »der Begriff des Dinges, der Substanz« der Vernunft.43 Das permanente Insistieren der Philosophen auf dem Beharrlichen, Unveränderlichen in der europäischen Philosophie bleibt die eigentliche Achillesferse der traditionellen Metaphysik, die nach den allgemeinen Prinzipen fragt und die Frage des faktischen Lebens dabei ausklammere. Sowohl die griechische als auch scholastische Ontologie hat sich auf das »Wesen des Dings« fokussiert: »Mit dem Begriffe des Dings (ens) steht und fällt die ganze scholastische Philosophie.«44 Die äußerste Abs­traktion wurde durch die Anwendung der drei logischen Grundsätze der Identität, des Grundes und des Widerspruches, die eigentlich auf dem ›Begriff des Dinges‹ beruhen, erreicht. 39 Schlegel,

Geschichte der alten und neuen Literatur, Bd. 1, 11. Schlegel, KFSA, Bd. 19, 346, Nr. 296. 41 Ebd. 42  Schlegel, KFSA, Bd. 12, 305. 43 Ebd. 44  Schlegel, KFSA, Bd. 12, 248f. 40 

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Jure Zovko

Der moderne Idealismus hat wenig zur Befreiung von der Verdinglichung beigetragen. Obwohl die prominenten Vertreter des Idealismus Dasein und Realität nur im Leben, in der Freiheit und in der Tätigkeit suchen, behauptet Schlegel, dass alle Idealisten »die ältesten und die neusten, von Heraklit bis zu Fichte […] doch eine Art des Beharrlichen, nämlich Gesetze« bestehen lassen.45 Das Positive an Kants Philosophie ist, dass sie vom Skeptizismus ausgeht und bestreitet, dass die Vernunft als das höchste Vermögen in uns, das Übersinnliche, Unendliche erkennen kann. Aber in der Theorie des Verstandes, die den eigentlichen Kern der kantischen Philosophie darstellt, kommen die Dinge an sich wieder ins Spiel, und zwar dadurch, dass sie Vorstellungen ermöglichen, die sie in uns erwirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Kants Lehre von den Formen und Gesetzen, die unsere Moral begründen, ist nach Schlegels Ansicht »sehr lose und willkürlich«,46 aber in ihrer Struktur sei sie eine Modifikation des Dingprinzips und könne als solche unsere vielfältige ethische Praxis keineswegs begründen. Ein nachgelassenes Fragment von 1805 ist ein Beleg dafür, dass Schlegel seine »kritische Position« sehr früh in Frage gestellt und eine Wende zur »positiven Philosophie« vollzogen hat: »Eine gründliche Kritik der Vernunft dürfte grade auf das entgegengesetzte Resultat führen als die Kantische; nicht dass die transcendente Idee ein Schein sei, der aus der Natur der menschl[ichen] Vernunft entspringe; sondern dass sie als über die menschl[iche] Vernunft hinausgehend, ihr durch Offenbarung mitgetheilt, von ihr sehr bald misverstanden sei.«47 Paradoxerweise wird weiterhin die Skepsis zum Vehikel des im Mystizismus fundierten Philosophierens genommen, die einst das eigentliche Organon der Kritik war: »Den eigentl[ichen] Wendepunkt der φσ [Philosophie] machen diejenigen Skeptiker, welche zugleich Mystiker waren, und Glauben und Offenbarung empfahlen«.48 Die philosophische Skepsis bleibt die eigentliche Alternative zu dieser Form der Verwissenschaftlichung der philosophischen Methodologie.49 Schlegels vernichtende Kritik an dieser logozentrischen Denkart 45 

Schlegel, KFSA, Bd. 12, 310. Schlegel, KFSA, Bd. 12, 290. 47  Schlegel, KFSA, Bd. 19, 46, Nr. 49. 48  Schlegel, KFSA, Bd. 19, 49, Nr. 74. 49  Eine Ähnliche Konzeption der Philosophie vertritt Odo Marquard. Philosophie ist nach seinem Urteil hermeneutische Skepsis, die einen Abschied vom Prinzipiel46 

Vernunftkritik in Schlegels Wiener Vorlesungen (1812)

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wird in einem geistreichen Aperçu besonders zugespitzt: Die Schlange im Paradies habe »den ersten Syllogismus gemacht«.50 Am Anfang seiner Geschichte hat der Mensch eine Neigung gezeigt, sich vom Leben und »Baum des Leben[s]« durch das abstrakte Denken der Logik und der leeren Vernunft verführen zu lassen. Im Gegensatz zu dieser abstrakten Denkweise sollte die »positive« Philosophie »das Wirkliche vor dem Notwendigen« präferieren und »statt des leeren, unbestimmten Seins nur das lebendige, wirkliche Dasein« zum Ausgangspunkt und eigentlichen Ziel des Philosophierens nehmen.51 Es ist Zeit, wenn Schlegel den ersten Schritt in diese Richtung gemacht hat, eine Neubegründung der Philosophie aus der Tiefe der Offenbarung durchzuführen. In seiner Rezension der Schrift von Johann Gottlieb Rhode Über den Anfang unserer Geschichte und die letzte Revolution der Erde (1819) deutet Schlegel die berühmte Exodusstelle (3,14), in der Gott für sich behauptet »Ego sum qui sum« als »Leben und lebendiges Dasein«. Im hebräischen Ausdruck »Ehjeh ascher ehjeh« sieht Schlegel primär ein zukunftsbezogenes Verhältnis: »Ich bin, der ich sein werde«. Dieser Gottesname bedeutet für Menschen, dass Gott »da ist und offenbar ist«, »da war und sein wird; nicht seiend überhaupt im unbestimmten, allgemeinen Sein, sondern daseiend, d. h. sich offenbarend«.52 In den nachgelassenen Heften Zur Philosophie und Theologie aus derselben Zeit wird erläutert, dass Gott »da-seiend« ist, wenn er dem Menschen gegenüber steht und sich ihm als sein »ursprüngliches Du« offenbart.53 Die Sprache erweist sich dabei als das eigentliche Medium der Begegnung und als Ausgangspunkt des Philosophierens. Zu Gott soll man sich nicht durch abstrakte Reflexion verhalten, sondern durch die lebendige Erfahrung im gesprochenen Wort. In seinem Essay Von der wahren Liebe Gottes und dem falschen Mystizismus (1819) behauptet Schlegel, dass in einer ›positiven‹ Philosophie ›nicht in abstrakter sondern in lebendiger Sprache‹ zu philosophieren sei, damit man ›zu einer lebendigen Erkenntnis Gottes und der Fülle des Lebens‹ gelangen kann.

len nehmen und als Replik auf unsere Tradition aus der Perspektive unserer Endlichkeit fungieren soll. Vgl. Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 11–29; 72–101. 50  Schlegel, KFSA, Bd. 19, 300, Fr. 41. 51  Schlegel, KFSA, Bd. 19, 343, Nr. 279; vgl. auch KFSA, Bd. 8, 594. 52  Schlegel, KFSA, Bd. 8, 499. 53  Schlegel, KFSA, Bd. 19, 300, Nr. 38. Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts ›Relevanz der hermeneutischen Urteilskraft‹ geschrieben, das durch »Croatian Science Foundation« finanziert wurde.

PERSONENVERZEICHNIS

Agamben, Giorgio  279 Aristoteles  132–134, 149, 151, 158, 164, 172, 178, 264 Augustin   154, 159 Bacon, Francis  389 Bardili, Christoph Gottfried  100, 117, 120, 128 Benjamin, Walter  384 Bretschneider, Karl Gottlieb  353 Brinckmann, Gustav von  352 Burckhardt, Jacob  166 Claudius, Matthias  16 Creuzer, Georg Friedrich  148, 182 Cohn, Jonas  368 f., Cotta, Johann Friedrich  49, 182, 198 Dante, Alighieri  390 f., Descartes, Rene   221, 230 f., 341, 389 Eberhard, Johann August  132, 135 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 181 Empedokles 164 Epikur  145, 149 Erhard, Johann Benjamin  74 Fichte, Johann Gottlieb  1–4, 9, 13, 17–19, 31, 48, 51–53, 57–66, 68 f., 71–97, 99–110–117, 120, 129, 145, 187 f., 204–209, 218, 221 f., 267, 270, 280, 292, 387–389, 392 Forberg, Friedrich Karl  48 Forster, Georg  23 Franklin, Benjamin  334 Frege, Gottlob  130 f., 138

Gans, Eduard  306 Gerhardt, Volker  7, 8, Goethe, Johann Wolfgang  181 f., 184, 193, 306, 388 Habermas, Jürgen  8 Hamann, Johann Georg  126 Hardenberg, Friedrich von (Novalis)  1, 82, 94 f., 390 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  1 f., 5, 48, 75 f., 99, 129, 135–137, 144, 148, 163, 172, 187, 199–204, 206, 208–212, 215–221, 223, 225–229, 233 f., 236, 239–270, 272 f., 275 f., 278–289, 291–315, 317–328, 332–334 f., 367, 369 f., 372, 378–381 Heidegger, Martin  267 f., 276 Henrich, Dieter  296 Heraklit  162, 165, 277, 373, 392 Herder, Johann Gottfried  131, 139 Hinrichs, Hermann Friedrich Wilhelm  199 f. Hölderlin, Friedrich  75–79, 95 Homer 387 Hösle, Vittorio  300, 304, 324, 327 f. Humboldt, Wilhelm von  285 Ilting, Karl-Heinz  297 Jacobi, Friedrich Heinrich  1, 2, 3, 4, 6, 9–35, 40 f., 44–49, 52, 62, 71 f., 78 f., 103, 117, 125, 140, 144 f., 148–151, 156, 166, 178, 260–262 Jesus  151, 285, 361–363 Jonas, Ludwig  367

396

Personenverzeichnis

Kant, Immanuel  1–3, 6 f., 10, 13, 16–18, 20, 23, 28, 31 f., 43, 51–62, 64, 66 f., 72–74, 78–80, 82, 84–86, 92, 97–102, 111, 115, 117, 119 f., 127, 129, 131, 135, 145 f., 149, 157, 178, 187 f., 204, 217, 225, 227, 230 f., 159 f., 264–268, 273, 275 f., 280, 283, 288, 291 f., 302, 337, 339, 371 f., 374 f., 383, 388 f., 391 f. Kiesewetter, Johann Gottfried  59 Koselleck, Reinhart  2 Krug, Wilhelm Traugott  259 Lacan, Jacques  279 Lasaulx, Ernst von  144 Leibniz, Gottfried Wilhelm  125, 128, 140, 171, 266 f., 287 Lessing, Gotthold Ephraim  9, 12, 31, 387 Levi-Strauss, Claude  279 Liebrucks, Bruno  273, 278 Litt, Theodor  317 Locke, John  124 f., 130 Ludwig I. von Bayern  144 Luther, Martin  126, 259, 387 Mendelsssohn, Moses  2 f., 31, 71 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von   383 Michelet, Carl Ludwig  294, 304, 312 f., 317, 319, 322, 332, 367 Mohammed 362 Mozart, Wolfgang Amadeus  333 Müller, Adam  385 Nagel, Thomas  179 Newton, Isaac  171 f. Nicolai, Friedrich  100 Nietzsche, Friedrich  303 Oetinger, Friedrich Christoph  165 Pannenberg, Wolfhart  260 Parmenides  230, 234, 277, 373

Paulus  151, 165, 173, 178 Platon  133, 144–146, 151, 154, 157–159, 161 f., 164–169, 172, 178 f., 186, 233 f., 387 Pleger, Wolfgang Hagen  368 Plotin  164 f. Puntel, Lorenz Bruno  301, 320, 324 Reinhold, Karl Leonhard  4, 6, 51, 74, 117–141, 207, 216, 221 Rhode, Johann Gottlieb  393 Ringier, Johann Rudolf  296 Ritter, August Heinrich  367 Rousseau, Jean-Jacques  175 Sankaulen, Birgit   23 Sartre, Jean-Paul  309 Saussure, Ferdinand de  137 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  1–6, 9–23, 25–27, 29–48, 62, 77–79, 90, 99 f., 103, 111, 120, 129, 133, 143–176, 178–206, 208–223, 267, 273, 389–391 Schelling, Karl Friedrich August  35, 143 Schiller, Friedrich  74, 388 Schlegel, August Wilhelm  391 Schlegel, Caroline  391 Schlegel, Friedrich  1, 3, 5 f., 337, 368 f., 378 f., 383–393 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  1, 5 f., 337, 339–373, 375–381 Schmitt, Carl  292 Sokrates  149, 151 Spinoza, Baruch de  9 f., 16–19, 26, 41, 44, 47, 52, 71–86, 88–93, 96, 167 f., 180, 234, 241 f., 247, 261 Strauß, David Friedrich  295 Strawson, Peter  225 Tetens, Holm  7 f. Theunissen, Michael  226 Tieck, Ludwig  391

Personenverzeichnis Veit, Dorothea  391 Voigt, Christian Gottlob von Wagner, Falk  367 Wagner, Johann Jacob  217  Wandschneider, Dieter  300

397

Weber, Fritz  368 Weber, Max  20 Weizsäcker, Carl Friedrich von   328 Weißhuhn (Weisshuhn), Friedrich August  74 f., 83