Systembegriffe um 1800–1809. Systeme in Bewegung: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus Band IV 9783787335404, 9783787335398

Der vierte Band der Reihe nimmt die Entwicklung der Systembegriffe nach 1800–1809, fokussiert auf das Thema ›Systeme in

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German Pages 388 [399] Year 2018

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Systembegriffe um 1800–1809. Systeme in Bewegung: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus Band IV
 9783787335404, 9783787335398

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System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 4

SYSTEM DER VERNUNFT KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Jürgen Stolzenberg Violetta L. Waibel Band 4

Kant-Forschungen Band 24

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

S Y S T E M B E G R I F F E U M 1800–1809 SYSTEME IN BEWEGUNG Herausgegeben von

violetta l. waibel christian danz und jürgen stolzenberg

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-3539-8 ISBN eBook 978-3-7873-3540-4 © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT Vorwort Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg Einleitung: Systeme in Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. FICHTE: DIE WISSENSCHAFTSLEHRE NACH 1800 Günter Zöller »Ein ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim ­ mittleren Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Daniel Breazeale Expanding the Wissenschaftslehre 1799–1802. Strategic Makeover or Neubau?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Stefan Lang Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 . . . . . . . . . . . . . . . 59

II. SCHELLING: VOM SYSTEM ZUM UNGRUND Hans Feger Der »Sinn, mit dem diese Art der ­Philosophie aufgefaßt werden muß!«. Zur Problematik des Systemabschlusses in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800). . . . . . . . . . . . . . . . 81 Christian Danz Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809. . . . . . . . . . 97

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Inhalt

Peter Gaitsch ›Philosophielogische‹ Potenziale in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801). . . . . 117 Philipp Schwab Von der Negativität zum Ungrund: Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift  . . 131

III. HEGELS JENAER SYSTEMEXPERIMENTE Klaus Erich Kaehler System, Subjekt und die Idee der absoluten Wissenschaft bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Violetta L. Waibel Hegels Begriff der Substanz 1804/05 in Absetzung von Kant, Fichte und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Othmar Kastner Die Anerkennung der Arbeit. Bemerkungen zu Hegels praktischer Philosophie ­ausgehend von der Philosophie des Geistes von 1805/1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

IV. HEGEL: DAS WERDEN DES SYSTEMS Jean-François Kervégan Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Jörg Dierken Selbstkonstruktion des Absoluten und ­Spannungen im System. Hegels Systemkonzept im Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Holger Gutschmidt ›Ich‹ als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken. . . . 283

Inhalt

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V. JACOBI UND REINHOLD NACH 1800 Birgit Sandkaulen System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Martin Bondeli Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme für ein System des Rationalen Realismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

VI. SCHLEGEL UND SCHLEIERMACHER: DIE SYSTEMKONZEPTION IN DER ROMANTIK NACH 1800 Jure Zovko Friedrich Schlegels Theorie des Bewusstseins in den Kölner Vorlesungen 1804/05. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Andreas Arndt Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers Grundlinien einer ­Kritik der bisherigen Sittenlehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Ulrich Barth Schleiermachers Systemgedanke und der Deutsche Idealismus. . . . 369

PERSONENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

VORWORT

Mit diesem Band liegt der vierte der Reihe »System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus« vor. Die Bände dokumentieren die Ergebnisse von Internationalen Tagungen, die seit 1997 an der Universität Wien stattfinden. Die Reihe verfolgt das Ziel, das mit Kants System einsetzende, durch die nachkantischen Denker vorangetriebene, äußerst dichte Aufkommen von philosophischen Systembildungen in diachroner und synchroner Perspektive zu untersuchen. Während der erste Tagungsband dem Verhältnis von Architektonik und System in der Philosophie Kants gewidmet ist, geht der zweite Band den Systemkonzeptionen im Frühidealismus im Verhältnis zur Systematik Kants nach. Der dritte Band untersucht die unterschiedlichen Systembegriffe um 1800. Der vorliegende vierte Band der Reihe nimmt die Entwicklung der Systembegriffe nach 1800–1809, fokussiert auf das Thema ›Systeme in Bewegung‹, in den Blick. Es ist die Dekade, in der Fichte seine letzten Fassungen der Wissenschaftslehre vorträgt, Hegel seine Systemkonzeption ausarbeitet und Schelling bereits seine letzte Publikation zum Druck bringt. Jacobi und Reinhold, in unterschiedlicher Weise maßgeblich bestimmend in der frühen nachkantischen Debatte, werden mit ihren neueren Werken deutlich weniger beachtet. Schleiermacher behauptet als Theologe seinen Platz auf der Bühne der Philosophie, und Friedrich Schlegel wendet sich der Sprachphilosophie zu. Die dichten Gesprächszusammenhänge des vorausgehenden Jahrzehnts haben sich verloren, die Protagonisten des Aufbruchs von ehedem gehen separate Wege. Gleichwohl – das Denken im Horizont von Systemkonzeptionen, das mancherlei Kritik erfuhr, wird weiterbewegt. Wo der Gesprächsfaden nicht fortgeführt wird, erlauben die gedruckten Werke eine Fortführung der Diskussion und Kritik. Dem genauen Hinsehen zeigen sich Veränderungen in den Gesamtentwürfen, zeigen sich neue Synthesen. Die vielfältigen Bewegungen der Systementwürfe im fraglichen Zeitraum, der Verdichtung hier, der Diffusion dort, werden in den Beiträgen beleuchtet. Die Tagung Systembegriffe 1800–1809 fand vom 8.–11. Februar 2012 im Theatersaal der Akademie der Wissenschaften in Wien statt. Der dama-

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Vorwort

ligen Präsidentin, Sigrid Jalkotzy-Deger, Wien, und Hans Dieter Klein, Wien, sei für die gastfreundliche Aufnahme und die Kooperation mit der Philosophisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sehr herzlich gedankt. Während bei früheren Tagungen dieser Reihe Vorträge und Korreferate durch jüngere Kolleginnen und Kollegen geplant waren, wurde von diesem Konzept dieses Mal abgesehen. Sie wurden eingeladen, ihre eigenen Beiträge zur Diskussion zu stellen. Die Tagung wurde wiederum von der Universität Wien großzügig gefördert. Dekanin Ines Maria Breinbauer, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, sei dafür sehr herzlich gedankt. Stellvertretend für alle anderen, die für das Gelingen der Tagung gesorgt haben, sei Eva Zuccato (1949–2013), die uns viel zu früh verlassen hat, für ihre stets hilfreiche und freundliche Präsenz und Unterstützung genannt. Für die zuverlässige redaktionelle Bearbeitung der Texte haben Max Brinnich, Michael Hackl und Philipp Schaller sowie Gabriele Geml und Anna Maria Kontriner gesorgt. Dem Felix Meiner Verlag sei herzlich für die Aufnahme dieser Reihe in sein Programm und für sein stets freundliches Entgegenkommen und die bewiesene Geduld gedankt. Die Lektoren Horst D. Brandt und Marcel Simon-Gadhof haben auch diesen Band mit der bewährten Umsicht und vertrauensvollen Unterstützung betreut. Wien und Halle, im April 2018  

Violetta L. Waibel Christian Danz Jürgen Stolzenberg

Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg Einleitung: Systeme in Bewegung Systembegriffe um 1800–1809 Die Auffassung von Philosophie als geschlossenem System ist zu einem Topos in der Darstellung der Wirkungsgeschichte der Philosophie Kants und der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant geworden. Gegen solche Fixierungen haben sich die Phänomenologie und die Philosophie der aktuellen Gegenwart mit Erfolg gewendet. Ziel der Beiträge des vorliegenden Bandes ist es, vor diesem Hintergrund diejenigen Aspekte herauszuarbeiten, die den Wandel der Systembildungen in der Zeit um 1800 bis etwa 1809, dem Jahr der Veröffentlichung von Schellings Freiheitsschrift, deutlich werden lassen. Hierbei werden die latenten oder manifesten Debatten hinsichtlich der Begründung und Entwicklung eines Systems der Philosophie zum Thema gemacht. Darüber hinaus wird die Frage der Aktualität der nachkantischen Systementwürfe für die gegenwärtige Diskussion erörtert.

1. Fichtes Wissenschaftslehre nach 1800 Die erste Abteilung des vorliegenden Bandes widmet sich der Entwicklung von Fichtes Wissenschaftslehre nach 1800. Günter Zöller reflektiert in seinem Beitrag »Ein ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte zunächst im Allgemeinen die eigentümliche Dynamik der nachkantischen Systeme, um sodann die Systembewegung Fichtes in den Jahren 1800 bis 1807 im Rückgriff auf die zeitgenössische organische Modellierung der systematischen Philosophie zu thematisieren. Zöllers pointierter Blick auf die Bewegung philosophischer Systeme erfolgt unter der Perspektive der Theorie der Emergenz in der Biologie des späten achtzehnten Jahrhunderts. Ausgang dafür ist Kants Teleologie und ihre Rezeption bei den Nachkantianern. Zöller untersucht die Bewegungen der Systeme der Klassischen Deutschen Philosophie sowohl hinsichtlich ihrer Entwicklung als auch hinsichtlich ihrer konkurrierenden Verhältnisse untereinander. Schließlich arbeitet er die Systembewegung des mittleren Fichte mit den Mitteln der epigenetischen Auffassung von organischer Entwicklung heraus.

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

Daniel Breazeale sucht in seinem Beitrag Expanding the Wissenschaftslehre 1799–1802: Strategic Makeover or Neubau? zur Klärung einer Frage beizutragen, die sich die Fichte-Forschung immer wieder vorgelegt hat. Fichte selber war bekanntlich der Meinung, er habe ein Leben lang an der einen Wissenschaftslehre gearbeitet, während ein Teil der FichteForschung einen bedeutenden Unterschied zwischen dem frühen und dem späten Werk sieht. Breazeale will diese Debatte nicht entscheiden, arbeitet aber eine Reihe von signifikanten Veränderungen in einigen der Schriften Fichtes aus der fraglichen Zeit heraus, die sich der Auseinandersetzung mit Kritikern der Wissenschaftslehre, allen voran Schelling, verdanken. Breazeale konstatiert, dass in das vorige transzendentalphilosophische System transzendente Elemente aufgenommen werden, die manchen zeitgenössischen Leser der erst posthum veröffentlichten Wissenschaftslehre von 1801/02 überrascht haben. Der Beitrag von Stefan Lang beschäftigt sich mit Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804. Hier erkennt der Autor einen systematischen Schwerpunkt in Fichtes Wissenschaftslehre, der in besonderer Weise erlaubt, die systematische Fortführung, Änderung oder Umkehr, und damit die Bewegung des Systems der Wissenschaftslehre zu beurteilen. Lang verteidigt die mit Akribie ausgeführte These, dass Fichtes Grundlegung der Erscheinungslehre eine performative Theorie des Wissens zugrunde liege. Schließlich wird die Wissenschaftslehre von 1807 in den Blick genommen, um Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der Begründung der Erscheinungslehre im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 und der Wissenschaftslehre von 1807 zu skizzieren.

2. Schelling: Vom System zum Ungrund Der Beitrag von Hans Feger, Der »Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß«. Zur Problematik des Systemabschlusses in Schellings System des transzendentalen Idealismus, untersucht das Abschlussprob­ lem in Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800. Die von Schelling seinem System zugrunde gelegte Komplementarität von Natur- und Transzendentalphilosophie führt, so Feger, zu einer Transformation des Philosophiebegriffs, da dessen Prinzip aufgrund der Reflexionsdifferenz des Bewusstseins nicht darstellbar ist. Aus diesem Grund kommt das System erst in der Kunst zum Abschluss. Das Wissen, dessen Gegenstand die Kunst ist, hat in der Sicht Fegers den

Einleitung: Systeme in Bewegung

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Charakter »der Offenbarung, da es innerhalb des Wissbaren auf einen Grund der Identität des Selbstbewusstseins verweist, der außerhalb des Wissens liegt«. Christian Danz widmet sich dem Thema Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809. In der Vorrede zum ersten Band seiner Philosophischen Schriften rückt Schelling seine Abhandlung über die menschliche Freiheit in einen engen Zusammenhang zur Darstellung meines Systems der Philosophie aus dem Jahre 1801. Der Beitrag von Danz rekonstruiert diese Selbstdeutung Schellings vor dem Hintergrund der werkgeschichtlichen Entwicklung der Identitätsphilosophie seit 1801 und versucht zu zeigen, dass die Abhandlung von 1809 in der Tat als ideeller Teil derjenigen Systemkonzeption verstanden werden kann, dessen realphilosophischer Teil in der Systemdarstellung von 1801 vorliegt. Peter Gaitsch wendet sich in seinem Beitrag ›Philosophielogische‹ Potentiale in Schellings ›Darstellung meines Systems der Philosophie‹ (1801) Schellings Systemkonzeption von 1801 zu und arbeitet im Anschluss an Eric Weil eine Rekonstruktionsperspektive aus, welche deren Architektur erschließt. Die paradoxale Pointe von Schellings Identitätssystem liege darin, dass das als absolute Identität konstruierte Absolute zwar seine Darstellung fordert, jedoch als solches selber nicht dargestellt werden kann. Erst aus dieser Interpretationsperspektive kann Schellings Selbsteinschätzung der Schrift von 1801 angemessen gewürdigt werden. Philipp Schwab geht in seinem Beitrag Von der Negativität zum Ungrund. Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ und Schellings ›Freiheitsschrift‹ den Nachwirkungen von Hegels Schelling-Kritik in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes sowie in der Freiheitsschrift nach. In beiden Werken, so Schwabs These, werde auf unterschiedliche Weise »die Struktur des Absoluten aus einer Theorie der Differenz konzipiert«. Im ersten Teil des Beitrags wird Hegels Konzept der Negativität mit Blick auf Schellings Identitätsphilosophie untersucht, daran anschließend wird Schellings Bestimmung des Gottesgedankens in der Freiheitsschrift als Antwort auf die Kritik seines Jugendfreundes expliziert. Im Unterschied zu Hegel Systemkonzeption werde das Absolute von Schelling allerdings als Entzug gefasst.

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

3. Hegels Jenaer Systemexperimente Der Beitrag System, Subjekt und die Idee der absoluten Wissenschaft bei Hegel von Klaus Erich Kaehler rekonstruiert Stationen des Weges, der zu Hegels Idee eines Systems der Philosophie geführt hat, wie sie in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes formuliert wird. Vor der Folie des Kontrastes zwischen der antiken Auffassung vom Logos als Seiendem, der adäquat nur dem göttlichen Nous zugänglich ist und der neuzeitlichen Auffassung von einer sich selbst begründenden Vernunft lässt sich Hegels Weg zur Idee eines Systems der Philosophie als der Weg verstehen, der, vermittelt über seine Kant- und Fichte-Kritik, zu der Einsicht führt, dass die Vernunft sich selbst als universales Prinzip dessen, was in Wahrheit wirklich ist, begreifen muss. Das bedeutet, dass die Vernunft die Unterscheidungen, die die Sphären des Wirklichen konstituieren, als diejenigen Differenzen begreifen muss, in denen sie sich selber darstellt und realisiert. Die Jenaer Systementwürfe sind als Stufen der Ausarbeitung dieser Idee zu verstehen. Deren Ausdruck ist Hegels Begriff des Geistes, dessen Wirklichkeit die »absolute Wissenschaft« ist. Violetta L. Waibel rekonstruiert in ihrem Beitrag Hegels Begriff der Substanz 1804/05 in Absetzung von Kant, Fichte und Spinoza Hegels Konzep­ tion der Substanz in seinem Jenaer Systementwurf von 1804/05. Offenkundig orientiert sich Hegel hier zu allererst an Kants Kategorie der Substanzialität, gleichwohl steht bereits eine deutliche Dynamisierung der Substanz im Blick, die sich nicht zuletzt auch der Abarbeitung an Fichtes früher Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre verpflichtet weiß. Kant und Fichte entgegen hat Hegel bereits einen Entwurf im Blick, wonach die Vereinzelung der Elemente von der Philosophie überwunden werden müsse zugunsten eines lebendigen Ganzen. Das hat in der Begründung einer echten spekulativen Synthesis zu geschehen; sie muss aus dem Zusammenhang heraus gewonnen werden, in dem die einzelnen Elemente wirken. Die Untersuchung betont Hegels Überlegungen zur Verknüpfung der Substanzialität mit den Modalkategorien in den Systementwürfen von 1804/05, mit denen der von Kant intendierte enge systematische Zusammenhang von Kausalität und Notwendigkeit im System der Grundsätze in ein neues Licht gerückt wird. Gleichwohl zeichnet sich schon hier im Systementwurf von 1804/05 die Konvergenz von Substanz und Subjekt ab, die in der Phänomenologie des Geistes prominent werden wird. Hegels Begriff der Arbeit stellt schon früh eines der systematischen Zentren seiner praktischen Philosophie dar. Er begegnet in den ­Jenaer

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Vorlesungen zur Philosophie des Geistes von 1803/04 und 1805/06, sodann prominent in der Phänomenologie des Geistes und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Beitrag von Othmar Kastner zum Thema Die Anerkennung der Arbeit. Bemerkungen zu Hegels praktischer Philosophie ausgehend von der Philosophie des Geistes von 1805/06 analysiert Hegels Begriff der Arbeit in der Philosophie des Geistes von 1805/06. Hier sind zwei Bedeutungen leitend: Arbeit des Geistes ist für Hegel zunächst die intentionale Tätigkeit der Benennung von Dingen mit Namen. Arbeit ist aber auch das praktische Verhalten, das sich im Erzeugen und Gestalten von Dingen realisiert. Damit wird Arbeit zur Ermöglichung von Freiheit. In dieser Konzeption ist Hegels Kritik der romantischen Auffassung von Freiheit als Freisein von Arbeit begründet, die, wie Kastner deutlich macht, in Eichendorffs spätromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts eine dichterische Darstellung gefunden hat. Auf der Grundlage des aus dem Begriff der Arbeit zu gewinnenden Konzepts der Anerkennung einer Person als arbeitender Person plädiert Kastner am Ende gegen Hegel für die Anerkennung häuslicher Tätigkeiten als Arbeit.

4. Hegel: Das Werden des Systems Von Anfang an war die Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels System der Philosophie nicht eindeutig, und auch Hegels Programm, dass das System der Philosophie die Selbsterkenntnis des Geistes darstellen soll, hat mehrere Interpretationen erfahren. Mit Blick auf die aktuelle Forschungslage geht der Beitrag Die systematische Stellung der ›Phänomenologie des Geistes‹ von Jean-François Kervégan den damit verbundenen systemlogischen Fragen noch einmal genauer nach. Schon früh hat unter anderem der Umstand für Irritation gesorgt, dass Hegel im Geist- und Religionskapitel Teile seiner Philosophie des Geistes aufgenommen hat, was mit der Funktion einer Einleitung kaum vereinbar scheint. Kervégan zeigt, dass sie deswegen integrale Teile der Phänomenologie des Geistes sind, weil sie als »Gestalten des Bewusstseins« defiziente Formen der Geiststruktur sind, deren Wahrheitsanspruch kritisiert und überwunden werden muss. Hegels These, die Phänomenologie sei die Voraussetzung des Systems, sollte in der Sicht Kervégans mit Blick auf ihre Stellung in der Enzyklopädie aufgegeben werden, wenngleich die Aufgabe der Phänomenologie, den Dualismus des Bewusstseins zu überwinden, für Hegel weiterhin relevant geblieben ist.

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Mit Blick auf die oft wiederholte Kritik gegenüber Hegels geschlossenem philosophischen System plädiert Jörg Dierken in seinem Beitrag Selbstkonstruktion des Absoluten und Spannungen im System Hegels. Systemkonzept im Werden für die Vereinbarkeit von systemischer Totalität und einer »Offenheit für Anderes«. Dies geschieht zum einen durch eine Erinnerung an die Grundstruktur von Hegels Geistbegriff, die als »reines Selbsterkennen im absoluten Anderssein« bestimmt ist, zum anderen mit Verweis auf Hegels Konzeption einer prozessualen Rationalität. Beide Aspekte sind in Hegels Begriff eines Systems der Philosophie, wenngleich auf problematische Weise, verbunden. Im Ausgang von Hegels Systemfragment von 1800, das hinsichtlich der Bestimmung des Begriffs des Absoluten den Primat der Religion vor der Philosophie vertritt, aber die Trennung von Reflexion und Leben nicht zu überwinden vermag, erscheint die von Hegel in der Differenzschrift skizzierte Idee einer Selbstkonstruktion des Absoluten und die ihr zugrundeliegende operative Grundfigur einer selbstbezüglichen Negation als Überwindung dieser Problematik. Spannungen ergeben sich indessen aus der unvermittelten Differenz zwischen dem Absoluten und den Formen des Wissens. Auch die Jenaer Systementwürfe gelangen hinsichtlich der Explikation des Absoluten in der Form eines Systems nicht zu einem befriedigenden Ergebnis. Aufgrund der inhaltlichen Leere der absoluten Idee in Hegels Wissenschaft der Logik, in der die Unterschiedenheit des Endlichen nicht mehr erkennbar ist, plädiert Dierken im Anschluss an die Konzeption der Phänomenologie für eine Philosophie des Geistes, die als eine offene Selbstdarstellung des Geistes in den Gestalten von Subjektivität, Sozialität und symbolischer Darstellung zu konzipieren ist. Der Beitrag »Ich« als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer Systemdenken von Holger Gutschmidt geht von dem Befund aus, dass der Einigkeit darüber, dass Hegel in seiner Jenaer Zeit das Projekt einer Theorie metaphysischer beziehungsweise absoluter Subjektivität verfolgt hat, kein Konsens über die Bedeutung zentraler Begriffe wie Subjektivität und Geist und der damit verbundenen Ausdrücke wie Subjekt, Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein und Ich entspricht. Die Verständigung über die vielfältigen Weisen, über Subjektivität zu sprechen, ist daher eine notwendige Bedingung für das Verständnis von Hegels Jenaer subjektivitätstheoretischer Konzeption. Auf der Grundlage einer diesbezüglichen Analyse zeigt Gutschmidt, dass Hegel in den Jenaer Systementwürfen III von 1805/06 mit Bezug auf die Philosophie als letzter und höchster Form der Selbsterkenntnis des Geistes den Aus-

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druck »Ich« verwendet, der eine konkrete, ihrer selbst bewusste Person bezeichnet, die mit dem Wissen des Absoluten identisch ist und dies auch weiß. Im Jenaer Systementwurf III verbindet Hegel die Theorie der Selbsterkenntnis des Absoluten ausdrücklich mit Sachverhalten menschlicher Subjektivität. Das individuelle, seiner selbst bewusste Subjekt erscheint hier zum ersten Mal als diejenige Instanz, die es erlaubt, die Wirklichkeit des Geistes und seiner Selbsterkenntnis auszusagen. Das bedeutet, dass die Selbsterkenntnis des Menschen vollständig nur unter der Form desjenigen philosophischen Systems möglich ist, das Hegel in der Folge entwickelt hat.

5. Jacobi und Reinhold nach 1800 Die zentrale Bedeutung Friedrich Heinrich Jacobis für den Gang der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant ist in der Forschung erst relativ spät erkannt worden. Der Beitrag von Birgit Sandkaulen: System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling bietet einen Einblick in die Debatte zwischen Jacobi, Hegel und Schelling über die Möglichkeit einer philosophischen Theorie der Zeit, insbesondere der Zeitlichkeit der endlichen menschlichen Existenz. Bezugspunkt dieser Debatte ist die Ethik Spinozas und die in ihr entwickelte Theorie der Zeit. Im Ausgang von einer argumentationslogischen Darstellung der verschiedenen Positionen und ihrer Spinoza-Interpretationen sucht der Beitrag zu einer Entscheidung über die Berechtigung der Positionen und ihrer polemischen Bezüge zu gelangen. Dabei zeigt sich zum einen, dass Hegels prominente Jacobi-Kritik in Glauben und Wissen, derzufolge Jacobi das zeitliche Entstehen und Vergehen für etwas an sich Wirkliches halte, was es in Wahrheit nicht sei, ebenso verfehlt ist wie seine Spinoza-Interpretation, die Spinozas Unterscheidung zwischen einer realen, ewigen Existenz der Substanz und der aktualen Existenz der Modi nicht berücksichtigt. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Hegel auch Jacobis eigene Spinoza-Kritik nicht wahrgenommen hat. Zum anderen zeigt sich, dass Hegels verfehlte Jacobi-Kritik und Spinoza-Interpretation Schellings Identitätsphilosophie verpflichtet sind. Unter dieser Perspektive ist es bemerkenswert, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes Schelling mit Argumenten entgegentritt, die denjenigen Jacobis auffallend ähnlich sind. Und wie ein Eingeständnis der Fehleinschätzung von Jacobis Insistieren auf einer selbständigen Begründung der Zeitlichkeit menschlicher Existenz erscheint Schellings

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Violetta L. Waibel, Christian Danz, Jürgen Stolzenberg

späteres Wort, dass die Zeit »der Anfangspunkt aller Untersuchungen in der Philosophie« sei. Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme für ein System des Rationalen Realismus lautet der Beitrag von Martin Bondeli. Von »Systemen in Bewegung« zu sprechen, ist auch mit Blick auf die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds angemessen und sinnvoll. Die Phasen der Bewegung in Reinholds Philosophieren sind die frühe Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, die den Gang der Philosophie nach Kant bekanntlich entscheidend geprägt hat, sodann Reinholds Anschluss an die Fichte’sche Wissenschaftslehre, gefolgt von seiner Sympathie für die Philosophie Jacobis, die durch die Verteidigung von Bardilis Rationalem Realismus in den Jahren nach 1800 abgelöst wird, und schließlich das späte sprachphilosophische Projekt einer Synonymik. Der Beitrag von Martin Bondeli konzentriert sich auf Reinholds Plädoyer für Bardilis Rationalen Realismus. Vor dem Hintergrund von Reinholds philosophischer Entwicklung und mit Blick auf die zeitgenössische Theorielage geht Bondeli unter anderem der Frage nach, wie Reinholds Übergang vom Paradigma des Vorstellens zu dem eines objektiven Denkens, dem sogenannten »Denken des Denkens«, zu beurteilen ist und wie sich dieser Schritt zur Philosophie Kants verhält. Bondeli zeigt, dass hier entscheidende Motive in Reinholds Interpretation der kantischen Ideenlehre auszumachen sind. Reinholds Konzeption, die für den Rationalen Realismus grundlegend ist, der zufolge Denkbestimmungen im Sinne von Hypothesen auf ein normatives Prinzip der Identität von Denken und Sein zurückgeführt werden, ergibt sich aus einer Uminterpretation der regulativen Funktion von Kants Ideenbegriff zu einem als Ideal verstandenen erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Identitätsprinzip. Es ist Ausdruck des Gedankens, dass wahres Wissen sich auf einen Sachverhalt bezieht, der von subjektiven Vorstellungen unabhängig für sich besteht.

6. Schlegel und Schleiermacher: Die Systemkonzeptionen in der ­Romantik nach 1800 Jure Zovko untersucht in seinem Beitrag Friedrich Schlegels Theorie des Bewusstseins in den ,Kölner Vorlesungen‘ 1804/05 die Kritik am Systembegriff, die Friedrich Schlegel in eben diesen Vorlesungen ausgeführt hat, in einer werkgeschichtlichen Perspektive. Diese Vorlesungen, welche in eine Übergangsphase von Schlegels Denken fallen, arbeiten eine

Einleitung: Systeme in Bewegung

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Theorie des Bewusstseins aus, die das faktische Leben in der Vielfältigkeit seiner Formen erkunden soll. Mit diesem Verständnis verbindet sich eine Kritik an der idealistischen Philosophie, deren Systemgedanke wesentliche Motive der am Ding-Gedanken orientierten vorkritischen Ontologie fortschreibt. Aus diesem Grund ersetzt Schlegel das Selbstbewusstsein als Prinzip durch das Selbstgefühl, welches seinen entsprechenden Ausdruck in der Sprache findet. Andreas Arndt rekonstruiert in seinem Beitrag Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers ›Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre‹ Schleiermachers Begriff des Systems vor dem Hintergrund von dessen Reden Über die Religion. Obwohl die Reden keinen Systembegriff explizieren, vertritt Schleiermacher dennoch nicht wie Friedrich Schlegel die These von einer Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit. Erst in den Grundlinien, die rein negativ verfahren, arbeitet Schleiermacher einen Begriff von Systematizität des Systems aus. Dabei bleibt das ideale System der Vernunft auf das reale bezogen, wobei Letzteres allein ideal dargestellt werden kann. In einer umfassenden problemgeschichtlichen Perspektive rekonstruiert schließlich Ulrich Barth in seinem Beitrag Schleiermachers Systemgedanke und der Deutsche Idealismus Schleiermachers Verständnis des Systems in einem dreifachen Zugriff. Zunächst wird Schleiermachers Systemgedanke der Glaubenslehre in die Entfaltung des Systembegriffs seit der altprotestantischen Theologie eingezeichnet. Sodann wird der methodische Systembegriff der Dialektik sowie der Philosophischen Ethik vor dem Hintergrund der Kontroversen über die Begründung und Entfaltung der Systeme bei Kant, Reinhold und Fichte untersucht. Auf dieser Grundlage arbeitet Barth schließlich drittens die These aus, dass Schleiermachers dogmatische Beschreibung des christlichen Bewusstseins in der Abfolge von Christologie, Soteriologie und Pneumatologie als Übertragung von Fichtes Auffächerung des Prinzipiengedankens der frühen Wissenschaftslehre zu verstehen sei.

I. FICHTE: DIE WISSENSCHAFTSLEHRE NACH 1800

Günter Zöller »Ein ewiges Werden«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim ­mittleren Fichte Die Systeme scheinen, wie Gewürme, durch eine generatio aequivoca, aus dem bloßen Zusammenfluß von ­aufgesammelten Begriffen, anfangs ­verstümmelt, mit der Zeit vollständig, ­gebildet worden zu sein [...].1

Der Beitrag erörtert die eigentümliche Bewegtheit der nachkantischen Systeme und speziell die Systembewegung Fichtes in den Jahren 1800 bis 1807 im Rückgriff auf die zeitgenössische organische Modellierung der systematischen Philosophie. Der erste Abschnitt behandelt die Bewegung philosophischer Systeme in der Perspektive der emergierenden Biologie des späten achtzehnten Jahrhunderts. Der zweite Abschnitt exponiert die spezifisch philosophische Bewegung der klassischen deutschen Systeme in der doppelten Perspektive von Sys­tementwicklung und Systemkonkurrenz. Der dritte Abschnitt beschreibt die Systembewegung des mittleren Fichte mit den Mitteln der epigenetischen Auffassung von organischer Entwicklung.

1. Die Bewegung philosophischer Systeme Zu behaupten, wie es der Titel des vorliegenden Bandes im Hinblick auf seinen Gegenstand tut, dass philosophische Systeme in Bewegung sind, heißt – dem physikalischen Begriff der Bewegung zufolge –, dass die Systeme äußerlich ihren Ort und innerlich die Lage ihrer Bestand1 

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, A 835/B 863.

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Günter Zöller

teile zueinander in der Zeit verändern. Es könnte dies zunächst als eine bloße façon de parler erscheinen. Einem geistigen Gebilde werden in metaphorischem Sprachgebrauch und insofern nur uneigentlich und nicht ganz im Ernst Eigentümlichkeiten und Eigenschaften zugesprochen oder zugeschrieben, die streng genommen nur auf das räumlichzeitliche Verhältnis zwischen materiellen Gegenständen zutreffen und die deshalb eigentlich auch nur von Dingen im Raum und in der Zeit ausgesagt werden können. Zu begründen wäre die vorgenommene Übertragung dann etwa im Hinblick auf die charakteristischen oder typischen Veränderungen, denen das menschliche Denken unter Einschluss des philosophischen Denkens generell unterliegt. Erkenntnisse erfahren Revision, Einsichten Korrektur, Ansichten Verbesserung. Solche Prozesse späterer Einsicht, nachträglicher Korrektur und verbesserter Ansicht finden in der Zeit statt und dies so, dass die neueren und verbesserten Erkenntnisse an die Stelle der älteren und vorherigen treten. Die Änderung von Einsichten, die Veränderung von Erkenntnissen, die Verbesserung von Ansichten bringt sozusagen Bewegung in das Denken und seine Leistungen, darunter auch in die denkerischen Gipfelleistungen philosophischer Systematik. Doch die Rede von den ›Systemen in Bewegung‹ besagt mehr und Spezifischeres als die Übertragung der in der Zeit verlaufenden Veränderungen des Denkens auf den Zeitcharakter, die zeitliche Verfasstheit oder die Zeitlichkeit des Gedachten und speziell des philosophischen Gedankens. Mit der Auszeichnung philosophischer Systeme – und speziell der philosophischen Systeme im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts – als in Bewegung befindlich, wird die dynamische Verfassung philosophischer Systeme im Allgemeinen und die spezifische Systemdynamik der Philosophie im genannten Zeitraum im Besonderen zum Ausdruck gebracht. Die Kennzeichnung der Bewegtheit des philosophischen Denkens unter der Gestalt philosophischer Systeme entspringt nicht äußerer, späterer, retrospektiver philosophiegeschichtlicher Beschreibung, sondern reflektiert das Selbstverständnis systematischen philosophischen Denkens, insbesondere von dessen Stand und Gang zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Die den Systemen für die Zeit von 1800 bis 1809 zuzuschreibende spezifische Bewegung gründet in der generischen Bewegung, die dem systematischen Philosophieren als solchem zukommt. Die Systeme der Philosophie unterliegen nicht erst nachträglich und zusätzlich der Bewegung, insofern sie der Veränderung und dem Wechsel unterliegen. Vielmehr sind die Systeme als solche von Bewegung geprägt, und dies

Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte

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sowohl in ihrem ursprünglichen Zustandekommen wie in ihrer fortgesetzten Entfaltung. Allerdings ist die genaue Art der intrinsischen Bewegtheit philosophischer Systeme mit dem metaphorisch herangezogenen Begriff der Bewegung nur erst annäherungsweise erfasst. Im Selbstverständnis der Hauptvertreter systematischen Philosophierens um 1800 tritt in der metaphorisch artikulierten Methodenreflexion zum physikalischen Bewegungsbegriff der Ortsveränderung in der Zeit zusätzlich die Kennzeichnung der systematischen Bewegung als selbständig, als selbstgewirkt und selbstbezüglich hinzu. Damit erweitert sich der zunächst rein kinetische Bewegungsbegriff des systematischen Philosophierens um 1800 zu einem Konzept von systematischer Bewegung und bewegend-bewegter Systematik, das in der Tradition biologischen und speziell zoologischen Denkens steht. Aristoteles hatte den auszeichnenden Charakter der Lebewesen, genauer: der Tiere (zoa), in deren Befähigung zu eigeninitiierter Ortsveränderung gesehen und damit den Unterschied der Tierwesen sowohl von den örtlich fixierten Pflanzen wie von den gänzlich unbelebten Dingen angegeben. Tiere sind nicht nur beweglich, sondern bewegend, indem sie sich selbst in Bewegung setzen und über eigene Bewegung auch anderes, etwa Unbelebtes, in Bewegung zu setzen fähig sind. Mit der rapiden und radikalen Fortentwicklung der Theoriebildung über die Lebensprozesse, die das achtzehnte Jahrhundert zum Säkulum der Biologie avant la lettre werden lässt, verändert und vertieft sich auch das quasi-biologische Selbstverständnis philosophischer Systematik und systematischen Philosophierens. Die emergierenden Lebenswissenschaften des achtzehnten Jahrhunderts liefern mit ihrer kontrovers ausgestalteten Theorie der Keime ein wissenschaftliches Modell für den Entwicklungsprozess der philosophischen Systeme aus vorstrukturierten minimalen Ausgangszuständen zu komplett artikulierten Gebilden. Der ontogenetischen Entwicklung des Lebewesens vom scheinbar ungestalten Keim zum adulten Exemplar entspricht so die Entwicklung des philosophischen Systems vom keimhaften Ursprung zur kompletten Ausprägung. Als besonders tragfähig für die biologische Modellierung philosophischer Systeme erweist sich im späten achtzehnten Jahrhundert die neuartige epigenetische Auffassung der Generation und Maturation von Lebewesen. Der zuvor dominierende Präformationismus hat die Fortpflanzung und das Wachstum tierischer Lebewesen auf vorgeformte Keime zurückgeführt, die das erwachsene Tier en miniature schon vollständig ausgebildet enthalten. Auf phylogenetischer Ebene führt die Präformationslehre

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zur Annahme multipler ineinander geschachtelter präformierter Keime, die in der Abfolge der Generationen sukzessive zur Entfaltung kommen sollen. Der konkurrierenden epigenetischen Theorie zufolge enthalten die Keime nicht schon das vollausgebildete Lebewesen, sondern nur erst die strukturellen Vorgaben für die spätere Herausbildung seiner Teile und von deren funktionsfähigem Verhältnis zueinander. In der Art eines genetischen Codes regulieren die Keime das Wachstum eines Lebewesens. Die konstitutiven Teile des Lebewesens (Organe) samt deren Verhältnis zueinander liegen nicht immer schon aktuell vor, sondern werden allererst hervorgebracht auf der Grundlage von spezifischen Dispositionen für die Entstehung und das Wachstum des Lebewesens. Unter den systematischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts hat niemand das szientifische Potential des Epigenetizismus gründlicher erforscht und umfassender genutzt als Immanuel Kant. Schon früh ergänzt Kant im Rahmen seiner Arbeiten zur physischen Geographie und pragmatischen Anthropologie2 die anfängliche methodologische Orientierung seines philosophischen Denkens auf die (euklidische) Geometrie und (newtonische) Physik um den Rekurs auf den disziplinären Wegbereiter der nachmaligen Biologie, die Naturgeschichte (historia naturalis), speziell auf die Theoriebildung zur ontound phylogenetischen Entwicklung von Lebewesen. Dabei ergreift er mit methodologischen Gründen Partei gegen den Präformationismus und für den Epigenetizismus in der Theorie der Keime.3 Der naturgeschichtliche Epigenetizismus dient Kant zudem als Modell für die Erfassung und die Auffassung von Entwicklungsvorgängen aller Art, die so als Prozesse von genuiner Ausdifferenzierung und von Generation eines je Neuen erscheinen, das nicht zufällig hinzutritt, sondern gezielter Anbahnung und Vorbereitung entspringt, ohne auf diese Vorbedingungen seines Eintretens und Auftretens reduziert werden zu können.4

2  Vgl. Immanuel

Kant: Vorlesungen über die Physische Geographie, in: ders.: Kant‘s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern. Berlin, später Berlin/New York 1900 ff. Bd. 26, Teil 1. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Bandnummer und des Teilbandes in arabischen Zahlen; Kant: Vorlesungen über Anthropologie, AA 25.1 und 25.2. 3 Vgl. Kant: Recension von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit, AA 8, 43–66 und ders.: Bestimmung des Begriffs der Menschenrace, AA 8, 89–106. Vgl. auch Günter Zöller: Eine »Wissenschaft für Götter«. Die Lebenswissenschaften aus der Sicht Kants, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 3 (2011), 877–892. 4  Zur Rolle des organischen Denkens in der Entwicklung der kritischen Philosophie Kants vgl. Jennifer Mensch: Kant‘s Organicism. Epigenesis and the Development of Critical Philosophy. Chicago 2013.

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Der Kulminationspunkt von Kants langwieriger und weitreichender Auseinandersetzung mit der Naturgeschichte der Tiere unter Einschluss des Menschen sind die Überlegungen im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«, zur eigentümlichen zweckmäßigen Verfassung der Lebewesen (organische Zweckmäßigkeit) und zur methodologisch-wissenschaftstheoretischen Einschätzung der konkurrierenden Theoriebildungen über Fortpflanzung und Wachstum. Mit Blick auf die zeitgenössische Konkurrenz in der Theorie der Keime zwischen Präformationismus (»System der [...] Präformation«) und Epigenesis (»System der Epigenesis«) gelangt Kant dabei zu einer differenzierten Einschätzung der Epigenesis als »generische[r] Präformation«, insofern das spätere Lebewesen in den Keimen zwar nicht individuell und aktuell vorgegeben, aber doch generisch und virtuell vorgebildet ist.5 Wichtiger noch als die von Kant vorgenommene kritische Reduktion von Epigenesis auf (generische) Präformation ist aber für das kantischnachkantische Junktim von Philosophie und System die in der ProtoBiologie der dritten Kritik unternommene Auffassung der Lebewesen als zweckmäßig organisierter Systeme. Kant dehnt dabei den Systembegriff, den er zunächst in der Bedeutung von »Lehrbegriff« verwendet und für die Theorieebene reserviert,6 auf die Objektebene aus und verwendet den Organisationstitel »System« zur Kennzeichnung zweckmäßig verfasster Ordnungs- und Funktionsverhältnisse zwischen Teilen und Ganzen, die nach der Art eines lebendigen Organismus vorgestellt oder modelliert werden.7 Bei dem Wechsel im Verständnis des Systembegriffs von der doktrinalen Bedeutung einer partikularen Lehre (»Lehrbegriff«) zur szientifischen Bedeutung einer Ganzheit von Erkenntnissen rekurrieren Kant und seine Nachfolge auf die teleologische Strukturanlage und Funktionsweise von Lebensprozessen und Lebewesen, die ihrerseits am Musterfall verständiger Zwecksetzung und willentlicher Zweckverwirklichung bei endlichen praktischen Vernunftwesen (vulgo: uns Menschen) ausgerichtet sind. Die praktische Zweckmäßigkeit versteht Kant als eine Form der Kausalität, bei der die Vorstellung eines Zwecks als Ursache von dessen angestrebter oder erreichter Verwirklichung fungiert. Bei der Übertragung des Modells praktischer Zweckmäßigkeit auf die spezifischen Organisationsformen von Lebewesen entfällt nun 5  Vgl.

Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5, 165–485, hier: 423. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 491/B 519. 7  Vgl. Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5, 425–434. 6  Vgl.

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zwar das Doppelmoment von Verständigkeit in der Zwecksetzung und Willentlichkeit in der Zweckverwirklichung. Es erhält sich aber, nach Kants ebenso origineller wie einflussreicher Analyse, das Abfolgeverhältnis zwischen präliminarem, idealem Grund und sukzedierender, realer Folge im Zustandekommen des jeweiligen Gegenstandes.8 Der Zweckfunktion ohne Zweckintention in lebendigen Organismen entspricht in der Entwicklung philosophischer Systeme die prinzipielle Differenz zwischen Konzeption (»Idee«) und Ausführung.9 Der präliminare Begriff strukturiert das auszuführende System. Das ausgeführte System realisiert die zugrundeliegende Idee. Die Bewegung von der System-Idee zum realisierten System entspricht dabei dem Werdeprozess adulter Lebewesen aus Keimen. Das System entwickelt sich wie ein lebendiger Organismus durch Zuwachs an Teilen und Zunahme an Größe, gesteuert von der zugrundeliegenden Konzeption des allererst zu entwickelnden Ganzen. Die über die Analogie mit dem Organismus vermittelte gedankliche Nähe philosophischer Systematik zu dem lebendigen Organismus bekundet sich bei Kant auch in der Angleichung der künstlich-künstlerischen Verfertigung von philosophischen Systemen an die praktische Zweckmäßigkeit bei der Errichtung von Gebäuden (»Architektonik«).10 Ganz so wie die bauliche Tätigkeit einem Plan folgt, der die Herbeibringung und Zusammenstellung der Teile zu einem geordneten Ganzen bestimmt, dirigiert und instrumentiert die Kunst der Systeme als Ideen-Architektonik den Aufbau von geordneten Erkenntnissen aus einem zugrunde gelegten Grund (Prinzip).11 Der Analogie von Systembau und Hausbau entnehmen Kant und seine Nachfolger insbesondere die Merkmale von Stellung, Lage und Vollständigkeit der Elemente eines Systems. Während die architektonische Systemanalogie vorwiegend den artisanal-artifiziellen Charakter des Systems als Gedankengebäude zum Ausdruck bringt, manifestiert die organologische Modellierung des Systems eher den kreativ-kreatürlichen Grundzug philosophischer Systeme, die sich – nach Kants, im Motto dieses Beitrags wiedergege8  Zur

Funktion der Vernunft in Kants Lehre organischer Zweckmäßigkeit vgl. Günter Zöller: Reflexion und Regulation. Kant über Begriffe und Prinzipien der Vernunft in der Kritik der Urteilskraft, in: Worauf die Philosophie hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie. Hrsg. v. Bernd Dörflinger/Günter Kruck. Hildesheim/New York 2012, 31–48. 9 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860. 10  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860–A 851/B 879. 11  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832/B 860–A 851/B 879.

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bener, Einschätzung und auch nach Ansicht seiner Nachfolger – der präliminaren Planung immer auch wesentlich entziehen und Beispiele quasi-natürlichen Wachstums und spontaner Entwicklung abgeben. Oft erhellen sich erst im Nachhinein das ganze Potential einer zugrunde gelegten System-Idee sowie das volle Ausmaß und die genaue Beschaffenheit des der Idee von ihm korrespondierenden Systems. Philosophische Systeme sind nicht – oder jedenfalls niemals nur – souverän kontrollierte Gedankengebäude, sondern – immer auch und wohl wesentlich so – frei sich entwickelnde Gedankenkörper, szientifische Organismen, die wuchern und wimmeln, aber auch schrumpfen und schwächeln können, bis sie, vielleicht, endgültige Gestalt annehmen. Das Paradebeispiele des quasi-organischen Werdens philosophischer Systeme diesseits von erschöpfender Intention und umfassender Kontrolle durch den philosophischen Autor ist die Genese des kritischen Systems, das Kant zunächst glaubte mit der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) geliefert und abgeschlossen zu haben, bevor sich das weitere systematische Erfordernis einer eigenen Vermögensbestimmung der praktischen Vernunft im Hinblick auf deren Einheit mit der theoretischen Vernunft als Gegenstand der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und sodann das abschließende Erfordernis einer selbständigen Leistungsermessung der reflektierenden Urteilskraft als Gegenstand der Kritik der Urteilskraft (1790) ergaben. Erst in der retrospektiven umfassenden Perspektive der dritten Kritik und speziell ihrer Einleitung sowie in deren nicht in die Druckfassung aufgenommener Erstversion fügen sich die drei Kritiken, samt der ihnen jeweils zugrundeliegenden Gemütsvermögen (Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust sowie Begehrungsvermögen) und den diese prinzipiierenden Vernunftvermögen (Verstand, Urteilskraft und Vernunft), in eine komplexe und komplette Einheitsgestalt, die mehr mit einem lebendigen und fortlebenden Organismus als mit einem fertiggestellten Gebäude gemeinsam hat.12

2. Die philosophische Bewegung der Systeme Die biotische Bewegtheit philosophischer Systeme manifestiert sich bei Kant und seinen Nachfolgern in einem doppelten Entwicklungsverlauf. Beim einzelnen Autor – sozusagen ontogenetisch – kommt es zur suk12  Vgl.

Kant: Kritik der Urtheilskraft, AA 5, 171–198 und ders.: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, AA 20, 193–251.

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zessiven Entfaltung des System-Keims in das aufkeimende System. In der Abfolge der Autoren – sozusagen phylogenetisch – vollzieht sich ein intergenerationeller Entwicklungsverlauf, der ebenso frühere und spätere Ausgestaltungen desselben Systemprinzips wie die Entwicklung alternativer und miteinander konkurrierender Systemprinzipien und der ihnen zugehörigen Systeme umfasst. In beiden Unternehmungen steht nicht so sehr der Abschluss der respektiven Entwicklung im Vordergrund der philosophischen Bestrebungen als die Entwicklungsbewegung vom Keim zum System und von einer aufkeimenden Systemkonzeption zur anderen oder nächsten. Systematisches Philosophieren ist für Kant und seine Nachfolger nicht das Verfertigen von philosophiegeschichtlich bezugsfertigen Gedankengebäuden, sondern die Generation eines philosophischen Systems – der (pro-)kreativ initiierte und methodisch kontrollierte Fortgang vom generierenden Prinzip zum generierten Prinzipiierten. Bei der ontogenetischen Systementwicklung steht die Fortbewegung vom Prinzipiengrund zum kompletten Prinzipieninbegriff im Mittelpunkt der kantisch-nachkantischen Bemühungen. Bahnbrechend und wegweisend ist hier Kants Rekurs auf das synthetisch-apriorische Einheitsprinzip des möglichen allgemeinen Selbstbewusstseins (Apperzeption).13 Kants systematisches Interesse gilt dem Übergang vom apperzeptiven Grundcharakter des (endlichen) Verstandes zu den pluralen Grundformen apperzeptiv-objektiver Einheitsbildung. Die Entwicklung des Kategoriensystems aus dem Apperzeptionsprinzip erfolgt nicht analytisch, als bloße Entfaltung einer latent bereits vorliegenden Differenzierung. Vielmehr erwächst dem Prinzip der Apperzeption die differentielle Fortbestimmung zu den zwölf kategorialen Einheitsmodi aus der Zusammenführung der zwölf Urteilsformen mit der gegenstandstheoretischen Auffassung der Apperzeptionsleistung.14 Die Kategorien sind die in das gegenständliche Denken nach Maßgabe des Prinzips der transzendentalen Apperzeption überführten Urteilsformen. Auch der den Kategorien zuzuschreibende notwendig-allgemeine Erkenntnisbezug auf Gegenstände ist nicht immer schon in den Kategorien enthalten und mit diesen selbst gegeben. Erst das strikt geregelte Hinzutreten von reinen anschaulichen Formen und speziell 13 Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 131–142. Vgl. auch Günter Zöller: Artikel Apperzeption und Selbstbewusstsein, in: Kant-Lexikon. Hrsg. v. Marcus Willaschek/ Jürgen Stolzenberg/Georg Mohr et al. Berlin/New York, Bd. 1, 145–150 und Bd. 3, 2065–2070. 14  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 66/B 91–A 83/B 116.

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von apriorischen Zeitgestalten (transzendentale Schemata) lässt die Kategorien zu Grundformen der Erkenntnis von sinnlich gegebenen oder doch gebbaren Gegenständen werden, durch deren Anwendung auf das in den sinnlichen Formen bereitgestellte Material die Erfahrung samt ihren Gegenständen zustande kommt. Kant selbst hat die eigentümliche Wachstumsbewegung des Erkenntnisvorgangs, die wesentlich einen Zuwachs darstellt, unter den der Theorie der Keime entlehnten Begriff der Epigenesis gebracht und als »Epigenesis der reinen Vernunft« ausgewiesen.15 Die Überführung der Apperzeptionslehre in die Elementarphilosophie durch Karl Leonhard Reinhold markiert nur formell einen Schritt über Kant hinaus,16 fällt jedoch in der Sache hinter den bereits erreichten Stand des systematischen Philosophierens zurück. Der von Reinhold lancierte »Satz des Bewußtseins« entspricht zwar dem Desiderat eines allerersten Prinzips,17 ist aber in seinem konstitutiven Rekurs auf Tatsachen des Bewusstsein und einem Verfahren nach der »analytischen Methode« eher Ausdruck einer Verlegenheit bei der Suche nach dem primum movens des philosophischen Systems als eine tragfähige Alternative zum genetisch-deduktiven Methodenprogramm für das Verhältnis von Systemprinzip und prinzipiiertem System.18 Erst die an Reinhold kritisch anschließende Systemkonzeption des frühen Fichte vollzieht den fälligen Fortgang von der Apperzeption als spezifischer Grundform des gegenständlichen Erkennens zum reinen Ich als Grund von Wissen wie Wollen samt der in solchem ichlich verfassten Wissen und Wollen erkannten und bezweckten Welt der Nicht-Iche und Mit-Iche. Doch auch Fichte vermag die Faktizität des endlichen Verstehens und Wollens nur zu minimieren, nicht aber zu eliminieren. An die Stelle von Kants Ding an sich als anonym-inskrutablem Ursprung materialer Bestimmtheit tritt bei Fichte der die unendlich-spontane Tätigkeit

15  Vgl. Kant:

Kritik der reinen Vernunft, B 167 (Hervorhebung im Original); vgl. dazu Günter Zöller: Kant on the Generation of Metaphysical Knowledge, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik. Hrsg. v. Hariolf Oberer/Gerhard Seel. Würzburg 1988, 71–90 sowie ders.: From Innate to A Priori. Kant’s Radical Transformation of a Cartesian-Leibnizian Legacy, in: The Monist 72 (1989), 222–235. 16  Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789. Nachdruck Darmstadt 1963. 17  Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band. Hrsg. v. Faustino Fabbianelli. Hamburg 2003, 113. 18  Zur Differenz von »analytischer Methode« und »synthetischer Lehrart« in der Philosophie vgl. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, AA 4, 253–383, hier: 263.

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des Ich verendlichende und vergegenständlichende »Anstoß«.19 Den faktizitär begründeten Satz des Bewusstseins ersetzt der frühe Fichte seriatim durch die Trias unbedingter Selbstsetzungsakte des Ich bei der Konstitution seiner selbst wie seines Gegenübers (Nicht-Ich)20 und durch das unbedingte Postulat möglichen Selbstbewusstseins.21 In beiden Versionen des Ich-Prinzips bedarf es der schrittweisen Erweiterung des Ich-Keims um zunehmend konkrete Bedingungen ichlichen Selbstund Weltbezuges, damit das prinzipiell mögliche Ich in eine faktischkonkret verfasste Form von Subjektivität überführt werden kann. Der erste Ansatz Fichtes – mit dem Prinzipiengefüge von setzendem Ich, gesetztem Ich und gesetztem Nicht-Ich und von teilbar gesetztem Ich wie Nicht-Ich – generiert ichlich-nichtichliche Widerspruchsverhältnisse, die unter Rückgriff auf zusätzlich eingefügte Mittelbegriffe schrittweise gelöst werden müssen, bevor der Rekurs auf ein praktisches Datum den fortlaufenden Regress faktizitär zum Abschluss bringt.22 Der zweite Ansatz Fichtes unterzieht das nur erst postulatorisch eingeführte Selbstbewusstsein zum Zweck seiner Maturation in ein voll funktionsfähiges, sozusagen adultes selbst- wie weltbewusstes praktisches Vernunftwesens einer narrativ entfalteten Genese über zunehmend komplexe und konkrete Bewusstseinsstufen.23 Die von Fichte programmatisch entwickelte »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« wird dann zusammen mit der im ersten Ansatz Fichtes dominierenden Dialektik des Ich die Methodik des Übergangs vom Prinzip zum System,24 vom Ich zum Gegenstand und vom Geist zur Welt auch bei seinen Nachfolgern Schelling und Hegel bestimmen. Doch ebenso prägend wie die dialektische und die genetische Modellierung des dynamischen Verhältnisses von Systemprinzip und philosophischem System ist die von Fichte und Schelling praktisch zeitgleich 19  Johann

Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: ders.: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Abt. I, Bd. 2, 173–451, hier: 355. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 20  Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 255–282. 21  Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 167–281, hier: 271–281. 22  Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 362–365. 23  Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 205–208. Vgl. dazu Günter Zöller: Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft, in: Kant und der Frühidealismus. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, 129–151. 24 Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 365.

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vorgenommene Eröffnung der systematischen Alternative von Idealismus und Realismus in der nachkantischen Philosophie. Kant hatte das realistische Gegenmoment seines kritischen Ansatzes als empirischen Realismus dem transzendentalen Idealismus durch Subordination zu integrierten versucht.25 Durch das alternative vernunftkritische Projekt Friedrich Heinrich Jacobis26 war der kantische Rekurs auf Dinge an sich als inkonsequentes und inkonsistentes Relikt eines transzendentalen Realismus enttarnt und vor die Alternative eines rein subjektiven Idealismus (»spekulativer Egoismus«) oder eines objektiven, absoluten Realismus gestellt worden.27 Die fällige realistische Komplettierung des transzendentalen Idealismus versucht Fichte zunächst Idealismus-intern zu bewerkstelligen, durch die Konstruktion eines äquipromordialen Real-Idealismus und Ideal-Realismus.28 Doch unter dem Eindruck des frühen Schelling, der Kritizismus (Idealismus) und Dogmatismus (Realismus) zu gleichberechtigten Systemalternativen erklärt,29 konzediert Fichte die formale Gleichursprünglichkeit von Ding-Philosophie und Ich-Philosophie, freilich nicht ohne – gegen Schelling – den materialen, existentiell-moralischen Vorsprung und Vorzug des Idealismus als Freiheitsphilosophie gegenüber dem Realismus als Unfreiheitsphilosophie zu reklamieren.30 Das Neben-, Mit-, Gegen- und Durcheinander von Idealismus und Realismus sollte die Fortentwicklung der nachkantischen Systeme nachhaltig und langfristig bestimmen – als interne Dialektik der beiden Systemformen bei Fichte, als Parallelität von Geistphilosophie und Naturphilosophie bei Schelling, aber auch als anti-idealistischer NeoDogmatismus und -Realismus bei Jacobi, Bardili und Reinhold. Charakteristisch für die teils interne, teils externe Konfrontation von idealistischen und realistischen Systemen ist der Rekurs auf außer-, vor- oder proto-philosophische Evidenzen zum Zweck der Begründung sowohl der idealistischen Einhegung des Realismus wie der re25 Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 28/B 44, A 35–36/B 52, A 369–371, A 490– 491/B 518–519. 26  Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. Nachdruck New York/London 1983. 27 Jacobi: David Hume über den Glauben, 229. 28  Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 412. 29 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. I, 283–341. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 30  Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 194–195.

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alistischen Einschränkung des Idealismus. Speziell Jacobi und Fichte überbieten einander im Rekurs auf Gefühl, Glaube und Leben bei der prädiskursiven, außerlogischen Letztbegründung ihrer Systempräferenzen. In die nachkantische Bewegung der Systeme gelangt damit ein existentiell-konkretes Moment, das den Ursprung und die Entwicklung eines philosophischen Systems zusätzlich zu spezifisch philosophischen Ressourcen an die Authentisierung durch extra- oder vielmehr proto-philosophische Instanzen anbindet, die dem systematischen Philosophieren allererst die gehörige Fundierung und Orientierung verleihen sollen. Mit den Worten Fichtes ausgedrückt erweist sich damit das philosophische System als etwas, das nicht einen toten Hausrat darstellt, sondern eine vitale Funktion besitzt und in dem sich ein personales präliminares Selbst- und Weltverständnis manifestiert und artikuliert.31 Die Bewegung der Systeme wird dadurch zu einem denkbiographischen Bewegungsverlauf innerhalb der Systementwicklung eines einzelnen Autors wie in dessen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Systemen und ihren Autoren.

3. Die Bewegung von Fichtes philosophischem System Unter den Autoren der systematischen philosophischen Bewegung, die alternativ unter den Kennzeichnungen deutscher Idealismus und klassische deutsche Philosophie firmiert, kommt Fichte eine besondere Stellung und ein ganz eigenartiger Charakter zu. Fichte hat zu Beginn der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts praktisch im Alleingang die dramatische Bewegung der Systeme im Rückgriff auf Kant und unter dem Eindruck der Kant-Kritik von Friedrich Heinrich Jacobi, Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus-Schulze) und Salomon Maimon in Gang gesetzt.32 Und er hat in der Entwicklung seines eigenen philosophischen Systems über zwei Jahrzehnte hinweg gezielt die denkerische Bewegung über das Ergebnis, die Fortentwicklung über den Abschluss und die produktive Unruhe über den saturierten Stillstand gestellt. So sind von seinem transzendentalphilosophischen Grundprojekt einer gegenüber Kant um die praktische Philosophie erweiterten Transzendentalphilosophie, der von ihm sogenannten Wissenschaftslehre, aus dem 31 Vgl. dazu Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 194–195. 32 Vgl. dazu Peter Baumanns: Fichtes Wissenschaftslehre. Probleme ihres Anfangs. Mit einem Kommentar zu § 1 der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«. Bonn 1974, 17–56.

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Zeitraum von 1794 bis 1814 nicht weniger als achtzehn verschiedene Fassungen oder Darstellungen dokumentiert, einige davon fragmentarisch, aber praktisch alle erhalten und durch die abgeschlossene Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ebenso mustergültig wie endgültig erschlossen.33 Die konstitutive Mobilität von Fichtes systematischem Philosophieren behandelt das philosophische System als Projekt, dem es sich in immer neuen Anläufen unter jeweils spezifisch bestimmten und charakteristisch veränderten Bedingungen zu nähern gilt. In Aufnahme der Organismus-Analogie und unter Berücksichtigung ihrer epigenetischen Favorit-Version lässt sich die Entwicklungsbewegung des fichteschen Systems auffassen als sukzessive Hervorbringung von neuen Teilen (Gliedern) und von deren Verhältnis zueinander durch Wachstum und Zuwachs auf der Grundlage von Ausgangsprinzipien – den philosophischen Keimkonzepten sozusagen – und unter dem prägenden Einfluss ambienter Faktoren, speziell des sich rapide wandelnden philosophischen Klimas. Die epigenetische Entwicklungsbewegung des fichteschen Systems resultiert, so betrachtet, aus der produktiven Interaktion von intrinsischen Motiven und extrinsischen Motivationen. Sie ist ebenso sehr Ausdruck vom inneren und eigenen »Geist« der Philosophie Fichtes wie von dessen äußerer Entfaltung unter Bedingungen der Konfrontation und Kontestation durch konkurrierende Systeme und Anti-Systeme.34 Als invarianter Kern oder Keim des fichteschen Philosophierens, diesseits seiner diversen sukzessiven wie diachronen Ausprägungen als Ichlehre, als Freiheitslehre, als Wahrheitslehre oder als Erscheinungslehre wäre wohl am ehesten die Zusammenführung von Freiheit und System im Subjekt- und Strukturbegriff des Wissens auszumachen.35 Das System hat Freiheit zum Prinzip; die Freiheit erfordert das Sys33 

Für eine Auflistung der dokumentierten Darstellungen der Wissenschaftslehre und den Aufweis deren formaler Parallelität mit dem Quartettschaffen Ludwig van Beethovens siehe Günter Zöller: Parallelleben. Fichte und Beethoven, in: Fichte und die Kunst. Hrsg. v. Ives Radrizzani/Faustino Oncina Coves. Amsterdam/New York 2014, 279–301 . 34  Zur methodischen Funktion des Geistbegriffs bei Fichtes vgl. Günter Zöller: Die Sittlichkeit des Geistes und der Geist der Sittlichkeit. Fichtes systematischer Beitrag, in: Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. Hrsg. v. Edith Düsing/Klaus Düsing/Hans-Dieter Klein. Würzburg 2009, 217–238. 35  Zur Selbstinterpretation von Fichtes Philosophie als System der Freiheit vgl. Günter Zöller: Das »erste System der Freiheit« in Fichtes neuer Darstellung der Wissenschaftslehre, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 13–28.

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tem als Form; und die Seinsform der systematisch verfassten Freiheit ist das Wissen – in dessen Intension als Gewissheit theoretischer wie praktischer Art und in seiner Extension als gewusste Welt von Personen und von Dingen. War in der Frühphase von Fichtes Entwicklung der Wissenschaftslehre die kritisch-metakritische Auseinandersetzung mit Kant, den Kantianern und den Anti-Kantianern bestimmend und wegweisend, ist es in späteren Jahren vor allem die Kritik an Fichtes eigenem philosophischen System und dessen alternativen Präsentationen, die den Fortgang zu weiteren, veränderten Fassungen der Wissenschaftslehre initiiert und orientiert. Von besonderer Bedeutung für den Schritt von der frühen, Jenaer Wissenschaftslehre zu ihrer späteren, Berliner Identität ist der sogenannte Atheismusstreit um die angeblich gottesleugnerischen moraltheologischen und religionsphilosophischen Äußerungen Fichtes im Journal-Aufsatz Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregirung (1798).36 Die von kirchlicher Seite lancierte Affäre kostet Fichte nicht nur die Jenaer Professur, sondern auch das Ansehen als autorisierter Nachfolger Kants, der sich im Umfeld der publizitären Kampagne gegen Fichte von der Wissenschaftslehre und ihrem Autor öffentlich distanziert.37 Mit der Radikalkritik am transzendentalen Idealismus Fichtes als einer Form von »Nihilismus«, die alles Sein zur Erscheinung, alle Erscheinung zum Schein und alles Dinglich-Wirkliche zum Bildlich-Fingierten erklärt, hatte auch Jacobi Fichtes Unternehmen öffentlichkeitswirksam in Misskredit gebracht.38 Fichtes Reaktion auf die Anfeindungen und Abgrenzungen war zum einen die Verteidigung der zuvor eingenommenen Position in Form von Erläuterung und Rechtfertigung,39 zum anderen die affirmative Aufnahme von Konzepten und Doktrinen ausgewählter Opponenten in die Fortbildung des eigenen philosophischen Systems. Letzteres gilt vor allem für Fichtes Verhältnis zu Jacobi und dessen Invokation von Glau36  Vgl.

Fichte: Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 318–357, hier: 347–357. 37  Vgl. Kant: Erläuterung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, AA 12, 370–371. 38 Vgl. Fichte: Briefe vom 3ten März 1799 bis 6. April 1799, GA III 3, 224–320. Dazu Ives Radrizzani: Présentation, in: Friedrich Heinrich Jacobi: Lettre sur le nihilisme et autres textes. Paris 2009, 7–38. 39 Vgl. Fichte: Der Herausgeber des philosophischen Journales gerichtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des Atheismus, GA I 6, 1–26; ders.: J. G. Fichtes als Verfasser des ersten angeklagten Aufsatzes, GA I 6, 27–89; ders.: Fr. I. Niethammers als Mitherausgebers des philosophischen Journals Verantwortungsschrift, GA I 6, 91–144.

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be, Gefühl und Leben gegenüber dem angeblichen einseitig szientifischen, rationalistischen und spekulativen Grundzug der Wissenschaftslehre.40 Speziell mit der als Erbauungsschrift angelegten Bestimmung des Menschen (1800),41 die in weiten Teilen Jacobis Fichte-Kritik reproduziert und dessen alternative Position als die eigene zitiert, unternimmt es Fichte, seiner Lehre eine äußere Gestalt zu geben, die zeitgenössische Empfindlichkeiten und Empfänglichkeiten ebenso respektiert wie ins­ trumentalisiert. Weit davon entfernt, Jacobis anti-kantischer Gefühls- und GlaubensNicht-Philosophie zuzustimmen, rekurriert Fichte auf den jacobischen Diskurs, um mit dessen Mitteln die eigene transzendental-idealistische Position publikumskompatibel und konsensfähig zu artikulieren. Bei dem im Zweiten Buch der Bestimmung des Menschen seiner Unzulänglichkeit überführten Wissen handelt es sich nicht um Fichtes eigenen umfassenden Wissensbegriff, sondern um den von Jacobi, fälschlich, Fichte zugeschriebenen verkürzten Begriff bloß theoretischen Wissens, dessen fällige und von Fichte längst vorgenommene Komplettierung und Fundierung durch einen spezifisch praktischen Wissensbegriff im Dritten Buch der Schrift in der Maske des von Jacobi übernommenen und von Fichte für sich selbst reklamierten Glaubensbegriffs vorgenommen wird. Man könnte versucht sein, Fichtes Anpassung an den von ihm aufrichtig verehrten und doch auch inständig bemängelten Jacobi als opportunistische Assimilation, Akkomodation oder Adaption – naturgeschichtlich gesprochen als Mimikry – einzuschätzen und abzuwerten, so als ob der des Unglaubens und der Gottesleugnung überführte Fichte eingeknickt wäre, sich religiös bekehrt und philosophisch gewendet hätte. Angemessener wäre es aber wohl, in Fichtes affirmativer Übernahme des jacobischen Diskurses eine kommunikative Strategie zu sehen, die sich das persuasive Potential einer konkurrierenden, ja eigentlich konfligierenden philosophischen Position für die modifizierte Präsentation der eigenen Position zu Nutzen macht, und dies nicht so 40 

Für einen Vergleich von Jacobis und Fichtes Glaubensbegriff vgl. Günter Zöller: »Das Element aller Gewißheit«. Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben, in: Fichte-Studien 14 (1998), 21–41 sowie ders.: »[D]as Element aller Erkenntniß und Würksamkeit«. Friedrich Heinrich Jacobi über David Hume über den Glauben, in: David Hume (1711–1776) nach 300 Jahren. Hrsg. v. Heiner Klemme. Hamburg (im Erscheinen). 41 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 145–311, hier: 181–311. Vgl. dazu Günter Zöller: »An Other and Better World«. Fichte‘s The Vocation of Man As a TheologicoPolitical Treatise, in: Fichte’s Vocation of Man. New Interpretative and Critical Essays. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Albany, NY 2013, 19–32.

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sehr, um Jacobi – martialisch gesprochen – mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, als vielmehr, um mit dessen Waffen in eigener Sache und für die eigene Sache weiterzukämpfen zu können. Alternativ, nautisch ausgedrückt, geht es Fichte nicht darum, Jacobi den Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern im Kreuzen Jacobis Gegenwind nach dem Debakel des sogenannten Atheismusstreits wieder zu voller Fahrt aufzulaufen. Philosophisch interessant an Fichtes windigem Wendemanöver im Jahr 1800 ist deshalb auch nicht die Moral, Politik oder Rhetorik ihres Autors, sondern das Ausmaß an systematischer Bewegung, das zwischen dem Jenaer Fichte, genauer: dem späteren frühen Fichte der fragmentarisch publizierten Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/88)42 sowie von deren in Nachschriften erhaltener vollständiger Version als Wissenschaftslehre nova methodo (1796/99),43 und dem frühen Berliner Fichte, genauer: dem Fichte der Bestimmung des Menschen (1800), zu verzeichnen ist. Hier erweist ein historisch-systematischer Vergleich der Texte und der in ihnen manifesten Positionen, dass der spätere Text die früheren Fassungen eher resümiert und reformuliert als sie zu transformieren oder gar zu transzendieren. Insbesondere ist die im Dritten Buch der Bestimmung des Menschen, betitelt »Glaube«, vorfindliche theologisch-religiös artikulierte Lehre von der Einheit und Vielheit des Willens eine popularphilosophische Repräsentation und Repetition der moralisch-praktisch vereinheitlichten intelligiblen Ordnung (»Geisterwelt«) aus der Wissenschaftslehre nova methodo.44 Von einem Umschwenken, Einschwenken oder Einlenken Fichtes auf jacobischen Fideismus, Emotismus und Theismus kann keine Rede sein. Eher schon wäre ein wirklicher Wandel in der Denkbewegung Fichtes nach 1800 und speziell in den späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre auszumachen. Doch auch die eigens so genannte Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/0245 bewegt sich nur erst tastend und zögernd weg von der früheren Entwicklung der Wissenschafts42 Fichte:

Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 183–281. Wissenschaftslehre nova methodo, ca. 1796–99, Nachschrift nach den Vorlesungen Hr. Pr. Fichte, GA IV 2, 1–267, hier: 17–267 und Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, WS 1798/99, Nachschrift Krause, GA IV 3, 307–535, hier: 323–535. 44 Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, ca. 1796–99, Nachschrift nach den Vorlesungen Hr. Pr. Fichte, GA IV 2, 242–261 und ders.: Vorlesungen über die Wissenschaftslehre, Nachschrift Krause, GA IV 3, 509–519. Vgl. dazu Günter Zöller: Fichte‘s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambridge 1998. Cambridge 2002, 110–126. 45 Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 107–324, hier: 129–324. 43 Fichte:

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lehre und ihrem systematischen Kern und Keim als Prinzipientheorie des Wissens im doppelten Hinblick auf dessen Träger (Subjekt) und Gegenstandsbereich (Welt). Wegweisend für die weitere Entwicklung von Fichtes philosophischem System ist dabei vor allem die Rekonfiguration des unbedingten Grundes von Wissen, der ineins als Wissensgrund und als Grundwissen figuriert, unter dem Programmtitel »absolutes Wissen«.46 Eher wäre die gezielte Fortbewegung des fichteschen Systems, die wenn nicht vom Jenaer Entwicklungsstand weg, so doch in Fortsetzung einer schon vorgegebenen Richtung, über ihn hinausführt, in zwei anderen, miteinander verknüpften Entwicklungen auszumachen. In methodisch-architektonischer Hinsicht kommt es ab 1801/02 und bis 1807 durchgängig zur Limitation der Wissenschaftslehre auf die prinzipientheoretische Grundlegung des Wissens (»Wissenschaftslehre in specie«) unter weitgehendem Ausschluss der sogenannten angewendeten Wissenschaftslehre,47 speziell der Rechts- und Sittenlehre, vom Ambitus der Systempräsentation. Im Zuge dieses Revirements kommt es zur Delegierung der angewendeten Philosophie an die popularphilosophische Behandlung von Geschichts-, Religions- Gesellschafts- und Erziehungslehre (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Die Anweisung zum seeligen Leben, Reden an die deutsche Nation, Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit).48 In doktrinalsubstantieller Hinsicht kommt es im Zeitraum von 1804 bis 1807 zur Fokussierung der einander rapide sukzedierenden sieben separaten Darstellungen der Wissenschaftslehre auf die Theorie des Unbedingten (»Absolutes«) und seiner Manifestation (»Erscheinung«).49 Die erste der beiden bei Fichte zu verzeichnenden Systembewegungen reflektiert als extensionale Restriktion der Wissenschaftslehre Fichtes veränderte gesellschaftliche Position. Die Entwicklung der Wissenschaftslehre im öffentlichen Vortrag ist nach dem Verlust der Jenaer Professur (1799) und vor dem Antritt der Professur an der allererst zu gründenden Berliner Universität (1809/10) auf privat organisierte, au46  Vgl.

Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 143–206. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA I 8, 191–396, hier: 376. 48 Vgl. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, GA I 8; ders.: Die Anweisung zum seeligen Leben, GA I 9, 47–212; ders.: Reden an die deutsche Nation, GA I 10, 99–298; ders.: Ueber das Wesen des Gelehrten, GA I 8, 57–139. 49 Vgl. Fichte: Vorlesung der W.L. im Winter 1804, GA II 7, 66–235; ders.: Die Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, 2–420; ders.: 3ter Cours der W.L. 1804, GA II 7, 301–368; ders.: Die Principien der Gottes- Sitten u. Rechtslehre, GA II 7, 378–489; ders.: 4ter Vortrag der Wissenschaftslehre, GA II 9, 179–311. 47 Fichte:

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ßerakademische Vorlesungen reduziert, die Fichte nicht mehr die Gelegenheit zur mehrsemestrigen Entfaltung des Systems und speziell der angegliederten Systemteile Gelegenheit bieten. Fichtes Darstellung der Wissenschaftslehre beschränkt sich unter diesen Umständen auf deren Kernanliegen. Die zweite der beiden zwischen 1801/02 und 1807 zu verzeichnenden korrelierten Systembewegungen bei Fichte reflektiert die intensionale Selbstbeschränkung der Wissenschaftslehre auf eine minimale »Wahrheitslehre« (Grundbestand: das Sein, das Absolutes oder Gott ist) und eine eher skizzierte zweistufige »Erscheinungslehre« oder Phänomenologie (Grundbestand:50 das Wissen ist die Erscheinung des Absoluten, und die Welt ist die Erscheinung des Wissens). Der vormalig subjekttheoretisch artikulierte Wissensgrund (reines oder absolutes Ich oder reines Selbstbewusstsein) wird dabei in mentalistischer Ausdrucksweise und epistemologischer Terminologie gefasst: als absolutes Wissen. Der faktische Hintergrund für die Änderungsbewegung in Fichtes Orientierung – vom absoluten Ich zum absoluten Wissen – ist die fortgeführte Auseinandersetzung Fichtes mit der fortentwickelten Philosophie Schellings. Die Naturphilosophie des frühen Schelling aus der zweiten Hälfte der 1790er Jahre war noch als Komplement und Supplement der Wissenschaftslehre ausgegeben und aufgenommen, das System des transzendentalen Idealismus von 1800 gar von Fichte selbst als lobenswerte Reinszenierung des Idealismus der Wissenschaftslehre begrüßt worden. Doch mit dem Übergang Schellings zu einer der Dualität von Idealismus oder Wissenschaftslehre und Realismus oder Naturphilosophie vorgängigen Urgestalt von Philosophie (»System der Identität«),51 insbesondere der Rückführung des Gegensatzes von Natur und Geist auf ein indifferentistisches Urprinzip, das den Grund von beiden in ein prädisjunktives Unbedingtes (»Absolutes«) verlegte, drohte die Fortbewegung der philosophischen Systeme ab 1801 der Wissenschaftslehre den Rang der prima philosophia streitigzumachen. Vorbereitet durch eine gründliche kritische Auseinandersetzung mit Schellings Identitätsphilosophie52 und zeitgleich mit Schellings Fortentwicklung seines systematischen Denkens in den Schriften Philosophie 50 Fichte:

Die Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, 228. Darstellung meines Systems der Philosophie, SW IV, 107–212. 52  Vgl. dazu Günter Zöller: Das Absolute und seine Erscheinung. Die Schelling-Rezeption des späten Fichte, in: Recht – Moral – Selbst. Gedenkschrift für Wolfgang H. Schrader. Hrsg. v. Marion Heinz/Klaus Hammacher. Hildesheim 2004, 311–328. 51 Schelling:

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und Religion und Bruno53 präsentiert Fichte in der Wissenschaftslehre von 1804, vor allem in deren monumentalem zweiten Vortrag, die Wissenschaftslehre in Übernahme von Schellings Ausgang vom Absoluten als Doppellehre vom Absoluten und von dessen Erscheinung als Wissen. Doch anders als Schelling versagt sich Fichte jede nähere Kennzeichnung des Absoluten (»Seyn«),54 das so primär über seine Prinzipienfunktion für das Wissen und damit letztlich als absoluter Wissensgrund nach Art des absoluten Ich in der frühen Wissenschaftslehre ist. Eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen dem Stand der Systementwicklung bei Fichte und bei Schelling im Jahr 1804 liegt in der faktizitär-kontingenten Auffassung des Verhältnisses von Absolutem und Erscheinung bei Fichte wie Schelling. Doch betont Schelling dabei eher die prinzipielle und permanente Differenz zwischen Absolutem und Erscheinung, indem er den Übergang vom Absoluten zur Erscheinung in theologischer Ausdrucksweise als »Abfall« charakterisiert,55 während Fichte komplementär zur originären Deszendenz des Absoluten in das Wissen und zum Wissen die finale Aszendenz des Wissens zu seinem absoluten Ursprung herausstellt. Das Wissen ist so für den mittleren Fichte ineins die Verwirkung und die Verwirklichung des Absoluten.56 Dem Theologoumenon vom Sündenfall, das beim frühen mittleren Schelling im Zentrum der Philosophie des Absoluten steht, stellt Fichte schließlich in der Wissenschaftslehre von 1807 (»Königsberg«)57 die soteriologisch inspirierte Vorstellung von der »Offenbarung« des Absoluten (»Gott«)58 in dem, durch das und als das Wissen entgegen. Der prinzipiellen Differenz von Absolutem und Erscheinung, der zufolge das Wissen zwar die Erscheinung des Absoluten bildet, aber eben auch nur dessen Erscheinung, trägt Fichte dadurch Rechnung, dass er Gott nicht als schon erschienen oder je erschienen, sondern als immer nur erscheinend und die Offenbarung Gottes als die Offenbarung seiner

53 Vgl.

Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 11–70 und ders.: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge, SW IV, 213–332. 54  Vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre 1804/2, GA II 8, 242. 55 Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 38. 56  Zu Abstand und Nähe zwischen Fichte und Schelling im Jahre 1804 vgl. Günter Zöller: Fichte, Schelling und die Riesenschlacht um das Sein, in: Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis. Hrsg. v. Ursula Baumann. Hannover 2006, 93–110. 57  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg, GA II 10, 111–202. 58 Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg, GA II 10, 171.

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als nicht offenbarbar ausgibt.59 In der Sache entspricht dies dem IdeenStatus des reinen Ich in der Frühfassung der Wissenschaftslehre und dem konstitutiv praktischen, selbstbewegt-bewegten Charakter des ichlich verfassten Wissens beim frühen Fichte.60 Im Hinblick auf den mittleren Fichte wird man so die Bewegung seines philosophischen Systems nicht als Richtungsänderung auffassen wollen,61 eher schon als fortgesetzte Bewegung in einer längst eingeschlagenen Richtung, allenfalls verbunden mit einem Wechsel im Bewegungstempo, das aus dem Stürmer und Dränger, dem transzendentalphilosophischen Jakobiner der Jenaer Jahre, den klassisch beruhigten Mediator des Wissensabsoluten hat werden lassen.

59 Vgl.

Fichte: Wissenschaftslehre. Königsberg GA II 10, 171. Zum Gottesbegriff des späten Fichte vgl. Günter Zöller: Ex aliquo nihil. Fichtes Antikreationismus, in: Der Eine oder der Andere. »Gott« in der klassischen deutschen Philosophie und im Denken der Gegenwart. Hrsg. v. Christoph Asmuth/Kazimir Drilo. Tübingen 2010, 37–54. 60 Vgl. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 391–392; ders.: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I 4, 265–266. 61  Zur methodisch-systematischen Differenz von mittlerem und spätem Fichte vgl. Günter Zöller: Denken und Wollen beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 17 (2000), 283–298; ders.: Leben und Wissen. Der Stand der Wissenschaftslehre beim letzten Fichte, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs/Marco Ivaldo/Giovanni Moretto. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 307–330; ders.: »On revient toujours ...«. Die transzendentale Theorie des Wissens beim letzten Fichte, in: Fichte-Studien 20 (2003), 253–266.

Daniel Breazeale Expanding the Wissenschaftslehre 1799–1802. Strategic Makeover or Neubau?  Among the perennial problems of Fichte scholarship is that of his socalled »veränderte Lehre«.1 No one would deny that there are striking differences, at least with respect to terminology and external form, be­ tween the earlier (or Jena) and later (or Berlin) versions of the Wissenschaftslehre, as well as differences between distinct presentations within each of these two broad periods. There is, however, a long-standing controversy concerning the meaning and substance of these differences and whether the Wissenschaftslehre underwent any fundamental alteration in conception, aim, and content over the two decades in which Fichte strove to articulate it. More specifically, was there or was there not a major Wende or turning point in the years immediately following his departure from Jena in the spring of 1799? According to some well-qualified judges, the differences between the later and earlier versions of this system are global and profound, whereas for many others – including, notably, Fichte himself2 – the changes in question are 1 

See Hartmut Traub: Transzendentales Ich und absolutes Sein. Überlegungen zu Fichtes »veränderter Lehre«. In: Fichte-Studien 16 (1999), 39–56. 2  »So Jemand will, so mag er eine solche Arbeit auch für die Erfüllung des vor Langem gegebenen Versprechens einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre nehmen; welcher Erfüllung ich mich übrigens, weil mir immer deutlicher geworden, daß die alte Darstellung der Wissenschaftslehre gut und vorerst ausreichend sei, schon längst entbunden hatte, und jetzt sie weiter hinausschiebe. Wie es mir aus den öffentlichen Aeusserungen dieser Erwartung wahrscheinlich geworden, hoffte man besonders, daß durch die neue Darstellung das Studium dieser Wissenschaft bequemer werden sollte; welcher Hoffnung zu entsprechen ich weder ehemals noch jetzt große Fähigkeit oder Geneigtheit in mir verspüre. Da ich so eben die ehemalige Darstellung der Wissenschaftslehre für gut und richtig erklärt habe, so versteht sich, daß niemals eine andere Lehre von mir zu erwarten ist, als die ehemals an das Publikum gebrachte. Das Wesen der ehemals dargelegten Wissenschaftslehre bestand in der Behauptung, daß die Ichform oder die absolute Reflexionsform der Grund und die Wurzel alles Wissens sei, und daß lediglich aus ihr heraus Alles, was jemals im Wissen vorkommen könne, so wie es in demselben vorkomme, erfolge; und in der analytisch=synthetischen Erschöpfung dieser Form aus dem Mittelpunkte einer Wechselwirkung der absoluten Substantialität, mit der absoluten Causalität; und diesen Charakter wird der Leser in allen unsern jetzigen und künftigen Erklärungen über Wissenschaftslehre unverändert wiederfinden« (Johann Gottlieb Fichte: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schichsale dersselben [1806]. In: Johann Gottlieb Fichte: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Erich Fuchs/Hans Gliwitzky et al.

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mainly if not exclusively strategic and heuristic: changes in Buchstabe, to be sure, but not in Geist. I do not propose to resolve this debate, but merely to contribute to it. What follows is a story, eine pragmatische Geschichte, if you will, about certain events and developments in Fichte’s circumstances, writing, and thinking during the period immediately following his departure from Jena. Though this story will surely not settle the question regarding his veränderte Lehre, it may nevertheless contribute toward the resolution of the same.

1. Wissenschaftslehrer under Siege 1799 was a bad year for Fichte, and 1800 and 1801 were not much better. 1799 was the year the Fichtean meteor came crashing to earth. Not only did he, in the wake of the Atheismusstreit, lose his influential position at the most fecund academic incubator of philosophy in the German-speaking world, but he also began to lose his most prominent philosophical patrons and allies. First Kant, then Reinhold, and then Schelling: all publically distanced themselves from the Wissenschaftslehre in rapid succession. At the same time, the drumbeat of criticism from critics and opponents such as Nicolai, Jacobi, Herder, Hamann, Heusinger, Bouterwek, and Abicht steadily mounted, while the Wissenschaftslehre was subjected to public parody and sarcasm by younger authors such as Schleiermacher and Jean Paul.3 In addition, his new popular work of 1800, Die Bestimmung des Menschen, received a number of hostile reviews, with one reviewer objecting that the account of Wis-

Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Abt. II, Bd. 10, 11–66, hier: 28–29. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnummer in arabischen Zahlen). 3  See Schleiermacher’s rather cruel parody of Fichte in his review of Die Bestimmung des Menschen, published in the summer of 1800 in the Atheneaum (reprint in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen. Hrsg. v. Erich Fuchs/Wilhelm G. Jacobs/ Walter Schieche. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Bd. 3, 66–75) and Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana. Erfurt April 1800 (reprint in: Aus der Frühzeit des deutschen Idealismus: Texte zur Wissenschaftslehre Fichtes 1794–1804. Hrsg. v. Martin Oesch. Würzburg 1987, 199–216). For a discussion of Nicolai’s many personal attacks upon Fichte, see the editors’ introduction to Fichte’s Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen, GA I 7, 325–463, hier: 326–363. For Fichte’s response to Schleirmacher’s review, see his letter to Friedrich Schlegel, August 16, 1800. For his response to Nicolai, see Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen (May 1801).

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sen in Book II presupposes the impossible:4 namely, that one can be consciously aware of one’s inner acts and intuitions. »Ja erkläre dann auch deine Erklärung,«5 demanded this reviewer. Another concluded his review by calling attention to what he insisted were the radical and substantial differences between each of Fichte’s presentations of his philosophy:6 In suggesting that the system propounded by Fichte in 1800 was no longer the same one he had presented to the public in 1794, the author of this review seems to have been the first to raise publicly the question concerning »the unity of the Wissenschaftslehre«, though private comments by both friends and enemies of the Wissenschaftslehre indicate that he was by no means the only student of Fichte’s writings to be puzzled by Die Bestimmung des Menschen.7 Just as Fichte’s personal and professional fortunes were reaching their nadir, with his sudden and disruptive move from Jena to Berlin, philosophical opposition to the Wissenschaftslehre was reaching its apogee. It surely must have seemed to Fichte that his philosophy was being 4 

Erlangener Literatur-Zeitung, 19/20 (1800), (reprint in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3, 35–53). The author of this anonymously published review was probably Johann Heinrich Abicht. 5  J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3, 45. 6  Friedrich Ludwig Bouterwek’s review of Die Bestimmung des Menschen appeared in the Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, June 9, 1800 (reprint in: J. G. Fichte in zeitgenössischen Rezensionen, Bd. 3, 53–56). According to Bouterwek, the Wissenschaftslehre was first presented, in the Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, as a new metaphysics grounded upon the principle of identity; second, in the Versuch einer neuen Darstellung, as a system grounded upon intellectual intuition; and finally, in Die Bestimmung des Menschen, as a Glaubensphilosophie in the manner of Jacobi. That Fichte was aware of Bouterwek’s review may be inferred from his November 22, 1800 letter to Gottfried Ernst Mehmel, in which he accuses Bouterwek, along with Abicht and several others, of stealing his ideas. 7  Readers familiar with Fichte’s Jena writings were equally puzzled by his one-­ sidedly theoretical account of Wissen in Book II and by his elaborate doctrine of both the sensible and the supersensible world in Book III and by his claim that the reality of either world was purely an article of morally compelled Glaube. Thus Fichte’s old acquaintance from Zurich, Jens Baggessen, wrote to Jacobi: »Freilich unterschreibe ich jede Zeile, aber nur in wiefern jede Zeile die gesammte Wissenschaftslehre widerlegt,« and added: »es ist auch erbaulich, einen alten ruchlosen Sünder sich so Knall und Fall bekehren zu sehen« (Jens Immanuel Baggesen to Friedrich Heinrich Jacobi, 22.4.1800. In: J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Hrsg v. Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche. 5 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978–1992. Bd. 2, 328–329). Jacobi, focusing his attention upon Book III, went so far as to accuse Fichte of plagiarizing from his own »philosophy of belief,« and complained that Book III employs a vocabulary and manner of expres­sion uncomfortably close to his own (Friedrich Heinrich Jacobi to Jean Paul, 16.4.1800. In: Fichte im Gespräch, Bd. 2, 308–309).

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besieged on every side, inasmuch as it was being denounced simultaneously as »nihilism« (Jacobi), »pure logic« (Kant), »empirical psychology« (Heusinger, Abicht, Nicolai), neglectful of »thinking as thinking« (Reinhold), insufficiently attentive to the constitutive power and ambiguity of language (Hamann, Herder), and finally, nothing but a »subjective philosophy of reflection« (Schelling, Hegel). In addition, Fichte was also becoming embroiled in a series of personal disputes with Feßler and Feldmann concerning Freemasonry, with Friedrich and August Schlegel over their disputed plans for a jointly-edited journal, with his family in Rammenau regarding the disposal and management of their parental estate, and with his publishers regarding unpaid royalties and publishing rights. Fichte had four short-term literary and philosophical objectives when he arrived in Berlin: the first was to reply as effectively and as publically as possible to the charges of atheism and nihilism; the second was to respond directly to the various philosophical objections that were being leveled against the Wissenschaftslehre; the third was to produce some publications aimed at a broad popular readership so that he might be able to support himself and his family and bring them to Berlin; and the fourth was to resume the scientific project that had been interrupted by the Atheismusstreit: namely, completing and publishing a new and improved presentation of the foundational portion of his system. Let us now consider how he went about pursuing each of these goals after his departure from Jena. (a.) As soon as he arrived in Berlin in the summer of 1799, Fichte immediately set to work on a popular writing clearly intended to underscore the religious significance of his philosophy. This work, Die Be­ stimmung des Menschen, appeared at the beginning of the next year to a very mixed reception. It distinguished Wissen from Glaube in a way that puzzled many readers familiar with Fichte’s earlier efforts to demonstrate that practical reason is always a constituent moment of theoretical reason, and it seems to depict knowing as a purely theoretical enterprise, unable to distinguish mere pictures from real objects. To be sure, the reality of ordinary objects of knowledge is quickly reinstated in Book III, but only as a doxastic postulate, as it were, of an a priori resolve to believe that the voice of conscience not only must be obeyed but cannot deceive us. But most of Book III is devoted to a protracted deduction of a series of additional commitments concerning reality that one must allegedly endorse in consequence of one’s initial moral commitment.

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What Book III presents is not really a transcendental deduction in the Kantian or Fichtean sense, but is what Ives Radrizzani has called an »argument of belief«.8 Not that the task of this deduction is actually to produce any beliefs in the reader; on the contrary, the beliefs in question – concerning the reality of the natural and supersensible worlds – are assumed to be already present in the human mind and thus can simply be presupposed as facts. The task of philosophy, as Fichte puts it in Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, is simply to explain the otherwise puzzling Tatsache of such beliefs by deriving them »aus dem nothwendigen Verfahren jedes vernünftigen Wesens«.9 Precisely what, according to Book III, must every rational being be­ lieve in order to trust and obey the voice of conscience? One must believe in – among other things – the reality of the following: of that sensible world in which one is obliged to act;10 of that supersensible or purely spiritual world in which dutiful willing is immediately efficacious;11 of the One infinite will – now called God – that is the original source or ground of one’s absolute freedom and particular duties, the spiritual band that preserves and unifies the supersensible community of finite I’s, and the original source or ground of the original limitations or determinations of every finite I.12 What this »argument of belief« purports to show is that one’s immediate awareness of moral obligation is the ideal ground of belief in God and that God, in turn, is the real ground of the voice of conscience. An analysis of the possibility of finite self-consciousness must ultimately refer us to something lying wholly outside the domain constituted by the acts of the human mind, something which can no longer be treated as an ›I‹ at all, not even a pure one. No longer must the philosopher interpret our awareness of concrete duty as either an inexplicable fact of reason or an inscrutable limit upon an otherwise arbitrary freedom of Willkür (which is how Fichte himself had sometimes described it in the 8 

Ives Radrizzani: The Place of the Vocation of Man in Fichte’s Work. In: New Essays on Fichte’s Later Jena Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Evanston, IL 2002, 317–344, hier: 333. 9 Fichte: Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 318–357, hier: 348. Note that this same strategy for an »argument of belief« is already explicitly mentioned in 1794 in the Aenesidemus review. See Fichte: Anesidemus, GA I 2, 31–67, hier: 65–66, where it is associated with the method of practical philosophy in contrast with the method of theoretical philosophy. 10  See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 145–311, hier: 262–263. 11  See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 278–279. 12  See Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 291–296.

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past).13 Now it can be seen for what it truly is: »[ein] Orakel aus der ewigen Welt«.14 To be sure, Die Bestimmung des Menschen is a popular rather than a scientific presentation of these conclusions, and yet it indicates a new scientific task for the Wissenschaftslehre as well. The new challenge would be to present this new thought, or rather this new Blick or insight, not as an »argument of belief« but as the result of a proper transcendental deduction of the conditions for the possibility of any consciousness (or knowledge) whatsoever, quite independently of the alleged fact of universal belief in some such transcendent reality. The only systematic division of the Wissenschaftslehre that Fichte had failed to articulate adequately during his years in Jena was philosophy of religion; and he explicitly understood and recommended Book III of Die Bestimmung des Menschen as a popular sketch of what a scientific theory of religion »nach Principien der W.L.« would have to demonstrate rigorously.15 We shall see below how the effort to integrate this new insight into the systematic structure of the Wissenschaftslehre would require much more than a mere extension or expansion of the same; instead, it would demand an entirely new starting-point and method, which would at least threaten to transform the Wissenschaftslehre from a purely immanent and transcendental system of the necessary acts of the human mind into one that refers to a transcendent principle – and indeed, to a transscendent being – lying altogether beyond the domains of both consciousness and knowledge. (b.) Fichte’s second literary objective after his departure from Jena – namely, responding to and correcting various philosophical criticisms of the Wissenschaftslehre – is one he pursued through a variety of means and formats. In response to Kant’s characterization of his philosophy as a purely formal or logical system, he had Schelling place a public response in the Allgemeinen Literatur-Zeitung in which he claimed that Kant’s repudiation of the Wissenschaftslehre was merely a reflection of

13  See,

e.g., Fichte: System der Sittenlehre nach Principien der Wissenschaftslehre, GA I 5, 1–317, hier: 101–102 and Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 353. 14 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, GA I 6, 293. 15  See Fichte’s comment in his letter to his wife, 5.11.1799: »Ich habe bei der Ausarbeitung meiner gegenwärtigen Schrift einen tieferen Blick in die Religion gethan, als noch je« (GA III 4, 142). See the discussion in the next section of Fichte’s letters to Schelling, to whom he refers in Book III of Die Bestimmung des Menschen, for hints concerning the new »system of the intelligble world« that he was trying to incorporate into his »new presentation of the WL.«

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his lack of any first-hand acquaintance with the same.16 Then, in January of 1800, after receiving a letter from Reinhold extolling Bardili’s Grundriß der Ersten Logik and reading Bardili’s work on his own, Fichte became increasingly hostile toward both Bardili and Reinhold, as is evident from his acid review of the Grundriß (written and published in October of 1800), in which he denounces Bardili’s project of basing philosophy upon nothing but »Denken als Denken« as no more than »ein trockne[s] Spiel mit Begriffen« and as an example of precisely the kind of »spielende Formal-Philosophie« that Kant had mistakenly taken the Wissenschaftslehre to be.17 But he also employs Bardili’s philosophy as a useful foil for his own insistence upon the importance of intuition with respect to philosophical evidence. Reinhold responded in January of 1801 with an irritated Sendschreiben, to which Fichte of course responded in turn with his own Antwortschreiben in April of the same year.18 Fichte responded directly to the charge that the pure I is nothing more than »eine psychologische Täuschung,«19 in nearly all of his writings from this period: in his January 1800 Aus einem Privatschreiben (January 1801), in An das philosophische Publikum (November 1800), in his 16  Immanuel

Kant: Erklärung. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 28.8.1799 (reprint in: Fichte im Gespräch, Bd. 2, 217–218). In this »Declaration«, Kant dismisses the Wissenschaftslehre as »bloße Logik« and »ein gänzlich unhaltbares System«. See Fichte’s letter to Schelling, of September 12, 1799, which contains the text of the reply to Kant that Schelling placed at Fichte’s request in the Allgemeinen Literatur-Zeitung. 17 Fichte: Rezension Bardili, GA I 6, 427–450, hier: 435, 443. 18  Karl Leonhard Reinhold: Sendschreiben an J. C. Lavater und J. Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg 1799. Fichte: Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold, GA I 7, 275–324, hier: 291–324. 19  Christoph Friedrich Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard, und Fichte. Berlin/Stettin 1799. Nicolai had been a thorn in Fichte’s side for many years, and attacked him once again in late 1800 on the pages of the Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, in a collective review of recent writings by Schelling and others. Fichte first became aware of Nicolai’s attack in February of 1801 and responded by dropping work on everything else and preparing for publication the polemical tract, Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen, which was in print by May of that year. (See Fichte: Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen, GA I 7, 365–463.) Johann Henrich Gottlieb Heusinger: Ueber das idealistisch-atheistische System des Herrn Profeßor Fichte. Perthes 1799. See Fichte’s comments on this work in his unpublished note from the spring of 1799. In: [Gegen Heusinger], GA II 5, 193. This same charge of psychologism was subsequently repeated by Reinhold as well. See Karl Leonhard Reinhold: Ueber die Autonomie als Princip der praktischen Philosophie der Kantischen – und der gesammten Philosophie der Fichtisch-Schellingschen Schule. In: Karl Leonhard Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. 2. Heft. Hamburg 1801.

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Anwortschreiben an Reinhold (April 1801), in the Sonneklarer Bericht (April 1801), and in his polemic against Nicolai, Friedrich Nicholais Leben und sonderbare Meinungen (written in a few short months in the spring of 1801 and published in May of that year). In each case his response was similar: Wissenschaftslehre is not psychology, because it deals not with alleged »facts of consciousness« but with the necessary acts of the mind, as those are freely constructed within transcendental philosophy.20 The publication in 1799 and 1800 of Herder’s and Hamann’s Metacritiques of transcendental philosophy,21 was viewed by Fichte as yet another attack upon the Wissenschaftslehre, which was criticized for failing to recognize the extent to which all thought is conditioned by natural language and thus for failing to appreciate the need to preface the critique of reason with a critique of language.22 Fichte replied to this criticism in several publications, including Aus einem Privatschreiben and his November 4, 1800 Announcement of a new presentation of the Wissenschaftslehre. After noting that his actual terminology is unimportant, variable, and purely provisional, he insists that all that really matters for the purposes of Wissenschaftslehre is its success in leading people to see for themselves what it is talking about.23 Words, he insists, are mere 20  See

Fichte: Aus einem Privatschreiben, GA I 6, 363–389, hier: 387: »Nämlich dieser Heusinger bildet sich noch überdies nichts geringeres ein, als daß er dem ganzen Systeme der WissenschaftsLehre mit Einem Streiche ein Ende machen könne, indem er versichert, jenes Ich, worauf dieses System baue, in seinem Bewusstseyn gar nicht vorzufinden: es sey dasselbe eine psychologische Täuschung. Psychologie eben lehrt – von Thatsachen des Bewusstseyns eben, – von dem, was man nur so vorfindet, wenn man sich findet, redet die Wissenschaftslehre!« 21  Johann Georg Hamann: Metacritik über den Purismus der Vernunft. In: Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion. Hrsg. v. Friedrich Theodor Rink. Königsberg 1800 [written 1784]) and Johann Gottfried von Herder: Verstand und Erfahrung: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1799. Another linguistically based criticism was applied explicitly to the Wissenschaftslehre by Jean Paul, who characterized Fichte’s philosophy as »bloße von Begriff und Anschauung freie Sprache« (Paul: Clavis Fichtiana, § 10, 201–202). 22  See Paul: Clavis Fichtiana, § 10. 23  »Aber warum bleibe ich nicht bei dem gewöhnlichen SprachGebrauche? Ich wünschte, mein Freund, daß Sie Gelegenheit fänden, denen, die so fragen, zu sagen, daß ich für meine Person diese Rede für eine der ›formalen Unvernunften‹ unsers Zeitalters ansehe, welche hoffentlich nur einer dem andern nachsagt, jeder auf die Verantwortung seines Vordermanns, ohne daß ein einziger bedenkt, was er redet. Dem Denker, der wirklich etwas Neues auf die Bahn zu bringen meint, gebieten, daß er bei dem gewöhnlichen SprachGebrauche bleibe, ist – lediglich die Hyperbel abgerechnet – ganz dasselbe, als ob mein einem geböte, den Pescherähs, Europäische Künste, Wissenschaften, und Sitten beizubringen, jedoch in den Worten und WortBedeutungen ihrer bisherigen Sprache. Erzeuge ich in mir eine neuen Begriff,

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names for concepts, whereas reason itself possesses in intuition »ein[] höheres Vereinigungsmittel […] als den Begriff«.24 But none of the philosophical criticisms leveled against Fichte during this period affected him more deeply or personally than the famous charge of nihilism raised by Jacobi in his Open Letter of 1799.25 No sooner, according to Jacobi, does transcendental reflection set to work on reality than it transforms it into an artificial construction, lacking any reality of its own. With its demand for knowledge, philosophy ends up by eliminating the possibility of any access to reality whatsoever, which, according to Jacobi is possible only by means of belief. Though Die Bestimmung des Menschen must certainly count as an indirect reply to Jacobi’s charge of nihilism, Fichte also responded more directly to this charge a year later in his Sonnenklarer Bericht. Jacobi’s basic error, he there explains, is his utter inability to grasp what transcendental philosophy is trying to accomplish and his failure to realize that philosophy is simply a speculative reconstruction of something the reality of which is never questioned by the philosopher – and therefore something he has no need nor ability to demonstrate. Ultimately, Fichte accuses Jacobi of failing to grasp the all-important distinction between the purely speculative or theoretical standpoint of philosophy and the practical standpoint of life – a distinction that he had underlined more than a year earlier in Aus einem Privatschreiben. so bedeutet freilich das Zeichen, wodurch ich ihn für euch bezeichne, (denn für mich selbst bedürfte es überall keines Zeichens) für euch etwas neues, das Wort erhält eine neue Bedeutung, da ihr bisher das Bezeichnete gar nicht besessen habet. Wenn jemand sagt: ihr habt bisher noch gar keine rechte Philosophie gehabt; ich will sie euch machen: so sagt dieser ohne Zweifel zugleich mit: ihr habt auch noch keinen rechten philosophischen SprachGebrauch gehabt; ich muß schon nebenbei euch auch diesen machen. Solltet ihr Händel an ihm suchen, so rathe ich euch wohlmeinend, nur geradezu seine Philosophie, nicht aber seinen SprachGebrauch anzugreifen. Gelingt es euch, über die erstere den Sieg davon zu tragen, so geht der SprachGebrauch derselben ohne weiteres mit zu Grunde. Könnt ihr aber der erstern nichts anhaben, so werdet ihr ihren SprachGebrauch vielmehr lernen müssen, um in sie selbst einzudringen. – Ihr sollt bei dem gewöhnlichen SprachGebrauche bleiben, heißt im Grunde: ihr sollt bei der gewöhnlichen Denkart bleiben, und keine Neuerungen auf die Bahn bringen. Wohl möglich, daß einige, die diese Rede vorbringen, sie wirklich auf diese Weise verstehen: dann aber könnten sie ihre wahre Meinung weit directer ausdrücken« (Fichte: Aus einem Privatschreiben, GA I 6, 374–375, 369). 24 Fichte: [Ankündigung:] Seit sechs Jahren, GA I 7, 143–164, hier: 158–159. In this passage Fichte explicitly refers to and rejects the demand by Herder and Jean-Paul that the critique of reason be preceded by a metacritique of language. 25  Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte, Hamburg 1799 (reprint in: F.H. Jacobi an Fichte, GA III 3, 224–281). This open letter was sent to Fichte in March of 1799 and published in September of that year.

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(c.) Though it was no doubt intended first and foremost as a public rebuttal of the charge of atheism, Die Bestimmung des Menschen was also written in pursuit of Fichte’s third goal: namely, to earn some much-needed income; and it did indeed prove to be a success from that standpoint. It was largely for this same reason as well, I would argue (i.e. in order to secure the publisher’s royalties) that Fichte also began making arrangements at this same time for a second edition of the Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, though this did not appear until 1802. In the summer of 1800 he also began work on two other writings intended for the largest possible popular readership: Der geschlossene Handelstaat, which was completed by the end of the summer, and Sonnenklarer Bericht, the first half of which he wrote in the following months, and the second half of which he wrote during the first months of 1801. He evidently intended this latter work, which was finally published in April of 1801, not only as a response to Jacobi’s nihilism charge, but also to serve as a popularly accessible introduction to a projected revised version of the Wissenschaftslehre nova methodo lectures.

2. In Search of the »Highest Synthesis« or System of the Spiritual World (d.) Preparation of a new version of the Wissenschaftslehre was Fichte’s fourth and final literary goal upon his arrival in Berlin, though it had to wait until he had responded to the charges mentioned above. In the summer of 1800 he agreed to give private lessons on the Wissenschaftslehre to a wealthy businessman, though it appears that these did not actually begin until the fall,26 at about the same time he was composing a public announcement of a new presentation of the Wissenschaftslehre. As the unfinished manuscript, Neue Bearbeitung der W. L. 1800, clearly reveals, Fichte was at this time engaged not simply in revising the Wissenschaftslehre nova methodo in order to give his new presentation a more perspicuous and rigorously geometrical form, but was also trying 26 Fichte

mentioned in his June 9, 1800 letter to Schelling that he had recently been asked by a rich man (namely, the banker Salomon Moses Levy) to give lessons on the Wissenschaftslehre. Apparently, however these lessons did not actually begin until sometime in the fall. (Johann Gottlieb Fichte to Andreas Reimer, 21.10.1800, GA III 4, 338. – Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 15.11.1800, GA III 4, 359–361).

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to expand it to include a more fully elaborated account of the »synthesis of the intelligible world,«27 an account that would (a.) be based on the five-fold synthesis of pure willing in § 13 of Wissenschaftslehre nova methodo and (b.) be consistent with the account of the supersensible world sketched in Book III of Die Bestimmung des Menschen. This same manuscript also provides poignant testimony to his growing doubts concerning the adequacy of this entire strategy for presenting transcendental philosophy.28 Other than its often rather forced efforts to conform to the requirements of a presentation more geometrico, the most striking feature of the 1800 Wissenschaftslehre is how closely it conforms to the overall deductive strategy of the Wissenschaftslehre nova methodo and how it explicitly reaffirms the main thesis of the Jena lectures concerning the strict limitation of the scope and claims of transcendental philosophy to the domain of consciousness. Nothing, he insists, can be recognized as absolute by the Wissenschaftslehre other than consciousness itself – that is to say, the immediate or intuitive consciousness of the inseparability of thinking and self-consciousness. This is what Fichte had earlier referred to as Ichheit or as the »pure form of the I«: namely, the immediate presence of the I to itself in »intellectual intuition«, which is now described in the 1800 Wissenschaftslehre as the »absolute reflex« of consciousness or as »absolute consciousness« – and as the only thing that deserves this appellation.29 We must never, he warns us, treat this »absolute consciousness« or »pure reflex« as anything other than a constitutive element that must always be presupposed for the possibility of actual, finite consciousness. It must therefore never be hypostasized as something existing or capable of existing on its own or in itself, apart from finite consciousness.30 Once again, transcendental philosophers are strictly enjoined 27 

See Fichte’s letter to Schelling, December 27, 1800 (GA, III 4, 406). Daniel Breazeale: Die Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre (1800): Letzte »frühere« oder erste »spätere« Wissenschaftslehre?. In: Fichte-Studien 17 (2000), 43–67. 29  »Es, dieses unmittelbare Selbstbewußtseyn, is das höchste absolute, in welchem alles andere befaßt ist« (Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 319–402, hier: 340). 30  »Dieses nachgewiesene unmittelbare Selbstbewußtseyn ist nun nicht etwa zu denken, als ein besonderes für sich bestehendes Bewußtseyn (als ein irgend einen Moment des BewußtseynLebens ausfüllender Zustand) sondern nur als ein in allen Momenten desselben durchaus nothwendig, an sich unverändert, u. ganz das selbe erkennendes erstes u. ursprüngliches alles Bewußtseyns – stets aber mit einer weitern Bestimmung: hier irgend eines bestimmten Denkens vereinigt. […] Es ist auch nicht’s 28  See

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never to overstep the boundary represented by immediate consciousness, beyond which there can be – for us, anyway – nothing higher.31 We must strictly limit all our claims to what is true for us (that is, for consciousness) and banish forever the dogmatic pretense implicit in referring to anything as it is in itself, a term that has no meaning whatsoever within the Wissenschaftslehre.32 In order to continue our survey of the evolution of Fichte’s Systembegriff during this period let us turn to several other documents that testify poignantly to certain dramatic changes that were taking place in his conception both of the extent and content of Wissenschaftslehre and of the best strategy for presenting it. More specifically, let us attend to his correspondence with the person to whom he was still referring in print as »mein geistvolle[r] Mitarbeiter« and with whom he was busily making plans to collaborate on a new philosophical journal,33 even as their growing philosophical differences were becoming more and more obvious to them both: namely, Schelling.34 Though Fichte and Schelling had corresponded previously, there is a new intensity and urgency in their letters beginning in late 1800, which

anderes, als das, allem Bewußtseyn vorauszusetzende) – Bei sich selbst seyn u. für sich selbst seyn des Bewußtseyenden selbst – der reine Reflex des Bewußtseyns[.] Ich möchte nicht Reflexion sagen: denn es ist kein Akt, der auch nicht seyn, anders seyn, un[d] scheinen könnte, nichts discretes, sondern daß, wo Bewußtseyn gesezt wird, allgegenwärtig dasselbe Intelligiren selbst [ist]. Reiner Reflex sage ich: nur Reflex, von etwas unten Liegendem: bis jezt von einer Bestimmtheit des Denkens – Also nicht, der etwas aus sich selbst mit sich brächte – etwa ein materielles Ich. Tollheit! ‹u. unge›heurer Misverstand« (Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 345–347). 31 »Diese unmittelbare Anschauung, als die absolute Grenze, in welcher alles unser gemein[es], oder philosophisches Denken sich notwendig bewegen müße« (Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 340). »Alles Bewußtseyn[,] alles was für uns je da seyn soll[,] ist nur weitere Bestimmung, u. Objekt jenes, ‹unm›ittelbaren Bewußtseyns. Das ist die Sphäre die für uns alles umschlingt; das erste durchaus positive. Ueber welches es kein höhers, für uns, (d. i. für den der sich Ich sagt) giebt noch geben kann« (Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 342). 32  »Kommt das reale aus dem idealen; oder umgekehrt: Nein beides ist unzertrennlich ‹vereinigt›. Keines aber ist an sich. Schon die ganze Theilung ist nichts an sich, sondern Resultat unsrer Endlichkeit. Jenes an sich hat überhaupt keine Bedeutung – Beschränkung auf Uns, d. h. auf alles was Ich sagt. die auch der Philosoph deutlich anerkennen muß« (Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 358). 33 Fichte: Seit sechs Jahren, GA I 7, 154. 34  For an illuminating study of this correspondence and its significance for the 1801/02 Wissenschaftslehre, see Christian Klotz: »Synthesis der Geisterwelt.« Fichtes Systemskizze im Briefwechsel mit Schelling. In: Fichte-Studien 21 (2005), 43–56, hier: 45–46. See too Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre. Freiburg 1975.

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may have originally been provoked by Schelling’s anxious desire to learn Fichte’s reactions to his own System des transzendentalen Idealismus. Schelling had a copy of this work sent to Fichte in May of 1800, but received no comments from Fichte regarding it for nearly half a year, even though Fichte read the book over the summer.35 When finally, in his letter of November 15, he finally did respond to Schelling’s entreaties, he confined himself to expressing polite reservations concerning Schel­ ling’s efforts to elevate Naturphilosophie to the status of an independent philosophical science alongside transcendental idealism and reiterated his long-standing view that the sought-for union of ideality and reality, of consciousness and object is to be found only in the I.36 By the end of the year, however, after he had completed at least the first half of the Sonnenklarer Bericht and was still trying desperately to finish the announced new presentation of the Wissenschaftslehre that had begun as a revision of his Jena lectures on Wissenschaftslehre nova methodo, Fichte’s letters to Schelling take on a new seriousness and philosophical depth, which reflect a crisis and turning point in his conception of the new presentation. This incipient turn is unmistakable in his letter to Schelling of December 27, 1800, and even more obvious in his draft of the same letter. In the draft he asserts that the basis for their apparent differences as well as for many of the prevailing misunderstandings of the Wissenschaftslehre lies solely in the fact that he has still not been able to complete his »System der intelligibeln Welt«. He then proceeds to explain what this implies for the Wissenschaftslehre as a whole. Up until now, he writes in this draft, the Wissenschaftslehre 35 Schelling

sent a copy of his System des transsendentalen Idealismus along with some of his recent writings on Naturphilosophie to Fichte in May of 1800, and Fichte read it during the latter half of that year. (See the manuscript from this period Bei der Lectüre von Schellings tr. Idealismus, GA II 5, 410–415, hier: 413–415.) As his notes show, Fichte was plainly annoyed by Schelling’s patronizing remarks in the introduction to this work concerning the one-sided idealism of the Wissenschaftslehre and was now more aware than ever of the growing gulf between his conception of philosophy and that of his erstwhile disciple and of the threat to the Wissenschaftslehre represented by Schelling’s emerging conception of a complete system of philosophy of which transcendental philosophy (along with Naturphilosophie) was but one of two main branches. To be sure, some of the differences between his philosophy and Schelling’s had already become apparent several years earlier, and some of these are tacitly referred to by Fichte in his 1797 Einleitungen to the Wissenschaftslehre. 36  See Fichte’s letter to Schelling of 15.11.1800. This is also the letter in which Fichte declares that the self-construction of the I described in the Wissenschaftslehre is only a fiction, a point that is repeated in the Fifth Lehrstunde of the Sonnenklarer Bericht, which he was busy composing that same fall. (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 15.11.1800, GA III 4, 359–361.)

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has been a system that moves entirely within the circumscribed domain of subject-objectivity associated with the intellect or finite I, an I that simply finds itself to be limited by material feeling and conscience. Starting from these limitations, the Wissenschaftslehre was previously able to deduce the entire sensible world (and, he might have added, though he did not, the social world of individuals and the pre-deliberative determinacy of the moral will). What it was unable to do, however, was to explain the origin of these original limitations. In order to do this, Fichte notes correctly, it will be necessary both to go beyond the I and to establish our right (as transcendental philosophers) to do so. And this is precisely the function he assigns to his still unfinished new »system of the intelligible world«. His strategy, he explains, will be to demonstrate that the highest principle of this intelligible world, which he here calls God (understood as the highest Potenz of intelligenc), is the real ground and source of both moral duties and sensible feelings, the latter understood as nothing but a sensible manifestation of what is, in itself, purely intelligible, and the former understood as the lower Potenz of intelligence as noumenon.37 The version of this same letter that Fichte actually sent to Schelling is more circumspect and does not fully reveal the author’s bold new strategy for explaining the origin of those original limitations he had previously and consistently declared to be absolutely incomprehensible and eschews any explicit reference to God as the highest principle.38 In it, 37  »Wissenschaftslehre

(wie Sie es verstehen; nach mir ist W.L. – Philosophie überhaupt –) oder transscendentaler Idealismus genommen als das System, das innerhalb des Umkreises der Subject=Objectivität des Ich, als endlicher Intelligenz, und einer ursprünglichen Begränzung desselben durch materielles Gefühl und Gewissen sich bewegt, und innerhalb dieses Umkreises die Sinnenwelt durchaus abzuleiten vermag, auf Erklärung jener ursprünglichen Beschränkung selbst aber sich durchaus nicht einläßt: – bleibt immer die Frage übrig, ob nicht, wenn nur erst das Recht, über das Ich hinauszugehen, aufgewiesen wäre, auch jene ursprünglichen Beschränkungen erklärt werden können; das Gewissen aus dem Intelligibeln als Noumen (oder Gott), die Gefühle, welche nur der niedere Pol des erstern sind, aus der Manifestation des Intelligibeln im Sinnlichen. Dies giebt zwei neue durchaus entgegengesetzte Theile der Philosophie, die im transscendentalen Idealismus als ihrem Mittelpunkte vereinigt sind. Die endliche Intelligenz als Geist, ist die niedere Potenz des Intelligibeln als Noumen; dieselbe ist, als Naturwesen, die höchste Potenz des Intelligibeln als Natur« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 27.12.1800 (draft), GA III 4, 404–405, hier: 405). 38  See, e.g., the following passage from Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung (published November 1798): »Die Welt ist nichts weiter, als die nach begreiflichen VernunftGesetzen versinnlichte Ansicht unsers eignen innern Handelns, als bloßer Intelligenz, innerhalb unbegreiflicher Schranken, in die wir nun einmal eingeschlossen sind, – sagt die transcendentale Theorie; und es ist dem Menschen nicht zu verargen, wenn ihm bei dieser gänzlichen Verschwindung

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however, he does concede the inadequacy of »die bisherigen Princi­ pien des Transscendentalismus« (including, presumably, his own) for the derivation of certain necessary but still missing principles of the Wissenschaftslehre. These missing elements, he continues, can be derived »nur durch eine noch weitere Ausdehnung der TransscendentalPhilo­ sophie, selbst in ihren Principien«. He then confesses that though he has not yet succeeded in formulating these new principles in a scientifically adequate manner, he is nevertheless aware that they pertain to nothing less than »ein transscendentale[s] System[] der intelligiblen Welt«, and he promises that he will formulate these new principles just as soon as he has finished work on the new presentation of his system (which is obviously a reference to the unfinished 1800 version upon which he was at this point still laboring). In the meantime, however he directs Schelling to Book III of Die Bestimmung des Menschen for clear hints regarding this new system of the intelligible world.39 des Bodens unter ihm unheimlich wird. Jene Schranken sind ihrer Entstehung nach allerdings unbegreiflich; aber was verschlägt dir auch dies? – sagt die praktische. Philosophie; die Bedeutung derselben ist das klarste, und gewisseste, was es giebt, sie sind deine bestimmte Stelle in der moralischen Ordnung der Dinge« (Fichte: Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung, GA I 5, 353). 39  »Zu verstehen glaube ich Sie recht wohl, und verstand Sie so schon vorher. Nur glaube ich,daß diese Sätze nicht aus den bisherigen Principien des Transscendentalismus folgen, sondern ihnen vielmehr entgegen sind; daß sie nur durch eine noch weitere Ausdehnung der TransscendentalPhilosophie, selbst in ihren Principien, begründet werden können, zu welcher ohnedies das Zeitbedürfniß uns dringendst auffordert. – Ich habe diese ausgedehntern Principien noch nicht wissenschaftlich bearbeiten können; die deutlichsten Winke darüber finden sich im dritten Buche meiner Best. d. Menschen. Die Ausführung derselben wird, sobald ich mit der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre fertig bin, meine erste Arbeit seyn. Mit einem Worte: es fehlt noch an einem transscendentalen Systeme der intelligiblen Welt; Ihren Saz, daß das Individuum nur eine höhere Potenz der Natur sey, kann ich nur unter der Bedingung richtig finden, daß ich die Natur nicht bloß als Phänomen (und insofern offenbar von der endlichen Intelligenz erzeugt, daher nicht wiedrum sie erzeugend) setze, sondern ein Intelligibles in ihr finde, von welchem überhaupt das Individuum die niedere, von etwas in ihm aber (dem nur bestimmbaren) die höhere Potenz (das bestimmte) ist. In diesem Systeme des Intelligiblen allein können wir uns über diese, und andere Differenzen durchaus verstehen, und vereinigen« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 27.12.1800, GA III 4, 406–407). Still trying to find common ground with his erstwhile ally, Fichte concludes this letter with the hope that they might be able to bridge their differences by viewing both the finite intellect and nature in the light of these new principles. As Christian Klotz has observed, the differences between the draft and the letter of December 27 are quite significant: Though the letter only relates the finite intellect to the intelligible world in the manner that Fichte had previously related them in the Wissenschaftslehre nova methodo – that is, as das Bestimmbare and das Bestimmte – and has

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From this letter it appears that Fichte did not yet, at the end of 1800, envision any need for a wholesale revision of the new presentation upon which he had been working for the past half year, but thought instead that he might simply be able to supplement it with a separate presentation of his projected new »system of the intelligible world«. However, the final pages of the manuscript of the 1800 Wissenschaftslehre show how hard he was struggling to integrate this system into the older presentation and how difficult he was finding this to be. Indeed, the manuscript concludes with the concept of »das Band der discreten Individuen« and with the poignant and desperate remark: »giebt es nicht vielleicht eine reine Anschauung von Gott: wodurch ich meiner Philosophie einmal helfen könnte«?40 Almost immediately after sending this letter to Schelling, Fichte abandoned forever the idea of using his Jena lectures as the basis for his promised New Presentation – at almost the same moment that the November 4 announcement of the same finally appeared in print (that is, January 1801). Instead, he devoted the first months of the new year to completing the manuscript of the Sonnenklarer Bericht, and as a result there are some significant philosophical differences between the contents of the first and second half of this work. The first three Lehrstunden describe the aim and task of the Wissenschaftslehre precisely as Fichte had described it years earlier in Jena: »die Ableitung des ganzen Bewußtseyns« in order to produce »eine getroffene und vollständige Abbildung des ganzen Grundbewußtseyns«.41 nothing at all to say about the relation of nature itself (feeling) to this higher realm, the earlier draft goes well beyond this in proposing to treat the intelligible world, and indeed, the principle of the same – or what Fichte had first referred to in Book III of Die Bestimmung des Menschen, as the »band of the spiritual world« or »God« – as the necessary and sufficient explanatory ground of both feeling and conscience. (See Klotz: Synthesis der Geisterwelt, 45–46.) 40 Fichte: Neue Bearbeitung der W. L. (1800), GA II 5, 401–402. 41  »Sie wäre die Demonstration, die Ableitung des ganzen Bewußtseyns, es versteht sich immer, seinen ersten, und Grundbestimmungen nach, aus irgend einer im wirklichen Bewußtseyn gegebnen Bestimmung desselben« (Fichte: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie, GA I 7, 185–274, hier: 208, Zweite Lehrstunde). »Das durch die Wissenschaftslehre abgeleitete soll, der Absicht nach, eine getroffene und vollständige Abbildung des ganzen Grundbewußtseyns seyn. Kann nun dasselbe mehr enthalten, oder weniger, oder irgend etwas anders bestimmtes, als im wirklichen Bewußtseyn vorkommt? »D. L. Keinesweges, so gewiß die Wissenschaftslehre ihren Zweck erfüllt. [/] Jede Abweichung derselben von dem wirklichen Bewußtseyn wäre der sicherste Beweis der Unrichtigkeit ihrer Ableitung« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 246, Fünfte Lehrstunde).

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Over and over again, the same familiar point is repeated: all human thinking without exception, including that of the transcendental philo­ sopher, proceeds only from the standpoint of ordinary experience, that is, from the standpoint of life rather than that of speculation.42 Philosophy must therefore abstain totally from any reference to things in themselves and consider – which is to say, reflect upon – every reality exclusively in its relationship to consciousness.43 Try as one might, insists Fichte, in all one’s knowledge, one can never escape the determinations of consciousness.44 The Wissenschaftslehre »erschöpft alles mögliche Wissen des endlichen Geistes seinen Grund=Elementen nach«, and in doing this it remains true to the spirit of the Critical philosophy and capable of pointing out precisely »wo das Unvernünftige die Grenzen der Vernunft über­ schreitet, und ihr widerspricht«.45 42 

»Ich erkläre sonach hiemit öffentlich, daß es der innerste Geist, und die Seele meiner Philosophie sey: der Mensch hat überhaupt nichts, denn die Erfahrung, und er kommt zu allem, wozu er kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. Alles sein Denken, sey es ungebunden, oder wissenschaftlich, gemein, oder transscendental, geht von der Erfahrung aus, und beabsichtigt hinwiederum Erfahrung. Nichts hat unbedingten Werth, und Bedeutung, als das Leben; alles übrige Denken, Dichten, Wissen hat nur Werth, insofern es auf irgend eine Weise sich auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht, und in dasselbe zurückzulaufen beabsichtiget. Dies ist die Tendenz meiner Philosophie. Dasselbe ist die der Kantischen, die wenigstens über diesen Punkt sich nicht von mir lossagen wird« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 194, Einleitung). 43  »Uns sey es hier, zufolge unsrer Abrede genug, diese Sphäre der ersten Potenz als Sphäre solcher Grundbestimmungen unsers Lebens, keinesweges aber als Sphäre von Dingen an und für sich, von welcher Ansicht wir hier wegsehen, zu betrachten. Mögen sie doch immer an und für sich selbst auch das letztere seyn: für uns sind sie nur, an uns kommen sie nur, als Bestimmungen unsers Lebens, dadurch, daß wir sie leben, und erleben; und wir begnügen uns hier von denselben nur in Beziehung auf uns zu reden. Man nennt das in dieser Sphäre liegende auch vorzugsweise Realität, Thatsache des Bewußtseyns. Man nennt es auch die Erfahrung. Wisse, mein Leser, daß von nun an bloß und lediglich auf dieses System der ersten Potenz reflektirt wird; vergiß dies keinen Augenblick; sondere alles, was in höhern Potenzen liegt, ab, und siehe weg davon« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 204, Erste Lehrstunde). 44  »Ich bitte dich, mein Leser, rüttle doch diese Träumenden, und sage ihnen: wißt ihr denn je, ohne daß ihr eben ein Bewußtseyn habt; könnt ihr denn also je mit allem euren Wissen, und da dieses, wofern ihr euch nicht in Stöcke, und Klötze verwandelt, von eurem Wesen unzertrennlich ist, mit eurem ganzen Wesen je über Bestimmungen des Bewußtseyns hinauskommen?« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 251, Fünfte Lehrstunde.) 45  »Jenes System erschöpft alles mögliche Wissen des endlichen Geistes seinen Grund=Elementen nach, und stellt diese Grund Elemente für alle Ewigkeit hin. [….] Was nicht seinen Elementen nach in ihrer Abschilderung schon vorhanden ist, ist sicher wider die Vernunft. Jeder, der jene allgemeine Ausmessung der endlichen Ver-

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The domain and trajectory of the Wissenschaftslehre are thus sharply and clearly circumscribed: it begins with nothing but the concept of Ichheit, as grounded in an immediate and self-evident intuition on the part of a finite I, and then proceed to derive, discursively and one by one, in a genetic or synthetic series, all of the basic features or structures of consciousness as such, until it has finally succeeded in deriving »das klare, und vollständige Bewußtseyn«.46 Such derivation is a purely theoretical or speculative procedure, which Fichte describes as a Nachconstruiren, a procedure that allows one to view actual consciousness as »gleichsam Resultate einer ursprüngliche Construktion« – a »gleich als ob« that implies that philosophical construction or reconstruction can produce nothing but a fiction.47 In case the reader still has not grasped this point, the author explicitly notes that the Wissenschaftslehre’s philosophical »Nacherfinden des Bewußtseyns« in no way presupposes nor takes seriously the transcendent idea of »ein[en] ursprüngliche[n] e­ rste[n] Werkmeister« of consciousness.48 Admonitions of this sort are, however, largely absent from the later Lehrstunden (more specifically, from Lehrstunde 4 and 6),49 in which the focus is not upon the Grundanschauung of self-consciousness, but is instead – as at the beginning of the 1801/02 Darstellung der Wissenschaftslehre – upon the distinctive character of intellectual intuition and self-evidence more generally, which is now described as something familiar to anyone who has ever been certain and convinced about the truth of any proposition whatsoever. These later portions are also replete with specific instructions and hints about how to develop the capacity to

nunft mit unternommen hat, weiß in jedem Augenblicke den Punkt anzugeben, wo das Unvernünftige die Grenzen der Vernunft überschreitet, und ihr widerspricht« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 255 Sechste Lehrstunde). 46 Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 219. 47  See Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 219–220, 223, Dritte Lehrstunde and 249, Fünfte Lehrstunde. 48  »Der Wissenschaftslehrer sonach, und er allein, wäre der Künstler des Bewußtseyns, wenn es doch hier einen Künstler geben sollte; eigentlich der Nacherfinder des Bewußtseyns; jedoch ohne daß ein ursprünglicher erster Werkmeister, und ein Begriff desselben, wonach er sein Werk zu Stande gebracht hätte, vorausgesetzt, und im Ernste angenommen würde« (Fichte: Sonnenklarer Bericht, GA I 7, 216, Dritte Lehrstunde). 49  Lehrstunde Five repeats many of the points made in the first three, which suggests it was written at the same time they were written, i.e., in the fall and winter of 1800, before Fichte had abandoned work on Seit sechs Jahren, whereas Lehrstunden Four and Six, along with the Nachschrift appear to have been sometime later in 1801.

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hold fast to such intuitive evidence and develop the kind of intellectual talent presupposed by Wissenschaftslehre.50 This same new emphasis upon the distinctive character of immediate evidence and intuition is also present in Fichte’s next philosophical text, his Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold, which he wrote and published in April 1801. But the Antwortschreiben also goes well beyond the Sonnenklaren Bericht, first of all in its account of how, in intellectual intuition, the individual and the universal, subjectivity and objectivity, are grasped together and in their identity »mit einem Blick«51 – a locution that will feature prominently in the Wissenschaftslehre of 1801/02 but does not occur in any of the earlier presentations. It is precisely to this kind of flash of insight that the new version of the Wissenschaftslehre refers us and upon the occurrence of which it rests. Since all genuine truth must involve just such a Blick, it follows that what is presupposed by the Wissenschaftslehre and required of anyone wishing to understand it is precisely this: that one »schlechthin Wahrheit setzt«.52 For much of the first half of 1801 Fichte was preoccupied, first, with completing the Sonnenklarer Bericht and then with writing and publishing his polemic against Nicolai and his reply to Reinhold. So it was probably not until the summer that he had the time to turn his full attention back to the projected new presentation. No longer, however, did he intend to base this new version upon his Jena lecture (i.e., the manuscript of the Wissenschaftslehre nova methodo) or the private lessons he had given in Berlin the previous fall and winter. Instead, he now set to work on a radically new and fresh presentation of his system, which he certainly intended for publication and also employed as the basis of private lessons on the Wissenschaftslehre that he gave in Berlin over the course of the next nine months. Before he had advanced very far in the composition of the new presentation, that is, in May of 1801, he received a copy of Schelling’s Darstellung meines Systems der Philosophie, to which he immediately set about composing a detailed and critical private response.53 At the same 50  These

same tips are repeated almost word for word in Fichte’s letter to Friedrich Johannsen, 31.1.1801. (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Johannsen, 31.1.1801, GA III 5, 8–10.) 51 Fichte: Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold, GA I 7, 291–324, hier: 302– 303. 52 Fichte: Antwortschreiben an Reinhold, GA I 7, 303. 53 Fichte: Zu Schellings ›Darstellung meines Systems der Philosophie‹, GA II 5, 482–508. This manuscript was written in the late spring and summer of 1801. The main criticism leveled against Schelling in these private notes concerns his concept of »ob-

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time he began what turned into his longest and most philosophically significant letter to Schelling, which he did not complete and mail until more than two months later. In this letter of May 31–August 7, 1801 he informs Schelling: »Ich habe die W.L. einige male wieder, und von einigen Seiten her, neu erfunden«.54 And he then proceeds to provide a brief sketch of his new plan and strategy for expanding the Wissenschaftslehre – a project upon which he declares he has been working for the entire preceding year.55 In the same letter he retracts his earlier assertion that the Wissenschaftslehre needs to be expanded with respect to its principles, and now insists that what needs to be expanded is the series of syntheses that constitute the Wissenschaftslehre, which, he says, must now be extended to include »die höchste Synthesis […], die Synthesis der GeisterWelt«,56 adding that he was just on the verge of doing this in Jena when he was charged with atheism. Perhaps expanding is not quite the correct term, however; perhaps recasting would be more appropriate; for as even this brief system sketch reveals, Fichte had by now recognized that the »highest synthesis« of the intelligible world and the new system of the spiritual world that this involves would have to be fully and systematically integrated into his new presentation and not merely tacked on to the end. This, he saw, would require a complete reworking of the entire jective intellectual intuition«, which Fichte ridicules as »Polyphem ohne Auge« and contrasts with his own claim that the »absolute reflex of consciousness« must accompany all knowing. Interestingly, however, he goes on to note that he has not yet succeeded in establishing this unity in a satisfactory manner: »In der intellectuellen Anschauung ist nach mir absolute Reflexion (Subjectives) u. Projection des Wissens, unzertrennlich. – Ein sich selbst voraus setzendes (substantielles) Wissen entsteht erst, wenn ein besonderes des Wissens sich hinstellt. (welches nun eben ein Denken ist.) Doch habe ich beides, auf eine mir selbst noch nicht ganz durchdrungne Weise vereint. – Nur dadurch ist es vereinigt: in dem freien Akte wird erst dieses obere, gleichsam reflektirende Wissen bereitet, in welchem das absolute erscheint: – das Wissen erhält erst Duplicität« (Fichte: Zu Schellings ›Darstellung meines Systems der Philosophie‹, GA II 5, 484). 54  Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 53. 55  Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 51–52. In this passage Fichte asserts that he can be so certain of the correctness of his system, in part because of the nature of the immediate self-evidence upon which it rests, but also because he has been working on it for a full year, examining it from every side, and every time comes back to the same results, the very ones he says he had discovered in his first presentation of the Wissenschaftslehre in 1794, but had since forgotten [!]. 56  Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 45.

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system, as well as a new starting point and a different method of presentation. Regarding the latter, he explains his differences with Schelling by claiming that the latter’s system lacks the Evidenz (i.e., the immediate self-evidence and certainty) that will be the characteristic feature of the new presentation of the Wissenschaftslehre, the kind of evidence available only by direct intellectual intuition. In characterizing this new presentation, Fichte’s first point is that transcendental philosophy must begin with Sehen rather than Sein; and the first thing that it must see is that all genuine seeing – that is, all real knowing – always involves »die Identität des Anschauens und Denken«,57 of ideal and real ground. As so often during this period, Fichte illustrates this by appealing to examples of mathematical knowledge – such as our clear insight that there can be but one straight line between any two points. In such a self-evident intellectual intuition one sees immediately that what one has grasped is true of all possible points and for all possible intellects. This means that in every instance of such seeing or knowing (which is here also called »absolute consciousness«) one relates oneself, as this determinate intellect aware of this determinate truth not only to all possible cases of this type, but also – and for the purposes of deriving a system of the intelligible world, more significantly – to the totality of all intellects, that is, to »die GeisterWelt«, as that which is determinable. Though finite and determinate, such consciousness is at the same time absolute. Immediately seeing something to be self-evident deserves to be called »absolute consciousness« precisely because it is universal as well as individual; indeed it is the identity of universal and absolute consciousness. Just as the individual’s seeing or grasping of something as self-evidently true is the ideal ground for cognizing the universal Geisterwelt, so the latter, declares Fichte, is the real ground of the former – with the caveat that this real ground can never be adequately grasped in a self-evident cognition.58 Fichte then notes that the determinate content of absolute consciousness (i.e., that of which one is certain) is just as absolute as this consciousness itself, inasmuch as it is not inferred from nor mediated by anything else. Instead, it is immediately grasped as being simply given as it is, and such immediate giveness is the distinguishing feature of being. For 57  Johann

Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 46. 58  »Das leztere ist der ideal Grund der erstern; die erstere der (nie aber erkennbare, und durch die Evidenz zu durchdringende) RealGrund des letztern« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 46).

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the new version of the Wissenschaftslehre, therefore, Sein is nothing other than »sich nicht durchdringendes Sehen«.59 It is that element of immediate intuition that cannot be further derived, explained, or subsumed under any higher reflection. If, however, one looks at this same determinacy of absolute consciousness simply as a particular determination of what is universally determinable, then the real ground of such determinacy – i.e., what determines that it is this rather than that that I immediately intuit as self-evident (and thus as a limit to my freedom) – must lie altogether outside of all consciousness and hence remain inaccessible to the same. Here once again, therefore, Fichte’s effort to understand absolute consciousness runs up against something that can never become self-evident, something »= X. der Evidenz ewig undurchdringlich«.60 The new synthesis of the spiritual world is explicitly grounded upon the duplicity of absolute consciousness as involving a reference both to what is determinate (namely, finite consciousness along with the specific content of the same) and to what is determinable (the entire spiritual realm). Absolute consciousness thus involves both an ideal transition from Bestimmtheit to Bestimmbarkeit and a real transition from Bestimmbarkeit to Bestimmtheit. We are, however, unable to describe anything more than the bare form of the latter, real transition, because what is determinable – i.e., the real ground of this transition – remains for­ever impenetrable and inconceivable by any finite intellect. What is determinable for absolute consciousness, that is to say, the intelligible world as a whole (which Fichte here calls not only »die intelligible Welt« but also – as in Book III of Die Bestimmung des Menschen and in the draft of his earlier letter to Schelling – »Gott«),61 is identified in the new presentation both as the incomprehensible real ground of the distinctions between individuals and as the (equally incomprehensible) ideal band of their unity. (God unites and separates all of the finite I’s).

59 

»Sie sezten sich d. i. Ihr Erfassen, Ihr Zusammenfallen der Subjekt=Objektivität, als bestimmtes; sagte ich. Dieses geschieht in dem absoluten, durch kein Bewußtseyn zu überfliegenden u. wiederum zu reflektirenden Bewußtseyn; jene Bestimmtheit ist daher auch eine absolute, durch kein Bewußtseyn zu reflectirende, und zu durchdringende Bestimmtheit = der nun einmal gegebnen Wirklichkeit, oder Realität, dem Seyn. Seyn ist – sich nicht durchdringendes Sehen« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 46). 60  Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 43–53, hier: 47. 61  Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 49.

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This new »Synthesis der GeisterWelt«,62 which is derived from the original synthesis of absolute consciousness or Sehen – the synthesis of what is determinable (the intelligible world as a whole) with a determinate individual consciousness of something self-evident – provides us with something hitherto absent from the Wissenschaftslehre, or at least from any of the published versions of the same: namely, the long sought-for answer to our question concerning the ultimate origin of the original limitations of every finite I, though, Fichte cautions, it can accomplish this only formally or in principle. Transcendental philosophy cannot provide any material explanation of the origin of these limits precisely because both explandum and explanans are ultimately impenetrable by finite consciousness and inconceivable by finite reason. (The Wissenschaftslehre can inform us that God is the source of our original determinacy, but it cannot tell us how this happens nor what these determinations must be.) Since, as we have noted, being is here simply another name for what is impenetrable by consciousness, we can also say that what is determinable in relationship to absolute consciousness is nothing other than being – or absolute being or pure being – which, in turn, is just another name for God. Reminding Schelling that he is only relaying some of the results of his new presentation and not providing any deduction of the same, Fichte then takes a further step and asserts that it is only for us that this ultimately determinable ground is grasped as being, whereas in itself it is »Agilität, reine Durchsichtigkeit, Licht«.63 Fichte concludes his system sketch by reiterating that there is something incomprehensible and impenetrable in every determinate act of absolute comprehension on the part of finite reason. This provides the Wissenschaftslehre with its principle of finite reason, which in turn is the basis upon which it constructs a system of the spiritual world, as the realm of universal consciousness. Nor does the Wissenschaftslehre mere-

62  Johann

Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 45. 63  »Dieses ganze geschloßne Bewußtseyn C. wieder in A. aufgenommen, giebt ein System der GeisterWelt (das obige B.) und einen unbegreiflichen RealGrund der Getrenntheit der Einzelnen, und ideales Band aller Gott. Dies ist’s, was ich die intelligible Welt nenne. Diese lezte Synthesis ist die höchste. Will man das, was auch diesem Blicke noch undurchdringbar bleibt, Seyn nennen, und zwar das absolute, so ist Gott das reine Seyn; aber dieses Seyn ist an sich nicht etwa Compression, sondern es ist durchaus Agilität, reine Durchsichtigkeit, Licht, nicht das Licht zurükwerfender Körper. Das leztere ist es nur für die endliche Vft: es ist daher nur für diese, nicht aber an sich ein Seyn« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 48).

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ly present this universal consciousness, adds Fichte enigmatically; it is it. Nevertheless, the Wissenschaftslehre makes no claim to comprehend everything, since not everything is in principle comprehensible or penetrable by reason. Though it is true that every individual is just a particular way of looking at this same universal system from a determinate, particular position or GrundPunkt, no science, including transcendental philosophy, can grasp and penetrate these individual standpoints. (That is why science can never hope to provide anything more than a purely formal explanation of such determinacy). It is equally true that the Wissenschaftslehre cannot really penetrate and comprehend (again, other than in a purely formal way) that intelligible world which it can nevertheless show to be the real ground of the sensible one. Here, therefore, we come face to face with a double incomprehensibility: first, the impenetrability of the entire spiritual world by any finite individual intellect, even though every individual participates in universal consciousness whenever he grasps something that is immediately self-evident, and second, the impenetrability for this entire world of universal consciousness of its own »irrationalen Wurzel = d[as] immanente Licht oder Gott«.64 At the end of this letter of May 31–August 7, 1801 to Schelling Fichte predicts that the new version will not appear until 1802 and indicates that he still has more work to do on it; and indeed, there is ample evidence that he continued to revise and rethink this same new presentation for almost another full year. It is possible, though by no means certain, that this is the manuscript he used as the basis for his private lessons during the winter of 1801, though these may also simply have been a repeat of his Jena lectures on Platner’s Philosophische Aphorismen. In any case, he definitely employed it as the basis for a more formal series of private lectures that he delivered almost daily to around 20 listeners between February and April of 1802, and it was probably in conjunction with the latter that he began preparing for publication a clean

64 Fichte

expresses this important point rather gnomically as follows: »Jedes Individuum ist ein rationales Quadrat einer irrationalen Wurzel, die in der gesammten Geisterwelt liegt; und die gesammte Geisterwelt ist wiederum rationales Quadrat der – für sie, und ihr universelles Bewußtseyn, welches jeder hat, und haben kann – irrationalen Wurzel = dem immanenten Lichte oder Gott« (Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 31.5.–7.8.1801, GA III 5, 49). As for the sensible world of nature, he continues, this is nothing but an Erscheinung of this same immanent light, as it appears to one of these impenetrable individual points, in accordance with the universal laws of finite reason.

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and revised copy of the same 1801/02 Darstellung der Wissenschaftslehre. By the end of the spring, however, he had abandoned this effort as well.

3. Conclusion This then is where our story ends, with the Wissenschaftslehre of 1801/02. I do not propose to conclude by trying to summarize or to analyze this typically complex text. My goal in this paper has simply been to trace Fichte’s path from the Jena Wissenschaftslehre to the 1801/02 Darstellung. Though the latter was never published during its author’s lifetime, if it had appeared, it would no doubt have surprised many students of the Jena Wissenschaftslehre. But it would surely not have surprised Schelling, since it is largely – though not entirely – consistent with the system sketch provided in Fichte’s letter of May 31–August 7, 1801.65 Rather than beginning with the I or the form of Ichheit, the new presentation begins by analyzing Wissen, more specifically, the kind of self-evident or absolute knowing that is based on direct intellectual intuition and best illustrated by geometry. This is no different than what he had called Sehen or »absolute consciousness« in the earlier system sketch.66 In the new presentation, however, Fichte is careful from the start to distinguish absolute knowing from the absolute, about which he says we can say nothing whatsoever – beyond the fact that it is absolute. Nevertheless, this spectral absolute haunts the new presentation until it returns with a new name in the context of the final synthesis with which the new presentation concludes: the synthesis of the spiritual world. One of the more obvious ways in which the presentation of 1801/02 differs from the system sketched in the letter to Schelling pertains to the place of Sein in both. In the letter, being is associated with sheer impenetrability, with what cannot be comprehended by absolute consciousness, whereas in the new presentation it is posited from the start within 65  For

detailed discussion of the relationship between the system sketch in Fichte’s letter to Schelling and Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801– 1802, see the above mentioned article by Christian Klotz as well Michael G. Vater: The Wissenschaftslehre of 1801–1802. In: Fichte: Historical Contexts/Contemporary Controversies. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Atlantic Highlands 1994, 191–210. I gratefully acknowledge my debt to Profs. Klotz and Vater. 66  In his 15.1.1802 letter to Schelling (which was also his final letter to him), Fichte explicitly states that »seeing« and »absolute knowing« are actually one and the same. (See Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 15.1.1801, GA III 5, 104–113, hier: 112.)

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absolute knowing, which is described as the immediate union or »absolute Verschmelzung« of freedom and being.67 This, however, proves to be an unstable – indeed, one might even say dialectical – union, which is precisely what drives the new presentation from one synthesis to the next by means of what Michael Vater has aptly termed »the non-logic of chasm and hiatus«,68 until they are finally united at the end by – by what? What unites them is nothing less than absolute being itself, now understood not as a component of absolute knowing, but as something altogether independent of the same, something that performs the same systematic function within the new presentation that the eternal will or God performed within Die Bestimmung des Menschen and thus deserves the same exalted name. Absolute being, »dieses Dekret Gottes« – »als absoluten Realgrund derselben«69 – is the ultimate or absolute condition for the determinacy of absolute knowing and for the determinate individuation and unity of the total system of finite intellects (the spiritual world). To be sure, Fichte still strives to unify – or perhaps only thinks that one should strive to unify – even this independent and absolute Sein with Wissen and assures us that »wer dies verstanden hat, ist aller Wahrheit Meister, und für ihn giebt es nichts unbegreifliches mehr«.70 Perhaps 67 

»Nach unser gegenwärtigen Darstellung, treten Freiheit, und Seyn zusammen, und durchdringen sich, und diese innige Durchdringung, und Identifierung beider zu einem neuen Wesen giebt mir erst das Wissen, eben als Wissen, und als ein absolutes Tale« (Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 129–324, hier: 148). 68 Vater: The Wissenschaftslehre of 1801–1802, 200. 69 Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 317. »Dieses Dekret Gottes von der fortdauernden Möglichkeit eines Seyns, ist der Eine, u. wahre Grund der Fortdauer der Erscheinung einer Intelligenz; dies zurükgenommen, zerfliessen sie. Er ist der wahre intelligible Grund der ganzen Erscheinungswelt« (Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 319). 70  See e.g., Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), GA II 6, 317: »Endlich, welches war der Grund dieser Idee eines geschloßnen Systems durcheinander bestimmter Intelligenzen, im reinen Denken, der VftAnschauung, und dem dadurch bestimmten Denken der Wahrnehmung? Das das Wissen absolut bedingende absolute Seyn selbst. – Eine absolute Wechselwirkung sonach beider. Die tiefste Wurzel alles Wissens ist die unerreichbare Einheit des reinen Denkens, u. des beschriebnen Denkens der Wahrnehmung = dem Sittengesetze – als höchstem Stellvertreter aller Anschauung – denn sie erfaßt die Intelligenz, als absoluten Realgrund derselben. Dieses ist nun durchaus nicht dieses, oder jenes Wissen sondern es ist das absolute Wissen schlechthin als solches[;] wie es in ihm zu diesem und jenem Wissen komme, werden wir sogleich aus Einem Punkte erklären. Zu diesem kommt es nun nur unter Bedingung des absoluten Seyns – eben im Wissen selbst; u. so gewiß dieses Wissen ist, ist in ihm das absolute Seyn. Und so ist den[n] absolutes Seyn, u. Wissen vereinigt:

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so, but for the rest of us, including anyone still loyal to Fichte’s own previous recognition of the absolute exclusion from any transcendental philosophy of any notion of being in itself, this proposed solution still leaves much to be desired. With this move, it seems that Fichte has incorporated within the transcendental system of the Wissenschaftslehre a thoroughly transcendent principle, which governs, individuates, and binds together the entire realm of spirits and of nature. In Die Bestimmung des Menschen he had tried to demonstrate the necessity of belief in such a transcendent ground as a requirement of sincere moral resolve, but here, in the 1801/02 Darstellung, he seems to think he has provided a purely theoretical deduction of its necessity as a condition for the possibility of self-evident or absolute knowing. It is difficult to know what to make of all this and hard to see how this new systematic conception can be reconciled with Fichte’s ­heretofore unwavering commitment to human freedom and his unambiguous recognition of the inherent limits of transcendental philo­ sophy.71 But one thing does seem clear: namely, that the pragmatische u. wer dies verstanden hat, ist aller Wahrheit Meister, und für ihn giebt es nichts unbegreifliches mehr.« 71  It is hard not to sympathize with Vater’s conclusion that the 1801/02 Darstellung shows a »Fichte closer to dogmatism than the version of 1794, for he acquiesces in locating free knowing alongside a being outside of and inimical to knowing. The absolute being that is the limit, term, and final determiner of consciousness in this system is more foreign to freedom than necessity’s constraint; it is a brute positivity that reduces all the play, contingency, or internal nullity of freedom to insignificance. The same absolute being is invoked, at the limit of systematic philosophy, as the final condition of knowing, the ultimate individuator, the final determination. Freedom is bounded by an ultimate facticity. In this version, Wissenschaftslehre succeeds more as metaphysical system than as defense of freedom (Vater: The Wissenschaftslehre of 1801–1802, 206). »Fichte invokes an unintelligible, indescribable determination by absolute being as the final ground of factical determination; being both individuates and harmonizes the monadologically organized spirit-world. The manuscript indicates Fichte loosening his grip on his hitherto basic concern with freedom both as the foundation of metaphysics and as an interpretation of human agency. The Fichte of 1801–1802 is a Spinozist, though some Leibnizian nostalgia for the spiritual is evidenced by the re-introduction of Kantian moral dualism; the intelligence that empirically perceives human agency as sequences of acts and effects also thinks them as corresponding acts of will. This Fichte seems a far cry from the thinker of 1794 who rescued transcendental idealism and mobilized it for the defense of freedom by rejecting the thing-in-itself« (Vater: The Wissenschaftslehre of 1801–1802, 192). But this, as Vater himself admits, is by no means the whole story: »Fichte is not assimilated to either Spinozistic or Schellingian metaphysics in 1801–1802 because, as earlier, his commitment to investigate individual freedom keeps him phenomenologically focused on individual, worldly, and intersubjective consciousness, even

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­ eschichte of the Wissenschaftslehre from 1799 to 1801 is a superb example G of ›einem System in Bewegung‹.

when his transcendental apparatus for explaining it seems, on account of its abstract or categorical approach, to push him beyond experience« (Vater: The Wissenschaftslehre of 1801–1802, 209–210). For a very different interpretation of the Wissenschaftslehre of 1801/02, one that stresses its consistency with the teachings of the earlier Wissenschaftslehre and rejects the claim that Fichte is engaged at this point in any sort of »transcendent« or »metaphysical« turn, see Georg Schrader: Der Übergang zur Wissenschaftslehre 1801. In: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806. Hrsg. v. Albert Mues. Hamburg 1989, 199–211.

Stefan Lang Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804  Fichte erklärt im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804, dass die Erscheinungslehre gemeinsam mit der Vernunftlehre die philosophia prima darstellt.1 In der Vernunftlehre wird das Prinzip der Wissenschaftslehre identifiziert und bestimmt. In der Erscheinungslehre werden demgegenüber zum einen das Prinzip der Erscheinungslehre und die Grundlagen menschlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins identifiziert.2 Zum anderen wird gezeigt, dass das Prinzip der Wissenschaftslehre die Erkenntnis des Prinzips ermöglicht, die in der Vernunftlehre gewonnen wird. Der Begriff der Erkenntnis des Prinzips bezeichnet das Wissen vom Prinzip der Wissenschaftslehre, also einen epistemisch ausgezeichneten Fall von intentionalem Bewusstsein. Die erste Aufgabenstellung, die Fichte in der Erscheinungslehre untersucht, besteht in der Begründung der Erscheinungslehre. Im Rahmen der Begründung der Erscheinungslehre wird das Prinzip der Erscheinungslehre bestimmt und mit dem Prinzip der Vernunftlehre identifiziert.3 Für Fichte ist diese Aufgabenstellung gelöst, sobald gezeigt worden ist, dass das Prinzip der Vernunftlehre das Wissen vom Prinzip der Vernunftlehre konstituiert. Die Begründung der Erscheinungslehre ist für die weitere Entwicklung der Erscheinungslehre von entscheidender systematischer Bedeutung. Sie bildet das Fundament, von dem ausge1 Vgl.

Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre [II. Vortrag im Jahre 1804], in: ders.: J. G Fichte- Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962– 2012. Abt. II, Bd. 8, hier: 407–408. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. Fichtes Darstellung der Erscheinungslehre beziehungsweise Phänomenologie im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 ist in den letzten Jahren ein Schwerpunkt der Fichte-Forschung gewesen. Vgl. beispielsweise Christoph Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte. 1800–1806. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; Ulrich Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre 1804. Berlin 2001; Roderich Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege. Tübingen 2004. 2 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 9, 391–392, 407–408, 421. 3 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 257: »Ein neues […] Princip muß aufgestellt werden, habe ich gesagt; und mache dabei zugleich die Nebenbemerkung, daß wir […] hier es nicht blos mit Aufstellung des zweiten, sondern zugleich mit der Vereinigung desselben mit dem ersten, zu thun haben.«

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hend die Grundlagen menschlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins identifiziert werden.4 Fichtes Begründung der Erscheinungslehre ist zudem mit Blick auf das Thema dieses Sammelbandes ›Systeme in Bewegung‹ von besonderem Interesse. In systematischer Hinsicht zeichnet sich der Zweite Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 gegenüber anderen Wissenschaftslehren unter anderem dadurch aus, dass die Begründung der Erscheinungslehre einen Schwerpunkt von Fichtes Darstellung der Wissenschaftslehre bildet. Die Untersuchung der Begründung der Erscheinungslehre ermöglicht es somit, Kontinuitäten und Unterschiede zwischen den Darstellungen der Wissenschaftslehre zu identifizieren. In den folgenden Ausführungen wird zunächst Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 erläutert. Anschließend wird die These begründet, dass Fichtes Grundlegung der Erscheinungslehre eine performative Theorie des Wissens zugrunde liegt.5 Im letzten Abschnitt werden Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 und in der Wissenschaftslehre von 1807 erörtert.

1. Fichtes Darstellung des Prinzips der Wissenschaftslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 setzt das Ergebnis der Vernunftlehre voraus. Um Fichtes Begründung der Erscheinungslehre nachvollziehen zu können, ist es somit erforderlich, Fichtes Darstellung des Prinzips der Wissenschaftslehre zu berücksichtigen. In den Prolegomena zum Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 bezeichnet Fichte das Prinzip der Wissenschaftslehre als reines Wissen.6 Der Begriff des reinen Wissens bezeichnet nicht das Wissen von einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt, sondern das Prinzip menschlichen Wissens, das in allem Wissen von etwas vorausgesetzt ist

4  Vgl.

Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 414ff. Die Begriffe Begründung der Erscheinungslehre und Grundlegung der Erscheinungslehre werden synonym verwendet. 6 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 14, 21. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/ II, GA II 8, 277ff. 5 

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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und kraft dessen ein Fall von intentionalem Bewusstsein ein Fall von Wissen ist.7 Im 15. Vortrag der Vernunftlehre, der den Grundsatz der Wissenschaftslehre enthält, erläutert Fichte das Prinzip folgendermaßen. Es ist ein esse in mero actu beziehungsweise ein Sein, das »durchaus von sich in sich, durch sich [ist]; dieses sich gar nicht genommen als Gegensatz, sondern rein innerlich«.8 Fichtes Hinweis, dass das sich rein innerlich zu verstehen ist, besagt, dass das reine Wissen sich durch eine äußere und innere Relationslosigkeit auszeichnet. Das bedeutet zum einen, dass das reine Wissen in keiner Beziehung zu etwas von ihm Unterschiedenen steht. Es bedeutet zum anderen, dass das reine Wissen keine internen Differenzen enthält, die zu einer Einheit verbunden sind.9 Der Begriff in sich bedeutet, dass es nichts außer dem reinen Wissen geben kann und dass es nichts außer dem reinen Wissen gibt.10 Das heißt, das reine Wissen ist das Prinzip eines jeden Falls von Wissen. Es gibt somit keinen Fall von Wissen, der nicht durch das reine Wissen bestimmt ist. Der Begriff durch sich besagt, dass das reine Wissen sich selbst begründet. Das reine Wissen wird also nicht von einem Subjekt hervorgebracht, welches von ihm unterschieden ist, sondern das reine Wissen realisiert sich selbst.11 Fichte bezeichnet das reine Wissen daher als ein esse in mero actu. Das bedeutet, dass das reine Wissen nichts anderes als ein spontaner Vollzug ist. Das reine Wissen ist also kein gegebener Gegenstand oder Sachverhalt, von dem ein Wissen vorliegt, son7 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 14. Vgl. Christoph Asmuth: Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen an Fichtes Spätphilosophie, in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk. Hrsg. v. Günter Zöller/Hans Georg von Manz. Amsterdam/New York 2007, 56; Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein, 262, 283. 8 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 229. 9 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 276: »Wir verwarfen dieses Wissen ganz, […] das daher absolute innere Einheit, ohne alle Zusammensetzung und Trennung war: Einheit in sich.« Vgl. Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 94; Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein, 278. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass das Prinzip keine interne Struktur aufweist. 10  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 230, 244. 11 Vgl. Ulrich Schlösser: Entzogenes Sein und unbedingte Evidenz in Fichtes Wissenschaftslehre, in: Zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Helmut Girndt. Amsterdam/New York 2002, 149. Eine Rekonstruktion von Fichtes Begründung dieser Interpretation des reinen Wissens wird von Jürgen Stolzenberg entwickelt, in: Jürgen Stolzenberg: »Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden«. Der Übergang zur Erscheinungslehre in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, in: L’être et le phénomène. Sein und Erscheinung. La Doctrine de la Science de 1804 de J. G. Fichte. Hrsg. v. Jean-Christophe Goddard/Alexander Schnell. Paris 2009, 365–377.

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dern es verdankt sich einer spontanen Aktivität, die es selbst vollzieht. Im Fall des reinen Wissens sind somit, mit Fichtes Worten gesprochen, Sein und Leben dasselbe.12 Der Begriff von sich bedeutet schließlich zum einen in Übereinstimmung mit dem Begriff durch sich, dass das reine Wissen nicht von etwas anderem hervorgebracht oder bestimmt wird. Der Begriff von sich bedeutet zum anderen aber auch – und dies ist ein Vorgriff auf eine Erkenntnis, die in der Erscheinungslehre gewonnen wird –, dass ein jeder Fall von Wissen von etwas durch das reine Wissen konstituiert wird.13 In der Vernunftlehre enthält Fichtes Darstellung des Prinzips der Wissenschaftslehre somit nicht die Information, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen begründet, welches in der Vernunftlehre gewonnen wird. Der Nachweis, dass das Prinzip der Wissenschaftslehre das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, wird im Anschluss an die Vernunftlehre in der Erscheinungslehre entwickelt.

2. Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 Die Aufgabe der Begründung der Erscheinungslehre besteht, wie gesagt, darin, das Prinzip der Erscheinungslehre zu bestimmen und den Nachweis zu erbringen, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert.14 Dieser Nachweis ist erforderlich, da in der Vernunftlehre das Prinzip allen Wissens zwar bestimmt worden ist. Die Vernunftlehre zeigt jedoch nicht, wie das reine Wissen das Wissen von etwas begründet.15 Mit der Vernunftlehre ist die Wissenschaftslehre somit noch nicht vollendet. Das zentrale Thema der Wissenschaftslehre ist die Begründung menschlichen Wissens vom Prinzip der Wissenschaftslehre ausgehend.16

12 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 229. Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 277–278. 14  Die Begriffe ermöglicht, konstituiert, erzeugt, bringt hervor werden im Folgenden synonym verwendet, wenn diese Begriffe im Zusammenhang mit der Untersuchung der Konstitution des Wissens vom reinen Wissen verwendet werden. Die Begriffe Erkenntnis des reinen Wissens und Wissen vom reinen Wissen werden ebenfalls synonym verwendet. 15  Vgl. Stolzenberg: »Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden«, 366–367. 16 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 9. 13 Fichte:

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Im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 entwickelt Fichte die Begründung der Erscheinungslehre im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der These, dass das reine Wissen die Erkenntnis des reinen Wissens ermöglicht, die in der Vernunftlehre gewonnen wird. Fichtes Begründung der These, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, lässt sich in sechs Schritte einteilen. Der Ausgangspunkt von Fichtes Begründung der Erscheinungslehre ist eine Analyse des Verfahrens, welches die Erkenntnis des reinen Wissens in der Vernunftlehre ermöglicht: »Wir gingen in der von uns erzeugten Einsicht […] des innern Seyns [gemeint ist die Erkenntnis der Merkmale des reinen Wissens, v. Verf.] […] aus von der Construction dieses Seyns, zu der wir ausdrücklich uns aufforderten.«17 Fichte leitet die Begründung der Erscheinungslehre somit mit einer Untersuchung der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des reinen Wissens ein. Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des reinen Wissens besteht in der Konstruktion des reinen Wissens. Das heißt, diese Bedingung ist ein Akt, der intentionales Bewusstsein erzeugt. Dies ist daran zu erkennen, dass Fichte in dieser Textstelle die Begriffe Einsicht und Konstruktion verwendet. Der Begriff der Einsicht bezeichnet eine Erkenntnis, die einen Fall von intentionalem Bewusstsein darstellt.18 Der Begriff der Konstruktion bezeichnet einen regelgeleiteten Akt der Reflexion über eine Erkenntnis oder ein Phänomen, das in der Wissenschaftslehre thematisiert wird, welcher intentionales Bewusstsein erzeugt. Die Reflexion ist regelgeleitet, da Vorgaben beziehungsweise Kriterien berücksichtigt werden. Beispielsweise gilt im Fall der Konstruktion des reinen Wissens zu beachten, dass es nicht relational interpretiert werden darf. Da die Erkenntnis des reinen Wissens durch einen intentionalen Akt gewonnen wird, betont Fichte an mehreren Stellen, dass bei der Darstellung des reinen Wissens in der Vernunftlehre das reine Wissen »denn doch immer« ob-

17 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 243–244 (Hvh. v. Verf.). unterscheidet zwischen der faktischen Einsicht und der genetischen Einsicht. Der Begriff der faktischen Einsicht bezeichnet eine Erkenntnis, die durch ein Gesetz bestimmt und gewonnen wird, welches selbst nicht bekannt ist. Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 77, 90. Demgegenüber zeichnet sich die genetische Einsicht dadurch aus, dass das Prinzip einer gewonnenen Einsicht erkannt wird, und zwar insofern es das Prinzip dieser Einsicht ist. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/ II, GA II 8, 77; Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, 204; Urs Richli: Tun und Sagen in der Transzendentalpragmatik und der WL 1804, in: Die Spätphilosophie J.G. Fichtes. Hrsg. v. Wolfgang Schrader. Amsterdam/Atlanta 2000, 210. 18 Fichte

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jektiviert worden ist.19 Das heißt zunächst, das reine Wissen war Objekt des intentionalen Bewusstseins des Lesers. Ein Beweisziel von Fichtes Begründung der Erscheinungslehre besteht in dem Nachweis, dass das Wissen vom reinen Wissen in Wahrheit jedoch nicht vom Leser erzeugt wird, sondern vom reinen Wissen selber hervorgebracht wird. Dem entspricht, dass Fichte im ersten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre erklärt, dass die Konstruktion, welche die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des reinen Wissens darstellt, nicht etwa durch den Leser willkürlich vollzogen wird. Vielmehr ermöglicht das reine Wissen die Konstruktion: »Nun will ich […] nicht selbst hier so räsonniren […] mithin hängt das Sein von der Construction desselben ab […], sondern wir wollen […] consequent unsern Principien, also schließen: Kann das Sein schlechthin nicht aus sich selber herausgehen, und Nichts ausser ihm sein, so ist es das Sein selber, welches sich also construirt […].«20 Diese These ist nachzuvollziehen, sobald Fichtes Interpretation des reinen Wissens in der Vernunftlehre berücksichtigt wird. Da die Erkenntnis des reinen Wissens erstens einen Fall von Wissen darstellt und das reine Wissen zweitens das Prinzip eines jeden Falls von Wissen ist, kann das Wissen vom reinen Wissen nur vom reinen Wissen selber hervorgebracht sein. Das bedeutet, der intentionale Akt, der die Erkenntnis des reinen Wissens erzeugt, wird vom reinen Wissen selber vollzogen.21 Bereits mit der Einleitung der Begründung der Erscheinungslehre ist somit die für die Wissenschaftslehre zentrale Bedeutung der Frage, wie gezeigt werden kann, dass das reine Wissen das Wissen von etwas begründet, deutlich erkennbar. Es ist wichtig zu beachten, dass Fichte im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 die Untersuchung der Frage, wie Wissen von etwas möglich ist, spezifiziert. Fichte untersucht zunächst nicht die Frage, wie nachgewiesen werden kann, dass das reine Wissen intentionales Bewusstsein oder Wissen von etwas überhaupt konstituiert. Fichte untersucht die Frage, wie gezeigt werden

19 Vgl.

Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 254. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 143, 257. 20 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 244. 21 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 272: »Das bisher Vorgetragene: eine Construction des Seins ist vorausgesetzt; sie wird aus dem Grundsatze, daß Nichts sein könne, ausser dem Sein, eingesehen als nothwendig aus dem Sein selber hervorgehend«. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 262.

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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kann, dass das reine Wissen intentionales Bewusstsein vom Prinzip der Wissenschaftslehre ermöglicht.22 Mit dem ersten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre scheint das Beweisziel der Untersuchung bereits erreicht zu sein. Da das reine Wissen die Konstruktion des reinen Wissens vollzieht, ist der Nachweis erbracht, dass es das Wissen vom reinen Wissen ermöglicht. Im zweiten Schritt begründet Fichte, warum dies jedoch nicht der Fall ist. Im zweiten Schritt untersucht Fichte die soeben gewonnene Erkenntnis. Sie enthält, wie gesagt, die Information, dass das reine Wissen das Wissen von den Eigenschaften des reinen Wissens konstituiert.23 Fichte weist explizit darauf hin, dass diese Erkenntnis durch einen intentionalen Akt gewonnen wird. »[E]s wird«, so Fichte, »gar nicht behauptet […], daß das Sein sich in sich idealiter construire, sondern nur, daß es, als sich also construirend, projicirt werde«.24 Der Begriff der Projektion bezeichnet einen spontanen intentionalen Akt, also einen mentalen Akt, der ein Bewusstsein von einem Objekt hervorbringt.25 Fichte behauptet somit nicht, dass das reine Wissen an sich das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Sondern die Information, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt, ist der Gehalt einer Einsicht, die durch einen intentionalen Akt gewonnen wird. Die Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, beruht somit auf einer Voraussetzung. Diese Voraussetzung besteht darin, dass das Verfahren der Wissenschaftslehre durchgeführt wird. Denn die Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt, wird nur dann gewonnen, wenn die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des reinen Wissens untersucht wird und wenn berücksichtigt wird, dass das reine Wissen das Prinzip eines jeden Falls von Wissen ist: »Nun haben wir diese ganze Spekulation frei übernommen; durch unser Verfahren, das wir hätten sehr wohl unterlassen können, ist die erzeugte Einsicht bedingt«.26 Das 22  Vgl.

Ludwig Siep: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804. Freiburg 1970, 49. 23 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 275. 24 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 250 (Hvh. v. Verf.). 25 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 250: »Die ideale Selbstconstruction des Seins wird per hiatum absolut projicirt, also zu einem absolut faktisch, und äusserlich Existenten gemacht.« Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 359–360. Eine Erkenntnis, die durch eine Projektion gewonnen wird, enthält zudem keine Einsicht in das Prinzip der gewonnenen Vorstellung. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 238, 257–258. 26 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 262.

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Vorhandensein des Wissens vom reinen Wissen scheint somit von der Freiheit beziehungsweise Willkür des Lesers abhängig zu sein, das Verfahren der Wissenschaftslehre durchzuführen.27 Damit ist das zentrale Problem formuliert, welches Fichte in der Begründung der Erscheinungslehre untersucht. Da die Erkenntnis des reinen Wissens durch das Verfahren der Wissenschaftslehre ermöglicht wird, scheint der intentionale Akt, der diese Erkenntnis konstituiert, nicht vom reinen Wissen, sondern vom Leser hervorgebracht zu sein.28 Es gäbe somit einen Fall von Wissen, der nicht durch das reine Wissen begründet ist. Dieser Fall von Wissen wäre brisanter Weise die Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Fichtes Interpretation des reinen Wissens wäre somit offensichtlich widerlegt. Denn das reine Wissen soll das Prinzip eines jeden Falls von Wissen sein.29 Das Beweisziel der Begründung der Erscheinungslehre ist somit nicht erreicht. Es ist noch nicht gezeigt worden, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert. Fichtes Anliegen in der Begründung der Erscheinungslehre besteht somit darin, überzeugend darzulegen, dass der Standpunkt des Lesers der Wissenschaftslehre keine gegenüber dem Prinzip der Wissenschaftslehre externe Position beziehungsweise Perspektive darstellt, die einen Prinzipiendualismus begründet. Die komplexe und vielschichtige Argumentation in Fichtes Begründung der Erscheinungslehre ist der Ausdruck von Fichtes Bestreben, anhand der konsequenten kritischen Infragestellung der gewonnenen Erkenntnisse, eine überzeugende Begründung und Rechtfertigung seiner These zu entwickeln, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert. Es ist wichtig zu beachten, dass der Untersuchungsgegenstand der Begründung der Erscheinungslehre somit nicht die Erkenntnis der Eigenschaften des Prinzips ist, also dass es in sich, von sich und durch sich ist. Im Zentrum der Begründung der Erscheinungslehre steht die Untersuchung

27  Vgl.

Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, 212. Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 262: »Setze, sagten wir, es solle zu der von uns erzeugten Einsicht kommen, so wirst du einsehen, daß die vorher nur mögliche Projektion des faktischen Seins der Construction unter dieser Bedingung nothwendig werde.« (Hvh. v. Verf.) Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 249– 250. 29  Anders formuliert besteht das Problem darin, dass die Selbstkonstruktion des Prinzips notwendig sein soll, während der intentionale Akt, welcher die Erkenntnis des Prinzips ermöglicht, vom Leser willkürlich vollzogen wird. Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 270, 272. 28 Fichte:

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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der Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Um das angezeigte Problem zu lösen, untersucht Fichte im dritten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre zunächst das Verhältnis zwischen dem Inhalt der Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt, und dem intentionalen Akt, welcher diese Erkenntnis konstituiert. Fichte weist darauf hin, dass auch dann, wenn diese Erkenntnis durch das Verfahren der Wissenschaftslehre ermöglicht wird, der intentionale Akt die Vorstellung hervorbringen muss, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt: »Durch die Voraussetzung jener idealen Sichconstruction, ohne allen Grund, also durch diese von uns selber, der W.=L., zu vollziehende Projektion war bedingt die absolut sich uns aufdringende Einsicht, daß die ideale Sichconstruction im absoluten Wesen selber begründet sein müsse […] und die dadurch erzeugte neue […] Einsicht läßt sich in folgendem Satze fassen: Soll es zu der absoluten Einsicht kommen, daß u.s.w., so muß eine solche ideale Sichconstruction absolut faktisch gesetzt werden.«30 Das heißt, für den Fall, dass eine Erkenntnis des reinen Wissens besteht, ist es notwendig, dass der intentionale Akt des Lesers die Vorstellung erzeugt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert. Die Analyse des Verhältnisses zwischen dem intentionalen Akt, der die Erkenntnis des reinen Wissens ermöglicht, und dem Inhalt dieser Erkenntnis zeigt somit, dass dieses Verhältnis ein Gesetz beziehungsweise eine notwendige und allgemeingültige Regel kennzeichnet.31 Dieses Gesetz lautet, dass, wenn ein Wissen vom reinen Wissen besteht, der intentionale Akt des Lesers die Vorstellung erzeugen muss, dass dieses Wissen vom reinen Wissen hervorgebracht wird. Dieses Gesetz bezeichnet Fichte mit dem Ausdruck Soll. Da dieses Gesetz allgemeingültig ist und ein notwendiges Verhältnis zwischen dem intentionalen Akt des Lesers und der durch diesen Akt gewonnen Erkennt30 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 250 (Hvh. v. Verf.). Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 262. Nach Marco Ivaldo ist das Soll im vorliegenden Kontext ein praktischer Appell an die Vernunftwesen, die Wissenschaftslehre nachzuvollziehen. Davon kann an dieser Stelle nicht die Rede sein. Der appellative Aspekt der Wissenschaftslehre wird erst im 25. Vortrag begründet. Vgl. Marco Ivaldo. Die konstitutive Funktion des Sollens in der Wissenschaftslehre, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs/Marco Ivaldo/Giovanni Moretto. Stuttgart BadCannstatt 2001. 31  Vgl.

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nis beschreibt, schreibt Fichte dem Gesetz die Prädikate des Prinzips der Wissenschaftslehre zu.32 Das heißt, es ist in sich, von sich und durch sich. Der Inhalt der Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, wird vom Leser somit nicht willkürlich hervorgebracht. Mit diesem dritten Schritt ist das Problem jedoch nicht gelöst. Zwar ist nunmehr einsichtig geworden, dass der intentionale Akt des Lesers nicht willkürlich die Vorstellung erzeugt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen ermöglicht. Der intentionale Akt des Lesers scheint jedoch nach wie vor eine Bedingung darzustellen, die erfüllt sein muss, damit ein Wissen vom reinen Wissen überhaupt besteht.33 Und es ist noch nicht gezeigt worden, dass dieser Akt vom reinen Wissen selber ermöglicht wird. Somit scheint es nach wie vor eine Bedingung zu geben, die erfüllt sein muss, damit das Wissen vom reinen Wissen möglich ist, welche nicht vom reinen Wissen bestimmt ist. Diese Bedingung ist der intentionale Akt des Lesers.34 Das Beweisziel von Fichtes Begründung der Erscheinungslehre ist somit noch nicht erreicht.35 Das bedeutet, dass das Gesetz nicht das Prinzip der Erscheinungslehre ist.36 Zwar ist es wahr, dass, wenn erkannt wird, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, es notwendig ist, dass der Leser der Wissenschaftslehre annehmen beziehungsweise faktisch setzen muss, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Das Gesetz enthält jedoch nicht die Information, die erst im sechsten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre gewonnen wird, und zwar, dass in Wahrheit nicht der Leser, sondern dass das reine Wissen selbst faktisch setzt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert. Im vierten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre untersucht Fichte das Verhältnis zwischen der Erkenntnis des Gesetzes und

32  Das

Gesetz ist freilich nur insofern notwendig und allgemeingültig, als das Verfahren der Wissenschaftslehre durchgeführt wird und dabei das Resultat der Vernunftlehre berücksichtigt wird. 33  Dies ist auch daran zu erkennen, dass die Erkenntnis des Gesetzes durch eine Projektion ermöglicht wird. Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 269. Das heißt, auch diese Erkenntnis scheint das Verfahren der Wissenschaftslehre vorauszusetzen und mithin durch einen willkürlichen intentionalen Akt des Lesers erzeugt zu sein. Fichte erklärt daher, dass auch die Erkenntnis des Soll durch ein Gesetz beziehungsweise Soll bestimmt ist. 34  Vgl. Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen, 260. 35  Vgl. Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 107. 36  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 270.

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dem Inhalt des Gesetzes. Fichte macht darauf aufmerksam, dass dieses Verhältnis einen Widerspruch enthält. Fichte bezeichnet diesen Widerspruch als einen Widerspruch zwischen dem Sagen und dem Tun der Wissenschaftslehre.37 Mit den Worten Urs Richlis gesprochen handelt es sich somit um einen performativen Widerspruch.38 Der Widerspruch besteht darin, dass »durch das Soll […] [eine] bestimmte Einsicht, wie in unserm Falle die war, daß das Seyn sich selber construire, gesetzt [wird] als nicht vorhanden, sondern nur etwa möglich, und unter einer gewissen Bedingung […] möglich: die [gemeint ist die bestimmte Einsicht, v. Verf.] denn doch, wenn es nur zu einer Betrachtung ihrer bedingten Möglichkeit kommen soll, allerdings als ein […] Sehen vorausgesetzt werden muß.«39 Das heißt, der Gehalt der Aussage, dass, wenn ein Wissen vom reinen Wissen besteht, der Leser die Vorstellung erzeugt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, widerspricht der Äußerung dieses Gehalts. Der Gehalt der Aussage enthält die Information, dass, wenn oder für den Fall, dass eine Erkenntnis des reinen Wissens besteht, der Leser die Vorstellung erzeugen muss, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Mit der Äußerung dieses Gehalts wird jedoch das reine Wissen erkannt. Das Gesetz enthält nämlich die Information, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Der Widerspruch zwischen dem Sagen und dem Tun der Wissenschaftslehre ist somit ein modalkategorischer Widerspruch. Mit der Äußerung des Gesetzes wird die Erkenntnis artikuliert, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Die Erkenntnis des reinen Wissens ist also wirklich vorhanden. Der Gehalt der Äußerung enthält jedoch die Information, dass diese Erkenntnis nicht wirklich, sondern nur hypothetisch möglich ist. Es ist wichtig zu beachten, dass das Soll als solches jedoch keinen performativen Widerspruch enthält. Es ist wahr, dass, wenn eine Erkenntnis des reinen Wissens besteht, der Leser faktisch setzen muss, dass diese Erkenntnis durch das reine Wissen gewonnen wird. Der performative Widerspruch besteht im Zusammenhang mit der Äußerung beziehungsweise der Erkenntnis des Soll. 37 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 289, 292. Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 289, 291–292. Vgl. Richli: Tun und Sagen in der Transzendentalpragmatik und der WL 1804. 39 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 289 (Hvh. v. Verf.). 38 Fichte:

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Im fünften Schritt untersucht Fichte den intentionalen Akt, welcher die Erkenntnis des reinen Wissens ermöglicht.40 Fichte weist darauf hin, dass dieser intentionale Akt vom reinen Wissen hervorgebracht wird: »Ich frage: liegt denn nun nicht in dem, nach aller Abstraktion rein Uebrigbleibenden selbst [gemeint ist das reine Wissen, v. Verf.] […], daß es schlechthin von sich selber sei?«41 Der Begriff des von sich bezeichnet an dieser Stelle das Vermögen des reinen Wissens, intentionale Akte zu vollziehen.42 Fichte behauptet somit, dass das reine Wissen selbst den intentionalen Akt erzeugt, der die Erkenntnis ermöglicht, dass es das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Es ist also nicht der Leser, der diese Erkenntnis erzeugt, sondern es ist das reine Wissen selbst. Fichte möchte mit dieser Aussage freilich nicht bestreiten, dass der Leser eine Erkenntnis des Prinzips besitzt. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht eine vom Leser willkürlich hervorgebrachte Erkenntnis, sondern sie ist eine Erkenntnis, welche der Leser vermöge des reinen Wissens gewinnt. Fichte behauptet daher, dass, indem »wir […] einsahen«, dass das reine Wissen sich selbst konstruiert, »wir […] in dieser Einsicht die Vernunfteinheit selber« waren.43 Mit dieser Erklärung scheint das Beweisziel der Untersuchung erreicht zu sein. Denn nunmehr ist zu sagen, dass das reine Wissen die Erkenntnis erzeugt, welche die Information enthält, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Fichte weist darauf hin, dass die These, dass das Prinzip der Wissenschaftslehre den intentionalen Akt erzeugt, bislang nur behauptet, aber noch nicht gerechtfertigt und ausgewiesen ist: »Dieses daher, jenes Von überhaupt, als solches […] zu rechtfertigen, wäre dermalen unsere nächste Aufgabe.«44 Das heißt, es bedarf eines Beweises, dass das reine Wissen tatsächlich, wie im fünften Schritt behauptet, das Wissen vom reinen Wissen erzeugt.45 Fichtes Begründung dafür, dass dieser Beweis erforderlich ist, lautet, dass die Einsicht, dass das reine Wissen den intentionalen Akt erzeugt, durch eine Nachkonstruktion gewonnen wird.46 Die Erkenntnis, dass das reine Wissen den intentionalen Akt vollzieht, setzt somit das Verfahren 40 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 270, 274. Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 278. 42  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 279. 43 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 280. Vgl. ders.: Wissenschaftslehre 1804/ II, GA II 8, 292, 306. 44 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 293. 45 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 403–404. 46 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 292. 41 Fichte:

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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der Wissenschaftslehre voraus. Diese Erkenntnis scheint daher durch einen willkürlichen intentionalen Akt des Lesers hervorgebracht zu sein.47 Es bedarf somit einer Rechtfertigung der These, dass das reine Wissen selber den intentionalen Akt vollzieht. Diese Rechtfertigung liefert Fichte im sechsten und letzten Schritt in der Grundlegung der Erscheinungslehre. Fichtes Begründung lautet folgendermaßen: »Alles Von […] setzt Licht […] und sich selber nur in diesem absolut faktischen Lichte […]. Haben Sie dies eingesehen, so besinnen Sie sich nun auf sich selber. Wir haben so eben dieses Von […] eingesehen, und haben es eingesehen, als […] so dasein müssend, falls es zur Erscheinung kommen solle. Dies ist das Faktum. Wie haben wir es erklärt? So: es ist da ein […] Von, das sich als solches […] in einem Sehen erscheinen muß. Wir daher, mit unserm […] Sehen selber […] sind die Urerscheinung des […] Lichts. Und so ist denn […] die absolute Objektivirung der Vernunft […] erklärt; und unsere Aufgabe in ihrem höchsten Principe gelöst.«48 Fichtes Erklärung, dass das Von Licht setzt und sich selber in diesem faktischen Licht setzt, bedeutet, dass das reine Wissen den intentionalen Akt vollzieht, welcher die Erkenntnis erzeugt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Fichte behauptet in diesem Zitat, dass das Wissen des Lesers der Wissenschaftslehre beweist, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen ermöglicht.49 Fichtes These ist nachzuvollziehen, sobald berücksichtigt wird, dass der Leser eine Erkenntnis besitzt, die er nicht willkürlich erzeugt. Es ist dies die Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Diese Erkenntnis ist ein Bestandteil des Gesetzes, das im dritten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre erläutert worden ist.50 47  Vgl.

Fichtes programmatische Erklärung im 27. Vortrag: »Nun sagen wir wohl, die absolute Vernunft setzt es: aber das sagen doch auch wieder nur wir, d. h. die Willkür und Freiheit. Die Vernunft redet freilich in dem Zusammenhange; aber die Sprache überhaupt haben wir ihr doch erst geliehen, und uns ist nicht zu glauben.« Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 403. 48 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 298 (Hvh. v. Verf.). 49  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 297. 50  Diese Erkenntnis ist zugleich das Resultat des ersten Schrittes in der Begründung der Erscheinungslehre. Fichte betont, dass die Interpretation des von sich, die er im fünften Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre entwickelt, der Sache nach bereits im ersten Schritt enthalten ist. Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/ II, GA II 8, 279. Fichtes Argumentation ist jedoch überzeugender, wenn die Erkenntnis, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, als Bestandteil

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Das Gesetz besagt, wie gesagt, dass der Leser die Vorstellung erzeugen muss, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt, wenn eine Erkenntnis des reinen Wissens besteht. Dieses Gesetz ist allgemeingültig und beschreibt ein notwendiges Verhältnis zwischen dem intentionalen Akt, der die Erkenntnis ermöglicht, und dem Inhalt dieser Erkenntnis. Das heißt, die Erkenntnis des Lesers, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt, stellt einen Fall von Wissen oder eine wahre Erkenntnis dar.51 Da die Vernunftlehre gezeigt hat, dass jede wahre Erkenntnis durch das reine Wissen begründet ist, folgt somit, dass das reine Wissen diese Erkenntnis des Lesers ermöglicht. Indem der Gehalt des Wissens, das der Leser besitzt, jedoch die Information enthält, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, bringt das reine Wissen mit dem Wissen des Lesers das Wissen vom reinen Wissen hervor.52 Das Wissen, das der Leser besitzt, beweist somit, dass der gewusste Inhalt wahr ist. Denn – um diesen entscheidenden Gedanken zu wiederholen –, da der Leser ein Wissen vom reinen Wissen besitzt und das reine Wissen das Wissen des Lesers ermöglicht, gilt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt: »[D]er Nervus des Beweises ist klar: wir sind selber das Wissen, da wir nun so wissen können, und dermalen wirklich also wissen, so ist das Wissen also beschaffen. Auch ist klar, daß die Nichtentdeckung dieser Beweisquelle […] sich auf die wahrhaft närrische Maxime gründet, das Wissen ausser dem Wissen zu suchen.«53 Mit diesem Schritt ist das Beweisziel der Begründung der Erscheinungslehre erreicht.54 Es ist gezeigt worden, dass das Prinzip der Vernunftlehre das Wissen vom reinen Wissen ermöglicht. Das reine Wissen ist daher das Prinzip der Erscheinungslehre. Das Prinzip lautet, das reine Wissen stellt sich selbst als das, was es ist, dar.55 Denn das reine des Gesetzes interpretiert wird. Die Untersuchung des Gesetzes zeigt, dass diese Erkenntnis nicht willkürlich vom Leser erzeugt wird. Demgegenüber zeigt der zweite Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre, dass die im ersten Schritt gewonnene Erkenntnis vom Leser der Wissenschaftslehre projiziert wird. Im ersten und zweiten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre ist somit noch nicht der Nachweis erbracht, dass diese Erkenntnis vom Leser nicht willkürlich erzeugt wird. 51 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 297, 310. 52 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 303, 317, 320–321. 53 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 312. 54 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 304. 55  Vgl. Stolzenberg: »Ein neues, bis jetzt noch ganz unbekanntes Prinzip muß aufgestellt werden«, 374–375: »Das bedeutet […], daß es [gemeint ist das Prinzip der Wissenschaftslehre, v. Verf.] seine Eigenschaft, unbedingter Grund seiner selbst zu sein,

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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Wissen erzeugt den intentionalen Akt, der die Erkenntnis des reinen Wissens ermöglicht, und der Gehalt dieser Erkenntnis enthält die Information, dass das reine Wissen das Wissen von etwas, und zwar vom reinen Wissen, konstituiert. Die Begründung der Erscheinungslehre ist die Grundlage und der Ausgangspunkt der Entwicklung der Erscheinungslehre. Die Begründung der Erscheinungslehre ist jedoch, wie bereits erwähnt, nur eine Aufgabenstellung, die in der Erscheinungslehre gelöst werden soll. Die Erscheinungslehre hat zudem vor allem die Grundlagen menschlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins sowie der Sinnlichkeit, Legalität, Moralität und Religion zu identifizieren.56 Die Erscheinungslehre ist somit an diesem Punkt der Untersuchung noch nicht vollendet. Fichtes Begründung der Erscheinungslehre ist jedoch abgeschlossen. Die Aufgabe der Begründung der Erscheinungslehre besteht, wie gesagt, darin, das Prinzip der Erscheinungslehre zu bestimmen und mit dem Prinzip der Vernunftlehre in Beziehung zu setzen. Diese Aufgabe ist an diesem Punkt der Untersuchung gelöst. Ich fasse zusammen. Der erste Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre besteht in der Erkenntnis, dass das Wissen vom reinen Wissen durch einen intentionalen Akt erzeugt wird und dass dieser Akt durch das reine Wissen selbst hervorgebracht wird. Der zweite Schritt besagt, dass diese Erkenntnis das Verfahren der Wissenschaftslehre voraussetzt und somit scheinbar durch einen willkürlichen intentionalen Akt des Lesers der Wissenschaftslehre ermöglicht wird. Der dritte Schritt besteht in dem Nachweis, dass selbst dann, wenn diese Erkenntnis durch den Leser gewonnen wird, so doch gilt, dass für den Fall, dass ein Wissen vom reinen Wissen besteht, es notwendig ist, dass der Leser erkennt beziehungsweise faktisch setzt,57 dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Der vierte Schritt besteht in dem Hinweis, dass die Formulierung dieses Gesetz dem Inhalt des Gesetzes widerspricht. Die Darstellung des Gesetzes schließt die Erkenntnis des reinen Wissens mit ein, während das Gesetz besagt, dass diese Erkenntnis nicht wirklich, sondern nur hypothetisch möglich ist. Der fünfte Schritt enthält Fichtes Erklärung, dass das reine Wissen den intentionalen Akt erzeugt, welcher die Erkenntnis des reinen Wissens ermöglicht. als solche, das heißt, als Realität selber setzt, und das wiederum heißt, daß es sich selber als das, was es ist, […] zur Darstellung bringt und sich eben darin als das, was es ist, […] erscheint.« 56  Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 414. 57 Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 250.

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Im sechsten Schritt rechtfertigt Fichte diese These. Fichte weist darauf hin, dass der Leser weiß, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert. Da jeder Fall von Wissen vom reinen Wissen ermöglicht wird, beweist die Erkenntnis des Lesers, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Fichtes Begründung der Erscheinungslehre zeigt, dass für Fichte das Prinzip der Vernunftlehre nicht, wie Roderich Barth behauptet, nur eine Idee darstellt, deren Realität in der Vernunftlehre noch nicht erwiesen ist. Barth stellt fest: »Doch bei [dem] Resultat der Wahrheitslehre handelt es sich lediglich um eine spekulative, sich einer Abstraktion verdankende Idee. Zwar ist der kritische Abschlußgedanke einer absoluten Wahrheit damit von allen […] Relativierungen befreit, seine Realität ist damit aber noch keineswegs ausgewiesen.«58 Fichte setzt jedoch in der Begründung der Erscheinungslehre voraus, dass seine in der Vernunftlehre entwickelte Interpretation des reinen Wissens wahr ist. Anderenfalls wäre seine Begründung der Erscheinungslehre nicht überzeugend. Denn nur insofern gilt, dass ein jeder Fall von Wissen vom reinen Wissen hervorgebracht wird, folgt, dass, wenn der Leser weiß, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, das Wissen des Lesers vom Prinzip der Wissenschaftslehre ermöglicht wird. Sollte das Prinzip der Vernunftlehre nur eine Idee darstellen, deren Realität noch nicht erwiesen ist, wäre Fichtes Argumentation die Grundlage entzogen. In diesem Fall dürfte Fichte nicht voraussetzen, dass das Wissen des Lesers vom reinen Wissen erzeugt wird. Fichtes Begründung der Erscheinungslehre wäre somit nicht überzeugend. Mit Blick auf das Prinzip der Vernunftlehre ist daher zu sagen, dass Fichte in der Vernunftlehre einen Begriff vom reinen Wissen gewinnt, der nicht bloß eine Idee darstellt, deren Realität in der Phänomenologie allererst auszuweisen ist. Vielmehr setzt Fichte in der Begründung der Erscheinungslehre voraus, dass das reine Wissen tatsächlich einen jeden Fall von Wissen begründet.

58  Vgl. Roderich

Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein, 353 und 298. Vgl. ders.: Wahrheit als Sein von Einheit. Die gewißheitstheoretische Reformulierung des absoluten Wahrheitsbegriffs in Fichtes Phänomenologie von 1804–II, in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk. Hrsg. v. Günter Zöller/Hans-Georg von Manz, 103–115, 109.

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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3. Fichtes performative Interpretation des Wissens Fichtes Begründung der These, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, liegt eine performative Theorie des Wissens zugrunde.59 Performative Äußerungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie erstens Äußerungen darstellen, mit denen eine Handlung vollzogen wird. Es sind zweitens Äußerungen, die einen semantischen Gehalt aufweisen, der diejenige Handlung thematisiert, die mit der Äußerung vollzogen wird. Es sind drittens Äußerungen, mit denen ein Phänomen konstituiert wird. Performative Äußerungen sind viertens Aussagen, die wahr sind. So wird beispielsweise mit der Äußerung des Satzes »Hiermit erkläre ich die Tagung für eröffnet« eine Erklärung abgegeben.60 Diese Aussage enthält einen semantischen Gehalt, der diese Handlung thematisiert und es wird eine Tatsache hervorgebracht, und zwar wird eine Tagung eröffnet. Die Äußerung des Satzes »Hiermit erkläre ich die Tagung für eröffnet« beweist somit, dass der Gehalt der Aussage wahr ist.61 Fichtes Interpretation des Wissens, die er im sechsten Schritt in der Begründung der Erscheinungslehre entwickelt, weist diese Merkmale performativer Äußerungen auf. Fichtes Begründung der These, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, lautet, wie gesagt, erstens dass der Leser ein Wissen vom reinen Wissen besitzt, und zwar dass es den intentionalen Akt vollzieht, der das Wissen vom reinen Wissen hervorbringt. Fichtes Begründung besagt zweitens, dass das Wissen, welches der Leser besitzt, durch einen intentionalen Akt erzeugt wird, den das reine Wissen selber vollzieht. Der Leser verfügt 59 Vgl.

jedoch Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 110. Ulrich Schlösser vertritt mit Blick auf die Begründung der Erscheinungslehre den Standpunkt, dass »Fichte […] auf geläufige Modi der performativen Beglaubigung verzichten« muss. (Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens, 110). 60  Bei diesem Beispiel wird freilich vorausgesetzt, dass bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind, also beispielsweise, dass dieser Satz von einer Person geäußert wird, die kraft ihrer Funktion oder ihres Amtes eine Tagung eröffnen kann. 61  In der Literatur zu performativen Äußerungen wird zwischen Deskriptivisten und Non-Deskriptivisten unterschieden. Deskriptivisten wie Kent Bach vertreten den Standpunkt, dass performative Äußerungen wahre Aussagen sind. Demgegenüber vertrat beispielsweise John Langshaw Austin, der Begründer der Theorie performativer Äußerungen, bekanntlich die Auffassung, dass performative Äußerungen keine wahren Aussagen sind. Vgl. Kent Bach: Performatives are Statements too, in: Philosophical Studies 28 (1975); John R. Searle: How Performatives Work, in: Linguistics and Philosophy 12 (1989); John Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Stuttgart 2002. Im Folgenden wird der Standpunkt der Deskriptivisten vertreten.

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somit über ein Wissen, dessen Gehalt diejenige Handlung thematisiert, die vollzogen wird, wenn der Leser dieses Wissen besitzt. So wie im Fall performativer Äußerungen thematisiert somit erstens der Informationsgehalt, den der Leser besitzt, diejenige Handlung, mit der dieser Informationsgehalt gewonnen wird. Zudem findet diese Handlung nur dann statt, wenn der Leser die Erkenntnis gewinnt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Das Wissen vom reinen Wissen besteht also nicht vor oder unabhängig von der Erkenntnis des Lesers. Auf diesen Punkt weist Fichte mit Nachdruck hin. Fichte betont, dass, »das Wissen nicht etwa an und für sich, unabhängig von aller Ansicht seiner selber sei […], sondern daß es […] nur in der Ansicht sei. Daß es nun […] dies ist, haben wir […] durch die Wirklichkeit dieser Ansicht an uns selber unmittelbar faktisch bewiesen.«62 Wie im Fall performativer Äußerungen wird mit dem Wissen, das der Leser gewinnt, somit zweitens ein Phänomen erzeugt. Dieses Phänomen ist das Wissen vom Prinzip der Wissenschaftslehre. Drittens wird in Übereinstimmung mit performativen Äußerungen eine Handlung vollzogen, wenn der Leser erkennt, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt. Diese Handlung ist der intentionale Akt, welcher die Erkenntnis des Lesers ermöglicht. Schließlich garantiert das Wissen, welches der Leser besitzt, dass der gewusste Inhalt wahr ist. Denn da der Leser weiß, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen konstituiert, und das reine Wissen jeden Fall von Wissen begründet, beweist die Erkenntnis des Lesers, dass der Inhalt dieser Erkenntnis wahr ist. So wie im Fall performativer Äußerungen garantiert somit viertens das Vorhandensein des Wissens, das der Leser besitzt, dass der gewusste Inhalt wahr ist. Fichtes Begründung der Erscheinungslehre liegt somit eine Theorie des Wissens zugrunde, die sachangemessen als eine performative Theorie zu bezeichnen ist. Diese These bestätigen unter anderem folgende Zitate: »[D]ie absolute Vernunft wird daher […] dadurch sich unterscheiden, daß in ihr ausgesagt wird was da ist, oder sie thut, und sie thut, was ausgesagt wird.«63 »Indem wir sie wirklich gesetzt […] haben […] haben wir […] [im] Thun die Wahrheit unserer Aussage bestätigt, indem wir auf der Stelle trie62 Fichte: 63 Fichte:

Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 302, 305–306, 317. Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 291.

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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ben was wir sagten, und sagten was wir trieben; […] wir sind ipso facto reine Vernunft […]. Das Licht hat einen ursprünglichen Begriff von seinem eigenen Wesen, der sich ipso facto und unmittelbar sichtbar im Vollziehen seiner selbst bewährt.«64

4. Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Fichtes ­Zweitem Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 und der ­Wissenschaftslehre von 1807 Fichtes Wissenschaftslehre von 1807 und der Zweite Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 weisen Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede auf.65 Fichte erklärt in der Wissenschaftslehre von 1807, dass das Prinzip seines Systems eine relationslose Einheit darstellt und beschreibt es als Leben, Sehen und Licht, das durch sich ist.66 Das Prinzip ist »Eins [,] unum et singulum« sowie »sehendes Leben«, ein »Leben im Lichte«.67 In Übereinstimmung mit dem Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 ist das Prinzip der Wissenschaftslehre somit eine Einheit, die weder in Beziehung zu etwas von ihr Unterschiedenen steht noch interne Differenzen aufweist. Da Fichte das Prinzip der Wissenschaftslehre als Licht, Sehen und Leben bezeichnet, das durch sich ist, ist es zudem ein epistemisches und spontanes Prinzip. Das heißt, es ist ein epistemisches Prinzip, das einen jeden Fall von Wissen von etwas begründet, und es realisiert sich selbst. Das Prinzip der Königsberger Wissenschaftslehre ist somit so wie im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 das reine Wissen.68 Im Unterschied zum Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 entwickelt Fichte in der Königsberger Wissenschaftslehre jedoch 64 Fichte: Wissenschaftslehre

1804/II, GA II 8, 297, 320. Die dargestellte Interpretation von Fichtes argumentativem Verfahren in der Begründung der Erscheinungslehre und die performative Theorie des Wissens sind für die Erscheinungslehre insgesamt von zentraler Bedeutung. Eine ausführliche Untersuchung der Erscheinungslehre würde zu dem Ergebnis führen, dass Fichte die rekonstruierte Argumentation (beziehungsweise Bestandteile dieser Argumentation) und die performative Interpretation des Wissens (in zum Teil modifizierter Form) mehrmals anwendet. Vgl. beispielsweise Fichte: Wissenschaftslehre 1804/II, GA II 8, 338–339, 349, 371–372. 65  In den folgenden Ausführungen wird nur der erste Teil der Wissenschaftslehre von 1807 berücksichtigt, der sich bis zur XVIII. Vorlesung erstreckt. 66  Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre, Königsberg (Wissenschaftslehre von 1807), in: GA II 10 (1994), hier: 116–117, 124. 67 Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 116–117. 68 Die Wissenschaftslehre von 1807 wird auch als Königsberger Wissenschaftslehre bezeichnet.

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keine Begründung des Prinzips der Wissenschaftslehre. Das heißt, in der Wissenschaftslehre von 1807 führt Fichte das Prinzip seines Systems ein, ohne es argumentativ auszuweisen. Demgegenüber identifiziert und bestimmt Fichte das reine Wissen im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 in einer Untersuchung, die sich über 15. Vorträge erstreckt. Eine zweite Übereinstimmung besteht darin, dass Fichte in der Wissenschaftslehre von 1807 im Anschluss an die Darstellung des Prinzips der Wissenschaftslehre die Frage untersucht, wie die Erkenntnis des Prinzips der Wissenschaftslehre möglich ist. Und so wie im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 erklärt Fichte, dass das Prinzip der Wissenschaftslehre selbst das Wissen vom Prinzip konstituiert.69 Es muss, so Fichte, »das Sehen eben selber sichtbar werden«,70 das »Leben soll sich anschauen, als Leben«.71 Das zentrale Thema der ersten Hälfte der Wissenschaftslehre von 1807 ist die Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit der Selbsterkenntnis des Prinzips.72 Fichtes Grundlegung der Erscheinungslehre in der Königsberger Wissenschaftslehre unterscheidet sich jedoch von der Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804. In der Wissenschaftslehre von 1807 rechtfertigt Fichte seine Behauptung, dass das reine Wissen das Wissen vom reinen Wissen erzeugt, nicht. Fichte fordert, dass diese Voraussetzung getroffen wird: »Setze das Leben sehe sich selbst«.73 Fichte begründet jedoch nicht, warum diese Annahme gerechtfertigt ist. Fichte entwickelt in der Wissenschaftslehre von 1807 somit keine Begründung der Erscheinungslehre. Dem entspricht, dass Fichte in der Wissenschaftslehre von 1807 das zentrale Problem, welches er in der Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 diskutiert, nicht näher untersucht. Dieses Problem besteht darin, dass die Erkenntnis des Prinzips der Wissenschaftslehre scheinbar durch einen willkürlichen intentionalen Akt des Lesers erzeugt wird und das reine Wissen somit nicht das Prinzip eines jeden Falls von Wissen ist. Die Königsberger Wissenschaftslehre enthält daher nicht die konsequente kritische Diskussion der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis des Prinzips der Wissenschaftslehre, welche den Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre 69 Fichte:

Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 117, 125. Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 117. 71 Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 129. 72  Vgl. beispielsweise Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 117, 129 ff. 73 Fichte: Wissenschaftslehre 1807, GA II 10, 117. 70 Fichte:

Fichtes Begründung der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre (1804)

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von 1804 auszeichnet. Dies scheint im Vergleich mit dem Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 ein entscheidender Nachteil der Wissenschaftslehre von 1807 zu sein. Mit Blick auf das Thema dieses Sammelbandes ›Systeme in Bewegung‹ verdeutlicht dieser skizzenartige Vergleich der Wissenschaftslehren von 1804 und 1807 einen wichtigen Punkt, der nicht übersehen werden sollte. Bei einer Untersuchung der Systeme der Deutschen Idealisten, insbesondere von Fichtes Wissenschaftslehre, ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Darstellung eines Systems sich verändert, während dies für das System selbst nicht gilt. Angesichts der aufgewiesen Übereinstimmungen zwischen dem Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 und der Wissenschaftslehre von 1807 ist bspw. zu erkennen, dass Fichtes systematischer Ansatz mit Blick auf die Erscheinungslehre sich grundsätzlich nicht verändert, 74 obgleich die Darstellungen seines Systems bedeutende Unterschiede aufweisen, indem bspw. Problemstellungen, welche den Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 prägen, in der Königsberger Wissenschaftslehre nicht behandelt werden. Fichtes Darstellungen der Wissenschaftslehre sind in dieser Schaffensperiode ›in Bewegung‹, sein systematischer Ansatz ist es nicht.75

74 

Dies gilt zumindest für Fichtes Ausführungen im ersten Teil der Königsberger Wissenschaftslehre. 75 Vgl. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794, in: Fichtes Spätwerk im Vergleich. Hrsg. v. Günter Zöller/Hans Georg von Manz. Amsterdam/ New York 2006, 1–13.

II. SCHELLING: VOM SYSTEM ZUM UNGRUND

Hans Feger Der »Sinn, mit dem diese Art der ­ Philosophie aufgefaßt werden muß!«. Zur Problematik des Systemabschlusses in Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) Schelling beobachtet schon kurz nach dem Erscheinen der Wissenschaftslehre – wie auch später Hegel in seiner Differenzschrift (1801) – einen Widerspruch im fichteschen System, der darin bestehe, dass es seine eigenen Voraussetzungen nicht mehr thematisieren, damit aber auch seinen Wirklichkeitsbezug nicht adäquat unter Beweis stellen könne. Seine Naturphilosophie hat hier ihren systematischen Bezug. Sie radikalisiert den transzendentalphilosophischen Ansatz von Fichtes Wissenschaftslehre mit dem Argument, dass sie die Selbstverschließung des Idealismus der Wissenschaftslehre vor ihren eigenen Voraussetzungen nochmals durch eine »entgegengesetzte Richtung« der Argumentation durchbrechen müsse, also den »subjektiven« Idealismus mit einem »objektiven« Idealismus zu ergänzen habe. Mit dieser Idee, dass sich die Philosophie durch die Komplementaritätsannahme von Natur- und Transzendentalphilosophie selbst zu transformieren habe, gerät die Philosophie aber in eine prekäre Lage. Sie arbeitet sich an einer Differenz (von SelbstBewusstsein) ab, die unaufhebbar ist, der sie selbst nicht Herr wird und die sie schließlich zwingt, in der Kunst eine Dimension der Selbst­ entäußerung von Bewusstsein zu denken, die die ganze »Odyssee des Geistes« erst sichtbar macht. Es ist hierbei nur vordergründig Schellings Absicht gewesen, der Wissenschaftslehre ein Bewusstsein ihrer selbst zu verleihen, um so die verlorengegangene Natur in Fichtes Transzendentalphilosophie wiederherzustellen.1 Der Eindruck, Schellings naturphilosophischer Ansatz sei 1 Schelling hat Fichtes einseitige Hereinnahme der Natur in das reflektierende Subjekt bis in seine Spätphilosophie scharf kritisiert und die eigene Position immer mehr in Differenz zu Fichte markiert. So schreibt er polemisch 1806, auf der Höhe seines Streits mit Fichte, gegen das »Thrasonische« und »Großsprecherische«

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lediglich eine Präfiguration der Wissenschaftslehre, geeignet, die Aporien der fichteschen Philosophie zu überwinden, täuscht. In der Konsequenz nämlich führt das Projekt, die von Fichte als Nicht-Ich begriffene Natur als Resultat der bewusstlosen Tätigkeit eines Selbstbewusstseins zu erklären, die diesem vorausgeht, über die Dimensionen der fichteschen Philosophie weit hinaus. Wo Fichte beim ausgebildeten Selbstbewusstsein einsetzt und die Natur nur als Akt der Objektsetzung entwickeln kann (als Realität einer durch und für das Ich gesetzten), kommt Schelling ihm mit einer Konzeption zuvor, in der eine außer uns selbständige und unabhängige Natur als Genese des Selbstbewusstseins gedacht ist. Damit ist ein ganz und gar neuer Systemanspruch formuliert, der die Natur – depotenziert – als Vorgeschichte des menschlichen Selbstbewusstseins erfassen will. Eine solche Naturphilosophie zu begreifen, zwingt, »sich vom Subjektiven der intellektuellen Anschauung loszumachen«. Und so fährt Schelling fort: »Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellektuelle Anschauung, wie sie in der Wissenschaftslehre gefordert wird; ich fordere aber außerdem noch die Abstraktion von dem Anschauenden in dieser Anschauung, eine Abstrak­

des Idealismus der Wissenschaftslehre: Fichte will die Natur »nur nicht als lebendig haben, aber als todt will er sie allerdings haben, als etwas, darauf er einwirken, das er bearbeiten und mit Füßen treten kann« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre. Rezension. Über das Wesen des Gelehrten, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. VII, 1–126, hier: 17. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen). »Im Fichteschen System hat sie [die Natur] diesen letzten Rest von Erhabenheit verloren, und ihr ganzes Daseyn läuft auf den Zweck ihrer Bearbeitung und Bewirthschaftung durch den Menschen hinaus. […] Die Naturkräfte sind nach demselben nur da, um menschlichen Zwecken unterworfen zu werden. Diese Unterwerfung wird das einemal ausgedrückt als eine allmähliche Aufhebung und Vernichtung der [...] Natur durch den Menschen« (Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses, SW VII, 110). Und noch in den Münchner Vorlesungen von 1827 zeigt Schelling genau die Grenze, an die der unbedingte Idealismus Fichtes unweigerlich stoßen muss, und die er nicht erklären kann, auf: »Der unbedingteste Idealist kann nicht vermeiden, das Ich, was seine Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken – wenn auch nicht von einem Ding-an-sich, wie es Kant nannte, oder überhaupt von einer Ursache außer ihm selbst, aber doch wenigstens abhängig von einer innern Nothwendigkeit, und wenn er dem Ich ein Produciren jener Vorstellungen zuschreibt, so muß dieses wenigstens ein blindes, nicht in dem Willen, sondern in der Natur des Ich gegründetes Produciren seyn. Um dieß alles zeigte sich nun Fichte unbekümmert, er gab sich gegen die gesammte Nothwendigkeit mehr das Verhältnis eines unwillig Negirenden, als eines sie erklärenden« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 1–200, hier: 92–93).

Zur Problematik des Abschlusses in Schellings System (1800)

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tion, welche mir das rein Objektive dieses Akts zurückläßt«.2 Die natura naturans im Sinne einer absoluten Tätigkeit ist sein Forschungsfeld; sie ist das Gebiet des »begeisterten Naturforschers«, der die Natur nicht als das »tote Aggregat einer räumlich bestimmbaren Menge von Gegenständen« verstehen will. Oder theologisch formuliert, wiewohl dies eine idealistisch infiltrierte Theologie ist: Es geht ihm um die Erforschung der »heiligen, ewig schaffenden Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt«.3 Es geht ihm darum, die Genese der menschlichen Freiheit auf ihre natürlichen Bedingungen hin durchsichtig zu machen, mithin die »Vorstellung einer objektiven Welt durch einen Proceß zu erklären, in welchem sich das Ich eben durch den Akt des Selbstsetzens unbeabsichtigter, aber nothwendiger Weise verwickelt sieht«.4 Von dieser Natur, die dem Selbstbewusstsein in Form unbewusster Handlungen eines Ich vorgeordnet ist – als »eine Region jenseits des jetzt vorhandenen Bewußtseyns«5 – muss ausgegangen werden, um auch die Genese des Selbstbewusstseins aufzeigen zu können.6 Macht man die bewusstseinsunabhängige Außenwelt, also 2 Schelling:

Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW IV, 79–104, hier: 87–88. Der Produktionsakt, der doch Bedingung des entwickelten Bewusstseins sein soll, kann selber nicht parallel mit dem Bewusstsein selber gelingen, wie es Fichtes Setzungsbegriff vorsieht. Er muss ihm logisch vorhergehen. Schelling hat dies in den Weltaltern (1813) auf die Kurzformel gebracht: »Kein Ich ohne Nicht-Ich, und insofern ist das Nicht-Ich vor dem Ich« (Schelling: Weltalter, SW VIII, 195–344, hier: 227). Schon in der früheren Schrift Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801) sieht Schelling diese Problematik in der Unklarheit Fichtes, nicht deutlich zwischen der Position des philosophierenden Subjekts und der im Vollzug der Produktion erst gewonnenen Position der Wissenschaftslehre unterschieden zu haben. 3 Schelling: Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, SW VII, 289–330, hier: 293. 4 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 97. 5 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 93. 6  In der Schrift Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie von 1801 bekennt Schelling sich daher deutlich zu einem »System des Wissens«, das von der Wissenschaftslehre grundlegend unterschieden ist, da es, wie der Kritizismus überhaupt, das Bewusstsein nur in seiner fertigen Form aufnehmen kann: Es gibt einen Idealismus der Natur, und einen Idealismus des Ichs. Jener ist mir der ursprüngliche, dieser der abgeleitete. […] Die Wissenschaftslehre, obgleich sie das Bewußtseyn erst ableiten will, bedient sich doch nach einem unvermeidlichen Cirkel aller Mittel, die ihr das (im philosophirenden Subjekt) schon fertige Bewußtseyn darbietet, um alles gleich in der Potenz darzustellen, in die es doch erst mit dem Bewußtseyn gehoben wird. […] Es ist aber nicht über Wissenschaftslehre (eine geschlossene und vollendete Wissenschaft), sondern über das System des Wissens selbst die Frage. – Dieses System kann nur durch Abstraktionen von der Wissenschaftslehre entstehen und, wenn diese Idealrealismus ist, nur zwei Haupttheile haben, einen rein theoretischen oder realistischen, und einen praktischen oder idealistischen; durch die Vereini-

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das fichtesche Nicht-Ich, zu einer notwendigen »Täuschung«,7 ist das Ich nicht mehr durch das Ich gesetzt, sondern erscheint sich selbst in der Gestalt des Nicht-Ich, dessen paradoxe Struktur darin besteht, als nicht-gesetzt gesetzt zu sein. Schellings Real-Idealismus überwindet Fichtes Idealismus des Ich dadurch, dass er dem Selbstbewusstsein eine bewusstlose Vorgeschichte voranstellt, die sich als Natur dem ausgebildeten Selbstbewusstsein nicht mehr in ihrer Produktivität zeigt, sondern nur noch in einer Objektivität erfahrbar ist, die ihr Werden verhüllt. »Über Natur philosophieren, heißt [aber] Natur schaffen«,8 sagt Schelling, heißt, die Natur aus ihrer kalten Objektivität befreien, aus ihrem bloßen Mechanismus entlassen, auf den die Physik sie seit Descartes reduziert hatte. Die Natur ist »objektives Subjekt-Objekt«, der der menschliche Geist als »subjektives Subjekt-Objekt« gegenübersteht. Dies bringt ein großes systemtheoretisches Problem mit sich: Die Synthesis von Subjekt und Objekt ist dann nämlich nicht mehr bewusstseinsphilosophisch beziehungsweise im Selbstbewusstsein fundiert, sondern in einer absoluten Identität, die als das Unbedingte im Wissen selbst »unbedingbar« ist. Für dieses »absolut Identische, das schon im ersten Akt des Bewußtseyns sich trennt, und durch diese Trennung das ganze System der Endlichkeit hervorbringt«, kann »es überhaupt keine Prädicate geben […], auch keine, die vom Intelligenten, oder vom Freien hergenommen wären«, so dass »es also auch nie Objekt des Wissens, sondern nur der ewigen Voraussetzung im Handeln, d.h. des Glaubens, seyn kann«.9 Prekär an dieser Konstruktion ist, dass der Erklärungsgrund eines solchen, Naturund Transzendentalphilosophie umfassenden Systems des »Wissens« einem Bewusstsein nie restlos akkommodiert werden kann.10 Gerade weil Natur und Geist sich nicht aneinander »vernichten«, sondern eines im anderen jeweils das Andere seiner selbst vor sich hat, generiert diese

gung dieser beiden kann nicht wieder Idealrealismus, sondern es muß vielmehr Real=Idealismus entstehen (was ich oben den objektiv=gewordenen Idealrealismus nannte, und) worunter nichts anderes als das System der Kunst verstanden wird« (Schelling: Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW IV, 84, 85–86, 89). 7 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 327–634, hier: 406, 569. 8 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 13. 9 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 600. 10 Fichte hat daher in seinen Bemerkungen bei der Lektüre von Schellings transscendentalem Idealismus (1800) den Vorwurf erhoben, dieser fundiere das Wissen in einer Art von Sein.

Zur Problematik des Abschlusses in Schellings System (1800)

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Dialektik einen nie aufgehenden Rest.11 Sie birgt nach Schelling aus diesem Grunde (später wird dies in der Theorie des Ungrundes fortgeführt) aber große Erwartungen, denn der Mensch vermag nun die Natur zu begreifen, indem er sich des Prozesses, durch den er selbst produziert wird, erinnert. Er depotenziert sich, das heißt er versetzt sich in den Anfang zurück und durchläuft, wie in einer großen Anamnese philosophierend die Entwicklung noch einmal. In einer solchen Konstruktion aber erfüllt das absolute Ich dann nur noch das allgemeinste Kriterium eines Selbstbewusstseins, nämlich das der Selbstzuwendung, ohne dass diese Selbstzuwendung die eines Individuums oder einer Person wäre. Es steht jenseits der Alternative, die sich mit dem Objekt- und Subjektgebrauch eines Ich stellt.12 Dadurch aber – so Schelling – rückt es gerade in die Position, durch die Personen, die berechtigterweise Träger des Personalpronomens ›Ich‹ sind, allererst konstituiert werden.13 Es rückt in die Position des Beobachters desjenigen Unterschiedes, durch den die Selbstzuwendung einer Person erst möglich ist – oder, systemtheoretisch gesprochen: es ist als Beobachter des Systems selbst Bestandteil des Systems. Und die systemrelevante erste Frage, die hier entsteht, ist: Wie kann der Philosoph an dieser Selbstreferenzialität des Systems beobachtend teilhaben? – Dies berührt die zweite Frage nach dem Abschluss des Systems eines nunmehr »transzendentalen Idealismus«: Wie kann in der höchsten Form der Selbstdurchsichtigkeit dem Selbstbewusstsein ein Wissen nachgewiesen werden, das um diesen nie aufhebbaren Rest weiß. Die Entstehungsgeschichte des Selbstbewusstseins und das Gefüge der Außenwelt in ihrem »unzerreißbaren Zusammenhang« darzustellen,14 oder – wie Schelling im System des transzendentalen Idealismus formuliert – das, »was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produciren und

11 

Es gibt also »einen prinzipiell nicht aufhebbaren Rest in unserer Selbstdurchsichtigkeit« (Wolfgang Hogrebe: Sehnsucht und Erkenntnis, in: ders.: Fichtes Wissenschaftlehre 1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt/M. 1995, 50–60, hier: 61 Anmerkung). 12  In der Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie von 1795 schreibt Schelling, dass das absolute Ich »überall nicht in der Sphäre der Objekte, und selbst nicht im Subjekt, das gleichfalls als Objekt bestimmbar ist, zu suchen« (Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie, SW I, 149–244, hier: 166) sei. 13 Vgl. hierzu Markus Gabriel: Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«. Berlin 2006. 383 ff. 14 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 93.

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seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten«,15 gelingt allein in der Kunst. Erst mit der Anerkenntnis der Kunst kommt die Geschichte des Zu-sich-Kommens zu einem Ende. Die Kunst zeichnet aus, dass sie ein Verhältnis zu den Dingen lehrt, das schon von Anbeginn die eigentümliche Gesetzmäßigkeit zwischen Natur und Freiheit ausmacht: »die wechselseitige Unabhängigkeit beider voneinander, obgleich sie übereinstimmen«.16 Dieses Wissen der Kunst hat den Charakter der Offenbarung, da es innerhalb des Wißbaren (das ist des Systems) auf einen Grund der Identität des Selbstbewusstseins verweist, der außerhalb des Wissens liegt. Damit bin ich bei meinem Thema, bei dem »Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß«.17 Die Kunst ist dann nämlich die Zerreißung des Schleiers der Amnesie und das geheime Zentrum dieses (poetischen) Idealismus um 1800. Das »System der Kunst« ist insofern jene »absolute Continuität«, die Fichte lediglich vom Standpunkt des Bewusstseins nacherfinden will. Sie ist »Eine ununterbrochene Reihe, die vom Einfachsten in der Natur an bis zum Höchsten und Zusammengesetztesten, dem Kunstwerk, herauf geht« und damit das Postulat erfüllen soll,18 dass »im Subjektiven, im Bewußtseyn selbst, jene zugleich bewußte und bewußtlose Thätigkeit aufgezeigt werde«.19 Schellings Nacherfindung der »Arbeit des zu-sich-selbst-Kommens, des sich Bewußtwerdens selbst«,20 die Fichte erst in ihrer höchsten ­Potenz, dem Bewusstsein, aufnimmt, ist eine ästhetisch geleitete »­Anamnese« des Selbstbewusstseins,21 die sich von Fichtes Idee des Primats der praktischen Vernunft verabschiedet hat. Sie ist Anamnese, also Wiedererinnerung der Weltseele – so auch der Titel einer kleinen Schrift von 1798. Sie ist keine ausschließlich genetische, das heißt im praktischen Handlungsvollzug (der Tathandlung) sich versichernde Begriffskonstruktion mehr, sondern zieht die Konsequenzen aus Kants dritter Kritik, der Wende zur Ästhetik, das heißt sie nimmt ein Wissen 15 Schelling:

System des transzendentalen Idealismus, SW III, 627–628. System des transzendentalen Idealismus, SW III, 579. 17 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 351. 18 Schelling: Ueber den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW IV, 89. 19  »Wie die Kunst des Künstlers nicht eigentlich ist, die Natur zu übertreffen, sondern das Seyende in ihr darzustellen, das Nicht-Seyende aber, das in dem gemeinen Vorkommen zugleich mit bemerkt wird, auch für die Wahrnehmung – (die als bloße für=wahr=Nehmung ausdrücklich dem wirklichen Sehen entgegengesetzt wird) – zu entfernen: ebenso ist die Absicht des Naturphilosophen keineswegs, die Natur zu überfliegen, sondern das Positive, oder was in ihr eigentlich ist, rein darzustellen und zu erkennen« (Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 349). 20 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 93. 21 Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 95. 16 Schelling:

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der Kunst in Anspruch, um das Bewusste und Bewusstlose in ihrer Einheit bewusst zu machen. Lassen Sie mich dies näher erklären. Für Schelling kann Selbstbewusstsein als »Akt, wodurch sich das Denkende unmittelbar zum Objekt wird«,22 nur fungieren, wenn in ihm beide Sphären, Subjekt und Objekt sich gegenseitig nötig haben und im Wechsel aneignen. Als unbedingtes Selbstbewusstsein ist dieses Selbstbewusstsein nur nach Maßgabe eines Ich-sagenden menschlichen Geistes zu verstehen. Erklärungsgrund ist jedoch weder das menschliche Selbstbewusstsein noch irgendeine höhere »Art des Seyns«. Dieses Selbstbewusstsein ist bloßes Denken mit sich selbst; ein Denken, das sich unmittelbar selbst zum Objekt wird − »ohne alle Vermittlung«.23 Es selbst ist ursprüngliche Tat und daher per se indemonstrabel: »Der Begriff des Ich kommt durch den Akt des Selbstbewußtseyns zu Stande, außer diesem Akt ist also das Ich nichts, seine ganze Realität beruht nur auf diesem Akt, und es ist selbst nichts als dieser Akt«.24 Vor dem Hintergrund dieser Konzeption von Selbstbewusstsein ist das postulierte Wissen, welches das Selbstbewusstsein von sich hat, nur überaus prekär in den Griff zu bekommen. Es ist als Bewusstsein reiner Produktivität zu verstehen, die nicht in einem Produkt zum Stillstand kommt, mithin unbewusst bleibt. Diese unbewusst vollzogenen Handlungen des Ich einem philosophischen Bewusstsein zugänglich zu machen, erfordert mithin eine Übersetzungsleistung, welche die Grenzen des Bewusstseins in die Darstellung einzubeziehen hat. Schelling nennt das Wissen des Selbstbewusstseins von sich − im Unterschied zur intelligiblen Selbstwahrnehmung − eine »intellektuelle Anschauung«, da es sich als unmittelbares Wissen zugleich auch erschafft, mithin als »Organ alles transzendentalen Denkens«25 zugleich produktiv und rezeptiv ist.26 Die spekulative Verlegenheit, hier von einem »Organ« des transzendentalen Denkens zu sprechen, das doch keinerlei Beziehung auf ein Bewusstsein hat, ist Schelling schon in seinen Frühschriften 22 Schelling:

System des transzendentalen Idealismus, SW III, 365. System des transzendentalen Idealismus, SW III, 384. 24 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 366. 25 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 369. 26  In den Erlanger Vorlesungen von 1820/21, in denen er diesen Terminus durch den Begriff der Ekstasis ersetzt, erläutert er rückblickend: »Anschauung nannte man es, weil man annahm, daß im Anschauen oder […] im Schauen das Subjekt sich verliert, außer sich gesetzt ist: intellektuelle Anschauung, um auszudrücken, daß das Subjekt hier nicht in das sinnliche Anschauen, in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren, sich selbst aufgebend in dem, was gar nicht Objekt seyn kann« (Schelling: Erlanger Vorträge, SW IX, 207–252, hier: 229). 23 Schelling:

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nicht entgangen. »Ich weiß es ebenso«, schreibt er in seiner Frühschrift Vom Ich als Princip (1795), »daß diese intellektuale Anschauung, sobald man sie der sinnlichen verähnlichen will, durchaus unbegreiflich seyn muß, daß sie überdieß ebensowenig als die absolute Freiheit im Bewußtseyn vorkommen kann, da Bewußtseyn Objekte voraussetzt, intellektuale Anschauung aber nur dadurch möglich ist, daß sie gar kein Objekt hat. Der Versuch also, sie aus dem Bewußtseyn zu widerlegen, muß ebenso sicher fehlschlagen, als der Versuch, ihr durch dasselbe objektive Realität zu geben, was nichts anderes hieße, als sie schlechterdings aufheben.«27 Die Verlegenheit, von einem Prinzip sprechen zu müssen, das sich erst im Erfolg der Anwendung ausweist, dort aber schon nicht mehr greifbar ist, ist für Schelling keinesfalls ein Mangel, sondern vielmehr kons­ titutives Merkmal eines Vorgangs, der eintritt, wenn die Einheit über die Verdoppelung, in der sie sich im Objekt spiegelbildlich gegenübertritt, vergessen wird und nur noch als nicht-seiend vorgestellt werden kann.28 In ihrer Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit kann die intellektuelle Anschauung immer nur erinnert werden. Ihr Wesen als freie Tätigkeit besteht gerade darin, dass sie nirgendwo zum Stehen kommt. Auf der Seite der Objekte unterhält sie einen ständigen Prozess von Selbstentäußerungen, der nicht in einem Gegenstand zur Ruhe kommt, sondern ihn als das, was er nicht sein will, wahrnimmt. Auf der Seite des Subjekts betreibt sie einen ständigen Prozess von Selbstanschauungen, der immer wieder die Persönlichkeit zernichtet, da jeder Versuch, sie ins Bewusstsein zu heben, ihre Produktivität hemmt. »Wir erwachen aus der intellektuellen Anschauung wie aus dem Zustande des Todes. Wir erwachen durch Reflexion, d.h. durch abgenöthigte Rückkehr zu uns selbst. […] Würde ich die intellektuale Anschauung fortsetzen, so würde ich aufhören zu leben. Ich ginge ›aus der Zeit in die Ewigkeit!‹«29 27 Schelling:

Vom Ich als Princip der Philosophie, SW I, 181. »Ihr verlangt, daß ihr euch dieser Freiheit bewußt seyd? Aber bedenkt ihr auch, daß erst durch sie all’ euer Bewußtseyn möglich ist, und daß die Bedingung nicht im Bedingten enthalten seyn kann? Bedenkt ihr überhaupt, daß das Ich, insofern es im Bewußtseyn vorkommt, nicht mehr reines absolutes Ich ist, daß es für das absolute Ich überall kein Objekt geben, und daß es also noch viel weniger selbst Objekt werden kann? – Selbstbewußtseyn setzt die Gefahr voraus, das Ich zu verlieren« (Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie, SW I, 181). 29 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 325. Die Sorgfältigkeit, mit der Schelling die intellektuelle Anschauung von jeglicher Einmischung existenzieller Erfahrungen freihält, lässt sich schon in den Philosophischen Briefen über 28 

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Dies vorausgesetzt, wird nun sichtbar, wie Schelling dem werdenden Ich im Zuge der Entfaltung seines Systems Herr zu werden versucht. Das System des transzendentalen Idealismus errichtet auf der Grundlage der Differenz von produktiver und reflektierter Tätigkeit eine »transzendentale Betrachtungsart, welche keineswegs eine natürliche, sondern eine künstliche ist«,30 um die manifeste Tätigkeit des Erkennens auf ihre produktive Tätigkeit hin durchsichtig zu machen. Was im Denken, Wissen und Handeln also dem Bewusstsein flieht, dieses absolut Nicht-Objektive, soll durch eine künstliche transzendentale Betrachtungsart vor das Bewusstsein gebracht werden. Bewerkstelligt wird dies durch eine Technik, die den Vorgang der Kunstproduktion simuliert und von einer Umkehrung der Bewusstseinsrichtung beziehungsweise einer Umkehrung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich ausgeht. Schelling nennt dieses Verfahren im System von 1800 »transzendentale Kunst« und mit Hinblick auf Fichte schreibt er weiter: »anstatt daß im gemeinen Wissen das Wissen selbst (der Akt des Wissens) über dem Objekt verschwindet, wird im transscendentalen umgekehrt über dem Akt des Wissens das Objekt als solches verschwinden. […] Die trans­ scendentale Kunst wird eben in der Fertigkeit bestehen, sich beständig in dieser Duplicität des Handels und des Denkens zu erhalten«.31 Sie ist Schellings Antwort auf das Problem, wie ein philosophisches Wissen des Unvermittelbaren möglich ist. In dieser Hinsicht teilt er mit den Frühromantikern Jenas ein allgemeines Unbehagen am System, indem er es – wie Friedrich Schlegel schreibt – von einem »Punkt« aus entwickelt, »der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch

Dogmatismus und Kriticismus (1795) an Hand eines Negativbeispiels belegen: Die Täuschung, »überall sich selbst zu denken«, sei − so Schelling − das »Princip aller Schwärmerei. Sie entsteht, wenn sie zum System wird, durch nichts anders als durch die objektivisirte intellektuale Anschauung, dadurch, daß man die Anschauung seiner Selbst für die Anschauung eines Objekts außer sich, die Anschauung der innern intellektualen Welt für die Anschauung einer übersinnlichen Welt außer sich hält« (Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, SW I, 281–342, hier: 320–321). Nicht nur die Schwärmereien der »alten Philosophie« seien dieser »Fiction« verfallen; besonders auch der Spinozismus, ja das mystische Erleben insgesamt sei dieser Täuschung erlegen, »in dem Abgrund der Gottheit verschlungen zu seyn« und doch noch »als Substrat der Vernichtung immer wieder sein eigenes Selbst« zu denken. 30 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 345. 31 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 345.

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das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte«.32 Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Konstruktion zutiefst artifiziell ist und ihr keine wie auch immer geartete Erfahrung zugrunde liegt. Konstruktion und Demonstration gehen hier Hand in Hand. Eine Demonstration, wie sie Kant in der Perspektive seiner transzendental-kritischen Theorie der Erfahrung denkt, liegt Schelling ebenso fern wie eine Reflexion der umkehrenden Wahrnehmung, wie sie etwa Novalis in der Verwandlung des hinnehmenden Sehens in einen Zustand des Schwebens sich vorstellt. In gewisser Weise wird sogar der ordo inversus zum Konstruktionsprinzip des philosophischen Systems, also zu einem Problem des Wissens gemacht, statt zu einem Problem wahrnehmender Erkenntnis. Die Idee, durch die Umkehrung der Reflexionsrichtung eine unmittelbare Erfahrung wirklich in den Blick zu nehmen, die ein » von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst« hat,33 ist nur eine Fiktion, die sich selbst dementiert. In dem Widerspruch befangen, von einer Erfahrung auszugehen, der sich das Bewusstsein notwendig entziehen muss, diese Erfahrung aber dennoch dem Bewusstsein mitteilen zu wollen, greift Schelling, wie schon zuvor Schiller und Hölderlin, auf die ästhetische Wahrnehmung als Übersetzungsorgan zurück, das die geforderte Ambivalenz, »zugleich das Angeschaute (Producierende) und das Anschauende« zu sein, zu seinem Verstehenshorizont macht. Dieser Wahrnehmung kommt dabei lediglich die Funktion zu, einen Verstehenshorizont zu errichten für das, was in einem völlig unbestimmten Sinne intellektuelle Anschauung heißt. Mit ästhetischer Wahrnehmung meint Schelling hier »das Wort im alten Sinne«, also im Sinne von aisthesis. »Eine vollendete Aesthetik (das Wort im alten Sinne genommen) [wird] empirische Handlungen aufstellen, die nur als Nachahmungen jener intellektualen Handlung erklärbar sind«.34 Diese These, dass die intellektuelle Anschauung nach Maßgabe der ästhetischen Anschauung einem Bewusstsein angepasst werden kann, macht Schelling zum Problem des Organs der Transzendentalphilosophie: »dieses Reflektirtwerden des absolut Unbewußten und nicht Objektiven [ist] nur durch einen ästhetischen Akt der Einbildungskraft

32 

Friedrich Schlegel: Ueber die Unverständlichkeit, in: ders.: Schriften zur Kritischen Philosophie 1795–1805. Hrsg. v. Andreas Arndt/Jure Zovko. Hamburg 2007, 104–116, hier: 113. 33 Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, SW I, 318. 34  Vgl. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, SW I, 318.

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möglich«.35 Damit deutet er die intellektuelle Anschauung anders als Fichte, der (nur) ihre praktische Relevanz − im Sollen − hervorhebt. Komplementär zu sehen ist die ästhetische Anschauung des Kunstprodukts, die am Ende des Systems − Theorie und Praxis überbietend − die Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Ich abschließt. In der Anschauung des Kunstprodukts wird sich hier das absolute Ich in seiner Tätigkeit der Selbstzuwendung selbst transparent. Der bewusstseinskonstituierende Akt, den Schellings transzendentale Logik an der Grenze zwischen produktiver Tätigkeit und Anschauung ansiedelt, wird hier selbst in den Blick genommen. Würde diese letzte Selbsttransparenz nicht die Entwicklungsgeschichte des Selbstbewusstseins abschließen, wäre die Alternative nur das Dilemma eines unendlichen Regresses (im Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins). Mit dieser Anschauung ist der »Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß«, förmlich ganz ins Objekt übergegangen, und alles Bedürfnis nach Philosophie steht still. Wegen dieses autoreaktiven Abschlusses nennt Schelling diese Anschauung auch Organon und Dokument der Philosophie, da das Streben nach Wiedergewinnung und Darstellung des Absoluten, das die philosophische Reflexion in ihrem System abbildet, im fertigen Kunstprodukt widergespiegelt wird. Der Kunst wächst so im System des transzendentalen Idealismus die Aufgabe zu, der produzierenden Tätigkeit der intellektuellen Anschauung eine Objektivität entgegenzustellen, die sie als eine ins Unendliche strebende Tätigkeit nicht mehr begrenzt. Deutet man dies so, dann besteht das Geheimnis der Kunst darin, ein Wissen in Anspruch zu nehmen, das jeder schon von sich aus hat, sofern er sich nur richtig versteht. »Nicht ich weiß« dann, schreibt Schelling im System des gesamten Philosophie (1804), »sondern das All weiß in mir, wenn das Wissen, das ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wahres Wissen ist«.36 Das bloße Werden, wie es schon die Natur in ihrer organischen Autarkie verkörpert, wird im Kunstwerk real. Kunst und Philosophie werden hier in ein solch spannungsreiches Verhältnis zueinander gesetzt, dass Schelling formulieren kann: »Die Philosophie beruht also ebenso gut wie die Kunst auf dem produktiven Vermögen, und der Unterschied beider bloß auf der verschiedenen Richtung der produktiven Kraft. Denn anstatt daß die 35 Schelling:

System des transzendentalen Idealismus, SW III, 351. System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 131–576, hier: 140. 36 Schelling:

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Produktion in der Kunst nach außen sich richtet, um das Unbewußte durch Produkte zu reflektiren, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektiren.«37 Der Abschluss des Systems in der Kunst ist der Grund für die Wahrheit des Systems der Philosophie. Was im System des transzendentalen Idealismus immer hinausgeschoben wurde, nämlich dass es die Genese eines absoluten Ich aufzeigt (so die Perspektive von Anfang an), wird mit dem Systemschluss real für das Ich – und alles Sollen steht still. Es ist also die Kunst, die die Antwort auf die Frage gibt, die die Philosophie stellt: Kann ein System der Wirklichkeit seine eigene Wahrheit zeigen? »Absolute Continuität« darstellen kann allein die Kunst, da sie allein die beiden Seiten des sich zum System bildenden Prozesses, die subjektive beziehungsweise idealisierende und die objektive beziehungsweise realisierende Tätigkeit in ihrer Verschränkung darzustellen in der Lage ist. Die philosophische Konstruktion hingegen demonstriert nur immer wieder an sich selbst den Verlust dieser »Continuität«, bringt damit aber einen Prozess ans Licht, der als Bildungsgeschichte eines Ich auslegbar wird, das sich in seinem immediaten Handeln selbst anschauen will. Die poetische Freiheit setzt so erst ins Werk, was Schelling als spezifische Leistung seines erweiterten Freiheitsverständnisses hervorkehrt, dass nämlich mit ihm »zuerst die Freiheit in ihr Recht eingesetzt« worden sei, weil sie nunmehr als ein Subjektivität und Objektivität umfassendes Prinzip entwickelt ist. Der Künstler repräsentiert, indem er die Sphäre des Subjektiven und Objektiven umfasst, ein von vorn sich schaffendes Bewusstsein. Ein schönes Beispiel findet sich in der Philosophie der Offenbarung. Dort schreibt Schelling: »Cervantes erzählt von einem Maler zu Ocanna, der, wenn man ihn fragte, was er male, antwortete: ›was herauskommt‹.«38 Es geht in der Kunst gerade darum, der Negativität habhaft zu werden, die dem Werden in seinem Vergehen eigen ist. Dargestellt wird etwas, das sich entzieht, was mithin nur im Übergang, »in der Folge«, ist. Es ist dieser Zustand absoluter Spontaneität, den Schelling als Einstimmung in den unvordenklichen Anfang wirklichen Philosophierens verlangt und der im Kern ein ästhetischer Zustand ist: »Nehmt, kann man sagen, der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu seyn, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu seyn und wird Kunst«.39 37 Schelling:

System des transzendentalen Idealismus, SW III, 351. Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 1–530, hier: 199. 39 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 630. 38 Schelling:

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Zuletzt kurz ein Ausblick in drei Aspekten: 1) Die generelle Problematik, die hier vermittelt wird, besteht darin, dem Menschen ein Bewusstsein davon zu vermitteln, dass er selbst – als Geist – im Naturprozess eine Stelle erreicht hat, an der die Natur sich ihrer selbst als handelnde bewusst wird. Vor diesem Hintergrund konstruiert Schelling in seiner Freiheitsschrift von 1809 ein Selbstbewusstsein, in welchem der Geist sich auf der Grundlage der Materie als ein von ihr Geschiedener selbst erzeugt. Dieses Selbst ist seine »eigene That«; es hat aber nicht mehr nur – wie bei Kant und Fichte – keinen Ort in der Zeit, sondern geht durch die Zeit – unergriffen von ihr – hindurch als eine der »Natur nach ewige Zeit«.40 Schelling vermeidet also durch die präreflexive Konstitutionsgeschichte des Selbst den (fichteschen) Zirkel der Selbstbestimmung, der dadurch entsteht, dass das Selbst immer schon gesetzt sein muss, um sich selbst bestimmen zu können. Dieser Wechsel von einem moralphilosophischen zu einem präreflexiven Freiheitsverständnis hat weitreichende Konsequenzen für die konkrete Entscheidung: Freiheit vollzieht sich nicht mehr in isolierten Selbstverhältnissen, sondern in personalen Einstellungen zu anderen und mit anderem. Auch das Problem der Zurechenbarkeit ändert sich: Die Person ist nicht für das verantwortlich, was sie gewollt hat, sondern sie ist für das verantwortlich, was sie ist. Die Philosophie der Existenz knüpft an diese Tradition des Denkens an. 2) Macht man die Natur zur materialen Basis – auf die die Urteilskraft des Menschen angewiesen ist, um wirken zu können – lässt sich dies nur unter der Voraussetzung einer radikalen Dissoziierung von Sein und Denken zeigen, aus welcher gerade der menschliche Wille hervorgeht. Das Urteil darf also nicht mehr nur eine ausschließlich logische Operation sein, sondern ist Ausdruck einer ontologischen Grundentscheidung, für die nun der Wille ausschlaggebend ist. Für diese Freiheit im Wissen muss der bloß formelle Begriff der Freiheit im Idealismus Kants und Fichtes, der ein von allen Bindungen und Kontexten losgelöster ist, mit dem realen und lebendigen Begriff der Freiheit eines »höheren Realismus« ausgesöhnt werden. Freiheit ist dann nicht mehr nur eine spe40 Schelling:

Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, SW VII, 331–416, hier: 385–386.

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kulative Kategorie menschlicher Spontaneität, sondern auch eine spekulative Kategorie des Naturverhältnisses. Nicht mehr nur die Orientierung an der Erkenntnis, sondern auch das eigentümliche vernehmende Begegnenlassen der Welt gerät in den Blick, also die Dimension einer Urteilskraft, die über ein Wissen verfügt, wie Kenntnisse auf konkrete Fälle anwendet werden können. Für diese praktische Natur des Wissens aber gibt es keine Regeln. Wir stoßen hier auf eine Dimension des Wissens, die nicht mehr gelehrt werden kann, sondern – reflexiv – vernommen werden muss, und die von Kant in der Kritik der Urteilskraft verhandelt wird, auf Teleologie und Ästhetik. Dieser reflexive Rekurs gilt auch für alle anderen Disziplinen. Moralphilosophisch bedeutet er: Freiheit muss als ein »Vermögen des Guten und des Bösen« verstanden werden,41 mithin als Fähigkeit, sich auch gegen seine generischen Bedingungen aussprechen zu können – theologisch gesprochen: sie muss in dieser Bestimmung ihre Ursache in »eine[r] von Gott unabhängige[n] Wurzel haben«,42 der Natur – in Gott. Existen­ tialontologisch heißt dies: In der menschlichen Freiheit gibt es die Option des Nichts. 3) Die mythologische Konsequenz: Was die Kunst eigentlich auszeichnet, ist, dass sie ein Verhältnis zu den Dingen lehrt, das schon von Anbeginn die eigentümliche Gesetzmäßigkeit zwischen Natur und Freiheit ausmacht: »die wechselseitige Unabhängigkeit beider voneinander, obgleich sie übereinstimmen«.43 Deutlich kommt dieser ästhetische Grundzug der schellingschen Naturphilosophie im Schlusskapitel des Transzendentalsystems in den großartigen mythologisch-poetischen Sätzen zum Ausdruck. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.44

41 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 352. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 354. 43 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 579. 44 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW III, 628. 42 Schelling:

Zur Problematik des Abschlusses in Schellings System (1800)

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Die Natur ist ein Gedicht − sie ist nur dadurch, dass sie Gedicht ist. Das Gleichnis vom Gedicht ist hier nicht Metapher. Schelling bezeichnet das, »was wir Natur nennen« direkt und eigentlich als »ein Gedicht«, so wie er das Universum als »absolutes Kunstwerk« versteht.45 Aber er stellt zugleich diese Aussage unter den paradoxen Vorbehalt eines doppelten Konjunktivs: »könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen«.46 Schon seine Deutung des danteschen Gedichts als Grenzphänomen von Symbol und Allegorie bringt diesen Vorbehalt zum Ausdruck, den Kunst als Ganzes kennzeichnet: nämlich auf einen »in noch unbestimmter Ferne liegenden Punkt« bezogen zu sein, »wo der Weltgeist das große Gedicht, auf das er sinnt, selbst vollendet haben und das Nacheinander der modernen Welt sich in ein Zumal verwandelt haben wird«47. Kunst ist Übergang zu diesem neuen Realismus – als Rückgriff auf eine unvordenkliche Natur ein Versprechen an die Zukunft. Die Anschauung des Unendlichen im Endlichen, die Schelling immer wieder der Kunst prädiziert, steht selbst im Gefüge einer Spannung, nur durch Erinnerung einer natürlichen, aber unbewussten Entwicklungsgeschichte deren Werden als Freiheit in der Erscheinung im Vorgriff auf eine symbolische Ansicht der Natur zu offenbaren. Die Kunst stellt die Selbstauslegung des menschlichen Daseins in den ekstatischen Horizont einer grenzenlosen Bewegung, die wie in der mythischen Irrfahrt der Odyssee sich selber sucht und flieht. Es ist diese Vollendung im Untergang, die Heidegger inspiriert hat, vom Ende der Philosophie zu sprechen – ein Ende, das Vollendung ist, indem das traditionelle philosophische Denken in sich selbst an sein Ende gelangt ist; ein Ende aber auch, in dem es ganz neue Möglichkeiten des Denkens aufzeigt, denn das Ende der Philosophie ist nicht das Ende des Denkens. Geht man diesen Weg mit, muss man die Möglichkeit eines »postmetaphysischen Denkens« eruieren. Das Ereignis als Geschehen einer Differenz in den Texten von Heidegger bis Derrida ist darauf eine (erste) Antwort.

45 Schelling:

Philosophie der Kunst, SW V, 353–736, hier: 385. System des transzendentalen Idealismus, SW III, 628. 47 Schelling: Philosophie der Kunst, SW V, 445.

46 Schelling:

Christian Danz Natur und Geist. Schellings Systemkonzeption zwischen 1801 und 1809 »Da der Verfasser nach der ersten allgemeinen Darstellung seines Systems (in der Zeitschrift für spekulative Physik), deren Fortsetzung leider durch äußere Umstände unterbrochen worden, sich bloß auf naturphilosophische Untersuchungen beschränkt hat, und nach dem in der Schrift: Philosophie und Religion gemachten Anfang, der freilich durch Schuld der Darstellung unterdeutlich geblieben, die gegenwärtige Abhandlung das Erste ist, worin der Verfasser seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit vorlegt: so muß er, wenn jene erste Darstellung einige Wichtigkeit gehabt haben sollte, ihr diese Abhandlung zunächst an die Seite stellen, welche schon der Natur des Gegenstandes nach über das Ganze des Systems tiefere Aufschlüsse, als alle mehr partiellen Darstellungen, enthalten muß.«1 Mit dieser oft zitierten Bemerkung aus der Vorrede des ersten und einzigen Bandes der 1809 in Landshut erschienenen Philosophischen Schriften Friedrich Wilhelm Joseph Schellings ordnet dieser die in den Band aufgenommenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände in die Systemgestaltung seit 1801 ein. Die Philosophischen Untersuchungen bilden, so der in München weilende Philosoph, den erstmalig und »mit völliger Bestimmtheit« ausgeführten ideellen Teil des Systems der Philosophie, dessen reeller Teil in der 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik publizierten Darstellung meines Systems der Philosophie vorliegt.2 Zwar beinhaltete bereits die 1804 erschienene Abhandlung Philosophie und Religion den ideellen Systemteil,3 dieser blieb jedoch, wie Schel-

1  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: Vorrede, in: ders.: Philosophische Schriften. Landshut 1809. Bd. 1, V–XII, hier: VIII–IX und ebenso ders.: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. VII, 331–416, hier: 333–343. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 2 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Abt. I, Bd. 10, 107–211. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 3 Schelling: Philosophie und Religion, SW VI, 11–70.

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ling 1809 einräumt, »durch Schuld der Darstellung undeutlich«.4 Wie auch immer man Schellings eigene Einordnung der 1804 erschienenen Schrift in die werkgeschichtliche Entwicklung seines philosophischen Systems zwischen 1801 und 1809 beurteilen und auch die Frage beantworten mag, ob die Darstellungsweise des ideellen Teils des Systems in der Freiheitsabhandlung klarer sei als in Philosophie und Religion, deutlich ist in jedem Fall, dass Schelling die in die Philosophischen Schriften von 1809 aufgenommene Freiheitsabhandlung im Kontext seiner seit 1801 konzipierten Identitätsphilosophie verstanden wissen möchte. Die Forschung hat sich bekanntlich Schellings eigener Sicht seiner Werkgeschichte zwischen 1801 und 1809 nicht angeschlossen. Sie verstand die Freiheitsabhandlung in erster Linie als Lösung eines Problems, mit welchem die Identitätsphilosophie von Anfang an konfrontiert war. Das Prinzip des Identitätssystems, die absolute Identität – welche bereits Hegel in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes als die »Nacht […], wie man zu sagen pflegt«, charakterisierte, in der »alle Kühe schwarz sind«5 – führe Schelling in die Verlegenheit, die »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten« nicht mehr erklären zu können.6 Dass in dieser Nacht ein unauflösliches Problem zu vermuten sei, ist auch Friedrich Schiller aufgefallen. In seinem Schreiben vom 12. Mai 1801, in dem er Schelling den Erhalt des Systems von 1801 mitteilt, lässt er diesen wissen: »Ich sehe z.B. recht gut, wie viel Sie, negativ, auf diesem Wege gewinnen, um nehmlich mit Einem Mal alle die alten hartnäckigen Irrthümer aus dem Weg zu schaffen, die Ihrer Philosophie ewig widerstrebten, aber ich kann noch nicht ahnden, wie Sie Ihr System positiv aus dem Satz der Indifferenz herausziehen werden. Daß Sie es gethan haben, zweifle ich nicht und bin desto begieriger auf die Lösung des Knotens.«7

4  Vgl.

Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, SW VII, 140–197, bes. 197. 5  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels/Heinrich Clairmont. Hamburg 1988, 13. 6 Vgl. Hans Michael Baumgarten/Harald Korten: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. München 1996, 88; Sven Jürgensen: Schellings logisches Prinzip: Der Unterschied in der Identität, in: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel/Between Fichte and Hegel. Hrsg. v. Christoph Asmuth/Alfred Denker/Michael Vater. Amsterdam/Philadelphia 2000, 113–143, bes. 119; Jochem Hennigfeld: Identität und Freiheit in Schellings Systementwürfen 1801–1809, in: Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift. Hrsg. v. Christian Danz/Jörg Jantzen. Göttingen 2011, 15–27. 7  Friedrich Schiller an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 12. Mai 1801, AA III 2.1, 346. Vgl. Carl August Eschenmayer an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 21. Juli 1801, AA III 2.1, 360.

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Die Beharrlichkeit, mit der in der Deutung der schellingschen System­ entwicklung zwischen 1801 und 1809 auf die – von Schelling selbst aufgeworfene – Frage nach der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältnis zu ihm« insistiert wird,8 steht freilich in einem eigentümlichen Kontrast zu Schellings ebenso beharrlicher Auskunft, dem Identitätssystem gehe es gerade nicht um eine Ableitung oder Deduktion der endlichen Dinge aus dem Absoluten. »Da aber auch der Gedanke einer Ableitung des Endlichen aus dem ihm absolut entgegengesetzten Unendlichen oder das, was man insgemein eine Ableitung des Besonderen a priori genannt hat, als ein ganz unmöglicher Gedanke angesehen werden muß, so haben wir ferner nur noch von jener Verstandeserkenntniß zu sprechen, welche sich des Wissens rühmt, und die in dem bloßen Zurückführen des Besonderen auf das Allgemeine und dem Schließen von der Wirkung auf die Ursache, oder umgekehrt, bestehet.«9 Derartige Charakterisierungen, nämlich, dass es ein Missverständnis der Identitätsphilosophie sei, von ihr eine Ableitung oder eine Deduktion des Besonderen aus dem Absoluten zu erwarten, finden sich nicht nur in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie, die 1802 im ersten Band der Neuen Zeitschrift für speculative Physik erschienen sind, sondern auch in anderen identitätsphilosophischen Schriften. Um also Schellings 1809 erschienene Freiheitsschrift in die Systementwicklung seit 1801 einordnen zu können, ist es unumgänglich, sein Verständnis der Identitätsphilosophie zu klären. Erst dann wird es möglich sein, Schellings Auskunft von 1809, bei den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit handle es sich um die erstmalige Ausführung des ideellen Teils des Systems, angemessen zu beurteilen. Damit ist der Gang meiner folgenden Überlegungen bereits angedeutet. In einem ersten Abschnitt sind das Systemprogramm sowie die methodischen Grundlagen der Identitätsphilosophie, wie sie Schelling 1801 in der Darstellung meines Systems der Philosophie ausgeführt hat, kurz in den Blick zu nehmen. Der Durchführung dieses 1801 in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Debatte um eine angemessene Gestalt systematischer Philosophie skizzierten Systemprogramms in den Schriften Schellings im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gilt der zweite Abschnitt meiner Überlegungen. Vor dem skizzierten werk8 Schelling:

9 Schelling:

hier: 341.

Philosophie und Religion, SW IV, 28. Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW IV, 333–510,

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geschichtlichen Hintergrund des identitätsphilosophischen Systems ist in dem dritten Abschnitt die Freiheitsschrift in den Blick zu nehmen. Abschließen werde ich mit einem kurzen Resümee, welches uns Gelegenheit geben wird, Schellings eingangs zitierte Bemerkung, bei den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit handle es sich um den ideellen Teil des Identitätssystems, in die Systementwicklung seit 1801 einzuordnen. Im Durchgang durch die drei Überlegungsgänge soll die These erhärtet werden, dass mit der Freiheitsschrift in der Tat kein Neueinsatz oder Bruch zur bisherigen System­ entwicklung vorliegt,10 sondern sie tatsächlich die identitätsphilosophische Geistphilosophie repräsentiert.

1. »Es ist nur Ein Princip der Construktion, Eines, womit construiert wird« Schellings identitätsphilosophisches Systemprogramm Ein philosophisches System ist auch für Schelling kein bloßes Aggregat. »Es muss durch einen organischen Zusammenhang verknüpft sein. Die Philosophie ist daher wesentlich System. Denn nichts ist für sich wahr, sondern alles nur im Zusammenhang des Ganzen.«11 Eine solche Systemkonzeption, welche den von Schelling in der Münchner Vorlesung Grundlegung der positiven Philosophie vom Wintersemester 1832/33 aufgestellten Forderungen genügt, repräsentiert die 1801 von Schelling in Jena ausgearbeitete Identitätsphilosophie. Die problemgeschichtlichen Hintergründe sowie die Motive und Kontroversen, wie die Auseinandersetzung mit Fichte, welche zum Übergang vom System des transzendentalen Idealismus zur Identitätsphilosophie geführt haben, müssen im Folgenden auf sich beruhen.12 Wichtiger für unsere Fragestellung sind

10 

So die Deutungen von Paul Tillich: Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: ders.: Frühe Hauptwerke. Gesammelte Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Renate Albrecht. Stuttgart 21959, 13–108, hier: 76; Martin Heidegger: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Tübingen 1971. 11  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Torino 1972, 119. 12  Vgl. Harald Korten: Vom Parallelismus von Natur- und Transzendentalphilosophie zur Identitätsphilosophie. Kontinuität oder Neueinsatz in Schellings Philosophie? – Eine Problemskizze, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992. Hrsg. v. Hans Michael Baumgarten/ Wilhelm G. Jacobs. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 51–94; Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Ausgang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990, 146–173.

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die Konstruktion des identitätsphilosophischen Systems, seine methodischen Voraussetzungen und seine Konsequenzen. In der Vorerinnerung, welche Schelling seiner Darstellung meines Systems der Philosophie vorangestellt hatte, erklärt er sich nicht nur über den Standpunkt dieses Systems, sondern auch zu der von ihm befolgten Methode. Über den Standpunkt des Systems von 1801 heißt es bekanntlich, dass sich diese Darstellung, nachdem »Natur- und Transscendentalphilosophie […] immer als entgegengesetzte Pole des Philosophirens vorgestellt« wurden, nunmehr im »Indifferenzpunct« befinde, in dem freilich nur der »recht fest und sicher sich stellen kann, der ihn zuvor von ganz entgegengesetzten Richtungen her construirt hat«.13 Das hat zur Folge, dass Natur- und Geistphilosophie als Darstellungen ein und desselben Ganzen verstanden werden.14 Was die Methode des nun »absolute[s] Identitäts-System« genannten Entwurfs betriff,15 so schreibt Schelling in der Vorerinnerung lapidar: »Ueber die Methode, welche ich bei der Construction dieses Systems angewendet habe, wird sich am Ende der ganzen Darstellung bestimmter als am Anfang derselben sprechen lassen. Die Weise der Darstellung betreffend, so habe ich mir hierinn Spinoza zum Muster genommen, nicht nur, weil ich denjenigen, welchem ich, dem Inhalt und der Sache nach, durch dieses System am meisten mich anzunähern glaube, auch in Ansehung der Form zum Vorbild zu wählen den meisten Grund hatte, sondern auch weil diese Form zugleich die größte Kürze der Darstellung verstattet, und die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt.«16 Die von Schelling in der Vorerinnerung angekündigte Erklärung über die von ihm befolgte Methode der Konstruktion seines Systems findet sich dann eher beiläufig in Paragraph 50 der Darstellung von 1801, und zwar in Gestalt einer Erörterung des Potenzbegriffs. Der Hinweis, er habe Spinoza bei der Systemdarstellung zum Muster gewählt, lässt erwarten, dass Schelling methodisch der Systemdurchführung Spinozas folgt. Das ist jedoch weder in der Systemdarstellung von 1801 noch in 13 Schelling:

Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 110. Schelling: System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW VI, 131–576, hier: 494: »Allein da das reale All in der That das ganze unendliche All ist, und aller Unterschied des realen und idealen zur bloßen Erscheinung gehört, hinwiederum also reale und ideale Welt nur eine und dieselbe unendliche Natur ist, so ist eigentlich die ganze Philosophie Naturphilosophie – Lehre vom All.« 15 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 115. 16 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 115. 14 Vgl.

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den folgenden Systementwürfen der Fall.17 Schellings 1801 vorgelegte Systemkonzeption kennt zwar mit der absoluten Identität ein Prinzip, aber eben nicht die für das Verfahren more geometrico konstitutiven Leitsätze, Axiome und Postulate.18 Das lässt – ungeachtet der Orientierung an Spinoza – auf eine gegenüber Euklid und Spinoza veränderte Systemform schließen, welche Schelling in der Identitätsphilosophie anstrebt.19 Nicht zu übersehen ist, dass es Schelling um einen strengen Systemgedanken mit einem hohen systematischen Anspruch geht. Stichworte wie absoluter Standpunkt, absolutes Wissen oder reine Evidenz deuten das unmissverständlich an. »Selbst die Methode der Philosophie kann nicht mehr zweifelhaft seyn, sowie ihr absoluter Standpunkt gefunden ist, es kann nur Eine Art des Fortschreitens und Schließens in ihr geben [wie zwischen zwei Punkten nur Eine gerade Linie, aber unzählige krumme], und wie sie in ihrem innersten Wesen durchaus kategorisch und apodiktisch ist, so wird man sie auch äußerlich an der Sicherheit der Methode erkennen, welche gleichförmig durch alles hindurch geht und allen Untersuchungen gleich genügend ist.«20 Dieser hohe systematische Anspruch, der eine Methode für alle Untersuchungen reklamiert, verbindet sich in den identitätsphilosophischen Texten Schellings mit einer rigiden Kritik an Deduktions- und Ableitungsprogrammen sowie an einem mechanistischen Verständnis der 17 Vgl.

Paul Ziche: Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 147–168, bes.: 148; ders.: Die »reine Vernunftwissenschaft«: Mathematik und »Philosophie im Allgemeinen«, in: »Die bessere Richtung der Wissenschaften«. Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« als Wissenschafts- und Universitätsprogramm. Hrsg. v. Paul Ziche/Gian Franco Frigo. StuttgartBad Cannstatt 2011, 89–114. 18  Zu Schellings Kritik an der Postulatenlehre vgl. Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 361; ders.: Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 125–151, hier: 142: »Postulieren ist Verzichtthun auf Construiren.« Zur Kritik an Definitionen und Axiomen vgl. ders.: Ueber die Construction, SW V, 136–138. 19  Vgl. auch die Kritik an Spinoza im Konstruktions-Aufsatz von 1802; Schelling: Ueber die Construktion, SW V, 127: »Wenn Spinoza geirrt hat, so ist es darin, daß er nicht weit genug zurück construirt, und wenn nicht die Form, doch die rein ideelle Seite der Philosophie zu sehr vernachlässigt hat.« Diese Kritik hat Schelling in der Freiheitsschrift aufgenommen. Vgl. ders.: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 349; vgl. Walter E. Ehrhardt: Schelling »untergräbt« Spinoza, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Hanna Delf/Julius H. Schoeps/Manfred Walter. Berlin 1994, 263–274. 20 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 352.

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Vernunft.21 Weder erklärt die Philosophie die Dinge noch kann »eine Reihe von Kenntnissen ein Wissen seyn«,22 und zwar deshalb nicht, weil derartige Reihen unendlich sind und mithin zu keiner Begründung führen. Auch kausalen und deduktiven Ableitungen erteilt Schelling in seinem Identitätssystem eine Absage. Das System wendet sich, wie er in den Ferneren Darstellungen formuliert, »von dem Causalgesetz und derjenigen Welt, in welcher dieses gültig seyn kann« ab, und zwar »gänzlich[]«.23 Das gilt ausdrücklich auch für den Erkenntnisbegriff.24 Diesen a-kausalen Erkenntnis- und Systembegriff hat Schelling in der Freiheitsabhandlung so formuliert: »Wie man auch die Art der Folge der Wesen aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine mechanische seyn, kein bloßes Bewirken oder Hinstellen, wobei das Bewirkte nichts für sich selbst ist; ebensowenig Emanation, wobei das Ausfließende dasselbe bliebe mit dem, wovon es ausgeflossen, also nichts Eignes, Selbständiges.«25 Schellings Identitätsphilosophie, so lassen sich die bisherigen Beobachtungen zusammenfassen, verfolgt auf der einen Seite einen hohen systematischen Anspruch, der auf Begründung in einem letzten Prinzip zielt, und auf der anderen werden kausale und syllogistisch-deduktive Systemkonstruktionen vehement von ihm abgelehnt. Wie gestaltet sich nun die Systemdurchführung bei Schelling selbst? Schelling hat das methodische Verfahren seiner Identitätsphilosophie mit dem Begriff der Konstruktion beschrieben und diese in einer engen Anlehnung an den mathematischen Beweis erörtert. In seinem 1802 im Kritischen 21  Vgl. Temilo

van Zantwijk: Ist Anthropologie als Wissenschaft möglich? Der »Mensch« in Schmids »enzyklopädischer Topik« und in Schellings »philosophischer Konstruktion der Wissenschaften«, in: Schellings philosophische Anthropologie. Hrsg. v. Jörg Jantzen/Peter L. Oesterreich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 110–154, bes. 131 ff. 22 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 343. 23 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 345. 24 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 346–347. Vgl. ders.: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW IV, 207–352, hier: 249: »Aller Causalbezug zwischen Wissen und Seyn gehört selbst mit zu der sinnlichen Täuschung, und wenn jenes ein endliches ist, so ist es dieß vermöge einer Determination, die in ihm selbst und nicht außer ihm liegt.« Zum a-kausalen Charakter von Schellings Systemverständnis vgl. Ziche: Die »reine Vernunftwissenschaft«, 92–101; ders.: Das System als Medium, 151–155. 25  Vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 348: »Damals hatte die mechanische Denkweise, die in dem französischen Atheismus den Gipfel ihrer Ruchlosigkeit erstieg, nachgerade alle Köpfe eingenommen; auch in Deutschland fing man an, diese Art zu sehen und zu erklären für die eigentliche und einzige Philosophie zu halten.«

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Journal der Philosophie publizierten Aufsatz Ueber die Construktion in der Philosophie26 bestimmt Schelling im Anschluss an Kants Ausführungen zur Konstruktion im Methodenkapitel der Kritik der reinen Vernunft 27 diese zunächst als »Gleichsetzung des Begriffs und der Anschauung«,28 geht jedoch darin über Kant hinaus, dass er dieses Verfahren nicht nur wie Kant für die Mathematik, sondern auch für die Philosophie reklamiert. Wir können hier auf Schellings Auseinandersetzung mit Kants Verständnis der Konstruktion nicht im Einzelnen eingehen, sondern müssen uns auf grundlegende Aspekte von dessen eigenem Konstruktionsbegriff beschränken.29 In seinem Aufsatz Ueber die Construktion in der Philosophie beschreibt Schelling das ihn leitende Verständnis der Konstruktion folgendermaßen: »Es ist nur Ein Prinzip der Construktion, Eines, womit construirt wird, in der Mathematik wie in der Philosophie. Dem Geometer ist es die in allen Construktionen gleiche und absolute Einheit des Raums, dem Philosophen die des Absoluten. Es ist, wie schon gesagt, nur Eines, was construirt wird, nämlich Ideen, und alles Abgeleitete wird nicht als Abgeleitetes, sondern in seiner Idee construirt.«30 Die zitierte Stelle lässt sowohl die Eigenart als auch das spezifische Interesse Schellings an der Konstruktion erkennen. Erst sie erklären die identitätsphilosophische Systemkonstruktion, welche Schelling seit 1801 vorschwebt. Zunächst: Der Philosoph konstruiert, wie auch Schelling in anderen identitätsphilosophischen Texten bis hin zu den Stuttgarter Privatvorlesungen stets hervorhebt,31 im Absoluten. Wie der absolute Raum des Geometers, so ist das Absolute das eine Medium, in dem 26 Schelling:

Ueber die Construktion, SW V, 125–151. Vgl. ders.: Fernere Darstellungen, SW IV, 391–411; vgl. Christian Danz: Schellings Wesensbestimmung des Christentums in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: »Die bessere Richtung der Wissenschaften«. Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« als Wissenschafts- und Universitätsprogramm. Hrsg. v. Paul Ziche/Gian Franco Frigo. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 153–184, bes. 160–163. 27  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, B 740–766. 28 Schelling: Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 128. 29  Zu Schellings Auseinandersetzung mit Kants Verständnis der Konstruktion vgl. Ziche: Das System als Medium, 152–155; Matteo Vincenzo d’Alfonso: Konstruktion als Paradigma für die Kausalität der Freiheit, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Danz/Stolzenberg, 169–179. 30 Schelling: Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 134. 31  Vgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 417–486, hier: 423–424.

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der Philosoph konstruiert. Das Absolute oder die Vernunft,32 so wird deutlich, ist für Schelling keine gegenständliche Größe oder ein Prinzip, welches selbst erkannt werden könnte, sondern ausschließlich ein Medium.33 In der philosophischen Konstruktion, wie sie das Identitätssystem beansprucht, kommt das Absolute als Prinzip des Systems gerade nicht als solches zur Darstellung, sondern nur indirekt als der Raum, in dem konstruiert wird. Sodann: Das, was im Absoluten konstruiert wird, nennt Schelling Ideen, und darunter versteht er die »Darstellung des Realen im Idealen, des Besonderen im schlechthin Allgemeinen«.34 Von Schellings Verständnis der Idee, wie er sie in seinen identitätsphilosophischen Texten ausarbeitet, ist jeder Anklang an einen substanzontologischen Ideenbegriff etwa im Sinne Platons fernzuhalten. Mit der Idee bezeichnet Schelling nichts anderes als die Handlung der Eintragung des Besonderen in das Absolute, also die philosophische Kons­ truktion.35 Allein das ist auch der Gehalt dessen, was Schelling intellektuelle Anschauung nennt.36 Drittens werden mit diesem Verfahren der Konstruktion als einem Eintragen des Besonderen in das Absolute die a-kausale und die antideduktive Systemform der Identitätsphilosophie verständlich. Schellings System geht es nicht um die Erklärung von Erscheinungen, sondern um deren Darstellung im Absoluten. Auch der dynamische Physiker, so Schelling, konstruiert nur, »er geht von seinem Princip aus, unbekümmert wohin es ihn führe, die Erscheinungen fallen, wenn er nur consequent verfährt, von selbst

32  Vgl.

Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 116–117. Ziche: Das System als Medium, 160–166. 34 Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW V, 325. 35  Vgl. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW V, 243: »Lebendige Wissenschaftlichkeit bildet zur Anschauung; in dieser aber ist das Allgemeine und Besondere immer eins. Der Brodgelehrte dagegen ist anschauungslos, er kann sich im vorkommenden Falle nichts construiren, selbstthätig zusammensetzen, und da er im Lernen doch nicht auf alle möglichen Fälle vorbereitet werden konnte, so ist er in den meisten von seinem Wissen verlassen.« (Hvh. vom Verf.) 36 Vgl. Schelling: Ueber die Construktion, SW V, 139–140: »Daß das erste und wesentliche Moment der Demonstration fehle, hat Kant nicht bewiesen, und es steht zu beweisen, dass auch Darstellung des Besonderen im Allgemeinen (wie Kant die Philosophie erklärt) ebenso undenkbar ist, als das Umgekehrte (wenn man nämlich mit andern Philosophie als Herleitung des Besonderen aus dem Allgemeinen, der Mannichfaltigkeit aus der Einheit erklären wollte), wofern nicht das Besondere in intellektueller Anschauung, als Construktion oder Idee die ungetheilte Einheit des Allgemeinen empfängt.« 33  Vgl.

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in ihre gehörige Stelle, und die Stelle, die sie im System einnehmen ist zugleich die einzige Erklärung von ihnen, die es gibt.«37 Ganz in diesem Sinne kann Schelling noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen im inhaltlichen Rückgriff auf seine Identitätsphilosophie die Philosophie als »geistige Darstellung des Universums« oder, wie er erläuternd fortfährt, »fortgehende Erweisung Gottes« beschreiben.38 Die genannten Aspekte machen deutlich, dass Schellings Interesse an Kants Konstruktionsbegriff auf ein möglichst allgemeines Verfahren zielt, dass universal handhabbar ist.39 Ganz in diesem Sinne charakterisierte Schelling in der oben bereits genannten Stelle aus den Ferneren Darstellungen die von ihm befolgte Methode als »nur Eine Art des Fortschreitens«, die »in ihrem innersten Wesen durchaus kategorisch und apodiktisch« sei und die »gleichförmig durch alles hindurch geht und allen Untersuchungen gleich genügend ist«.40

2. Das System als Darstellung des Besonderen im Allgemeinen und des Allgemeinen im Besonderen Schelling geht es, wie die Überlegungen zu dem von ihm in seiner Identitätsphilosophie verfolgten methodischen Verfahren deutlich gemacht haben, um die Konstruktion eines Systems, welches einerseits höchsten systematischen Ansprüchen genügen und andererseits in der Systemausführung weder kausal noch deduktiv sein soll. Wie gestaltet sich nun die Systemdurchführung in Schellings identitätsphilosophischen Schriften im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts? Im Folgenden beschränke ich mich auf einige grundlegende Strukturen des Identitätssystems, wie sie Schelling in der Darstellung von 1801 und im Würzburger System von 1804 ausgeführt hat. Vor diesem systematischen Hintergrund wird dann im nächsten Abschnitt die Freiheitsschrift von 1809 in den Blick zu nehmen sein. Zunächst: Die identitätsphilosophischen Systemdarstellungen Schellings lassen einen dreiteiligen Systemaufbau erkennen: auf Erörterun-

37 Schelling:

Miscellen, SW IV, 526–565, hier: 530. Vgl. ders.: Miscellen, SW IV, 530: »Der Begriff von Erklärung der Naturerscheinungen muß also aus der wahren Naturwissenschaft völlig verschwinden. In der Mathematik wird nicht erklärt, sondern es wird bewiesen. Der Beweis – die Construktion – ist die Erklärung.« 38 Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 424. 39  Vgl. Ziche: Das System als Medium, 162–163. 40 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 532.

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gen zu den methodischen Grundlagen seines Systems folgt die Naturphilosophie oder der reelle Systemteil und an diesen schließt die Geistphilosophie beziehungsweise der ideelle Systemteil an. In dieser Form hat Schelling das Identitätssystem freilich lediglich in den Würzburger Vorlesungen und in den Stuttgarter Privatvorlesungen ausgeführt. Die Freiheitsabhandlung von 1809 bietet hingegen lediglich Erörterungen zu den Prinzipienfunktionen, einen knappen Abriss der Naturphilosophie sowie die Geistphilosophie in der Zuspitzung auf den Begriff der menschlichen Freiheit.41 Sodann: Das Absolute der Philosophie wird ebenso wenig wie das Absolute der Geometrie bewiesen oder selbst konstruiert. Es sei vielmehr, wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen ausführt, das »Element, worin allein Demonstration möglich ist«.42 In der Darstellung meines Systems der Philosophie bestimmte Schelling das Absolute als absolute Vernunft, deren Wesen die »absolute[] Identität« sei.43 In der späteren Würzburger Vorlesung, in der Philosophie der Kunst, aber auch in den Aphorismen über die Naturphilosophie sowie in der Freiheitsabhandlung tritt der Gottesbegriff an diese Funktionsstelle, ohne dass sich freilich der systematische Gehalt verändert. Das Absolute der Identitätsphilosophie zielt auf ein Einheitsprinzip mit einer minimalen Struktur. Nur so ist es möglich, das Besondere im Absoluten darzustellen, und nur so ist es möglich, eine Methode auf alle möglichen Themenbereiche anzuwenden. Diese minimale Einheitsstruktur des Absoluten bestimmt Schelling in seinen identitätsphilosophischen Texten durchweg als absolute Identität des Idealen und Realen und symbolisiert es mit der Formel A = A. Dabei repräsentieren Ideales und Reales gewissermaßen die elementarsten und minimalsten Bestimmungen eines jeden Sachverhaltes, nämlich Gesetztsein und Bestimmtsein.44 Das Anliegen der Identitätsphilosophie besteht, wie wir gesehen haben, nicht darin, das Besondere aus dem Absoluten abzuleiten, sondern darin, das Besondere in das Absolute einzutragen und in ihm die 41  Vgl.

Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 416: »Gegenwärtiger Abhandlung wird eine Reihe anderer folgen, in denen das Ganze des ideellen Theils der Philosophie allmählich dargestellt wird.« 42 Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW IV, 530.Vgl. ders.: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 119 Anmerkung. 43 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 119. 44  Vgl. Ulrich Barth: Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte von Schellings Freiheitsschrift, in: Gott, Natur, Kunst. Hrsg. v. Danz/Jantzen, 169–184, bes. 174; ders.: Gott und Natur. Schellings metaphysische Deutung der Evolution, in: ders.: Religion in der Moderne. Tübingen 2003, 461–481.

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absolute Identität beziehungsweise es selbst als Totalität darzustellen. »Alle Construktion geht von relativer Identität aus. Die absolute wird nicht construirt, sondern ist schlechthin.«45 Diesem Interesse folgen die für Schellings Identitätsphilosophie signifikante Unterscheidung von Wesen und Form der absoluten Identität sowie die von ihm behauptete Unabhängigkeit des Wesens von der Form. In der Systemdarstellung von 1801 findet sich die entscheidende Formulierung in § 6. Schelling schreibt hier: »Der Satz A = A allgemein gedacht, sagt weder, daß A überhaupt, noch daß es als Subject, oder als Prädicat seye. Sondern das einzige Seyn, was durch diesen Satz gesetzt wird, ist das der Identität selbst, welche daher von dem A als Subject, und von dem A als Prädicat völlig unabhängig gesetzt wird.«46 Unter dem Wesen der absoluten Identität ist die innere Struktur der Vernunft als das absolute Medium zu verstehen, in dem alle Konstruktionen der Philosophie erfolgen, und mit Form bezeichnet Schelling die strukturellen Momente des in dieses Medium einzutragenden Besonderen, also die endlichen Dinge. Während das Wesen der Vernunft die Identität von Ideellem und Reellem und als solche Totalität ist,47 ist die Form gleichsam die Reduplikation der Identität von Ideellem und Reellem an der Stelle des Subjekts und des Prädikats.48 Drittens: Schellings leitendes Interesse bei seinen Ausführungen zu den Grundlagen des Systems ist es, wenn man seinen Beschreibungen der von ihm befolgten Methode der Konstruktion folgt, das Besondere im Allgemeinen darzustellen, und zwar so, dass der Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem, Endlichem und Unendlichem darin überwunden ist, und beide Dimensionen sowohl in einen Zusammenhang gebracht als auch unterschieden werden. Das ist freilich nur dann 45 Schelling:

Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 142 Anmerkung. Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 119. Vgl. ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 425–426. 47  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 127: »§. 26. Die absolute Identität ist absolute Totalität. – Denn sie ist alles, was ist, selbst, oder, sie kann von allem, was ist, nicht getrennt gedacht werden. (§. 12.) Sie ist also nur als alles, d. h. sie ist absolute Totalität.« 48  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 122: »§. 16. Zwischen dem A, welches in dem Satz A = A als Subject, und dem, welches als Prädicat gesetzt ist, (§. 5.) ist kein Gegensatz an sich möglich. Denn insofern beide Subject und Prädicat sind, gehören sie nicht zum Wesen, sondern nur zum Seyn der absoluten Identität, insofern sie aber zu dem Wesen der absoluten Identität selbst gehören, können sie nicht verschieden gedacht werden.« 46 Schelling:

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möglich, wenn das Besondere als Repräsentationsverhältnis verstanden wird. Es repräsentiert dann gleichsam das Allgemeine am Besonderen als einen Verweisungszusammenhang. Ganz in diesem Sinne formuliert Schelling 1804 in Philosophie und Religion, im Unterschied zum endlichen Vorstellen, welches »seiner Natur nach nur ideal« ist, seien die »Repräsentationen der Absolutheit dagegen ihrer Natur nach real, weil sie dasjenige ist, in Ansehung dessen das Ideale schlechthin real ist«.49 Den allgemeinen Ausführungen zum System geht es also mit anderen Worten darum, diejenigen strukturellen Grundlagen der Vernunft zu explizieren, welche in jeder Konstruktion in Anspruch genommen werden. Das aber sind die »Elemente aller Construktion«, nämlich »das Absolute, das an sich uneingeschränkt und schlechthin Eines ist, und das Besondere, welches ein Eingeschränktes und nicht Eines, sondern Vieles ist«.50 Die aus der Konstruktion resultierenden Einheiten von Besonderem und Absolutem nennt Schelling Ideen oder Potenzen. Mit dem Potenzbegriff bezeichnet Schelling in der Systemdarstellung von 1801 eine quantitative Differenz, nämlich eine solche, »welche in Ansehung der Größe des Seyns stattfindet«,51 und zwar im Hinblick auf »das Ganze, oder die absolute Totalität, aber nicht in Bezug auf diese Potenz«.52 Quantitative Differenz kommt, wie Schelling ausführt, dadurch zustande, »daß zwar das Eine und gleiche Identische, aber mit einem Uebergewicht der Subjectivität, oder Objectivität gesezt werde«.53 Die quantitative Differenz bezieht sich auf die Form, also auf das, was im Absoluten konstruiert wird. Zu Schellings Potenzverständnis lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Potenzen der Konstruktion des Besonderen im Absoluten als einem universalen Verweisungsoder Repräsentationszusammenhang dienen. Hierzu unterscheidet er drei Potenzen, in deren Abfolge sich die absolute Identität von Idealem und Realem als ein in sich strukturiertes Ganzes darstellt. Die erste Potenz, von Schelling als A = B symbolisiert, beinhaltet die Identität von Idealem und Realem unter dem Exponenten des Realen, also gleichsam eine bloße Position im Absoluten.54 Eine solche Position setzt jedoch, wie sie Schelling der Kraft analog setzt, eine Position der Position 49 Schelling:

Philosophie und Religion, SW IV, 34. Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 135. 51 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 125. 52 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 135. 53 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 125. 54  Welches freilich aus diesem Grund, wie Schelling anmerkt, selbst potenzlos sein muss. Es ist das Medium der philosophischen Konstruktion und wird nicht selbst konstruiert, vgl. Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 212. 50 Schelling:

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vo­raus.55 Schelling bezeichnet dies als zweite Potenz, symbolisiert als A = B unter dem Exponenten des Ideellen. Da die Konstruktion des Besonderen jedoch im Absoluten als absoluter Totalität vorgenommen wird, so stellt sich dieses an dem Konstruierten als Einheit von erster und zweiter Potenz dar. In der Darstellung von 1801 und im Würzburger System bezeichnet Schelling diese dritte Potenz als Indifferenzpunkt, »in welcher die Faktoren A und B sich zum quantitativen Gleichgewicht reduciren«.56 Viertens: In den Stuttgarter Privatvorlesungen hat Schelling den Übergang zur Konstruktion, also zum Eintragen des Besonderen in das Allgemeine, wie folgt beschrieben: »Wir gehen nun von dem Satz aus: das Urwesen ist notwendig und seiner Natur nach absolute Identität des Realen und Idealen. Mit diesem Satz ist aber noch gar nichts gesagt: wir haben bloß den Begriff des Urwesens, aber wir haben es noch nicht als ein aktuelles, wirkliches Wesen.«57 Mit dieser Formulierung greift Schelling 1810 auf das methodische Verfahren zurück, welches er der Systemdurchführung in der Darstellung von 1801 zugrunde gelegt hatte.58 Sie liegt auch der Freiheitsabhandlung von 1809 als methodisches Fundament zugrunde. Die Konstruktion der Natur sowie des Geistes folgen derselben Methode. Wir können im Folgenden nicht die Naturphilosophie Schellings in allen ihren Aufbauelementen rekonstruieren, sondern müssen uns auf den Grundgedanken beschränken.

55 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 142: »In A = B (als relative Identität gedacht) ist die absolute Identität nur überhaupt unter der Form des Selbsterkennens gesezt, sie wird in Ansehung des ursprünglichen Objectiven begränzt durch das Subjective, wir nennen die Richtung, in welcher B (als unendliche Extension) begränzt wird, die Richtung nach außen, die, in welcher A allein begränzt werden kann, die Richtung nach innen.« 56 Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 210. 57 Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 424. Vgl. Christian Danz: Gott, Natur und menschliche Freiheit in den Stuttgarter Privatvorlesungen, in: System, Natur und Anthropologie: Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen. Hrsg. v. Lore Hühn/Philipp Schwab. Freiburg/München 2014, 143–158. 58 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 128 Anmerkung: »Das Absolute existirt also nicht actualiter, wenn nicht eine Differenz sowohl in Ansehung jener höheren Form – Idealen und Realen – als der Subjektivität und Objektivität gesetzt wird. […] Das Absolute ist also als Absolutes nur dadurch gesetzt, daß es im Einzelnen zwar mit quantitativer Differenz, im Ganzen aber mit Indifferenz gesetzt wird.«

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Schelling konstruiert die Natur insgesamt als erste Potenz beziehungsweise als Identität des Realen und Idealen unter dem Exponenten des Realen [(A = B)B]. In der ersten Potenz treten jedoch alle drei Potenzen wieder auf, so dass der Naturprozess die Entfaltung der Potenzenstruktur repräsentiert. Die innere Gliederung des Naturprozesses in drei Stufen resultiert aus den drei Potenzen. In allen seinen naturphilosophischen Schriften unterscheidet Schelling drei Stufen der Natur, die Materie, den dynamischen Prozess und schließlich den Organismus. Die Grade der Realität in der Natur, also das Überwiegen des ideellen Moments gegenüber dem reellen, resultieren aus dem Verhältnis der ersten zur zweiten Potenz – von Schwerkraft und Licht. Unter Schwerkraft versteht Schelling das Erscheinen der absoluten Identität in der Natur, jedoch, wie es in den einschlägigen Bestimmungen des Systems von 1801 heißt, »nicht in sofern diese ist, sondern insofern sie der Grund ihres eignen Seyns, also selbst nicht in der Wirklichkeit ist«.59 Während die Schwerkraft die absolute Identität von Ideellem und Reellem unter dem Exponenten des Reellen repräsentiert, kons­ truiert Schelling das Licht als die Identität unter dem Exponenten des ideellen Moments. »Die Schwerkraft ist die absolute Identität, sofern sie die Form ihres Seyns hervorbringt; […] das Licht ist die absolute Identität selbst, insofern sie ist. In der Schwerkraft ist die absolute Identität bloß ihrem Wesen nach, d. h. (§. 15. Zus.) abstrahirt von der Form ihres Seyns, (welche erst hervorgebracht wird), das Licht ist das Existiren der absoluten Identität selbst, und dieß ist der Grund des verschiedenen Seyns der Schwerkraft und des Lichts.«60 Aus dem Verhältnis von Schwerkraft und Licht oder von erster und zweiter Potenz ergibt sich für Schelling die Möglichkeit, den Naturprozess als sukzessive Erhebung der Schwerkraft in das Licht des Bewusstseins zu konstruieren. Metaphorisch kann Schelling diesen Prozess aus der Perspektive der Schwerkraft in den Würzburger Vorlesungen mit einer Metapher beschreiben, welche dann in der Freiheitsschrift eine prominente Stellung innehat, nämlich die Metapher der Sehnsucht.61 Das in59 Schelling:

Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 147. Zu Schellings identitätsphilosophischem Verständnis der Schwerkraft und ihrer Prinzipienfunktion vgl. Barth: Annäherungen an das Böse, 174–178. 60 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 164. 61  Vgl. Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 485; vgl. ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW II, 1–343, hier: 193.

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nere Ziel des Naturprozesses ist der Aufgang des Geistes. Diese Stufe des Naturprozesses ist dann erreicht, wenn die Natur als Erscheinung der absoluten Identität, »nicht als seyend, sondern als Grund ihres Seyns« erscheint und damit in Einheit mit dem Licht ist,62 so dass in der Konstruktion der Natur der Indifferenzpunkt erreicht ist. »Ein höherer Grad von Realität ist in dem, an welchem sich A3 darstellt; denn es begreift auch für die bloß relative Betrachtungsweise außer der Existenz noch die Position der Existenz und das Einssein beider. Den höchste Grad von Realität aber hat, was Bild selbst der Substanz ist, sofern sie nicht im besondern Ding, sondern im All der Dinge lebt. Ein solches ist nur Eines, der Mensch.«63 Mit der Konstruktion des Menschen als Erscheinung der absoluten Identität endet der reelle Teil des Identitätssystems, der freilich selbst schon das »ganze All« darstellt.64

3. Naturphilosophische Motive in der Freiheitsabhandlung Die von Schelling 1809 vorgelegte Abhandlung Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit soll, wie er in der eingangs zitierten Vorrede zu den Philosophischen Schriften notierte, die erstmalige Ausführung des ideellen Teils des Identitätssystems beinhalten. Diese Behauptung Schellings stützen nun prima vista nicht nur die bekannten inhaltlichen Rückverweise auf die Systemdarstellung von 1801, namentlich die der gesamten Freiheitsabhandlung zugrunde liegende Unterscheidung von Grund und Existenz betreffende,65 sondern auch die aus dieser Unterscheidung resultierende naturphilosophische Kons­ truktion der menschlichen Freiheit. Von zahllosen anderen inhaltlichen Rückgriffen, insbesondere auf die Würzburger Systemdarstellung, ganz zu schweigen. Ein angemessenes Verständnis der menschlichen Freiheit, so die These, mit der Schelling die Einleitung der Freiheitsschrift abschließt, sei »nur aus den Grundsätzen einer wahren Naturphiloso-

62 Schelling:

Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 202. Aus den Jahrbüchern der Medizin als Wissenschaft, vgl. ders.: System der gesamten Philosophie, SW VI, 486–492. 64 Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 494. 65 Vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357; Barth: Annäherungen an das Böse, 169–184. 63 Schelling:

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phie« zu entwickeln.66 Gegen die von Schelling selbst geltend gemachte Kontinuität, in der die Abhandlung von 1809 mit den Systementwürfen seit 1801 steht, scheinen sich freilich bei der Lektüre des Textes selbst Bedenken zu erheben. Sie wurden denn auch von der Forschung immer wieder geltend gemacht. Ich konzentriere mich im Folgenden auf zwei Problemkreise: Zunächst auf das der Freiheitsabhandlung zugrunde liegende Prinzipiengefüge und sodann auf den Freiheitsbegriff. Was das Prinzipiengefüge der Freiheitsschrift betrifft, so schreibt Schelling am Ende der Abhandlung: »Weit entfernt, daß die Unterscheidung zwischen dem Grund und dem Existirenden eine bloß logische, oder nur zur Aushülfe herbeigerufene und am Ende wieder als unächt zu befindende gewesen wäre, zeigte sie sich vielmehr als eine sehr reelle Unterscheidung, die von dem höchsten Standpunkt aus erst recht bewährt und völlig begriffen wurde.«67 Schellings Ausführungen zu der die gesamte Abhandlung von 1809 tragenden Unterscheidung von Grund und Existenz als einer »sehr reelle[n] Unterscheidung« und mehr noch der von ihm am Ende der Schrift eingeführte Ungrund, der ausdrücklich nicht als absolute Identität, sondern als »absolute Indifferenz« bezeichnet wird,68 wurden als Beleg dafür aufgefasst, dass er in der besagten Schrift »nicht nur den Gottesbegriff gegenüber seinen früheren Ansätzen deutlich modifiziert« hat, sondern auch »mit dem Prinzip des Grundes eine von Gott (als actu existierendem Wesen) unabhängige Wurzel alles kreatürlichen Seienden, welches kraft dieser Wurzel reales Seiendes im Gegensatz zu der Auffassung von Philosophie und Religion sein kann«, eingeführt habe.69 Doch schauen wir genauer hin. Dem Identitätssystem geht es, wie wir oben gesehen haben, um die Darstellung des Besonderen im Absoluten. Diesem Verfahren der Konstruktion dient die Unterscheidung zwischen 66 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 407. 68 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. 69  Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift. München 2006, 126. Vgl. Thomas Buchheim: »… eine sehr reelle Unterscheidung«. Zur Differenz der Freiheitsschrift, in: Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling. Hrsg. v. Christian Danz/Rudolf Langthaler. Freiburg/München 2006, 182–199; Friedrich Hermanni: Der Grund der Persönlichkeit Gottes, in: »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Hrsg. v. Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni. Berlin 2004, 165–178. 67 Schelling:

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dem Wesen der absoluten Identität und der Form, welche von dem Wesen unabhängig sein soll. Diese »Elemente aller Construktion«,70 wie Schelling im Konstruktionsaufsatz formuliert, nämlich das Absolute und das Besondere, liegen auch der Konstruktion der menschlichen Freiheit in der Schrift von 1809 zugrunde. Allerdings beschreibt Schelling in der Freiheitsabhandlung das Absolute als Medium aller Kons­ truktion als Ungrund oder absolute Indifferenz und nicht als absolute Identität. Wenn er jedoch zu diesem Ungrund ausführt, dass er weder ein »Produkt der Gegensätze«, noch diese »implicite« in ihm enthalten sein sollen, sondern er »ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen« sei, dann sind das exakt diejenigen Bestimmungen, die dem Medium des Absoluten in der Systemdarstellung von 1801 zukommen.71 Auch von der absoluten Identität, mit der übrigens in den nur ein Jahr später in Stuttgart gehaltenen Vorlesungen das Prinzip des Systems wieder bezeichnet wird,72 behauptet Schelling, dass sie nicht selbst konstruiert, sondern dass sie allein als Medium der Konstruktion in Anspruch genommen wird, welches selbst nur indirekt zur Darstellung kommt. Der ideelle Teil des Systems behandelt der identitätsphilosophischen Konzeption zufolge dasselbe wie die Naturphilosophie, nur als eine »andere Erscheinungsweise«.73 »Indem wir hier also die Lehre von der Vernunft und dem absoluten Eins-Seyn des Realen und Idealen in ihr noch besonders vortragen, wiederholen wir eigentlich nur in einer concentrirten Ansicht die höchsten Grundsätze der Philosophie selbst.«74 Das Themenspektrum der Geistphilosophie umfasst, wie sowohl das Würzburger System als auch die Stuttgarter Vorträge zeigen, die Abfolge der Ideen der Wahrheit, der Güte und der Schönheit beziehungsweise Wissenschaft, Religion, Kunst, Geschichte und Staat, aber eben auch die menschliche Freiheit. Diese Themenpalette hat die Freiheitsabhandlung, wie Schelling selbst an deren Ende notiert, nicht in Gänze abgehandelt. Im Fokus der Untersuchung steht die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit. Mit dem Menschen als Erscheinung der absoluten Identität, von Schelling Zentrum genannt, schließt der reelle Teil 70 Schelling:

Ueber die Construktion in der Philosophie, SW V, 135. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. Vgl. ders.: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 407: »Reales und Ideales, Finsternis und Licht, oder wie wir die beiden Principien sonst bezeichnen wollen, können von dem Ungrund niemals als Gegensätze prädicirt werden.« 72  Vgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 421–428. 73 Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 494. 74 Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 495. 71 Schelling:

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des Systems ab. Dem folgt auch die Schrift von 1809, indem sie den Menschen als Zentrum konstruiert, in dem die Schwerkraft, um mit den Aphorismen zu reden, durch das Licht nicht nur in das Selbstbewusstsein, sondern in den Geist erhoben ist.75 »Der Mensch hat dadurch, daß er aus dem Grunde entspringt (creatürlich ist), ein relativ auf Gott unabhängiges Princip in sich; aber dadurch, daß eben dieses Prinzip – ohne daß es eben deshalb aufhört dem Grunde nach dunkel zu sein – in Licht verklärt ist, geht zugleich ein Höheres in ihm auf, der Geist.«76 Die von Schelling im Würzburger System vorgetragene Behauptung, dass von einer freien Selbstbestimmung nicht die Rede sein könne, da sie ein »Widerspruch« sei, »weil in dem absolut freien Handeln das Bestimmte und das Bestimmende nicht zwei verschiedene, sondern nur ein und dasselbe sind«77 sowie seine Beschreibung des Endlichen und des Bösen als Negation78 scheinen nun doch eine Differenz zu der Abhandlung von 1809 unübersehbar werden zu lassen.79 Rekonstruiert man jedoch Schellings Identitätsphilosophie, wie oben vorgeschlagen, nicht als ein Deduktionsprogramm, sondern als eine Systemkonzeption, der es um die Darstellung des Besonderen im Absoluten geht, dann treten beide Texte auch in ein anderes Licht. Schellings Ausführungen zum »formelle[n] Wesen der Freiheit« in der Abhandlung von 1809,80 sein Insistieren darauf, dass das »intelligible Wesen«, »so gewiß es schlechthin frei und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen inneren Natur gemäß« handelt, so dass die Handlung »aus seinem Inneren nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit« folgt, »welche allein auch die absolute Freiheit ist«,81 lassen sich

75  Vgl. Schelling:

Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, SW VII, 182: »Die Schwere ist das Anschauen der Natur. Das, wodurch die Extension der Dinge im Raum bestimmt ist, ist, als Form des Seyns, auch Form der Perception, nämlich Selbstbewußtseyn; die Qualität der Dinge ist ein Empfinden der Natur in den Dingen.« 76 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 363. 77 Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 539. 78  Vgl. Schelling: System der gesamten Philosophie, SW VI, 542–548. 79  So Friedrich Hermanni: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie. Wien 1994. 80 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 382. 81 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 384.

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nicht anders denn als Rückgriff und Kommentar auf die entsprechenden Passagen im Würzburger System verstehen.82 Blickt man von diesem Resultat noch einmal auf den Gang unserer Überlegungen zurück, so lässt sich Schellings Selbsteinschätzung, der zufolge es sich bei der Freiheitsabhandlung um die erstmalige Ausführung des ideellen Teils des Systems handelt, in der Tat nicht bestreiten. Man wird jedoch durchaus einräumen müssen, dass die Metaphorik, in der Schelling die Schrift von 1809 gehalten hat, diesen Zusammenhang eher verdeckt und nicht gerade zur Klarheit der Gedankenführung beigetragen hat.

82 

Das gilt auch für die in diesem Kontext von Schelling proklamierte Auflösung des Punktes, »bei welchem Nothwendigkeit und Freiheit vereinigt werden müssen« (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 385).

Peter Gaitsch ›Philosophielogische‹ Potenziale in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) 1. Gesichtspunkt Wenn man sich heute Schellings Systemdarstellung von 1801 zuwendet, die er im Rahmen der von ihm selbst herausgegebenen kurzlebigen Zeitschrift für spekulative Physik unter dem Titel Darstellung meines Systems der Philosophie1 publiziert hat, mag zuerst eine grelle Diskrepanz ins Auge springen: die Diskrepanz zwischen der hohen, kaum zu überschätzenden Bedeutung, die diese erste Schrift seiner Identitätsphilosophie für Schellings philosophisches Selbstverständnis zeitlebens hatte, und demgegenüber dem überaus zweifelhaften Ruf, den diese Schrift bei den Schelling-Lesern genoss und wohl noch immer genießt – beginnend bei seinen philosophischen Zeitgenossen bis hin zur gegenwärtigen Schelling-Rezeption. Für die Bedeutung dieser Schrift lässt sich allerhand anführen: Sie ist – nach all den naturphilosophischen Entwürfen und nach der Darstellung des idealistischen Systemteils von 1800 – die erste, wenn auch in der Ausführung fragmentarisch gebliebene Gesamtdarstellung des Systems, wie es Schelling vorschwebte; sie blieb zudem in den Augen Schellings die einzige streng wissenschaftliche Darstellung des Identitätssystems.2 So kann es kaum verwundern, dass Schelling in einem Rückschau haltenden Brief an seinen naturphilosophischen Bündnispartner Eschenmayer das Jahr 1801 sogar als das Jahr bezeichnete, in dem ihm das »Licht in der Philosophie aufgegangen« sei.3 Das Gewicht dieser Aussagen verstärkt sich

1  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Abt. I, Bd. 4, 107–212. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2  Vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, SW I 7, 331–416, hier: 334. 3  Brief von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Carl August Eschenmayer, 30.7.1805, in: Aus Schellings Leben. In Briefen. Hrsg. v. Gustav Leopold Plitt. Leipzig 1870. Bd. 2, 60; zitiert nach Manfred Durner: Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zeitschrift für spekulative Physik. Teilband 2. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Manfred Durner. Hamburg 2011, XXXIII.

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noch, wenn man sieht, wie der spätere Schelling in seinen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie das absolute Identitätssystem beziehungsweise den in ihm zur Darstellung kommenden »Real-Idealismus«4 in einer Selbstinterpretation als den höchsten und vollendeten Ausdruck der ›negativen Philosophie‹ versteht. Über die negative Philosophie sollte dann zwar zuletzt durch die Umkehrung zur ›positiven Philosophie‹ hinausgegangen werden, aber dies ändert nichts daran, dass das Identitätssystem als gültig bleibende Darstellung des Ganzen auf dem vernunftwissenschaftlichen Standpunkt festzuhalten ist. Insofern befinden wir uns mit der Systemdarstellung von 1801 nicht in irgendeiner beliebigen Phase des schellingschen Denkens, sondern im Herz seiner gesamten Systembemühungen. Daran musste erinnert werden, um die Diskrepanz in der tatsächlichen Wirkung der Schrift von 1801 deutlich in den Blick zu bekommen: Das System von 1801 veranlasst nicht nur den endgültigen, vor allem brieflich dokumentierten Bruch zwischen Fichte und Schelling,5 sondern kann sogar als der im Dunkeln wirksame Beginn der Entfremdung zwischen Schelling und Hegel angesehen werden, insofern Hegels wenig später erscheinende Differenzschrift gerade in der Absicht, Schellings Standpunkt des Absoluten gegenüber Fichte zu verteidigen, mit der (zu diesem Zeitpunkt noch) unschellingschen Formel von der »Identität der Identität und der Nichtidentität«6 operiert, von der aus 4 Schelling:

Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, SW I 10, 1–200, hier: 107. 5  Zum Bruch zwischen Fichte und Schelling vgl. Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795–1801). Freiburg i. B. u.a. 1975, bes. 158–181, und jüngst Jürgen Stolzenberg: Der Streit ums Absolute. Fichte vs. Schelling, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 181–192. Stolzenberg zieht hier in einer fichteschen Perspektive Schellings Begründung eines komplementärinversen Verhältnisses von Transzendental- und Naturphilosophie in Zweifel. 6  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 1–92, hier: 64. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. – Hegel spricht von einer »reellen Entgegensetzung« von Subjekt und Objekt (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 65), während Schelling in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802) eine »ideale Entgegensetzung« (bei »realer Einheit«) des Realen und Idealen behauptet (vgl. Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW I 4, 333–510, hier: 389–390). Das führt dazu, dass Hegel die Differenz im Absoluten spekulativontologisch versteht, während Schelling sie spekulativ-epistemologisch (oder besser: »philosophielogisch«) versteht. Damit geht einher, dass in Hegels Deutung die Kons­truktion einen ganz anderen Sinn annimmt als bei Schelling, insofern sie von

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gesehen die von Schelling festgehaltene »Identität der Identität« als Form der »absoluten Identität«7 schließlich fast zwangsläufig zu einer Erkenntnissituation führt, in der wie in der Nacht alle Kühe schwarz sind. Auch generell wird man konstatieren müssen, dass Hegels anschließende Radikalisierung in Form des weitestgehend überzeugenden Programms einer Selbstdarstellung des Absoluten8 der weiteren Rezeption von Schellings System von 1801 nicht wohl bekommen ist: Was vor Hegels Ausführung der Phänomenologie und Logik eine kompromisslose Darstellung des Absoluten zu sein schien, erweckte nach Hegels einschlägigen Arbeiten den Anschein, als ob es das eigentlich zu fordernde Niveau einer Theorie des Absoluten durch seine äußerliche und überaus künstliche Darstellungsweise systematisch unterböte.9 Denn vom Programm einer Selbstdarstellung des Absoluten aus betrachtet erscheint Schellings an Spinoza angelehntes Verfahren more geometrico nicht nur als eventuell in der Durchführung verfehlt – das absehbare Misslingen jedes Versuchs, die grundlegenden ersten fünfzig Paragraphen des Systems von 1801 in Form eines organischen Gedankenganges systematisch zu rekonstruieren, spricht bereits für diese Misslichkeit –, sondern darüber hinaus prinzipiell als der Sache des Absoluten unangemessen. Man darf daher vermuten, dass der faktische historische Sieg der hegelschen Optik in der Erwartung einer philosophischen Darstellung des Absoluten eine produktive philosophische Rezeption von Schellings System von 1801 stark gehemmt hat. Ein Blick auf die zeitgenössische Schelling-Forschung dürfte diesen Eindruck jeersterem als Konstruktion der absoluten Einheit, also als Synthesis, aufgefasst wird (vgl. Hegel: Differenzschrift, GW 4, 67), während sich Schelling gegen ein Verständnis der absoluten Einheit als Synthesis ausdrücklich verwehrt, da er nicht wie Hegel vom Standpunkt der Entgegensetzung (bei Hegel: »Entzweiung« und »Vereinigung«), sondern unmittelbar vom Standpunkt der absoluten Identität aus zu denken beansprucht (vgl. Schelling, Ferne Darstellungen, SW I 4, 379). 7 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 121, § 16 Zusatz 2. 8  Vgl. dazu bereits in der Differenzschrift: Das Absolute ist die Vernunft, »die sich als Natur, und als Intelligenz produciert, und sich in ihnen erkennt« (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 67). Auch wenn Hegel mit Schelling die Zweiheit der Wissenschaften anerkennt, muss er gemäß seinen Voraussetzungen, danach das Absolute kein Nebeneinander sein kann (vgl. ders.: Differenzschrift, GW 4, 68), betonen, dass die beiden Wissenschaften »zugleich in Einer Kontinuität, als Eine zusammenhängende Wissenschaft« zu betrachten sind (ders.: Differenzschrift, GW 4, 74). Sie gehören daher in die »Selbstkonstruktion des Absoluten« (ders.: Differenzschrift, GW 4, 74). 9 Vgl. dazu Hegels Kritik an der »synthetischen Methode« in der Philosophie, die auch als eine implizite Kritik an Schellings – an Spinozas Darstellungsweise Maß nehmender – Darstellung von 1801 zu verstehen ist (bes. Hegel: Wissenschaft der Logik (1816), GW 12, 229).

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denfalls bestätigen:10 Die Systemarchitektur von 1801 stößt heute – im Unterschied zu zahlreichen anderen Werken Schellings – kaum noch auf philosophisches Interesse, geschweige denn, dass sich daran eine philosophisch produktive Lektüre anschlösse. Fast scheint es so, als ob Manfred Franks 1985 gefälltes Urteil, dass Schellings System von 1801 »das Ergebnis einer überstürzten und keineswegs ausgereiften Reflexion« sei,11 seither allgemein vollzogen wird. Falls nun diese Diagnose unserer hermeneutischen Situation im Kern richtig ist, scheint es am Dringlichsten geboten, eine systematische Pers­pektive zu finden, die das möglicherweise schlummernde Sinnpotenzial von Schellings Text zu wecken und zur Sprache zu bringen vermag. Im Hintergrund fungieren dabei übrigens gut gadamersche Grundüberzeugungen über das philosophische Geschäft des Verstehens: Das Verstehen, das nicht methodisch erzwungen, sondern nur als eintretende Wirkung erwünscht werden kann, geschieht als ein auslegendes Anwenden des Textes auf die eigene Fragesituation in Gestalt einer Horizontverschmelzung. Die primäre Frage ist also, welcher Fragehorizont es uns ermöglichen könnte, tiefer in den philosophischen Gehalt des Systems von 1801 einzudringen. In der Hauptsache scheint es drei systematische Perspektiven zu geben, die in der Schelling-Forschung bisher verfolgt wurden und die auch hier in Frage kommen: 1) In einer ersten, sozusagen idealistischen Perspektive könnte Schellings Text in die Debatte um eine Selbstbewusstseinstheorie aufgenommen werden, die sich am Problembestand der philosophy of 10  Vgl.

den Bericht von Stefan Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner. Darmstadt 2012, 9–18 sowie die weiteren Beiträge in diesem Band, der einen »repräsentativen Einblick in die jüngere Schellingforschung« (ders.: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 7) geben möchte. 11  Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt/M. 21959 [1985], 112. Auch Sandkaulen notiert am Ende ihrer aufschlussreichen SchellingStudie das generelle Scheitern der Identitätsphilosophie, wobei sie aber bezeichnenderweise gar nicht näher auf die Systemdarstellung von 1801 eingeht, sondern die Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 als exemplarische Darstellung der Identitätsphilosophie heranzieht (vgl. Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990, 177 ff.). Für Stolzenberg wiederum präsentiert sich Schellings System von 1801 »schon in seinen ersten Schritten als eine Folge von Fehlschlüssen« (Jürgen Stolzenberg: Der Streit ums Absolute, 181–192, hier: 192). Ebenfalls in einer fichteschen Optik beurteilt Lauth das System von 1801 als »mißlungenes System« (Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie, 181) und verweist in diesem Kontext auch auf das Urteil von Xavier Tilliette, der in dasselbe Horn stößt.

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mind orientiert und das Identitätssystem in Richtung einer panpsychistischen Identität von Materie und Geist auslegt.12 2) In einer zweiten, sozusagen realistischen Perspektive könnte der Kontext der spekulativen Physik, in dem Schellings Identitätssystem situiert ist, aktiviert werden, indem seine naturphilosophischen Aspekte etwa als kritisches Korrektiv des naturwissenschaftlichen Naturverständnisses ausgelegt werden.13 3) Schließlich könnte in einer – philosophiehistorisch besonders naheliegenden – dritten, »real-idealistischen« Perspektive das schellingsche Identitätssystem einfach als Beitrag zu einer nichttheologischen Theorie des Absoluten gelesen werden.14 Alle drei Perspektiven sind in unterschiedlicher Weise erfolgsversprechend, wobei die dritte Perspektive mit der bereits erwähnten besonderen Hypothek belastet ist, mit dem hohen hegelschen Problemniveau Schritt halten zu müssen. Anstatt nun diese drei Perspektiven weiterzuführen, möchte ich hier die Hypothese wagen, dass alle drei genannten Perspektiven nicht in befriedigender Weise über die besondere Systemarchitektur von 1801 Rechenschaft ablegen können und dass daher mit einer vierten Perspektive experimentiert werden sollte, die ich in freier Anlehnung an Eric Weils System einer Logik der Philosophie15 die philosophielogische Perspektive nennen möchte. Dies bedarf einiger Erläuterungen, um naheliegende Missverständnisse zu vermeiden. Zuerst ein Hinweis zur Bezeichnung: Der Ausdruck ›philosophielogisch‹ wurde hier nur deshalb gewählt, um die historische Kontinuität zur Reflexionsebene, die Eric Weils Logik der Philosophie einnimmt, kenntlich zu machen. Am Titel einer Logik liegt hier nichts; insbesondere sollte mit dieser Bezeichnung nicht die Erwartung verbunden werden, 12  Vgl. allgemein die Arbeiten von Manfred Frank und speziell Michael Blamauer:

Subjektivität und ihr Platz in der Natur. Untersuchung zu Schellings Versuch einer naturphilosophischen Grundlegung des Bewusstseins. Stuttgart 2006. 13  Vgl. Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 14–16 und vor allem HansDieter Mutschler: Spekulative und empirische Physik. Aktualität und Grenzen der Naturphilosophie Schellings. Stuttgart 1990. 14 Vgl. Klingner: Schwerpunkte in der Schellingforschung, 16–18. Zu einem in dieser Hinsicht kritischen Ergebnis kommt Birgit Sandkaulen-Bock in: Ausgang vom Unbedingten. 15  Eric Weil: Logique de la philosophie. Paris 1950; deutsche Ausgabe: Logik der Philosophie. Übersetzt von Alexander Schnell. Hildesheim u.a. 2010. Weiterführend zum Folgenden vgl. Peter Gaitsch: Eric Weils Logik der Philosophie. Eine phänomenologische Relektüre. Freiburg/München 2014.

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es gehe um formale Logik, also um allgemeine Formen des Denkbaren, oder um transzendentale Logik, also um gegenstandskonstitutive Formen des Denkbaren. Demgegenüber lässt sich der philosophielogische Standpunkt formal vorläufig so charakterisieren, dass es in ihm nicht um Formen des Denkbaren (des cogitatum) geht, sondern um Denkweisen, also um Formen der cogitatio. Die Anwendung einer solchen formalistischen Perspektive auf Schellings Text dürfte jedoch auf den ersten Blick unattraktiv erscheinen, denn die Frage ist berechtigt: Geht durch diese Betrachtungsweise nicht all das, was an Schellings Text von philosophischem Interesse ist, verloren? Diesem Verdacht will die nächste Bemerkung begegnen, die auf die besondere Weise des Sachbezugs, die zur philosophielogischen Perspektive gehört, aufmerksam macht. Mit der philosophielogischen Perspektive wird ein metaphilosophischer Systemsinn an den schellingschen Text herangetragen, der sicherlich nicht der ursprünglichen Intention Schellings entspricht. Denn Schelling will in seinem Identitätssystem nicht primär etwas über die Gestaltung der Philosophie mitteilen, er will vielmehr zeigen, wie das Absolute theoretisch richtig gefasst werden muss und wie sich aus diesem richtig gefassten Absoluten die grundlegenden Erscheinungen konstruieren lassen. Diese Intention Schellings sei vollkommen zugestanden; dennoch könnte es angesichts der eigentümlichen Gestalt seiner Ausführung dieses Gedankens aufschlussreich sein, die Perspektive einmal umzudrehen und sich folgende Frage vorzulegen: Was geschieht eigentlich mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch, das Absolute zu erkennen? Dies ist die zentrale philosophielogische Fragestellung, mit der sich eine neue Perspektive auf Schellings Text eröffnet, eine Perspektive, die hier sozusagen als Appendix zur oben genannten dritten Perspektive, der Theorie des Absoluten, auftritt. Im Fokus stehen nun aber nicht mehr das Absolute und seine richtige theoretische Erfassung, sondern die Rückwirkungen, die dieser Denkversuch auf die architektonische Gestaltung der Philosophie hat. Aufgrund dieses exemplarischen Falles besteht dann die Aussicht, etwas Allgemeines über die Bedingungen und Eigenarten des Philosophierens selbst zu lernen, und zwar etwas, das durch vorphilosophische Trockenübungen in Form von methodologischen oder etwa wissenssoziologischen Überlegungen allein nicht zu erreichen ist.16 Das, 16  Die methodologische Problematik, die Eckhart Förster in seiner beeindruckenden Studie Die 25 Jahre der Philosophie anhand einer systematischen Rekonstruktion der philosophischen Problementwicklung von 1781 bis 1806 entfaltet, sollte sich allerdings in diesen philosophielogischen Kontext integrieren lassen (vgl. Eckhart

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was hier ›Logik‹ genannt wird, versucht also nur, die eigentümliche Bewegtheit des Philosophierens zu fassen, die es im Vollzug des Denkens der Sache erleidet. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die experimentelle Einnahme der philosophielogischen Perspektive impliziert, dass geschichtlich-genetische Betrachtungsweisen der Philosophie eher in den Hintergrund treten, sowohl im Sinne einer ganzheitlichen Konstellationsforschung als auch im Sinne einer ergänzenden Betrachtung der Entwicklungsgeschichte individueller philosophischer Konzeptionen, wie sie Dieter Henrich unternommen hat.17 Das soll jedoch nicht heißen, dass mit der Einnahme der philosophielogischen Perspektive genetische Zusammenhänge gänzlich ihre Bedeutung verlieren, wie ersichtlich werden wird. Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen liegt aber darauf, nach einer philosophielogischen Hinführung die Fruchtbarkeit der damit verbundenen Perspektive anhand von Schellings System von 1801 kurz und stichprobenartig zu erproben.

2. Experiment In stark idealisierter philosophielogischer Hinsicht stellen sich die zentralen philosophiehistorischen Stationen, die Schellings Standpunkt von 1801 vorausgehen, folgendermaßen dar: Kants transzendentalphilosophische Revolution der Denkungsart hatte ab 1781 das philosophische Denken vom Kopf auf die Füße gestellt, indem Kant mit dem Grundgedanken operierte, dass sich die Gegenstände (als erscheinenFörster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. Frankfurt/M. 2011). Im Zentrum steht bei Förster die an Kants § 76 der Kritik der Urteilskraft anschließende Unterscheidung zwischen »intellektueller Anschauung« und »intuitivem Verstand« und ihre Bedeutung für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 154 und 173). Die Identitätsphilosophie Schellings bezeichnet dabei den Punkt, an dem der intuitive Verstand als menschliche (endliche, nicht göttliche) Erkenntnisart entdeckt wird, wenn er auch von Schelling methodologisch unzureichend – von der intellektuellen Anschauung her – reflektiert wird (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 251). Die naturphilosophische Ausführung einer Methodologie des endlichen intuitiven Verstandes findet Förster dann bei Goethe in dessen Untersuchungen zur Pflanzenmetamorphose und zur Farbenlehre. Philosophielogisch gesehen läuft Försters Untersuchung darauf hinaus, dass es zwei berechtigte Modi des Denkens gibt: nicht nur ein diskursives, sondern ebenso auch ein intuitives Denken (vgl. ders.: Die 25 Jahre der Philosophie, 270). 17  Vgl. Dieter Henrich: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011, bes. 11–20.

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de) nach unserem Erkenntnisvermögen richten, wodurch sich ein zwar nicht grenzenloses, aber doch weites Feld apriorischer Erkenntnisse eröffnete, das sich durch die Transzendentalphilosophie beackern ließ. Interessant ist hier, dass Kant in diesem Zusammenhang zwar die dogmatischen Grenzüberschreitungen streng sanktionierte, dass er aber durch seine – in Form eines »Experiments der Vernunft«18 – bewusst experimentelle Einführung des transzendental-idealistischen Standpunktes den entgegengesetzten dogmatischen Standpunkt als solchen, der die Erkenntnis vom Gegenstand (an sich) her aufbauen möchte, nicht schlechthin aus den Angeln hob. Daher war es nur folgerichtig, dass Fichte 1797 in seiner Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre in einer bemerkenswerten und tiefgreifenden philosophielogischen Untersuchung die Möglichkeit und sogar theoretische Gleichberechtigung des dogmatischen Standpunktes erwog und den philosophischen Vorzug des idealistischen Standpunktes letztlich nur in einem kultivierten Selbstinteresse, das heißt in der nicht andemonstrierbaren Tathandlung des Selbstbewusstseins als intellektueller Anschauung des Ich, verankern konnte.19 Genau hier – an dieser praktischen Abhängigkeit des transzendentalphilosophischen Standpunkts, insofern er nämlich nur durch einen intimen Freiheitsvollzug hervorzubringen ist – setzt nun der naturphilosophische Schelling ab 1799 an: Da sich der transzendentalphilosophische Standpunkt als praktisch vermittelt erwiesen hat, ist er in rein theoretischer Hinsicht einem Standpunkt, der die Erkenntnis vom Gegenstand her entfaltet, nicht überlegen. Ein solcher berechtigter Standpunkt, der die Gegenstandsseite zum Ersten macht, ist aber nicht dogmatisch zu entwickeln, das heißt vom Gegenstand her, wie er dem Erkennen als etwas Produziertes erscheint, sondern naturphilosophisch, das heißt von der Produktivität her, die dem Gegenstand einwohnt. Es spricht dabei nicht gegen die prinzipielle Gleichberechtigung des transzendentalphilosophischen und des naturphilosophischen Standpunktes, dass sich die Produktivität der Natur nur vermittels einer speziellen methodischen Umbildung der intellektuellen Anschauung erreichen lässt, denn schließlich hat sich ja soeben auch der transzendentale Standpunkt als ein vermittelter erwiesen. Hinsichtlich dieser methodischen Grundlegung der Naturphilosophie ist insbesondere Schellings kurzer Text Über 18 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. v. Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1993, B XXI Anmerkung. 19  Vgl. Gaitsch: Eric Weils Logik der Philosophie, 49–57.

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den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen, der 1801 als Anhang zu einem Aufsatz von Eschenmayer in Schellings Zeitschrift für spekulative Physik erschien und der Publika­ tion des Systems von 1801 unmittelbar vorausging, aufschlussreich, da er programmatisch zum System von 1801 hinführt. Schelling benennt dort die berühmt-berüchtigte Abstraktion vom anschauenden Subjekt im Vollzug der intellektuellen Anschauung,20 um durch eine solche »Depotenzierung des Ich« zum rein Objektiven dieses Aktes zu gelangen: dem »reinen Subjekt-Objekt« als der noch nicht potenzierten »Identität des Ideal-Realen«,21 das sich zuerst in naturhaft-reellen, sodann in geistig-ideellen Potenzen manifestiert. Damit nimmt Schelling die Grundstruktur des Gesamtsystems vorweg, das er im System von 1801 auszuarbeiten beginnen wird. Das hier als »Real-Idealismus« bezeichnete System des Wissens umfasst zwei Systemteile, einen »theoretischrealistischen«, der der Naturphilosophie entspricht, und einen »praktisch-idealistischen«, der der Transzendentalphilosophie entspricht.22 Schelling fügt aber sogleich hinzu, dass diese Teile in der tatsächlichen Darstellung des Systems nicht als gesonderte erscheinen können, da sich alles in absoluter Kontinuität, in »Einer ununterbrochenen Reihe«,23 zu entwickeln hat. Damit ist die philosophielogische Problemstellung erreicht, die den Ausgangspunkt von Schellings System von 1801 bildet: Die Situation des Denkens ist einerseits durch eine strikte philosophielogische Nebenordnung zweier einander entgegengesetzter, aber komplementärer Grundwissenschaften gekennzeichnet: dem gleichberechtigten Nebeneinander von Transzendental- und Naturphilosophie. Für diese Stellung des Gedankens soll im Folgenden der Terminus Parataxis geprägt werden. Andererseits scheint es aber gerade die Aufgabe des Identitätssystems zu sein, die parataktische Kluft auf einem höheren Standpunkt des Philosophierens aufzulösen. Schellings System von 1801 ist in philosophielogischer Perspektive also der Punkt, an dem die Parataxis auf ihre einheitliche Quelle hin untersucht wird. Die Leitfrage für die philosophielogische Relektüre des Systems von 1801 betrifft also das Schicksal der Parataxis: Wird sie durch den philosophischen Identitätsstandpunkt,

20  Vgl. Schelling:

Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen, SW I 4, 81–103, hier: 85 und 87–88. 21 Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 87. 22 Vgl. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 89. 23 Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 89.

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den Schelling durch ein »absolutes Erkennen« erreicht sieht,24 endgültig revidiert25 oder bleibt sie vielleicht in modifizierter Form erhalten? Ich werde im Folgenden für Zweiteres optieren und dabei insbesondere die Bedeutung des Potenzbegriffs in diesen Diskussionskontext stellen. Im Übrigen lässt sich ein gewisser Vorzug der zweiten Option schon einem Hinweis auf Schellings weitere philosophische Entwicklung entnehmen, denn offenbar hat sich Schelling seinen Sinn für parataktische Klüfte durch die Identitätsphilosophie hindurch bewahrt, wenn man sich seine spätere Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie und das wechselseitige Bedingungsverhältnis, in dem diesen beiden Betrachtungsweisen stehen, in Erinnerung ruft. Die oben genannte Frage – was geschieht mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch, das Absolute zu erkennen? – hat sich nun konkretisiert zu der Frage: Welches Schicksal erleidet die Parataxis beim Versuch, die absolute Identität zu denken? Im System von 1801 scheint auf den ersten Blick alles gegen die Parataxis zu sprechen: Gleich zu Beginn, im Corpus des § 1, wird der »Standpunkt der Philosophie« mit dem »Standpunkt der Vernunft« identifiziert, wobei Schelling unter Vernunft die »absolute Vernunft« versteht, das heißt die Vernunft, »insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird«.26 Die Philosophie vom Standpunkt der so verstandenen Vernunft betrachtet alle endlichen Dinge bloß als Ausdruck des Unendlichen.27 Schellings Indifferenzposition geht allerdings noch über diese Ausdrucksbeziehung zwischen Unendlichem und Endlichem hinaus, wie der § 2 sofort klar macht, der aus § 1 die Folgerung zieht: »Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist Alles.«28 Das bedeutet, dass die Vernunft, 24 Vgl.

zur Charakterisierung der »absoluten Erkenntnisart« insbesondere die ersten beiden Abschnitte der Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (Schelling: Fernere Darstellungen, SW I 4, 339–372). 25  Das ist zum Beispiel die Position von Heinz Paetzold in seinem Beitrag zum Handbuch Deutscher Idealismus: Natur und Geist werden im System von 1801 nicht mehr als komplementär angesehen, sondern vom Standpunkt des absoluten Erkennens aus identifiziert (vgl. Handbuch Deutscher Idealismus. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Stuttgart u.a. 2005, 39). Dagegen ist zu fragen: Ist die Identifizierung von Natur und Geist tatsächlich mit dem Standpunkt der absoluten Identität, dem Indifferenzpunkt, gleichzusetzen? Fraglich ist damit, ob Schelling im System von 1801 die Differenz von Natur und Geist (die die Voraussetzung einer möglichen Identifizierung bildet) überhaupt legitimieren kann. 26 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 114. 27 Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 115: »in den Dingen nur das zu sehen, wodurch sie die absolute Vernunft ausdrücken«. 28 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 115.

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zu deren Kennzeichnung später die Begriffe der »absoluten Identität«29 und der »absoluten Totalität«30 eingeführt werden, als schlechthinnige Unendlichkeit verstanden werden muss,31 innerhalb derer die Betrachtung des Endlichen zu situieren ist. Hier sind wir nun beim architektonisch interessanten Punkt angelangt: Denn Schelling macht sofort klar, dass er das Endliche nicht als Erscheinung des Unendlichen und also nicht als eine Gestalt der Selbstdarstellung des Absoluten verstanden wissen will, denn der § 14 schneidet diese Denkmöglichkeit radikal ab: »Nichts ist an sich betrachtet endlich.«32 Vom Standpunkt der Vernunft aus gibt es schlicht keine Endlichkeit. Dies führt zu einer der radikalen Pointen des Systems von 1801, die Schelling in der Erläuterung zu § 14 formuliert: »Der Grundirrtum aller Philosophie ist die Voraussetzung, die absolute Identität sei wirklich aus sich herausgetreten, und das Bestreben, dieses He­ raustreten, auf welche Art es geschehe, begreiflich zu machen.«33 Dem hält Schelling entgegen: »Die absolute Identität hat eben nie aufgehört, es zu sein, und alles, was ist, ist an sich betrachtet – auch nicht die Erscheinung der absoluten Identität, sondern sie selbst«.34 Wenn dies nun tatsächlich der Standpunkt der Philosophie ist, dann scheint die Lage nicht nur für die Parataxis, sondern für das philosophische Erkennen überhaupt aussichtslos zu sein, da es ohne Differenzen kein bestimmtes Erkennen geben kann. In dieser Lage führt nun Schelling die folgenreiche Unterscheidung zwischen Wesen und Seinsform ein: »Die absolute Identität ist nur unter der Form des Satzes A = A«,35 das heißt das Wesen der absoluten Identität kann nur in Form einer Erkenntnis ins Sein treten, die durch die Subjekt-Prädikat-Differenzstruktur gekennzeichnet ist.36 Die zweite Pointe ist nun die, dass durch diese Subjekt-PrädikatForm, die zum Sein, aber nicht zum Wesen der absoluten Identität gehört, keine echte, qualitative Differenz auftritt,37 da sowohl an die Subjekt- als auch an die Prädikatstelle – die Schelling ab § 21 als Ob29 Schelling:

Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 117, § 6. Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 125, § 26. 31  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 118, § 10. 32 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 119. 33 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 119–120. 34 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 120. 35 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 120, § 15. 36  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 116–117, §§ 4–5 und 121, § 16. 37  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 121, § 16. 30 Schelling:

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jektstelle deutet – wiederum die ganze absolute Identität gesetzt ist:38 Subjekt und Objekt bezeichnen nur eine quantitative Differenz,39 das heißt sie sind bloß verschiedene Gewichtungen oder Potenzen ein und derselben absoluten Identität. Das in philosophielogischer Hinsicht Entscheidende ist aber nun, dass die quantitative Differenz nur außerhalb der absoluten Identität möglich ist.40 Da aber die absolute Identität kein wirkliches Außen hat, wie schon im § 2 klar gemacht wurde, ist dies nur vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Wesen und Seinsform verständlich zu machen: Die absolute Identität wird in ihrem Wesen durch keine Differenz berührt, nur in ihrer Seinsform, dem Erkennen, ist sie von Differenzen äußerlich betroffen. Das überaus Denkwürdige dieser architektonischen Struktur gilt es festzuhalten: Da die absolute Identität nur im Erkennen existiert, projiziert sie notwendig Differenzpunkte (sozusagen Perspektiven) aus sich heraus, ohne dabei tatsächlich aus sich herauszugehen. Die absolute Identität existiert nur im Erkennen, das heißt in der durch verschiedene Differenzpunkte hindurchgehenden Darstellung, ohne dass diese Perspektiven ihrem absoluten Identitätscharakter etwas anhaben könnten. In dieser Notwendigkeit differenter Perspektiven im Erkennen des Absoluten scheint sich in philosophielogischer Hinsicht Schellings Rechtfertigung der Parataxis zu bekunden. Im Kontrast zu Hegels Programm einer Selbstdarstellung des Absoluten im philosophischen Erkennen kann man Schellings Verständnis dieser Erkenntnissituation nun folgendermaßen charakterisieren: Das Absolute fordert zwar seine Darstellung, da es ja nur im Erkennen existiert, aber es kann sich nicht einfachhin selbst darstellen, sondern nur so, dass es aus sich heraus endliche Standpunkte entlässt, von woher seine perspektivische Darstellung erfolgen kann. Ein letzter Schritt der Systembildung Schellings soll hier noch mitgegangen werden, um diesen Gedanken noch etwas konkreter zu fassen. Jede bestimmte quantitative Differenz der absoluten Identität, also jede Differenz im Überwiegen der Subjektivität oder Objektivität, bezeichnet Schelling als »Potenz«.41 Die absolute Identität existiert 38  Vgl.

Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 123, § 22. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 123, § 23. 40  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 125, § 25 Zusatz. 41 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 134, § 42 Erklärung 2. Zur Einführung des Potenzbegriffs vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 124, § 23 Erläuterung: »Wenn wir dieses Übergewicht der Subjektivität oder Objektivität durch Potenzen des subjektiven Faktors ausdrücken, so folgt, daß A = B gesetzt, auch schon eine positive oder negative Potenz des A gedacht werde, 39  Vgl.

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nur unter der Form aller ihrer Potenzen,42 wobei diese Potenzen nicht in einem Werden auseinander hervorgehen, sondern »absolut gleichzeitig« sind.43 Daran knüpfen sich für Schelling zwei wichtige Folgerungen: Die Potenzen stehen erstens in keinem Kausalverhältnis, die Forderung einer naturphilosophischen »Kausalableitung« ist daher unsinnig. Zweitens bedeutet dies, dass es keine erste Potenz gibt, genau darin liegt aber nach Ansicht Schellings der »Fehler des [fichteschen] Idealismus«,44 dass er die höchste Potenz des Ich als erste Potenz missversteht. Als allgemeinen Ausdruck der Potenz (und damit der Endlichkeit) verwendet Schelling die Formel: A = B.45 Beide Buchstaben sind Ausdruck derselben absoluten Identität, also des A = A, nur dass in B das Überwiegen der Objekt-Stellung und in A das Überwiegen der Subjekt-Stellung gedacht wird. Das B bezeichnet Schelling daher als »reelles Prinzip« und als die positive Unendlichkeit des Seins, während das A als »ideelles Prinzip« und als die negative Unendlichkeit des Erkennens gefasst wird.46 Ohne diesen Gedankengang nun in der Tiefe weiterzuverfolgen oder gar die möglichen Probleme, in die diese Modellbildung in der Begründung oder in der naturphilosophischen Konstruktion gerät, zu diskutieren, wird hieraus doch wenigstens Eines ersichtlich: Der Potenzbegriff, den Schelling ursprünglich in seiner mathematisch-naturphilosophischen Verwendungsweise von Eschenmayer übernimmt,47 wird hier zu zwei verschiedenen Prinzipien der Erkenntnis des Absoluten hin weiterentwickelt und erhält bei ihm auf diese Weise eine eminent philosophielogische Bedeutung, das heißt er steht ursprünglich nicht im Kontext einer Spekulation über die Natur des Absoluten und seiner Selbstdarstellung, sondern vielmehr im Kontext des Versuchs, die Parataxis aus ihrer gemeinsamen Quelle des Absoluten heraus zu verstehen. Dabei geht es nicht um eine Reduktion der Parataxis auf eine einheitliche Pers­pektive, sondern umgekehrt um die Rechtfertigung der Parataxis aus dem besonderen Charakter des Absoluten. Zu dieser philosophie-

und daß A° = B soviel als A = A selbst, d. h. Ausdruck der absoluten Indifferenz sein müsse. Anders, als auf diese Weise, ist schlechthin keine Differenz zu begreifen.« 42  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 135, § 43. 43 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 135, § 44. 44 Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 135 Fußnote. 45  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 135–136. 46  Vgl. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW I 4, 135–136. 47 Vgl. Karen Gloy: Schellings Naturphilosophie. Grundzüge und Kritik, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Hrsg. v. Hiltscher/Klingner, 85–102, hier: 95.

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logischen Deutung passt im Übrigen auch die Rede von Potenzen des Philosophierens, die sich bei Schelling andernorts finden lässt.48 Um ein Fazit zu ziehen, ist noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was geschieht mit der architektonischen Gestalt der Philosophie beim Versuch, das Absolute zu erkennen? Hegels gängige Antwort auf diese Frage würde lauten: Alles Erkennen verwandelt sich bei diesem Versuch zu einer Erscheinung des sich darin kontinuierlich selbst darstellenden Absoluten. Die Antwort Schellings, wie sie aus dem System von 1801 zu rekonstruieren ist, geht in eine andere Richtung: Das Absolute ist als absolute Identität so verfasst, dass bei diesem Versuch die Gestalt der einfachen Einheit der Philosophie zerbrechen muss; das Absolute ist nur durch eine parataktische Kluft hinweg darstellbar. Demgemäß spricht Schelling in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 von der »gedoppelten Einheit« der Philosophie.49 In modifizierter Gestalt trägt genau diese philosophielogische Grundstruktur des Denkens des Absoluten auch noch sein ganzes Spätwerk, wo sie in der eigentümlichen parataktischen Stellung von negativer und positiver Philosophie sichtbar wird. Damit hat Schelling in philosophielogischer Perspektive einen paradigmatischen Fall für das allgemeinere Phänomen geliefert, dass der Versuch, eine Sache zu denken, eine von der Sache selbst geforderte Pluralisierung der Perspektiven nach sich ziehen kann, wodurch sich fundamentale Auswirkungen auf die architektonische Gestaltung der Philosophie ergeben.

48  Vgl. Schelling:

Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, SW I 4, 85; ders.: Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821), SW I 9, 209–246, hier: 210. Die Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802) unterscheiden drei Potenzen der Form der Philosophie: das Endliche (Reelle), das Unendliche (Ideelle) und das Ewige (Indifferenz von Reellem und Ideellem), die sich jeweils in den Potenzen der Reflexion, Subsumtion und Vernunft ausbilden und das Wesen in die Form beziehungsweise die Form in das Wesen einbilden (vgl. Schelling: Ferneren Darstellungen, SW I 4, 414–423). 49 Schelling: Fernere Darstellungen, SW I 4, 414.

Philipp Schwab Von der Negativität zum Ungrund: Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift  Dass das philosophische ›Bündnis‹ zwischen Hegel und Schelling über der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807 zerbrochen ist, oder dass sich hier – sofern schon zuvor von einer ›Entfremdung‹1 gesprochen werden kann – der endgültige Bruch zwischen beiden Denkern manifestiert, ist allgemein bekannt. Desto bemerkenswerter ist es, dass Hegels Phänomenologie und Schellings nächstfolgender Schrift – den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 – bislang kaum vergleichende Studien gewidmet worden sind, die die ›Nachwirkungen‹ dieses Bruchs verfolgen.2 Insbesondere deshalb muss dies erstaunen, als beiden Werken je für sich genommen in der Hegel- beziehungsweise Schelling-Forschung eine prominente Stellung zukommt.3 1  Vgl. die

Materialien in Horst Fuhrmans: Schelling und Hegel. Ihre Entfremdung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente. 3 Bde. Hrsg. v. Horst Fuhrmanns. Bonn 1962–1975. Bd. 1, 451–553 sowie die nach wie vor erhellende Darstellung von Hermann Krings: Die Entfremdung zwischen Schelling und Hegel (1801–1807). München 1977. 2  Explizit zur Frage einer ›Antwort‹ Schellings auf Hegel 1809 nur Masakatsu Fujita: Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift, in: Natur, Kunst und Geschichte der Freiheit. Studien zur Philosophie F. W. J. Schellings in Japan. Hrsg. v. Juichi Matsuyama/Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt/M. u. a. 2000, 115–126 und Thomas Buchheim: Zwischen Phänomenologie des Geistes und Vermögen zum Bösen: Schellings Reaktion auf das Debüt von Hegels System, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 85 (2003), 304–330, hier bes.: 314–324. – Die einzige Monographie zur Phänomenologie und zur Freiheitsschrift (Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ und Schellings ›Freiheitsschrift‹. München 2006) unternimmt einen erhellenden systematischen Vergleich, stellt aber die Frage des Dialogs und Wechselbezugs ausdrücklich zurück (vgl. ders.: Freiheit und System, 14, 151–153, 268–269). Ebenfalls systematisch Sven Jürgensen: Freiheit in den Systemen Hegels und Schellings. Würzburg 1997; vgl. zur Moral kurz Chrstian Iber: Religiös begründete Moral in Hegels »Phänomenologie« und Schellings »Freiheitsschrift«, in: HegelJahrbuch 2001, 225–231. 3  Vgl. aus der aktuellsten Forschung zum 200. Jubiläum beider Schriften zur Phänomenologie bes. Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Hrsg. v. Wolfgang Welsch/Klaus Vieweg. Frankfurt/M. 2008; Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt. Beiträge zur Deutung der »Phänomenologie des Geistes« aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums. Hrsg. v. Thomas Sören Hoffmann. Hamburg 2009. Vgl. zur Freiheitsschrift bes. Schellings Philosophie der Freiheit. Studien zu den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hrsg. v. Diego

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Diese Zurückhaltung mag unter anderem darin begründet liegen, dass sich Schelling und Hegel in ihrer späteren wechselseitigen, explizit kritischen Auseinandersetzung kaum jemals auf die genannte Schrift des anderen bezogen haben. Schelling behandelt in seiner späten Kritik Hegels in den Münchener und Berliner Vorlesungen, wie sie überliefert sind, vornehmlich die verschiedenen Auflagen der Logik und der Enzyklopädie sowie den ihm gewidmeten, erstmals 1836 publizierten Passus in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie.4 In diesem von Michelet kompilierten Druck bezieht sich wiederum Hegel weitestgehend auf diejenigen Schriften Schellings, die ihm schon bei der Abfassung der Phänomenologie vorlagen, also dessen Werke bis 1806.5 Hier allerdings findet sich auch Hegels einziger, knapper Kommentar zur Freiheitsschrift, der in zwei Varianten überliefert ist. Die etwas ausführlichere, gleichwohl noch kurze Fassung lautet:

Ferrer/Teresa Pedro. Würzburg 2012; Freiheit und Bildung. Schellings Freiheitsschrift 1809–2009. Hrsg. v. Siegbert Peetz. München/Paderborn 2012. 4 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: ders.: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. X, 1–200, hier: 126–164. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. Vgl. auch Schelling: Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousins, SW X, 201–224. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42 (Paulus-Nachschrift), in: ders.: Philosophie der Offenbarung. 1841/42. Hrsg. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. ³1993, 87–325, hier: 121–139 und Søren Kierkegaard: Notizbuch 11, in: ders.: Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn et al Berlin/Boston 2005 ff. Bd. 3, 331–405, hier: 343–353. Vgl. auch Schelling: Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 1–530, hier: 80–81, 87–93, 101–102, 121–122, 172–173 sowie Schelling: Philosophie der Offenbarung, SW XIV, 1–334, hier: 215–216. – Vgl. aber einen Passus aus der Geschichte der neueren Philosophie, in der Schelling die Urheberschaft der philosophischen »Methode« des Fortgangs bereits im System von 1800 einklagt und sich dagegen verwahrt, »daß ein anderer sich rühme sie erfunden zu haben« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 96); ähnlich in der Cousin-Vorrede, vgl. Schelling: Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousins, SW X, 212–213. Hier könnte sich Schelling wenigstens unter anderem auf die Phänomenologie beziehen; vgl. bes. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 9, 35–41. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 5  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders.: Theorie-Werkausgabe. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1969 ff. Bd. 20, 420–454. Im Folgenden zitiert als TWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

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Schelling hat eine einzelne Abhandlung über die Freiheit bekanntgemacht, diese ist von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden.6 Die Bemerkung wirft freilich sogleich die Frage auf, ob die Freiheitsschrift berechtigterweise in diesem Sinne als ›Einzelnes‹ angesprochen werden kann, macht doch Schelling schon in den ersten Zeilen seiner Untersuchung deutlich, dass der Begriff der Freiheit allein »im Zusammenhang [...] mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« zu begreifen und darzustellen sei.7 Gleichwohl ist Hegels kurze Notiz aufschlussreich, bringt sie doch nicht allein im Allgemeinen eine Wertschätzung der Freiheitsschrift zum Ausdruck, sondern spricht ihr einen spezifisch spekulativen Charakter zu – und verleiht mithin diesem Werk Schellings einen ›Ehrentitel‹, den Hegel sonst für sein eigenes Denken gebraucht.8 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Versuch skizziert ­werden, Hegels Phänomenologie und Schellings Freiheitsschrift in einer vornehmlich systematischen Perspektive miteinander ins Gespräch zu bringen. Es ist die leitende These der Untersuchung, dass in beiden 6 Hegel:

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 453. In der Ausgabe der Geschichte der Philosophie von Michelet sind offenkundig mehrere, aus unterschiedlichen Jahren stammende Dokumente ineinander gefügt, teils auch nacheinander abgedruckt. Vgl. zur Kompilationspraxis Karl Ludwig Michelet: Vorrede, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 1. Hrsg. v. Karl Ludwig Michelet. Berlin 1836, V–XVIII. – Die Parallelstelle des ›ersten Durchgangs‹ lautet: »Eine besondere Abhandlung über die Freiheit ist tiefer spekulativer Art; aber sie betrifft nur diesen einen Punkt.« (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 444). Diese Äußerung ist wohl auf 1825/26 zu datieren, findet sie sich doch fast wortgleich in den entsprechenden Nachschriften; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Hrsg. v. Pierre Garniron/Walter Jaeschke. Hamburg 1986. Bd. 9, Teil 4, 186. Im Folgenden zitiert als V mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 7 Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, SW VII, 331–416, hier: 336. Auf diese Bemerkung Hegels hat sich wiederholt Heidegger bezogen; vgl. bes. Martin Hei­ degger: Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Hrsg. v. Hildegard Feick. Tübingen 1971, 14–16, 25 sowie ders.: Die Metaphysik des Deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: ders.: Gesamtausgabe. Abt. II, Bd. 49. Hrsg. v. Günter Seubold. Frankfurt/M. 1991, 7–8. 8  Vgl. etwa Hegels programmatische Äußerung in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik: »In diesem Dialektischen, wie es hier genommen wird, und damit in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit, oder des Positiven im Negativen, besteht das Speculative« (Hegel: Wissenschaft der Logik (1832). Lehre vom Sein, GW 21, 40–41).

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Werken – wenngleich auf je verschiedene Weise – die Struktur des Absoluten aus einer Theorie der Differenz konzipiert wird. Dabei bezeichnet die Differenz in beiden Entwürfen, so die These, die interne Struktur des Absoluten. Es bedarf keines ›Anstoßes von Außen‹, keines Übergangs in ein Anderes oder Überschritts vom Unbedingten zum Bedingten, um das Absolute ins Verhältnis zur Differenz zu bringen. Vielmehr macht die Differenz die konstituierende Struktur des Absoluten selbst aus. Im Blick auf Hegels Phänomenologie gilt es, die Differenz als relationale Struktur auszuweisen, als ein durch die Negativität strukturiertes Sich-von-sich-Unterscheiden des Absoluten, das jede Konzeption einer unmittelbaren Einheit oder eines zugrundeliegenden Substrats verflüssigt. Bei Schelling hingegen ist die Differenz zum einen als intern-duale Differenz zweier ›ursprünglicher‹ Grundprinzipien zu charakterisieren; zum anderen aber ist sie als gleichsam ›exteriore‹ Differenz zu bestimmen, das heißt als Element uneinholbar vorgängigen Entzugs. Der Terminus ›Differenz‹ ist dabei zunächst aus pragmatischen Gründen gewählt: Sofern ihm in den beiden hier thematischen Werken selbst keine systematisch zentrale Funktion zukommt, kann er als anzeigender ›Oberbegriff‹ für verschiedene Konzeptionen gelten. Sodann aber soll der Begriff in geschichtlicher Perspektive anzeigen, dass das Denken des 20. Jahrhunderts dasjenige, was es erst gegen die klassische deutsche Philosophie meinte einklagen zu müssen – etwa unter dem Titel des ›Nichtidentischen‹ oder der ›irreduziblen Differenz‹ –, aus dieser in einer bestimmten Gestalt selbst schon hätte entnehmen können, und zwar nicht als bloß beiherspielendes Moment, sondern gleichsam im ›Fundament‹ ihrer Systementwürfe. Im Besonderen soll gezeigt werden, dass die Struktur der Differenz in den genannten Schriften die Art und Weise bedingt, in der jeweils die Bestimmung des Anfangs gefasst wird: In der Phänomenologie wie auch in der Freiheitsschrift ist das Absolute nicht als in sich vollendete und seiner selbst präsente Anfänglichkeit bestimmt; es schließt vielmehr – wiederum auf verschiedene Weise – teils die Notwendigkeit einer Bewegung (Schelling), teils bereits die Bewegung als solche in sich (Hegel). In beiden Werken wird mithin das Absolute ›in Bewegung gesetzt‹ und als geschichtliches Absolutes verstanden. Eine umfassende historische Klärung der Frage, ob Hegel sich in der Phänomenologie in der Tat auf Schelling und ob sich umgekehrt Schelling in der Freiheitsschrift tatsächlich auf Hegel beziehe, kann im vorgegebenen Rahmen nicht geleistet werden. Von den methodischen Problemen abgesehen, die die Frage nach dem ›eigentlich Gemeinten‹ eines Au-

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tors mit sich bringt, hätte eine solche Untersuchung erstens alle historischen Dokumente umfänglich auszuwerten, zweitens die weiteren und ohne Zweifel bedeutenden Kontexte beider Schriften einzubeziehen und drittens die Denkentwicklung Schellings und Hegels wenigstens ab 1801 nachzuzeichnen, um mögliche wechselseitige Bezugnahmen und ›Einflüsse‹ sichtbar zu machen.9 In der vorliegenden Studie kann im Rückgriff auf exemplarische Dokumente allein gezeigt werden, dass ein ›Wechselbezug‹ zwischen Hegel und Schelling um 1807 in historischer Hinsicht wenigstens nicht unplausibel ist. Das vornehmliche Anliegen besteht aber in dem Erweis, dass Schellings Freiheitsschrift, selbst wenn sie nicht als explizite Replik auf die Phänomenologie gelesen werden kann, doch eine sachliche Antwort auf Hegel enthält – und dies gerade in der benannten systematischen Hinsicht. Die folgende Darstellung gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil widmet sich Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes und untersucht zunächst die Polemik gegen eine ›unterschiedslose Einheit‹, sodann Hegels eigenen Begriff der Negativität. Der zweite Teil nimmt Schellings Freiheitsschrift und dort die Konzeptionen von Identität, Grund und Ungrund in den Blick.

1. Hegels Phänomenologie des Geistes a) Unterschiedslose Identität und intellektuelle Anschauung Zunächst gilt das Interesse Hegels Polemik in der Vorrede zur Phänomenologie, soweit diese für das Folgende wesentlich ist. Das Ziel ist dabei einerseits, die Kontrastfolie zu entfalten, vor der Hegel seinen eigenen Entwurf profiliert; andererseits gilt es, den Anknüpfungspunkt für die Konfrontation mit Schellings Freiheitsschrift zu gewinnen und dabei einen Dissens zwischen Hegel und Schelling 1807 in Ansätzen zu beleuchten. 9 

So muss es unter anderem Gegenstand einer gesonderten Untersuchung bleiben, eine implizite Divergenz schon in Schellings und Hegels Positionen 1801 auszuweisen. Diese Frage wäre allerdings gerade für die vorliegende Problemstellung bedeutsam, zeichnet sich doch bereits 1801 ein Unterschied eben in der Bestimmung der Differenz ab: Während Schelling, vornehmlich in kritischer Auseinandersetzung mit Fichte, das Wesen der absoluten Identität 1801 als ›differenzfrei‹ fasst, gelten Hegel schon in der Differenzschrift Identität und Nichtidentität als gleichursprünglich – wenngleich diese Abweichung von Schelling noch unausdrücklich bleibt. Vgl. dazu vorläufig Anmerkung 20, 21 und 46.

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Hegel beginnt die Vorrede bekanntlich mit der These, dass die »wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, [...] allein das wissenschaftliche System derselben seyn« könne – oder, was das gleiche sei, dass die »Wahrheit [...] an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz« habe.10 Dieses Verständnis des Wahren setzt Hegel nun von einer »Vorstellung und deren Folgen« ab, »welche eine so große Anmaßung als Ausbreitung in der Ueberzeugung des Zeitalters hat«.11 Grundlegendes Charakteristikum dieser ›Vorstellung‹ ist die Auffassung, dass das Wahre allein durch »unmittelbares Wissen des Absoluten«, »Anschauung« oder »Gefühl« – also gerade nicht durch den Begriff – zugänglich gemacht werden könne.12 Von der folgenden, offenkundig sehr weit gespannten Polemik Hegels – in der er durchweg die Gemeinten nicht mit Namen nennt – interessiert in diesem Zusammenhang nur die letzte, im 16. Absatz kritisierte Gestalt. Hegels Kritik gilt hier einem »einfärbige[n] Formalismus«, der die allein wahre und absolute Idee als unterschiedslose auffasse und dem mithin, so Hegel, »die Auflösung des Unterschiedenen und Bestimmten, oder vielmehr das weiter nicht entwickelte noch an ihm selbst sich rechtfertigende Hinunterwerfen desselben in den Abgrund des Leeren für speculative Betrachtungsart« gelte.13 Daran schließt sich die bekannte, viel zitierte Passage an: »Irgend ein Daseyn, wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sey zwar jetzt von ihm gesprochen worden, als von einem Etwas, im Absoluten, dem A = A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sey alles Eins. Dieß Eine Wissen, daß im Absoluten Alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntniß entgegenzusetzen, – oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntniß.«14 10 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 11–12. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 12. 12 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 12. 13 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 17. 14 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 17. Diese Polemik hat einen Vorläufer bei Schelling selbst, der in den Ferneren Darstellungen meines Systems von 1802 eine Auffassung des Absoluten als »eitel Nacht« kritisiert (Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW IV, 333–510, hier: 403, vgl. 403–405). Das Motiv findet sich aber auch bereits in Hegels Differenzschrift (vgl. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 1–92, hier: 16) und schließlich, als direkte Vorlage der zitierten Stelle, in Hegels so genanntem Wastebook 1803–1806 (vgl. ders.: Jenaer Notizbuch (1803–1806), GW 5, 483–508, hier: 503). 11 Hegel:

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Hegel kritisiert mithin eine Auffassung, die einseitig die unterschiedslose Identität für das Absolute ausgibt – und dabei eine jede Differenz ausschließen oder als bloß scheinbare einziehen muss, welche dem Absoluten ›an sich betrachtet‹ gar nicht zukomme. Im folgenden, 17. Absatz – der schon Hegels eigenen Entwurf profiliert – wird sodann die kritisierte Position mit dem Konzept der intellektuellen Anschauung identifiziert. Selbst wenn diese nämlich eine bloße Gegenüberstellung des Seins beziehungsweise der Substanz und des Denkens beziehungsweise Wissens überwinde, indem »das Denken das Seyn der Substanz als solche mit sich vereint und die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken erfaßt«, so kommt es nach Hegel »noch darauf an, ob dieses intellectuelle Anschauen nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt, und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt«.15 Das heißt: Sofern die intellektuelle Anschauung als unmittelbare zum Ausgangspunkt des Systems gemacht wird, steht diese wenigstens in der Gefahr, eben jener zuvor kritisierten unterschiedslosen Identität respektive ›trägen Einfachheit‹ zu verfallen. Es kann nun kein Zweifel sein, dass Hegel in der ›intellektuellen Anschauung‹ und der im Satz ›A = A‹ repräsentierten ›absoluten Identität‹ zwei Theoreme anspricht, die sich für den Leser notwendig – obgleich kein Name genannt wird – mit dem Ansatz Schellings verbinden. Was zunächst die intellektuelle Anschauung betrifft, so bezeichnet diese bekanntlich bei Schelling seit der Ich-Schrift von 1795 in unterschiedlicher Akzentuierung die privilegierte Zugangsweise zu einer Totalschau des Unbedingten.16 Noch in den Ferneren Darstellungen meines Systems von – Im Übrigen ist der Passus der Phänomenologie zwar oft genug zitiert worden, die genauen systematischen und historischen Hintergründe eines möglichen Bezugs auf Schelling sind aber bislang nicht umfassend aufgearbeitet. Vgl. zur Diskussion besonders Krings: Entfremdung, 16–19; Henry S. Harris: Naturphilosophie in the Breach between Schelling and Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 1989, 109–118; Masakatsu Fujita: Hegels Kritik an Schelling, in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Hans-Jürgen Gawoll/Christoph Jamme. München 1994, 211–219; Christoph Asmuth: Negativität. Hegels Lösung der Systemfrage in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, in: Synthesis Philosophica 43 (2007), 19–32, hier: 25–32; Christoph Lauer: The Suspension of Reason in Hegel and Schelling. London/New York 2010, 94–99. 15 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 16  Vgl. für die transzendentalphilosophische Bestimmung der ›intellektuellen Anschauung‹ bes. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie, in: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Abt. I, Bd. 2, 67–176, hier: 91, 94–95, 106. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. Vgl. auch

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1802 nennt Schelling die intellektuelle Anschauung »alleiniges Princip der höchsten Erkenntnißart«17 und »die absolute Erkenntnißart«18 – übrigens in unmittelbarem Zusammenhang mit einer »absolute[n] Einheit des Denkens und des Seyns«.19 Zum Begriff einer absoluten Identität, die Hegel als unterschiedslose kritisiert, sei hier nur beispielhaft auf eine Passage derselben Schrift verwiesen, in der es heißt: »Das Innere des Absoluten oder das Wesen desselben kann nur als absolute, durchaus reine und ungetrübte Identität gedacht werden. [...] Mithin folgt in Ansehung des Absoluten unmittelbar daraus, daß es absolut ist, auch die absolute Ausschließung aller Differenz aus seinem Wesen[.]«20 Dies belegt freilich nicht, dass sich bei Schelling die Identität allein in der von Hegel polemisch perspektivierten Weise verstehen lasse – so wäre insbesondere auf die Formel von der »Einheit der Einheit und des Gegensatzes«21 aus dem Bruno von 1802 und die Bestimmungen Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, AA I 3, 47–112, hier: 85–96 sowie ders.: System des transscendentalen Idealismus, AA I 9.1, 41, 58–60, 324–327. Vgl. für die auf die Naturphilosophie bezogene, objektive Bestimmung Schellings Text Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, AA I 10, 83–106, hier: 92. 17 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 354. 18 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 365. 19 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 365 Anmerkung. Vgl. im Ganzen ders.: Fernere Darstellungen, SW IV, 339–372. 20 Schelling: Fernere Darstellungen, SW IV, 374–375. Nicht zufällig zitiert Hegel gerade diesen Passus kritisch in der Geschichte der Philosophie, vgl. Hegel: Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 436–437. – Vgl. bes. auch Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 107–212, hier: 121–126. Dort bestimmt Schelling in der Tat das Wesen der absoluten Identität als ›differenzfrei‹ (vgl. bes. ders.: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 116–121); erst in der Form der Identität sei eine quantitative, mithin relative Differenz gegeben, nämlich die von Subjekt und Objekt (vgl. bes. ders.: Darstellung meines Systems der Philosophie, AA I 10, 124–126). – Auch zur ›quantitativen Differenz‹ findet sich in der Vorrede der Phänomenologie eine kritische Bemerkung, vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 33–34. 21 Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch, SW IV, 213–332, hier: 239. Vgl. dazu, gerade im Blick auf Hegel, Bernhard Rang: Identität und Indifferenz. Eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie. Frankfurt/M. 2000, 10, 29–31 sowie Manfred Durner: Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Manfred Durner. Hamburg 2005, VII–XLVIII, hier: XXX–XXXIII u. XLI. – Diese Formel lässt freilich merklich Hegels Bestimmung des Absoluten als »Identität der Identität und der Nichtidentität« aus der Differenzschrift anklingen (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 64). Diese findet sich bemerkenswerterweise gerade in der Darstellung Schellings, obschon sie mit dessen Ansatz 1801 nicht direkt übereinstimmt.

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von »Copula« und »Band« von 1806 zu verweisen.22 Deutlich wird aber durch die zitierten Partien, dass Hegel in der Vorrede den Eindruck erwecken muss, er kritisiere wenigstens eine Tendenz in Schellings eigener Philosophie – und nicht allein, wie er Schelling am 1. Mai 1807 mitteilt, dessen ›Nachredner‹. Hier schreibt nämlich Hegel recht knapp: »In der Vorrede wirst Du nicht finden, daß ich der Plattheit, die besonders mit Deinen Formen soviel Unfug und Deine Wissenschaft zu kahlem Formalismus herabtreibt, zu viel getan habe.«23 Dass aber die Polemik – was sich freilich historisch nicht letztgültig ›beweisen‹ lässt – entgegen dieser Beteuerung tatsächlich auf Schelling selbst zielt, wird durch eine Reihe von ›Indizien‹ wahrscheinlich. So werden erstens exakt dieselben Kritikpunkte in der gedruckten Geschichte der Philosophie nun explizit gegen Schelling ins Feld geführt.24 Zweitens soll Hegel bereits bei seinem ersten Vortrag unter diesem Titel in Jena 1805/06 mehreren Darstellungen zufolge Schelling ausdrücklich kritisiert haben; nach Gablers Bericht hat Hegel Schellings Philosophie dort als »unvollendeten« Ansatz bezeichnet und »insbesondere als Mangel desselben die ruhende unmittelbare Einheit der Gegensätze im Absoluten und die bloß quantitativ gefaßte Differenz« angeführt25 – also eben jene ›Mängel‹, die in der Phänomenologie dann ohne 22 Vgl.

bes. Schelling: Von der Weltseele, SW II, 345–584, hier: 359–377; ders.: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre, SW VII, 1–126, hier: 54–64. Vgl. dazu Thomas Buchheim: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie. Hamburg 1992, 72–89; Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität. Frankfurt/M. 1995, 122–126. – Vgl. allerdings die These Buchheims, dass die Kritik der Phänomenologie insbesondere auf Schellings Anti-Fichte von 1806 reagiert (Buchheim: Schellings Reaktion, 307–310). Wenigstens die Polemik gegen die ›unterschiedslose Identität‹ verweist aber sichtlich auf Schellings Identitätsphilosophie seit 1801 zurück. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1.5.1807, in: Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg ²1961. Bd. 1, 162. Im Folgenden zitiert als Briefe mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 24  Vgl. zur ›intellektuellen Anschauung‹ Hegel: Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 427–428, 432–434, 438–440, 451 und ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, V 9, 180–181; vgl. zur ›unterschiedslosen Identität‹ ders.: Geschichte der Philosophie III, TWA 20, 434–437, 440 und ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, V 9, 182, 185. 25  Heinz Kimmerle (Hrsg.): Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801– 1807), in: Hegel-Studien 4 (1967), 21–99, hier: 70. Ähnliche Aussagen finden sich auch bei Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Berlin 1844, 201–202 sowie Carl Friedrich Bachmann: Ueber Hegel’s System und die Nothwendigkeit einer nochmaligen

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Namensnennung moniert werden. Selbst wenn man diese Darstellungen einer ›tendenziösen‹ und nachträglichen Konstruktion der ›Hegelianer‹ verdächtigen möchte, so findet sich drittens bereits in Hegels Jenaer Systementwurf von 1804/05 eine scharfe Kritik der bloß äußerlichen ›quantitativen Differenz‹, gegen welche Hegel den ›absoluten Gegensatz‹ profiliert26 – eine Kontrastierung, die eine Abstandnahme Hegels von Schelling bereits vor der Phänomenologie höchst wahrscheinlich macht, und zwar gerade in der Frage der Differenz. Im vorliegenden Zusammenhang beredt ist schließlich die Antwort, die Schelling Hegel erst mit der Verzögerung eines halben Jahres zukommen lässt, merkt er doch in deutlich distanziertem Ton an, »in dieser Schrift selbst« werde der Unterschied zwischen ihm und seinen »Nachschwätzer[n]« keineswegs vorgenommen.27 Darauf fährt Schelling recht drastisch fort: »Das, worin wir wirklich verschiedener Ueberzeugung oder Ansicht sein mögen, würde sich zwischen uns ohne Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen; denn versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den Begriff der Anschauung opponierst. Du kannst unter jenem doch nichts anderes meinen, als was Du und ich Idee genannt haben, deren Natur es eben ist, eine Seite zu haben, von der sie Begriff, und eine, von der sie Anschauung ist.«28

Umgestaltung der Philosophie. Leipzig 1833, 127; vgl. dazu Fujita: Hegels Kritik, 212–213. Allerdings ist die Übereinstimmung von Rosenkranz und Gabler wohl auch dadurch zu erklären, dass der erstere den Bericht des letzteren angeregt hat; vgl. Kurt Rainer Meist: Editorischer Bericht, in: Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 5, 549–745, hier: 738. – Nach Michelet beruht zudem der gedruckte Text der Geschichte der Philosophie in einem erheblichen Maße auf dem allein schriftlich ausformulierten ›jenaischen Heft‹ von 1805/06; vgl. Michelet: Vorrede, V–VII. 26 Vgl. bes. Hegel: Jenaer Systementwürfe II, GW 7, 15–17. Den Bezug zu Schelling stellen auch her: Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986, 245; Rainer Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen. Hamburg 2001, 105–110. 27 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3.11.1807, Briefe I, 194. 28 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 3.11.1807, Briefe I, 194. Mit der letzten Wendung spielt Schelling offenbar auf die Differenzschrift an, in der Hegel selbst noch vom Wissen als Einheit von »Reflexion und Anschauung« beziehungsweise »Begriff und Seyn« spricht (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 27–28). – Auf die ›Unversöhnlichkeit‹ in Schellings Antwort insistiert zu Recht Buchheim: Schellings Reaktion, 306.

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Unabhängig davon, ob also Hegel tatsächlich Schelling selbst ›gemeint‹ hat, sieht dieser sich offenbar wenigstens von einem Teil der Polemik – nämlich der ›Opposition‹ zur intellektuellen Anschauung – direkt angegriffen, und konstatiert einen ›unversöhnlichen‹ Gegensatz. Dafür spricht über den Brief hinaus auch das folgende Werk Schellings: Bemerkenswerterweise fehlt nämlich die ›intellektuelle Anschauung‹ in den Schriften um 1809 beinahe ganz;29 in den Weltaltern und den Erlanger Vorlesungen grenzt sich Schelling dann explizit von einem Missverständnis dieses Begriffs ab und bestimmt ihn wesentlich neu.30 Bis zuletzt wird er immer wieder auf diesen Streitpunkt zurückkommen, und noch in der Berliner  Vorlesung 1841/42 weist Schelling in seiner e ­ igenen Kritik Hegels darauf hin, er habe in der Darstellung meines Systems von 1801 den Begriff ›intellektuelle Anschauung‹ überhaupt nicht verwendet.31 So wie aber der späte Schelling nicht näher auf Hegels Kritik einer ›unterschiedslosen Identität‹ eingeht und den zentralen Terminus aus Hegels ›Antwort‹, nämlich die Negativität, kaum auch nur erwähnt,32 so schweigt er sich bereits im Brief von 1807 über diesen Aspekt aus. Gleichwohl liegt gerade hier – so die These – der systematisch tiefste Punkt der Auseinandersetzung: Hegels Kritik an der ›intellektuellen Anschauung‹ ist systematisch eine nachgeordnete; sie richtet sich gegen ein methodisches Verfahren, das notwendig zu einem unterschiedslosen Absoluten hinführe beziehungsweise dieses impliziere. Einem solchen Begriff ›abstrakter‹ Identität aber gilt Hegels vornehmliche Kritik – dies zeigt insbesondere sein folgender Entwurf in eigener Sache. 29  Vgl.

in der Freiheitsschrift nur die knappe Wendung »Gott schaut die Dinge an sich an« (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 347) – die aber kaum mehr Schellings früherer Akzentuierung der Anschauung entspricht. 1810 bezieht Schelling den Begriff nur abgrenzend auf Fichte, vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen. Version inédite, accompagnée du texte des oeuvres. Hrsg. v. Miklós Vetö. Turin 1973, 105. – Dieses signifikante ›Ausfallen‹ der intellektuellen Anschauung ab 1807 konstatiert auch Buchheim: Schellings Reaktion, bes. 311–312, 314. 30 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen v. 1811 u. 1813. Hrsg. v. Manfred Schröter. München 1946, Teil III, 214. Im Folgenden zitiert als WA mit Angabe des Teiles in römischen Zahlen; ders.: Initia Philosophiae Universae. Erlanger Vorlesung WS 1820/21. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1969, 39–40 und Schelling: Erlanger Vorträge, SW IX, 207–252, hier: 229–230. 31  Vgl. Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42, 122–126, hier: 124 und Kierke­ gaard: Notizbuch 11, 343–344. 32 Vgl. allenfalls Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 131, 155, wo aber auch der Begriff der Negation von Schelling kritisch überformt ist. Diese ›Auslassung‹ ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil Schelling in seiner späten Kritik Hegels ja durchweg mit dem Begriffspaar von negativer und positiver Philosophie operiert.

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b) Negativität Im unmittelbaren Anschluss an die skizzierte Polemik entfaltet nun Hegel kontrastierend seinen eigenen Ansatz. Diese Entwicklung beginnt bekanntlich folgendermaßen: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.«33 In der Art und Weise, in der nun Hegel den Begriff des Subjekts auffasst, zeigt sich sein Gegenentwurf zum Gedanken einer unterschiedslosen Einheit des Wahren wie auch seine eigene Konzeption des Absoluten als Differenz. Zunächst meint hier Subjektivität offenkundig nicht die Bezugnahme eines ›wissenden‹, gleichsam ›transzendentalen‹ Subjekts auf das Absolute, sondern die Struktur des Absoluten selbst. Sodann ist mit dem Begriff der Subjektivität aber auch keineswegs eine unmittelbare, womöglich nach dem Modus der Anschauung konzipierte Selbstpräsenz des Absoluten oder eine unmittelbare Gewissheit seiner selbst gedacht. Im Gegenteil bedeutet die spezifisch hegelsche Fassung der Subjektivität vielmehr die Auflösung einer jeden reinen Unmittelbarkeit. Formelhaft ließe sich Hegels Gedanke womöglich derart zum Ausdruck bringen: ›Subjektivität ist eine Struktur, die zugleich ein Sich-auf-sichBeziehen und ein Sich-von-sich-Unterscheiden in sich schließt.‹34 Wird diese Formel kürzer so ausgedrückt: ›Das Subjekt bezieht sich auf sich‹, so bezeichnet das erste, reflexive ›sich‹ das Verhältnis oder den Zusammenhang, das zweite, an die Objektstelle gerückte ›sich‹ die Differenz. In der Struktur der Subjektivität ist bereits ihr Anderes oder ihr ›Sich-Anderswerden‹ gegeben – wohlgemerkt nicht als äußeres oder von Außen hinzutretendes Anderes, sondern als eine Differenz, die im Begriff der Subjektivität selbst unmittelbar gegeben ist. Aus diesem Grund kann Hegel im folgenden, 18. Absatz sagen, die nun als Subjekt gedachte lebendige Substanz ist die »reine einfache Negativität« und eben damit – dies ist eine zentrale Bestimmung – die »Entzweyung des Einfachen«.35 33 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. für eine verwandte Formulierung (in Bezug auf das Bewusstsein) auch Jürgen Stolzenberg: Geschichten des Selbstbewusstseins. Fichte – Schelling – Hegel, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen/Volker Gerhardt/Walter Jaeschke. Hamburg 2009, 27–49, hier: 41. 35 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 34 Vgl.

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Das Wahre, als Subjekt gedacht, ist insofern zunächst nicht Identität, sondern deren gerades Gegenteil, Entzweiung oder Differenz. Gleichwohl denkt Hegel nicht eine diffundierende Auflösung oder Dissoziation des Subjekts. Das Subjekt erweist sich nicht bloß, Differenz zu sein, es wird vielmehr sich selbst zum Anderen – und wahrt gerade darin das Verhältnis oder den Zusammenhang mit sich. Der »Entfremdung« im Sich-Anders-Werden entspricht so die Rückkehr zu sich oder die »sich wiederherstellende Gleichheit«.36 Eben aus diesem Grund verwendet Hegel den Terminus der Negativität – meint diese doch nicht bloß den Unterschied zweier ›gleichgültiger‹ und bezugsloser Differenten, sondern die Differenz als selbstbezügliche Relation. Hegel denkt also in der Tat eine Identität des Subjekts mit sich selbst, aber eben nicht als unmittelbare Einheit, sondern als Identität, die je schon durch die Differenz strukturiert ist, das heißt als eine »Vermittlung« und »sich bewegende Sichselbstgleichheit«.37 Darin zeigt sich die Struktur relationaler und zugleich interner Differenz des Absoluten in Hegels Phänomenologie. Die Bewegung der Differenz oder des Sich-Differenzierens kommt nicht dadurch zuwege, dass das Absolute aus sich heraustritt und in ein Anderes übergeht, sie macht vielmehr als reflexives Selbstverhältnis seine eigene Struktur aus. Zugleich aber ist die Bewegung nicht als eine solche gedacht, die von einem fixierten Punkt ausginge oder ein anfänglich Ruhendes in Bewegung setzte. Das Absolute ist vielmehr in sich die Bewegung der Differenz, der kein statisches Substrat zu Grunde liegt, – und das bedeutet zugleich: Die Bewegung der Differenz ist immanent und unhintergehbar, sie ist irreduzibel. Aus den mannigfachen systematischen Konsequenzen, die in diesem Ansatz liegen, und die von Hegel im Folgenden entwickelt werden, können hier in aller Kürze nur zwei angezeigt werden. Erstens betrifft die Struktur relationaler Differenz die Art und Weise, in welcher der Anfang verstanden wird, dessen Dialektik Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie umrisshaft entwickelt.38 Diese Auffassung deutet sich 36 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. 38  Die ›klassische‹ und von der Forschung ausführlich diskutierte Darstellung des Anfangs findet sich freilich in der Logik, wird aber hier schon vorweggenommen. Vgl. dazu bes. Andreas Arndt: Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der Wissenschaft der Logik, in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven. Hrsg. v. Andreas Arndt/Christian Iber. Berlin 2000, 126–139; Anton Friedrich Koch: Sein – Nichts – Werden, in: Hegels Seinslogik. Hrsg. Arndt/Iber, 140–157; Lore Hühn: Zeitlos vergangen. Zur inneren Temporalität des Dialektischen in Hegels Wissenschaft der Logik, in: 37 Hegel:

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schon im eben zitierten 18. Absatz an, wenn Hegel sagt, das »Wahre« sei »nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst«, und nicht »eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche«.39 Sofern nicht von einem gleichsam ›ruhenden‹ Absoluten ausgegangen werden kann, ist jegliche Konnotation des Anfangs mit dem Prinzip oder Ursprung unmöglich gemacht. Vor diesem Hintergrund wendet sich nun Hegel gegen eine jede Philosophie, die von einem Grundsatz oder einem Prinzip ausgeht. Es sei nämlich, wie Hegel recht lakonisch bemerkt, »ein sogenannter Grundsatz oder Princip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch [...], weil er Grundsatz oder Princip ist«; und weiterhin sei es »leicht, ihn zu widerlegen«, sofern er bloß Anfang sei.40 Das Mangelhafte des anfänglichen Prinzips bestehe darin, dass es nur das »Allgemeine« oder das »[U]nmittelbar[e]« darstelle41 – noch nicht aber die entwickelte und ausgeführte Bewegung des sich in der Differenz zu sich Verhaltens. Diese Widerlegung des Anfangs hat allerdings Hegel zufolge eine doppelte Seite, sie ist »ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn, nemlich gegen seine einseitige Form«, zugleich aber seine positive »Entwicklung«, die notwendig aus dem Anfang fortschreiten muss; oder sie verwirklicht, was im Anfang bloß erst als »Zweck« gegeben ist.42 Das heißt: Der Anfang bleibt – entsprechend Hegels Konzeption der sich bewegenden Sichselbstgleichheit – nicht einfach als Erstes und der folgenden Bewegung Transzendentes oder Vorausgehendes stehen, sondern wird in die differentielle Bewegung hineingenommen und damit zugleich transformiert. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Hegel die Selbstbewegung des Absoluten und die Dialektik des Anfangs schon innerhalb der Subs­ tanz-Subjekt-These mit einer – obschon knappen – Bemerkung zur Struktur des Satzes verbindet. Hierbei kommt Hegel nochmals auf seine Polemik gegen eine unmittelbare Anschauung zurück, die die Refle­xion als bloß der Endlichkeit zugehörende aus der Sichselbstgleichheit des Absoluten ausschließen wolle. Es falle nämlich auf, so Hegel, dass die Der Sinn der Zeit. Hrsg. v. Emil Angehrn. Weilerswist 2002, 313–331; Stephen Houl­ gate: The Opening of Hegel’s Logic. From Being to Infinity. West Lafayette 2006. 39 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 40 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 21. Die Kritik des Grundsatzes verweist freilich auf Reinhold und besonders auf Fichte; vgl. dazu schon die Differenzschrift (Hegel: Differenzschrift, GW 4, 23–27, 37–40). Die Rede vom ›Prinzip‹ könnte sich allerdings auch auf Schellings absolute Identität beziehen. 41 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 21. 42 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 21.

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bloßen »Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen u.s.w. das nicht aussprechen, was darin enthalten ist; – und nur solche Worte drücken in der That die Anschauung als das Unmittelbare aus«.43 Der unmittelbare, rein substantivische Ausdruck des Absoluten sagt gar nicht das, was er sagen soll – er sagt im Grunde überhaupt nichts. Daran schließt Hegel die folgende Bemerkung an: »Was mehr ist, als ein solches Wort, der Uebergang auch nur zu einem Satze, ist ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung.«44 Das heißt: Die Struktur des (spekulativen) Satzes selbst enthält die relationale Negativität; indem etwas von etwas ausgesagt wird, ist eine Differenz zwischen Subjekt und Prädikat gesetzt – eine Differenz, die aber ›zurückgenommen werden‹ muss, sofern der Satz zugleich ein Verhältnis seiner Glieder zum Ausdruck bringt. Ist der Satz im Sinne Hegels spekulativ gedacht, so wird – wie aus weiteren Partien der Vorrede erhellt45 – allerdings auch nicht ›räsonierend‹ einem ruhenden Subjekt eine Reihe austauschbarer und ihm gleichgültiger Prädikate beigelegt. Vielmehr macht das Subjekt selbst im Satz eine Bewegung und vermittelt sich mit dem Gehalt, der ihm zugesprochen oder mit seinem Wesen, das im Prädikat von ihm ausgesagt wird. Ist derart eine Einheit von Subjekt und Prädikat angezeigt, so ist diese Einheit aber wiederum keine unmittelbare, sondern eine Bewegung, die allein als Zurücknahme des SichAnderswerdens zu fassen ist – freilich einmal mehr eines ›internen‹ Anderswerdens, das nicht als Konfrontation des Subjekts mit einem ihm bloß Äußeren missverstanden werden darf. Mithin ist festzuhalten: Die Struktur des Satzes ist, spekulativ begriffen, keineswegs Darstellung einer unmittelbaren Identität, wie sie etwa in der Formel ›A = A‹ ausgedrückt sein soll46 – sie ist vielmehr die sich bewegende und durch die Differenz sich vermittelnde Sichselbstgleichheit, die Hegel bereits als Struktur des Absoluten ausgewiesen hatte.

43 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. 45 Vgl. bes. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 20–21 Absatz 20, sowie die näheren Ausführungen zum spekulativen Satz, Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 42–45. Vgl. dazu und zur Diskussion des Forschungsstandes Schäfer: Dialektik, 177–193. 46 Vgl. dazu allerdings die bemerkenswerte Interpretation des Satzes ›A = A‹ in der Differenzschrift. Hier legt Hegel die Formel als Antinomie aus, die zugleich Identität und Differenz in sich enthalte (vgl. Hegel: Differenzschrift, GW 4, 24–27). 44 Hegel:

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2. Schellings Freiheitsschrift a) Kopula und Einerleiheit Nimmt man vor diesem Hintergrund Schellings Freiheitsschrift in den Blick, so zeigt sich zunächst ein Unterschied in der Anlage beider Werke. Während nämlich Hegels Vorrede zur Phänomenologie gleichsam einen abbreviatorischen Vorbegriff seines systematischen Ansatzes im Ganzen exponiert, scheint Schelling in der Frage nach der menschlichen Freiheit ein sehr viel spezifischeres Problem in den Blick zu nehmen. Sogleich aber wird deutlich, dass Schelling keineswegs gedenkt, dieses Problem als spezifisches zu behandeln; vielmehr muss der »Begriff der Freiheit [...], wenn er überhaupt Realität hat, kein bloß untergeordneter oder Nebenbegriff, sondern einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems seyn«.47 Bekanntlich beleuchtet Schelling den mutmaßlichen Widerspruch, der zwischen Freiheit und System bestehe, durch eine Diskussion des Pantheismus, ist doch dieser als Lehre von der »Immanenz der Dinge in Gott« im geläufigen Verständnis mit der (menschlichen) Freiheit unvereinbar.48 Bereits in dieser einleitenden Diskussion kommt nun Schelling auf den Begriff der Identität zu sprechen und zwar derart, dass seine Erläuterung – so die These – als sachliche Antwort auf Hegels Polemik gegen eine ›differenzlose Einheit‹ gelesen werden kann.49 Eine der Fehlinterpretationen des Pantheismus bestehe nämlich in der Annahme einer »völligen Identification Gottes mit den Dingen«; der »Grund« dieser und aus ihr folgender »Mißdeutungen« aber liege »in dem allgemeinen Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des Sinns der Ko47 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 336. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 339. 49  Um diese These historisch einzulösen, wären freilich die weiteren Kontexte der Freiheitsschrift mit einzubeziehen. Schelling selbst nennt hier mehrfach F. Schlegels Indier-Buch (vgl. bes. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 338 Anmerkung), in der Passage zur Identität auch Reinhold und Leibniz (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 342–343 Anmerkung). Gleichwohl ist es signifikant, dass Schelling gerade im unmittelbar auf die Phänomenologie folgenden Werk den Begriff der Identität neu durchdenkt und diese Überlegungen in den folgenden Schriften auch weiterführt. Vgl. in den Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 417–486, hier: bes. 421–424, in den Weltaltern bes. WA I, 90–92, WA II, 128–129 und Schelling: Die Weltalter, SW VIII, 195–345, hier: 213–214. Vgl. zu Letzterem Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt/M. ²1995, 118–132; Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«. Frankfurt/M. 1989, 81–83. 48 Schelling:

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pula im Urtheil«.50 Wie Hegel 1807 verbindet also Schelling die Frage nach der Identität mit der Struktur des Satzes. Und es liest sich geradezu wie ein Echo auf Hegels zwei Jahre zuvor erschienene Polemik, wenn Schelling nun den Begriff der Identität scharf von der Vorstellung einer »Einerleiheit« abgrenzt – zumal er neben dem System Spinozas auch von Fehldeutungen »andere[r] Systeme« gerade »zu unsrer Zeit« spricht.51 Ein solches Missverständnis der Identität als Einerleiheit verrate vielmehr – und dieser Ausdruck ist bemerkenswert – einen hohen Grad »dialektischer Unmündigkeit«.52 Trotz dieses Anklangs denkt aber Schelling in eigener Sache das Urteil nicht nach dem Muster von Hegels spekulativem Satz, sondern entwickelt in der Folge eine höchst eigenständige Antwort. Das erste von Schelling zur Erläuterung des ›wahren‹ Begriffs der Identität angeführte Beispiel ließe sich allerdings noch demjenigen Verständnis der Prädikation zurechnen, das Hegel als ›räsonierend‹ zurückweist: Der Satz »dieser Körper ist blau« habe, so führt Schelling aus, nicht den Sinn, »der Körper sey in dem und durch das, worin und wodurch er Körper ist, auch blau, sondern nur den, dasselbe, was dieser Körper ist, sey, obgleich nicht in dem nämlichen Betracht, auch blau«.53 Hier wird zwar keine schlechthinnige Einerleiheit von Subjekt und Prädikat ausgesagt – das Prädikat ist aber in jener ›gleichgültigen‹, also äußerlichen Weise dem ruhenden Subjekt (oder: der Substanz) ›angeheftet‹, gegen die Hegel polemisiert. In der Tat soll dieses simple Beispiel auch nur auf die »höhere Anwendung des Identitätsgesetzes« vorbereiten.54 Diesbezüglich nennt Schelling nun drei weitere Sätze: »das Vollkommene ist das Unvollkommene«; »das Gute ist das Böse«; »Nothwendiges und Freies [sind] als Eins«.55 An dieser Stelle erst kann im starken Sinne von Identitätssätzen gesprochen werden – und es ist deutlich, dass Schelling auch hier die Vorstellung einer bloßen ›Einerleiheit‹ zurückweist. Die Auflösung, auf welche Weise in diesen Sätzen die Identität tatsächlich zu verstehen sei, zeigt nun konkreter eine spezifische, von Hegel verschiedene Vorgehensweise, nämlich im Motiv einer Über- und Unterordnung: »das 50 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW  VII, 340–341. Vgl. zu dieser Passage ausführlich Peetz: Freiheit im Wissen, 83–129. Intensiv interpretiert wird diese Stelle auch von Heidegger: Schellings Abhandlung, 89–104. 51 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 52 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 342 (Hvh. v. Verf.). 53 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 54 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341. 55 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341–342.

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Unvollkommene ist nicht dadurch, daß und worin es unvollkommen ist, sondern durch das Vollkommene, das in ihm ist«; oder: »das Böse hat nicht die Macht, durch sich selbst zu seyn; das in ihm Seyende ist das (an und für sich betrachtet) Gute«; oder: »dasselbe (in der letzten Instanz), welches Wesen der sittlichen Welt ist, sey auch Wesen der Natur«.56 Gerade die in Klammern gegebenen Zusätze ›in der letzten Instanz‹ und ›an und für sich betrachtet‹ zeigen, dass das eine Glied des Satzes hier auf das andere zurückgeführt oder aus ihm abgeleitet wird – und nicht zufällig sagt dann auch Schelling, die »alte, tiefsinnige Logik« habe »Subjekt und Prädicat als vorangehendes und folgendes (antecedens und consequens)« gefasst und »damit den reellen Sinn des Identitätsgesetzes aus[gedrückt]«.57 Mit anderen Worten: Schelling denkt das Identitätsgesetz und das ›ist‹ des Urteils als ›Verbindung‹ von Grund und Folge. So heißt es auch ausdrücklich wenig später: »Schon im Verhältniß des Subjekts zum Prädicat haben wir das des Grundes zur Folge aufgezeigt, und das Gesetz des Grundes ist darum ein ebenso ursprüngliches wie das der Identität.«58 Dieses Motiv von Grund und Folge also bezeichnet zunächst die interne Differenz, die die Identität strukturiert. Auch Schelling versteht in der Freiheitsschrift – gerade entgegen Hegels Polemik, wenngleich anders als dieser selbst – die Identität als in sich differenzierte Relation. Es ist deutlich, dass Schelling sich in der Einleitung vornehmlich an der Lehre von der ›Immanenz der Dinge in Gott‹ abarbeitet und eben letzteren als Grund, die ersteren als Folge auslegt. An der soeben zitierten Stelle kommt aber erstmals die entscheidende Frage nach der Identität Gottes selbst in den Blick – und wieder liest sich Schellings Abweisung einer Einerleiheit wie ein Widerklang von Hegels Polemik: »Dieses Princip [das Identitätsgesetz, v. Verf.] drückt keine Einheit aus, die sich im Kreis der Einerleiheit herumdrehend, nicht progressiv, und darum selbst unempfindlich und unlebendig wäre. Die Einheit dieses Gesetzes ist eine unmittelbar schöpferische. [...] Das Ewige muß deßwegen unmittelbar, und so wie es in sich selbst ist, auch Grund seyn.«59 Gerade die lebendige Einheit der Identität soll als progressive, mithin bewegliche ausgewiesen werden – und dies in Schellings Zugriff dadurch, dass das Ewige unmittelbar und in sich schöpferischer Grund ist. 56 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 341–342. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 342. 58 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 345–346. 59 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 345–346. 57 Schelling:

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b) Grund, Existierendes und Dualität Die Hauptuntersuchung der Schrift entfaltet nun den soeben angedeuteten Punkt näher, indem sie den Fokus auf die Struktur Gottes richtet und bekanntlich unterscheidet »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«.60 In Gott selbst scheinen diese beiden Seiten zusammenzufallen: Sofern »nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben«.61 Die Pointe Schellings besteht aber nun darin, dieses Zusammenfallen als Unterschied sichtbar zu machen. Strukturell verwandt dem Vorgehen Hegels wird hier nachgewiesen, dass eine vermeintlich unmittelbare Einheit in der Tat wesentlich als Differenz zu verstehen sei. Dabei zielt Schelling aber nicht, wie Hegel, direkt auf die Sichselbstgleichheit, sondern – gemäß seinen Ausführungen zum Identitätsgesetz – auf die Selbstbegründung. Die Tradition habe zwar bereits Gott als Grund seiner selbst gedacht (als causa sui), diesen Grund aber als »bloßen Begriff« aufgefasst und ihn nicht zu »etwas Reellem und Wirklichem« gemacht.62 Indem nun Schelling den Grund in Gott als »von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen« und als dasjenige versteht, »was in Gott selbst nicht Er Selbst ist«,63 denkt er eine interne, und zwar näher duale Differenz in Gott.64 Auch hier entsteht – wie bei Hegel, wenngleich auf gänzlich verschiedene Weise – die Differenz nicht erst durch eine ›Entäußerung‹, durch einen ›Abfall‹ oder erst durch die Schöpfung, vielmehr konzipiert Schelling eine unhintergehbare ›Trennung‹ in Gott selbst. Die duale Differenz von Gott als Grund und Gott als Existierendem ist gewissermaßen Schellings ›Entzweiung des Einfachen‹.

60 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357. Vgl. hierzu auch Lore Hühn: Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einleitung, in: Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings Freiheitsschrift (1927/28) und die Akten des Internationalen SchellingTags 2006. Hrsg. v. Lore Hühn/Jörg Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, 3–44, hier bes.: 4–5, 30–31. 61 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 357. 62 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 358. 63 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 359. 64  Diese Formulierung schließt an Hermannis These eines ›internen Dualismus in Gott‹ an, vgl. Friedrich Hermanni: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie. Wien 1994, bes. 73–113. – Dass gerade in dieser Konzeption einer dualen beziehungsweise ›polaren‹ Differenz ein wesentlicher Unterschied zu Hegel liegt, erläutert Krings: Entfremdung, 16–19.

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Gleichwohl unterscheidet sich Schellings Konzeption offenkundig von derjenigen Hegels. Denkt nämlich Hegel die Differenz als prozessuale Negativität, als sich vermittelnde Selbstbewegung und mithin als Auflösung eines Prinzips überhaupt, so leitet Schelling aus dem Unterschied in Gott eine durch die Differenz strukturierte Einheit von »zwei Principien« ab – die Dualität von Prinzip des Grundes und Prinzip des Verstandes.65 Diese Zweiheit möchte aber Schelling wohlgemerkt nicht als einen »absoluten Dualismus« verstehen,66 sondern im Sinne der skizzierten Auffassung der Identität als Kopula: Der »einzig rechte Dualismus« sei derjenige, »welcher zugleich eine Einheit zuläßt«.67 Obschon die als duale Differenz strukturierte Einheit von Hegels Gedanken klar absticht, kommt Schelling doch in ihrer näheren Ausführung einigen Aspekten von Hegels Konzeption wieder nahe. Das Verhältnis der zwei Prinzipien stellt Schelling als Prozess, und zwar als Prozess einer schrittweise geschehenden »Scheidung der Kräfte« dar68 – und bemerkenswerterweise nennt er seine Erörterung der Dualität selbst mehrfach ›dialektisch‹.69 In diesem Zusammenhang findet sich am Schluss der ganzen Abhandlung die folgende Partie zum Verhältnis von Grund und Verstand: »Aber nur der Verstand ist es, der das in diesem Grunde verborgene und bloß potentialiter enthaltene herausbildet und zum Actus erhebt. Dieß kann nur durch Scheidung geschehen, also durch Wissenschaft und Dialektik, von denen wir überzeugt sind, daß sie allein es seyn werden, die jenes öfter, als wir denken, dagewesene, aber immer wieder entflohene, uns allen vorschwebende und noch von keinem ganz ergriffene System festhalten und zur Erkenntniß auf ewig bringen werden. Wie wir im Leben eigentlich nur kräftigem Verstande trauen [...], so kann auch, wo es sich von Wahrheit und Erkenntniß handelt, die Selbstheit, die es bloß bis zum Gefühl gebracht hat, uns kein Vertrauen abgewinnen. Das Gefühl ist herrlich, wenn es im Grunde bleibt; nicht aber, wenn es an den Tag tritt, sich zum Wesen machen und herrschen will.«70 65 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 368 (Hvh. v. Verf.). Vgl. dazu auch ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, 438. 66 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406, vgl. auch 354–355, 411–412. 67 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 359 Anmerkung. 68  Vgl. bes. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 361–362. 69  Vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 400–401, 407–408, 414–415. Vgl. dazu Fujita: Phänomenologie und Freiheitsschrift, 119–120. 70 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 413–414.

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Hier überlagern sich Nähe und Distanz zwischen Schelling und Hegel in eigentümlicher Weise. Der zitierte Passus liest sich nachgerade als bestätigendes, zugleich aber zweifellos eigenständiges Echo auf Hegels Polemik gegen die ›Gefühlsphilosophie‹. Obschon Schelling dem Gefühl durchaus eine ›untergeordnete‹ Bedeutung zuspricht, wird wie bei Hegel der unterscheidenden dialektischen Wissenschaft – und allein dieser – die Darstellung des ›lang gesuchten‹ Systems überantwortet. Dabei ist aber der Horizont gegenüber Hegel gänzlich verwandelt: Die Bestimmung des Dialektischen schreibt sich in Schellings leitende, duale Unterscheidung von Grund und Existierendem ein. Schließlich deutet die zitierte Rede vom ›im Grunde Verborgenen‹ ein Charakteristikum in Schellings Konzeption an, das sich noch weitreichender vom Ansatz Hegels entfernt. Dieses Element zeigt sich erst dann, wenn auf das eine der beiden Prinzipien reflektiert wird. Bereits der Grund selbst ist nämlich in einem bestimmten Sinne als Differenz zu fassen. Im Blick auf die Dinge und Weltwesen führt Schelling aus, der Grund als »unergreifliche Basis« ihrer Realität sei das »Regellose[]« und der »der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt«.71 Das heißt, auf die interne Differenz Gottes zurückbezogen: Nicht nur wird hier keine unmittelbare und ununterschiedene Einheit gedacht, vielmehr ist eines der beiden Glieder selbst als uneinholbarer Entzug und Aufschub gefasst. Sofern der Grund gleichsam als ›Reserve‹ verstanden wird, die sich der Auflösung in eine unterschiedslose Identität und Sichselbstgleichheit widersetzt, ist schon eines der Glieder von Schellings Unterscheidung selbst als Differenz zu denken – und zwar als Exteriorität und Alterität.

c) Ungrund Nun ist aber die Unterscheidung von Grund und Existierendem nicht der »höchste[]« oder – wenn man so will: tiefste – »Punkt« der Freiheitsschrift,72 und Schelling setzt auch an keiner Stelle des Werks unmittelbar Gott mit dem ›Absoluten‹ gleich. Dieser Begriff fällt allerdings in den letzten Passagen der Schrift. Im Gedanken eines ›Wesens‹ und ›Urgrundes‹, das der dualen Unterscheidung von Grund und Existierendem noch vorausgeht, scheint Schelling auf jene Gestalt 71 Schelling: 72 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 359–360. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406.

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differenzloser Einheit zurückkommen zu müssen, die Gegenstand von Hegels Polemik gewesen ist. In der Tat ist dies aber nicht der Fall. Schon die Einführung des »schlechthin betrachtete[n] Absolute[n]« ist bemerkenswert:73 Schelling leitet zum Absoluten durch eine doppelte Frage und einen Satzabbruch hin, stellt ausdrücklich seine Benennbarkeit in Frage und korrigiert den zunächst verwendeten Ausdruck »Urgrund«: »Sie [die Liebe] ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen? [...] [W]ie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund?«74 In doppelter Wendung umkreist Schelling die ›Ungreifbarkeit‹ des entzogenen Ersten; statt zu einer unmittelbaren Selbstpräsenz und ungetrübten Identität des Absoluten zurückzugehen, verschärft Schelling vielmehr die Entzugs-Tendenz des Grundes. Dem entspricht es, dass Schelling das ›Erste‹ nur in paradoxalen Wendungen umschreiben kann; so heißt es vom Ungrund, er sei »nichts anderes [...] als eben das Nichtseyn« der »Gegensätze« und habe »darum auch kein Prädicat [...] als eben das der Prädicatlosigkeit«.75 Der Ungrund wird zwar auch mit dem identitätsphilosophischen Begriff der »Indifferenz« bezeichnet,76 er ist aber nicht unmittelbar Indifferenz von Grund und Existierendem (oder, wie 1801, Indifferenz des Subjektiven und Objektiven77) – son73 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 408. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. – Vgl. zum ›Ungrund‹ neuerdings bes. Markus Gabriel: Der Ungrund als das uneinholbar Andere der Reflexion – Schellings Ausweg aus dem Idealismus, in: Schellings Philosophie. Hrsg. v. Ferrer/Pedro, 177–190; vgl. auch David L. Clark: The Necessary Heritage of Darkness: Tropics of Negativity in Schelling, Derrida, and de Man, in: Intersections: Nineteenth-Century Philosophy and Contemporary Theory. Hrsg. v. David L. Clark/Tilottama Rajan. New York 1995, 79–146 und Hans-Joachim Friedrich: Der Ungrund der Freiheit im Denken von Böhme, Schelling und Heidegger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009. Vgl. zur Diskussion und zur Forschungslage Jochem Hennigfeld: Friedrich Wilhelm Joseph Schellings »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«. Darmstadt 2001, 127–133. – Vgl. zu Heideggers durchaus ambivalenter Interpretation des Ungrundes Philipp Schwab: Ungrund und Metaphysik des Bösen. Von Heideggers erster zu Derridas letzter Auseinandersetzung mit Schelling (1927– 2002), in: L’héritage de Schelling. Interprétations aux XIXème et XXème siècles / Das Erbe Schellings. Interpretationen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gérard Bensussan/Lore Hühn/Philipp Schwab. Freiburg 2014, 209–255. 75 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. 76 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. 77  Vgl. Anmerkung 20. 74 Schelling:

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dern »ein eigenes von jedem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen«.78 Mit dieser Bestimmung eines absoluten ›Außerhalb‹, einer Exteriorität und Alterität, erreicht Schelling seine radikalste Bestimmung der Differenz: Das anfängliche Absolute ist als uneinholbarer Entzug gefasst. Der Ungrund ist nicht das ungeschiedene ›Sowohl – Als Auch‹ beider Prinzipien, sondern das sich entziehende »Weder – Noch«;79 mithin ist er gleichsam die Leerstelle oder der atopische und offene Ort in Schellings Konzeption, der sich einer jeden Darstellung oder weiteren Bestimmung, und sei es der Identität mit sich, nicht mehr fügt. Eine solche Entzogenheit hat offenkundig in Hegels Konzeption keinen Raum; sie ist Schellings systematisch tiefgehendste Antwort auf die ›Negativität‹ der Phänomenologie. Ist bei Hegel nämlich die Negativität als strukturelle Differenz in der relationalen Selbstbezüglichkeit der Subjektivität und mithin im Element des Begriffs verstanden – so denkt Schelling eine dem Begriff uneinholbar vorausgehende Differenz. Hieraus erhellt auch die spezifische Konzeption des schellingschen Anfangs: In der Tat nämlich setzt Schelling das Absolute als das Anfängliche und mithin als Transzendenz, die nicht restlos in eine selbstvermittelnde Negativitätsbewegung eingeht. Gleichwohl ist aber der Anfang hier nicht die Selbstpräsenz differenzlos-absoluter Identität – sondern das uneinholbar dem Denken Entzogene oder, mit dem Wort aus Schellings Spätphilosophie, das ›Unvordenkliche‹. Dass auch diese Kon­zeption des Anfangs die Bewegung des Absoluten fordert, bringt Schelling dadurch zum Ausdruck, dass er im Blick auf den Ungrund fragt: »[A]ber ist denn der Anfangspunkt das Ganze?«80 Gerade weil das ›Erste‹ nicht als umfassende Fülle, sondern als ungreifbare und prädikatlose Transzendenz verstanden ist, kann es allein durch fortschreitende Entwicklung sich zu einem ›Ganzen‹ vollenden.81 Obschon Schelling derart in den finalen Partien der Untersuchung offenkundig auf eine ›Vollendung‹ zielt,82 stellt sich abschließend doch die Frage, ob nicht die Bestimmung der Differenz als Entzug gravierende Konsequenzen für den Entwurf eines geschlossenen Systems in 78 Schelling:

Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406. Philosophische Untersuchungen, SW VII, 407. 80 Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 412. 81  Allerdings ist der Übergang vom Ungrund zur Dualität in Schellings Darstellung durchaus dunkel; so kommt nicht vollständig zur Klarheit, warum und inwiefern der Ungrund sich gerade in die zwei »gleich ewige[n] Anfänge« der beiden Prinzipien teilen muss (Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 406–408). 82  Vgl. bes. Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW VII, 403–406. 79 Schelling:

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sich birgt. Dies erhellt gerade im Kontrast zum hegelschen Gedanken: Für Hegel geht das wissenschaftliche System als geschlossenes aus der Selbstvermittlung der als Negativität gedachten Subjektivität unmittelbar hervor – als »Werden seiner selbst« und als »Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«.83 Zwar löst Hegel jede tradierte Bestimmung eines substantiellen und anfänglichen Absoluten auf, wahrt aber gerade im Begriff der Negativität die (Selbst-)Bezüglichkeit des relationalen Prozesses. Hingegen zeigen sich in Schellings Konzeption des sich entziehenden Grundes und Ungrundes nachgerade systemsprengende Potenziale.84 Indem Schelling dem Grund und Ungrund einen ›Widerstand‹ gegen jeden begreifenden Zugriff einzeichnet und zumal das entzogene ›Erste‹ aus jeder Bezüglichkeit aussondert, setzt er – offenkundig ohne dies eigens zu beabsichtigen – als konstituierende Gestalt seines Systems eine Differenz, die den systematischen Anspruch im Ganzen beständig zu unterhöhlen droht.

3. Schlussbemerkung Von hier aus lässt sich in aller Kürze der Bogen zum Anfang zurückschlagen: Weder in Hegels Phänomenologie noch in Schellings Freiheitsschrift wird das Absolute als differenzlose Identität oder unmittelbare Selbstpräsenz gefasst, vielmehr zeigt sich die Struktur des Absoluten in beiden Konzeptionen als interne Differenz. Gleichwohl unterscheiden sich beide Ansätze in der Art und Weise, wie diese Differenz gedacht wird, fundamental und sollen auch nicht harmonisiert werden: Hegel versteht das Absolute als substratlose Selbstvermittlung, die durch das 83 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Vgl. zur Diskussion der Phänomenologie und der Freiheitsschrift im Blick auf ein ›geschlossenes‹ respektive ›offenes‹ System Köhler: Freiheit und System, bes. 267–274. 84  Vgl. dazu auch die Passage Schelling: Philosophische Untersuchungen, SW  VII, 399: »In dem göttlichen Verstande ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben.« Anhand dieser Stelle hat besonders Heidegger die ›Sprengung‹ des Systems diskutiert; vgl. Heidegger: Schellings Abhandlung, 193–196. Heidegger übergeht hier allerdings geradezu die Bestimmung des Ungrundes – die er in seiner ersten Lektüre Schellings von 1927/28 noch ausführlich bedacht hatte. Vgl. zu dieser Spannung Schwab: Ungrund. – Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Interpretation Heideggers auch Thomas Buchheim: »Metaphysische Notwendigkeit des Bösen«. Über eine Zweideutigkeit in Heideggers Auslegung der Freiheitsschrift, in: Zeit und Freiheit. Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger. Hrsg. v. István M. Fehér/ Wilhelm G. Jacobs. Budapest 1999, 183–192, hier: 185–187.

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Konzept der Negativität als relationale Differenz strukturiert ist; Schelling hingegen denkt zunächst eine ›wirkliche‹ Dualität zweier Prinzi­ pien, sodann aber die Differenz als uneinholbaren und unvordenklichen Entzug. Es sollte dabei zur Deutlichkeit gekommen sein, dass der Begriff und das jeweilige Verständnis der Differenz im Fokus des Bruchs zwischen Schelling und Hegel um 1807 stehen: Hegel grenzt seinen Entwurf der Negativität polemisch von einer ›unterschiedslosen Identität‹ ab; Schelling bezieht diese Kritik wenigstens zum Teil auf sich, und seine nächstfolgende Schrift enthält in ihrer Zurückweisung der ›Einerleiheit‹ wie auch in ihrem eigenständigen Differenzbegriff eine zumindest sachliche Antwort. Von diesem ›Bruchpunkt‹ her wären die Linien des Dialogs zwischen Schelling und Hegel auszuziehen – zur Jenaer Zusammenarbeit, um nach seinen Vorzeichen, zur späteren wechselseitigen Kritik, um nach seinen Folgen zu fragen. In der Konstellation zwischen der Phänomenologie und der Freiheitsschrift – um abschließend nochmals kurz auf diese zurückzukommen – zeigt sich jedoch bei allen Unterschieden auch eine zentrale Gemeinsamkeit: Indem beide Werke das Absolute aus einer Struktur der Differenz konzipieren, wird dieses wesentlich als ein Werdendes begriffen – und versetzt so die ›Systeme in Bewegung‹.

III. HEGELS JENAER SYSTEMEXPERIMENTE

Klaus Erich Kaehler System, Subjekt und die Idee der absoluten Wissenschaft bei Hegel Unter den drei Titelbegriffen meines Vortrags könnte die gesamte Ent­ wicklung der Sache der Philosophie von Kant zu den Vertretern der später so genannten Klassischen Deutschen Philosophie rekonstruiert werden, obgleich die Begriffe bereits im Blick auf Hegel gewählt sind. Insofern ist der Titel dieses Beitrags einzuschränken: zum einen auf Hegel überhaupt, zum andern auf die Entwicklung Hegels bis 1807, und hier noch einmal darauf, dass ich keine eigentliche Entwicklungs­ geschichte vortragen, sondern nur Markierungen eines Weges hervor­ heben möchte, dessen erstes Ziel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes damit erreicht wird, dass es programmatisch, aber endgültig ausgesprochen wird: die Idee der absoluten Wissenschaft in ihrer he­ gelschen Fassung. Ich möchte nun im Folgenden zuerst kurz an den Zusammenhang von System und Logos beziehungsweise Vernunft vor und bei Kant er­ innern, um daran das spezifisch Neuzeitliche des Systembegriffs und die entsprechende Aufgabe der Philosophie hervorzuheben; vor die­ sem Hintergrund ist zweitens Hegels Einsatz in seinen Jenaer System­ entwürfen zu verstehen, um dann drittens zu zeigen, dass und wie Hegel in der genannten Vorrede Subjekt, System und Wissenschaft so verknüpft, dass daraus die von ihm hier inaugurierte Idee der Philo­ sophie hervorgeht.

1. Logos – Vernunft – System Seit dem Logos der ersten, der ontologischen Epoche der Metaphysik von Parmenides bis Aristoteles und den Stoikern steht Vernunft für die Ordnung der Dinge, ihre immanente Gesetzlichkeit, Proportionierung und Wahrheitsfähigkeit, das heißt Erkennbarkeit. Das Walten des Logos

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in allem verlangt vom Denken, das erkennen will, ihm sich anzuglei­ chen in der vernünftigen Rede. Doch diese bleibt Abbild, der Logos des Seienden selbst ist unabhängig von seinem Gedachtwerden durch An­ deres. Ein adäquates Denken, noein, geschieht nur im reinen und höchs­ ten, dem göttlichen nous. So nur ist die geordnete Ganzheit (Totalität) des Seienden gesichert, doch ist sie nicht ausführbar in dem Denken, das diese Sicherung denkt, indem es sie sich voraussetzt. Mit der ausdrücklichen Reflexion dieser Differenz jedoch findet sich das Philosophieren in einem prinzipiell gewandelten Verhältnis zu dieser Voraussetzung vor: Es fängt einerseits neu bei sich an gerade dadurch, dass es sich von Grund auf anerkennt und versteht als bereits hervorge­ gangen aus jenem absolut Ersten, zunächst dem plotinischen Einen. In keiner Weise darf es noch einen erkennenden Bezug zu jenem Übersei­ enden beanspruchen, dem allein sich nun der Logos beziehungsweise Nous im Ganzen des Seienden verdankt. In diesem Entzug des letzten, urproduktiven Grundes von allem, was ist und wie es ist, entfaltet sich die mittlere Epoche der Metaphysik bis in den Beginn der historischen Neuzeit hinein. Wohl aber beginnt zugleich schon mit Augustinus ein relativer Rückzug der dann »natürliche Vernunft« genannten geschaffenen Ebene des Logos auf sich. Von da aus sich jenes letzten Grundes aus­ drücklich auch im eigenen Wissen zu versichern, wie es die so genannten Gottesbeweise intendieren, eröffnet schließlich und erst mit dem cartesi­ schen Neuanfang ein prinzipiell anderes Verhältnis der philosophischen Erkenntnis zu ihrer Sache, indem nämlich hier das zu Beweisende thema­ tisiert und beansprucht wird allein im Horizont und unter der Bedingung der Selbstgewissheit des Denkenden, also seines eigenen unhintergeh­ baren Vollzugs der immanenten Idea entis perfectissimi. Die sich hiermit prinzipiell ankündigende Aufgabe: allen Inhalt in der Form der Gewissheit, als Bedingung aller Wahrheit, im Denken her­ vorzubringen und zu bewähren, eröffnet und bewegt die dritte Epoche der Metaphysik, die der historischen Neuzeit. Zunächst wird der Inhalt erst vorgefunden in der Reflexion des Denkens auf sich. Dieses Verhält­ nis entspricht dem Stande der »natürlichen Vernunft«, als die sich die Vernunft der vorkantischen Metaphysik auch der Neuzeit selbst ver­ steht. So spricht Descartes (V. Meditation) vom thesaurus mentis, in wel­ chem die immanent gewissen verae et immutabiles ideae und die Gesetze der Logik ihren einsehbaren Ort haben.1 Doch die Berechtigung dieser 1 

Renati Des Cartes: Meditationes de Prima Philosophia. In: Œuvres de Descartes. Hrsg. v. Paul Tamery. Paris 1897–1910. Bd. VII, 67–68.

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Gedankenformen und -inhalte in der Bewegung des Denkens zu erwei­ sen, bleibt Aufgabe bis über Kant hinaus und lässt den Vollendungssinn der cartesischen Grundlegung erkennen. Der Weg zur selbst zu leis­ tenden Vollendung des neuzeitlich gedachten Logos bleibt allerdings versperrt, solange die Vollendung der Vernunft in einem ursprünglichvollkommensten Subjekt vergegenständlicht wird; denn das bedeutet, dass dieses Denken sich selbst ausschließt von der Vollendung: der Ge­ genstand ist ein Anderes zum Bewusstsein. Die Idee der Vollendung aber kann es selbst hervorbringen, weil es das zu Vollendende – die Vernunft – auch selbst besitzt, wenngleich nur, wie dann Leibniz sagen wird, wie »einen Tropfen des göttlichen Ozeans«2 – damit aber doch je­ denfalls prinzipiell homogen. War Descartes in diesem Punkt noch unentschieden, so ist die prinzi­ pielle Homogenität von menschlicher und göttlicher Vernunft mit Spi­ noza etabliert: die mens humana ist ein Modus des Attributs des Denkens und damit eine Existenzweise des Wesens der absoluten Substanz, da jedes Attribut das Wesen der einen ganzen Substanz ist. Diese selbst ist es, die sich in ihren Modi »ausdrückt«. Sie ist in allem, dem Sein des Denkens wie dem der Ausdehnung, die »Ordnung und Verknüpfung«, und sie ist dem zuvor das Hervorbringen dessen, was da geordnet und verknüpft ist; und damit ist diese Einheit von Substanz und Modi, natura naturans und natura naturata, ja auch von Unendlichem und Endlichem überhaupt das Ganze. Soweit das Denken der mens humana adäquat, also in der Form der zweiten und der dritten Gattung der Erkennt­ nis – Vernunft und Intuition – denkt, denkt es diese Einheit nicht nur als Gegenstand, sondern vollzieht sie auch als Form der Darstellung des zu erkennenden Gegenstandes. Auf dieser Seite allerdings bleibt die All-Einheit abstrakt, insofern die Darstellung nicht die originäre Produktion der All-Einheit ist, sich nicht ursprünglich als sie vollzieht und vollbringt. Dennoch umfasst sie gerade die Totalität, bleibt nicht bei Partikularem, sondern begreift mit Vernunft und Intuition das ab­ solute Ganze daraufhin, dass alles Endliche mit seiner besonderen Be­ stimmtheit als ein passendes Teil in jenem wohlgeordneten Ganzen aufgehoben sei. Erst mit diesem Gegenverhältnis von wohlgeordnetem Kosmos – dem vormaligen Logos in allem Sein – und reflektierender Darstel­ 2  Gottfried Wilhelm Leibniz: Preface. Essais de Theodicee. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften I –VII. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875–1890. Nachdruck Hildesheim 1965. Bd. VI, 39–48, hier: 27. Im Folgenden zitiert als GP mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen.

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lung desselben durch und für ein prinzipiell homogen erkennendes Bewusstsein, also erst unter dem Prinzip der neuzeitlichen Epoche der Metaphysik erhält der Begriff des Systems seine spezifisch philoso­ phische Bedeutung. Er bezieht sich auf die Darstellung einer Totali­ tät, nämlich der Vernunft, vormals des Logos des Seienden im Ganzen, doch neuzeitlich derjenigen Vernunft, deren Sein das Denken selbst und damit ineins das Gedachtwerden des Inhalts, der realitas ist. Dass Vernunft als solche und in sich selbst ein System sei, ist damit zunächst – bis zu Leibniz und Wolff – nur vorausgesetzt als Bedingung a parte rei der Philosophie. Doch erst mit Kants transzendental-methodischer Rückwendung aller Begründung in die Immanenz der vormals natürli­ chen Vernunft wird die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit der Philosophie gebunden an die Selbstreflexion eben dieser Vernunft. Ihr Subjekt wird dadurch prinzipiell neu gefasst als methodisches Prinzip der Philoso­ phie vor aller ontologischen Bedeutung. Diese Selbstbeziehung kommt also zwar vor Kant bereits zum Ausdruck, doch nur erst in objektivier­ ter Form und deshalb nur als Voraussetzung der Vollendungsgestalt vor und außer dem Denken, das diese Voraussetzung nur hat, nicht aber darin sich selber setzt. Die Vernunft als Totalität, von nichts abhängig, das nicht in ihr und durch sie selbst wäre, ist die umfassendste metaphysische Bestimmung, unter der Leibniz den Gott der natürlichen Vernunft voraussetzt: als ursprünglich-vollkommenes Einsehen, Wollen und Vollbringen der Ver­ nunft als Sachgehalt und als Form alles Wahren. Diese reine Aktuosität als Vernunfttätigkeit ist das »wahrhaft Unendliche« oder »Absolute«.3 Es ist das System der Systeme, nämlich sowohl die Region der mögli­ chen Welten, deren jede eine Totalität und als gedachte ein System ist, als auch die disjunktive Totalität aller dieser Welten und die Existenz­ setzung der »besten« aus ihnen. Diejenige Vernunftinstanz aber, die dieses Absolute sich voraussetzt als ihre eigene Vollendungsgestalt, ist das Subjekt der nur natürlichen Vernunft und der geschaffenen Welt im Leben, Erkennen und Handeln. Dieses Subjekt findet sich in eige­ nen Formen der Endlichkeit und Beschränkung und zugleich doch als 3 Vgl.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais de L’Entendement, GP V, 39–509, hier: 144–145 (Buch II, Kap XVII), § 1–3. Zum kritischen Zusammenhang der leibniz­ schen Bestimmung des Absoluten mit derjenigen Spinozas sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010, 92–93 sowie ders.: Das metaphysische und das methodische Subjekt: Von Descartes zu Leibniz, in: Metaphysik und Methode. Descartes, Spinoza und Leibniz im Vergleich. Studia Leibnitiana Sonderheft 39. Hrsg. v. Thomas Kisser. Wiesbaden 2010, 139–153.

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seiner selbst gewiss, gemäß der Existenzweise des Subjekts überhaupt, dessen Grundstruktur Leibniz versteht als sibi intime praesens,4 also als ein ursprüngliches Selbstverhältnis, aus dem ihm auch die prinzipielle Fähigkeit zur Reflexion erwächst. Seine Vernunft ist prinzipiell gleichar­ tig mit jener objektivierten Vernunft, deren jenseitiger aktualer Vollzug Gott ist; und insofern das endliche, ontologisch gesprochen: geschaf­ fene Subjekt diese universale allgegenwärtige Vernunft in irgendeiner Weise richtig vollzieht, also denkt, ist es »Grund seiner selbst«.5 Es ko­ inzidiert partiell in diesem Akt mit dem Absoluten, mag der Inhalt noch so gering sein, denn es ist prinzipiell gleichen Wesens mit dem Abso­ luten. Dessen vollkommene Wirklichkeit und damit die Originalgestalt des vollkommenen und absolut vollständigen Systems alles Möglichen und Wirklichen bleibt dem Subjekt der natürlichen Vernunft zwar un­ erreichbar, aber Leibniz gebraucht nun die Bezeichnung System auch für seine philosophischen Theorien. So spricht er vom »System der prä­ stabilierten Harmonie« oder wie im Titel einer der wenigen veröffent­ lichten Abhandlungen vom Neuen System der Natur und der Kommunikation der Substanzen. Ein anderes, weniger bekanntes Werk trägt den Titel System der Theologie. Hier steht der Terminus System zwar zunächst nur für eine Lehre oder Lehrart, deren Inhalt auf Vernunft beruht, ohne dass alles nach Form und Inhalt vernünftig Denkbare darin je erschöpft werden könnte. Dass Vernunft als solche und in sich selbst ein System sei, ist damit aller­ dings vorausgesetzt als Bedingung a parte rei der Theorie. Dass Vernunft in sich systematisch sei, ja dass sie nach Form und Inhalt insgesamt ein System sei, hat also nicht erst Kant »entdeckt«, wie Heidegger sagt.6 Wohl aber hat Kant mit seiner prinzipiell-methodischen Wende in die Immanenz der vormals natürlichen Vernunft die Philosophie und ihre Wahrheitsfähigkeit an die Selbstreflexion eben dieser Vernunft durch ihr Subjekt gebunden. Damit wird es zur ersten Aufgabe der Begrün­ dung von Erkenntnis, die Vernunft an ihr selbst vollständig »auszumes­

4 

Gottfried Wilhelm Leibniz an Herzog Johann Friedrich, Mai 1671, GP I, 48–55, hier: 53. 5 »Cogitare est esse rationem mutationis, seu mutare seipsum. Idem est esse rati­ onem sui.« (Gottfried Wilhelm Leibniz: Vorarbeiten zu den Elementa de mente et corpore. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1926 ff. Reihe VI. (Philosophische Schriften), Bd. 2, 276–291, hier: 283.) 6  Martin Heidegger: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Tübingen 1971, 46.

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sen« nach Form und Inhalt,7 Reichweite und Konkretion. An ihr selbst aber kann Vernunft nur reflektiert und ausgemessen werden, soweit sie dem Subjekt der Philosophie zugänglich ist. Die Vernunft kann nicht in der Gestalt Vorlage und Maß ihrer Selbsterforschung sein, in der sie actu von einem anderen Subjekt vollzogen wird, das als ursprünglichvollkommene Vernunfttätigkeit nur äußerlich, weil nur ontologisch vo­ rausgesetzt werden kann. Diesseits dieser Voraussetzung, in der Selbst­ reflexion des Subjekts der vormals bloß natürlichen Vernunft, entdeckt dieses Subjekt seine Selbständigkeit. Was Vernunft ist oder zu sein hat, muss es im eigenen Vollzug, das heißt im Vollzug der eigenen Vernunft, selbsttätig, einsehen können. Dass zur Vernunft Totalität gehört, dass sie wahrhaft nur als System erfassbar ist, diese Idee der Vernunft wird von Kant nicht zurückgenommen; und so muss sie auch als ein Ganzes, das heißt systematisch, als System reflexiv vollzogen, erfasst und dargestellt werden beziehungsweise werden können. Indem Kant die Erkenntnis der Vernunft gerade an deren immanenten Selbstvollzug und die darin sich zeigenden Bestimmtheiten bindet, überwindet er die abgeleitete Stellung des reflektierenden Vernunft-Subjekts seiner Vorgänger und damit auch die erwähnte Blockade auf dem Wege zur Selbstvollendung des neuzeitlich gedachten Logos. Mit Kant wird also die Sache der Philosophie zu der Aufgabe, die Idee der Vernunft als System8 nicht aus einer seienden Vorgabe zu er­ schließen und zusätzlich zu solchem Sein in der Form der Erkenntnis darzustellen, sondern sie als Selbstdarstellung immanent auszuführen. Diese Aufgabe zu erfüllen, heißt nun zwar nach Kant zunächst, die Prinzipien der Vernunft zu explizieren. Dies ist möglich, da die Vernunft zumindest »in Ansehung der Erkenntnisprinzipien eine ganz abgeson­ derte, für sich bestehende Einheit« ist.9 Doch objektive Realität gewinnt die Vernunft erst dadurch, dass ihre Formen und Prinzipien a priori als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und damit ihrer Ge­ genstände fungieren, und dass sie in der Erfahrung als solcher immer wieder neu in Gebrauch zu nehmen sind. Damit ist die Vernunft an ihr 7  Immanuel

Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Immanuel Kant: Kant‘s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern. Berlin, später Berlin/New York 1900 ff. Bd. 3, B 15. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 8  »[U]nsere Vernunft (subjektiv) ist selbst ein System«, doch Kant fügt sogleich hinzu: »aber in ihrem reinen Gebrauche, vermittelst bloßer Begriffe, ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kann« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, AA 3, B 766). 9 Kant: Kritik der reinen Vernunft, AA 3, B XXIII.

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selbst ohne Realität, Sachhaltigkeit; sie bleibt formal gegenüber einer unantizipierbaren materialen Mannigfaltigkeit, deren Eintritt für das Bewusstsein unvordenklich hinzukommt. Das Subjekt, das die Vernunft in diesem Sinne realisiert, ist also das Subjekt der Vernunft, aber nur in­ sofern es zugleich und immer schon das Subjekt der Erfahrung ist. Dass die Vernunftbegriffe (im engeren Sinne), also die Ideen, sich auf alle Ge­ genständlichkeiten als deren systematische Einheit beziehen, bedeutet also nach Kant nicht, dass in dieser Einheit das, dessen Einheit sie ist, zugleich begriffen würde; und obgleich »die systematische Einheit das­ jenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem Aggregat derselben ein System, macht«,10 so bleiben doch die inhaltlich leitenden Begriffe der Vernunft mit ihrer regulativen Funk­ tion für die Verstandeserkenntnisse »auf dem Boden der Erfahrung« abstrakt allgemein.11 Die Kritik an diesem subjekt-internen Dualismus von Vernunft qua System und Erfahrung, a priori und a posteriori, Idee und Empfindung hat die nachkantische Philosophie in mancherlei Varianten durchge­ führt – und zwar überwiegend mit dem Anspruch, im Geiste Kants zu argumentieren, um ihn, wie vor allem Fichte zunächst betont, zu Ende zu denken. Gerade Fichte hat zumindest in seinen Jenaer Schriften mit Kant deutlich gemacht, dass zur Idee der Transzendentalphilosophie konstitutiv ein heterogenes Element gehört, ohne dass diesem eine on­ tologische Selbständigkeit zukäme. Der Angelpunkt kann in die Frage zusammengefasst werden, wie diese Bedingtheit in der Unbedingtheit oder Nicht-Identität in der Identität oder Endlichkeit in der Unendlich­ keit möglich sei, – das heißt, wie dieses Verhältnis nun selbst immanent, also nicht als seiender Ursprung, ultima ratio außer dem Erkennen, das ihn voraussetzt, und auch nicht als äußerliche Beziehung zweier selb­ ständiger Seiten, sondern als in sich differenzierte (oder besser noch: sich differenzierende) Einheit zu begreifen sei und als absolut wahrer Inhalt der Vernunft, also systematisch und damit als Wissenschaft dar­ zustellen sei. Der Leitbegriff für dieses Verhältnis ist die absolute Identität. Mit diesem Begriff, an dem sich die Geister scheiden, können wir nun den großen Schritt machen von Kant und Fichte zu Hegel, um He­ gels Einsatz als reflektierte Aufgabenstellung im Zusammenhang der Entwicklung des Prinzips der neuzeitlichen Philosophie zu verstehen.

10 Kant: 11 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, AA 3, B 860. Kritik der Urteilskraft, AA 5, 174.

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2. Hegels Einsatz in den Jenaer Schriften In der Vorerinnerung zu seiner ersten (philosophischen) Veröffentlichung, der sogenannten Differenzschrift, deren Abfassung größtenteils (oder ganz) in die ersten Monate des Jahres 1800 fällt, bezeichnet Hegel »das Princip der Deduktion der Kategorieen« in der Kritik der reinen Vernunft als »das rein spekulative Princip«.12 Dieses Prinzip ist, wie im Fortgang des Textes wiederholt gesagt wird, die »absolute Identität«.13 Was Kant betrifft, so wird allerdings gleich eingeschränkt, er habe diese Identi­ tät, hier auch als »Identität des Subjekts und Objekts« bezeichnet,14 auf »untergeordneter Stuffe […] aufgefaßt«,15 nämlich eingeschränkt auf die kategorialen Synthesen des Verstandes. Erst Fichte habe in Kants Deduktion das Prinzip »in reiner und strenger Form heraus gehoben und den Geist der Kantischen Philosophie genannt«.16 Hegel lässt also von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er das Prinzip der ursprünglich-synthetischen Einheit als »absolute Identi­ tät« auffasst, das heißt spekulativ umdeutet. Demnach gibt es nichts, was nicht in irgendeiner Weise Moment dieser Identität wäre; und die Konstitution des Objekts als des Entgegengesetzten zum Bewusstsein des Objekts wird einzig aus dieser Identität, als dem notwendigen und zureichenden Grund der Wirklichkeit des Objektbewusstseins eben­ so wie des Objekts selber, geleistet. Da im wirklichen Bewusstsein gar keine unabhängige sinnliche Anschauung vorkomme, sondern stets nur aus dem Zusammenhang nachträglich, abstrahierend herauslösbar sei, also stets schon nichts als unselbständiges Moment des konkreten Gehalts der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption sei, des­ halb sei es auch inkonsequent, hier eine Seite der Nichtidentität zu verselbständigen, die der ursprünglichen Einheit in irgendeinem Sinne prinzipiell, also absolut äußerlich sei und die zu ihr noch hinzukommen müsse oder ihr auf irgendeine Weise vorgegeben sein könne. Kurz: das 12 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte‘schen und Schelling‘schen Systems der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissen­ schaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 1–92, hier: 5. Im Folgenden zitiert als GW mit An­ gabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 13 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 33 und öfter. 14 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 6. 15 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 6. 16 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 5.

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Mannigfaltige des Bewusstseins und damit das Moment eines Gegebenseins in der Objektkonstitution sei ipso facto bereits immanenter Gehalt der absoluten Identität und müsse auch allein in dieser Immanenz erklärt und begrif­ fen werden. Die Unterscheidung des Objekts vom Bewusstsein als Wissen des Objekts ist deshalb immer schon Resultat der Selbstunterscheidung, der Diremtion der absoluten Identität als Einheit einer Entgegenset­ zung in diese ihre Momente: die Einheit des Denkens, grundlegend dif­ ferenziert in kategoriale Einheiten einerseits, und das gemäß den Kate­ gorien zu einigende Mannigfaltige des Vorstellens andererseits. Dieses ursprünglich Nicht-Identische ist hiermit selbst Moment, als Entge­ gengesetztes der Identität; und so ist diese die Identität ihrer selbst und ihres Gegenteils. Hiermit haben wir die abstrakte Formel für das Bewusstseinsverhältnis, den vorfindlichen Ausgangspunkt eines jeden Idealismus, an dem Hegel – auf dem Wege zur systematischen Exposi­ tion des absoluten Idealismus – die Aufgabe der Philosophie neu ergreift und ausführt. – Die verschiedenen Formen der Beziehung von Einheit und Mannigfaltigkeit sind Formen des Bewusstseins von Etwas, sei dies bloß das unbestimmte Korrelat der Empfindung, sei es das Ding der Wahrnehmung oder der Sachverhalt des Urteils – um nur die ganz elementaren Stufen des Bewusstseins zu nennen. Diese Formen oder Gestalten des Bewusstseins wären nun zu begreifen und zu analysie­ ren als Weisen der Selbstunterscheidung der absoluten Identität, worin die unterschiedenen Seiten nur gegeneinander fixiert sind. In dieser Seinsweise der Endlichkeit ist die absolute Identität in Ungleichheit mit sich, welche ihre Erscheinung ist. Als in dieses Verhältnis auseinan­ dergelegt existiert die absolute Identität als Erscheinung. Die Aufgabe der Philosophie ist es deshalb, die Erscheinung zu begreifen, – und das heißt zunächst, sie als Erscheinung zu rekonstruieren und ihr absolu­ tes Wesen in ihr selbst aufzuzeigen. Mit der Erfüllung dieser Aufgabe wäre auch das »Bedürfniß der Philosophie« befriedigt,17 von dem die Differenzschrift spricht: die Entzweiungen des reflektierenden Verstan­ des werden im Sich-Begreifen des endlichen Bewusstseins aufgehoben: »Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, für den allgemeinen Begriff, […] absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität« – diese Gegensätze aufzuheben hatte Hegel als »das einzige Interesse der Ver­

17 Vgl.

Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 12–16.

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nunft« bezeichnet,18 aber zugleich betont, dass »die absolut entgegen­ gesetzten selbst aus der Vernunft entsprungen« seien.19 Für die absolute Identität oder ursprünglich produzierende Wirk­ lichkeit, als deren Manifestationen alles Bewusstsein, das empirische wie das reine, begriffen werden soll, hat Hegel in den folgenden Je­ naer Jahren den Begriff des Geistes gefasst. Dieser Begriff ist der Sache nach in der Differenzschrift von 1801 erkennbar, so wenn hier etwa gefor­ dert wird, »das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen«.20 Hier wird jedoch das Produzieren sowohl der Welt des Ich als auch der Natur als Produzieren des Absoluten, nicht terminologisch als das des Geistes konzipiert. Hegel folgt hier in der Ausdrucksweise noch der schellingschen Philosophie um 1800, obgleich es sich lohnen dürfte, in der Differenzschrift bereits nach Differenzen Hegels auch zu Schelling zu suchen. Daraus lässt sich nämlich bereits Hegels Intention auf die Form seiner systematischen Durchführung der Spekulation erkennen. So enthält zum Beispiel der Anfang des Abschnitts »Verhältniss des Philosophirens zu einem philosophischen System« eine indirekte Kri­ tik am abstrakten Identitäts-Absoluten:21 »Das Bedürfniß der Philosophie kann sich darin befriedigen, zum Prin­ cip der Vernichtung aller fixirten Entgegensetzung und zu der Bezie­ hung des Beschränkten auf das Absolute durchgedrungen zu seyn; diese Befriedigung im Princip der absoluten Identität findet sich im Philosophiren überhaupt; das gewußte wäre seinem Inhalte nach ein zufälliges, die Entzweiungen, aus deren Vernichtung es ging, gegeben und verschwunden, und nicht selbst wieder konstruirte Synthesen; der Inhalt eines solchen Philosophirens hätte überhaupt keinen Zu­ sammenhang unter sich, und machte nicht eine objektive Totalität des Wissens aus. […] Weil aber diese Beziehung des Beschränkten auf das Absolute ein mannichfaltiges ist, da die Beschränkten es sind, so muß das Philosophiren darauf ausgehen, diese Mannichfaltigkeit als solche in Beziehung zu setzen; es muß das Bedürfniß entstehen, eine Tota­ lität des Wissens, ein System der Wissenschaft zu produciren. Hier­ durch erst befreyt sich die Mannichfaltigkeit jener Beziehungen von der Zufälligkeit, indem sie ihre Stellen im Zusammenhang der objek­ 18 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 13. 19 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 14. 20 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 14. 21 Hegel:

30–34.

Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4,

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tiven Totalität des Wissens erhalten, und ihre objektive Vollständigkeit zu Stande gebracht wird. Das Philosophiren, das sich nicht zum System konstruirt, ist eine beständige Flucht vor den Beschränkungen, mehr ein Ringen der Vernunft nach Freyheit, als reines Selbsterkennen der­ selben, das seiner sicher, und über sich klar geworden ist. Die freye Vernunft und ihre That ist Eins, und ihre Thätigkeit ein reines Darstel­ len ihrer selbst.«22 Mit dem Begriff des Absoluten als Geist knüpft Hegel methodisch und der Sache nach eher an Fichtes absolutes Ich an als an Schellings rein, das heißt abstrakt identisches Absolutes. Fichtes Ich des Ersten Grund­ satzes bleibt ja im Ganzen gerade nicht isolierbar als reine, unbeding­ te Positivität und All-Realität, sondern erhält seine Konkretion und Bestimmtheit nur in der Verendlichung des Bewusstseins, als theoreti­ sches und praktisches Vermögen des Ich in den verschieden bestimm­ ten Weisen der Beziehung auf das entgegengesetzte Nicht-Ich. Bereits in der Differenzschrift und in den Jenaer Systementwürfen zeichnet sich jedoch ab, dass Hegel den Ursprung der Negation und damit der Ver­ endlichung des Absoluten – anders als Fichte und als Schelling – imma­ nent zu denken versucht. So ist Hegels Prinzip des Geistes konzipiert als ursprünglich gründende, produktive Einheit in allem Begründe­ ten, Produzierten und damit zugleich als Totalität alles Besonderen, in dem nämlich die Totalität selbst erst ihre Bestimmtheit gewinnt und als Vermittlung und Kohärenz aller wahrhaften Bestimmungen auch erst zur wahrhaften absoluten Identität wird. Damit wird die seien­ de Einheit, welche die Substanz der vorkantischen Metaphysik war, in die Bewegung einer unendlichen Selbstbestimmung differenziert und transformiert, nämlich so, dass sie sich als Einheit gerade mit ihren selbsterzeugten Bestimmungen erfüllt und affirmiert und zugleich die Bestimmungen – seien es die cartesischen modi cogitandi der denkenden Substanz, die modi der absoluten Substanz Spinozas oder die Perzep­ tionen der leibnizschen Monaden – als Momente des Ganzen gerecht­ fertigt und aufgehoben sind. Sie geschehen nicht zusätzlich zu einem unbewegten absoluten Sein, sondern sind nichts anderes als dessen Selbstentfaltung. In diesem Sinne spricht Hegel bereits in einem der frühesten Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten (1801/02) mit dem Titel Introductio in philosophiam vom »absoluten Wesen«, welches sich »selbst in der Idee sein Bild gleichsam entwirft, sich in der Natur reali­ sirt, oder in ihr sich seinen entfalteten Leib erschafft, und dann als Geist 22 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 30.

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sich resumirt, […] und als diese Bewegung das absolute Wesen ist«23 – als diese Bewegung ist es also erst wahrhaft das Ganze. Allerdings lässt sich diese Konzeption noch immer rein objektiv verstehen, so dass sie auf die vorkantische Metaphysik zutrifft. Doch wie genau im Erkennen die ganze Entfaltung der Idee dargestellt werden kann, ohne die anfäng­ liche Einheit zu verlieren, wie also in Allem und als Alles das absolute Wesen begrifflich zu fassen sei, wo doch solches Fassen und Darstellen nur diskursiv konkret sein kann, also als formelles Nacheinander – das wird in der vorkantischen Metaphysik nicht mehr gefragt, und es kann auch aus den Texten der Jenaer Systemfragmente nicht zureichend er­ schlossen werden, wenngleich die Intention oder Idee dieser absoluten Wissenschaft hier bereits ausgesprochen wird. Es ist vor allem der Begriff des Geistes, an dem sich diese Intention ausdrückt und erkennen lässt. So wird im Systementwurf von 1803/04 der Geist bestimmt als das Ganze. Der erste Teil der Philosophie »con­ struirte« »den Geist als Idee«, als »absolute[…] Substanz, die […] eben­ so absolut ist, als sie wird«.24 Diese Idee aber wird zur Natur, indem sie »absolut auseinanderfällt« – die Natur ist hier also nicht mehr wie im soeben zitierten, zwei Jahre älteren Fragment die Realisierung und der »entfaltete Leib« der Idee. Vielmehr heißt es nun: »Im Geiste existirt die Natur, als das, was ihr Wesen ist«, nämlich die »Einheit der Allge­ meinheit und der Unendlichkeit«; und diese »Einheit ist nur, als eine als unendlich sich absolut in sich bewegende, und in ihrer Bewegung absolut einfache, oder als die absolute Rückkehr des Äther durch den absoluten Begriff der Unendlichkeit in sich selbst.«25 Die Erwähnung des Äthers zeigt allerdings an, dass hier noch der Übergang von Natur in Geist vermittelt ist durch den Unterschied des »irdischen Systems« vom »System der Sonne« innerhalb der Philosophie der Natur.26 Das in der Natur höchste Prinzip bezeichnet Hegel als Äther, wodurch auch der Natur als solcher eine spekulative Wahrheit zukommt. Dies ändert sich von Grund auf erst mit dem letzten der Jenaer System­entwürfe von 1805/06, wo zwar zu Beginn der Naturphilosophie noch einmal der Terminus Äther gebraucht wird, nämlich für die Idee 23  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Schriften und Entwürfe (1799–1808). Hrsg. v. Manfred Baum/Kurt Rainer Meist. Düsseldorf 1998, GW 5, 255–275, hier: 262. 24 Hegel: Jenaer Systementwürfe I. Hrsg. v. Klaus Düsing/Heinz Kimmerle. Düssel­ dorf 1975, GW 6, 210–326, hier: 268. 25 Hegel: Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 265. 26  Vgl. dazu Klaus Düsing/Heinz Kimmerle: Einleitung. In: Georg Wilhelm Fried­ rich Hegel: Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie. Neu hrsg. v. Klaus Düsing/Heinz Kimmerle. Hamburg 1986, VII–XXXIV, hier: XXVIII.

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»als das in seinen Begriff zurückgegangne Daseyn«.27 Aber Hegel fährt hier fort: »Es erhellt, daß diß gleichbedeutend ist mit reinem Geiste, denn diese absolute Materie ist nichts sinnliches sondern der Begriff als reiner Begriff in sich selbst, der als solcher existirend Geist ist«.28 Gerade diese Reinheit aber zeigt hier noch seinen Mangel an, seine Unentwi­ ckeltheit, die »unbewegte Ruhe« ist – insofern »Substanz und Seyn aller Dinge«; aber zugleich auch »unendliche Elasticität, die jede Form und Bestimmtheit verschmäht und in sich aufgelöst hat, aber ebendarum die absolute Weichheit und Fähigkeit aller Form«.29 Dieser Geist im Null­ punkt seiner Existenz ist »das Ansich, welches sein Werden nicht an ihm als diesem Wesen dargestellt hat«,30 das heißt der Äther ist Geist nur an sich, existiert darum noch nicht als Geist, ist nicht für sich, was er an sich ist, nicht das, was Hegel dann zu Beginn der Philosophie des Geistes vom entwickelten Geist sagt: Er ist das sich »mit sich vermittelnde, er ist nur als aufhebend das, was er unmittelbar ist, davon zurücktretend«.31 Daraus geht hervor, dass die spekulative Wahrheit der Natur nicht in dieser selbst liegt, sondern in ihrem Anderen, dessen Anderssein sie selbst nur ist. Ihre Gliederung und Gestaltung ist in Wahrheit zwar spekulativ, aber nicht aus ihr selbst zu gewinnen und zu begründen. Das Erste in allem ist nicht Natur, sondern Geist. Es ist dessen Wirklich­ keit und Seinsweise als Subjekt in prinzipieller Bedeutung, aus der Hegel zugleich die Philosophie als Wissenschaft und ihre Sache in der Form des Systems begründet. Dieser Zusammenhang wird zum ersten Mal explizit gemacht in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, und er bleibt von da an gültig für Form und Inhalt der Philosophie Hegels.

3. Die Idee der absoluten Wissenschaft in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes Hegel fordert hier geradeheraus, dass »das Erkennen der absoluten Wirklichkeit sich über seine Natur vollkommen klar« werde.32 Hegels Antwort auf diese Forderung wird vor allem in den Absätzen 17–25 ent­ 27 Hegel:

Jenaer Systementwürfe III. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann. Düsseldorf 1976, GW 8, 3. 28 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 3. 29 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 3. 30 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 3. 31 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 185. 32 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede. Düsseldorf 1980, GW 9.

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faltet und zugleich auch auf die hierin integrierten oder aufgehobenen philosophischen Positionen bezogen. Dieser Teil der Vorrede führt dann zur eigentlichen Einführung des Begriffs des Geistes und zur Identifi­ kation der Wirklichkeit des Geistes mit der »Wissenschaft«.33 Die Erörterung setzt ein mit der vielzitierten Forderung, es komme »alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken«34 – das heißt: zur Darstel­ lung zu bringen. Die Explikation, die Hegel diesem ersten Satz gibt, ist bereits ebenso als Explikation der Idee der absoluten Wissenschaft zu lesen. – Das Wahre nur als Substanz zu fassen, hieße, es in fixer Unmittelbarkeit als absolutes Sein, ohne allen Unterschied, das heißt ohne jede Bestimmung oder Prädikat zu setzen – somit aber, genauer gesprochen, es nur voraus-zusetzen. Die Erläuterung dessen, was daran mangelhaft ist, führt zur Explikation des Seins als absoluter Subjekti­ vität. Zunächst ist die vermittlungs- und reflexionslose Substantialität indifferent gegen Sein und Wissen. Sie muss eben deshalb sowohl »die Unmittelbarkeit des Wissens« selbst wie Unmittelbarkeit »für das Wissen« sein.35 Wird in dieser Weise das Wahre nur als Substanz aufgefasst, so scheint sogleich klar zu sein, dass das Prinzip der neueren Philoso­ phie, nämlich das Sich-Wissen, die Identität des Selbstbewusstseins in jeder Bestimmung und Unterscheidung, unmittelbar verloren sei. Doch der Gedanke der einfachen abstrakten Substantialität, in seiner puren Unmittelbarkeit genommen und festgehalten, ist gar nichts anderes als eben die Unmittelbarkeit des Denkens dieses Absoluten. Somit ist das zur absolut seienden Substanz entgegengesetzte Prinzip, »das Denken als Denken«, wenn reflektiert wird auf das, was damit gesetzt ist für das Erkennen, »dieselbe Einfachheit oder ununterschiedne, unbewegte Substantialität«.36 Dieses Abstraktum, die einfache Beziehung auf sich, Sichselbstgleichheit oder Identität für sich genommen, wäre in der Tat das caput mortuum des Subjekts. Es ist das ohne seine spekulative Pointe genommene, vereinseitigte Prinzip des kantischen transzendentalen Idealismus, ausgesprochen als Prinzip der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft, und ebenso im wiederum

33 

Der folgende Text beruht – mit einigen Kürzungen, Hinzufügungen und Modi­ fikationen – weitgehend auf den Ausführungen S. 516–526 meines Buches (Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen). 34 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 35 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 36 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18.

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bloß verständig aufgefassten Ersten Grundsatz in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95.37 Allein die dritte Weise, das Wahre als Substanz oder unmittelbare, sichselbstgleiche Positivität zu fassen, enthält die Möglichkeit, dieselbe zur Darstellung, durch die sie Subjekt wird, zu bringen, und zwar des­ halb, weil hierin die beiden zuvor entgegengesetzten Bestimmungen der Unmittelbarkeit als Sein der Substanz und als Sein des Denkens bereits vereint sein sollen. Diese Vereinigung, selbst als unmittelba­ re Einheit gesetzt, ist das Prinzip der intellektuellen Anschauung, aus dem Schelling das gesamte System des transzendentalen Idealismus dedu­ ziert hat. Dies ist jedoch auch diejenige Position, gegen die Hegel in den vorangehenden Absätzen gerade noch polemisiert hat. Die Vereini­ gung der Transzendentalphilosophie mit der Substanz-Lehre im Sinne Spinozas hat Schelling in seiner Philosophie des Absoluten vollzogen. Darin soll jedoch das Absolute selbst nichts als die »absolute Identität« in dem Sinne sein, dass sie alle Differenz und Bestimmung von sich ausschließt, obwohl zugleich alle Dinge und Vorstellungen genau nur in diesem unterschiedslosen Absoluten ihre Wahrheit finden sollen.38 Der Vorwurf Hegels wird nun, im Zusammenhang mit der Forderung, das Wahre als Subjekt zu entwickeln, als Vorbehalt ausgedrückt: es komme »noch darauf an, ob dieses intellectuelle Anschauen nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt, und die Wirklichkeit selbst auf eine un­ wirkliche Weise darstellt.«39 Was dem gegenüber positiv verlangt wird, wird im nächsten Absatz ausgeführt: Dass die Substanz, das Wahre, ebensosehr »Subject« sei, bedeutet, dass ihre Wirklichkeit »die Bewegung des sich selbst Set­ zens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist.«40 Von Anfang an – an sich – ist das Sein, die Substanz, ebensosehr Subjekt – und darum ist die Unmittelbarkeit derselben als Sein auch nur Anfang und hat die Negativität, die Andersheit nicht außer sich, 37 

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Rein­ hard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. In: Johann Gottlieb Fichte: J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth et al Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Abt. I, Bd. 2, 249–451, hier: 255–264. Im Folgenden zitiert als GA I 2. 38  Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 17: »Irgend ein Daseyn, wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sey zwar jetzt von ihm gesprochen worden, als von einem Etwas, im Absoluten, dem A=A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sey alles Eins.« 39 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 40 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18.

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sondern an ihm selbst. Nur so ist schon der fichtesche Anfang: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn« spekulativ fruchtbar.41 Er ist allerdings nicht die angemessene Bestimmung des eigentlichen Anfangs der spekulativen Wissenschaft; denn das Sichselbstsetzen ist bereits die Vermittlung und damit differenzierende, explizite Negativi­ tät. Es ist deshalb keineswegs reines Sein als reine Positivität, sondern ebensosehr »reine einfache Negativität, ebendadurch die Entzweyung des Einfachen«.42 Da dieses Sichselbstsetzen das Wesen des Subjekts überhaupt ist, kann die Sichselbstgleichheit des Subjekts keineswegs als reine Unmittelbarkeit begriffen und bestimmt werden, sondern die Sichselbstgleichheit ist »das Wahre« nur als die »sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche«.43 Mit diesen Bestimmungen fasst Hegel nur zusammen, was in der nicht einseitig verstandenen Position des transzendentalen Subjekts liegt, in Kants ursprünglich-synthetischer Einheit der Apperzeption wie in Fichtes absolutem Ich, indem dieses sich als Grund allen Be­ wusstseins in der Begrenzung des Ich durch das Nicht-Ich durchhält, so dass keine Begrenzung für das Ich sein kann, in welcher das Ich nicht sich als begrenzt auch selbst gesetzt hat. Was aber unterscheidet die hier von Hegel herausgehobene Bewegung der absoluten Selbstvermittlung von der Struktur des transzendentalen Prinzips, beziehungsweise was macht Hegel an diesem Prinzip gegen seine Ausführung bei Fichte und erst recht bei Kant geltend?44 Es ist der Ursprung der Negativität in der Unmittelbarkeit, im Sein und in der Substanz selbst. Wird die Substanz (das Sein, die Unmittelbarkeit) von Grund auf und konsequent aus dem Prinzip des absoluten Subjekts gedacht, so wird sie an ihr selbst als Denkbestimmung gefasst und damit reflektiert. Substanz und Sub­ jekt stehen sich nicht in äußerer, willkürlicher Beziehung gegenüber, sondern ihr Unterschied ist unmittelbar gesetzt mit jeder der beiden 41 Fichte:

Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 261. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 43 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 44 Zu einer Antwort auf diese Frage im Kontext der »setzenden Reflexion« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1978, GW 11, 250–252) darf ich verweisen auf den Abschnitt C.I.2.b) α): Die Negativität des Ich, 582–591, in: Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen sowie auf: Kaehler: Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik als Vollendung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie. In: Metaphysik und Metaphysikkritik in der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. v. Myriam Gerhard/Annette Sell/Lu de Vos. Hamburg 2012, 133–160, bes. 156 ff. 42 Hegel:

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Bestimmungen. So gefasst und reflektiert ist die Substanz absolutes Subjekt, denn als solches ist sie selbst dieses Negative, das Setzen ihres Unterschieds; und in diesem Setzen ihres Unterschieds, ihres Ande­ ren bezieht sie sich auf sich – sie ist als Subjekt die Sichselbstgleichheit des Negativen. So nur gibt es Anderes, dieses Es gibt ist nicht mehr als Geschehen, Anstoß oder unbegreifliches Gegebensein vorauszusetzen, weder als Gegebensein einer absoluten Substanz – das wäre ein un­ vordenkliches abstraktes Sein – noch als Gegebensein eines sinnlich Mannigfaltigen – welches ja bereits Kants eigener Lehre zufolge die notwendige Bedingung seines Gegebenseins, das heißt seines Seins für das Bewusstsein, darin hat, dass es zugleich im denkenden Erfassen verknüpft, verglichen und bestimmt werden muss, weil es allein da­ durch etwas für das Bewusstsein sein kann – ohne Bewusstsein mit sei­ nen Formen und Prinzipien a priori als notwendigen Bedingungen aber wäre auch nichts gegeben. Sei es also das endliche Wissen als Bewusstsein, worin das einseiti­ ge Subjekt als Ich den Gegenstand von sich selbsttätig unterscheiden muss, um von ihm als Gegenstand überhaupt zu wissen oder sei es die reine Abstraktion des Seins, der Sichselbstgleichheit und Unmittelbar­ keit – was daran Wahres ist, ist es nur in der denkenden Aufhebung jeder der gesetzten Bestimmungen, denn nur dadurch, in dieser Bewe­ gung, die die Reflexion, die methodische »Seele« des absoluten Erken­ nens ist, ist sie als Bestimmung gegen Anderes im Erkennen hervorge­ bracht und »dargestellt«. So sagt Hegel an späterer Stelle der Vorrede: »Dadurch überhaupt, daß, wie es oben ausgedrückt wurde, die Subs­ tanz an ihr selbst Subject ist, ist aller Inhalt seine eigene Reflexion in sich.«45 Hiermit wird auf prägnante Weise die Idee der absoluten Wis­ senschaft ausgesprochen, dass nämlich der Inhalt des Erkennens sich in seinem Begriff selbst erst bestimmt und wie diese Bestimmung jeweils nach Maßgabe des bereits im Erkennen erreichten, das heißt gesetzten Inhalts hervorzubringen ist. Damit wird jeder wahre Sachgehalt als bestimmter Inhalt erst eigentlich in dieser begreifenden Erkenntnis selbst erzeugt, ins Sein hervorgebracht. Die ganze Wissenschaft der Logik ist nichts anderes als die Darstellung dieser Selbstbestimmung des Wah­ ren als Subjekt; und andererseits vollzieht sich diese Selbstbestimmung nur als Fortbestimmung dessen, was jeweils schon gesetzt ist.46 45 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 39. »Der Begriff ist somit reine, denkende Selbstbeziehung […]. Sein Denken sei­ ner selbst [ist] […] eine reine, spontane Tätigkeit und Aktuosität, wie sie nach Hegel schon der Substanz zukommt, aber von komplexerer Vermittlungsstruktur, näm­ 46 

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Das Ganze dieser Struktur kann, da es ein in sich unterschiedenes und gegliedertes ist, gar nicht mit einem Schlage in seiner adäquaten Bestimmtheit gesetzt und gewusst werden. In solcher Unmittelbarkeit angeschaut – als Sich-Wissen des Ich in intellektueller Anschauung –, kommt es eben noch darauf an, ob das darin bloß Enthaltene, aber noch nicht Entfaltete, Gesetzte, auch über diese Form seines bloßen Seins hi­ nauskommt in seine unterschiedene Bestimmung und ob darin wiede­ rum das Eine und Selbe sich Bestimmende zurückgewonnen wird – als die, wie es hieß, »sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst«.47 Nur so gesetzt und aufgehoben ist das Sein das Wahre, nur in dieser mit sich identischen Bewegung oder Ne­ gativität ist es verwirklicht als Wissen; und deshalb ist das Wahre Subjekt nur als dieses sich selbst produzierende Ganze. Es ist somit erst wahr­ haft, nämlich gesetzt und entwickelt als das Wahre. Diese hegelsche Grundthese: »Das Wahre ist das Ganze« erweist sich somit selbst als eine Implikation des spekulativ gedachten und ausgeführten Subjekt-Prinzips.48 Denn das Ganze ist eben »nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen«, wie es im darauf folgenden Satz heißt. Das Wesen als solches ist das Wahre noch nicht als Wirkliches, sondern bloß als Ansich vorgestellt, als bloßes Wesen, in abstrakter Allgemeinheit, worin »von seiner Natur, für sich zu seyn, und damit überhaupt von der Selbstbewegung der Form abgesehen wird.«49 Mit »Selbstbewegung der Form« bezeichnet Hegel den Fort­ gang, die Entwicklung der Bestimmungen auseinander,50 so dass als lich von einer Identität, die sich zugleich negativ auf sich, als ihr Anderes, das sie doch selbst ist, bezieht.« (Klaus Düsing: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik. In: Klaus Düsing: Aufhebung der Tradition im dialektischen Denken. Untersuchungen zu Hegels Logik, Ethik und Ästhetik. München 2012, 55–76, hier: 62). Der logi­ sche Kern dieser Selbstbewegung des Begriffs ist die Syllogistik, die damit zugleich von Hegel reformuliert wird im Rahmen seiner »subjektivitätstheoretische[n] und metaphysische[n] Konzeption«, so dass diese »die allgemeine Grundlage von He­ gels systematischer Darstellung der Details der Syllogistik« bildet (Klaus Düsing: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik, 63). 47 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 48 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. 49 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. Wenn Hegel später, in der Wissenschaft der Logik, dieses Verhältnis von Wesen und Form genauer entwickelt als die erste Explikation der höchsten und komplexesten Reflexionsbestimmung: des Grundes, so ist damit die objektiv-logische Grundstruktur des Absoluten begriffen, wel­ che an sich bereits die des Subjekts in prinzipieller Bedeutung ist. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1978, GW 11, 291–322. 50 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19.

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diese Entwicklung sich das Ganze – als »das Wahre« – erst verwirk­ licht.51 Da das Wesen erst in seiner Entwicklung sich vollendet, näm­ lich als Subjekt, wäre es gerade nicht das Absolute, wenn es nur außer dieser Entwicklung, also getrennt von seinen Bestimmungen fixiert und vorausgesetzt würde. Es wäre damit nämlich eo ipso bereits die eine Seite einer Entgegensetzung und damit kein wahrhaft Absolutes, Un­ abhängiges, Unbedingtes, sondern eben nur das abstrakte Wesen, rein positive, unterschiedslose Identität des A=A, davon unterschieden aber aller Unterschied, dasjenige, was Hegel hier auch als »Form« bezeich­ net. Und somit ist eben das derart durch Abstraktion und Entgegenset­ zung auf die eine Seite gestellte sogenannte Absolute in Wahrheit das, als was es hiermit gesetzt ist, genau nur als so Entgegengesetztes – es ist mit seinem Gegenteil behaftet, indem es seine reine Identität nur da­ durch erhält, dass es allen Unterschied ausschließt. Also gerade wenn es das reine Absolute sein soll, ist es begrenzt, auf Anderes seiner selbst bezogen und der Unmittelbarkeit entnommen. Wenn es dagegen in seinem Unterschied, dem bestimmten Anderssein, sich mit sich selbst vermittelt, verwirklicht es sich erst und weiß sich als bestimmender und beziehender Grund. So erst ist es »das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen« – das Absolute als Subjekt, von dem gilt, »daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject oder sich selbst Werden zu seyn«.52 Das Wahre oder die »absolute Wirklichkeit« als Subjekt aufzufassen und auszudrücken, bedeutet also, von seiner Erkenntnis die Vermitt­ lung nicht auszuschließen, sondern vielmehr diese Erkenntnis als die Selbstvermittlung des Absoluten zu vollbringen; denn nur so ist dieses selbst Subjekt, und nur so ist vermieden, dass das denkende Anschauen des Absoluten »nicht wieder in die träge Einfachheit zurückfällt und die Wirklichkeit selbst auf unwirkliche Weise darstellt«, wie am Ende von Absatz 17 verlangt wurde. – Dies ist gegen jede Form eines unmit­ telbaren Erkenntnisanspruchs des Absoluten zu sagen: Die »Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen u.s.w.« sprechen das nicht aus,

51 

Über die ersten Rezensionen der Phänomenologie des Geistes scheibt Georg Wil­ helm Friedrich Hegel an Peter Gabriel van Ghert, 15. Oktober 1810: »das, worauf bei allem Philosophieren, und jetzt mehr als sonst, das Hauptgewicht zu legen, ist […] die Methode des notwendigen Zusammenhangs, des Uebergehens einer Form in eine andere« (Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Ham­ burg 1952. Bd. 1, 330). 52 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19.

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»was darin enthalten ist; – und nur solche Worte drücken in der That die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was mehr ist, als ein solches Wort, der Uebergang auch nur zu einem Satze, ist ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung. Diese aber ist das, was perhorrescirt wird, als ob dadurch, daß mehr aus ihr gemacht wird denn nur diß, daß sie nichts absolutes und im Absoluten gar nicht sey, die absolute Erkenntniß aufgegeben wäre.«53 Worauf es also für das Erkennen ankommt – dies ist Hegels These –, ist, dass das Absolute, statt die Vermittlung und die Reflexion aus sich auszuschließen, vielmehr gerade erst dadurch seine Wirklichkeit, weil seine durchgängige Bestimmtheit erhält. So ist es also die Subjektivität, die das Absolute, die abstrakte reine Substanz, zur wirklichen Totalität macht: »Denn die Vermittlung ist nichts anders als die sich bewegende« – die spontane – »Sichselbstgleich­ heit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsich­ seyenden Ich, die reine Negativität oder« – auf ihre reine Abstrak­tion herabgesetzt – »das einfache Werden«.54 Ist dieses Werden selbst zwar die Negativität, das Hervorbringen des Andersseins, das Unterscheiden schlechthin, so ist es doch in jedem Unterschied, jeder Bestimmung un­ mittelbar mit sich identisch und so zugleich durchgängig einfach, das Unmittelbare in aller Vermittlung und durch sie hindurch.55 Dies also ist die gesuchte »Natur des Erkennens der absoluten Wirk­ lichkeit«: die Natur des Subjekts als Prinzip des Erkennens zugleich mit dieser Wirklichkeit, weil diese auch nur als (erkennend-)erkannte die absolute Wirklichkeit selbst (und umgekehrt alles wahrhafte Er­ kennen Selbst-Erkennen der Wirklichkeit) ist. Diese gibt es gar nicht anders denn als das Sich-Vollbringen des absoluten Erkennens sel­ 53 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. Hier schließt sich Hegels spätere ausführliche Kritik der Lehre (oder These) an, dass nur das unmittelbare Wissen absolut sei. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Düsseldorf 1992, GW 20, 100–118, wo auf jeweils differenzierte Weise neben Jaco­ bi und Spinoza auch Descartes kritisiert wird, von dem Hegel gleichwohl sagt, er habe bereits alles Wesentliche zu dieser These gesagt. Doch bezieht sich die Kritik grundsätzlich nur auf die Einseitigkeit beziehungsweise Abstraktheit, mit der die Unmittelbarkeit der Vermittlung entgegengesetzt wird. Zum »ambivalenten Verhält­ nis« Hegels zu Jacobi vgl. Hans-Jürgen Gawoll: Von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung der Substanz. In: Hegel-Studien 33 (1998), 133–153. 54 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. 55  Vgl. die weiteren prägnanten Ausführungen zu dieser »einfache[n] Negativität«, die das Subjekt ist (Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18): Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 27–28, 34–35.

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ber. Darin wird der Vollzugscharakter, der seit Kant gegenüber der ob­ jektiven Metaphysik der Vernunft zur Idee der Vernunft und ihrer in­ trinsischen Systemform gehört, in das Prinzip aufgenommen, das sich dadurch als Subjekt vollendet. Das so verstandene Subjekt aber liegt seinen Bestimmungen nicht bloß zum Grunde – so wäre es wieder abs­ trakt, isoliert aufgefasst, das heißt nach Art des Verstandes-Denkens, etwa als Substanz –, sondern es wird im Fortbestimmen des Inhalts des Erkennens zunehmend selbst erst als Subjekt. Ist somit das, was Wirk­ lichkeit genannt wird, dazu tauglich, sich selbst zu erkennen und be­ steht es also nur als Selbstverhältnis, so drängt das Erkennen in jedem Stadium und in jeder Bestimmung dahin, sich zu realisieren, das heißt seinen zunächst nur äußerlich, als ein Anderes seiner selbst vorgefun­ denen Gegenstand als sich selbst zu bestimmen, da die Wahrheit des Gegenstandes nicht seine dem Erkennen äußerliche Existenz, sondern seine begriffene und im Wissen gesetzte Bestimmtheit ist. Ist also das Wahre die Wirklichkeit des vollendeten und deshalb absoluten Sub­ jekts selbst, so ist es, wie der letzte Satz des Absatz 18 bereits sagte, »das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«.56 Dieser Satz gilt also ebenso für das Wahre als Subjekt wie für das Erkennen des Wahren als Erkennen der absoluten Wirklichkeit: Das »Werden seiner selbst«57 oder das »durch seine Entwicklung sich voll­ endende Wesen« ist die Selbstentfaltung dieses Wissens in seiner in sich notwendigen Totalität.58 Deren Ordnungsform ergibt und recht­ fertigt sich allein als Form der Bewegung der Selbstentfaltung – sie ist insgesamt das, was Hegel das System nennt. System ist somit die entwickelte Wirklichkeit des Wissens, und zwar als diejenige des sich wissenden Subjekts. Deshalb hatte Hegel bereits im 5. Absatz der Vorrede behauptet: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein«; und er hat anschließend angekündigt: »Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn, – ist es, was ich mir vorgesetzt.«59

56 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 58 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19. 59 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 11. 57 Hegel:

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Für diese Bestimmung des absoluten Subjekts als Wirklichkeit des Wahren und Sichwissen dieser Wirklichkeit in der Form des Systems führt Hegel nun wieder den Begriff des Geistes ein, den er übrigens der »Vorstellung« entnimmt: »Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subject ist, ist in der Vorstellung ausge­ drückt, welche das Absolute als Geist ausspricht«. Dieser für die Vor­ stellung »erhabenste Begriff« ist nun in der Philosophie der Neuzeit,60 deren Einheit und Kohärenz nur durch die Entfaltung und Realisie­ rung des Subjekt-Prinzips gewährleistet ist, zum immanenten Gehalt des Erkennens geworden. So fasst diese Philosophie, in ihrer Gestalt als System der Wissenschaft, »ihre Zeit in Gedanken«61 – nämlich diese »neuer[e] Zeit und ihre[…] Religion«, der der Begriff des Geistes in ei­ gener Weise »angehört«.62 Der Absatz 25 gibt eine erste Analyse »de[s] Geistigen«, das heißt dessen, was der »Geist« ist. Diese Analyse ist ersichtlich ein erneuter Durchgang durch die abstrakten Momente des Wahren als des abso­ luten Subjekts: 1. Es ist »das Wesen oder an sich seyende«; 2. das »sich Verhaltende oder bestimmte, das Andersseyn und Fürsichseyn«; und 3. das »in dieser Bestimmtheit oder seinem Aussersichseyn in sich selbst blei­ bende; – oder es ist an und für sich.«63 Diese abstrakte Exposition des Begriffs des Geistes aber gibt als solche nur die »geistige Substanz«.64 Zwar ist Substanz nur geistiger Natur, indem sie in der Weise der Selbstvermittlung, in ihrer Bestimmt­ heit oder ihrem Außersichsein zugleich in sich selbst bleibt – das heißt in der Seinsweise des Subjekts; aber damit alle Realität, aller geistige Gehalt der Substanz auch als geistiger existiert, als durch sie selbst er­ 60 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. Klaus Grotsch/Elisabeth Weisser-Lohmann. Düsseldorf 2009. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungs­ gemeinschaft hrsg. v. d. Nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg 1968 ff. Bd. 14,1, 15. 62 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Geist beziehungsweise Subjekt, System und Wissenschaft verweisen also nach der von Hegel entwickelten Kon­ zeption aufeinander als komplementäre Bestimmungen eines Ganzen. Sie bedin­ gen und erfüllen sich wechselseitig, so dass sie – so verstanden – weder einander einschränken noch im Konflikt miteinander stehen können. Demgegenüber kann M. Heidegger nur aufgrund seiner Verkennung der prinzipiellen Bedeutung der Subjektivität befinden, »der Grund des Systems [sei] dunkel« und der »Weg zum System […] nicht gesichert« (Heidegger: Schellings Abhandlung, 53). 63 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. 64 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. 61  Georg

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zeugt, muss er der Substanz in seinem ganzen Umfang und seinen not­ wendigen Bestimmungen gegenständlich werden. So verhält sich die geistige Substanz als Bewusstsein. Erst darin wird das abstrakte Anund­ fürsichsein, der Begriff des Geistes überhaupt, für ihn selbst: Indem er darin sich gegenständlich wird, vollbringt er sich, die geistige Substanz, als Subjekt. Seine bestimmte Existenz ist dadurch nichts als das kon­ tinuierliche, einfache Sich-Wissen oder der in sich reflektierte Gegen­ stand. Während das erste Fürsichwerden des Anundfürsich, der geis­ tigen Substanz, in seiner bestimmten fortschreitenden Notwendigkeit die »Wissenschaft des erscheinenden Geistes« ist, beginnt erst mit dem Resultat dieser Wissenschaft, worin der Geist seinen Gehalt, seine Re­ alität in der Form oder Gestalt des Geistes, das heißt des reinen Be­ griffs, erreicht hat, die Wissenschaft des absoluten Sich-Wissens oder der Logik. (Diese beiden Ebenen unterscheiden und bestimmen die beiden Sätze nach dem Gedankenstrich.) Auf der zweiten Ebene, der Logik oder des reinen Wissens, ist dem­ nach der Geist »auch für sich selbst für sich«; und »so ist dieses Selbst­ erzeugen, der reine Begriff, ihm zugleich das gegenständliche Element, worin er sein Daseyn hat; und er ist auf diese Weise in seinem Daseyn für sich selbst in sich reflectirter Gegenstand«.65 Damit aber ist die volle Wirklichkeit des Subjekts erreicht: »Der Geist, der sich so als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut.«66 65 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Es ist deshalb eine grundsätzliche Verkürzung der hegelschen Position im »Streit um die Gestalt der Ersten Philo­ sophie«, weil dem Ansatz und der Idee der absoluten Wissenschaft (und zugleich dem zugehörigen Begriff des Systems) unangemessen, einen vorphilosophischen »Begriff« (das heißt im Sinne Hegels: eine Vorstellung) des Geistes vorauszusetzen, der als »lebendig-existenzielle Basis« von sich aus mit dem »System« in Konflikt stehen soll und allenfalls noch nachträglich – und dann nur problematisch – mit ihm zu «versöhnen« sei, wie Birgit Sandkaulen sagt (»Was geht auf dem langen Weg vom Geist zum System nicht alles verloren«. Problematische Transformationen in der klassischen deutschen Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 363–375, hier: 369). Vielmehr steht, wie ausgeführt, Geist für die Wirklichkeit des Wissens als durchgängiges Sich-Wissen in allen Gestalten seiner subjektiven und gegenständ­ lichen Seinsweisen; und dieses wiederum bildet aufgrund der Selbstgegenwart des Subjekts als Bewegendes in allen Bestimmungen und Unterschieden einen notwen­ digen inneren Zusammenhang, das heißt ein System. Insofern lässt sich wohl sagen, die Philosophie müsse System sein (Sandkaulen: »Was geht auf dem langen Weg vom Geist zum System nicht alles verloren«), aber im Sinne dieser Philosophie doch nur, weil Wissen und Wahrheit allein im Selbstvollzug der Vernunft ihren Ort und ihre Gültigkeit haben – in der »absolute[n] Form« der Selbstgewissheit des Subjekts 66 Hegel:

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Die allgemeinen Ausführungen der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes geben die Idee der Philosophie als absolute Wissenschaft. Die angemessene, nämlich systematische Darstellung dieser Wissenschaft und darin zugleich ihrer Sache, der Wirklichkeit des Geistes, wäre die interne Selbstvollendung des Subjekts als Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik, gemäß seinem Vollendungssinn im cartesischen Anfang und seiner im spekulativen Wahrheitsbegriff erreichten vollständigen, adäquaten Gestalt und Ausführung. Aus dieser Darstellung aber wäre dann auch erst zu begreifen und zu bedenken, was es mit Anspruch und Wirklichkeit des absoluten Subjekts in seiner Selbstvollendung auf sich hat; und ferner, ob und wie nicht auch diese Vollendungspo­ sition des neuzeitlichen Prinzips der Ersten Philosophie über sich hi­ nausweist, und zwar gerade weil sie als vollendete Position auf ihre Grenze festgelegt ist; denn damit schließt sie jeden absolut äußeren Unterschied zu sich – als dem Ganzen ihrer selbst gesetzten, begriff­ lich bestimmten und darum spekulativ wahren Unterschiede – aus: alles unvermittelt Äußerliche, das von diesem Ganzen prinzipiell nicht voll­ ständig bestimmt wird, also dagegen auch indifferent und insofern von der spekulativen Bestimmungsmacht auch unabhängig bleibt und doch in der externen Negativität der Idee – ihrer »absoluten Entäußerung« – permanent und unaufhebbar mitproduziert wird. Diese äußerste Krisis des Subjekt-Prinzips, die nach den metaphy­ sik-immanenten Krisen des metaphysischen und des transzendentalen Subjekts als Krisis des absoluten Subjekts die Metaphysik in ihrem höchsten Anspruch angeht, lässt sich in einer Rekonstruktion der neu­ zeitlichen Geschichte des Subjekt-Prinzips als dessen endogene Krisis begreifen und analysieren, deren Resultat die prinzipielle Dezentrie­ rung des Subjekts ist.67 Dadurch wird ein philosophischer Begriff der Moderne im engeren Sinne (im Unterschied zur Neuzeit) und ihres

(Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 23) als dem Grund aller konkreten Wahr­ heit. Diese Herausforderung anzunehmen, das heißt in allem Sein und Leben, Er­ kennen und Handeln vorbehaltlos auszutragen und philosophisch als Totalität zu reflektieren, wird auf andere Weise, nämlich als Resultat, dazu führen, das Prinzip Subjekt selbst neu zu fassen, so nämlich, dass die vorphilosophischen Instanzen begriffsindifferenter Erfahrung und irreduzbler Qualitäten und Dimensionen der Existenz (die Birgit Sandkaulen mit Jacobi anmahnt gegen den »Schulturm«, vgl. Sandkaulen: »Was geht auf dem langen Weg vom Geist zum System nicht alles verloren«, 372) ausdrücklich als unabhängige Momente einer anderen, dann nämlich prinzipi­ ell nach-metaphysischen Philosophie zu rechtfertigen und geltend zu machen sind (vgl. dazu die folgende Anmerkung). 67  Vgl. Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen.

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nachmetaphysischen Denkens gewonnen – ein Begriff, der sich verste­ hen kann als argumentativ gerechtfertigt im selbstreflexiven Austrag des äußersten Wahrheitsanspruchs der Metaphysik, nämlich der Me­ taphysik absoluter Subjektivität.

Violetta L. Waibel Hegels Begriff der Substanz 1804/05 in Absetzung von Kant, Fichte und Spinoza »Systeme in Bewegung« – wenn ich mich im Folgenden Hegels Systementwurf von 1804/05 zuwende, so ist es selbstredend, dass Hegels Systemkonzeption noch im Werden ist.1 Die Phänomenologie des Geistes ist erst mit dem aus den Vorlesungen von 1805/06 hervorgehenden Systementwurf im Blick, die Wissenschaft der Logik entsteht ein knappes Jahrzehnt später, von den Enzyklopädien 1817, 1827, 1830 ist noch gar nicht zu reden. Nur zur Nürnberger Frühfassung der Enzyklopädie von 1808 ist es nicht mehr weit. Doch es geht in diesem Beitrag nicht um die Denkbewegung, die Hegel innerhalb des Werdens seines Systems durchlaufen hat, sondern um die Denkbewegung, die Hegel im Hinausgehen über die Substanzbegriffe, die er bei Kant, Fichte und Spinoza vorfinden konnte, vollzogen hat. »Kant hat dasselbe, was Hume ausgesprochen, die Substanzen Hume’s, die aufeinanderfolgen oder nebeneinander, überhaupt für sich gleichgültig gegeneinander sind, bleiben diß ebenso bey Kant; daß ihm das was Hume Dinge nennt, Empfindungen, Wahrnehmungen, sinnliche Vorstellungen, oder wie er sonst will, sind, macht zur Sache gar nichts, es sind verschiedene, für sich seyende; die Unendlichkeit des Verhältnisses, die Nothwendigkeit ist ein von ihnen getrenntes; jenes für sich seyn der Verschiedenen nennt er als objektiv eine zufällige Zusammenstellung, und das nothwendige bleibt ein subjectives; jenes Erscheinen ist für sich, und die Nothwendigkeit als ein Verstandesbegriff ebenso für sich. Die Erfahrung ist wohl die Verknüpfung des Begriffs und der Erscheinung, das heißt, das Mobilmachen der gleichgültigen Substanzen, Empfindungen oder wie man sonst will, wodurch sie bestimmte, nur im Gegensatze seyende werden; aber diß Verhältniß ist selbst, es ist eigentlich schwer zu sagen, was, es ist wenigstens nicht was die Dinge an sich sind; es ist um einen Nahmen zu haben, ein bloß subjectives [...].«2 1 

Ich danke Gabriele Geml und Anna Maria Kontriner für die sorgfältige redaktionelle Unterstützung bei der Arbeit an diesem Beitrag. 2  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann/Johann Henrich Trede. Bonn-Bad Godesberg 1971. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-

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Hier spricht Hegel deutlich aus, dass er mit seiner Darlegung des Problems der Substanzen im Fragment von 1804/05 ein Problem aufnimmt, das Kant in der Auseinandersetzung mit Hume zu seiner eigenen Konzeption veranlasste. Hegel diagnostiziert ein gleichgültiges Nebeneinander von Substanzen sowohl bei Hume als auch bei Kant. Von der Substanz getrennt ist auch der kategoriale Modus der Notwendigkeit, der von Hume wie von Kant der Kausalität zugeschrieben wird, wobei Kausalität, wie insbesondere Kant deutlich gemacht hat, an die Substanzialität gebunden ist. Die Stelle zeigt daher auch, dass Hegel nicht am Problem der Kausalität ansetzt, wie Kant dies in Beziehung auf Hume tut, sondern an dem der Substanz oder der Substanzen. Nimmt man den Faden bei Kant auf, dann sieht man sich auf Kants Kategorienlehre und insbesondere auf das System der Grundsätze verwiesen, wie Kant es in der Kritik der reinen Vernunft und in gestraffter Form nochmals in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können dargelegt hat. In der Methode weicht Hegel unverkennbar von Kant ab, wie die eben angeführte Lektüreprobe zu erkennen gibt. Es gilt, das gleichgültige Nebeneinander zu überwinden. Nicht ohne Grund sieht man sich methodisch auf die Art verwiesen, wie Johann Gottlieb Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 Kants Kategorien aus dem Ich zu entwickeln suchte und damit einen inneren Zusammenhang der Aktvollzüge des Geistes konstruierte, wenngleich Hegel auch von Fichtes Ansatz deutlich abweicht. Hegels »Darstellung des Fichte’schen Systems« in seiner Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie zeigt jedoch, dass er mit der Grundlage Fichtes gut vertraut war. Die sich zeigende Nähe einerseits zu Kant und andererseits zu Fichte bei aller zu würdigenden systematischen Distanz hilft gleichwohl, Hegels schwierige Darstellung aufzuschließen. Beide Konzeptionen lesen sich wie Subtexte, die den einen oder anderen Faden an die Hand geben, um sich Hegels eigener Systematik anzunähern. Diese systematischen Gedankenbewegungen sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Spinoza hatte von der Substanz gezeigt, dass es nur eine gebe und diese der Inbegriff aller Welthaltigkeit sei. Dieser Substanzbegriff, den Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 7, 50. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.

Hegels Begriff der Substanz 1804/05

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Spinoza mit Gott gleichsetzt, scheint mit dem naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Begriff der Substanz eines Hume und Kant wenig gemein zu haben. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob Hegel schon 1804/05 das Problem im Blick hat, das er in der berühmten und vielbemühten Stelle in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes formuliert: »Es kömmt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.«3 Im Weiteren stellt Hegel 1807 ausdrücklich eine Identität zwischen Substanz und Subjekt her: »Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subject, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist.«4 »Die lebendige Substanz ist […] in Wahrheit Subject« wird von Hegel in bündiger Zusammenfassung behauptet und damit eine Identität zwischen der lebendigen Substanz und dem Subjekt hergestellt. Nicht ohne Grund sieht man sich hierbei an Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre erinnert, in der Fichte ausdrücklich diskutiert, ob das erste Prinzip der Philosophie das Subjekt oder die Substanz ist. Spätestens seit 1807 gilt für Hegel die in der Phänomenologie des Geistes festgeschriebene Doppelnatur von Substanz und Subjekt.5 In knappen Ansätzen ist diese Perspektive 1804/05 schon mitgedacht, wie am Ende dieses Beitrags kurz gezeigt wird.

1. Vorbemerkungen zu Hegels Systementwurf von 1804/05 Hegel behandelt in seinem Systementwurf von 1804/05 Logik und Metaphysik noch getrennt. Die Entscheidung für ein methodisches Verfahren, das sich über die Reflexionsphilosophie kantischer Provenienz zur Spe-

3  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Düsseldorf 1980, GW 9, 18. 4 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 5  Andreas Arndt arbeitet in seinem Beitrag »Enthüllung der Substanz«. Hegels Begriff und Spinozas dritte Erkenntnisart. In: Affektenlehre und amor Dei intellectualis. Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, der Frühromantik und der Gegenwart. Hrsg. v. Violetta L. Waibel. Hamburg 2012, 231–242, die Unterschiede der Substanzbegriffe bei Spinoza und Hegel heraus. Er kommt zum Resultat, dass Hegel Spinoza ein Verbleiben im Äußerlichen der Reflexion attestiert. Gleichwohl sei Hegels Programm der Enthüllung der Substanz selbst nur in Umrissen realisiert worden.

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kulation erhebt, ist bereits gefallen.6 Auch Fichtes Reflexionsphilosophie gilt es zu überwinden. Zwar hat Fichte die Vereinzelung der Momente des Bewusstseins überwunden, aber es ist ihm in der Sicht Hegels nicht gelungen, eine überzeugende Identität von Subjekt und Objekt zu erreichen, wie Hegel in der Differenzschrift moniert.7 Dem stimmte auch Schelling zu, der freilich den mos geometricus Spinozas an die eigenen methodischen Vorstellungen einer Konstruktion anzupassen suchte.8 Obwohl es hinlänglich bekannt ist, dass Kants Unternehmen zentraler Ausgangspunkt für Hegels eigenen Denkweg war, kommt Hans Friedrich Fulda in seinem Buch Hegel in der Reihe Denker zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die Frage, wie Hegels »Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Dialektik des näheren ausgesehen haben mag, […] eine mühevolle Rekonstruktion zu zeigen [hätte]. Sie ist noch kaum in Angriff genommen, obwohl sie besonders geeignet wäre, Kantkenner in Hegels spätere Werke einzuführen.«9 Da Hegels Substanzbegriff im Logik-Fragment von 1804/05 im Zentrum dieses Beitrags steht, darf hinzugefügt werden, dass auch noch manches Forschungsdesiderat hinsichtlich Hegels Auseinandersetzung mit Kants System der Grundsätze besteht.

6 Vgl.

etwa den Abschnitt »Verhältniss der Spekulation zum gesunden Menschenverstand« in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968, GW 4, 1–92, hier: 20–23. 7  So schreibt Hegel etwa im Abschnitt zum Fichte’schen System: »In diesem Wechselverhältniß bleibt ihre absolute Entgegensetzung; die Identität, welche statt finden kann, ist eine höchst unvollständige, und oberflächliche; es ist eine andere nothwendig, welche reines und empirisches Bewußtseyn in sich faßt, aber beyde, als das was sie sind, aufhebt.« (Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, hier: 43). 8  Zu Schellings methodisch zentralem Begriff der Konstruktion, der sich an Kants Konstruktion in der (reinen) Anschauung anlehnt, aber deutlich darüber hinausgeht, vgl. etwa Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transcendentalen Idealismus (1800). Hrsg. v. Harald Korten/Paul Ziche (2005). In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs/Jörg Jantzen/Hermann Krings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Bd. I 9.1, 40, 61, 89 und öfter. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 9  Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003, 81. – Vgl. ­Violetta L. Waibel: »With Respect to the Antinomies, Fichte has a remarkable idea.« Three Answers to Kant and Fichte – Hölderlin, Hardenberg, Hegel. In: Fichte, German Idealism, and Early Romanticism. Fichte-Studien Supplementa 24. Hrsg. v. Daniel Breazeale/Tom Rockmore. Amsterdam/New York 2010, 301–326.

Hegels Begriff der Substanz 1804/05

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Verblüffend ist dieser Umstand deshalb, weil es offenkundig ist und von vielen bemerkt wird, dass Hegel sein System auch als eine Antwort auf Kant konzipiert hat.10 Nachvollziehbar ist das Desiderat aus dem Umstand, dass Hegels Philosophie lange Zeit als Gipfel der Systementwicklungen der Deutschen Idealisten angesehen wurde. Das hatte zur Folge, dass Hegels Werk häufig systemimmanent gelesen wurde, statt nach seinen Anfängen und seiner Genese zu fragen. Für zahlreiche Forscher hat Hegel DAS System der Philosophie geschrieben. Daher wurde auch gar nicht ernsthaft daran gearbeitet, innerhalb von Hegels Schriften eine systematische Entwicklung auszumachen. Eher selten werden zudem die Jenaer Systementwürfe rezipiert, und wenn, dann als unreife Stadien auf dem Weg zum System. Heinz Kimmerle hat mit Nachdruck gefordert, der »Eigenbedeutung der Jenaer Systementwürfe Hegels« Rechnung zu tragen, und eine entsprechende Fachtagung initiiert, dessen Akten diesen Titel tragen.11 In diesem Sinne werde ich mich im Folgenden auch mit Hegels Konzeption von 1804/05 beschäftigen, dem die Herausgeber den Titel der drei Systemteile gaben, die als Fragment überliefert sind, nämlich Logik, Metaphysik, Naturphilosophie. Mit diesen Fragmenten ist eine erste eigene Rekonstruktion Hegels von Kants Erkenntnistheorie überliefert, die in der Grundanlage schon derjenigen nahekommt, die er in Nürnberg ausarbeiten und 1812, 1813 und 1816 in der großen Wissenschaft der Logik veröffentlichen wird.12 Die »Einfache Beziehung« im Abschnitt der »Logik« von 1804/05 bildet Kants Kategorien der Qualität und der Quantität ab, und entwickelt sich 1812 zur Seinslogik. An das Kapitel »Einfache Beziehung« schließt sich 1804/05 ein Kapitel über »Das Verhältnis« an, das sich mit den Relationskategorien kantischer Provenienz beschäftigt und die Modalbestimmungen in diesen Überlegungsgang integriert. Dieser The-

10 Vgl.

zum Thema Substanz bei Kant und Hegel Claudia Bickmann: Der Begriff als ›Wahrheit der Substanz‹? Hegels ›Begriff des Begriffs‹ im Ausgang von Kants ›transzendentaler Einheit der Apperzeption‹. In: Hegel-Jahrbuch 2016. Hegels Antwort auf Kant I. Berlin 2017, 143–147. – Vgl. ferner Andree Hahmann: Hegel on Substance, Causality, and Interaction. In: Hegel-Jahrbuch 2016. Hegels Antwort auf Kant I. Berlin 2017, 171–175. 11  Heinz Kimmerle (Hrsg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. In: Hegel-Forschungen. Berlin 2004. 12  Walter Jaeschke weist in seinem Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2003, 164–169, im Abschnitt »4.6.6. Systementwurf II (1804/05)« auf die Parallelen, die in den Teilen »Logik« und »Metaphysik« dieses Systementwurfs zu Kants Kritik der reinen Vernunft leicht einzusehen sind.

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menkreis findet sich am Ende der Wesenslogik von 1813 wieder.13 Im Abschnitt »Metaphysik« des Fragments von 1804/05 findet sich explizit der Titel »Das Erkennen als System von Grundsätzen«. Dieser Titel bezieht sich offenkundig auf Kants »System der Grundsätze des reinen Verstandes«. Hegel beschäftigt sich in dem Kontext mit dem Satz der Identität und des Widerspruchs, dem Grundsatz der Ausschließung eines Dritten und schließlich dem Satz des Grundes, also dem Problemkontext, der ihn in der Begriffslogik von 1816 beschäftigen wird. Dies wird in diesem Beitrag nicht mein Thema sein. Es ist davon auszugehen, dass Hegel das schlusslogische Problem, das Kant im »System der Grundsätze« behandelt, separiert und zunächst in diesem Abschnitt über »Metaphysik« thematisiert. Dieser grundsätzlichen Trennung bleibt er auch später treu, wenn er auf die Seins- und Wesenslogik die Begriffslogik folgen lässt. Das inhaltliche Prob­lem des »Systems der Grundsätze«, also die Frage der kategorialen Objektkonstitution gelangt 1804/05 im Abschnitt über »Logik« zur Darstellung, und später, wie erwähnt, in der Seins- und Wesenslogik. Die Trennung von Logik und Metaphysik von 1804/05 wird in der Wissenschaft der Logik aufgehoben. Kant hat beides im »System der Grundsätze« ohnehin als integrale Bestandteile einer Transzendentalen Logik behandelt. Der Substanzbegriff, den Hegel im Abschnitt über »Logik« von 1804/05 thematisiert, ist nicht der systemtragende Substanzbegriff, den man von Spinoza kennt, dessen Substanzontologie in den durch Friedrich Heinrich Jacobis Buch Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785 und 1789) angefachten Debatten vielfach diskutiert wurde, und durch die sich Schelling bald veranlasst sah, sich zu einem Spinozisten zu erklären.14 Spinozas Konzeption der Subs­ tanz mit ihren beiden dem menschlichen Geist zugänglichen Attributen res extensa und res cogitans ist, systemtheoretisch gelesen, in der 13 Vgl.

die umfangreiche Untersuchung von Thomas Sören Hoffmann: Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel. Berlin/New York 1991. 14 Schelling schreibt am 6. Januar 1795 an Hegel, dass er an einer »Ethik à la Spinoza« arbeite, und knapp einen Monat später, am 4. Februar 1795, schreibt er ihm: »Ich bin indeßen Spinozist geworden!« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefwechsel 1786–1799. Hrsg. v. Irmgard Möller/Walter Sieche (2001), AA III 1, 17, 22.) Walter Jaeschke weist in dem von ihm verfassten und herausgegebenen Werk HegelHandbuch. Leben – Werk – Wirken. Stuttgart/Weimar 2003, 140, zurecht darauf hin, dass Hegel seine Spinoza-Kenntnisse durch die Mitarbeit an Heinrich Eberhard Gottlob Paulus’ Ausgabe der Werke Spinozas (1803) erweitert haben dürfte. Vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Schriften und Entwürfe (1799–1808). Hrsg. v. Manfred Baum/ Kurt Rainer Meist. Düsseldorf 1998, GW 5, 513, 720–729.

Hegels Begriff der Substanz 1804/05

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Tat sehr einleuchtend. Das schlägt sich manifest in der Rezeption von Spinozas Substanzlehre durch die nachkantischen Denker nieder, die man gemeinhin unter dem Titel des Deutschen Idealismus zusammenfasst. Fichte, Schelling und auch Hegel beziehen sich in unterschiedlicher Weise affirmierend auf diesen Begriff einer systembegründenden Substanz. Im fraglichen Abschnitt über »Logik« klammert Hegel diesen Aspekt aus. Zu Spinozas Substanzontologie erklärt sich Hegel ausdrücklich in der Wesen- und Begriffslogik.15 Hegel interessiert sich im fraglichen Fragment von 1804/05 für einen erkenntnistheoretisch-naturwissenschaftlichen Begriff der Substanz, der die Schwächen zu meiden sucht, die nach Hegels Urteil Humes und Kants Theorien anhaften. Zu den wiederholten kritischen Einwürfen der Nachkantianer zählt die Behauptung, Kant habe zwar Bedeutendes geleistet, aber es gelte, die Architektonik seines Systems grundlegend zu verbessern. So ist der systematische Zusammenhang der drei Kritiken zwar durch Kant selbst insbesondere in der Einleitung zur Dritten Kritik deutlich gemacht worden,16 aber Kants frühen Lesern ist dies zu wenig entwickelt und ausgearbeitet. Zudem ist es eine Tatsache, dass auch innerhalb der Kritiken zwar wichtige Resultate vorgelegt wurden, aber die Verknüpfung der Teile, also der Bausteine der kritischen Vernunft, fehlt über weite Strecken. Kant selbst weist in der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft (mit besonderem Nachdruck 1787) darauf hin, dass mit dieser Schrift »das System aller Prinzipien der reinen Vernunft«, aber noch nicht die »Transzendental-Philosophie« selbst aufgestellt sei.17 »Diese Vollständigkeit der Zergliederung so wohl, als der Ableitung aus den künftig zu liefernden Begriffen a priori, ist indessen leicht zu ergänzen, wenn sie nur allererst als ausführliche Prinzipien der Synthesis 15 Vgl.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1978, GW 11, 376–378 – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1981, GW 12, 14–15. 16  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Mit Einleitungen und Bibliographie hrsg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 2009, hier: »III. Von der Kritik der Urteilskraft als einem Verbindungsmittel der zwei Teile der Philosophie zu einem Ganzen«, [Seitenverweise nach Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern, Berlin, später Berlin/ New York 1900 ff. Im Folgenden zitiert als AA mit Angabe der Abteilungsnummer in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen], hier: AA I 5, 176–179. 17  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, A 14/B 27.

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da sind, und ihnen in Ansehung dieser wesentlichen Absicht nichts ermangelt.«18 In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 verweist Kant zudem die künftigen Metaphysiker auf das Beispiel, das Christian Wolff gegeben habe, und das als Leitfaden für eine künftige Metaphysik dienen könne, wenn es in Rücksicht auf die neuen Prinzipien der kritischen Vernunft ausgearbeitet werde: »In der Ausführung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab, (und durch dies Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde,) wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei, der auch eben darum eine solche, als Metaphysik ist, in diesen Stand zu versetzen vorzüglich geschickt war, wenn es ihm beigefallen wäre, durch Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft selbst, sich das Feld vorher zu bereiten: ein Mangel, der nicht sowohl ihm, als vielmehr der dogmatischen Denkungsart seines Zeitalters beizumessen ist, und darüber die Philosophen, seiner sowohl als aller vorigen Zeiten, einander nichts vorzuwerfen haben. Diejenigen, welche seine Lehrart und doch zugleich auch das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft verwerfen, können nichts andres im Sinne haben, als die Fesseln der Wissenschaft gar abzuwerfen, Arbeit in Spiel, Gewißheit in Meinung, und Philosophie in Philodoxie zu verwandeln.«19 Nun, ob sich Fichte, Schelling oder Hegel an dieser Empfehlung Kants orientierten, mag dahin gestellt bleiben. Einig waren sie sich darin, dass es galt, die neue nachkantische Metaphysik auszuarbeiten, von der Kant selbst sagt, dass er sie noch nicht vorgelegt habe. Diese neue Metaphysik in der Nachfolge Kants artikuliert sich dann als spekulative Philosophie, zu der Kant selbst nur teilweise gefunden habe, wie Hegel etwa in der Differenzschrift festhält.20 18 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 14/B 28. Vgl. ebenso Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 82/B 108. 19 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXVI–XXXVII. 20 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 5–6.

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Hegels Wissenschaft der Logik lässt sich weithin in einer Kant zugleich affirmierenden und kritischen Perspektive lesen. Eine der fraglichen Lücken, die Kant hinterlassen habe, wird jedoch bereits durch die »Logik« geschlossen, die Hegel 1804/05 ausgearbeitet hat. Schon diese frühe Logik, die noch eine Metaphysik an ihrer Seite hatte, ist offenkundig ein Anschluss- und Nachfolgeprojekt zu Kants transzendentaler Logik. Von der allgemeinen Logik unterscheidet sich die transzendentale Logik dadurch, dass sie allgemeine Inhalte einer Erfahrungserkenntnis zu ihrem Gegenstand hat, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft darlegt.21 Hegels Logik in der frühen wie in der späten, weit umfangreicheren Form gibt eine Antwort auf zahlreiche Desiderate, die Kant in der Lesart seiner Nachfolger offengelassen hat. Es wird sich zeigen, dass in der Tat die Konzeptionen von Kant und Hegel als wechselseitig einander befruchtend und ergänzend gelesen werden können. Kant stellt ein erkenntnistheoretisches Grundgerüst bereit, dessen Elemente sich in Hegels Rekonstruktion spiegeln. Hegel hingegen setzt mit einer spekulativen Form ein, die der Komplexität des faktischen Seins sehr viel näher steht und vom Zusammenhang des Erfahrungsganzen her das Problemfeld auszuleuchten sucht. Wo Kant einer Elementarlehre folgt, in der er die Kategorien, deren Grundsätze und Funktionen nebeneinander hinstellt, und es die Aufgabe des Lesers ist, den Zusammenhang aus den ausgewiesenen Bausteinen in Gedanken selbst herzustellen, beginnt Hegel mit diesem kompakten, der Wirklichkeit Rechnung tragenden Zusammenhang, um vom Ganzen her theoretisch wichtige Teilaspekte zu artikulieren. Wenn nun im Folgenden Hegels Überlegungsgang zur Substanzialität im »Logikfragment« von 1804/05 untersucht wird, so sind davon Kausalität und Wechselwirkung nicht völlig zu trennen, auch wenn Hegel diese drei Kategorien einzeln behandelt. Man sieht sich bereits mit dieser äußerlichen Aufzählung auf Kants Relationskategorien und ferner auf das »System der Grundsätze« in der Kritik der reinen Vernunft verwiesen, genauer auf die drei »Analogien der Erfahrung«, die dort in eben dieser Reihenfolge abgehandelt werden. Eine unvorbereitete, erste Lektüre von Hegels entsprechenden Passagen ist unleugbar dunkel und verschließt sich einem unmittelbaren Verständnis. Stellt man sich jedoch den systematischen Zusammenhang von Kants erkenntnistheoretischem Anliegen ebenso vor Augen, wie Fichtes Anspruch einer neuen Ableitung der kantischen Kategorien aus dem Ich 21  Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 57/B 81–82.

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als einem reinen, absoluten Subjekt, so hat man damit einige Parameter gewonnen, um Hegels Text aufzuschließen.

2. Kategorien als Funktionen und ihr systematischer ­Zusammenhang Im Rahmen der »Metaphysischen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« hat Kant darauf hingewiesen, dass die Urteilsformen und Kategorien in den Tafeln einzeln vorgestellt werden, dass jedoch ein Urteil immer aus mehreren Funktionen derselben zusammengesetzt sei. Jedes Urteil verfüge über Qualität, Quantität, Relation und Modalität. Manchmal treten aus einer Gruppe mehrere Funktionen gleichzeitig auf. Das Studium der »Analogien der Erfahrung« in der Kritik der reinen Vernunft zeigt, dass etwa das Prinzip der Kausalität nicht begriffen werden könnte, isolierte man es vollständig von der Substanzialität. Bei der Behandlung der Modalitäten, die Kant unter dem Titel der »Postulate des empirischen Verstandes« thematisiert, zeigt sich, dass die Kategorie der Notwendigkeit keine andere Extension ihrer Anwendung hat, als die im Zusammenhang der Kausalität.22 Der Interpret ist, wie so oft bei Kant, dazu aufgefordert, die systematischen Zusammenhänge, die Kant durchaus andeutet, wenn man nur genau genug liest, herauszustellen und zuweilen überhaupt explizit zu machen. Kein Wunder, dass die Kontroversen um das richtige Verständnis der »Analogien der Erfahrung« groß sind. Nun lässt sich behaupten, dass sowohl Fichte als auch Hegel das systematische Anliegen verfolgten, die kantischen Kategorien, deren intrinsischen Zusammenhang Kant nicht ausführlich ausgearbeitet hat, zum Gegenstand ihrer Rekonstruktionen der Erkenntnistheorie Kants machten, so unterschiedlich auch die Ergebnisse ausgefallen sind. Fichte rekonstruierte den Zusammenhang der Kategorien bereits in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95. Als sich Hegel zehn Jahre später mit Kants Systementwurf beschäftigte, musste er Fichtes Vorgehensweise in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre gekannt haben, zumal er Fichtes Wissenschaftslehre spätestens in seiner Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der 22  Vgl. Violetta L. Waibel: Die Notwendigkeit der Verbindung von Ursache und Wirkung. Noch einmal: Hume und Kant. In: Kant und die Philosophie in Weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses in fünf Bänden. Hrsg. v. Stefano Bacin et al. Berlin/New York 2013, Bd. 5, 519–531.

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Philosophie in Beziehung auf Reinholds Beyträge zur leichteren Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von 1801 kritisch kommentiert. Bei aller Kritik an Fichte dürfte Hegel in Fichtes Vorgehen auch Anregungen gefunden haben. Eines der Anliegen Fichtes in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 war es, Kants Kategorien neu und anders zu deduzieren. Deduzieren war für Fichte ein Verfahren, das nicht identisch ist mit dem, was bei Kant die Metaphysische und in anderer Weise die Transzendentale Deduktion zu leisten hatte. Sein methodologisches Verfahren folgt dem Motiv, einen inneren und durchgängigen systematischen Zusammenhang zu schaffen, der seinen Ausgang nimmt vom Prinzip alles Denkens, dem Subjekt oder dem Ich. Es galt zufolge der Begriffsschrift von 1794, das System des Geistes in der Wissenschaftslehre zur Darstellung zu bringen.23 Das System des Geistes, das ist für Fichte der Inbegriff aller Möglichkeiten, die dem Geist, dem Denken, dem gesamten Tun, der Freiheit zur Disposition stehen. Ohne hier auf Details näher einzugehen, ist Fichtes Verfahren ein dialektisches von Widerspruch und Synthese, bei dem zuerst mit den drei Grundsätzen die Qualitätskategorien in einem synthetischen Gang dargestellt werden. Fichte geht dann dazu über, die Relationskategorien zu ent­ wickeln, die er nacheinander als Wechselbestimmung, als Substanzialität und als Kausalität aufstellt. Ihre erste Anwendungsfunktion besteht im Weiteren darin, dass mit Hilfe der Substanzialität und Kausalität die Funktion der Anschauung als einer Art Stream of Consciousness avant la lettre entwickelt und expliziert wird. Die Darstellung, wie diese Kategorien auf äußere Gegenstände der Erfahrung angewendet werden, gehört nicht zum Programm von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Der Frage, wie das Subjekt Kausalität auf äußere Gegenstände ausübt, wendet er sich erst im System der Sittenlehre von 1798 zu.24 Wenn Fichte nun zunächst das Verhältnis eines kausalen Affektionsmechanismus einerseits und die ichlich spontane Tätigkeit der Selbstzueignung dieses Affektionsmechanismus durch das Ich als Substanz 23 

Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob (1964). In: Johann Gottlieb Fichte: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Jacob/Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky et al. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Abt. I, Bd. 2, 91–172, hier: § 7, 140–149. Im Folgenden zitiert als GA mit Angabe der Abteilung in römischen und der Bandnummer in arabischen Zahlen. 24  Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky (1977), GA I 5, 33–315, hier: §§ 6–7, 93–102.

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denkt, die ein Bewusstsein von ihren akzidentellen Tätigkeiten des Denkens, Anschauens, Wahrnehmens, Fühlens etc. andererseits erwirbt, so überträgt Fichte diese dem Ich als Substanz zugeschriebene Zueignung von Anschauungen im Weiteren auf abstrakte, von sinnlichen Anschauungen absehende Denkleistungen, die er unter dem Terminus der Vorstellungen entwickelt. Das Ich als Substanz wird von Fichte rein funktional, als Instanz aller Bewusstseinsaktivitäten verstanden, nicht aber material gedacht. Ausdrücklich arbeitet Fichte heraus, dass das Ich Substanz ist, dessen Vorstellungen die Akzidenzien sind. Er hält gleichwohl die Annahme für falsch, wonach die ichliche Substanz als ein Beharrliches zu begreifen sei. Vielmehr sei diese Substanz als Totalität zu verstehen, die das Allumfassende darstellt. In Fichtes Worten: »Ferner ist klar, daß durch die Substanz nicht das daurende sondern das allumfassende bezeichnet werde. Das Merkmal des daurenden kommt der Substanz nur in einer sehr abgeleiteten Bedeutung zu.«25 Die Anschauung geht aus dem Wechselverhältnis von Kausalität und Substanzialität hervor, das er zuvor lang und detailliert im theoretischen Teil seiner frühen Wissenschaftslehre ausgeführt hat. Die Höherpotenzierung dieses Wechselverhältnisses besteht in der abstrakten Vorstellung, die bald dem Verstand, bald der Vernunft zugerechnet werden muss. Die mit den Anschauungen oder abstrakten Vorstellungen verbundenen Wechselverhältnisse folgen dem Muster von Kants berühmter Dritter Antinomie von Kausalität und Freiheit.26 Die verknüpfende Synthesisleistung, die dem fortwährenden Wechsel momentanen Einhalt gebietet, wird von der Einbildungskraft erbracht. Fichte bezeichnet diese Funktion als ein Schweben der Einbildungskraft zwischen einer unbestimmten Unendlichkeit und einer bestimmten Endlichkeit, die sich im nächsten Moment wieder zur unbestimmten Unendlichkeit löst und so fort. Hier wird von Fichte avant la lettre der stream of consciousness theoretisch ausgewiesen. Der vom Nichtich bewirkte Kausalmechanismus und die vom Ich erbrachte Freiheitsleis25 Fichte:

Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 249–451, hier: 341. – Vgl. ferner: »Die Accidenzen, synthetisch vereinigt, geben die Substanz; und es ist in derselben gar nichts weiter enthalten, als die Accidenzen: die Substanz analysirt, giebt die Accidenzen, und es bleibt nach einer vollständigen Analyse der Substanz gar nichts übrig, als Accidenzen. An ein daurendes Substrat, an einen etwanigen Träger der Accidenzen, ist nicht zu denken«. (Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I 2, 173–451, hier: 350.) 26 Vgl. hierzu näher Violetta L. Waibel: Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit: Was bleibt? In: Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen. Hrsg. v. Christian Danz/Michael Hackl. Göttingen 2017, 183–215.

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tung sind hier in einem schwebenden Wechsel ihrer Tätigkeiten begriffen. So jedenfalls erklärt sich Fichte in einem explizit als künstliche Konstruktion bezeichneten Modell die Konstitution von im Bewusstsein erfassten Leistungen des Systems des Geistes. Substanzialität und Kausalität sind tragende Säulen der Aktvollzüge des Subjekts, durch die Bewusstsein, Erkenntnis, praktisches Wissen des Geistes möglich sind. Zugleich wird das Subjekt als Substanz gedacht, die sich alle Aktvollzüge geistigen Handelns zuschreibt und zueignet. Man sieht sich an Hegels Formulierung ebenso erinnert, nach der die »lebendige Substanz […] das Seyn [ist], welches in Wahrheit Subject« ist wie die Differenzen teils unmittelbar erkennbar sind und teils genauer herausgearbeitet werden müssten.

3. Hegels Konzeption der Substanzialität im Jenaer Systementwurf von 1804/05 Der von Fichte geforderte intrinsische, durchgängige Zusammenhang ist auch für Hegel von Bedeutung. Doch wenn er sich im »Logikfragment« von 1804/05 dem Themenkreis Substanzialität, Kausalität, Wechselwirkung zuwendet, so hat er offenkundig nicht Fichtes Frage der subjektinternen Funktionen der Relationskategorien im Blick, sondern folgt Kants Problemhorizont der kategoriengeleiteten Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung. Was Kant unverbunden stehen gelassen hat, was Fichte auf der Ebene der Reflexion als Formen der Darstellung der Akte eines Subjekts entfaltet, das musste in seiner komplexen Dichte anders und ganz neu erfasst werden. Schließlich gilt für Hegel bereits der berühmt gewordene Satz »Das Wahre ist das Ganze.«27 Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft das Weltganze der Erkenntnis in kleinste Bauteile zerlegt, mit Elementen, von denen manchmal nur mit Mühe zu sagen ist, was sie genau bedeuten, denkt man etwa an das berühmte »gegebene Mannigfaltige«, an die Redeweise von den getrennten Leistungen, die in der Analyse der Wahrnehmung, Einbildungskraft, Verstand, Urteilskraft im Prozess der Erfahrungserkenntnis zugeschrieben werden. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Wenn ich mich nun Hegels Substanzbegriff im Logik-Fragment von 1804/05 zuwende, das den Jenaer Systementwürfen II (1804/05), Logik, Me27 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 19.

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taphysik, Naturphilosophie zuzurechnen ist, so ist für meine Fragestellung das unter dem »Verhältnis des Seins« verhandelte Substanzialitätsverhältnis von besonderem Interesse. Während dieses in der Wesenslogik von 1813 Teil des Kapitels über die Wirklichkeit ist, und der Behandlung der Relationskategorien die Entfaltung der Modalitäten vorausgeht, werden 1804/05 die Modalitäten der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit zusammen mit der Darstellung der Verhältnisse der Substanzialität, der Kausalität und der Wechselwirkung auseinandergelegt. In diesem Vorgehen Hegels ist, wie erwähnt, eine gewisse Nähe zu Kants »System der Grundsätze« ebenso präsent, wie eine Abgrenzung gegen Kant. Insbesondere Kants Drittes Postulat des empirischen Denkens, das der Notwendigkeit, ist gar nicht zu verstehen, bezieht man es nicht auf die beiden ersten Analogien der Erfahrung der Substanzialität und der Kausalität. Wenn Hegel die Relationskategorien als »Verhältnis des Seins« bezeichnet, ist an Kants Unterscheidung der mathematischen von den dynamischen Grundsätzen zu erinnern. Die ersteren mit ihren quantitativen und qualitativen Bestimmungen beziehen sich auf Anschauungen, die zweiteren auf »das Dasein einer Erscheinung überhaupt« und näherhin auf die in den Erscheinungen vorkommenden Verhältnisse untereinander.28 Von den Analogien der Erfahrung sagt Kant: »Diese Grundsätze haben das Besondere an sich, daß sie nicht die Erscheinungen, und die Synthesis ihrer empirischen Anschauung, sondern bloß das Dasein, und ihr Verhältnis unter einander in Ansehung dieses ihres Daseins, erwägen.«29 Während Kant die Kategorien in einer zwölfteiligen Tafel aufstellt, die vier Gruppen mit je drei Kategorien aufweist, und diese dann im »System der Grundsätze der reinen Vernunft« in ihrer Anwendbarkeit auf Gegenstände der Erfahrung mittels zeitlicher Schemata zur Darstellung bringt, verzichtet Hegel bei der Darstellung der Kategorien der »Einfachen Beziehung« und beim »Verhältnis« vollständig auf zeitliche Bestimmungen oder gar zeitliche Schemata. Hinsichtlich der Verknüpfung der Relations- mit den Modalkategorien bei Hegel lässt sich festhalten, dass mit der Substanz im allgemeinen Sinn ein Möglichkeitsraum von ursprünglicher Unbestimmtheit bezeichnet ist. Die wirkliche Substanz ist nicht eine Substanz, die, wie Kant dies festgelegt hat, durch das Schema der Beharrlichkeit zur Er28 Kant: 29 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 160/B 199. Kritik der reinen Vernunft, A 178/B 220.

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fahrungserkenntnis führt.30 Vielmehr ist Hegels grundlegender Begriff der einer dynamischen Substanz, die Wirklichkeiten erzeugt und Wirklichkeiten zum Vorschein bringt, die also das Geschehen, das kausal zur Erklärung kommt, bereits implizit einschließt. In ihr wird die denkbare Möglichkeit zur vollzogenen Wirklichkeit. Erst mit der Kategorie der Wechselwirkung kommt Bestehen (nach Kant Beharrlichkeit) oder die Wirklichkeit im Horizont ihrer Möglichkeiten in den Blick. Während Kant Substanz als Materie schlechthin begreift, als das beharrliche Dawidersein gegen den Fluss der Ereignisse, den Fluss des Denkens, ist das »Bestehen« bei Hegel erst durch die Wechselwirkung denkbar, mit der er Ruhe, Paralyse, Gleichgewicht verbindet.31 Nicht nur Fichte interpretierte die Substanz als Agilität (des Ich), der nur in abgeleiteter Weise Beharrlichkeit zuzuschreiben ist. Man sieht sich hier auch auf Schellings naturphilosophische Auffassung eines dynamischen Universums verwiesen, mit der Hegel vertraut war, als er die Substanz zum Inbegriff des wirklichen Geschehens in der Welt erklärte. Dem Gedanken Schellings, demzufolge nicht Bewegung, Tätigkeit und Geschehen, sondern Ruhe und Bestehen diejenigen Bestimmungen sind, die erklärungsbedürftig sind, schließt sich Hegel grundsätzlich an.32 Schelling nimmt in der Naturphilosophie Fichtes Ich, das reine Tätigkeit ist, auf und interpretiert es um in den Urquell des Universums. Zu diesem Resultat fand Schelling, weil es für ihn zu klären galt, wie aus Spinozas Substanz ein Übergang zum Endlichen, mithin zur Lebendigkeit und Tätigkeit gewonnen werden kann. Für Schelling kehrte sich schließlich das Problem um: Ausgang ist die reine Tätigkeit, die sich im Kräftespiel schließlich sediert; das bildet 30 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, »Erste Analogie der Erfahrung. Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz«, A 182–189/B 224–232. 31 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 65–75. 32  »Denn da das erste Problem dieser Wissenschaft, die absolute Ursache der Bewegung, (ohne welche die Natur nichts in sich ganzes und beschlossenes ist), zu erforschen, mechanisch schlechterdings nicht aufzulösen ist, weil mechanisch ins unendliche fort Bewegung nur aus Bewegung entspringt, so bleibt für die wirkliche Errichtung einer speculativen Physik nur Ein Weg offen, der dynamische mit der Voraussetzung, daß Bewegung nicht nur aus Bewegung, sondern selbst aus der Ruhe entspringe, daß also auch in der Ruhe der Natur Bewegung sey, und daß alle mechanische Bewegung die bloß secundäre und abgeleitete der einzig primitiven und ursprünglichen seye«. (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder: Ueber den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (1799). Hrsg. v. Manfred Durner/Wilhelm G. Jacobs (2004), AA I 8, 23–76, hier: § 3, 32.)

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offenkundig auch den Hintergrund für Hegels naturphilosophischen Ansatz in der »Logik« von 1804/05. Diese Vorinformationen müssen im Blick gehalten werden, wenn nun Hegels Überlegungen zur Substanz genauer untersucht werden. Hegel hebt mit folgender Erklärung an: »Das Substantialitätsverhältniß drückt unmittelbar den Begriff des Verhältnisses aus, und die Unterscheidung sowohl des Verhältnisses überhaupt als ein Verhältniß des Seyns, als daß der Begriff des Verhältnisses als Substantialitätsverhältnisses andern Formen desselben entgegensteht, ist eine anticipirte Reflexion, deren Innhalt sich im folgenden erst selbst erzeugt, und die sich allein daran rechtfertigt, für itzt nur die Bedeutung eines Zeichens hat.«33 Hegel hebt hier auf das unmittelbare Verständnis der Substanzialität als einer Relation von Substanz und Akzidenz ab, die im Weiteren erst genauer entfaltet wird. Offenbar erinnert er gegen Kant, dass die Subs­ tanzialität, sofern sie als Verhältnis des Seins angesprochen wird, eine Antizipation dessen ist, was in ihr als Einheit erst in der reflexiven Entfaltung an Tiefenstruktur aufgedeckt werden kann. In drei Abschnitten (a, b, c) wird nun das Substanzialitätsverhältnis im Hinblick auf die Modalitäten reflektiert. Es lässt sich als eine zugleich affirmierende und kritische Wendung gegen Kant verstehen, wenn Hegel seine Überlegungen zur Möglichkeit der Substanz folgendermaßen eröffnet: »Die positive Einheit ist zuerst gleichsam der Raum in welchem die Momente des Gegensatzes bestehen, oder sie ist das Seyn, das Bestehen derselben selbst«.34 Die Wendung »das Seyn, das Bestehen derselben selbst« affirmiert Kants grundlegende Bestimmung der Beharrlichkeit der Substanz in der »Ersten Analogie der Erfahrung«. Die Behauptung, dass die »positive Einheit […] gleichsam der Raum« ist, moniert gegen Kant implizit, dass dieser im Vorfeld des »Systems der Grundsätze« bloß von den transzendentalen Schemata der Zeit spricht und die des Raumes der Sache nach erst in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft im Kontext der Bewegungslehre behandelt.35 Die Be-

33 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW

7, 39. 34 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 39. 35 Vgl. bereits die Vorrede von Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in der dieser das Konstruktionsprinzip der Naturwissenschaft in der Anschauung von Raum und Zeit thematisiert. (Immanuel Kant: Metaphysische

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harrlichkeit der Substanz ist einerseits eine zeitliche Bestimmung, nämlich der der Dauer. Zugleich aber lassen sich Bestehen oder Beharrlichkeit nicht anders denn als ein Dawidersein der Dinge im Raum vorstellen. Kant weist darauf hin, dass die »Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung […] jederzeit sukzessiv« sei, und diese Sukzession nicht aufgefasst werden könnte, »wo an ihr nicht etwas zum Grunde liegt, was jederzeit ist, d. i. etwas Bleibendes und Beharrliches«, das Zeitverhältnisse erst möglich macht.36 Zurecht hebt Hegel explizit hervor, was Kant in der Kritik der reinen Vernunft nur implizit andeutet und erst in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft explizit thematisiert, dass nämlich die »positive Einheit [der Substanz, V.L.W.] gleichsam der Raum« ist. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft wird die Materie ihrer Quantität nach als das Bewegliche im Raum (Phoronomie), als das den Raum Erfüllende ihrer Qualität nach (Dynamik), als das der Relation nach durch Kraft Bewegte (Mechanik) und schließlich als Gegenstand der Erfahrung ihrer Modalität nach (Phänomenologie) expliziert. Anders als in Kants »Analogie« wird Hegels Substanzbegriff somit unmittelbar räumlich gedacht. In Kants Überlegungen zur Analogie der Substanzialität trifft man auf den Widerspruch, dass die Substanz einerseits das Beharrende in der Natur darstellt, das nicht anders denn als Inbegriff der undifferenziert betrachteten Materie in der Natur verstanden werden kann. Andererseits hat Kant aus systematischen Gründen, die nicht ganz klar sind, die aber mit seiner Transzendentalen Elementarlehre und ihrem sukzessiven synthetischen Gang zusammenhängen, in der Kritik der reinen Vernunft nur einen zeitlichen Schematismus ausgearbeitet. Kants Substanzbegriff verlangt aber eigentlich bereits in der Kritik der reinen Vernunft, material räumlich gedacht zu werden, obwohl er noch keine Raumschemata eingeführt und zugelassen hat. An dieser systemimmanenten Spannung in Kants Konzept zeigt sich einer der Vorteile des anderen Vorgehens von Hegel. Hegel fährt dann damit fort, das »Und« der positiven Einheit der Substanz zu thematisieren: »der Raum der positiven Einheit, oder die Gemeinschafftlichkeit des Seyns ist zugleich das Und derselben, das ihnen aber nicht gegenüber, sondern als Und nicht für sie vorhanden

Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Mit einer Einleitung hrsg. v. Konstantin Pollok. Hamburg 1997, [Seitenverweise nach AA], hier: AA I 4, 469–476). 36 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 182/B 225–226.

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ist«.37 Das substantivierte »Und« steht für das »gemeinschafftliche Gleichgültige« Sein der Qualitäten oder der Akzidenzien an der Substanz, die Hegel hier noch nicht explizit anspricht. Der Raum selbst wird als das Und des Inhalts, also der Akzidenzien betrachtet, aber so, dass er nicht zugleich identisch ist mit der Leere, die der Substanz als solcher zugeschrieben wird. Der Raum kann deshalb das Und erfüllen, weil er mit dem Sein in einer Hinsicht identisch gesetzt ist. Die Gleichgültigkeit des Bestehens der verschiedenen Qualitäten einer solchermaßen dynamisch gedachten Substanz bedeutet nun näherhin, dass »die Eine Bestimmtheit […] ebenso [ist] als die andere, […] und das Seyn einer jeden ist das Nichtseyn der andern«. 38 Das mutet auf den ersten Blick widersprüchlich an. Es besagt näherhin, dass die Substanz zeitunabhängig die Fülle ihrer Bestimmtheiten ist, bezogen auf Zeitpunkte aber, dass eines ist, wo ein anderes nicht ist und umgekehrt. Über die Raumbestimmung hinaus ist die Substanz also auch in der Diachronie der Zeit zu begreifen, die die sich an ihr vollziehenden Veränderungen als offenen Horizont ihrer Möglichkeiten einschließt. Daraus gewinnt Hegel die erste Modalbestimmung der Substanz: »Das Seyn oder das Subsistiren […] ist also ein solches, daß die Bestimmtheit nur ist, insofern die andre nicht ist, aber insofern die andere nicht ist, ist sie selbst nicht; ihre Substanz ist also nur eine solche, daß die Bestimmtheit als eine aufgehobene ist, und diese Substanz heißt die Möglichkeit.«39 Von der Substanz als Möglichkeit gilt mithin: »Diese Substanz für sich ist das Nichts, das Leere oder die reine Einheit«, die im Weiteren auch als »Form [des] Einsseyn[s]« bezeichnet wird.40 Die Möglichkeit der Substanz ist somit der Inbegriff ihrer im Unbestimmten bleibenden Bestimmungen. Obwohl also die Substanz als solche als ein Nichts bezeichnet wurde, lässt sich von ihr auch Bestimmtheit, nämlich Bestimmtheit des Inhalts als einem möglichen Inhalt durch mögliche Akzidenzien denken. In dieser Hinsicht ist die Substanz als Möglichkeit gedacht. Die Substanz 37 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 39. 38 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 39. 39 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 40. 40 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 40.

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ist somit die in Raum und Zeit wandelbare Form des Einsseins, die im Horizont ihrer Möglichkeiten offen ist. Das heißt also, nicht ein bestimmtes Dieses ist Substanz, sondern jetzt ein Dieses, dann ein Jenes, das das Dieses als ein anderes ist. Die Bestimmung, Substanz zu sein, impliziert daher in Verbindung mit der Tatsache, Einheit im Raum zu sein, zugleich eine noch unausgesprochene zeitliche Einordnung. Die der Substanz zugeschriebene Form der Möglichkeit fällt mit dem zusammen, was Kant das Postulat der Möglichkeit des empirischen Denkens nennt. Der Zustand, der möglicherweise eintritt, ist ein solcher, der Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein kann. Das bedeutet in dem Zusammenhang, dass die Möglichkeit der Substanz zu irgendeiner Zeit auch Wirklichkeit ist. Nachdem auf die Möglichkeitsform der Substanz reflektiert wurde, ist der nächste Gedankengang der Frage nach der Wirklichkeit der Subs­tanz gewidmet. Hegel beginnt damit, dass ein Widerspruch in den vorausgehenden Bestimmungen aufgedeckt wird: »Diese Substanz das Seyn als ein aufgehobenseyn ist damit unmittelbar ein in sich selbst entzweytes; sie ist das Nichts der Bestimmtheiten und das Bestehen derselben; als das Nichts derselben ist sie negative sie ausschliessende Einheit, […] das Seyn derselben als aufgehobener. Der leere Punkt aber, indem er zugleich positive Einheit, ihnen entgegengesetzt, und auf sie bezogen ist, ist er selbst ein bestimmtes [...].«41 Die Substanz ist aufgehobenes Sein und damit negative Einheit angesichts der bloß möglichen Bestimmungen ihrer Akzidenzien. Positive Einheit ist die Substanz, insofern sie mit mathematischer Metaphorik bloß als Punkt bezeichnet wird, aber dennoch die leere, unbestimmte Einheit ihrer möglichen Bestimmungen ist. Hegel interpretiert die positive Bestimmtheit nun dahingehend weiter, dass sie auch Bestimmtheit ist, die andere Bestimmtheit als Gegensatz außer sich hat. »Es ist gleichsam die verengte Substanz«, so Hegel, »welche nur als Eine Bestimmtheit gesetzt ist, und als negative Einheit die andere von sich ausschließt, die Bestimmtheit in der Form des numerischen Eins«.42 Die an sich unbestimmte, mögliche Substanz, die »Seyn als ein aufgehobenseyn«

41 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 40. 42 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 40.

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ist, verengt sich, wie es heißt, bei dieser Reflexion in eine individuelle Bestimmtheit, die zu irgendeiner Zeit wirklich ist.43 Hegel fährt fort: »und die Substanz, die nicht reines numerisches Eins ist, sondern bestimmtes ist, ein bestimmtes Seyn mit Ausschliessung des andern, so daß aber die seyende Bestimmtheit selbst auch nur eine mögliche ist, eine solche an deren Stelle ebenso die andere seyn kann, oder die unmittelbar auch nicht mehr Krafft des Bestehens hat, als die andere, diese Substanz ist die Wirklichkeit.«44 Die allgemeine numerisch Eine Substanz des bloßen Bestehens, das Sein, ist die Möglichkeit der Substanz im Gegensatz zur Bestimmtheit und Wirklichkeit der individuierten Einzelsubstanz. Das, was sich als wirkliche Substanz durchsetzt, drängt anderes in die Möglichkeit zurück, oder mit Hegels Worten: »diß nichtgesetzte, die der Wirklichkeit gegenüberstehende Möglichkeit, ist das ausgeschlossene nicht bestehende geworden.« 45 Die Substanz, die negative Einheit ihrer wandelnden Bestimmungen ist, diese in einem gegenüber Kant potenzierten Sinne dynamisch gedachte Substanz, ist einerseits die Einheit ihrer Möglichkeiten, aber zugleich ist sie als negative Einheit auch die Wirklichkeit ihrer Möglichkeiten. Es ist ihre Wirklichkeit, bald dies, bald jenes im Wandel ihrer Möglichkeiten, im Wandel ihrer sich konkretisierenden Bestimmungen zu sein, oder mit Hegels eben zitierten Worten: »Die Substanz als Wirklichkeit ist ein gesetztes Mögliches«. Die Substanz ist dieser Überlegung zufolge die Einheit, die dieses Akzidenz als gesetztes, jenes als aufgehobenes, also als zuvor gesetztes und dann negiertes, einschließt. Ein neuer Widerspruch hat sich zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit der Substanz eröffnet. Dies resümierend setzt Hegel im dritten Abschnitt (c) mit folgender Überlegung ein: »Die Dialektik der Möglichkeit, das Seyn der Bestimmtheiten als ein Aufgehobenseyn derselben, macht die Substanz zur negativen Einheit, oder zur Wirklichkeit; aber die Wirklichkeit hat ebenso ihre Dialektik an sich selbst, und kann nicht bey sich selbst bleiben. / Die Substanz als 43 

Nebenbei soll festgehalten werden, dass das Analysieren eines Widerspruchs im zuletzt Erreichten an Fichtes Methode in der Grundlage erinnert. Vgl. dazu Violetta L. Waibel: Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95). In: System der Vernunft Kant und der Deutsche Idealismus: II. Kant und der Frühidealismus. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg et al. Hamburg 2007, 103–128, zur Methode: 110–115. 44 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 40–41. 45 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 41.

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Wirklichkeit ist ein gesetztes Mögliches, die eine Accidenz als seyend; aber diß gesetztseyn derselben hebt ihr Wesen nicht auf, nur als aufgehobenes gesetzt zu seyn; sie ist schlechthin auf die andere bezogen und die Substanz, das Seyn, ist in Wahrheit nicht das Seyn der Einen, sondern das gleiche Seyn beyder; das Und beyder als aufgehobengesetzter, und eins ist so sehr wirkliches, als das andere.«46 Abgesehen davon, dass Hegel hier vom Wesen der Substanz spricht, was Kant zurückweisen würde und was auf Aristoteles̕ Substanzbegriff deutet, der in seiner Metaphysik insbesondere das Wesen der Substanz, der ousía, zu bestimmen suchte, führt ihn die Dialektik der Möglichkeit und der Wirklichkeit einer individuierten Substanz zur Notwendigkeit der Substanz. Bereits Kant hat die formale Synthesis der jeweils ersten und zweiten Kategorie, mithin auch die der Möglichkeit und der Wirklichkeit, in der dritten Kategorie, hier also der Notwendigkeit gesehen.47 Wie bei Kant ist die Notwendigkeit zudem die modale Bestimmung, die im Vorblick auf kausale Verhältnisse dasjenige Bestimmtsein in den Substanzen bezeichnet, das am Ding, an der Substanz selbst den Wechsel von möglichen und wirklichen Bestimmungen oder Akzidenzen als innere Notwendigkeiten markiert. Kant spricht mit Bezug auf die Kausalität von einer »materiale[n] Notwendigkeit«, 48 mit der die Zustände im Dasein von Dingen, die der wahrnehmenden Erfahrung sich darbieten, verknüpft werden. Die Beziehung (Relation) einer Veränderung zum Grund ihrer Veränderung, also der Ursache, muss als notwendig angesehen werden. Veränderungen und ihr jeweiliger Grund, mithin Wirkungen und ihre Ursachen, werden als Bestimmungen, die wechselweise aufeinander im Denken bezogen werden können, gedacht. Doch um die Bestimmung der materialen Notwendigkeit, die Kant zufolge nur in der Erfahrung, freilich am Leitfaden der Kategorien, realisiert werden kann, geht es Hegel nicht, wenn er die Notwendigkeit, die sich in der kausalen Beziehung manifestiert, in den Substanzen bereits festgeschrieben sieht: »Oder insofern sein inneres Wesen als Möglichkeit als sein Aufgehobenwerden ihm entgegengesetzt wird, so muß es in diese Möglichkeit schlechthin übergehen, oder sein Wesen darstellen; und seine Möglichkeit, als das entgegengesetzte seiner selbst muß vielmehr das Wirk46 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 41. 47  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 110. 48 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 226/B 279.

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liche seyn; und die wahrhaffte Substanz ist dieser Widerspruch, daß das wirkliche ein Mögliches, oder das Mögliche das Wirkliche ist, das differente Und der entgegengesetzten, das unmittelbare Umschlagen in sein entgegengesetztes, oder die Substanz ist die Nothwendigkeit.«49 Und weiter heißt es: »Der Begriff des Verhältnisses, oder die Unendlichkeit ist in der Nothwendigkeit gesetzt als dasjenige was es wahrhafftig ist.« 50 Wenn hier die Notwendigkeit zugleich Unendlichkeit ist, so ist dies eine Aussage über die Unbestimmtheit – daher Unendlichkeit, die sich erst im konkreten Wirklichen aus der Möglichkeit der Substanz manifestieren und festlegen wird. Hegel hat mit der Substanz, die Notwendigkeit und zugleich Unendlichkeit ist, ein Ergebnis erarbeitet, das in der Wesenslogik von 1813 maßstabsetzend sein wird. Bemerkenswert ist, dass er diejenige Möglichkeit, die ein schlechthinniges Übergehen ist, die mithin den Zustand der Notwendigkeit hervorbringt, als Darstellung des Wesens der Substanz bezeichnet. Im Gang der Dialektik von 1804/05 ist der nächste Schritt die Darstellung der Kausalität, schließlich der Wechselwirkung: »das Unendliche ist als Substanz oder Nothwendigkeit in Wahrheit das Gegentheil ihrer selbst ein nicht einfaches sondern die Beziehung solcher, welche selbst die Einheit der Möglichkeit und Wirklichkeit, Nothwendige oder Substanzen sind, und es ist gesetzt«. 51 Die Substanz ist die negative Einheit, die nicht bloß einen dynamischen Wechsel ihrer Möglichkeiten und Wirklichkeiten einschließt. Ihre Möglichkeiten und Wirklichkeiten sind nichts anderes als das, was sie ihrem Wesen nach als Möglichkeit oder Wirklichkeit ist. Ihr Wesen aber ist ihre innere Notwendigkeit. Was immer einer Substanz zufällig widerfährt, ihre Modifikationsmöglichkeiten liegen in ihrem inneren Wesen beschlossen. Kants getrennte, unverbundene Behandlung der kategoriengeleiteten Grundsätze ist hier schon im Hinblick auf die Substanz und in Verbindung mit ihren Modalbestimmungen durchgespielt. Das Explizitmachen der notwendigen Verknüpfungen geht nun entscheidende Schritte weiter, wenn Hegel im weiteren über die Kausalität nach49 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 41–42. 50 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 42. 51 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 42–43.

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denkt. Seine Bestimmung der Modalitäten hat für die Notwendigkeit eine ganz besondere Bedeutung. Schon Hume sah, dass die Kausalverbindung von Ursache und Wirkung als eine notwendige Verbindung angesehen werden muss, obwohl er eingestehen musste, dass keine Argumentation gefunden werden kann, die es erlaubte, die fragliche Notwendigkeit als etwas zu entdecken, das sich den Sinnen darbietet, oder sie aus Begriffen zu erschließen vermag. Sein bekannter Lösungsansatz liegt darin, eine Gewöhnung des erkennenden Menschen an Vorkommnisse in der Natur anzunehmen, die den notwendigen Zusammenhang dem Geist einprägt. Kant war damit bekanntlich nicht zufrieden. Die Notwendigkeit der Kausalverbindung galt es, mittels der Verstandesfunktionen oder Kategorien allererst zu begründen. Ob Kant diese Begründung gelungen ist, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Das kann hier nicht vertieft werden. Nach meinem Verständnis ist Kant das Beweisziel in dieser Sache gelungen, aber es ist ein umfängliches Studium des gesamten Systems der Grundsätze und der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft im Ganzen nötig, um seine betreffende Argumentation wirklich zu verstehen. Hegels Argumentation klingt kompliziert, wenn nicht provozierend, aber er hat eine elegante Lösung gefunden, mit Humes und Kants Prob­lem umzugehen und fortzuschreiten. Seine Kritik an den beiden formuliert er folgendermaßen: »Kant hat dasselbe, was Hume ausgesprochen, die Substanzen Hume’s, die aufeinanderfolgen oder nebeneinander, überhaupt für sich gleichgültig gegeneinander sind, bleiben diß ebenso bey Kant; daß ihm das, was Hume Dinge nennt, Empfindungen, Wahrnehmungen, sinnliche Vorstellungen, oder wie er sonst will, sind, macht zur Sache gar nichts, es sind verschiedene, für sich seyende; die Unendlichkeit des Verhältnisses, die Nothwendigkeit ist ein von ihnen getrenntes; jenes für sich seyn der Verschiedenen nennt er als objektiv eine zufällige Zusammenstellung, und das nothwendige bleibt ein subjectives; jenes Erscheinen ist für sich, und die Nothwendigkeit als ein Verstandesbegriff ebenso für sich.«52 Hegel wirft mit seiner Kritik beiden Denkern vor, die Momente eines Kausalgeschehens äußerlich zusammenzusetzen und daher den Sachverhalt in seinem eigentlichen Wesen zu verfehlen. Für Kant ist die 52 Hegel:

7, 50.

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Substanz das Beharrliche, an dem Bestehen oder Veränderung abzulesen sind. Minutiös reflektiert Kant darauf, wie das unveränderliche Bestehen der Substanz für die menschliche Beobachtung zu unterscheiden ist von einer Bewegung. Das klingt trivial und ist es doch nicht. Denn Kants Frage ist, wie kann der Beobachter das innere Abschreiten eines beobachteten Gegenstandes, eines Hauses, eines Bildes, das offenkundig durch innere Bewegung möglich ist, unterscheiden von einer äußeren, objektiven Bewegung, etwa dem Schiff, das auf einem Fluss dahinzieht. Spontan meinen wir, das immer unterscheiden zu können, doch das Anfahren eines Zuges, in dem man selber sitzt, führt zuweilen zu der erstaunten Frage, fährt mein Zug oder der am anderen Gleis. Kants Antwort ist, dass die eine Bewegung für das wandernde Auge reversibel ist, die objektive Bewegung aber irreversibel. Bei einer irreversiblen Bewegung ist das Subjekt gezwungen, eine äußere Bewegung, eine Veränderung anzunehmen. Ist Veränderung konstatiert, so folgt die Frage nach der Ursache dieser Veränderung, die auch für Kant eine notwendige Verknüpfung darstellt. Will man nun verstehen, wie Kant diese notwendige Verbindung von Wirkungen mit ihren Ursachen oder umgekehrt expliziert, so ist man auf das Dritte Postulat des empirischen Denkens verwiesen. Ferner muss man sich deutlich machen, dass das gesamte System der Grundsätze bei Kant zur »Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft« zählt. Urteilskraft aber kann nicht eigentlich gelehrt werden, es können nur Rahmenbedingungen genannt werden, innerhalb derer die Urteilskraft selbsttätig zu ihren Urteilen finden muss.

5. Exkurs zu Kants Drittem Postulat des empirischen Denkens Bekanntlich bestimmen Kants Modalkategorien und die mit ihnen einhergehenden Postulate der empirischen Erkenntnis überhaupt nichts am Gegenstand, sondern sie bestimmen nur das Verhältnis des Erkennenden zu seinem Erkenntnisgegenstand. Kant führt aus: »Was endlich das dritte Postulat betrifft, so geht es auf die materiale Notwendigkeit im Dasein, und nicht die bloß formale und logische in Verknüpfung der Begriffe. Da nun keine Existenz der Gegenstände der Sinne völlig a priori erkannt werden kann, aber doch comparative a priori relativisch auf ein anderes schon gegebenes Dasein, man gleichwohl aber auch alsdenn nur auf diejenige Existenz kommen kann, die irgendwo in dem Zusammenhange der Erfahrung, davon die gegebene Wahrnehmung ein Teil ist, enthalten sein muß: so kann die Notwendig-

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keit der Existenz, niemals aus Begriffen, sondern jederzeit nur aus der Verknüpfung mit demjenigen, was wahrgenommen wird, nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung erkannt werden können.«53 Kant spricht hier von einer materialen Notwendigkeit, mit der die Zustände im Dasein von Dingen, die der wahrnehmenden Erfahrung sich darbieten, verknüpft werden. Nur die Beziehung (Relation) einer Veränderung zum Grund ihrer Veränderung muss als notwendig angesehen werden.Veränderungen und ihr jeweiliger Grund, mithin Wirkungen und ihre Ursachen, werden als Bestimmungen, die wechselweise aufeinander im Denken bezogen werden können, gedacht. Die Verstandesfunktion der Kausalität und ihre Wechselbestimmung von Ursache und Wirkung, sowie das damit einhergehende Postulat der Notwendigkeit im empirischen Denken ist das Instrument der Urteilskraft, um in den mannigfaltigen, zufällig nebeneinander bestehenden Vorstellungen, diejenigen Verhältnisse von Vorstellungen herauszufinden, die für eine notwendige Verknüpfung in Frage kommen, und schließlich zu überprüfen, ob die aufgestellte Relation der Notwendigkeit dem Begriff der Kausalität entspricht. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung zwingt sich der Vorstellung nicht von selbst a priori auf, es ist aber auch nicht, wie Kant gegen Hume zu zeigen sucht, ein bloßes Assoziationsverhältnis des Ausprobierens aufs Geratewohl, sondern ein Nachdenken nach Regeln der Begriffe (Kategorien) inmitten der empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit, die sich der Erfahrung und ihrer Wahrnehmung darbietet. Daher betont Kant in der oben angeführten Passage: »so kann die Notwendigkeit der Existenz, niemals aus Begriffen, sondern jederzeit nur aus der Verknüpfung mit demjenigen, was wahrgenommen wird, nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung erkannt werden können.« Kant fährt fort: »Daher erkennen wir nur die Notwendigkeit der Wirkungen in der Natur, deren Ursachen uns gegeben sind, und das Merkmal der Notwendigkeit im Dasein reicht nicht weiter, als das Feld möglicher Erfahrung, und selbst in diesem gilt es nicht von der Existenz der Dinge, als Substanzen, weil diese niemals, als empirische Wirkungen, oder etwas, das geschieht und entsteht, können angesehen werden. Die Notwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der Erscheinungen nach dem dynamischen Gesetze der Kausalität, und die darauf sich gründende Möglichkeit, aus irgend einem gegebenen Dasein (einer Ursache) a priori auf ein anderes Dasein (der Wirkung) zu schließen.«54 53 Kant: 54 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 226–227/B 279. Kritik der reinen Vernunft, A 227–228/B 280.

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Das empirische Faktenwissen, das nötig ist, um konkrete Kausalzusammenhänge zu bestimmen, und das von Kant hier nicht thematisiert wird, wäre dann das Wissen von konkreten Kausalgesetzen der Physik und anderer Wissenschaften, Wissen von Materialbeschaffenheiten und Eigenschaften von Kräften. Diesem empirischen Wissen wird die Regel, das Regulative des Forschens beigelegt, das ein Pendant und mehr noch ein Korrektiv zu Humes assoziativer Gewohnheit darstellt. Was die Urteilskraft bei ihrer Suche nach der notwendigen Verknüpfung einer Ursache mit einer bekannten Wirkung oder umgekehrt der voraussagbaren Wirkung, die einer bekannten Ursache zugeschrieben werden kann, leitet, sind die »vier Sätze (in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum)«,55 die den Grundsätzen der Quantität und der Qualität, ferner der Relationen und Modalitäten gehorchen. Diese wurden im Zuge der vorausgehenden Grundsätze diskutiert. Hier im Kontext des Postulats der Notwendigkeit führt Kant näherhin aus: »Daher ist der Satz: nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr, (in mundo non datur casus,) ein Naturgesetz a priori; imgleichen, keine Notwendigkeit in der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit (non datur fatum). Beide sind solche Gesetze, durch welche das Spiel der Veränderungen einer Natur der Dinge (als Erscheinungen) unterworfen wird, oder, welches einerlei ist, der Einheit des Verstandes, in welchem sie allein zu einer Erfahrung, als der synthetischen Einheit der Erscheinungen, gehören können. Diese beiden Grundsätze gehören zu den dynamischen. Der erstere ist eigentlich eine Folge des Grundsatzes von der Kausalität (unter den Analogien der Erfahrung). Der zweite gehört zu den Grundsätzen der Modalität, welche zu der Kausalbestimmung noch den Begriff der Notwendigkeit, die aber unter einer Regel des Verstandes steht, hinzu tut.«56 Und ferner gilt: »Das Prinzip der Kontinuität verbot in der Reihe der Erscheinungen (Veränderungen) allen Absprung (in mundo non datur saltus), aber auch in dem Inbegriff aller empirischen Anschauungen im Raume alle Lücke oder Kluft zwischen zwei Erscheinungen (non datur hiatus).«57

55 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 229/B 282. Kritik der reinen Vernunft, A 228/B 280–281. 57 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 228–229/B 281. 56 Kant:

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Diese Prinzipien geben der forschenden Urteilskraft in der konkreten Erfahrung Anleitung, um den material notwendigen Zusammenhang, der keinen Zufall (wohl aber das eingreifende Handeln der Subjektivität) und keine Schickung von außen (kein Wunder, keinen Zauber, keine göttlichen Eingriffe), ferner keine Sprünge im Ablauf der Natur annehmen lässt,58 der ferner ein materiales Kontinuum im Übergang von den einen Zuständen in die anderen voraussehen und erwarten lässt. Dies scheint mir, ist genau das, was auch heute das Forschen nach kausalen Erklärungen in Gang hält. Dass sich auch eine gewitzte Urteilskraft, die nach allen Regeln des Urteilens die Ursachenbestimmung vollzieht, irren kann, ist eine andere Sache. Es gilt, mit Hilfe des Postulats der Notwendigkeit zufällige, nämlich kausal nicht zusammengehörige, von notwendigen Verknüpfungen von Vorstellungen zu unterscheiden, die dann immer noch der Verifikation oder Falsifikation unterzogen werden können. Wo ein Irrtum aufgedeckt wird, setzt die Forschung erneut an, den wahren notwendigen Zusammenhang zu begreifen. Freilich hat Kant ausdrücklich betont, dass die Notwendigkeit gerade »nicht von der Existenz der Dinge, als Substanzen« handelt, weil von der Substanz keine »empirische Wirkungen, oder etwas, das geschieht und entsteht«, ausgesagt werden könne. Wie kann Hegel also behaupten, dass der Substanz Notwendigkeit zugeschrieben werden könne?

58  Unabhängig von den vielerlei Interpretationsschwierigkeiten mit Kants Kausaltheorie führt man gerne Quantentheorie und die berühmten Quantensprünge als offenkundige Falsifizierung von Kants Kausaltheorie an. Ich aber verstehe Kant so, dass diese im Gegenteil die Geltung von Kants Ansatz deshalb nicht in Frage stellen können, weil Kants Theorie nur beansprucht, von den subjektiven Erkenntnisbedingungen auf objektive Übereinstimmung mit den Erfahrungsgegenständen schließen zu dürfen: »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 158/B 197.) Quanten beweisen diesen Satz ex negativo. Sie fügen sich nicht dem Kausalprinzip. Dies erkennen wir, weil wir für jede Veränderung nach der Verursachung fragen. Es zeigen sich hier Sprünge, wo Kontinuität erwartet wird. Kant hat keine durchgängige Kausalontologie behauptet, sondern zu verstehen gegeben, daß wir nichts anderes als die subjektiven Prinzipien der Erkenntnis und ihre erwartbare Zusammenstimmung mit den objektiven Gegenständen der Erfahrung haben. Was Kant nicht voraussehen konnte, ist ihr Nichtzusammenstimmen im Ausnahmefall der Quantenphysik.

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6. Hegels Bestimmung der Notwendigkeit der Substanzen Wie später in der Wissenschaft der Logik ergänzt Hegel schon hier den Haupttext durch gelegentliche Anmerkungen, die wichtige Hilfestellungen geben, die dunklen Formulierungen aufzuschließen und mit einem Alltagsdenken leichter zu verknüpfen. Hier wird zuweilen, wie auch in der folgenden Textstelle, die aus Hegels Sicht falsche Position skizziert: »Der oberflächliche Begriff der nicht zur Unendlichkeit wird, legt das absolute für sich seyn der Substanzen zum Grunde, und bezieht dann diese aufeinander, er setzt sie als eins miteinander, aber nur ein wenig, so daß ihr für sich bleiben nicht darunter leidet. Die Beziehung solcher absolut für sich seyender aber kann vielmehr gar keine seyn; denn jede noch so geringe Beziehung wäre ein Aufheben der Substantialität.«59 Der Begriff der Substanz kann Hegel zufolge nicht absolut sein, will man nicht in die kritisierten Fehler fallen, Substanz, Bewegung, Dynamik, Ursache, Wirkung äußerlich, statt dem inneren Wesen nach verbunden zu denken. Die Substanzen sind nicht Entitäten, denen dann noch Kausalität oder Notwendigkeit zukommt. Sie sind unendlich, weil sie mit all ihren Akzidenzien, mit ihrem gesamten Inhalt schon die Ereignisse als Möglichkeiten und ihrem Wesen nach bei sich führen, die ihnen zukommen können. Das ist eine andere Weise, das zum Ausdruck zu bringen, was Kant mit dem Hinweis auf die »vier Sätze (in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum)«,60 zeigen will, die den Grundsätzen der Quantität und der Qualität, der Relationen und Modalitäten gehorchen. Kant wie Hegel pochen darauf, dass es eine innere Notwendigkeit im Sein der Dinge, also in der Substanz gibt, die die Bedingungen für das in sich einschließen, was tatsächlich geschehen kann und geschieht. Wenn die Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen begriffen werden sollen, dann wird nach genau diesen inneren Bedingungen gesucht. Kausalität kann man jedoch, so Hegel, nur schwer explizieren, wenn man sie in Einzelteile zerlegt, also in Ursache, Wirkung, notwendigen Zusammenhang, Kraft, die dabei wirkt. Notwendigkeit, so hatte Hegel schon in Beziehung auf die Substanz behauptet, ist ein Moment an der Substanz. Hegel geht nun den umgekehrten Weg wie seine Vorgänger 59 Hegel:

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7, 47. 60 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 229/B 282.

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Hume und Kant. Der notwendige Ursache-Wirkungs-Komplex ist ihm ein Zusammenhang, eine Einheit, eben das, was er als negative Einheit der Substanz bezeichnet hat. Für Hegel gibt es keine absolut für sich bestehenden Substanzen, sondern Substanz ist, was als komplexer Erkenntnisgegenstand, oder besser als Gegenstand des Wissens betrachtet wird. Notwendigkeit ist der Substanz intrinsisch eingeschrieben. Es sind Zusammenhänge, die man betrachtet, wenn man nach einem Geschehen fragt. Hegel konstatiert: »Es ist die Substanz oder Nothwendigkeit, als eine Beziehung entgegengesetzter, welche selbst nothwendige, oder Substanzen sind. Die Subs­tanz als Nothwendigkeit ist das Verschwinden der Wirklichkeit; das Wirkliche dem möglichen entgegengesetzt geht in der Nothwendigkeit unter, oder sein Wesen ist in ihr untergegangen; wir sehen wenn es bestehen soll, so kann es nur im Gegensatze gegen ein Wirkliches bestehen, und die Substanz zerfällt in entgegengesetzte Substanzen; und das Wirkliche rettet sich vor der Nothwendigkeit nur durch Aufheben derselben als Einheit, und das Theilen derselben in eine ge­ doppelte Nothwendigkeit [...].«61 Die Behauptung, »die Substanz zerfällt in entgegengesetzte Substanzen« besagt, dass ein beobachtbarer Ereigniszusammenhang bei genauerer Untersuchung in die Teile zerfällt, zerlegt wird, die in Theorien wie der von Hume und besonders in der kantischen Elementarlehre erst zusammengesetzt werden müssen. Eine Bewegung etwa von einem Gegenstand kann nur vor dem Hintergrund anderer, in Ruhe befindlicher Gegenstände wahrgenommen und erkannt werden. Eine Veränderung schließt ihr voriges Identischsein mit sich ein. Was also ist die jeweilige Substanz, an der Bewegung oder Veränderung erkennbar wird? Das ganze Sichtbare, das Bewegte, sich Verändernde als Substanz gegen andere Substanzen in Ruhe oder sich gleichbleibend? Hegel sieht sehr richtig, dass Substanzen Variablen der Erkenntnis sind, die je nach Erkenntnisbedarf als Einheiten erfasst werden. Er schreibt weiter: »Die Ursache ist Substanz, nur insofern sie das von ihr ausgeschlossene Mögliche selbst als ihre Wirklichkeit bestimmt, oder indem sie wirkt. Als diß wirkende, oder das ausgeschlossene als ihre Wirklichkeit bestimmend ist [sie] selbst schlechthin entgegengesetzt dem ausgeschlossenseyn aus ihr; denn sie ist nur für sich als ausschliessend, 61 Hegel:

7, 43.

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negirend, und sie ist hiemit, indem diß ausgeschlossenseyn wirklich und das Gegentheil ihrer selbst ist, bestimmt, als nur mögliches, oder als Krafft, die um zu seyn, oder als Ursache zu seyn, sich aüssern, oder diesen Gegensatz aufheben muß.«62 Die Substanz, die in Substanzen zerfällt, lässt nun auch das, was genauerhin das, was als Ursache isoliert betrachtet wird, als Substanz bestimmen. Nun hebt Hegel den Kraftbegriff als denjenigen hervor, der das Kausalitätsverhältnis bündelt, oder wie Hegel sagt, der es ausdrückt: »Man sieht, daß die Krafft eigentlich das ganze Kausalitätsverhältniß in sich ausdrückt, oder die Ursache wie sie mit der Wirkung eins, und in Wahrheit wirkliche Substanz, aber auch das Kausalitätsverhältniß aufgehoben ist; oder indem Ursache von der Wirkung untrennbar, und der Unterschied ein nichtiger ist, so ist ihre Einheit als Krafft die wirkliche Substanz, da sie nur indem sie sich ausser sich als eine wirkliche setzt, ausser sich selbst nur ein mögliches [ist], und es bleibt in der Krafft der Gegensatz als ein ganz ideeller […].«63 Ursache und Wirkung sind nicht nur in der Sprache Zusammengehörige. Auch die wirkende Kraft, die von einem zum anderen übergeht, ist ein Zusammenhang, den die wirkende Kraft stiftet, und zwar so, dass »ihre Einheit [von Ursache und Wirkung, V.L.W.] als Krafft die wirkliche Substanz« darstellt. Diese Einheit, die Hegel hier als »wirkliche Substanz« anspricht, lässt sich zunächst als physikalistische Bestimmung verstehen. Die wirkende Kraft ist aber nicht nur auf der Ebene physikalischer Ereignisse anzutreffen, denn auch die Tätigkeit des Geistes ist eine wirkende Kraft, einerseits auf somatischer Ebene der Hirntätigkeiten, vor allem aber auch als mentale Kraft, die Wirkungen unter den in Interaktion befindlichen Geistern ermöglicht. Nicht ohne Grund schließt Hegel im Logik-Fragment von 1804/05 an die Betrachtungen über das Verhältnis des Seins solche über das Verhältnis des Denkens an, wo die Frage der Substanzialität allerdings nicht thematisch wird. Hier werden Begriff, Urteil und Schluss untersucht. Höchst bemerkenswert ist freilich, dass im Metaphysik-Fragment von 1804/05 mit seinen drei Abschnitten über »Das Erkennen als System von Grundsätzen«, die »Metaphysik der Objectivität« und schließlich die »Metaphysik der Subjectivität« die Seele als Substanz bestimmt wird, die 62 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 44. 63 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 45.

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Subjekt ist. Im Kontext der Metaphysik der Objektivität stellt Hegel nämlich fest: »Die Seele ist also das Eins der Substantialität und Subjectivität; und weder wahrhaffte Substanz, noch wahrhafftes Subject, jenes nicht wegen der Gleichgültigkeit der Accidenzen, diß nicht wegen der Differenz, des Wechsels der Bestimmtheiten.«64 In diesem Kontext bezeichnet Hegel aus seiner Sicht das, was bereits Fichte veranlasste, in der Grundlage das Subjekt als Substanz zu verstehen, deren und dessen Gedankenbewegungen die Akzidenzien sind, so aber, dass dieses Subjekt gar nicht anders als durch seine Gedankenbewegungen und Gedankenverbindungen ist. Es gibt kein Subjekt überhaupt, keine Subs­ tanz überhaupt unabhängig von den Inhalten und Akzidenzien. Oder mit Hegels Worten: »Aber diß Subject ist selbst nicht ein allgemeines, sich selbstgleiches überhaupt, sondern das sich als solches darstellt, als seine Selbstgleichheit differentiirend, und hieraus sich zurücknehmend, und zurückgenommen, oder sich reflectirend«.65 Bereits hier denkt Hegel die Seele, das reine Ich (Fichte), die reine transzendentale Apperzeption (Kant) als Moment des Zusammentreffens und Zusammenfallens von Substanz und Subjekt als Differenz und Identität. Es ist offenkundig, dass Hegel hier bereits die Idee im Kern gefasst hat, die in der Phänomenologie des Geistes dann ihren prominenten Auftritt gewinnt und im Weiteren ihrer Ausarbeitung harrt.66 Hegels Begriff der Substanz von 1804/05 ist nach meinem Verständnis der Versuch, Spinozas Konzeption der Substanz, die causa immanens ist, aber nicht causa transiens, zu dynamisieren. Das gelingt Hegel, indem er sich dem kantischen Problem der materiellen Substanz und Kausalität zuwendet. Hier findet er einen Denkhorizont, der ihm gänzlich neue Einsichten in die Substanz eröffnet. Am naturwissenschaftlichen Problem von Kants Elementarlehre, die als Elementarlehre ausdrücklich sukzessiv und synthetisierend voranschreitet, findet er den Weg, die Substanz (der Natur) als ein Ganzes zu denken, von deren Begriff her weitere Relationen und Bestimmungen entfaltet werden. Dies eröffnet nun den Weg zu einem entscheidenden weiteren Schritt, näm64 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 140. 65 Hegel: Jenaer Systementwürfe II (1804/05). Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, GW 7, 140. 66  Klaus Düsing hat darauf hingewiesen, dass Hegel mit dem Systementwurf von 1804/05 bereits eine Wendung hin zur Subjektphilosophie vollzogen hat (vgl. Klaus Düsing: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena. In: Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Hrsg. v. Heinz Kimmerle. Berlin 2004, 185–199).

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lich zu einem umfassenden neuen Substanzbegriff. Fichte und Schelling mögen für diese Dynamisierung je auf ihre Weise Gedankenanstöße bereitgehalten haben. Die Substanz ist einerseits Kants Materie, andererseits entfaltet sie sich im Denken als Subjekt, nicht wie bei Kant in einem methodischen Zusammenbauen, sondern in einer Phänomenologie, die vom Ganzen her denkt, an der es Einzelnes zu erfahren und begreifen gilt. In der Vorrede der Phänomenologie des Geistes kann Hegel daher in Fortführung seines 1804/05 gewonnenen Begriffes von der lebendigen Substanz sprechen: »Die lebendige Substanz ist ferner das Seyn, welches in Wahrheit Subject, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subject die reine einfache Negativität, ebendadurch die Entzweyung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist; nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.«67 Die Substanz, die in Wahrheit Subjekt ist: Die umgekehrte Figur findet sich, freilich weit weniger dramatisch inszeniert, in Fichtes Grundlage, in der er das tätige Subjekt im Wechsel der tätigen Einbildungskraft als Substanz fasst. Am Ende der Wesenslogik und zu Beginn der Begriffslogik von 1813 und 1816 wird Hegel den gewonnenen Begriff der lebendigen, dynamischen Substanz mit der Spinozanischen Konzeption wieder enger in Verbindung bringen. Die Substanz, die auch Subjekt ist, beschließt die objektive Logik, um als Subjekt, das Substanz ist, die subjektive Logik zu eröffnen. Hier erfährt Spinozas Substanz als Parallelismus der res extensa und res cogitans, als den beiden Attributen also, die jeweils die ganze Substanz identisch repräsentieren, jedoch different sind für den jeweiligen Erkenntniszugang, eine bemerkenswerte Wiederkehr.

67 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18.

Othmar Kastner Die Anerkennung der Arbeit. Bemerkungen zu Hegels praktischer Philosophie ­ ausgehend von der Philosophie des Geistes von 1805/1806 Hegel hat wesentliche Aspekte seines Begriffs der Arbeit bereits in den Jenaer Vorlesungen zur Philosophie des Geistes von 1803/1804 sowie 1805/1806 entwickelt,1 später – in der Phänomenologie des Geistes2 – wieder aufgegriffen und in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts weiter ausdifferenziert.3 Indes hat er diesem für seine praktische Philosophie so zentral gewordenen Begriff in den unterschiedlichen Phasen seines Schaffens eine jeweils modifizierte Stellung im Rahmen seines philosophischen Systems zukommen lassen. Dies gründet in dem Umstand, dass sich Hegels philosophisches System und seine Erörterungen zur praktischen Philosophie im Laufe dieser Zeit selbst gewandelt haben. Ich möchte im Folgenden rekonstruieren, welchen Begriff der Arbeit Hegel in der Philosophie des Geistes von 1805/1806 entwickelt. Hier wird sich zeigen, dass er dort zuallererst einen intentionalen Begriff der Arbeit vor Augen hat, der unserem heutigen Verständnis von Arbeit fremd ist. Denn Hegel versteht darunter zunächst einmal gar nicht das praktische Herstellen bestimmter Dinge und Produkte. Vielmehr ist für Hegel die intentionale Tätigkeit der Benennung von Dingen mit Namen die erste »Arbeit« des Geistes.4 Diese erste Charakterisierung der Arbeit enthält jedoch für ihn bereits bestimmte Grundmuster dessen, was er selbst zu dieser Zeit und auch was wir heute als praktische Arbeit, nämlich als eine bestimmte Weise des hervorbringenden Tätigkeitseins, bezeichnen. Diesen – uns etwas geläufigeren Begriff der Arbeit – finden wir schon in der Fassung der Philosophie des Geistes von 1803/1804, aber eben auch in derjenigen von 1805/1806, allerdings erst weiter hinten im Text, wieder. (1) Zu arbeiten, heißt für Hegel, sich im tätigen Hervorbringen und Gestalten von Dingen verwirklichen zu 1  Vgl. Georg Wilhelm

Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe I, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 6, 277 ff., 281, 299–300, 319 ff. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. Vgl. ders.: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 192 ff., 205 ff., 211 ff., 219, 223 ff., 242 ff., 266 ff. 2  Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 113 ff. 3  Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 164 ff. 4 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193.

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können. Die Arbeit ist somit grundsätzlich als freiheitsermöglichend zu verstehen und wo sie dies nicht ist, fällt sie hinter Hegels ursprüngliche Konzeption derselben zurück. (2) Hegel ist deshalb zu keinem Zeitpunkt seines Schaffens ein Vertreter der These, Freiheit sei selbst erst durch das Freisein von Arbeit zu erlangen oder im Freisein von Arbeit realisiert. Diese romantische These hat er stets abgelehnt. Ich erläutere diese These im Folgenden anhand einer Interpretation von Eichendorffs spätromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts. (3) Daran anschließend soll deutlich werden, weshalb für Hegel die Arbeit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft auch zu einer Anerkennung der Person als arbeitende Person führt. (4) Abschließend möchte ich zeigen, an welchem Punkt wir seiner Analyse der Anerkennung der Arbeit wesentliche Impulse für die heutige Debatte um die Anerkennung häuslicher Tätigkeiten als Arbeit entnehmen können. Auch werde ich erläutern, an welchem Punkt Hegels Systematik der Sittlichkeit, wie er sie in seiner Rechtsphilosophie vorgeschlagen hat, dieser im Wege steht und eine Modifikation verlangt. (5)

1. Hegels erster Begriff der Arbeit in der Philosophie des Geistes von 1805/1806 Der Kontext, in dem der Begriff der Arbeit in Hegels Philosophie des Geistes von 1805/1806 zuallererst eine zentrale Rolle spielt, ist interessant. Denn Hegel verwendet den Begriff der Arbeit überraschenderweise zunächst gar nicht dafür, um eine praktische Tätigkeit oder die Hervorbringung und Produktion bestimmter äußerer Gegenstände zu benennen. Vielmehr verwendet er ihn im ersten Teil seiner Philosophie des Geistes, der mit »[d]er Geist nach seinem Begriffe« übertitelt ist, dafür, ein »innre[s] wirken« zu bezeichnen und zwar eine innere Wirkung des eigenen Ich auf sich selbst in der intentionalen Benennung von Gegenständen, deren Sein das Ich einen »Nahmen« gibt.5 Dieses intentionale Benennen von Gegenständen mit Namen mittels unserer Sprache ermöglicht dem Ich – aus der Perspektive seiner eigenen In5  Vgl. Hegel:

Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194. Andreas Arndt spricht in diesem Zusammenhang von einer »Entnaturalisierung« des Arbeitsbegriffs. Siehe Andreas Arndt: Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistphilosophie, in: ders.: Die Arbeit der Philosophie. Berlin 2003, 25–45, hier: 43 sowie ders.: Die gesellschaftliche Form der Arbeit. Negativität und Widerspruch in Hegels Ökonomie, in: ders.: Die Arbeit der Philosophie, 47–69, hier: 64–65.

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nerlichkeit – Gegenstände aus dem Ich heraus und für das Ich seiend werden zu lassen.6 Für Hegel kommt unserer Sprache somit die Eigenschaft zu, durch Benennungen Innerliches symbolhaft-kommunikativ als Seiendes auch für andere verständlich zu machen. »Sprache [setzt Innerliches, v. Verf.] als seyendes«,7 schreibt Hegel und er ergänzt, dass genau diese sprachlich geäußerte und damit symbolhaft seiende Innerlichkeit »das wahre Seyn des Geistes als Geistes überhaupt« ist.8 Denn der Geist verobjektiviert hier ein »Daseyn, das seinem Begriffe gemäß ist«.9 Durch die Sprache wird Innerliches als geistiger Gehalt ausgesprochen und kann vernommen sowie verstanden oder auch missverstanden werden.10 Für das Ich ist diese Funktion der Sprache insofern zentral, als gerade sie es ihm gestattet, der »Bedeutung des Dings« einen Namen zu geben und mit diesem »das Seyn des Gegenstandes« auszusprechen. Darin besteht für Hegel nicht irgendeine, sondern gerade »die erste Schöpferkrafft, die der Geist ausübt«.11 Diese Schöpferkraft des Geistes ist jedoch auch – und darauf möchte ich hinweisen – seine erste Schöpferkraft, weil die sprachliche Benennung von Gegenständen dem Ich die fundamentale Möglichkeit bietet, sich symbolhaft auf diese zu beziehen und einen kommunikativen Umgang mit anderen über diese zu pflegen. Hegel muss diese Möglichkeit der symbolhaften Bezugnahme des Ich auf Gegenstände auch voraussetzen, um überhaupt das Zustandekommen dieses sprachlich-symbolhaften Umgangs mit Gegenständen im Rahmen der beiden anderen Darstellungsmodi des Geistes (Arbeit, Familie), die er vor allem im praktischen Teil seiner Philosophie des Geistes untersucht, erklären zu können. Denn auch die kommunikative Interaktion mit anderen in der Arbeit wie auch die soziale Interaktion in der Familie bedürfen dieser grundlegenden Funktion der Sprache als erster Schöpferkraft des Geistes. Das Interessante ist nun, dass Hegel genau diese Tätigkeit des Ich, nämlich die sprachliche Tätigkeit der intentionalen Benennung von Dingen mit Namen, in einer Randbemerkung seines Manuskripts als »Arbeit« bezeichnet.12 Ich verstehe diese »Arbeit« in zweierlei Hinsich6 

Siehe zu diesem intentionalen Begriff der Arbeit Hans-Christoph Schmidt am Busch: Hegels Begriff der Arbeit. Berlin 2002, 21 ff. 7 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 189. 8 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 189. 9 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 189. 10  Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 189. 11  Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 189–190. 12  Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 192 Randbemerkung.

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ten. Einmal besteht sie darin, eine Vielzahl an möglichen Benennungen für Dinge hervorzubringen. In diesem Sinne meint mit der Sprache zu arbeiten für Hegel, die Unruhe und damit auch die Veränderlichkeit der Benennungen von Dingen als »reine Bewegung« zu gewährleisten.13 Denn jedes kommunizierende Ich bedarf der Möglichkeit, sich in der »reine[n] Bewegung« der Bedeutungen auszusprechen.14 Zugleich besteht diese Arbeit in der Aufgabe, in die Diversität der Benennungen eine »Ordnung« zu bringen.15 Mit der Sprache zu arbeiten, meint für Hegel also auch, diese reine Bewegung in der Benennung von Dingen durch Namen in ihrer Beweglichkeit zu festigen. Dies hat den für jedes Ich gleichermaßen zentralen Effekt, dass Bedeutungen von Dingen in der Sprache Bestand erhalten. Beide Weisen, die Arbeit der Sprache zu verstehen, sind demnach konstitutiv für das Zustandekommen und das Gelingen der Vermittlung zwischen dem Ich und symbolhaft geordneten Gegenständen. Einer scharfsinnigen Beobachtung Hegels zufolge ist es gerade die Aufgabe des Gedächtnisses, diese durch das Ich hergestellte Verbindung zwischen Bedeutungen und Namen immer wieder generieren zu können. Auch das verstehe ich in zweierlei Hinsichten. Denn einmal ist es die Aufgabe des Gedächtnisses, eine Ordnung innerhalb dieser Verbindung herzustellen, die selbst »fixierend« ist. Dies bewerkstelligt es, indem es symbolhaft geordnete Gegenstände immer wieder in derselben Weise hervorbringt. Das Gedächtnis soll eine solche Verbindung festigen. Zum anderen ist diese Ordnung auch bereits »fixiert«,16 weil sie eine stete Verbindung sein muss, damit eine Verständigung durch diese möglich ist. Denn in einer unsteten Verbindung zwischen Bedeutung und Namen kann sich kein Ich so ausdrücken, dass es sich in seiner Sprache auch tatsächlich vernommen weiß. Ja, mehr noch: Eine unstete Verbindung zwischen Bedeutungen und Namen, das heißt eine Verbindung, die stets unstet und immer im Wandel ist, das heißt keine

13 Hegel:

Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 192 Randbemerkung. untersuche diesen Aspekt mit Blick auf das Verhältnis von Derridas Theorem der bedeutungsgenerierenden Bewegung der Différance zur logischen Form des Ich bei Kant in Othmar Kastner: Kritik und Dekonstruktion der praktischen Vernunft. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Derridas Begriff der Verantwortung zu Kants Begriff der Moral, 206 ff. [Universität Wien, Dissertation, 2013]. 15 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193. 16 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193. 14  Ich

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Verbindung oder als Verbindung nur ein einziges Mal gegeben ist, was dasselbe ist, lässt überhaupt nicht zu, dass wir uns darin ausdrücken.17 Beides zu können – also die Verbindung zwischen Bedeutungen und Namen zu fixieren und eine bereits fixierte Ordnung dieser Verbindung in ihrer symbolhaften Anwendung erneut herstellen zu können – macht die »Übung des Gedächtnisses« aus.18 Diese Übung verstehe ich als einen Prozess, weil die sprachliche Generierung von Namen für Dinge nicht abgeschlossen ist. Er besteht mithin darin, fixierend zu wirken und bereits Fixiertes in unserem Symbolgebrauch richtig anzuwenden. In diesem Prozess des Gedächtnisses, der den Charakter einer steten Übung hat, besteht für Hegel die »erste Arbeit, des erwachten Geistes, als Geistes«.19 Ich frage mich jedoch: Warum handelt es sich hierbei um eine »Arbeit« und warum ist sie die »erste Arbeit«? Ich beantworte zunächst die erste Frage, bevor ich mich der zweiten zuwende. Nun, um eine Arbeit des Geistes handelt es sich deshalb, weil sie immer wieder die Identifizierung des Ich mit den von ihm hervorgebrachten Namen für die Bedeutungen von Dingen wie auch das Herstellen einer neuen sprachlichen Konvention und ihrer Beibehaltung für das Ich und andere bewerkstelligt. Zu arbeiten in diesem Sinne heißt demnach beides: eine Identifizierung mit den bereits hergestellten (sprachlichen, institutionellen, technischen) Konventionen vorzunehmen wie auch an der Hervorbringung neuer Konventionen sprachlicher, institutioneller und technischer Art mitzuwirken. Diese Arbeit versteht Hegel – wie eingangs erwähnt – als ein »innre[s] wirken [des Geistes] auf sich selbst«.20 Der Geist hat sich hier selbst »zum Gegenstande«.21 Er weiß, dass es seine Arbeit ist, wenn er respektive das Ich sich damit identifizieren kann. Ist ihm respektive dem Ich dies nicht möglich, dann handelt es sich nicht um eine Arbeit des Geistes, also nicht um seine Arbeit.

17  Hat

Hegel, so gedeutet, nicht in gewisser Hinsicht Wittgensteins Argument zur Regelfolge vorweggenommen? Denn war es nicht Wittgenstein, der geschrieben hat: »Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc.«? Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1. Frankfurt/M. 1984, 225–580, hier: 344, § 199. 18 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193. 19 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193. 20 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194. 21 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194.

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Und weshalb ist dies die erste Arbeit des Geistes? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich das Augenmerk darauf richten, dass für Hegel diese Arbeit des Gedächtnisses deshalb die erste Arbeit des erwachten Geistes als Geist ist, da genau diese Identifikationsmöglichkeit – gemeint ist jene des Ich mit den Namen, die es den Bedeutungen von Dingen gibt – dem zweiten Darstellungsmodus des Geistes, nämlich der praktischen Arbeit und der Hervorbringung von Dingen, zugrunde liegen muss. Denn wenn dem Ich die Möglichkeit, einem Ding und seiner Bedeutung einen Namen zu geben und diesen Namen immer wieder auf dieselbe Art und Weise korrekt zu wiederholen, verwehrt ist, dann ist dem Ich auch die Möglichkeit verwehrt, jenen Dingen, die es selbst durch praktische Arbeit hervorbringt, Namen zu geben. Zudem kann es dann in der intersubjektiven Kommunikation mit anderen keinen sprachlich vermittelten Umgang mit diesen Dingen finden. Denn wenn ich mich nicht auf eine beständige Art und Weise immer wieder mit derselben Benennung auf Dinge beziehen kann, dann bin ich auch nicht in der Lage, mich mit den Dingen, die ich arbeitend hervorbringe, zu identifizieren. Denn ich wüsste nicht, was ich mit diesen Dingen symbolisch anfangen sollte. Ich hätte auch keine Kenntnis davon, dass ich es bin, mein Ich, das sich selbst und seine Vorstellungen von diesen Dingen mit den Namen, die es ihnen gibt, ausdrückt. Denn ich selbst muss mich in diesen Vorstellungen und in diesen Dingen, die ich arbeitend hervorbringe, ausgedrückt finden, um zu wissen, dass es meine Vorstellungen und Hervorbringungsweisen meiner Dinge sind.22 Aus diesem Grunde ist schon für Hegel klar: »Die Arbeit ist zugleich, daß Ich sich selbst zu dem macht, was es im Nahmen geben ist, nemlich Ding, seyendes, der Nahmen ist es, und ist ein Ding«.23 Für das Hervorbringen von Dingen durch die Arbeit ist das Wiederfinden meinerselbst in der Benennung der Dinge auch als derjenige, der diese Benennung vornimmt, eine Grundvoraussetzung. Ich muss Kenntnis davon haben können, dass ich es bin, der diese Namen für das von mir produzierte Ding verwendet. Wir kennen diese Art der spekulativen Identifikation eines Ich mit den von ihm selbst hervorgebrachten Gegenständen auch in der Redewendung: sein Ding machen. Wenn wir davon sprechen, dass jemand sein Ding macht, dann nehmen wir an, dieser jemand verwirklicht sich mit 22 Vgl. Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser »Philosophie des Geistes«, in: ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt/M. 41970, 32. 23 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 193–194.

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seinem Ding auf eine Art und Weise, die ihm oder ihr wichtig ist. Dieses Ding ist dann Ausdruck einer charakteristischen Verwirklichungsweise seines Ichs. Deshalb hat für Hegel der Gedanke, sich zu einem Dinge zu machen, noch nicht jenen pejorativen Beigeschmack, den wir heute damit verbinden. Denn er hat hier noch nicht die Entfremdung des Ichs von seinen Arbeitsprodukten und etwaige Verdinglichungs- und Ausbeutungsphänomene in kapitalistischen Arbeitsverhältnissen vor Augen, wie wir sie von den Berichten aus den Computer-Zulieferfabriken Chinas oder den Textilfabriken Bangladeschs oder Kambodschas kennen. Bei ihm bedeutet das Sich-zum-Dinge-machen noch etwas ganz anderes, ja beinahe das Gegenteil. Denn zunächst meint Hegel bloß, dass in dieser ersten Arbeit des Geistes das Ich sich mit den Namen, die es Dingen gibt, identifiziert. Oder wie er schreibt: »[E]s [das Ich, v. Verf.] macht sich zum Dinge, indem es in sich die Ordnung der Nahmen fixirt; es fixirt sie in sich, d. h. es macht sich selbst zu dieser […] Ordnung.«24 Doch freilich meint diese Charakterisierung des Sich-zum-Dinge-Machens nur beinahe das Gegenteil kapitalistischer Verdinglichungsphänomene, weil auch in diesen das Ich sich insofern zu einem Dinge macht, als es die Ordnung der verwendeten Namen auch in kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen fixiert. Allerdings macht es sich nicht selbst zu dieser Ordnung, sondern die Ordnung ist – so scheint es – gänzlich unabhängig von den Hervorbringungsweisen und Hervorbringungsmöglichkeiten des Ich bereits fixiert.25 Für Hegel umfasst demnach diese erste Arbeit des Geistes grundlegende Aspekte dessen, was die praktische Tätigkeit des Ich respektive das Wirklichwerden des Geistes ausmacht. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass die praktische Tätigkeit des Ich oder das Wirklichwerden des Geistes wiederum wesentliche Elemente dieser ersten, intentionalen Arbeit des Geistes gleichermaßen zum Ausdruck bringt. Denn Hegel kann nur deshalb auch für diese Tätigkeiten denselben Begriff erneut, wenn auch in einem entschieden veränderten, nämlich praktischen Sinne, verwenden, weil die Grundcharakteristika der »erste[n] Arbeit« des Geistes dieselben bleiben und hier wieder relevant werden. So wie die Sprache das Mittel für den Geist ist, aus seiner bloßen Innerlichkeit herauszutreten, um den Dingen, die er bezeichnen möchte, 24 Hegel:

Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194. auch Rahel Jaeggi: Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? Drei Wege der Kapitalismuskritik, in: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Hrsg. v. Rahel Jaeggi/Daniel Loick. Berlin 2013, 332 ff. 25  Siehe

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Namen zu geben, so interessiert sich Hegel deshalb für das Werkzeug und seinen praktischen Gebrauch, weil gerade dieses in der Arbeit das Mittel dafür ist, durch die Formung der Natur oder natürlicher Materialien Dinge hervorzubringen.26 Kann ich mit der Sprache dem innerlich gemeinten Inhalt eine allgemein vernehmbare Bezeichnung geben, so verfüge ich mit dem Werkzeug über die »Möglichkeit, den Inhalt [der Arbeit als Hervorbringung des Geistes für das »äußere Bewußtsein«, v. Verf.] als einen allgemeinen« herzustellen.27 Hegel versteht die Arbeit als reflektiertes Hervorbringen der dialektischen »Einheit« der im Ich vorhandenen Vorstellung dessen,28 wohin es durch sich selbst in seinen Handlungsvollzügen mit seinen Identifikationsmöglichkeiten getrieben werden möchte, und der Vorstellung des Gegenstandes, in dem diese Identifikationsmöglichkeiten bereits verwirklicht sind. Wenn genau dies der Fall ist, dann habe ich Bewusstsein davon, dass der Inhalt wie auch die Form dessen, was ich arbeitend hervorbringe, das von mir »[G]ewollte« ist.29 Für die Hervorbringung desselben entzweit sich das »[t]riebseyende Ich« zunächst insofern, als es den gewollten Gegenstand mit technischen Hilfsmitteln herstellt. Diese lässt es sich dabei abnützen, um die Entzweiung in der durch das Werkzeug vermittelten Arbeit dialektisch aufzuheben. Hegel bezeichnet dies als die »List« der Vernunft gegenüber der Natur.30 Wenn also die Arbeit nach Hegel »das disseitige sich zum Dinge Machen« ist,31 dann meint er damit auch, dass durch die Arbeit und die damit hervorgebrachte Verwirklichung des Gewollten, die Triebhaftigkeit des eigenen Lebens zufriedengestellt wird. Die Arbeit ist in der Philosophie des Geistes von 1805/1806 diese Bewegung der Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem triebseienden Ich und den von ihm gewollten Weisen seiner Verwirklichung.32

26 

Siehe dazu Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Hamburg 1995, 286 ff. 27 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 206. 28 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 205. 29 Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 206 sowie Andreas Arndt: Begriff der Arbeit und Arbeit des Begriffs, in: ders.: Die Arbeit der Philosophie, 93–104, hier: 97. 30  Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 205–206. 31 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 205. 32 Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M. 1994, 60–61.

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2. Das Freiheitsermöglichende der Arbeit Ich halte es nach wie vor für eine treffende Einsicht Hegels, dass eine Arbeit, die eine Identifikation mit dem durch sie Geschaffenen gewährleistet, nicht eine freiheitseinschränkende, sondern eine freiheitsermöglichende Arbeit ist. Dies zeigt sich genauerhin in der Art und Weise, in der ich meinen Willen in dem von mir produzierten Ding oder Werk wiedererkenne. Auch wenn uns Hegels spekulative Ausdrucksweise heute fremd geworden sein mag, so ist seine Rede davon, dass ich mich im Falle dieser Identifikation selbst insofern zu einem Dinge gemacht habe, als ich das von mir Gewollte darin verwirklicht wiedererkenne, noch immer zutreffend. Denn sie trifft terminologisch noch immer sehr genau das Verhältnis derjenigen, die arbeiten, zu den von ihnen hergestellten Arbeitsfortschritten, wenn sie diese als Ausdruck ihrer eigenen Freiheit verstehen. Deshalb ist für Hegel »das mich zum Dinge Machen« ein »nothwendiges Moment«,33 wenn ich aus Freiheit meine eigene Tätigkeit für den Gebrauch von Werkzeugen – wir können auch sagen: von Arbeitsmaterialien – heranziehe. Zudem ist Arbeit dann freiheitsermöglichend, wenn der durch sie erzielte Lohn dazu dient, sich selbst – unabhängig von der familiären Herkunft und ihren ersten Banden im Rahmen der natürlichen Sittlichkeit – zu erhalten und gegebenenfalls auch für andere, das heißt in vielen Fällen für eine eigene Ehe oder Familie, sorgen zu können. Diese positive Freiheit zum Selbsterhalt und zum Erhalt anderer, mit denen ich in familiärer Fürsorge verbunden bin, soll, nach Hegel, durch die Arbeit und ihre gerechte Entlohnung gewährleistet werden. Zu arbeiten heißt also im Idealfall, zur Ermöglichung und Erhaltung der eigenen Freiheit und der Freiheit anderer im Rahmen eines sozialen Gefüges beizutragen.34 Diese Grundintention Hegels mit Blick auf den Begriff der Arbeit gilt es auch mit dem historischen Abstand von etwas mehr als 200 Jahren wachzuhalten, selbst wenn uns angesichts vielfältiger empirischer Belege Zweifel daran kommen mögen. So scheint seine Konzeption des Begriffs der Arbeit als einer Tätigkeit, die zur Verwirklichung der eigenen subjektiven Freiheit in einem mit anderen geteilten sozialen Gefüge beitragen soll, auf den ersten Blick blind dafür zu sein, dass es auch Arbeitsverhältnisse geben kann, die nur in einem geringen Maß Ausdruck 33  Vgl.

Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 206. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/München 1979, 124. 34  Vgl. Ludwig

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von Freiheit sind und kaum dazu beitragen, von dem erwirtschafteten Lohn sich selbst und seine Familie ernähren zu können. Wenn etwa die Entlohnung bloß aus dem besteht, was wir einen Hungerlohn nennen, so meinen wir mit dieser Bezeichnung ja nicht einfach, der ausbezahlte Lohn für die geleistete Arbeit sei bloß zu niedrig, sondern wir meinen tatsächlich, dass der gezahlte Lohn nicht aus dem Hunger herausführt.35 Es handelt sich also um einen Lohn, der zwar freiheitsermöglichend sein sollte, es aber nicht ist, weil er die basale Voraussetzung dafür, die eigene subjektive Freiheit positiv auszuüben, nicht gewährleistet. Mit anderen Worten: Er garantiert nicht die mögliche Ausübung grundlegender Fähigkeiten des Menschen, wie etwa die Fähigkeit, eine Familie zu gründen und diese auch zu ernähren.36 Aus diesem Grunde sind derart niedrige Löhne ungerecht. Denn sie reichen nicht für eine vollwertige Teilhabe am sozialen Gefüge. Doch die Gegebenheiten solcher nicht freiheitsgewährleistender Arbeitsverhältnisse dürfen wir nicht Hegels eigenem und sehr ausdifferenzierten Begriff der Arbeit zur Last legen. Wir mögen zwar – etwa mit Blick auf die Definition der Arbeit im Paragraphen 196 seiner Rechtsphilosophie37 – empirische Kenntnis von Arbeitsverhältnissen haben, in denen die Vermittlung zwischen den Bedürfnissen der Bürger und jenen Mitteln, die zur Stillung dieser geeignet sind, nicht gelingt oder nicht stattfindet. Doch dies ist kein Einwand gegen Hegels Definition der Arbeit selbst, sondern vielmehr – so möchte ich vorschlagen – kann umgekehrt gerade diese kritisch gegen solche Arbeitsverhältnisse in Stellung gebracht werden, indem darauf hingewiesen wird, dass Arbeit eine solche Vermittlung garantieren sollte. Und wo sie dies nicht tut, fällt sie hinter sein Konzept einer freiheitsermöglichenden Arbeit zurück,38 die deshalb freiheitsermöglichend ist, weil sie grundlegende Bedürfnisse nach Nahrung oder Kleidung zu stillen vermag. So gesehen kann angesichts zeitgenössischer Verdinglichungsphänomene in der internationalen Produktion von Waren die Intention von 35 

Siehe zur normativen Forderung, dem unfreiwilligen Hunger anderer Abhilfe zu schaffen, Kastner: Kritik und Dekonstruktion der praktischen Vernunft, 141–146. 36 Vgl. Amartya Sen: Functionings and Capabilities, in: ders.: Inequality Reexamined. Cambridge, Mass. 1995, 39–55 sowie Martha Nussbaum: Der aristotelische Sozialdemokratismus, in: dies.: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hrsg. v. Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt/M. 1999, 58. 37  Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 168. 38  Diese These vertritt auch Honneth: Arbeit und Anerkennung. Versuch einer theoretischen Neubestimmung, in: ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Berlin 2010, 90–91, bes. 94–95.

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Hegels ursprünglichem Gedanken, sich durch die Arbeit in der Herstellung eines Dinges verwirklichen zu wollen und dies auch zu können, erneut argumentative Strahlkraft erhalten. Denn es ist Hegels Leistung, gezeigt zu haben, dass wir das Arbeiten als eine Tätigkeit verstehen können, die tatsächlich in der Lage sein sollte, grundlegende menschliche Bedürfnisse eines selbst, der eigenen Familie und aller anderen Gesellschaftsteilnehmer zu stillen. Deshalb analysiert Hegel die Arbeit spätestens in seiner Rechtsphilosophie als Teil der marktwirtschaftlich organisierten bürgerlichen Gesellschaft, die er wiederum im Rahmen seiner Analysen zur Sittlichkeit untersucht, unter der er bekanntlich die Verwirklichung der »Idee der Freyheit« als das »lebendige Gute« versteht.39 Auch die Arbeit ist demnach eine Weise der Verwirklichung dieser Idee der Freiheit als das lebendige Gute.40 So gedeutet erhält Hegels Begriff der Sittlichkeit seine normative Güte, wenn unter Rückgriff auf diesen gezeigt werden kann, dass es Arbeitsverhältnisse gibt, die gerade darin bestehen, keine Verwirklichung von Freiheit zu sein. Sie gilt es zu vermeiden. Hegel hat jedoch mit der These der Verwirklichung der Freiheit durch die Arbeit nicht eine Freiheit im Blick, die gänzlich frei von Monotonie wäre. Vielmehr hat er sehr früh eine klare Vorstellung dessen gehabt, worin die Eintönigkeit von Arbeit bestehen kann. Denn die bloße Tätigkeit oder die Wiederholung einer Tätigkeit allein machen noch nicht Arbeit im hegelschen Sinne aus. »Die Arbeit selbst als solche ist nicht nur Thätigkeit […]; sondern in sich reflectirte, Hervorbringen«,41 heißt es in einer Randbemerkung. Und in derselben Randbemerkung macht Hegel deutlich, dass Arbeitsprozesse, eben verstanden als reflektiertes 39  Vgl.

Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 137. Freiheitsgedanke steht von Anfang an im Zentrum von Hegels systematischen Erörterungen zur praktischen Philosophie. Dies belegt ein Blick auf das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1797. Hier heißt es, dass die »Vorst[ellung] von mir selbst, als einem absolut freien Wesen«, die erste Idee innerhalb eines vollständigen Systems der Ethik zu sein hat (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Hrsg. v. Christoph Jamme/ Helmut Schneider. Frankfurt/M. 1984, 11). Siehe dazu Violetta L. Waibel: »ein vollständiges System aller Ideen«. Zum ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit. Hrsg. v. Martin Bondeli/Helmut Linneweber-Lammerskitten. München 1999, 341–363. Auch das spätere System der Sittlichkeit von 1802/1803 untersucht den Freiheitsbegriff – freilich in verändertem systematischen Kontext – nun als negative Freiheit des Verbrechers gegen die Verrechtlichung zwischenmenschlicher Beziehungen. Vgl. Hegel: System der Sittlichkeit, GW 5, 309–323. Siehe dazu Honneth: Kampf um Anerkennung, 20–53, bes. 36 ff. 41 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 205–206. 40  Der

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Hervorbringen von Dingen, indes sehr wohl auch Prozesse der Wiederholung sind. Er meint, gerade »darin besteht das Saure« der Arbeit.42 Diese saure Wiederholung im Arbeiten besteht für ihn genauerhin im »Setzen der Gleichheit […] des Seyns«.43 Oder, wie es auch heißt: »Es ist Wiederhohlen eines Bekannten, wo kein Interesse mehr an der Sache ist; kein Genuß, sich im Andern zu finden, nicht das Benahmen; – daher rein unsinnliche Beschäfftigung –«.44 Entscheidend ist für Hegel hier, dass das Ich sich in diesem Fall durch das Gedächtnis immer wieder zu demselben Dinge macht. »Es kann nur als Gedächtniß sich zum Dinge machen, weil das Ding[,] zu dem es sich macht, an sich Ich ist«.45 Und in der Randbemerkung dazu heißt es: »Diese Arbeit ist wiederhohlen desselben; darin besteht das Saure, Ich thut auf seine freye Willkühr Verzicht, hinausgehen über das bestimmte«.46 Und dann folgt – nach einem Gedankenstrich – der bereits zitierte Satz: »Wiederholen ist das Setzen der Gleichheit […] des Seyns«, den Hegel so versteht, dass es sich hier um ein »Festhalten an sich [als] demselben« handelt.47 Mit anderen Worten: Die Monotonie in der Arbeit ist im Grunde nichts anderes als die Monotonie des Ichs. Einer solchen Wiederholung des Gleichen fehlt noch das differente Gegenüber; hier das tatsächlich sinnlich Hergestellte.48 Nach Hegel darf sich in dieser Monotonie der Arbeit und der damit einhergehenden Monotonie des Ichs die Arbeit indes nicht erschöpfen, wenn sie auch Ausdruck der »freye[n] Willkühr« des Ichs sein möchte. Wenngleich er mit dieser Einschätzung zweifelsohne Recht hat, ist doch gerade die Möglichkeit, ein reflektiertes Hervorbringen wiederholen zu können, nicht bloß das »Saure« der Arbeit, sondern vielmehr die Bedingung ihrer Möglichkeit. Denn ohne die Möglichkeit der Wiederholung im Gedächtnis kommt Arbeit überhaupt nicht zustande. Auch deshalb ist die »Übung des Gedächtnisses« die erste Arbeit des Geistes. Eine Arbeit, die nicht wiederholt werden könnte, wäre keine Arbeit. Das sagt Hegel im Grunde selbst. Die erste Arbeit des Geistes besteht ja genau darin, durch das Gedächtnis Möglichkeiten der Wiederholung seiner reflektierten Hervorbringung zu schaffen. Oder anders formu-

42  Vgl.

Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194 Randbemerkung. Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194. 44 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194 Randbemerkung. 45 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194 Randbemerkung. 46 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194 Randbemerkung. 47  Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 194 Randbemerkung. 48  Siehe dazu Schmidt am Busch: Hegels Begriff der Arbeit, 38–39. 43 Hegel:

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liert: Möglichkeiten der Wiederholung zu schaffen ist das erste Arbeiten. Das Saure der Arbeit ist also eine notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit. Hegel hat deutlich gesehen, welche einschneidenden Effekte die maschinelle Arbeit auf unsere Arbeitsweise und die Ausprägung eines praktisch-handelnden Selbstbewusstseins haben dürfte. Denn obgleich die Maschine den Menschen in die Lage versetzt, diese »ganz für ihn« arbeiten zu lassen – und damit eine Befreiung desselben von der manuellen Handhabe von Werkzeugen herbeiführt –, so ist damit doch zugleich die Entwicklung hin zu einer Entfernung des Arbeitenden »von der Natur« und ihrer mannigfaltigen Lebendigkeit eröffnet.49 Die eigene Arbeit wird, wie Hegel genau beobachtet, selbst »maschinenmässiger« und scheint mitunter nicht eine Befreiung von hoher Arbeitslast zur Folge zu haben, sondern eine Vermehrung der möglichen Arbeit herbeizuführen.50 Hatte er für diese Einsicht die Auswirkungen der Erfindung des vollmechanischen Webstuhls vor Augen, so zeigen auch die vollautomatisierten Programme heutiger Finanzmarktinstitutionen deutlich, dass die durch sie hinzugewonnene Freiheit im täglichen Arbeitsprozess jederzeit durch automatisierte An- und Verkäufe dialektisch in die Unfreiheit jener umschlagen kann, die von diesen automatisch gefällten Entscheidungen betroffen sind.51

3. Das Freisein von Arbeit Der Gedanke, wonach wir arbeitend im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft Anerkennung finden können, ist bereits zu Hegels Zeit mit einem romantischen Verständnis des Freiseins von Arbeit konfrontiert. Mit diesem ist ein Freisein von der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch ein Freisein von der Aufgabe des finanziellen Erhalts einer Ehe und Familie angedacht. Es drückt sich – nach meinem Verständnis – exemplarisch in Eichendorffs spätromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts aus, der ich mich nun zuwenden möchte. In ihr treten die gesellschaftliche Notwendigkeit des Arbeitens und das Freisein von Arbeit im eigenen Lebensvollzug in Konkurrenz zueinander. Denn in dieser Novelle ist der Taugenichts nicht deshalb ein Tau49 Hegel:

Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 321. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 169; ders.: Jenaer System­entwürfe III, GW 8, 225. 51  Vgl. Habermas: Arbeit und Interaktion, 29 Anmerkung. 50 Vgl.

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genichts, weil er nicht zur Arbeit taugt, sondern er ist es deshalb, weil ihm die Verbindung von ästhetischer Erfahrung – des Naturschönen oder der Freude an der Musik – und der Arbeit nicht gelingt. So wird die Spannung zwischen ästhetischer Erfahrung und Arbeit gleich in den ersten Sätzen des ersten Kapitels dieser Novelle deutlich. Denn hier beschreibt der Ich-Erzähler, der an dieser Stelle noch gar nicht als Taugenichts identifiziert worden ist, im Eingangssatz eine ästhetische Naturerfahrung, die er morgens vor der Mühle des Vaters macht: »Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.«52 Diese Naturerfahrung zu Beginn des Frühlings wird jäh durchbrochen, als in dem daran anschließenden zweiten Satz der Novelle der Vater aus dem Haus tritt. »Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe.«53 Und erst dieser schon seit dem frühen Morgen arbeitende Vater identifiziert für uns Leser den sich an der Natur erfreuenden und die Geräusche der Mühle »recht lustig« findenden Burschen als »Taugenichts«. »[D]er sagte zu mir: ›Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun.‹«54 Und weil der Arbeit Lohn dem Müller entweder nicht reicht, um seinen Jungen weiter zu ernähren, oder weil er ihn nicht mehr ernähren möchte – die Novelle lässt dies offen – sagt er zu diesem: »›Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.‹«55 Der Vater bezeichnet seinen Sohn also nicht deshalb als einen Taugenichts, weil dieser nicht zur Arbeit taugt, sondern er bezeichnet seinen Sohn deshalb als einen solchen, weil es diesem nicht gelingt, im eigenen Lebensvollzug seine ästhetischen Erfahrungen und die Tätigkeit des Arbeitens miteinander in Einklang zu bringen. Der Vater traut es 52  Joseph

von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Novelle. Hrsg. v. Hartwig Schulz. Stuttgart 1992, 5. 53 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 5. 54 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 5. 55 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 5.

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dem Sohn indes durchaus zu, sein eigenes Geld zu verdienen und auch das Talent dafür zu haben. Dies kommt gerade darin zum Ausdruck, dass er ihn von sich fortschickt, um einer eigenen Arbeit nachzugehen und das Arbeiten als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit dafür zu begreifen, sich selbst – unabhängig von der väterlichen Fürsorge – erhalten zu können. Die Identifizierung des Taugenichts als Taugenichts ist also zunächst eine Identifizierung, die der arbeitende Müller vornimmt. Ein Taugenichts ist also jemand aus der Perspektive eines Arbeitenden. Dieser erkennt die Schwierigkeit desselben, im alltäglichen Lebensvollzug seine Lust an ästhetischen Erfahrungen und die Zwänge des Arbeitens miteinander in Einklang zu bringen. Ein Taugenichts zu sein, ist deshalb in dieser Novelle keine Bezeichnung, die das erzählende Ich von Anfang an für sich in Anspruch nimmt. Gerade weil aber der als »Taugenichts« bezeichnete Bursche um seine Schwierigkeit weiß und bereits eine Ahnung davon hat, dass das Fortziehen ein Freisein von der Mitarbeit in der väterlichen Mühle und damit eine reizvolle – wenngleich bloß scheinbare – Auflösung dieser Schwierigkeit mit sich bringt, übernimmt er gerne die väterliche Identifikation. »›Nun‹, sagte ich, ›wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.‹«56 Dieses Wechselspiel zwischen Arbeit (Müller) und ästhetischer Erfahrung (Taugenichts) in den Eingangssätzen dieser feinsinnigen Novelle setzt sich fort, indem Taugenichts die Einsicht darin, dass er von der väterlichen Mühle fortgeschickt wird, um sich eine eigene Arbeit zu suchen, selbst wiederum ästhetisch rechtfertigt. »Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn, da ich den Goldammer, der im Herbst und Winter immer betrübt an unserem Fenster sang: ›Bauer, miet’ mich, Bauer miet’ mich!‹ nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: ›Bauer, behalt deinen Dienst!‹«57 So nimmt der Taugenichts auch nichts anderes auf seine »Reise«, wie er die vom Vater aufgetragene Arbeitssuche nennt, mit, als seine »Geige«, mit der er durchs Dorf hinaus »schlendert«.58 Und als ob es uns Lesern hier noch nicht klar geworden wäre, dass zwischen der Arbeit (Vater) 56 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 5. Aus dem Leben eines Taugenichts, 5. 58  Vgl. Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 5. 57 Eichendorff:

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und der ästhetischen Empfindung (Taugenichts) ein scheinbar unüberbrückbarer Gegensatz klafft, wird dieser Gegensatz nun von Taugenichts auch noch so gedeutet, dass die Welt des Reisens und des Musizierens gegenüber der Welt des Arbeitens die tatsächlich freie Welt ist, weil sie eben frei von Arbeit ist: »Ich hatte recht meine heimliche Freud’, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor, und spielte und sang [...].«59 Diesen Gegensatz zwischen dem Arbeiten und dem Freisein von Arbeit kann Taugenichts im weiteren Verlauf der Novelle nicht zum Einklang bringen. Dies wird besonders noch im selben Kapitel, nur wenigen Seiten später, deutlich, als Taugenichts, dessen wirklichen Namen wir in der Novelle nicht erfahren, in einem Schloss, in der Nähe von Wien, die Tätigkeit des »Gärtnerburschen« angetragen wird. Weil er erkennt, dass er mit der von ihm erlernten Kunst – dem »Geigenspiel« – »nicht einen Heller« wird verdienen können, willigt er ein, diese Arbeit anzunehmen. Der Gärtner hält ihm »eine lange Predigt«, wie er »nur fein nüchtern und arbeitsam sein, nicht in der Welt herumvagieren, keine brotlosen Künste und unnützes Zeug treiben solle«. So könne er es »mit der Zeit auch einmal zu was Rechtem bringen«.60 Und Taugenichts bemerkt, dass es »noch mehr sehr hübsche, gutgesetzte, nützliche Lehren« waren,61 die ihm der Gärtner gegeben hat und doch – als seien sie für sein eigenes Alltagskonzept eben gerade nicht tauglich – gesteht er sich selber freimütig ein: »[I]ch habe nur seitdem fast alles wieder vergessen«.62 So erfahren auch wir Leser und Leserinnen nichts von diesen Lehren. Und doch kann Taugenichts sagen: »So war ich denn, Gott sei Dank, im Brote.«63

59 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 5–6. Aus dem Leben eines Taugenichts, 8. 61 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 8–9. 62 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9. 63 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9. 60 Eichendorff:

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Allerdings mag es ihm nicht recht gelingen, einzusehen, unter welcher Bedingung er »im Brote« ist, nämlich, dass er dafür eben auch zu arbeiten und zu dienen habe. »In dem Garten war schön leben, ich hatte täglich mein warmes Essen vollauf, und mehr Geld als ich zu Weine brauchte, nur hatte ich leider ziemlich viel zu tun. Auch die Tempel, Lauben und schönen grünen Gänge, das gefiel mir alles recht gut, wenn ich nur hätte ruhig drin herumspazieren können und vernünftig diskurrieren, wie die Herren und Damen, die alle Tage dahin kamen.«64 So bekommen wir hier den Eindruck, dem Taugenichts geht es in der Arbeit oder während der Arbeit um nichts anderes, als aus dem Arbeiten wieder herauszukommen und frei zu sein von dieser. »So oft der Gärtner [sein Vorgesetzter, v. Verf.] fort und ich allein war, zog ich sogleich mein kurzes Tabakspfeifchen heraus, setzte mich hin, und sann auf schöne höfliche Redensarten, wie ich die eine junge schöne Dame, die mich in das Schloss mitbrachte, unterhalten wollte, wenn ich ein Kavalier wäre und mit ihr hier herumginge. Oder ich legte mich an schwülen Nachmittagen auf den Rücken hin, wenn alles so still war, dass man nur die Bienen sumsen hörte, und sah zu, wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten [...].«65 Taugenichts sehnt sich also deshalb nach dem Freisein von Arbeit, weil dieses für ihn ein Freisein für die Redekunst oder auch die ästhetische Erfahrung des Naturschönen meint. Doch selbst dann, wenn er »einmal« der Möglichkeit nahekommt, in seinem Alltag die ästhetische Erfahrung mit der Arbeit zu verknüpfen, gelingt ihm dies nicht. Denn als er »einmal« im Garten »bei einem Lusthaus«, dem Ort höfischer Veranstaltungen, die auch ein ästhetisches Vergnügen bereiten sollten, »vorbeiging«, sang er ein Lied für diese »schöne gnäd’ge Fraue« und als er aus diesem »dunkelkühlen Lusthause zwischen den halbgeöffneten Jalousien und Blumen, die dort standen, zwei schöne junge frische Augen hervorfunkeln« sieht66 – das Ästhetische ragt in diesem Moment in die Arbeitswelt des Gärtnerbur-

64 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 9. Aus dem Leben eines Taugenichts, 9 (Hvh. v. Verf.). 66 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9–10 65 Eichendorff:

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schen heraus – ist er »ganz erschrocken«.67 »[I]ch sang das Lied nicht aus, sondern ging, ohne mich umzusehen, fort an die Arbeit.«68 Es scheint so, als dürfte Taugenichts’ Arbeitsweg nicht am Ästhetischen vorbeiführen oder als dürften das Arbeiten und der ästhetische Genuss sich nicht berühren. Denn der Gärtnerbursche grüßt zwar die »schöne gnäd’ge Fraue […] tausendmal«,69 wie es in seinem Lied heißt, doch dieser Gruß an die schöne Frau darf nicht ankommen und schon gar nicht erwidert werden, weil er mit dessen Arbeit nicht zusammenpasst. Ich deute diese Stelle so, dass es dem Gärtnerburschen nur möglich ist, das Lied bloß auf dem Weg zur Arbeit zu singen und nicht während der Arbeit. Denn auf dem Weg zur Arbeit ist noch vor der Arbeit oder noch ein Freisein von der Arbeit. Hier – vor dieser – ist der Gesang an die Schönheit noch erlaubt, wenngleich bloß »für mich«, wie Taugenichts betont.70 Denn erreicht sein Gruß die Schönheit und erwidert diese ihn – ihre »junge[n] frische[n] Augen« funkeln zwischen den halbgeöffneten Jalousien des Lusthauses hervor;71 sie blicken nicht irgendwohin, wo Taugenichts sie und ihr Funkeln nicht sehen könnte – erschrickt er. Ließe er sich auf diesen Blick, das heißt auf den ästhetischen Genuss, ein, so würde er auf dem Weg zur Arbeit stecken bleiben und nie zur dieser gelangen. Um trotzdem in den Genuss des Ästhetischen zu kommen, ändert Taugenichts deshalb für eine Zeitlang seine Gewohnheit: »Ich stand nunmehr, ganz wider meine sonstige Gewohnheit, alle Tage sehr zeitig auf, eh’ sich noch der Gärtner und die andern Arbeiter rührten. Da war es so wunderschön draußen im Garten. Die Blumen, die Springbrunnen, die Rosenbüsche und der ganze Garten funkelten von der Morgensonne wie lauter Gold und Edelstein.«72 Taugenichts steht für das Erfahren des Ästhetischen zeitiger auf als sein Vorgesetzter, der Gärtner. Sein Aufstehen ist demnach ein Aufstehen für das Erfahren des Ästhetischen. Es ist auch ein Aufstehen, um die »schöne Frau« jeden Morgen vom Garten – »hinter dem Strauche«73 – aus am offenen Fenster stehen zu sehen. Dieses erste In-Einklang-

67 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 10. Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9–10. 69 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9. 70  Vgl. Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 9. 71 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 10. 72 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 10. 73 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 11. 68  Vgl.

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Bringen von Arbeitsalltag und ästhetischem Genuss gelingt dem Taugenichts für etwas länger als eine Woche.74 Wir können auch sagen: Nur für über eine Woche. Denn dann verrät ihn ein lautes Niesen und er schämt sich so sehr, dass er für mehrere Tage nicht mehr in die Nähe des Fensters der schönen Frau kommt. Und als er wieder hingeht, stellt sich zu seinem Bedauern heraus: Die »schöne Frau« zeigt sich nicht mehr am Fenster. Der Taugenichts ist »verdrüßlich« und der Gärtner schilt ihn einen »faulen Bengel«.75 Und vorbei war es mit dem Einklang zwischen Arbeit und ästhetischem Genuss. Der Taugenichts wird dann – im zweiten Kapitel – zum Einnehmer des Zolls im »Zollhäuschen« vor der Mauer des Schlosses an der Landstraße nach Wien, weil der vorherige Einnehmer »eben« gestorben ist.76 So wie er zu Beginn der Novelle aus dem Dorfe »schlendert«, so »schlendert« der Taugenichts auch hier zur Amtsübernahme hinter dem »Schreiber« her.77 Es ist das zweite und, ich glaube, das einzige weitere Schlendern im Laufe der Novelle. Und es drückt dies aus: Einen Taugenichts zieht es nicht zur Arbeit. Er schlendert zur Arbeit. Erstaunlicherweise freundet er sich mit dieser neuen Arbeit gut an. Doch dies liegt ganz einfach an dem Umstand, dass er nichts zu tun hat. »Den ganzen Tag, (zu tun hatte ich weiter nichts) saß ich daher auf dem Bänkchen vor meinem Hause in Schlafrock und Schlafmütze, rauchte Tabak aus dem längsten Rohre, das ich nach dem seligen Einnehmer gefunden hatte, und sah zu, wie die Leute auf der Landstraße hin und her gingen, fuhren und ritten.«78 Taugenichts hat also nun eine Arbeit, die ihm gerade deshalb gefällt, weil sie keine Arbeit ist. Seine Arbeit besteht bloß darin, »weiter nichts« zu tun, als auf der Bank zu sitzen und den Leuten beim Gehen und Reisen zuzusehen; also nicht zu arbeiten. Und weil er nun eine bezahlte Tätigkeit hat, die aus nichts anderem besteht, als dem Gehen und Reisen der anderen Leute zuzusehen, bedarf er selbst gar nicht mehr des Weiterreisens, um sein Brot auf eine Art und Weise zu verdienen, mit der er zufrieden ist. »Der Schlafrock stand mir schön zu Gesichte, und überhaupt das alles behagte mir sehr gut.«79 74  Vgl.

Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 11. Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 12. 76 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 15. 77  Vgl. Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 15. 78 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 16 (Hvh. v. Verf.). 79 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 16. 75  Vgl.

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Doch nach einer weiteren missglückten Begegnung mit seiner »schöne[n] gnädige[n] Frau« wird dem Taugenichts auch dieses behagliche Leben unbehaglich. »Es schien mir, wie ich so saß und rauchte und spekulierte, als würden mir allmählich die Beine immer länger vor Langeweile, und die Nase wuchs mir vom Nichtstun, wenn ich so stundenlang an ihr heruntersah.«80 Und wenn eine Postkutsche morgens an seinem Zollhäuschen anhält, um nach wenigen Momenten wieder weiterzureisen, »– da stand ich lange und sah dem Wagen nach, und es war mir nicht anders, als müßt‘ ich nur sogleich mit fort, weit, weit in die Welt. –«81 Taugenichts sagt dies nach einem Gedankenstrich, der die Länge dieses Gedankens und die Länge seiner Sehnsucht nach der Welt uns Lesern und Leserinnen deutlich macht. Wir können also sagen: Welches Arbeiten auch immer der Taugenichts verrichtet – selbst wenn es sich um ein Arbeiten handelt, das kein Arbeiten ist –, er schafft es nicht, dieses mit den ästhetischen Erfahrungen des Schönen in Einklang zu bringen. Und nach einer weiteren, diesmal nicht zustande gekommenen, doch von Taugenichts erhofften Begegnung mit der »Schöne[n]« macht er sich diesmal »schnell«, weil ja das Reisen und nicht das Arbeiten bevorsteht, in sein Zollhäuschen auf: »Und so nahm ich die Geige von der Wand, ließ Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeifen und Parasol [also die Arbeitsutensilien seiner Nicht-Arbeit, v. Verf.] liegen und wanderte, arm wie ich gekommen war, aus meinem Häuschen und auf der glänzenden Landstraße von dannen.«82 Er begibt sich auf eine Reise nach Italien, verbindet sich mit Künstlern und schlägt sich mit seiner Geige bis nach Rom durch. Ich möchte die verzweigten Abenteuer, die Taugenichts auf seiner Reise nach Rom erlebt, hier außen vorlassen, weil sie für meine Interpretation der Novelle nur von geringem Belang sind. Ich möchte indes noch auf das Ende derselben zu sprechen kommen, weil es zwei inte­ ressante Wendungen bereithält. Und um den Weg dorthin abzukürzen, sei nur dies noch erwähnt. War für Taugenichts klar, dass er mit dem Aufbruch aus seinem Zollhäuschen seine (Nicht-) Arbeit an den Nagel gehängt und sich für das Reisen entschieden hat, so zeigt sich auch gegen Ende der Novelle hin sein beständiges Oszillieren zwischen der Arbeit und dem Freisein von dieser. Denn auf der Rückreise von Rom nach Wien, wohin ihn die Sehnsucht überkommen hat, identifiziert er sich erneut mit seiner Ar80 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 18–19. Aus dem Leben eines Taugenichts, 20. 82 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 27. 81 Eichendorff:

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beit als Zolleinnehmer und meint »auf einem hohen Berge, wo man zum erstenmal nach Österreich hineinsehen kann«83 gegenüber »Prager Studenten«,84 dass er »[e]igentlich ein Einnehmer« sei.85 Und er ergänzt: »[D]a ich aber seit geraumer Zeit nichts mehr eingenommen, so habe ich mich unterwegs mit der Violine durchgeschlagen.«86 Taugenichts Rückreise nach Wien kann – so die hier vorgeschlagene Lesart – demnach auch als eine Rückreise zu »[s]ein[em] Zollhäuschen« gelesen werden. Denn kurz vor Ende der Rückreise per Schiff über die Donau – so erzählt es Taugenichts aus seiner eigenen Perspektive – »jauchzte [ich] am allervergnügtesten, denn ich sah soeben von fern mein Zollhäuschen und bald darauf auch das Schloß in der Abendsonne über die Bäume hervorkommen.«87 Erst jetzt – nach seiner Rückkehr nach Wien – gelingt dem Taugenichts die Verbindung zwischen der Arbeit und dem ästhetischen Genuss, die seit dem Anfang der Novelle in einem Spannungsverhältnis zueinander gestanden haben, denn er schreibt – ich zitiere ausführlich: »[Ich] rannte sogleich nach dem herrschaftlichen Garten hin. Mein Zollhaus, an dem ich vorbei mußte, stand noch auf der alten Stelle, die hohen Bäume aus dem herrschaftlichen Garten rauschten noch immer darüber hin, ein Goldammer, der damals auf dem Kastanienbaume vor dem Fenster jedesmal bei Sonnenuntergang sein Abendlied gesungen hatte, sang auch wieder, als wäre seitdem gar nichts in der Welt vorgegangen. Das Fenster im Zollhause stand offen, ich lief voller Freuden hin und steckte den Kopf in die Stube hinein. Es war niemand darin, aber die Wanduhr pickte noch immer ruhig fort, der Schreibtisch stand am Fenster, und die lange Pfeife in einem Winkel, wie damals. Ich konnte nicht widerstehen, ich sprang durch das Fenster hinein [anders als bisher in seinem Leben schlendert Taugenichts diesmal nicht zur Arbeit, sondern er springt durch das Fenster hinein – stellen wir uns das bildhaft vor!, v. Verf.], und setzte mich an den Schreibtisch vor das große Rechenbuch hin. Da fiel der Sonnenschein durch den Kastanienbaum vor dem Fenster wieder grüngolden auf die Ziffern in dem aufgeschlagenen Buche, die Bienen summten wieder an dem offnen Fenster hin und her, der Goldammer draußen auf dem Baume sang fröhlich immerzu.«88 83 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 83. Aus dem Leben eines Taugenichts, 86. 85 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 84 (Hvh. v. Verf.). 86 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 84. 87 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 94 (Hvh. v. Verf.). 88 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 94–95 (Hvh. v. Verf). 84 Eichendorff:

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Kurzum: Die Erfahrung des Naturschönen steht nun nicht mehr in einer Konkurrenz zur Freude an der eigenen Arbeitsstätte. Doch diese Verbindung scheitert auch jetzt. Sie wird jäh durchbrochen, denn – Taugenichts kommt zu spät. Hatte er einst die mögliche Verbindung aus Arbeit und ästhetischem Genuss im Nicht-Arbeiten als Zolleinnehmer zugunsten des Reisens aufgegeben, so hat nämlich in der Zwischenzeit ein anderer Einnehmer seine Stelle übernommen. »Auf einmal aber ging die Türe aus der Stube auf, und ein alter, langer Einnehmer in meinem punktierten Schlafrock trat herein! Er blieb in der Türe stehen, wie er mich so unversehens erblickte, nahm schnell die Brille von der Nase [Erinnern wir uns! Taugenichts wurde seine eigene Nase als nicht arbeitender Einnehmer einst lang »vom Nichtstun«., v. Verf.], und sah mich grimmig an. Ich aber erschrak nicht wenig darüber, sprang, ohne ein Wort zu sagen, auf, und lief aus der Haustür durch den kleinen Garten fort […]. Ich hörte noch, wie er vor die Tür herausfuhr und hinter mit drein schimpfte, aber ich saß schon oben auf der hohen Gartenmauer, und schaute mit klopfendem Herzen in den Schloßgarten hinein.«89 So schnell also Taugenichts zur Arbeit ins Haus gesprungen war, so schnell war er auch schon wieder herausgelaufen. Doch dies ist nicht das Letzte, worauf ich bei der erneuten Lektüre dieser Novelle aufmerksam geworden bin. Denn Aus dem Leben eines Taugenichts endet nicht bloß mit der überraschenden Wendung, dass der Taugenichts nach seiner Rückkehr mit der »schönen Frau« vermählt wird, sondern es zeigt sich eine viel größere Überraschung. Zeichnet sich nämlich dessen Leben – wie ich zu zeigen versucht habe – dadurch aus, dass er die Arbeit und die ästhetische Erfahrung nicht miteinander in Einklang bringen kann und ihm nur das eine oder das andere gelingt, jedoch nicht beides zusammen, so sehen wir jetzt, dass ihm dies gar nicht mehr gelingen muss, um dennoch sein Brot, wenngleich nicht zu verdienen, so doch zu haben. Denn der Graf, dessen Portier sich einst des verwaisten Mädchens, das nun die »schöne Frau« ist, als dessen Onkel angenommen und es mit ins Schloss gebracht hatte, schenkt den zu Vermählenden unverhofft ein »Schlößchen […] samt dem Garten und den Weinbergen« gleich in der Nachbarschaft (»das da drüben im Mondschein glänzt«).90 89 Eichendorff: 90  Vgl.

Aus dem Leben eines Taugenichts, 95 (Hvh. v. Verf.). Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 102–103.

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Mit einem Schlag ist Taugenichts, ohne seit dem Auszug aus dem Hause seines Vaters auch nur ein einziges Mal zu seiner eigenen oder zu eines anderen Zufriedenheit über einen längeren Zeitraum hinweg gearbeitet zu haben, finanziell abgesichert. Und er ist dies, ohne die für ihn so quälende Aufgabe, das Arbeiten mit dem Genuss des Schönen – wir können jetzt ergänzen: der Liebe und der Ehe – in Einklang zu bringen, gelöst zu haben. Doch mit der Schenkung muss ihm dies auch nicht mehr gelingen, um dennoch sein Auskommen zu haben. Die einzige Bedingung, die an ihn gerichtet wird, ist nach Auskunft der »schönen Frau« jene des Portiers. Er verlangt, dass Taugenichts sich »nur etwas vornehmer hielte« und sich »jetzt auch eleganter kleide[]«,91 womit dieser sofort einverstanden ist. Eine andere Bedingung – etwa die anfängliche des Vaters, wonach er arbeiten möge – wird an ihn nicht mehr gerichtet. Taugenichts lässt die Novelle mit ästhetischen Beobachtungen enden: »Sie lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an, und von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloss durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf«.92 Und er schließt nach einem Gedankenstrich mit den Worten: »– und es war alles, alles gut!«93 Ich habe mich bei der erneuten Lektüre gefragt, warum für Taugenichts nun »alles, alles gut« ist. Es sind zwei Gründe oder, wie wir auch sagen können, ein doppelter Grund (»alles, alles gut«). Denn erstens hat sich gezeigt, dass Taugenichts die Verbindung zwischen dem Arbeiten und dem Genießen des Schönen nicht mehr herstellen muss und sich dennoch – durch die Schenkung des Grafen an die zu Vermählenden – selbst erhalten kann. Doch zweitens – und dies ist viel entscheidender – endet damit sein Leben als Taugenichts. Denn, wie ich zu Beginn meiner Interpretation betont habe, seine Bezeichnung als Taugenichts ist eine aus der Perspektive des arbeitenden Vaters, weil er die von ihm erwartete Fähigkeit, den Genuss des Schönen zugunsten der Arbeit in der Mühle hintanzustellen, nicht ausprägen will oder kann. Jedoch aus der Perspektive des nicht arbeitenden Grafen ist er wiederum kein Taugenichts. Denn dieser verlangt die einst vom Vater eingeforderte Fähigkeit nicht, um ihn seiner Schenkung würdig zu erachten. Der Graf erwartet von Taugenichts dafür nicht, den Genuss des Schönen zugunsten der Arbeit hintanzustellen. 91 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 103. Aus dem Leben eines Taugenichts, 103. 93 Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, 103. 92 Eichendorff:

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Deshalb weise ich darauf hin, dass die Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts auch genau an jener Stelle endet, an der das Leben des IchErzählers als Taugenichts endet. Aus dem Leben eines Taugenichts endet also, weil es aus diesem Leben nichts mehr zu berichten gibt. Und zwar deshalb, weil es eben den Taugenichts nicht mehr gibt. Aus diesen beiden Gründen, von denen der zweite den ersten voraussetzt – es handelt sich hier also um einen in sich gedoppelten Grund –, ist für den Ich-Erzähler am Ende dieser Novelle nicht bloß »alles«, sondern »alles, alles gut«.94 Denn es gibt den Taugenichts nicht mehr und deshalb gibt es auch keine weiteren Neuigkeiten aus dessen Leben zu berichten. Dieses gute Ende ist für Taugenichts freilich bloß um den Preis des Aufstiegs aus dem Stand der Handwerker und den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft in eine feudale Gesellschaftsstruktur zu haben, in der es nicht mehr darauf ankommt, die Arbeit mit der Erfahrung des Schönen oder die Arbeit mit der Liebe respektive der Ehe miteinander in Einklang zu bringen. Doch dies ist ein falscher Ausweg. Taugenichts verzichtet damit nämlich auf die Möglichkeit, sowohl die Arbeit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft als auch die Eheschließung und Familiengründung als Verwirklichungen der Idee der Freiheit zu verstehen, wie es Hegel mit seinem beide Sphären umfassenden Konzept der Sittlichkeit versucht hat.95 Denn dieses Konzept zeigt – zum Guten, wie zum Schlechten – eine Möglichkeit auf, wie das Arbeiten und das Freisein von Arbeit miteinander verknüpft werden können. Gut daran ist, dass beide Sphären nicht in Konkurrenz zueinander treten. Denn Hegel versteht die Familie als eine von fürsorglicher Liebe geprägte »Einheit«,96 während er die bürgerliche Gesellschaft unter anderem als »System« der Vermittlung und Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse eines jeden Einzelnen und aller anderen durch die erbrachte Arbeit konzipiert.97 So gibt es innerhalb der Sittlichkeit eine Sphäre, die nach seinem Verständnis frei von Arbeit ist. Das ist die Familie. Schlecht an Hegels Lösung ist deshalb aber auch, dass mit seinem Begriff der Arbeit die in der Familie erbrachten Für­sorgeleistungen keine Anerkennung als Arbeit finden können. Ich 94 Eichendorff:

Aus dem Leben eines Taugenichts, 103 (Hvh. v. Verf.).

95  Taugenichts nimmt für sich ein Recht in Anspruch, das als ein subjektives Recht

auf »Entsittlichung« verstanden werden kann. Siehe dazu Christoph Menke: Das Nichtanerkennbare. Oder warum das moderne Recht keine »Sphäre der Anerkennung« ist, in: Sozialphilosophie und Kritik. Hrsg. v. Rainer Forst/Martin Hartmann/Rahel Jaeggi/ Martin Saar. Frankfurt/M. 2009, 107–108. 96 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 144. 97 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 165.

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möchte deshalb im Folgenden kurz auf Hegels Konzept der wechselseitigen Anerkennung eingehen. Abschließend werfe ich dann einen Blick auf die Anerkennung häuslicher Tätigkeiten als Arbeit.

4. Die Anerkennung der Arbeit Mir scheint es nach wie vor eine der großen Leistungen Hegels zu sein, gezeigt zu haben, wie sich unsere sprachliche, praktisch-tätige und soziale Identität wesentlich im Rahmen der wechselseitigen Anerkennung durch andere ausprägt. Denn das »Selbstbewußtseyn«, so drückt er es in der Phänomenologie des Geistes aus, »ist an und für sich, indem […] und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes«.98 Diese Einsicht in die dialektische »Bewegung des Selbstbewußtseyns« ist für Hegel insofern entscheidend, als er mit ihr deutlich machen kann, dass ein Einzelner seine Identität als ein namengebendes, arbeitendes und soziales Individuum nur »in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewußtseyn« auszuprägen in der Lage ist.99 Seine kommunikativen, herstellenden und sozialen Fähigkeiten sind nämlich bereits in ihrer Genese eingebettet in Interaktionen mit anderen, die Ausdruck basalen Anerkennens sind.100 Diese wechselseitige Anerkennung meiner selbst und anderer im Rahmen einer solchen Dialektik meint demnach, dass die Identität meines Ichs eine ist, die in sprachlichen, arbeitenden und sozialen Interaktionen überhaupt erst konstituiert und in ihren weiteren Veränderungen gestaltet wird. Geteilte gesellschaftliche Praktiken, die von wechselseitiger Anerkennung geprägt sind, zeichnen sich nämlich genau dadurch aus, dass in ihnen jedes individuelle Selbstbewusstsein das »thut […], was es an das andre fo[r]dert, und thut darum was es thut, auch nur insofern als das andre dasselbe thut; das einseitige Thun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beyde zu Stande kommen kann«.101 Nach dieser berühmten Einsicht Hegels ist meine praktische Identität nur insofern praktisch, als sie zugleich für mich wie auch für andere 98 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 109. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 110. 100  Vgl. Jürgen Habermas: Bohrungen an der Quelle des objektiven Geistes. Hegel-Preis für Michael Tomasello, in: ders.: Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII. Berlin 2013, 171. 101 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 110. 99  Vgl.

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diese anerkannte Geltung des eigenen Wollens ist und dieses dadurch verwirklicht. »Jedes ist dem andern die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt«.102 Für sie gilt: »Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend.«103 Die von Hegel vorgeschlagene These der Dialektik des Selbstbewusstseins möchte zudem verständlich machen, wie für Individuen durch ihre Interaktionen mit anderen Freiheitsvollzüge ermöglicht werden. Denn Eingang in die Sprache, die Arbeit und soziale Beziehungen zu finden, meint einen Eingang in die geteilte Freiheit mit anderen zu finden. Der Arbeitsgeist oder etwa der Geist einer Institution meinen dann genau diese Art und Weise, wie arbeitende Individuen zusammenarbeiten. Wenn eine Institution über einen guten Arbeitsgeist verfügt, dann arbeiten verschiedene Personen – nicht zufällig im Deutschen Mitarbeiter genannt – zusammen an deren geistiger Einheit. Bricht eine Institution auseinander, dann ist nichts Geringeres als diese geistige Einheit zwischen den unterschiedlichen Identitäten der darin arbeitenden Personen auseinandergebrochen. Mit anderen Worten: Dann gelingt die Vermittlung der Einzelnen mit Blick auf eine herzustellende oder zu erhaltende Allgemeinheit innerhalb dieser Institution nicht mehr.104 Zu arbeiten, ermöglicht den handelnden Personen deshalb nicht bloß die Ausprägung ihrer eigenen Identität als arbeitende Personen, sondern zugleich auch die Weiterentwicklung dieser Identität in einem Prozess wechselseitigen Austauschs. Sie gestattet ihnen nicht nur, einen Arbeitsgeist zu entwickeln, sondern auch den Geist einer Institution zu prägen. So gedeutet hat Hegel in seinen Analysen zur Arbeit also nicht nur eine Befreiung von Naturzwängen durch den Gebrauch von technischen Hilfsmitteln im Auge, sondern auch eine Befreiung in sozialer Hinsicht.

102 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 110. Vgl. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 184. 103 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 110. Dazu Ludwig Siep: Die Bewegung des Anerkennens in der Phänomenologie des Geistes, in: G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Dietmar Köhler/Otto Pöggeler. Berlin ²2006, 109–129 [Klassiker Auslegen, Bd. 16]. 104  Vgl. Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin 2012. Für den Hinweis auf dieses Buch bin ich Angela Kallhoff dankbar.

Die Anerkennung der Arbeit in Hegels Philosophie des Geistes (1805/1806) 241

5. Die Anerkennung häuslicher Tätigkeiten als Arbeit Für Hegel besteht zwischen Arbeit und Liebe – anders als für den Taugenichts in Eichendorffs Novelle, die ich zuvor untersucht habe105 – kein unüberbrückbarer Gegensatz. Vielmehr bedarf die Liebe der Arbeit, um für die aus der Liebe hervorgegangene Ehe und Familie eine finanzielle Grundlage in Form eines Familienbesitzes zu erwirtschaften. Schon in der Philosophie des Geistes von 1805/1806 ist deshalb die entlohnte Arbeit die zentrale Grundlage für das Erwirtschaften desselben.106 Und auch in seiner späteren Rechtsphilosophie grenzt er sich ausdrücklich von der bloß romantischen Liebe ab, die sich der Herausforderung der sittlichrechtlichen Eheschließung – dem »geistige[n] Band in seinem Rechte«107 – und der Forderung, durch Arbeit einen Ehe- und Familienbesitz zu erwirtschaften, nicht stellt. Hegel hat mit seiner Analyse der wechselseitigen Anerkennung als arbeitende Person zudem in entscheidender Hinsicht den Grundstein für viele zeitgenössische Bemühungen, bestimmte Formen häuslicher und familiärer Tätigkeiten als Arbeit anzuerkennen, gelegt. Denn wenn Forderungen laut werden, häusliche Tätigkeiten, wie etwa die Erziehung von Kindern, die Erziehung und Betreuung behinderter Kinder oder die Pflege von Angehörigen als Arbeit anzuerkennen, dann sind diese Ausdruck davon, dass Personen, die bestimmte häuslich-familiäre Tätigkeiten ausüben, Anerkennung als arbeitende Personen finden wollen. Diese Forderungen eint der Gedanke, wonach in der Familie erbrachte Arbeiten nicht bloß innerfamiliäre Arbeiten sind. Vielmehr sind sie zugleich gesellschaftlich insofern relevant, als sie etwa durch die Erziehung von Kindern unmittelbar zum Erhalt der Gesellschaft beitragen oder durch die Pflege von Angehörigen deren Teilhabe an der Gesellschaft entweder so lange wie möglich erhalten beziehungsweise ihre frühere Teilhabe solange wie möglich durch eine gute häusliche Pflege honorieren. Dieser Kampf um Anerkennung hat wie bei Hegel das Ziel, eine allgemeine Anerkennung der tätigen Bestimmtheit des oder der Einzelnen zu finden, damit sie der Einseitigkeit in der Identifika­ tion mit der eigenen Tätigkeit enthoben sind.108 Diese Einseitigkeit der Identifikation gilt es zu durchbrechen.

105 

Siehe oben Abschnitt 3. Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 213, 227. 107 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 146. 108  Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 112. 106  Vgl.

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Personen, die diese Tätigkeiten und Leistungen erbringen und sich damit identifizieren, sollte deshalb nicht bloß die unentlohnte, familiäre Anerkennung für eine gut erbrachte Fürsorge zuteil werden, sondern sie sollten auch als Familienarbeit erbringende Personen gesellschaftliche, das heißt angemessen entlohnte Anerkennung erhalten. Auf diese Art und Weise kann eine aus Fürsorge erbrachte Erziehungs-, Betreuungs- oder Pflegeleistung, die zugleich aber ganz unabhängig von der dabei empfundenen und praktisch umgesetzten Fürsorge gesellschaftlich notwendig ist, Wertschätzung erfahren. Jene, die diese Fürsorge aufbringen, erhalten dann eine tatsächliche Entlohnung und erfahren nicht bloß familiäre Anerkennung. So sollte die gesellschaftliche Anerkennung besonderer Fürsorgeleistungen, die in Familien erbracht werden, nichts anderes zur Folge haben, als dass sich diese Wertschätzung wiederum in einer gerechten Entlohnung sowie einer angemessenen Berücksichtigung in unseren umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen niederschlägt.109 Indes ist bei Hegel das Verhältnis zwischen familiärer Liebe und Fürsorge auf der einen Seite und Arbeit auf der anderen Seite systematisch so gestrickt, dass sie nicht so leicht miteinander zur Deckung gebracht werden können, wie es die soeben erhobene Forderung nach Anerkennung familiär erbrachter Tätigkeiten als Arbeit verlangt. Denn er trennt die Arbeit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft strikt von den Aufgaben innerhalb der Familie. Die zu erbringende Arbeit ist für Hegel ein gesellschaftliches Tun, weil sie ein wesentliches Moment im Rahmen des »System[s] der Bedürfnisse« ist.110 So versteht er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts unter Arbeit »[d]ie Vermittelung, den particularisirten Bedürfnissen angemessene eben so particularisirte Mittel zu bereiten und zu erwerben«.111 Durch die Arbeit haben wir am Herstellungsprozess und Erwerb von Dingen für das Stillen menschlicher Grundbedürfnisse und der Bedürfnisse der Bürger teil. Sie findet außerhalb des Hauses oder der Wohnung der Familie statt.

109 

Siehe dazu Angela Kallhoff: Politische Philosophie des Bürgers. Wien 2013, Kap. 9; Angelika Krebs: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2002, bes. 209 ff., sowie Martha Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010, 142 ff., 154. Für den Hinweis auf das Buch von Angelika Krebs bin ich Kathi Beier dankbar. 110 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 165. 111 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 168; vgl. ders.: Jenaer System­entwürfe III, GW 8, 223–224. Siehe dazu Schmidt am Busch: Hegels Begriff der Arbeit, 59–71.

Die Anerkennung der Arbeit in Hegels Philosophie des Geistes (1805/1806) 243

Dagegen sind Tätigkeiten in der Familie bei Hegel in gewissem Sinne vorgesellschaftlich und außerhalb der Gesellschaft gedacht. Vorgesellschaftlich sind sie, weil durch sie Kinder zumeist solange erzogen werden, bis sie mit der Volljährigkeit aus diesem ersten, natürlich-sittlichen Zusammenhalt heraustreten, um als Einzelne sich neu in der gesellschaftlichen Allgemeinheit und ihren Institutionen einzufinden. In diesem Sinne ist die Familie eine vorgesellschaftliche Stufe der Sittlichkeit. Sie geschieht außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie eine innerhäusliche Tätigkeit ist, die nicht am marktwirtschaftlichen Geschehen der bürgerlichen Gesellschaft teilnimmt. Wir sind nicht als Arbeiter oder Produzenten Familienmitglieder, sondern als Vater, Mutter oder Kinder. Die Wohnstätte der Familie zeichnet sich nach Hegel wesentlich dadurch aus, dass sie frei von Arbeit ist und bleibt. So ist nach seiner Systematik der Sittlichkeit, wie er sie in den Grundlinien vorschlägt, jenen Personen, die häusliche Tätigkeiten – wie Kindererziehung oder Altenpflege – verrichten, die Anerkennung als arbeitende Personen, die es entsprechend zu entlohnen gilt, verwehrt. Die Familie ist für Hegel ein Ort, an dem diese Weise des Anerkanntseins (noch) nicht relevant ist. Und zwar einfach deshalb, weil in der Familie keine Arbeit verrichtet wird, die mit seinem Begriff der gesellschaftlich relevanten Arbeit bezeichnet werden könnte. Folglich ist im Rahmen seiner systematischen Erörterung der Sittlichkeit der Grundstein für die mögliche Anerkennung von Familienarbeit falsch gelegt. Denn nach diesem Begriff von Arbeit kann zwar das marktwirtschaftlich organisierte Herstellen und Erwerben zum Beispiel von Kinderwägen oder von Rollstühlen als Teilhabe am »System der Bedürfnisse« verstanden werden. Jedoch das mehrmals tägliche Wickeln der eigenen Kinder oder älterer Familienmitglieder, die an Inkontinenz leiden, zählt nach diesem Begriff nicht als Arbeit, sondern als häusliche Tätigkeit. Wenn etwa in Romeo Castelluccis berühmt gewordenem Theaterstück Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn)112 der erwachsene Sohn dem an Inkontinenz leidenden Vater innerhalb einer Stunde zweimal die Windeln wechselt, dann zählt dies nach Hegel nicht als Arbeit und der Sohn kann sich keine Hoffnung auf eine angemessene Entlohnung seiner erbrachten Familienar-

112  Romeo Castellucci: Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn). Programmheft der Wiener Festwochen 2013. Übersetzt v. Thomas Saalfeld. euro-scene Leipzig 2012. Auszug aus: Romeo Castellucci von Nicole Strecker, in: tanz 11/2010 [Bearbeitung: Dramaturgie Wiener Festwochen].

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beit machen.113 Hier verlangt – so meine These – Hegels Systematik der Sittlichkeit nach einer Revision im vorgestellten Sinne. Freilich kann man Hegel gewinnbringend auch so lesen, dass er mit der Trennung von häuslicher Tätigkeit und gesellschaftlicher Arbeit den Erhalt einer arbeitsfreien Sphäre im Sittlichen für notwendig erachtet. Eine solche arbeitsfreie Sphäre des Sittlichen zeichnet sich dann dadurch aus, dass sie am marktorientierten Herstellungsprozess von »particularisirte[n] Mittel[n]« für »particularisirte Bedürfnisse« nicht beteiligt ist.114 Die Familie ist eine solche arbeitsfreie Sphäre im Sittlichen, denn in ihr sind wir von dieser Arbeit befreit. Deshalb kann man mit Hegel etwaigen Tendenzen hin zu einer Ökonomisierung der Sphäre des Familiären Einhalt gebieten. Denn der Markt, auf dem die Vermittlung von Gütern stattfindet, wie auch der Markt, auf dem die Arbeitskraft vermittelt wird,115 liegen außerhalb derselben. Vielmehr sollte das Gedeihen einer Familie und der in ihr erbrachten Tätigkeiten – so lese ich Hegel – so weit wie möglich den Gesetzen des Marktes enthoben sein. Und doch muss gesehen werden, dass die in einer Familie erbrachten gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten (Kindererziehung, Erziehung und Betreuung behinderter Kinder, Pflege von Angehörigen) monetäre Anerkennung weit über das hinaus erhalten sollten, was derzeit – bei allen Bemühungen, dies zu verbessern (Mütterrente) – in unseren umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen dafür vorgesehen ist. Ihnen gebührt die Anerkennung als Arbeit. Doch dafür bedarf es eines Begriffes von Arbeit, der innerhalb der Sphäre der Sittlichkeit seinen systematischen Ort nicht bloß in der bürgerlichen Gesellschaft hat, sondern auch Tätigkeiten, die innerhalb der Familie, das heißt innerhalb des oikos, erbracht werden, umfasst. Dass Hegel selbst in seiner Philosophie des Geistes einen Begriff erster Arbeit entwickelt hat,116 der nicht bloß einem marktorientierten Arbeitsbegriff, sondern auch allen anderen möglichen Begriffen von Arbeit – also auch dem Begriff der Familienarbeit – zugrunde liegt, kann den Reichtum seiner Analysen nur unterstreichen.

113 

Zu Anerkennungsverhältnissen in der Familie siehe Paul Ricœur: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Frankfurt/M. 2006, 240 ff. 114  Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW 14.1, 168. 115  Siehe dazu Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011, 410–470 sowie Menke: Die »andre Form« der Herrschaft. Marx’ Kritik des Rechts, in: Nach Marx, Hrsg. v. Jaeggi/Loick, 278. 116  Siehe oben Abschnitt 1.

IV. HEGEL: DAS WERDEN DES SYSTEMS

Jean-François Kervégan Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk In dem Brief an Schelling vom 2. November 1800 schreibt Hegel bekanntlich Folgendes: »In meiner philosophischen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, musste ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.«1 Eine solche Aussage macht auf eine Partikularität des hegelschen Denkens aufmerksam, und zwar darauf, dass es die höchsten spekulativen Interessen (für die Wissenschaft, für das System) mit einer steten Aufmerksamkeit auf Empirie und auf die alltäglichen Praktiken verknüpft, also in der Sprache Schellings Idealismus und Realismus kombiniert.2 Derselbe Hegel entwirft in Bern und Frankfurt hochfliegende systematische, im höchsten Sinne metaphysische Entwürfe und beschäftigt sich außerdem mit eher empirischen Forschungen, indem er mit großem Interesse von wirtschaftswissenschaftlichen (Steuart, Smith), geschichtlichen (Gibbon, Hume) und rechtswissenschaftlichen (aus der breiten reichspublizistischen Literatur stammenden) Beiträgen Kenntnis nimmt. Darin liegt ein Unterschied des philosophischen Stils ge1 Georg

Wilhelm Friedrich Hegel an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 2.11.1800. In: Briefe von und an Hegel. 4 Bde. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952. Bd. 1, 59–60. 2 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. I, 149–244, hier: 211– 215. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. – Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, SW I, 281–342, hier: 302, 330.

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genüber Schelling, schon bevor die Wege der Tübinger Freunde sich trennen. Während Schelling das Projekt einer »speculativen Physik« oder eines »Spinozismus der Physik« konzipiert, das auf einer anderen Ebene als die positive Naturwissenschaft steht, indem es behauptet, die »absolute Voraussetzung« aller Phänomene zu fassen, und deshalb » das Hypothetische noch das bloß Wahrscheinliche« verträgt,3 behauptet Hegel, selbst wenn er die Fehler der newtonschen Astronomie zu berichtigen versucht, dies im Namen einer konkreteren Auffassung der Natur in ihrer unmittelbarsten Realität zu tun, der der ›mathematische Formalismus‹ der sogenannten ›Naturphilosophie‹ (in der Tat handelt es sich um eine Mechanik) untreu ist. Für Hegel ist Systematizität keineswegs mit Empirie unverträglich, obwohl er den Empirismus gleichwohl wie den Formalismus verwirft;4 diese Überzeugung wird er noch im Spätwerk vertreten. Dies erklärt, dass Hegel von Anfang an das systematische Projekt der nachkantschen Philosophie radikalisieren will. Ein gutes Beispiel jenes systematischen Anspruchs liefert das sogenannte älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, unabhängig davon, dass die Identität des Verfassers strittig ist (meinerseits würde ich lieber für Hölderlin stimmen, aber in der vorliegenden Hinsicht ist es gleichgültig). Indem diese Schrift von der kantschen Neuorientierung der Metaphysik auf das Praktische ausgeht, proklamiert sie sofort, dass »die ganze Metaphysik künftig in d. Moral fällt«.5 Abgezielt wird darin aber auf eine anspruchsvolle (obzwar programmatische) Verknüpfung der Naturphilosophie, der historischen Studie des »Menschenwerk[s]«, welche den Staat seiner irrtümlichen Prominenz entheben soll, der »ästhetischen Philos.« und einer Religionsphilosophie, die zugleich ein »Monotheismus der Vern. U. des Herzens« und ein »Polytheismus dr Einbildungskraft« ist.6 Man darf also vermuten, dass diese Stelle das systematische Programm der definitiven Philo3 Schelling:

Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, SW III, 269–326, hier: 273, 274, 277, 279. 4  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Kritisches Journal der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 113–505, hier: 419–420. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 5  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus. In: Rüdiger Bubner (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Bonn 1973. In: Hegel-Studien. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler. Beiheft 9, 261–265, hier: 263. 6 Hegel: Das älteste Systemprogramm, Hegel-Studien, Beiheft 9, 263–264.

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 247

sophie Hegels antizipiert darstellt; nur wird diese Philosophie auf das kühne Projekt einer »Mythologie der Vernunft« verzichten, die nach der Verbreitung des Geistes der Freiheit im Volke streben sollte.7 Das heißt jedoch nicht, dass Hegel auf dieses emanzipatorische Projekt verzichtet hat. Aber einerseits wird diese Aufgabe nunmehr den sittlichen Institutionen erteilt; andererseits braucht für den Verfasser der Enzyklopädie die Vernunft nicht auf den Mythos zu rekurrieren, obgleich sie in ihm eine Vorahnung dessen erkennt, was sie selbst beweist. In einem Zusatz der Enzyklopädie liest man nämlich Folgendes: »Aber solche der Form des Gedankens ermangelnde instinktartige Produktionen der menschlichen Vernunft dürfen nicht für Beweise einer primitiven wissenschaftlichen Erkenntnis gelten; sie sind vielmehr notwendigerweise etwas durchaus Unwissenschaftliches, […] da die Wissenschaft nicht das Erste, sondern nur das Letzte sein kann.«8 Das System Hegels soll also keine Philosophie der Mythologie oder philosophische Mythologie enthalten; dies macht einen wichtigen Unterschied gegenüber Schelling aus, für welchen dieser Standpunkt immer mehr der »einzig mögliche« geworden ist.9 Für Hegel wird der Mythos höchstens eine Vorstellung der vom System entwickelten Wahrheit sein; eben in diesem Sinn beurteilt er es als »angemessen den Mythus vom Sündenfall an der Spitze der Logik zu betrachten«.10 Das Systemfragment von 1800 fasst die Grundrichtungen des hegelschen Denkens während einer Periode zusammen, in der er die Philosophie Kants mit Hilfe von »unbegreiflichen Begriffen« bestreitet – wobei unbegreiflich hier unverträglich mit dem Rahmen der Verstandes- und Reflexionsphilosophie bedeutet. Solche Begriffe sind zum Beispiel der der Liebe, der des Schicksals und der des Lebens, welches auf schon dialektische Weise als die »Verbindung der Verbindung und der Nicht-

7 Hegel:

Das älteste Systemprogramm, Hegel-Studien, Beiheft 9, 265. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M. 1970. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Red. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 10, 129. 9 Schelling: Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Erstes Buch, Erste Vorlesung, SW XI, 1–252, hier: 5. 10  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. Annette Sell. Düsseldorf 2017, GW 23,3, 824. 8 

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verbindung« definiert ist.11 Die systematische Zielsetzung dieses Textes ist nicht so einleuchtend wie die des ältesten Systemprogramms; sein Vorhaben ist jedoch ganz eindeutig festzustellen, dass der Gedanke der Natur und derjenige des Geistes sich unter dem des Lebens vereinigen lassen, das der Jenaer Hegel schließlich mit dem Wort Begriff umbenennen wird. Es handelt sich also um eine Änderung in der Benennung, nicht in der Begrifflichkeit: was Hegel in Frankfurt im Unterschied zu den toten Begriffen des Verstandes Leben nennt, ist genau das, was er danach als Begriff bezeichnen und als Schlüssel seines Systems betrachten wird. Hier hat man es mit einem Denken des Lebens (Übersetzung: des Begriffs) zu tun, welches es erlaubt, über »de[n] Tod, d[ie] Entgegensetzung, de[n] Verstand« hinaus (ohne sie jedoch auszuschließen) das »wahre Unendliche« zu erreichen.12 Damit verfügen wir, mit einem verschiedenen Vokabular, über eine exakte Darstellung der endgültigen hegelschen Konzeption der Systematizität. Demzufolge besteht das Vorhaben des Systems darin, die Vereinigung durch die Entzweiung, das heißt die Dialektizität des Wirklichen durchzudenken. Dieser darin bestehenden Aufgabe, das Absolute als »Identität der Identität und der Nichtidentität«13 zu denken – wie Hegel sich in derjenigen Schrift ausdrückt, worin er sich seiner philosophischen Identität bewusst wird, also in der Differenzschrift –, dieser Aufgabe fehlen nur noch ein Name und ein Ort. Dieser Name wird der Begriff sein, und dieser Ort die Logik. Schon während der Abfassung der Phänomenologie des Geistes ist Hegel sich aber der Umwandlung seines noch werdenden ›Systems‹ in eine Philosophie des Begriffs bewusst geworden.

1. Von der Substanz zum Subjekt Nicht ohne Emphase erinnert die Vorrede der Phänomenologie des Geistes an dieses Streben nach Systematizität. Darüber hinaus bestimmt sie die Folgen einer solchen Auffassung der Philosophie als eines Systems der Wissenschaft. Wohlbekannt ist die Erklärung der Vorrede: »Die wahre 11 Hegel:

Systemfragment von 1800. In: Shen Zhang: Hegels Übergang zum System. Eine Untersuchung zum sogenannten „Systemfragment von 1800“. Bonn 1991. In: HegelStudien. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler. Beiheft 32, 11–22, hier: 16. 12  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 17. 13  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte‘schen und Schelling‘schen Systems der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968, GW 4, 1–92, hier: 64.

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 249

Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschafftliche System derselben seyn«.14 Diese Verkoppelung von Wahrheit und Systematizität setzt aber einen dritten Begriff voraus, und zwar den der Zirkularität. Insofern nämlich der Begriff ein das Moment der Negativität beziehungsweise des Todes in sich einschließender, dialektischer Prozess ist, muss das System als ein »Kreis von Kreisen« dargestellt werden.15 Indem die Vorrede Begriff, Zirkularität und Selbstbewegung gleichstellt, legt sie eine dynamische Auffassung der Systematizität nahe, welche der üblichen Auffassung des Systems als einer zusammenfassenden Vollendung des Wissens gegenübersteht. Das System ist kein »Kreis, der in sich geschlossen ruht«;16 als »lebendige Substanz« ist es vielmehr »das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat«.17 Deshalb ist es Träger einer vielleicht nicht ›offenen‹, aber sicherlich dynamischen oder mobilen Zirkularität. Das System, so Hegel, ist ein Prozess zuerst der Selbsterzeugung, dann der Selbstreflexion: diese Prozessualität ist in der Vorrede durch den wiederholten Hinweis auf die Subjektivität hervorgehoben: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszu­ drücken.«18 Gewissermaßen ist diese These eine Antwort auf das philosophische Vorhaben des jungen Schelling; insofern erklärt sie zum Teil den indirekten Angriff gegen ihn in der Vorrede. Wenn es nämlich stimmt, dass die Naturphilosophie eine spinozistische Auffassung des Absoluten entwickelt, dann macht der hier verlangte Übergang vom Standpunkt der Substanz zum Standpunkt des Subjekts eine Alternative zum Programm jener Philosophie aus. Das Wort Subjekt wird hier nämlich in einer völlig neuen Bedeutung verstanden: was Hegel Subjekt nennt ist nicht zuvörderst die endliche (menschliche) Subjektivität, sondern die

14  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede. Düsseldorf 1980, GW 9, 11. 15  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Düsseldorf 1989, GW 19, 41. 16 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 27. 17 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 18 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18.

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»lebendige Substanz«.19 Für Hegel ist Subjektivität zuerst eine Eigenschaft des Begriffs als eines Selbstproduktionsaktes, nicht einer (sogar denkenden) Substanz, oder eines schlechten und endlichen Subjekts. Man muss dieses letztere als ein verarmtes Bild der wahren, unendlichen Subjektivität, nicht als ihr Paradigma betrachten: »Versteht man unter der Subjektivität bloß die endliche unmittelbare Subjektivität, […] überhaupt das, was man Person nennt, im Unterschied von der Sache, im emphatischen Sinne des Worts […], so wird man nicht umhin können, die ruhige Ergebung der Alten in das Schicksal zu bewundern und diese Gesinnung als eine höhere und würdigere anzuerkennen als jene moderne, welche eigensinnig ihre subjektiven Zwecke verfolgt […]. Weiter ist nun aber auch die Subjektivität nicht bloß die, als der Sache gegenüber stehend, schlechte und endliche Subjektivität; sondern dieselbe ist ihrer Wahrheit nach der Sache immanent und als hiermit unendliche Subjektivität die Wahrheit der Sache selbst.«20 Begriff, Subjektivität, System (oder Wissenschaft) sind nun Begriffsbestimmungen, die in der Vorrede zur Phänomenologie zusammengehörig sind. Dazu kommt in diesem Kontext der sie zirkulär verbindende und vereinigende Begriff des Geistes: »Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subject ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht […]. Der Geist, der sich so als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut.«21 Eben deshalb, weil das Absolute Geist ist, vermag das Wahre nur als System ausgedrückt zu werden. Dann muss man selbstverständlich bestimmen, was genau unter Geist verstanden werden soll. Während der Redaktion dessen, was ursprünglich eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins sein sollte und endlich eine Phänomenologie des Geistes geworden ist, ist sich Hegel dessen bewusst geworden, dass er eine endliche, weil vom Bewusstsein her orientierte Auffassung des Geistes überschreiten sollte. In der Terminologie der Enzyklopädie darf am Ende der Phänomenologie der Geist nicht mehr als nur subjektiver, sondern ebenso sehr als objektiver und absoluter Geist begriffen werden. Erst 19 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik, GW 23–3, 921–922. 21 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. 20 Hegel:

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 251

dieser metasubjektive Begriff des Geistes führt Hegel dazu, in der Vorrede »die Wissenschaft« (also das System) und den entwickelten »Geist, der sich so als Geist weiß« gleichzusetzen.22 Vom Standpunkt der Phänomenologie ist nämlich das System nichts anderes als die Er-Innerung der subjektiv-objektiven Strukturierung des in seiner Dynamik, das heißt in seiner Idee aufgefassten Geistes. Das einzige Ergebnis der Phänomenologie besteht im Grunde darin, dass das System der Wissenschaft nichts anderes ist als die vom Geist vollzogene Erörterung seines eigenen Begriffs: »das Wahre […] ist das Werden seiner selbst«.23 Solch ein in der Phänomenologie noch werdender Begriff der Systematizität wird in der Enzyklopädie verwendet, indem sie »das Ganze der Philosophie« nicht nur als »Eine Wissenschaft«, sondern auch »als ein Ganzes von mehreren besonderen Wissenschaften« darstellt.24

2. Der Systemansatz aus der Sicht der Phänomenologie des Geistes Während der Abfassung der Phänomenologie des Geistes hat das hegelsche Verständnis sowohl vom System als auch von seiner Einleitung wesentliche Umwandlungen erfahren.25 Diese Entwicklung sowie die damit zusammenhängenden Verzögerungen haben eine editorische Unordnung bewirkt. Obgleich der Vertrag mit dem Verleger ein Buch betraf, welches System der Wissenschaft. Erster Teil: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins betitelt war, entschließt sich Hegel, als der Druck schon weit fortgeschritten war, das Werk unter dem Titel System der Wissenschaft. Erster Teil: die Phänomenologie des Geistes erscheinen zu lassen. In einer Anweisung für den Buchbinder legt Hegel fest,26 dass dieser neue Titel auch als Zwischentitel unter der Form I. Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes benutzt werden, also nach der Vorrede stehen soll, einer Vorrede, die nicht als Vorrede dieses Teils, sondern als Vorrede zum System selbst konzipiert worden ist. Wir wissen aber, dass dieser 22 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 18. 24  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans-Christian Lucas. Düsseldorf 1992, GW 20, 57. 25  Vgl. Johannes Hoffmeister: Einleitung. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1955, XXIX ff. – Wolfgang Bonsiepen: Einleitung. In: Georg Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfang Bonsiepen. Hamburg 1988, IX–LXIII, hier: XXVIII. 26  Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 448. 23 Hegel:

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Hinweis nur teilweise befolgt wurde, so dass gewisse Exemplare die beiden Titel (den einen als Haupttitel, den anderen als Zwischentitel) tragen; weitere Exemplare behalten sogar den eben angeführten ersten Titel. Diese Fehler haben eine umfangreiche Sekundärliteratur mit einer vermutlich überflüssigen Frage verursacht. Wenn es stimmt, dass die Phänomenologie des Geistes das Ergebnis einer intensiven Selbstreflexion der hegelschen Auffassung vom System der Wissenschaft ausmacht, ist jedoch dieses Ergebnis keineswegs definitiv. Wenn man die Selbstanzeige der Phänomenologie betrachtet, sieht man, dass sie als »die Vorbereitung zur Wissenschaft aus einem Gesichtspuncte, wodurch sie eine neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie ist«, dargestellt wird.27 Hegel fährt fort: »Ein zweyter Band wird das System der Logik als speculativer Philosophie und der zwey übrigen Theile der Philosophie, die Wissenschaften der Natur und des Geistes enthalten«.28 Das Zögern Hegels in dieser Darstellung soll vermerkt werden: die Phänomenologie erscheint zugleich als eine »Vorbereitung zur Wissenschaft« und als eine »neue Wissenschaft«;29 sie ist zu diesem Zeitpunkt als der erste Teil eines Systems konzipiert, dessen zweiter Teil dieselbe Struktur wie die künftige Enzyklopädie innehat. Dies bedeutet wenigstens, dass die systematische Stellung der Phänomenologie ein interpretatives Hauptproblem ausmacht, welches sogleich behandelt werden soll. Davor muss aber die kontroverse Frage der Homogenität des Werks selbst evoziert werden. Die Umarbeitung des systematischen Programms Hegels während der Abfassung der Phänomenologie des Geistes, sein Zaudern über ihren Ort und ihre Funktion,30 haben gewisse Forscher, und als ersten Karl Ludwig Michelet, den Herausgeber des Werks in der posthumen Ausgabe der Werke Hegels, zur Folgerung geführt, dass es sich um eine frühe Arbeit handelt, die Hegel später vernachlässigt hat. Der Hauptgrund zu dieser Annahme ist, dass der Inhalt des Buchs eine unkontrollierte Wucherung erfahren hat; daraus sollte folgen, dass eine Menge Baustücke des Systems (oder des zweiten Teils) in dieser vermutlichen Einleitung unrichtig aufgenommen wurden. Diese These ist von Theo-

27 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 446. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 447. 29 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 446. 30  In dem Brief an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vom 1. Mai 1807 erklärt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dass das Werk nur der »erste Teil [des Systems] ist«, »der eigentlich die Einleitung ist«. Und er fährt fort: »denn über das Einleiten hinaus, in mediam rem, bin ich noch nicht gekommen« (Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 161). 28 Hegel:

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 253

dor Haering systematisch entwickelt und unter anderen von Hyppolite und Hoffmeister aufgenommen worden.31 Haering zufolge ist das ursprünglich als Einleitung zum System verstandene Werk während des Schreibens umorientiert worden, als Hegel beschloss, bestimmte Elemente darin aufzunehmen, und zwar das Material der Geistes- und Religionskapitel, die keineswegs in eine propädeutische Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, wohl aber in einen ersten Teil des Systems gehören können. Jene These ist von einem wichtigen Zeugen und zwar von Karl Rosenkranz von vornherein bestritten worden. Rosenkranz ist der Meinung, dass es eine entscheidende »phänomenologische Krise des Systems« gab,32 die zum Bruch mit dem philosophischen Stil Schellings sowie mit dem Fichtes führte. Eben in ihrer etwas ungeheuerlichen Ausdehnung sei die Phänomenologie, so Rosenkranz, der Geburtsort der bewussten philosophischen Originalität Hegels gewesen; in diesem Sinne ist sie sowohl eine Einleitung als auch ein erster Teil des Systems. Aus ähnlicher Perspektive hat Otto Pöggeler die faktischen und philologischen Argumente detailliert widerlegt, aus denen Haerings These folgt.33 Übrigens spricht gegen diese auch die Tatsache, dass sich Hegel kurz vor seinem Tode entschloss, das Werk ohne wesentliche Änderungen neu zu veröffentlichen. Es bleibt jedoch unstrittig, dass Hegel erst nach dem Ende der Arbeit entschied, den Titel des Werks zu verändern. Die weitere Tatsache der kontinuierlich zunehmenden Ausdehnung der Kapitel ist ein Zeichen dafür, dass das ursprüngliche Vorhaben eines relativ kurzen ersten Teils des Systems rasch überholt war. Man darf jedoch nicht behaupten, das systematische Programm selbst wäre grundsätzlich verändert worden. Wenn es stimmt, dass das ursprüngliche Vorhaben (mit den Worten der Einleitung) darin bestand, die notwendige Reihe der »Gestalten des Bewusstseyns« bis zur Versöhnung der »Erscheinung« mit dem »Wesen« darzustellen,34 und wenn diese Versöhnung im absoluten Wissen als solche anerkannt wird, indem es den Geist und dessen Selbstbewusstsein versöhnt,35 muss hinzugefügt werden – das ist genau die Entdeckung Hegels während der Abfassung 31  Theodor

Haering: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Leipzig/Berlin 1929–1938. – Jean Hyppolite: Genèse et structure de la Phénoménologie de l’Esprit. Paris 1946, 54 ff. – Hoffmeister: Einleitung, XXVIII–XXXVIII. 32  Karl Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844, 201 ff. 33  Otto Pöggeler: Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Studien 1 (1961), 254–294. 34 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 61–62. 35  Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 429–430.

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des Buchs –, dass der Erfolg jener Versöhnung impliziert, dass die ursprünglich bewusstseinsorientierte Definition des Geistes überwunden wird, und dass man bei der Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung dessen »verweilt«,36 was sich später objektiver Geist nennen wird. Mit anderen Worten impliziert die Erfahrung des Bewusstseins, wie sie in den ersten Kapiteln rekonstruiert ist, selbst die Erhebung zum absoluten Wissen, indem sie eine dauernde Kluft zwischen dem, was an sich oder für uns, und dem, was für es ist, aufrecht erhält. In dieser Hinsicht ist die geschichtliche Objektivierung der Einstellungen des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und der Vernunft eine systematisch notwendige Folge des Vorigen, wie Hegel es am Anfang des Geisteskapitels vermerkt: »Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseyns sind Abstractionen [des Geistes]; sie sind diß, daß er sich analysirt, seine Momente unterscheidet, und bey einzelnen verweilt. Diß Isoliren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es existirt nur in ihm, der die Existenz ist. Sie haben so isolirt den Schein, als ob sie als solche wären; aber wie sie nur Momente oder verschwindende Größen sind, zeigte ihre Fortwälzung und Rückgang in ihren Grund und Wesen; und diß Wesen eben ist diese Bewegung und Auflösung dieser Momente.«37 Demzufolge sind die Gestalten des Geistes »statt Gestalten nur des Bewußtseyns, Gestalten einer Welt.«38 Dieser Übergang vom Standort des Bewusstseins zum Standort der geschichtlichen Welt des Geistes stellt die objektivierende Stufe dar, die, zusammen mit der Radikalisierung des Standpunkts der Subjektivität in den verschiedenen Formen des religiösen Bewusstseins (Kapitel 7), zur absoluten Versöhnung des Ansichseins und des Seins für das Bewusstsein im philosophischen Wissen führt, welches sich als System entwickelt. Selbst wenn die Phänomenologie unerwartete Entwicklungen im Gang der Redaktion erfahren hat, entspricht sie doch einem homogenen Vorhaben, so dass sie dem System (auch unter seiner späteren Form) keineswegs äußerlich ist, obwohl sie ein gewissermaßen abweichender, sicherlich einzigartiger Ausdruck davon ist. Dies erklärt die Tatsache, dass dieses frühe Werk seinen ganzen Wert und seine ganze spekulative Kraft für uns sowie für Hegel selbst behalten hat. 36  Siehe für diese typisch phänomenologische Wendung Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 25, 27. 37 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 239. 38 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 240.

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 255

3. Die Phänomenologie des Geistes innerhalb des Systems Es soll nun die Stellung der Phänomenologie in dem 1807 noch im Werden befindlichen systematischen Vorhaben Hegels untersucht werden. Es ist durchaus klar, dass die von Hegel während des Jenaer Aufenthalts durchgeführte theoretische Arbeit den Weg zu seiner eigenen Systemauffassung gebahnt hat. Man kann in diesem Zusammenhang unter anderem eine Stelle der Differenzschrift erwähnen, in der der sich noch als treuer Jünger Schellings vorstellende Hegel Ansichten entwickelt, die seine eigene künftige Systemauffassung vorankündigen: »Wenn die Aufhebung der Entzweyung als formale Aufgabe der Philosophie gesetzt wird; so kann die Vernunft die Lösung der Aufgabe auf die Art versuchen, daß sie Eins der entgegengesetzten vernichtet, und das Andere zu einem Unendlichen steigert; […] allein die Entgegensetzung bleibt auf diese Art; denn dasjenige, was als Absolutes gesetzt wird, ist durchs andere bedingt, und so wie es besteht, besteht auch das andere. Um die Entzweyung aufzuheben, müssen beyde Entgegengesetzte, Subjekt, und Objekt aufgehoben werden; sie werden als Subjekt und Objekt aufgehoben, indem sie identisch gesetzt sind. In der absoluten Identität ist Subjekt und Objekt auf einander bezogen, und damit vernichtet; insofern ist für die Reflexion und das Wissen nichts vorhanden. So weit geht das Philosophiren überhaupt, das nicht zu einem System gelangen kann[.]«39 Aber während der Abfassung der Phänomenologie und insbesondere der Vorrede ist es Hegel gelungen, der von allen Nachkantianern geteilten Forderung, die Philosophie als ein System zu konzipieren und darzustellen, eine wirklich originelle Bedeutung zu verleihen. Dies bezeugen die folgenden wohlbekannten Sätze der Vorrede: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschafftliche System derselben seyn. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn, – ist es, was ich mir vorgesetzt.«40 Demzufolge ist sicherlich die Phänomenologie des Geistes das erste systematische Werk Hegels. Dennoch werden die hegelsche Auffassung des 39 Hegel:

Differenz des Fichte‘schen und Schelling‘schen Systems der Philosophie, GW

4, 63. 40 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 11.

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Systems und die detaillierte Ausführung seiner Teilstücke erhebliche Änderungen erfahren. Insofern lohnt es sich, den Ort des phänomenologischen Konzepts in der Phänomenologie selbst sowie im endgültigen System näher zu erörtern. Im Jahre 1807 macht die Phänomenologie des Geistes den ersten Teil des Systems der Wissenschaft aus, dessen vermutliche Einteilung in der Selbstanzeige angegeben ist. Es wird also eine Logik (welche nunmehr keinen propädeutischen Charakter mehr hat, seitdem sie mit der Metaphysik zusammengeschmolzen worden ist) sowie die Wissenschaften der Natur und des Geistes enthalten. Wie es in der Selbstanzeige steht, ist die Phänomenologie als erster Teil des Systems »eine neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie«, die »an die Stelle der psychologischen Erklärungen, oder auch der abstractern Erörterungen über die Begründung des Wissens treten« soll.41 Die Aufgabe der Phänomenologie, nämlich »das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen«,42 soll also nicht psychopädagogisch verstanden werden: das Individuum, dessen Bildungsprozess sie beschreibt, ist nicht das empirische Individuum, sondern das »allgemeine[…] Individuum«, der »selbstbewußte Geist«.43 Das Ziel der Phänomenologie besteht also darin, den Weg zur Wissenschaft, das heißt zum systematischen philosophischen Wissen zu bahnen, indem sie klar macht, dass das natürliche Bewusstsein von sich aus in einen Bildungsprozess gestellt ist. Dieser von der scheinbar unüberbrückbaren Trennung des reinen vordiskursiven Bewusstseins und des in seiner nackten Singularität stehenden Objekts ausgehende Prozess führt über die artikulierten Gestalten des Bewusstseins, oder vielmehr des Geistes, zur vermittelten Unmittelbarkeit des absoluten Wissens, welches allein jene erste Dualität sinnvoll macht, indem es deren geheime Voraussetzung ausmacht. Demzufolge ist die Bewegung des Wissens »der in sich zurückgehende Kreis, der seinen Anfang voraussetzt, und ihn nur im Ende erreicht.«44 Auf solche Weise stimmt der in der Phänomenologie des Geistes beschriebene Prozess mit dem überein, was im letzten Kapitel der Wissenschaft der Logik festgestellt wird, und zwar, dass »der Anfang, weil er gegen die Bestimmtheit des Resultats, selbst ein Bestimmtes ist, nicht als Unmittelbares, sondern als Vermitteltes und Abgeleitetes

41 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 446. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 24. 43 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 24. 44 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 429. 42 Hegel:

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 257

genommen werden soll«.45 Das absolute Wissen aber soll nicht nur, von oben her, als Ergebnis und Verständlichkeitsbedingung der sinnlichen Gewissheit verstanden werden; es ist auch, von unten her, ein Ausgangspunkt oder, wie die Logik es ausdrückt, »ein neuer Anfang«.46 Deswegen kann und muss es sich als logische Idee entwickeln, aber dazu auch als Natur und Geist, wie die letzte Seite der Phänomenologie des Geistes es suggeriert. In der Vorrede, die sozusagen den Übergangsschritt von der Phänomenologie zum entwickelten System ausmacht, sind mehrere Seiten der Frage ihrer Gliederung gewidmet. Die verschiedenen Gestalten des Bewusstseins oder des Geistes behalten eine scheinbar unüberwindbare Dualität von Substanz und Subjekt, also von Ich und Sein. Das Ergebnis des phänomenologischen Prozesses, und zwar der Geist, der »sein Daseyn seinem Wesen gleich gemacht« hat,47 ist das Milieu des Wissens, in dem es auf einmal jene Dualität überwindet und deren Notwendigkeit bezeugt. Das absolute Wissen nämlich überwindet das natürliche Verhältnis von Subjekt und Welt, welches die Vorstellungen und die üblichen Formen des Wissens strukturiert; aber es beweist zugleich die Notwendigkeit dieses verfälschten Verhältnisses. Es definiert also den Raum, innerhalb dessen »das Wahre in der Form des Wahren« sich zuerst als Logik,48 dann als ›reelle Wissenschaft‹ der Natur und des Geistes entfalten wird. Im Gegenteil zur Logik stellt die Phänomenologie erst nur die Manifestation, das Phänomen des Wahren unter den Bedingungen der Endlichkeit des »erscheinenden Wissens« dar;49 insofern könnte man sie als eine Art Eingangshalle des wirklichen Wissens betrachten. Sie ist jedoch für das System unentbehrlich, weil sie für es keine Vorstufe, sondern eher ein negatives Bild ausmacht. Die Phänomenologie, so steht es in der Vorrede, hat keine externe Stellung gegenüber dem System, sowie das Falsche gegenüber dem Wahren. Nur insofern das philosophische Wissen die freie Entfaltung der verschiedenen Gestalten des endlichen Bewusstseins (also des Unwahren) akzeptiert, vermag es sich aus sich selbst zu entwickeln, ohne sich darum zu kümmern, wie das endliche Bewusstsein sich zu ihm erhebt. In der Phänomenologie des

45  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1981, GW 12, 249. 46 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 250. 47 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 30. 48 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 30. 49 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 55, 434.

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Geistes selbst wird der phänomenologische Prozess als die äußere Darstellung des Systems im Element des Bewusstseins oder des endlichen Geistes präsentiert: als seine Übersetzung in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache ist (in der Phänomenologie ist das Wahre nicht »in der Gestalt des Wahren«),50 die ihm aber nicht fremd bleibt. Es gibt also eine Art Parallelität zwischen der »Bewegung der reinen Wesenheiten« und derjenigen der »Gestalten des Bewußtseyns«, zwischen der Logik und der »vollständige[n] Weltlichkeit des Bewusstseyns in ihrer Nothwendigkeit«.51 Im späteren Werk verwickelt sich die Frage der Stellung der Phänomenologie zum System, und zwar aus drei Hauptgründen. Erstens findet eine Veränderung des Plans des Systems statt, dessen endgültige Struktur die Phänomenologie, wenigstens als Einleitung oder als ersten Teil des Systems de facto ausschließt. Zweitens besitzt das System nun eine eigene wissenschaftliche Einleitung, den enzyklopädischen Vorbegriff der Logik, der im Grunde dasselbe Problem wie die Phänomenologie des Geistes, und zwar das der verschiedenen Einstellungen des Subjekts hinsichtlich der Objektivität der Welt behandelt, aber nicht mehr aufgrund einer Dialektik der Gestalten des Bewusstseins und des Geistes, sondern einer kritischen Darstellung der wichtigsten philosophischen Strömungen.52 Der dritte, augenfälligste Grund ist, dass ein Unterteil der enzyklopädischen Philosophie des Geistes selbst mit Phänomenologie des Geistes betitelt ist. Das Vorhaben dieser kleinen Phänomenologie ist jedoch viel beschränkter als dasjenige des Werks von 1807: zwischen der Anthropologie, deren Gegenstand die Seele oder der Naturgeist ist, und der Psychologie, welche den Geist und seine Vorstellungsmodi thematisiert, behandelt sie ausschließlich das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein und die Vernunft, also den Inhalt der fünf ersten Kapitel (oder der drei ersten Abteilungen) der grossen Phänomenologie. Diese Beschränkung des untersuchten Feldes liefert selbstverständlich den Anhängern von Haerings These ein wichtiges Argument: sie scheint nämlich rückwärtig zu bezeugen, Hegel hätte 1807 die Ausführung seines Projekts nicht wirklich kontrolliert, in dem Sinne, dass er darin Stü-

50 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 30. Phänomenologie des Geistes, GW 9, 28–29. 52  Der Vergleich der beiden Einleitungsarten (und zwar der Phänomenologie und des Vorbegriffs) ist von Hegel selbst explizit gemacht worden. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Klaus Grotsch. Düsseldorf 2000, GW 13, 34–35. – Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 68–69. 51 Hegel:

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 259

cke einschloss, die in der Tat in andere Teile des endgültigen Systems, nämlich in die Lehre des objektiven oder des absoluten Geistes gehören. Hegel hat jedoch im Vorbegriff der Enzyklopädie diesen Einwand von vornherein widerlegt: er rechtfertigt dort die Ausdehnung des in der Phänomenologie des Geistes behandelten Materials mit der Begründung, dass das darin verfolgte Ziel, und zwar von dem »unmittelbaren Bewusstsein« bis zum »Standpunkt der philosophischen Wissenschaft« zu führen, implizierte, dass man nicht »beim Formellen des bloßen Bewußtseyns« stehen blieb und in der Behandlung »die concreten Gestalten des Bewußtseyns wie z.B. der Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion« einschloss.53 Die echte Berechtigung jener Inklusion jedoch konnte damals nicht ausführlich gegeben werden, indem sich der phänomenologische Prozess »auf das Formelle« zu beschränken schien, und indem die Logik jenes Prozesses nur für uns, das heißt »hinter de[m] Rücken« des Bewusstseins dargestellt werden konnte.54 Die gerade angegebenen Gründe machen deutlich, dass die Stellung der Phänomenologie innerhalb des Systems nicht dieselbe wie im Jahre 1807 bleiben konnte. Aber das durch sie zu lösende Problem – das Prob­ lem des Zugangs zum philosophischen Wissen eines Bewusstseins, dessen spontane Struktur es unmöglich macht – bleibt für Hegel nach wie vor aktuell. Es muss jedoch angenommen werden, dass es nicht so einfach ist, die verschiedenen Beurteilungen der systematischen Stellung der Phänomenologie zu vereinbaren. Die Vorrede, die Einleitung und die Analyse des Anfangs der Wissenschaft in der Wissenschaft der Logik (1812) bestimmen den Standort der Phänomenologie als die Voraussetzung der Wissenschaft, indem sie den Leitfaden liefert, der das Bewusstsein von seinem naiven Dualismus bis zum Standpunkt der Philosophie führt. Hegel schreibt etwa in der Einleitung der Logik, dass der Begriff der Wissenschaft »(abgesehen davon, daß er innerhalb der Logik selbst hervorgeht) hier keiner Rechtfertigung [bedarf], weil er sie daselbst [in der Phänomenologie des Geistes] erhalten hat; und er ist keiner andern Rechtfertigung fähig«.55 Die Auffassung des Systems wird jedoch während der Abfassung der Logik weitere Änderungen erhalten. In der

53 Hegel:

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW

20, 68–69. 54 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 69. 55  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Düsseldorf 1985, GW 21, 32.

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Begriffslogik liest man zum Beispiel eine Darstellung der Lehre vom subjektiven Geist, die der Phänomenologie einen begrenzten Platz zuteilt, indem sie nunmehr »zwischen der Wissenschaft des Naturgeistes, und des Geistes als solches inne steht«.56 Es ist durchaus klar, dass eine solche Definition es nicht mehr erlaubt, wie noch in der Seinslogik die Phänomenologie als einzigen Zugang zur Wissenschaft zu betrachten. Deswegen stellt eine in der zweiten Ausgabe der Seinslogik hinzugefügte Fußnote zur Einleitung von 1812 fest, dass der Übertitel der Phänomenologie des Geistes: System der Wissenschaft, erster Teil nicht mehr aktuell ist, und dass die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften das ursprüngliche Vorhaben eines zweiten Teils obsolet macht.57 Die erste Ausgabe der Enzyklopädie wiederholt diese Stellungnahme, versucht jedoch die ursprüngliche Funktion der Phänomenologie mit ihrer neuen Stellung im System zu versöhnen – was eigentlich nicht so einleuchtend ist: »Ich habe früher die Phänomenologie des Geistes, die wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseyns, in dem Sinne als ersten Theil der Philosophie behandelt, daß sie der reinen Wissenschaft vorausgehen solle, da sie die Erzeugung ihres Begriffs ist. Aber zugleich ist das Bewußtseyn, und dessen Geschichte, wie jede andere philosophische Wissenschaft, nicht ein absoluter Anfang, sondern ein Glied in dem Kreise der Philosophie.«58 Die entsprechende, schon vorher erwähnte Stelle der weiteren Ausgaben der Enzyklopädie beseitigt diese Zweideutigkeit, aber nicht in die zu erwartende Richtung. Anstatt die geringere Tragweite der Phänomenologie des Geistes im reifen System zu registrieren, rechtfertigt sie den Anspruch des Werkes von 1807, den Beweis der »Nothwendigkeit« des »Standpunkt[s] des philosophischen Wissens« zu liefern.59 Selbst die Ausdehnung des ursprünglichen Programms über das »Formelle[…] des bloßen Bewußtseyns« hinaus wird hierdurch gerechtfertigt: eben deshalb, weil der Standpunkt des philosophischen Wissens »der gehaltvollste und concreteste« ist, musste die Phänomenologie des Geistes

56 Hegel:

Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 198. Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 9. 58 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), GW 13, 34. 59 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 68–69. 57 Hegel:

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die »concreten Gestalten des Bewußtseyns« einschließen,60 welche in späterer Terminologie nicht (wie das Bewusstsein selbst) in die Lehre des subjektiven Geistes, sondern in die Lehre des objektiven oder sogar des absoluten Geistes gehören. Bis zum Ende steht also für Hegel fest, dass das Vorhaben einer selbst wissenschaftlichen Einleitung in das System der Wissenschaft (also nicht einer bloßen Propädeutik) eine gewisse Koextensivität dieser Einleitung mit dem System impliziert, obwohl eine »verwickelter[e]« Darstellungsweise daraus folgt.61 Dies erklärt die Tatsache, dass Hegel, nachdem er 1829 hinsichtlich einer Neuausgabe eine Auslichtung und eine Umarbeitung der Phänomenologie des Geistes vorgesehen hatte, sich endlich für einfache und seltene Formkorrekturen entschieden hat, wie man es an den etwa 30 effektiv korrigierten Seiten der Vorrede prüfen kann. Eine handschriftliche Notiz vom Jahre 1831 macht dies sogar eigens deutlich: »Eigen­ thümliche frühere Arbeit, nicht Umarbeiten«,62 schreibt Hegel. Insofern ist der wissenschaftliche Charakter des Werkes von 1807 bestätigt: die Phänomenologie stellt denselben Inhalt wie das enzyklopädische System dar, nun aber auf einer anderen Bedeutungsebene. Zwischen Phänomenologie und System besteht sicherlich ein Sprung; deswegen ist die Bezeichnung jenes Werkes als erster Teil aufgegeben worden. Auf der anderen Seite aber hat die Phänomenologie dieselbe Extension wie das System, indem sie im Rahmen des Dualismus des Bewusstseins den ganzen Inhalt desselben darstellt. Das Festhalten an der These, die Phänomenologie sei die Voraussetzung des Systems, ist eigentlich kaum verträglich mit der reduzierten Dimension, die ihr in der Enzyklopädie zukommt, und mit der Tatsache, dass das enzyklopädische System nunmehr über seinen eigenen Weg zur Wissenschaft verfügt, und dass Hegel die Verschiedenheit dieser Wege nun bekennt.63 Es macht aber klar, dass das Konzept der Phänomenologie für Hegel bis zum Ende relevant geblieben ist.64

60 Hegel:

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 68–69. 61 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 69. 62 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 448. 63 Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), GW 13, 34–35. 64  Vgl. Pöggeler: Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes, 294.

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4. Zum Schluss: die Wissenschaft der Freiheit Das System Hegels stellt sich als der Ausdruck der spekulativ begriffenen Freiheit dar. Eben weil die Philosophie systematisch, das heißt gewissermaßen notwendig gegliedert ist, muss sie als die »Wissenschaft der Freyheit« definiert werden.65 Diese Behauptung ist mehrdeutig. Zuerst bedeutet sie, dass das System, indem es kein »Kreis, der in sich geschlossen ruht«,66 ist, sich verpflichtet, alles das, was scheinbar dem Begriff fremd bleibt, also die nackte Kontingenz in sich zu enthalten. Nichts ist unrichtiger als die alte Legende eines hegelschen Kults der Notwendigkeit und einer Ausschließung der Kontingenz vom System; für ihn nämlich ist es vernünftig, dass es Unvernünftiges gibt.67 Kontingenz und Freiheit aber sind nicht gleichbedeutend. Deswegen muss die Kompatibilität, besser gesagt das notwendige Band von Notwendigkeit und Freiheit gerechtfertigt werden, wobei es klar sein soll, dass Freiheit etwas ganz anderes als Kontingenz oder Nicht-Notwendigkeit bedeutet. Dies ist in der Logik mit dem als dem »härteste[n]« umschriebenen Übergang von der Substanz zum Subjekt,68 das heißt vom Standpunkt der Notwendigkeit zum Standpunkt der Freiheit vollbracht. Dieser Übergang bildet auch die Grenze zwischen der objektiven Logik (einer Logik der Notwendigkeit und der Substantialität) und der subjektiven Logik (einer Logik der Freiheit und des Begriffs): »So ist der Begriff die Wahrheit der Substanz, und indem die bestimmte Verhältnißweise der Substanz die Nothwendigkeit ist, zeigt sich die Freyheit als die Wahrheit der Nothwendigkeit und als die Verhältnißweise des Begriffs.«69 In dieser Aussage ist das hegelsche Verständnis der Systematizität im Spiel. Wenn die Wahrheit der Notwendigkeit die Freiheit ist, und wenn Freiheit die eigenste Eigenschaft des Systems (als einer Wissenschaft der Freiheit) ist, dann soll das System nicht als stabile, geschlossene, also 65 Hegel:

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), GW

13, 18. 66 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 27. 67  Vgl. Bernard Bourgeois: Hegel et la déraison historique. In: Etudes hégéliennes. Paris 1992, 271–295; Bernard Mabille: Hegel. L’épreuve de la contingence. Paris 1999, bes. 213 ff. 68 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 175. 69 Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), GW 12, 12. – Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW 20, 174.

Die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes in Hegels Werk 263

endliche Totalität, sondern als prozessuale Totalität, als Dynamik der Selbstproduktion der Wahrheit verstanden werden. Das System Hegels ist zwar kein offenes System, in dem Sinne, dass es stets verwandlungsfähig wäre; es gibt, so Hegel, ein einziges System, welches jedoch beweglich, prozessförmig, plastisch ist. (Hegel selbst definiert das System als organisch, aber solche Terminologie ist wegen der Irrungen des sogenannten Organizismus im 19. Jahrhundert äquivok geworden). Was diese Eigenschaft der Plastizität am besten aufhellt, ist die Tatsache, dass im System Hegels die Phasen der Totalisierung zugleich Phasen gewordener (sekundärer) Unmittelbarkeit sind. Die Totalität, die in sich den Entwicklungsprozess einer ersten unmittelbaren (oder so scheinenden) Bestimmung zusammenfasst, wird selbst zu einer zweiten, gewordenen Unmittelbarkeit, welche zugleich das Ergebnis und den »wahrhaften Grund« der ersteren,70 und somit des ganzen Prozesses darstellt. Diese Zirkularität des Systems kann an einem strategisch bedeutsamen Ort beobachtet und geprüft werden, und zwar ganz am Ende der Phänomenologie des Geistes, wenn die Rückkehr der sinnlichen Gewissheit (als einer ersten Unmittelbarkeit) innerhalb des absoluten Wissens selbst (als einer zweiten Unmittelbarkeit) stattfindet. Die Unmittelbarkeit ist wesentlich eine gewordene oder mittelbare: diese Schlussthese der Wissenschaft der Logik ist genau das, was die sinnliche Gewissheit am Anfang der Phänomenologie des Geistes blind und ohnmächtig erfährt. Die Unfähigkeit dieser ersten Form des Bewusstseins, das Dieses in seiner absoluten Singularität auszudrücken, bedeutet nämlich, dass diese vorkategoriale Singularität erst von seinem Anderen her, vom absoluten Wissen her, denkbar ist. Deswegen findet die Rückkehr der sinnlichen Gewissheit am Ende des phänomenologischen Prozesses statt. Dort ist sie als ein »Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts« dargestellt, denn eben in diesem Entlassen zeigt sich die »höchste Freyheit« des absoluten Wissens.71 Der Parallelismus dieses Übergangs des absoluten Wissens zum sinnlichen Bewusstsein mit dem Übergang der absoluten Idee zur Natur am Ende der Logik ist bis hin zum Vokabular der Entlassung augenfällig. In der Tat zerbricht in all diesen strategisch bedeutsamen Orten, wo das System sich in einem endgültigen Ausdruck zu sammeln scheint, die Zirkularität, als Bild der systematischen Prozessualität verstanden, die Illusion einer endgültigen Wahrheit oder einer letzten Haltestelle. Ohne diese Prozessualität 70  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. Klaus Grotsch/Elisabeth Weisser-Lohmann. Düsseldorf 2009, GW 14–1, 199. 71 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 432.

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wäre das Absolute selbst »nur ein gemeynter Gedanke, ein für sich unbestimmtes Substrat.«72 Das ist aber nicht der Fall.

72 Hegel:

20, 122.

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW

Jörg Dierken Selbstkonstruktion des Absoluten und ­Spannungen im System. Hegels Systemkonzept im Werden1 1. Größe und Grenze des Systemgedankens In geisteswissenschaftlichen Kontexten wird der Systemgedanke heute von einer Hermeneutik des Verdachts begleitet. Nicht erst für die Postmoderne scheint er einer ordnungswütigen Mentalität, die für alles Besondere nur das Prokrustesbett bereithält, entsprungen zu sein. Hinzu kommt der leicht zu nährende Zweifel an dem monströs erscheinenden Anspruch auf vollständige Klassifikation aller möglichen Wissensbestände. Der Ort des Systembegriffs scheint gegenwärtig am ehesten in technischen oder administrativen Zusammenhängen zu liegen. Geläufig ist die Rede von Informations-, Verkehrs- oder Produktionssystemen. Darin erscheint der Systembegriff allerdings sogleich im Plural, und die Aufmerksamkeit liegt auf dynamischen Formen von Steuerung. Ein Regelkreislauf impliziert sogar Schließung. Auch in soziologischem Kontext wird die Pluralform des Systembegriffs gebraucht. Verschiedene soziale Systeme werden in ihrem jeweils eigenen Prozedieren mit reflexiver Schließung beschrieben, und über die Operation des Beobachtens lassen sich systemtheoretisch Interferenzen fokussieren. Freilich drängt sich damit die Frage nach dem systemischen Zusammenhang differenter sozialer Systeme auf. Eine Logik von mehrfach oszillierender interner Reflexivität führt zu dem Motiv eines Systems der Systeme. So wenig dieses Motiv vermeidbar ist, so sehr gerät der Systembegriff damit in eine Paradoxie. Niklas Luhmanns Formel von der ›Gesellschaft der Gesellschaft‹ mag dies illustrieren.2 Wenn eine Erinnerung an den Systemdenker Hegel nicht nur von philosophiehistorischem Interesse sein soll, muss sich die Verankerung

1 

Der Beitrag basiert auf dem Vortrag, den der Autor 2012 auf der Tagung gehalten hat, deren Beiträge mit diesem Band publiziert werden. Der Text wurde in leicht erweiterter Form zunächst veröffentlicht in dem Band: Das Letzte – der Erste. Gott denken. Festschrift für Ingolf U. Dalferth zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Hans-Peter Großhans/ Michael Moxter/Philipp Stoellger. Tübingen 2018, 79–93. Die Herausgeber danken dem Mohr Siebeck Verlag für die Erlaubnis des Wiederabdrucks. 2  Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997.

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des Systemgedankens in der Struktur von prozessualer Rationalität zeigen lassen. Der Systemgedanke liegt in den Fluchtlinien eines systematischen Vernunftgebrauchs. Zudem liegt eine Bewährungsprobe für den Systemgedanken darin, dass er trotz seiner Tendenz zu letztgültiger Schließung eine offene Dynamik integriert. Ein Systemdenken, das nur als geschlossenes System auftritt, untergräbt seine eigene Geltung mit jeder Variation, zu der es sich aus inneren oder äußeren Gründen genötigt sieht. So sehr Hegel, Inbegriff eines Systemdenkers, jene verschiedenen Einwände gegen den Systembegriff auf sich gezogen hat, so sehr verbindet sich mit seinem Systemkonzept eine in der Vernunft gegründete Vollzugsdynamik, die das systemische Totalitätsmotiv mit Offenheit für Anderes verbindet – so meine These. Hegels Systembegriff, der seit Hegels Entdeckung der spekulativen Denkform mit seinem Übergang nach Jena 1801 den Wissenschaftscharakter gedanklicher Gehalte ausweisen sollte, steht durchaus für eine Totalität des Wissens in „objektive[r] Vollständigkeit“.3 Die Mannigfaltigkeit beschränkter Einzelgehalte befreie sich von der »Zufälligkeit« ihrer Beziehungen, so Hegel, indem sie »ihre Stellen im Zusammenhang der objektiven Totalität des Wissens erhalten«.4 Das System umgreift mithin eine Relationalität von allem und jedem, und dessen Ganzheit erhebe das Kontingente gar zum Notwendigen. Freilich ist dies kein Sachverhalt, der gleichsam gegeben, sozusagen von selbst da ist. Systemisches Wissen kommt durch »freye Vernunft und ihre That« zustande, es ist ein »Darstellen ihrer selbst«.5 Mit dem Freiheitscharakter der Vernunft erfährt das systemisch Notwendige indes eine Brechung. Schon darum kann nicht alles Kontingente in seine Aufhebung verschlungen werden. Es wird im Freiheitsvollzug der Vernunft aufbewahrt. Dieser ist aber nicht willkürlich. Dies wäre er, wenn er nur auf Grundsätzen fußte – so Hegel gegen den frühen Fichte. Sein eigenes System stehe demgegenüber für ein sich selbst gründendes Ganzes, eine durch die »Selbstproduktion der Vernunft« zustande kommende »objektive Totalität, […] in sich selbst getragen und vollendet«.6 He3 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 1–92, 30. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 4 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 30. 5 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 30. 6 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 30.

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gels Systemgedanke verbindet mithin das Motiv der Totalität des Wissens mit dessen Fundierung in freien Vollzügen einer rückbezüglichen, reflexiven Vernunft. In solch prozessual-aktuoser Selbstgründung ist die notwendig auf das Ganze ausgreifende Vernunft für Hegel absolut. Sie ist darum aber nicht in sich verschlossen. Einen offenen Charakter hat die im System sich darstellende Vernunft insofern, als ihre Gehalte nicht einfach nur in der Wissensform abgebildet werden, sondern diese selbst mit der inneren Verfasstheit jener Gehalte korrespondiert. Die Gehalte sind also gleichsam selbst dazu bestimmt, gewusst zu werden, und zwar so, dass das Wissen sie seinerseits selbsttätig erzeugt. Wirklichkeit als Dynamik von Wissen für Wissen: Das ist die Grundstruktur des Geistes, für Hegel die der Systemform entsprechende Struktur der durch Intelligenz gestalteten Wirklichkeit. »Daß das Wahre nur als System wirklich […] ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht« – so Hegel in der Phänomenologie von 1807.7 Wissen und das System als wahre Existenzgestalt der Wahrheit bestehen im »reine[n] Selbsterkennen im absoluten Andersseyn«, mithin der Grundstruktur des Geistes.8 Ohne strukturelle Offenheit lässt sich solche, vom Geistkonzept untrennbare Alterität nicht einmal imaginieren. Offenheit und Verankerung in prozessualer Rationalität sind mithin mit Hegels Systemgedanken verbunden – einhergehend mit dem Motiv einer Vollständigkeit des Wissens, was eine wenigstens prinzipielle Wissbarkeit der Welt voraussetzt. Sie zeigt eine irgendwie geistförmige, durch mentale Akte geformte Verfasstheit. Anders gesagt: Die Welt erscheint immer schon sub specie mentis als Bewusstsein und Kultur, die auch die Natur in transformierter Gestalt umfasst. Auch Natur ist für uns nicht an sich. Wir kennen sie im Kontext des kulturellen Handelns und entsprechender Wissensformen. Damit hat die Welt eine Geschichte des Werdens und der Ver-Änderung. Das gilt auch für das System als Wissensform. Auch diese Form ist kulturgeschichtlich vermittelt. So unaufgebbar der Anspruch auf Vollendung und Totalität auch ist, so banal ist die Einsicht, dass schon Hegels Systemgedanke selbst einen wandlungsreichen Prozess der Genese und Veränderung durchlaufen hat. Damit ist bereits der Systemgedanke als solcher nicht frei von Kontingenz. So ist es bemerkenswert, dass Hegel das fragmentarisch überlieferte System von 1800, mit dem er im philosophischen Casting in Jena reüssieren wollte, mit der Einsicht in seine Mängel umstürzt, 7  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede. Düsseldorf 1980, GW 9, 22. 8 Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22.

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dass er in kürzester Zeit eine andere Konzeption in seinem philosophischen Erstling, der Differenzschrift, entwickelt, dass er in den folgenden Jahren Vorlesungen nach einem im Erscheinen begriffenen System ankündigt und dass er 1807 als ersten Teil des Anlaufs zu einem System der Wissenschaft die einleitende, aber selbst nicht den standpunktlosen Systemstandpunkt repräsentierende Phänomenologie des Geistes publizierte. Aufbau und Durchführung der Bemühungen um systematische Philosophie zeigen eine Reihe von Spannungen, Modifikationen und Umbauten, obwohl das System die Prätention auf Absolutheit macht und sich der Selbstkonstruktion eines solchen Absoluten verdanken soll. Damit markiert die Größe der Systemidee zugleich ihre Grenzen. Denn die Spannungen im System sind nicht nur einem noch tastenden Gedankengang bei seiner Genese geschuldet, sondern sie sind zugleich auch Ausdruck einer unabweisbaren Geltungsproblematik – so sei meine These konkretisiert. Diese Geltungsproblematik zeitigt gerade für spekulative Philosophie systematische Konsequenzen.

2. Die unspekulative Ausgangslage Hegels erster eigener Systementwurf ist wohl das nur rudimentär bekannte Systemfragment von 1800.9 Es vertritt methodisch ein Programm, das nach Hegels späteren Kriterien als unphilosophisch zu gelten hat. Denn es bleibt letztlich bei einem unüberwindbaren Gegensatz von der Bewusstseins- und Wissensform und dem, was Hegel später das Absolute nennt – also das Ganze von Bewusstsein und Gehalt, das eine sich selbst hervorbringende und performativ selbsttragende Welt befasst, von der das Bewusstsein ein, wenngleich alles erschließendes, Moment ist. Im Systemfragment von 1800 kommt es zu keinem Ausgleich von Bewusstsein und Absolutem, von Hegel damals noch Leben genannt, weil die Bewusstseinsform verständiger, das heißt unterscheidender, Refle9 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Systemfragment von 1800. In: Shen Zhang: Hegels Übergang zum System. Eine Untersuchung zum sogenannten »Systemfragment von 1800«. Bonn 1991. In: Hegel-Studien. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler. Beiheft 32, 11–22. Das sog. älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1796/97 zeigt ein deutlich anderes Gepräge als die zeitgleichen Texte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und ist vermutlich ein Gemeinschaftswerk zusammen mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Hölderlin. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus. In: Rüdiger Bubner (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Bonn 1973. In: Hegel-Studien. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler. Beiheft 9, 261–265).

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xion dominiert. An ihr hat Hegel sich in seinen Berner und Frankfurter Jahren abgearbeitet. Als Problem brach die Struktur der Bewusstseinsreflexion auf in Hegels frühen Bemühungen um eine an das Kantische Autonomieprinzip anschließende Denkform, die in begrifflicher, politischer, geschichts- und religionsphilosophischer Hinsicht dem Vollzug von autonomer Freiheit als solchem entspricht – und seinen Gehalt nicht nur in Pflichtbegriffen gebietend einfordert oder ihn im Medium religionsphilosophischer Bildungsmission zu verkaufen sucht. Als früheste Formel für die Einheit von solchem Vollzug und gedanklichem Gehalt fungierte in den frühen Frankfurter Jahren der Liebesbegriff; er sollte in einer Vereinigungsphilosophie gleichsam als Absolutes alle Gegensätze übersteigend integrieren, wobei die auf reflektierende Unterscheidungen geeichte Bewusstseins- und Wissensform im präreflexiven Gefühl zugleich unterlaufen wird. Damit ist natürlich das Problem der Bewusstseins- oder Wissensform nicht gelöst. Denn der Vollzug der Liebe verlangt begriffen zu werden, aber der Begriff der Liebe ist nicht ihr Geschehen selbst. Nachdem Hegel dieser Antinomie mit der Aufstockung des Liebesbegriffs zu dem des Lebens zu entkommen suchte, zeigt sich alsbald, dass auch das Leben gedanklich gefasst sein will. In den als Der Geist des Christentums und sein Schicksal überschriebenen Fragmenten sollte hierfür eine religiöse Symbolik der hingebenden und aneignenden Vereinigung mit einem göttlichen All-Leben einstehen. Doch auch das gleichsam rational-mystische Programm der Aufhebung aller Differenzen des endlichen Lebens gegenüber dem Unendlichen scheitert, wenn es noch irgendwie in einer gedanklichen Form expliziert und religiös kommuniziert werden soll: Jedes Bild, jede Gestalt und alle Versuche der Darstellung haben die lebendige Einheit mit dem Leben immer schon hintertrieben. Darin bestand für Hegel in den späten 1790er Jahren das Schicksal des Christentums. Symptomatisch hierfür ist die unbegriffene Form des Glaubens. Er verbleibt als Gottesbewusstsein in Differenz zu dem Gegenstand, auf den es sich zugleich intentional bezieht. In seinem Systemfragment von 1800 zog Hegel zwei Konsequenzen aus dem Scheitern seiner vorherigen Versuche. Dabei konnte er durchaus an bereits ausgearbeitete Motive anschließen. Als erste Konsequenz wurde die Figur der Entgegensetzung im Zusammenhang des Begriffs des Lebens verortet. Als Natur existiert das Lebendige in einer Mannigfaltigkeit von Individuen, deren Selbstsein Entgegensetzung gegen andere Individuen und darin ebenso Verbindung mit ihnen impliziert. Das »All des Lebens« ist »getheilt«, und die lebendigen Indivi-

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duen sind als dessen verschiedene Teile seine »Aüsserungen«.10 Allerdings kommt diese Teilung nicht durch das Leben selbst zustande. Natur mitsamt ihrer Individuation ist für Hegel vielmehr ein »Sezzen des Lebens« durch »Reflexion« mit ihren »Begriffe[n] von Beziehung und Trennung«.11 Ebenso ist es die Reflexion, die die Individuen »als feste Punkte […] fixirt«.12 Auch deren Gesamtheit, die Natur als solche, soll »nicht selbst Leben« sein, sondern ein »von der Reflexion […] fixirtes Leben«.13 Schon damit wird die Reflexion komplexer als das Leben selbst. Um diesem Problem der Reflexion zu begegnen, stellt Hegel der Reflexion im Gegenüber zum Leben eine weitere mentale Operation zur Seite, die im Leben gehalten sein soll. Sie heißt »Vernunft« als »denkende[s] Leben«.14 Formal der Reflexion ähnelnd, allerdings mit gleichsam umgekehrtem Vorzeichen, »hebt« sie aus dem »unendlich sich entgegensezten […] das Lebendige« als solches heraus, fasst es als »alllebendiges […] Leben« und »nennt es Gott« in dem »nichts reflektirtes, todtes« sein soll.15 Zu diesem Gott, und das ist Hegels zweite Konsequenz gegenüber seinen früheren Versuchen, soll sich das beschränkte Leben dadurch erheben, dass es das Beschränkende der Reflexion verneint und abstreift. Hierfür steht zum einen eine Art negative Reflexionsdialektik eines Denkens, das »in allem Endlichen die Endlichkeit auf[zeigt]«.16 Zum anderen soll das »wahre Unendliche ausserhalb [des] […] Umkreises« der Reflexionsdialektik gesetzt werden.17 Hierfür stehe Religion. Sie sei eine Erhebung des beschränkten, endlichen Lebens zum unendlichen Leben, und zwar eine solche, für die das Aufhören des reflektierenden Denkens charakteristisch ist. Denn ihr Unendliches soll »nicht […] als ein Seyn durch Reflexion« gesetzt sein.18 Doch es ist faktisch nichts anderes: Sein Charakter ist der, eben für die Reflexion ein Sein außer der Reflexion zu sein.19 Das wird in der Systemskizze insofern verschleiert, als für die Rückführung

10 Hegel:

Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 14. Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 14. 12 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 14. 13 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 14–15. 14 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 15. 15 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 15. 16 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 17. 17 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 17. 18 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 17. 19  Vgl. Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 16–17. 11 Hegel:

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der durch Reflexion gesetzten Natur20 ins Leben ein denkendes Leben dadurch verantwortlich zeichnet, dass es sein Denken zum Aufhören bringt. Die Systemskizze gipfelt und endet mithin nicht in Denken oder Philosophie, sondern in Nichtdenken oder Religion. Sie soll einerseits zur Einheit mit dem – in weitestem Sinn: spinozistisch verstandenen – Leben führen, perpetuiert aber andererseits nur das trennende Reflexionsprinzip in negativer Umkehrung. Nur in naiven, wenig zerrissenen Völkern sei denn auch eine religiöse Einheit mit dem Leben möglich, ansonsten triumphiere eine »fürchterlich erhaben[e], aber nicht schön menschlich[e]« Religion.21 Und das Leben lässt sich auch nicht vor der Reflexion schützen: Es wird zu einer iterierenden »Verbindung« von »Verbindung und […] Nichtverbindung«.22 Hegel gelingt es in seiner Systemskizze nicht, den tragenden Grundbegriff des Lebens mit seiner Differenzierung zu Natur und Individuation durch Reflexion zusammenzudenken. Und so wenig er den Lebensbegriff mit der mentalen Operation der Reflexion verbinden kann, so wenig vermag er die unterscheidende und in der Unterscheidung von der Unterscheidung rückbezügliche Selbstanwendung der Reflexion in einen durchsichtigen Zusammenhang zu bringen. Dies gelingt ihm erst mit Ausarbeitung der spekulativen Denkform, die in eine neue Systemskizze eingebracht wird. Für beides liegen die gedanklichen Voraussetzungen allerdings bereit.

3. Selbstkonstruktion des Absoluten durch systematisch-spekulative Vernunft Bereits 1801, nach seinem Übergang nach Jena und dem erneuten Diskurs mit Schelling, präsentiert Hegel in der Differenzschrift ein Konzept spekulativer Vernunft, das es erlaubt, »das Absolute im Bewußtseyn zu konstruiren«.23 Schon daraus wird ersichtlich, dass der in der Erbschaft des vormaligen Lebensbegriffs stehende Begriff des Absoluten kein Losgelöstes meint. Es geht nicht um einen überweltlich-jenseitigen Gott. Das spinozistische Gepräge des vormaligen Lebens bleibt vielmehr bestehen. Bereits darum kann die Konstruktion des Absoluten im Be20  Man

wird vermuten dürfen, dass für die Sozialwelt, zu der die Darlegungen verschollen sind, Ähnliches gilt. 21 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 21. 22 Hegel: Systemfragment von 1800, Hegel-Studien, Beiheft 32, 16. 23 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 11.

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wusstsein kein einfacher Produktionsakt des Bewusstseins sein, von dem das Absolute als Gesetztes abhängig bliebe. Seine Konstruktion im Bewusstsein wird von Hegel daher ebenso als eine »Selbstkonstruktion des Absoluten« vorgestellt,24 bei der das Bewusstsein gleichsam eodem actu mitkonstruiert wird. Dies geschieht allerdings auf eine Weise, die in der Selbsttätigkeit des Bewusstseins als Erkennen und Handeln gegründet ist. Hegel ironisiert unverkennbar die gegenteilige Annahme, nach der sich das Absolute dem Bewusstsein so darbietet, dass es sich »der Passivität des Denkens, das nur den Mund aufzusperren braucht, ganz und gar zu genießen gibt«. Dieses Absolute müsste sich gleichsam bewusstseinsunabhängig »schon […] für sich selbst zu einem Wahren und Gewußten zubereite[n]«25 – ein für subjektivitätstheoretisches Denken unsinniger Gedanke. Die Bewusstseinstätigkeit der Vernunft ist also kein bloß passives Organ des Absoluten, sondern sie produziert in ihrem Vollzug das Absolute als ein – vermöge seiner Selbstkonstruktion – gerade Nicht-Produziertes. Diese durch Vernunft und Bewusstsein vermittelte Selbstkonstruktion des Absoluten lässt sich zum einen durch die innere Struktur des Bewusstseins hindurch verfolgen, zum anderen korrespondiert sie mit der Systemform, die das Bewusstsein in den Relationen zu seinen möglichen Gegenständen umfasst. Wie beide, Bewusstseinsstruktur und mögliche Gegenstandsrelationen, sich in ihrem Verhältnis zu dem darin sich konstruierenden Absoluten verhalten, wird schließlich zum Thema des Systemabschlusses. Im Blick auf die Bewusstseinsvollzüge ist die wichtigste Neuerung der Differenzschrift, dass das Moment der Differenz in der Reflexionstätigkeit mit dem Moment der Rückbezüglichkeit des Bewusstseins verbunden wird, so dass es in solchem Selbstbezug zu einer Differenz gegen die Differenz kommt. Diese rückbezügliche Selbstanwendung des Moments der Reflexionsdifferenz ist die basale Struktur der selbstbezüglichen Negation oder anders: der Negation der Negation als operativer Grundfigur. Im Blick auf das Absolute zeigt sich diese negationsdialektische Struktur, insofern die Vernunft das Absolute dadurch »producirt«, dass sie »das Bewußtseyn von den Beschränkungen befreyt«.26 Nunmehr wird die Vernunft gerade durch ihr Instrument – die Reflexion – fähig, »das Absolute zu fassen«,27 insofern die Reflexion

24 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 74. 25 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 85. 26 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 15. 27 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 16.

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»sich selbst zu ihrem Gegenstand macht«,28 sich in ihrer Differenz zum Absoluten durch ihr eigenes Prinzip der Negation aufhebt und damit selbst zur Vernunft wird. Kürzer: Sie »muß sich das Gesetz der Selbstzerstörung geben«,29 mithin das durch sie selbst Getrennte negieren, also durch eine Art Trennen des Trennens aufheben. Genau dadurch wird die Reflexion des Verstandes Vernunft, und die Vernunft wird zur Spekulation, indem sie das innere, logische Zugleich der beiden Negationsvollzüge fasst. Indem die Vernunft die »Endlichkeiten des Bewusstseins« durch deren innere Negation »[daran] wagt«, wird sie zu der mit dem Absoluten geeinten Spekulation.30 Die Überwindung der Endlichkeiten des Bewusstseins ist exakt jene besagte Konstruktion des Absoluten im Bewusstsein, und die beide Seiten dieses Vorgangs zusammenhaltende Vernunft »erhebt […] sich zur Spekulation, und hat in der Grundlosigkeit der Beschränkungen […] ihre eigene Begründung in sich selbst ergriffen.«31 Genau die Einsicht in diese Grundlosigkeit ist die Selbstbegründung des in spekulativer Vernunft gefassten Absoluten. Sie ist allerdings noch nicht die Gründung des Systems in einem selbsttragenden Ganzen. Denn es ist zwar gezeigt worden, wie die Reflexion beziehungsweise Differenz des Bewusstseins durch ebendiese in Selbstanwendung aufgehoben werden kann; und es ist gezeigt worden, dass dies ein in sich gründender, cum grano salis: autonomer, Prozess ist, der ebendarum mit dem Absoluten, in sich Gründenden zusammenstimmt. Doch das Bewusstsein und seine Reflexion treten gleichsam als etwas dem Absoluten Vorgegebenes auf – Entzweiung muss nach Hegel bereits da sein, damit das Bedürfnis nach Philosophie überhaupt entsteht –, und das Absolute zeigt sich im Vernunftgesetz der Selbstzerstörung durch Reflexion nur als Kraft der Verneinung gegenüber der ihrerseits die Einheit mit dem Absoluten verneinenden Bewusstseinsreflexion. Diese Kraft ist nach Hegel nur »die Kraft des negativen Absoluten«.32 Ohne Reflexionsdifferenz, ohne Endlichkeit des Bewusstseins wäre das Absolute ein vollkommen leerer Vollzug. Hegel wehrt diesem Problem der Abstraktion im Absoluten, indem er der Reflexion die Anschauung zur Seite stellt und beide in der Form 28 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 18.

29 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 18. 30 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 11. 31 Hegel:

Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4,

11–12. 32 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 17.

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eines transzendentalen Wissens verbindet. Die Anschauung als »positive Seite« des »Wissens« ist allerdings keine empirische,33 sie erhält durch ihre Verbindung mit der Reflexion die Fähigkeit zu »Synthesen Entgegengesetzter«.34 Dadurch befasse das transzendentale Wissen nicht nur Begriff, Bewusstsein und Intelligenz als Elemente der ideellen Welt, sondern ebenso Sein, Bewusstloses und Natur als Elemente der reellen Welt. Es wird zur »objektiven Totalität« und zur Sphäre der Notwendigkeit,35 die der Sphäre der Freiheit und des Subjektiven korrespondieren soll. Damit ist der Systemgedanke im Spiel. Er steht dafür, dass das Absolute »sich […] in der Erscheinung selbst setz[t]« und diese mithin nicht »vernichte[t]«, sondern »zur Identität konstruir[t]«.36 Im Hintergrund dieses Motivs steht das Denken Schellings, dem sich Hegel in der Differenzschrift ganz verpflichtet zeigt. Er verteidigt es gegen das Philosophieren nach Grundsätzen des frühen Fichte. Dieser komme nur zu einem subjektiven Subjekt-Objekt, so die von Schelling entlehnte Kunstsprache für Fichtes konsequenten Ausgang vom Ich, das sein Setzen durch die von ihm mitgesetzte und genetisierte Natur- und Sozialwelt selbst einzuholen sucht. Schelling hingegen, so Hegel, denke sowohl ein objektives als auch subjektives Subjekt-Objekt. Die reziproke Polarität von Natur und Sittlichkeit, von theoretischer und praktischer Philosophie manifestiere zwiefach eine ursprüngliche Identität des Absoluten und re-konstruiere dessen letztgültige In-Differenz. Die verwickelten Details dieser hoch filigranen Konzeption müssen hier auf sich beruhen bleiben. Doch aus Hegels Darstellung wird eine nicht unwichtige Akzentverschiebung gegenüber Schelling ersichtlich: nämlich ein Primat der subjektiven Seite in der Polarität. Sie sorgt für Spannungen im System. Zwar schließe das Absolute als »Indifferenzpunkt« beide in sich, gebäre beide und zugleich sich aus beiden.37 Doch die dazu beanspruchte Gleichursprünglichkeit von Identität und Differenz wird dadurch relativiert, dass »[d]ie Philosophie« dem »Trennen« sein »Recht« lässt, indem sie es mit der »Identität« gleich absolut setzt – womit beide zugleich bedingt sind.38 Dem entspricht, dass das »Absolute selbst« nach der berühmten Programm-

33 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 27. 34 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 27. 35 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 28. 36 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 32. 37 Hegel:

Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4,

74-75. 38 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 64.

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formel »die Identität der Identität und der Nichtidentität« ist; »Entgegensetzen und Einsseyn ist zugleich in ihm.«39 Diese Identität beziehungsweise ihr Ist sind jedoch von der Philosophie entliehen. Das Absolute bleibt auf die Logizität seines Bewusstseins bezogen. Die Spannungen im System zeigen sich auch in seinem Abschluss. Hegel expliziert über viele Stufen, wie sich das objektive und das subjektive Subjekt-Objekt umgekehrt entsprechen und wechselseitig aufschließen. Transzendental- und Naturphilosophie sollen sich als Totaltäten in Wechselbalancen halten. Doch die Aufhebung ihrer Differenz in die Indifferenz des Absoluten erfolgt dadurch, dass auf ihren Wissens- und Wissenschaftscharakter reflektiert wird. »Diese Ansicht« ist jedoch »nur negativ«, und es kommt nicht zum »absolute[n] Indifferenzpunkt«, in dem beide Formen »dadurch vernichtet sind, daß sie vereinigt beyde bestehen.«40 Die »ursprüngliche Identität« muss demgegenüber »beydes vereinigen in die Anschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Absoluten, – in die Anschauung der ewigen Menschwerdung Gottes, des Zeugens des Worts vom Anfang.«41 Diese Anschauung ist aber keine direkte Selbstanschauung des Absoluten. Sie erfolgt zum Beschluss des Systems – in gewisser Abgrenzung zu Schelling – durch die Polarität von Kunst und Spekulation als den letzte dialektische Komplexität umfassenden und reduzierenden Bewusstseins- und Wissensgestalten. Ihre Polarität soll den Systemabschluss darstellen. Das dritte Glied von Hegels späteren Systemabschlussfiguren, die Religion mit ihren innerlichen Glaubensgehalten, wird als unselbständiges Moment der Kunst zugeordnet. Dort geht sie ein in die kultische Figur eines von Kunst und Spekulation vollzogenen »Gottesdienst[es]«.42 Geradezu mystisch wird dieser als »lebendiges Anschauen des absoluten Lebens, und somit ein Einsseyn mit ihm« beschrieben.43 Trotz der grundsätzlichen Polarität von Kunst und Spekulation in diesem philosophischen Kultus überwiegt letztlich aber die Spekulation. Die Kunst steht für die Seite des Bewusstlosen und Seins in dieser Anschauung des Absoluten, die Spekulation für die des Bewusstseins und des Werdens. Die ausstehende Einheit von beidem wird jedoch asymmetrisch nur von Seiten der Spekulation vollzogen, indem diese das »Übergewicht, welches das Bewußtseyn in ihr 39 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 64. 40 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 75. 41 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 75. 42 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 76. 43 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 76.

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hat, selbst zu nehmen« weiß.44 Dies erfolgt allerdings höchst indirekt, nämlich dadurch, dass Werden und Sein, Freiheit und Natur »als das ursprüngliche absolute Sein« gesetzt, genauer: vorausgesetzt werden – ein Sein, das »nur werden kann, insofern es ist«.45 Doch dieses ursprüngliche absolute Sein steht der Spekulation nicht mehr selbst zur Verfügung. Sie erkennt sich als eine Seite des Absoluten, die zwar als Transzendentalphilosophie auch das Wissen der Natur befasst, doch eben nicht die Natur als Natur. Und sie hat das Absolute darin, dass sie um ihre innere »Gränze« weiß, ihr »Unvermögen« erkennend, »sich durch sich selbst […] aufzuheben«.46 In diesem Wissen ist, cum grano salis, ein kritizistisches Motiv aufbewahrt. Hegel bestärkt dies noch, wenn er abschließend die intellektuelle Anschauung des Absoluten in der Duplizität einer subjektiven und einer objektiven transzendentalen Anschauung auftreten lässt und damit nicht nur eine rhetorische Hommage an Schelling, sondern nun eben auch an Fichte verbindet. Beide Anschauungen stehen antinomisch zueinander und werden doch eodem actu im Absoluten gesetzt. Dies kann nur durch spekulative, Reflexion der Reflexion umfassende Vernunft geschehen. Doch solche Vernunft bleibt selbst antinomisch. Denn sie erachtet die Vereinigung der Glieder der Antinomie als Wahrheit und steht damit im Gegensatz zur einfachen Reflexion, die in der Antinomie nur Widerspruch erblickt. Und doch ist in dieser »Wahrheit« als »absolute[m] Widerspruche« nur »beydes gesetzt und beydes vernichtet«, es sind »weder beyde, und beyde zugleich«.47 Damit erweist der Abschluss der Systemskizze, dass das System eben nicht abschließbar ist. Gerade wenn das Absolute und das Bewusstsein spekulativ zusammengedacht werden, zeigt sich deren Differenz. Sie kann sowohl auf Seiten des Absoluten thematisiert werden, als auch auf Seiten des Bewusstseins. Letzteres ist dann der Fall, wenn das Bewusstsein das Absolute in den Formen des Bedingten und im Wissen um seine Beschränkungen expliziert. Hierfür ist das Absolute der innere Möglichkeitsgrund. Indem es in solcher Tätigkeit des Bewusstseins für den Zusammenhalt von Absolutem und Explikation unter den Bedingungen des Bedingten steht, kommt es selbst seiner Selbstidentität gegenüber in Differenz.

44 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 76. 45 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 76. 46 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 76. 47 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, GW 4, 77.

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4. Systembewegung durch konstruktive Spannungen Hegels Systemkonzept von 1801 weist konstruktive Spannungen auf. In die folgenden Jenaer Jahre fielen daher Bemühungen um dessen Umbau, die geradezu auf eine Neukonzeption hinauslaufen. Sie gelangten in dieser Zeit jedoch zu keinem Ergebnis, das in Hegels Augen publikationswürdig gewesen wäre. Veröffentlicht wurden stattdessen eine Reihe kritischer Schriften, in denen Hegel mit zunehmender Virtuosität das methodische Arsenal der negativen Reflexionsdialektik auf verschiedenste systematische Positionen anwandte. Es geht darin um immanente Kritik der Beschränkung und Bedingtheit des jeweils maßgeblichen Standpunktes. Implizite Voraussetzung ist dabei die »Idee der Philosophie«, die es erlaube, mit der Einsicht in das Bedingte zugleich das untergründige Verhältnis zum Absoluten zu exponieren.48 Die Explikation des Absoluten in der Systemform gelang Hegel in jener Zeit jedoch nicht. Die erste Gestalt des Systems ist bekanntlich erst in der Heidelberger Zeit 1817 erschienen. Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, also die wiederum in ihren späteren Auflagen veränderte Gestalt des reifen Systems, schloss aber nicht an das große Werk zum Ende der Jenaer Zeit an: die als Erster Teil des Systems der Wissenschaft publizierte Phänomenologie des Geistes. Dieses System ist ein Torso geblieben, weitere Teile erschienen nicht, und das spätere und publizierte System platziert die als Phänomenologie bezeichneten Themenbestände explizit im dritten Teil des Systems, der Philosophie des Geistes. 1807 hingegen sollte die Phänomenologie eine einleitende Hinführung des Bewusstseins zum spekulativen Systemstandpunkt bieten, nicht aber das System in seiner Systemgestalt – obwohl die Phänomenologie von 1807 breite Materialien der systematischen Natur-, Sozial- und Geistphilosophie verarbeitet und präsentiert hat. Die Methode der Phänomenologie bestand über weite Strecken in der immanenten Kritik des Bewusstseins. Darin beanspruchte sie zugleich, das Absolute in seiner Erscheinung zu präsentieren – jedenfalls an sich oder für uns, die philosophisch eingeweihten Leser. Mit dieser systematischen Konstellation von Kritik und Konstruktion, von Bewusstsein und Absolutem sind Differenzen zu den Systemanforderungen von 1801 verbunden. Eine weitere markante Differenz kommt hinzu. Der Begriff des Absoluten wird nicht mehr als Identität, 48 Hegel:

Kritisches Journal der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968, GW 4, 113–505, hier: 117.

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die freilich mit Nichtidentität korrespondiert, beschrieben, auch nicht in reduktiver Vorgehensweise als Indifferenz, die produktiv durch UrTeilung zwei Subjekt-Objekte aus sich heraussetzt. Schellingsche und gewissermaßen auch hölderlinsche Inspirationen treten zurück. Das Absolute wird von Hegel als Geist verstanden.49 Sein Fürsichsein besteht darin, für den Geist zu sein, mithin im Anderen seiner selbst und damit durch dieses Andere als Selbsterkennen im Anderssein mental vollzogen zu werden. Dieser mentale Vollzug ist gemäß der Verfassung des Bewusstseins nicht ohne Gegenständlichkeit. Darum erscheint das Absolute in der Dialektik des Bewusstseins und seiner Gegenstände. Die darin enthaltenen theoretischen oder naturphilosophischen Figuren werden jedoch in eine praktische oder sozialphilosophische Kons­ tellation aufgehoben und von dieser überboten. Die Sittlichkeit wird zum Element des Geistes. Und die Subjektivität des Bewusstseins in ihrem asymmetrischen Verhältnis zu seinen Gegenständen wird in Intersubjektivität überführt, die grundsätzlich zu symmetrischen Relationen tendiert – unbeschadet einer Fülle permanent neu aufbrechender Asymmetrien, je nach Grad und Form der in sittliche Verhältnisse eingehenden Naturalität. Geschichtliche Macht- und Herrschaftsgefüge, die Verhältnisse der Geschlechter und Generationen, Herstellung und Austausch von Sachen, politische Ordnungen unterschiedlicher Inte­ ressen etwa lassen sich hier nennen. Diese neue Auszeichnung des Geistes als Einheit von Unendlichem und Endlichem, von Absolutem und Bewusstsein in mannigfachen Wechselrelationen von Selbst- und Anderssein suchte Hegel in seinen Bemühungen um eine eigene Systemkonzeption in der Jenaer Zeit zu entwickeln. Die Systemkonzepte wurden im Zusammenhang der ­Jenaer Lehrtätigkeit entworfen und sind Fragmente geblieben. Die frühen, um 1802/03 entstandenen Fragmente zu einem System der spekulativen Philosophie beinhalten vor allem die Naturphilosophie und münden in Bemerkungen zum Geist als Gipfel und Wendepunkt der Natur.50 Das Manuskript Logik, Metaphysik, Naturphilosophie von 180451 beginnt wie das reife System mit einer Logik, in der die kategorialen Strukturen des Wissens wenigstens rudimentär als solche dargestellt werden. Die 49  Vgl.

Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22. Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe I. Hrsg. v. Klaus Düsing/Heinz Kimmerle. Düsseldorf 1975, GW 6. 51  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe II. Logik, Metaphysik, Naturphilosophie. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann/Johann Heinrich Trede. Bonn-Bad Godesberg 1971, GW 7. 50  Vgl. Georg Wilhelm

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sich anschließende Metaphysik beinhaltet Erkennen, Objektivität – zu der gemäß den Kantischen Ideen die Seele, die Welt und das höchste Wesen zählen –, und unter dem Titel Subjektivität Grundelemente der Ich-, Bewusstseins- und Geistphilosophie. Spinozas Konzept des in selbstbezüglicher Selbsterhaltung stehenden Absoluten, Leibniz’ Monadologie und die jüngsten subjekttheoretischen Entwürfe werden von Hegel in zum Teil änigmatischen Formeln verarbeitet. Die auf Reflexion der Reflexion fußende Struktur des Geistes wird zunehmend erkennbar. Allerdings ist auch im Kapitel zum absoluten Geist das Absolute nicht, wie in der Phänomenologie von 1807, der Geist. Vielmehr ist 1804 umgekehrt noch »[d]er Geist […] das Absolute«.52 Nach der Logik des spekulativen Satzes bestimmt in dieser Formulierung das prädikative Absolute den Geist, nicht aber, wie später, der Geist das Absolute. Und der Geist ist auch kein Absolutes für ihn selbst; er erkennt sich nicht als absoluter Geist. Das dürfte wohl der Grund sein, dass das Manuskript von 1804 an die Philosophie des absoluten Geistes die Naturphilosophie anschließt und das System mit dieser enden lässt. Die Manuskripte zur Naturphilosophie und Philosophie des Geistes von 1805/06 beinhalten demgegenüber die Natur- und die Geistphilosophie.53 Letztere umfasst als Begriff des Geistes die Struktur der Subjektivität als Intelligenz und Willen; als wirklicher Geist kommen die Sozial- und Rechtsverhältnisse von Anerkennung, Vertrag, Verbrechen und Gesetz zur Sprache; und unter »Konstitution« werden Grundelemente einer ständischen Staatstheorie expliziert, an die sich die Komponenten des späteren Systemabschlusses im absoluten Geist: Kunst, Religion und Wissenschaft, anschließen. In diesem Schlussteil der Konstitution bringt der Geist eine »Welt hervor […], welche die Gestalt seiner selbst hat«.54 Das ist die Grundstruktur des absoluten Geistes, der hier noch im objektiven verortet worden ist. Die vom Geist hervorgebrachte Welt in Geistesgestalt wird auch als »Anschauung seiner als seiner« apostrophiert.55 Hierein transformiert Hegel die intellektuelle Anschauung des Systemabschlusses von 1801. Wenngleich Anschauung in engerem Sinn sodann der Kunst zukommt, ist 1805/06 die Struktur der Selbstanschauung des Geistes in seiner absoluten Gestalt für alle drei Elemente maßgeblich, also auch für die Religion als in die Vorstellung erinnerte 52 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II, GW 7, 177. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann. Düsseldorf 1976, GW 8. 54 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 277. 55 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 277. 53 Vgl.

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und kultisch universalisierte Menschwerdung Gottes zum Geist und schließlich für die Wissenschaft, die hier allerdings nicht die spekulative Philosophie des Begriffs beinhaltet, sondern die Weltgeschichte. Damit ist eine Differenz gegenüber dem Konzept des absoluten Geistes der zeitnah entstandenen Phänomenologie markiert, die das »Selbstbewußtseyn des Geistes« in den Formen der Religion, der der Religion subsumierten Kunst und der des absoluten Wissens artikuliert.56 Eine Differenz zeigt sich auch zwischen dem Entwurf von 1805/06 und dem späteren System. Es entspricht in der Abfolge der Gestalten des absoluten Geistes dem früheren Jenaer Entwurf, gliedert sie allerdings aus dem objektiven Geist aus. Dieser konzeptionelle Unterschied verweist auch auf ein systematisches Problem des späteren Hegel: nämlich die gehaltliche Leere der systembeschließenden reinphilosophischen Philosophie, die tatsächlich nur eine methodische Rekapitulation der zuvor in bewusstseinsoder geistphilosophischer Dialektik explizierten Gehalte umfasst. Darin folgt die Philosophie zwar dem Prinzip der reflexiven Selbstdurchdringung der Relationalität aller Verhältnisse, die durch Differenzen und Gegensätze bestimmt sind. Aber dafür ist der Preis zu zahlen, dass in der höchsten und letzten Explikationsgestalt des Geistes die Differenz des Andersseins abblasst. Denn obwohl der Geist stets für den Geist sein soll, mithin sein Selbstsein im Anderssein und vice versa gewinnt, fällt paradoxerweise in der letzten, dem Geist vollkommen entsprechenden Gestalt tendenziell diejenige Differenz fort, an der der Unterschied des Anderen hängt. Will man die systematischen Konsequenzen aus den werkgenetischen Problemen ziehen und dies mit einem Vorschlag zur Aneignung von Hegels Systemdenken verbinden, so spricht viel dafür, das System als Phänomenologie zu explizieren – und den Geist in den dialektischen Verhältnissen des Bewusstseins, der Sittlichkeit sowie der inneren Reflexivität von deren kultureller Symbolisierung. Der absolute Geist wird in seinem Erscheinen in den Gestalten von Subjektivität, Sozialität und Symboldarstellung thematisch. Doch zu einem selbsttragenden Ganzen kann eine solcherart umgekehrt-spekulative Phänomenologie schon angesichts ihres Ausgangspunktes nicht werden. Sie bedarf der reformulierenden Einholung im System. Es muss nur offen sein, in seinen zentralen Übergängen wie in seinem Abschluss. Die Spannungen, die sich auch im System des reifen Hegel finden, erlauben 56 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 363.

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eine solcherart auf Öffnung abstellende Aneignung. Denn das systematische Fundament einer solchen Aneignung liegt in der »höchste[n] Definition« des Absoluten aus der Geistphilosophie des Systems: »Das Absolute ist der Geist«.57

57  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). III. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen/Hans Christian Lucas. Düsseldorf 1989, GW 8, 285–416, hier: 290. – Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 22.

Holger Gutschmidt ›Ich‹ als Prinzip der Philosophie. Zu einem Entwicklungsschritt in Hegels Jenaer System-Denken 1. Dass Hegels philosophische Entwicklung während seiner Tätigkeit an der Jenaer Universität vor allem mit der Erarbeitung und der Ausarbeitung einer Konzeption ›metaphysischer‹ oder ›absoluter‹ Subjektivität verbunden sei,1 gilt mittlerweile als Allgemeingut der Hegel-Interpretation.2 Hegel habe, so heißt es zum Beispiel in einer einflussreichen Handbuch-Darstellung,3 in seinem letzten Jenaer Systementwurf die Natur des Geistes als denkende Selbstbeziehung bestimmt und dadurch »den Begriff des Geistes allererst vollendet«. Andere Autoren weisen darauf hin, dass Hegel damit zugleich die Substanzmetaphysik, die teilweise noch seine Arbeiten der frühen Jenaer Phase kennzeichnet, überwunden habe.4 Vergleichbare Stellungnahmen finden wir auch in den grundlegenden Arbeiten anderer Interpreten.5 Sehr viel seltener hingegen finden wir in diesen Kommentierungen eine präzise Angabe der Bedeutung solcher Ausdrücke wie ›Subjektivität‹ und ›Geist‹, die es 1  Vgl. Klaus

Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 21984, 189 ff.; Henry Stilton Harris: Hegel’s Development II. Night Thoughts (1801–1806). Oxford 1983, 467 ff.; Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Bonn 21982, 129 ff. und 278 ff. Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2003, 172– 173. 2  Im Gegensatz etwa zu Karl Rosenkranz, welcher in seiner Hegel-Biographie schreibt (Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Berlin 1844, Nachdruck Darmstadt 1977, 112): »Es ist leicht zu bemerken, daß Hegel damals in seine Darstellung noch überall das phänomenologische Element, das Verhältnis des erkennenden Bewußtseins zu seinem Erkennen, einmischte. Bald hier, bald da erinnert er daran, den Begriff des Ansich von der Bestimmtheit seines Erscheinens für das Erkennen zu unterscheiden. Späterhin, nachdem er am Ausgang der Jenenser Periode durch die selbstständige Bearbeitung der Phänomenologie diesen Fichteanismus ganz überwunden, konnte er die Momente des Systems ohne solche Rücksicht auf den subjectiven Proceß des Erkennens in objectiv freier Gliederung hinstellen.« (Hvh. v. Rosenkranz). 3 Jaeschke: Hegel-Handbuch, 172–173. 4  Vgl. beispielhaft Klaus Düsing: Von der Substanzmetaphysik zur Philosophie der Subjektivität. Zum Paradigmenwechsel Hegels in Jena, in: Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Hrsg. v. Heinz Kimmerle. Berlin 2004, 185–200. Ferner Brady Bowman: Ist Hegels frühe Logik eine »Geschichte des Selbstbewußtseins«?, in: Geschichtlichkeit der Vernunft beim Jenaer Hegel. Hrsg. v. Ralf Beuthan. Heidelberg 2006, 85 ff. 5  Siehe Anmerkung 1.

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uns erlaubte, den jeweiligen Charakter dessen zu verstehen, das da ›absolut‹ oder ›metaphysisch‹ bestimmt sein soll.6 Wesentliche Elemente dieser Bedeutungen bleiben in den genannten Arbeiten vielmehr implizit. Jedoch enthebt selbst die Erörterung einer ›absoluten Subjektivität‹ nicht von der Aufgabe der subjektivitätstheoretischen Einordnung des Gegenstandes dieser Erörterung, wenn anders die in ihr verwendeten Ausdrücke wie ›Subjekt‹, ›Selbstbeziehung‹, ›Selbstbewusstsein‹ oder gar ›Ich‹ verständlich sein sollen. Versuchen wir also uns zu diesem Zweck zuerst über die wichtigsten Funktionen des Sprechens über ›Subjektivität‹ zu verständigen, bevor wir uns an die Diskussion von Hegels Jenaer Subjektivitätsgedanken begeben.

2. Über Subjektivität beziehungsweise über die Eigenschaft, ›Subjekt‹ zu sein, lässt auf vielfältige Weise sich sprechen. 1) Für die Praxis hat die Angabe, ›Subjekt‹ zu sein, den Sinn, den Urheber von Handlungen nach selbstbestimmten Handlungsgrundsätzen zu bezeichnen. Immanuel Kant hat dies mit der überaus treffenden Formel der ›Kausalität aus Freiheit‹ angesprochen, wenngleich der Ausdruck in Kants Argumentationskontext noch spezifischer die Eigenschaft des Handelns aus sittlichen Grundsätzen bedeutet. Mit der Eigenschaft, ›Subjekt‹ zu sein, sind somit zumindest die beiden weiteren Eigenschaften, die der Freiheit (Selbstbestimmtheit) und diejenige, ›Ursache‹ zu sein, verbunden. Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte waren es darüber hinaus, die das Augenmerk darauf gelegt haben, dass auch der Begriff des Erkenntnissubjektes eine praktische Dimension aufweist. Kants Beitrag hierzu liegt in seiner Auffassung von Erkennen und Wissen als Vollzug von Urteilshandlungen und in seinem Verständnis von Urteilsformen oder -typen als Funktionen eines solchen Handelns;7 und Fichte bestimmt, vor allem in seinen frühen Texten, das Erkenntnissubjekt als Ursprung ›idealer Tätigkeit‹ (beziehungsweise als Ursprung des ›Setzens‹) und unterscheidet praktisches und theo6  Eine

Ausnahme ist zum Beispiel der Text von Christof Schalhorn: Hegels Jenaer Begriff des Selbstbewusstseins (1801–1805/06), in: Eigenbedeutung. Hrsg. v. Kimmerle, 165–184. 7  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Transzendentale Analytik, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin/Leipzig 1902–1923. Abt. I (Werke), Bd. 3 (B-Auflage), 132 ff., § 20.

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retisches Subjekt nur durch die Richtung ihrer Aktivität.8 Beide Autoren weisen uns also auf den Sachverhalt hin, dass Erkenntnis, Wahrnehmung, Glaube und so weiter Resultate und Formen des Handelns sind oder, wie wir heute vielleicht sagen würden, dass das Bewusstsein durch intentionale Akte von solcher Art konstituiert wird. Somit ist aber auch für das Subjekt von Erkenntnis, Wahrnehmung oder Glaube auszusagen, dass es prinzipiell Ursache von etwas und dass es prinzipiell frei beziehungsweise selbstbestimmt ist. 2) Nun ist Bewusstsein nicht nur durch wahrheitswertdefinite Formen des Erkennens oder Urteilens bestimmt. Es ist ebenso durch volitive oder emotive Aspekte, durch Stimmungen oder durch noch primitivere Zustände charakterisiert. Für alle diese Akte und Zustände können wir sagen, dass sie solche sind, die von jemandem oder von etwas ausgehen, das heißt von Subjekten solcher Akte und Zustände. Allerdings ist der Ausdruck ›Subjekt‹ hier auch zwiespältig. Dass wir von den genannten Akten und Zuständen pauschal sagen können, sie seien Akte eines Subjektes, hat den bestimmten Sinn, nicht bloß zu sagen, dass sie Akte und Zustände von jemandem oder von etwas, sondern auch, dass sie Akte und Zustände für jemanden oder für etwas sind. Die Grundeigenschaft des Bewusstseins ist es – in einem weiten Sinne gesagt – zu repräsentieren. Noch in seinen diffusesten Stimmungen teilt sich etwas mit. Schwieriger ist es aber schon damit bestellt zu sagen, dass das Bewusstsein in allen seinen Zuständen auch immer Urheber einer Aktivität sei. Fichte konnte noch das bloße ›Selbstgefühl‹ als den Zustand einer gehemmten Tätigkeit interpretieren. Und man geht sicher nicht fehl, wenn man, wie etwa Descartes und Leibniz, davon ausgeht, dass ›Aktivität‹ (scilicet die Aktivität des Repräsentierens) zu den kennzeichnenden Eigenschaften jeden Bewusstseins gehört. Somit lässt sich wenigstens die Vermutung aussprechen, dass auch noch das primitivste Bewusstsein von etwas in irgendeiner Hinsicht HandlungsSubjekt ist. – Jedoch rührt die genannte Zwiespältigkeit noch von einer anderen Frage her. Ist jedes Bewusstsein auch Bezugspunkt einer Selbstzuschreibung dessen, was für es, das heißt Inhalt oder Gegenstand seines Repräsentierens ist? Kann es also in einer und sei es auch noch so schlichten Weise seiner selbst immer als dies oder jenes repräsentierend bewusst sein beziehungsweise sich darin selber repräsentieren? An diese Frage schließen sich manche anderen an, nicht nur die, ob es 8  Vgl.

hierzu insbesondere Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo.

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möglich ist, einen faktischen Unterschied zwischen bloßem Bewusstsein ›von etwas‹ und Selbstbewusstsein zu behaupten (und nicht bloß einen begrifflichen), sondern auch die, ob es sinnvoll ist, zwischen bloßem Selbstbewusstsein und wissender Selbstbeziehung, das heißt einem Akt der Selbstidentifikation, zu unterscheiden,9 oder ob es nicht sogar besser wäre, nur zwischen dispositionellem und aktuellem Wissen von sich zu unterscheiden. Diese und andere Fragen, die in den engeren Kontext einer Subjektivitätstheorie gehören, weisen aber unisono darauf hin, dass mit dem Ausdruck ›Subjekt‹ nicht nur der Urheber von Akten und nicht nur der Bereich oder gar der Adressat mentaler Repräsentationen bezeichnet werden kann, sondern auch und vor allem dasjenige, das sich solche Akte und solche Repräsentationen als die seinen zuschreibt beziehungsweise zuschreiben kann. Subjekt ist somit dasjenige, das sich in einer spezifischen Selbstbeziehung befindet. 3) Der vage Ausdruck ›spezifische Selbstbeziehung‹ ist mit Bedacht gewählt. Ob im Falle einer bloßen Selbstzuschreibung auch bereits Selbstbewusstsein vorliegt, das heißt ob im Falle eines Bewusstseins von Akten und Zuständen als den seinen ein Subjekt sich selbst auch als etwas repräsentiert, ist damit noch nicht gesagt. Für Immanuel Kant war die Vorstellung ›Ich denke‹, die die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins repräsentiert, bekanntlich eine »einfache« Vorstellung, ohne irgendeinen deskriptiven Gehalt,10 und die Beschreibung, unter der sich der Mensch als dieser oder jener versteht, inwiefern er diese oder jene Vorstellungen die ›seinen‹ nennt, auch bloß ein zuschreibungsbedürftiger Inhalt von Vorstellungen (das ›empirische‹ Ich oder Selbst). Für Selbstbewusstsein ist hingegen die als-Struktur kennzeichnend, das heißt ich bin mir meiner unter einer (qualitativen) Beschreibung, mithin als etwas bewusst. – Doch auch hiervon lässt sich noch eine höhere Stufe der Subjektivität abgrenzen. Denn nicht alles, als dessen ich mir meiner bewusst bin, bin ich auch wirklich. Descartes hat darauf hingewiesen, dass ich mir meiner nicht isoliert, sozusagen als ›bloßes Ich‹ bewusst bin, sondern auch einer Fülle weiterer mentaler Sachverhalte, etwa derjenigen Akte, die ich gerade vollziehe, wenn ich mir meiner bewusst bin (zum Beispiel dass ich gerade an etwas denke, 9 Vgl.

Dieter Henrich: Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I. Hrsg. v. Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Rainer Wiehl. Tübingen 1970, 278–279. Vgl. Henrichs selbstkritische Stellungnahme zu seinem Ansatz in dem späteren Text Selbstbewußtsein und spekulatives Denken, in: ders.: Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt/M. 1982, 145 ff. 10  Vgl. dazu Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132 ff., § 16.

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mich etwas frage, etwas will und so weiter).11 Diese sind unstrittig. Ich täusche mich darin so wenig, wie ich mich darin täuschen kann, Zahnschmerzen zu haben, wenn ich welche habe. Strittig kann es aber sein, dass ich eine bestimmte Person bin, an einem bestimmten Ort mich befinde, ein bestimmtes Alter habe und so weiter. Für solche Fragen reicht es nicht aus, ein bloßes ›Bewusstsein‹ von mir zu besitzen; erfordert ist, dass ich ein Wissen, eine wahre und begründete Überzeugung darüber habe, wer ich bin, wo ich bin, welche raumzeitlichen Eigenschaften ich mir zuschreibe und welche nicht und so weiter. Ein solches begründetes Wissen, das wir von uns haben, können wir ›Selbst-Erkenntnis‹ nennen. Die Selbst-Erkenntnis zeichnet nicht die Selbstzuschreibung, sondern die Rechtfertigung der Selbstzuschreibung aus. Sie ist, im Gegensatz zu Selbstzuschreibung und Selbstbewusstsein, graduierbar. Sie kann daher auch vollständig oder, in einer spezifischen Bedeutung des Wortes, ›absolut‹ sein. 4) Alle die genannten Verwendungsweisen der Ausdrücke ›Subjekt‹ beziehungsweise ›Subjektivität‹ kulminieren schließlich in dem Bedeutungsgehalt des Ausdrucks ›ich‹. Dasjenige oder besser denjenigen, der kompetent von sich ›ich‹ zu sagen vermag, verstehen wir zum einen als den möglichen Urheber autonomen Handelns. Ferner verstehen wir darunter denjenigen, der sich dieses Handeln zuschreibt oder, wenn wir es im Zusammenhang mit praktischen Normen betrachten, der sich Handlungen und die damit verbundene Verantwortung zurechnet. Die Prozesse der Kommunikation und der Interaktion mit solchen, die kompetent von sich ›ich‹ zu sagen vermögen, schließen für gewöhnlich auch ein, dass es sich dabei um Personen handelt, das heißt um Gegenstände im Raum und in der Zeit. Personen aber beziehen sich auf sich unter einer qualitativen Beschreibung. Entsprechend der hier gewählten Terminologie sind sie sich ihrer damit auch als Personen bewusst. Dieses Selbstbewusstsein kann, wie bereits bemerkt, mit richtigen Aussagen über denjenigen oder dasjenige, als dessen sich das Subjekt des Selbstbewusstseins bewusst ist, verbunden sein – oder auch mit falschen. Das Bedürfnis nach einer Entscheidung hierüber führt das Subjekt schließlich zur Selbsterkenntnis, welche zwar nicht Gegenstand einer notwendigen Forderung ist (denn sie folgt nicht aus dem Begriff ›Subjektivität‹ oder ›Subjektsein‹), wohl aber einer pragmatischen und

11 Vgl.

René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Meditatio II, in: ders.: ­Œuvres de Descartes. Hrsg. v. Charles Adam/Paul Tannery. Paris 1897–1913. Bd. 7, 28.

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vielleicht auch einer moralischen Forderung, welche an ein solches, sich auf sich mit ›ich‹ beziehendes Subjekt ergeht. Zu allen diesen Merkmalen tritt jedoch noch mindestens eines hinzu, das durch die bisher genannten nicht vorausgesetzt wird, das aber mit dem Hinweis auf seine Anwendung auf menschliche Subjekte bereits erwähnt wurde. Demjenigen, der sich auf sich mit dem Ausdruck ›ich‹ bezieht, unterstellen wir, wie gesagt, dass er ein Wirkliches ist, das heißt in Raum und Zeit existiert und dort identifiziert werden kann. Darunter ist nicht die Notwendigkeit des Merkmals (›ein raum-zeitliches Ding zu sein‹ oder Ähnliches) zu verstehen, sondern nur, auf welche Weise wir den Ausdruck normalsprachlich verwenden. In der idealistischen Terminologie hat sich der Ausdruck ›Ich‹ auch in einer anderen Verwendungsweise, als Synonym für das transzendentale Subjekt, eingebürgert (das, was manche unter dem ›großen‹ Ich verstehen). Doch in der normalsprachlichen Verwendung ist ›ich‹ (das ›kleine‹ Ich) immer ein deiktischer oder indexikalischer Ausdruck, der angibt, dass es sich bei demjenigen, auf den er sich bezieht, zumindest auch um eine Person handelt. – Und damit sind schließlich weitere Verwendungsaspekte verbunden, die hier nur noch genannt seien: Mit dem ›kleinen‹ Ich bezieht sich der kompetente Sprecher nicht auf einen ›type‹ von Subjektivität, sondern auf ein ›token‹, das heißt auf eine Instanz von Subjektivität. Diese ist wiederum eng verbunden mit einem raum-zeitlichen Gegenstand und dadurch auch mit dessen kontingenter Existenzweise. Und schließlich verstehen wir unter dem Bezugsgegenstand des Ausdrucks ›ich‹ nicht nur einen einzelnen Fall von Subjektsein, sondern auch einen individuellen Fall von Subjektsein, das heißt einer untersten Art, ›infima species‹, von Subjektivität. Die voranstehenden Überlegungen erlauben es uns nun, präziser anzugeben, von welcher Art des Subjektseins Hegel in seinen Jenaer Systementwürfen und insbesondere in dem letzten dieser Entwürfe handelt, von dem, wie eingangs bereits erwähnt, gesagt wird, Hegel habe hier den Begriff des Geistes und seiner denkenden Selbstbeziehung »vollendet«.

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3. Hegel hat schon in der Differenzschrift die Forderung aufgestellt, die Philosophie als Selbsterkenntnis der Vernunft oder des »Absoluten« zu verstehen.12 Dass damit nicht nur eine bestimmte Beschreibung verbunden ist, sondern auch Akte der Identifikation, zeigt Hegels Bemerkung, dass das Absolute sich »in der Erscheinung selbst setzen« müsse,13 wenn es sich vollständig, das heißt »spekulativ«, verstehen soll. Doch steht diese Bemerkung unter zwei Einschränkungen. Zum einen ist mit der Identifikation nicht eine bloße Gleichsetzung gemeint (was aber der Ausdruck »Erscheinung« suggerieren könnte): das, was sich in der Erscheinung »selbst setzt«, und die Erscheinung selber figurieren nicht einfach unter synonymen Beschreibungen, sondern sie repräsentieren verschiedene Merkmalskomplexe, so dass ihre Identifikation zu einer neuen Bedeutung führen muss. – Zum zweiten verbindet Hegel die Thematik der Selbsterkenntnis des Absoluten oder der ›Vernunft‹ in dem, was von ihm beziehungsweise ihr unterschieden ist, mit dem epis­ temologischen Vokabular der Erkenntnisbeziehung von Subjekt und Objekt aus der Transzendentalphilosophie. Es ist insbesondere diese Verbindung und nicht schon der beinahe synonyme Gebrauch der Ausdrücke ›das Absolute‹ und ›die Vernunft‹, der auf eine subjektivitätstheoretische Problematik im engeren Sinne schließen lässt. Während Hegel das Sich-Selbst-Setzen des Absoluten in seiner Erscheinung mit der Beschreibung einer ›Konstruktion‹ und Ableitung verbindet, die vermittelst spezifischer Operationen zu einer systematischen Ordnung und Verbindung stetig komplexer werdender Konstruktionsresultate führt und das heißt zu einer Theorie des Absoluten (»philosophisches System«),14 scheint er mit der transzendentalphilosophischen These der Konstitution von Objektbeziehungen durch die generellen Züge von vernünftigen Erkenntnis- und Handlungssubjekten das Feld einer Theorie der Subjektivität, wie wir es oben skizziert haben, zu betreten. Doch im Gegensatz zum Theorieprogramm einer ›Selbsterkenntnis‹ des Absoluten, das zumindest in einigen Grundzügen erkennbar wird, äußert

12  Vgl.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 1–92, hier: 74, vgl. 10, 22, 30. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 13 Hegel: Differenzschrift, GW 4, 32, vgl. auch 46. 14  Vgl. v.a. die Theorieskizze in: Hegel: Differenzschrift, GW 4, 30–31.

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sich Hegel hier überhaupt nicht zu den Funktionen von Subjektivität oder den Faktoren, die die von ihm eingeforderte Subjekt-Objekt-Identität ins Werk setzen sollen. Vielmehr erörtert er in der Differenzschrift sowie in den zeitlich darauf folgenden Texten des Kritischen Journals vor allem den Abstand der Beschreibungen der Erkenntnisleistungen der Vernunft und des transzendentalen Erkenntnissubjektes, wie sie in anderen philosophischen Ansätzen vorgetragen werden, von dem, was er selber für eine adäquate Beschreibung des Absoluten und seiner Selbstbeziehung ansieht. Damit verhandelt Hegel in allen diesen Texten durchwegs das gleiche Projekt: die Konzeption einer Theorie der Selbsterkenntnis des Absoluten. Doch wie wir gesehen haben, ist Selbsterkenntnis kein notwendiges Merkmal von Subjektivität. Sie ist darüber hinaus noch nicht einmal ein exklusives Merkmal von Subjektivität: Untersucht etwa eine Gesellschaft die soziale Lage ihrer Bürger oder ein Unternehmen das Maß an Korruption, das sich in seinen Abteilungen ausgebreitet hat, so führen diese Untersuchungen durchaus zu einer verbesserten Selbsterkenntnis dieser Gesellschaft oder jenes Unternehmens, machen sie damit aber noch nicht zu Subjekten. Noch im sogenannten System der Sittlichkeit, das eine frühe Arbeit Hegels zur praktischen Philosophie darstellt, geht es um die Selbsterkenntnis des Absoluten. Wenn Hegel eingangs dieses Textes (der mittlerweile auf den Herbst 1802 datiert wird und auf jeden Fall vor den überlieferten Systementwürfen abgefasst worden ist)15 davon spricht, dass die »Idee der absoluten Sittlichkeit« nur auf die Weise erkannt werden könne, dass die »[intellektuelle, v. Verf.] Anschauung« und der »absolute Begriff« einander gleichgesetzt beziehungsweise wechselseitig einander »subsumiert« werden,16 dann wendet er Begriffe, die für ihn in diesen Jahren Repräsentationsformen der Vernunft beziehungsweise des Absoluten beschreiben, als Interpretationskategorien auf praktische Verhältnisse an. Durch diese Anwendung können moralische, rechtliche und soziale Beziehungen und die in ihnen eingesetzten moralischen, rechtlichen und sozialen Kategorien darauf hin geprüft und analysiert werden, inwiefern in ihnen Figurationen der Selbstidentifikation im Anderen auftreten. Der Grad der wechselseitigen Anerkennung innerhalb dieser geprüften Verhältnisse gilt dabei 15 Vgl.

dazu die Bemerkungen Kurt Rainer Meists in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Sittlichkeit. [Critik des Fichteschen Naturrechts]. Hrsg. v. Horst D. Brandt. Hamburg 2002, IX–X. 16 Hegel: Schriften und Entwürfe (1799–1808). System der Sittlichkeit, GW 5, 279–361, hier: 279–280.

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als der Maßstab für die ›Absolutheit‹ der intersubjektiven Beziehung. Im anderen sich selber erkennen und anerkennen (das heißt ›Liebe‹) ist bei Hegel aber seit der Frankfurter Zeit Ausdruck einer Selbstbeziehung des Absoluten, die diesen Sachverhalt, dass es sich um die Selbstbeziehung des Absoluten handelt, für Hegel auch selber mehr oder weniger zum Ausdruck bringt. Doch geht es Hegel in diesen Erörterungen nicht um die Perspektive der einzelnen Person beziehungsweise des einzelnen Subjektes, das in solchen Verhältnissen steht, oder um die Einstellungen, die es darin aufweist, oder die Erlebnisse, die es mit Abhängigkeits- oder Anerkennungsrelationen verbindet. Hegel kann zwar lebhaft ausrufen, dass der Mann in der Ehe »der Natur nach Fleisch von seinem Fleisch« in der Frau sehe, aber »der Sittlichkeit nach allein Geist von seinem Geist in dem sittlichen Wesen, und durch dasselbe«.17 Aber natürlich erkennt das sittliche Subjekt in der Beziehung zum anderen, etwa der Ehefrau, dem Familienmitglied oder dem Mitbürger der politischen Gemeinschaft, nicht sich als absoluten Geist wieder. Es ist vielmehr die Theorie, die diesen Verhältnissen den Charakter von Formen der Selbstbeziehung des absoluten Geistes zuschreibt. Hegel hat auf diesen Sachverhalt selber auch aufmerksam gemacht. In den Fragmenten des sogenannten Philosophiae speculativae Systema, das heißt in Texten, die Hegel im Rahmen einer Vorlesung in den Jahren 1803 und 1804 schrieb und die neuerdings als Jenaer Systementwürfe I veröffentlicht sind, findet sich seine Analyse des ›Bewusstseins‹. Zu Beginn von Fragment 18, das zur dort sogenannten ›Philosophie des Geistes‹ gehört, wird über ›Bewusstsein‹ Folgendes gesagt: »Das Wesen des Bewußtseins ist, daß unmittelbar in einer ätherischen Identität absolute Einheit des Gegensatzes sei; es kann dies nur sein, indem unmittelbar, insofern es entgegengesetzt ist, die beiden Glieder des Gegensatzes es selbst sind, an ihnen als Glieder des Gegensatzes unmittelbar das Gegenteil ihrer selbst, die absolute Differenz, sich selbst aufhebende und aufgehobene Differenz sind, einfach sind. – In dieser Einheit ist das sich Bewußtseiende die eine Seite desselben und das, dessen es sich bewußt ist, die andre.«18 Unter ›Bewusstsein‹ scheint Hegel hier den Sachverhalt des Habens einer Repräsentation oder einer Vorstellung von etwas zu verstehen, und zwar dergestalt, dass das Subjekt dieser Repräsentation sich von 17 Hegel:

Schriften und Entwürfe (1799–1808). System der Sittlichkeit, GW 5, 324 (Hvh.

v. Verf.). 18 Hegel: Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 273.

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dem verschieden weiß, wovon es eine Repräsentation hat. Der letzte Satz des Zitates, in welchem von dem »sich Bewußtseienden« die Rede ist, weist auf dieses Verschiedensein hin. Hegels Begriff von Bewusstsein ähnelt hier bereits seiner Definition aus der ›Einleitung‹ der Phänomenologie des Geistes, wonach Bewusstsein dasjenige ist, das sich auf ein anderes bezieht, von dem es sich zugleich unterscheidet.19 Man könnte daher die These vertreten, dass Hegels Terminologie und Definition auf subjektivitätstheoretische Sachverhalte hinweisen oder sie zumindest einschließen, nämlich intentionale Akte und die mit ihnen verbundene Selbstzuschreibung. Davon zu unterscheiden wäre aber die philosophische Interpretation dieser Sachverhalte, die in dem oben angeführten Zitat darauf hinausläuft, für das Subjekt der Bewusstseinsakte und ihrer intentionalen Gehalte eine Übereinstimmung zu behaupten (der Ausdruck »ätherische Identität«, den Hegel an dieser Stelle verwendet, bleibe hier uninterpretiert), und zwar derart, dass das Bewusstseinssubjekt, trotz der numerischen und qualitativen Verschiedenheit mit dem intentionalen Objekt, sich in seinem Objekt selber erkennt. Dass diese Interpretation tatsächlich eine ›philosophische‹ ist, somit etwa der Unterscheidung von ›an sich‹- und ›für uns‹-Perspektive der Phänomenologie des Geistes entspricht, dies spricht Hegel in demselben Fragment aus, wenn es heißt, dass »dies Bewußtseiende und das, dessen es sich bewußt ist, nur für einen Dritten diese Einheit des Bewußtseins, nicht für sie selbst« ist.20 Mithin ist auch hier die Selbsterkenntnis des absoluten Geistes nicht mit der Selbsterkenntnis des ›Bewusstseins‹ identisch und damit auch nicht dessen höhere Form der Subjektivität. Gleichwohl weist die Bewusstseinsterminologie noch nicht auf Formen des Subjektseins hin, auch wenn sie dies, wie gesehen, suggeriert. Gerade weil die ›philosophische‹ Interpretation nicht aus der Perspektive des ›Bewusstseins‹, also vom Standpunkt der ersten Person, erfolgt, sondern externer Art ist, ist es wenig wahrscheinlich, dass durch die Philosophie intentionale Gehalte interpretiert werden. Hegel gibt selber auch einen Hinweis auf diesen Unterschied, wenn er schreibt, dass dieses »empirische Bewußtsein« erst noch »absolutes« werden müsse, beziehungsweise »sein Anderssein, seine positive Gleichheit mit dem Bewußtsein an ihm selbst haben« müsse.21 Interessant ist hierbei der Ausdruck ›empirisch‹. In der Transzendentalphilosophie, bei Kant und bei Fichte, wird der Ausdruck nicht auf das transzendentale Subjekt, 19 Hegel:

Phänomenologie des Geistes, GW 9, 58. Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 273. 21 Hegel: Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 274. 20 Hegel:

›Ich‹ als Prinzip in Hegels Jenaer System-Denken

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das ›Ich denke‹, sondern vielmehr auf die Person und darüber hinaus auch auf die Weise, wie sie sich in ihrem Welt- und Selbstverhältnis versteht (wie sie sich interpretiert), angewendet. Es geht Hegel wohl gerade um ein solches Sich-selbst-Verstehen, um Funktionen der Selbsterkenntnis, die aus der Perspektive der Philosophie bewertet und in ihre Nähe oder Ferne zur Selbsterkenntnis des absoluten Geistes eingeordnet werden. Seine Forderung nach Überführung des ›empirischen‹ in ein ›absolutes Bewusstsein‹ ist dann so zu verstehen, dass das Bewusstsein ein Selbstverständnis entwickeln können soll, das der Idee des absoluten Geistes ›entspricht‹. Doch bleibt noch eine Unklarheit bestehen. Denn wenn es sich bei dem, das die spekulative Philosophie als ›empirisches Bewusstsein‹ interpretiert, nicht um intentionale Akte handelt, dann handelt es sich vielleicht überhaupt nicht um ein individuelles Selbstverständnis, sondern nur um das, was zum Beispiel Geschichtswissenschaft, Soziologie, Religionswissenschaft und so weiter über Personen lehren, das heißt um die kollektiven Züge, die das Selbstverständnis von Personen prägt, welches die Philosophie vor allem interessiert. Der Sinn der von Hegel später sogenannten ›Theorie des objektiven Geistes‹ wäre also darin erschöpft, die ›Selbsterkenntnis‹ von Institutionen, Völkern, Religionen und so weiter oder, wie wir oben gesagt haben, Unternehmen und Gesellschaften spekulativ zu interpretieren. Der ›absolute Geist‹ wäre mit Bestimmtheit nicht der Geist von Frau Meier oder Herrn Schulze! In den Jenaer Systementwürfen I scheint sich Hegel auch so zu äußern, wenn er über das ›absolute‹ Bewusstsein schreibt, es sei »der Geist eines Volkes, der absolut das Bewußtsein aller ist, den sie an­schauen und als Bewußtsein sich entgegensetzen, aber ebenso unmittelbar ihre Entgegensetzung, ihre Einzelnheit in ihm als aufgehoben erkennen und ihr Bewußtsein als ein absolut Allgemeines«.22 Auch das einzelne Bewußtsein erkennt sich hier als in einem absolut Allgemeinen aufgehoben! Nun sind Hegels Angaben in seiner Theorie des Geistes aus den Jenaer Systementwürfen I, wie gesagt, nur Fragmente. Hegel setzt in diesen Texten mehrfach neu an, so dass einige dieser Stücke den Charakter von Dubletten haben. In den Jenaer Systementwürfen II, der sogenannten Logik, Metaphysik und Naturphilosophie von 1804/05, ist die Theorie des Geistes nicht erhalten geblieben. In dem ›Metaphysik‹-Teil des erhaltenen Textes erörtert Hegel aber einige Grundgedanken der System22 Hegel:

Jenaer Systementwürfe I, GW 6, 274.

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teile der Realphilosophie. Interessant ist hierbei, dass das, was Hegel zuvor noch ›Bewusstsein‹ genannt hat, nun ›Ich‹ heißt, ›theoretisches‹ und ›praktisches‹ Ich.23 Doch betrifft diese Unterscheidung nur den ersten Abschnitt der ›Metaphysik der Subjektivität‹. In dem darauffolgenden Teil ist das Subjekt der Selbsterkenntnis des Absoluten nicht mehr ›Ich‹, sondern es ist der ›absolute Geist‹, der bestimmt wird als dasjenige »Ich«, das »sich gefunden hat« und das nicht mehr dem Allgemeinen »entgegengesetzt« ist, sondern das »Ich« ist, dessen »Singularität in der Allgemeinheit verschwunden« ist.24 Kein anderes Bild scheinen schließlich auch die Texte aus den Jenaer Systementwürfen III von 1805/06 zu ergeben. Auch hier wird »das abstrakte Ich« dem »umfassenden Geist« wieder entgegengesetzt.25 Immerhin ist in diesen Entwürfen auch die Theorie des objektiven Geistes, ›Konstitution‹ benannt, erhalten geblieben.26 In ihr werden Themen behandelt, die aus Hegels späteren Werken bekannt sind: der Staat, die Ständegesellschaft, Kunst, Religion und Wissenschaft. Ausdrücke wie ›Subjekt‹, ›Bewusstsein‹, ›Ich‹ treten in diesem Teil entweder gar nicht oder in bereits bekannter Bedeutung auf. Doch wenige Seiten vor Schluss des erhaltenen Textes, in einem Teil, der sich der Bestimmung der Religion widmet und fast nur noch skizzenhaft und in Gestalt einzelner Definitionen ausgeführt ist, setzt Hegel bei der Bestimmung der Philosophie als letzter Form des Geistes ex abrupto neu an. Der Text ist deshalb bemerkenswert, weil er nun das ›Ich‹ wieder einführt. Hegel schreibt: »In der Philosophie ist es Ich als solches, welches Wissen des absoluten Geistes ist, im Begriffe in sich selbst, als diesem, das Allgemeines ist. – Es ist hier nicht eine andere Natur, nicht die ungegenwärtige Einheit, nicht eine Versöhnung, deren Genuß und Dasein jenseits und zukünftig ist, sondern hier – hier erkennt Ich das Absolute; es erkennt – es begreift – es ist kein anderes – Unmittelbar, es ist dieses Selbst. – Ich ist diese untrennbare Verknüpfung des Einzelnen und Allgemeinen – und der Einzelnheit als Allgemeiner aller Natur – und des Allgemeinen – aller Wesenheit, alles Denkens.«27

23 Hegel:

Jenaer Systementwürfe II, GW 7, 157 ff. Jenaer Systementwürfe II, GW 7, 172. 25 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 224–225. 26 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 253 ff. 27 Hegel: Jenaer Systementwürfe III, GW 8, 286. (Hvh. v. Hegel). 24 Hegel:

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Trotz der vielen Gedankenstriche und Anakoluthe, die auf die Gedrängtheit von Hegels Überlegungen hinweisen, ist deutlich, dass Hegel an dieser Stelle, wenn er die Philosophie als letzte und höchste Form der Selbsterkenntnis des Geistes anspricht, nicht mehr vom ›Geist eines Volkes‹ oder dergleichen handelt, sondern von der ersten Person. Die auffällige Häufung der Deixis (›hier‹, ›dieses‹), die im Text auch regelmäßig durch Unterstreichungen betont ist, zeigt dies an.28 ›Ich‹ ist Wissen des absoluten Geistes nicht lediglich dadurch, dass es eine Theorie des absoluten Geistes kennt und vertritt, sondern es ist es als die konkrete Person, die ›diese‹ und ›hier‹ ist. Und wie um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, entwickelt Hegel die Aussage, dass das ›Ich‹ das Absolute erkennt, zuerst nur zu derjenigen weiter, dass es nichts anderes als dieses Absolute ist (welches noch im Rahmen seiner bisherigen Überlegungen interpretiert werden kann); diese Aussage jedoch schließlich zu derjenigen, dass es »dieses« (unterstrichen) »Selbst« (großgeschrieben) ist. In keinem Text seiner Jenaer Schriften hat sich Hegel so radikal ausgedrückt. Natürlich thematisiert er auch an dieser Stelle die Selbsterkenntnis des absoluten Geistes, über die er schon seit der Differenzschrift schrieb. Doch besteht die Selbsterkenntnis nun nicht nur darin, sich als Bestandteil eines großen Ganzen zu sehen (was sicher schon eine philosophische Einstellung verrät). Sie besteht aber auch nicht nur darin, Repräsentant einer bestimmten Stufe der Sittlichkeit, einer bestimmten Religion oder ähnlichem zu sein. Das Absolute ist nicht nur das, was man ein allgemeines ›Selbst‹ nennen könnte, so wie es ein ›allgemeines Selbst‹ sein kann, deutscher Staatsbürger, evangelischer Christ, Vertreter einer Autonomieethik und so weiter zu sein, also personhafte Züge zu besitzen, die man zugleich mit vielen anderen teilt. Vielmehr ist das hegelsche Absolute dieses ›Selbst‹ dieses ›Ichs‹ – »unmittelbar«, wie Hegel betont. Wenn Hegel an dieser Stelle vom ›Ich‹ und seiner Identität mit dem Absoluten spricht, dann meint er also nicht solche Züge, die sich verändern lassen, ohne dass deswegen derjenige, der man selber ist, sich zugleich veränderte. Seine Staatsbürgerschaft kann man ablegen, eine Religion kann man wechseln, vom Autonomieethiker zum Utilitaristen werden. Doch das ›Selbst‹ ist nicht das, was man verändern könnte, ohne im strikten Sinne des Wortes ein anderer geworden zu sein. Unter ›Selbst‹ verstehen wir vielmehr solche Züge, die uns, zumindest als 28 

Dies entspricht übrigens genau der Verwendung, die diese Ausdrücke im Kapitel Die sinnliche Gewissheit der Phänomenologie des Geistes erfahren.

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Person, möglicherweise auch als Subjekt, individuieren. Es sind damit Züge verbunden, die uns auch dann zukommen, wenn die Formen unserer Selbsterkenntnis, also die Weisen, wie wir uns jeweils interpretieren, sich wandeln. Entsprechend der am Anfang dieses Beitrages vorgenommenen Einteilung müssen diese Züge aber den Eigenschaften des Subjektes von Selbstzuschreibung und Selbstbewusstsein zukommen! Erst in seiner späten Jenaer Zeit hat Hegel also tatsächlich den Schritt vollzogen, die Theorie der Selbsterkenntnis des Absoluten mit den Sachverhalten der menschlichen Subjektivität zu verbinden. Alles, was er dagegen zuvor zur sogenannten ›absoluten Subjektivität‹ schreibt, bleibt in gewissem Sinne ›abstrakt‹.

4. Welche systematische Bedeutung hat dieser Schritt Hegels? Dazu seien hier noch einige Anmerkungen gegeben. Die erste mag schlicht erscheinen, ist aber gleichwohl nicht unerheblich: Hegel selber weist bereits in der Differenzschrift darauf hin, dass eine Philosophie des Absoluten All-Einheits-Denken ist. ›All-Einheits-Denken‹ bedeutet, eine Theorie zu entwickeln, die die Einheit von Allgemeinem und Besonderem begründen und explizieren kann. Das ›philosophische System‹, die ›Konstruktion des Absoluten‹, sind bekanntlich Hegels Antworten auf die damit verbundene Aufgabe. Nun sind die klassischen Formen der All-Einheits-Metaphysik solche des Substanzdenkens, zuerst bei den Griechen, später in der rationalistischen Theoriebildung der Neuzeit, vor allem bei Spinoza. Das höchste Einzelne, das in eine Einheit mit dem Allgemeinen beziehungsweise der Substanz zu bringen ist, ist aber nicht das bloße Einzelding, sondern das (menschliche) Subjekt. Denn das Subjekt ist nicht nur ein Einzelding, über welches die Einheit mit dem Allgemeinen nach den Grundsätzen einer entsprechenden Theorie artikuliert werden kann, sondern es ist dasjenige, das diese All-Einheit selber zu artikulieren und damit zur Funktion seines Selbstseins zu machen vermag. Dies führt uns zur zweiten Anmerkung. Für Spinoza waren nicht Subjekte die Einzeldinge im Bereich des Geistes, der ›res cogitans‹, sondern Ideen, gleichsam elementare Repräsentationen. Selbstbewusstsein oder wissende Selbstbeziehung sind daher für Spinoza Formen des Habens von Ideen von Ideen, mit allen den reflexionslogischen Problemen, die dies mit sich führt. Die Arbeiten Dieter Henrichs haben diese Probleme

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in anderem Zusammenhang und an anderen Autoren diskutiert.29 Sie haben darüber hinaus auch gezeigt, dass die Selbstzuschreibung, als die primitivste Form der Subjektivität, nicht von den anderen Faktoren oder Elementen von Subjektivität – zum Beispiel dem sich- oder etwasals-etwas-Erkennens – abgetrennt werden kann. Die Selbstzuschreibung (womit hier nicht eine semantische Theorie der ›self-ascription‹ gemeint ist)30 lässt sich begrifflich wohl vom Selbst- oder Objektbewusstsein unterscheiden, sie lässt sich sachlich aber nicht von diesem oder anderen Elementen des Subjektseins trennen. Obwohl sie eine ganz einfache Vorstellung zu sein scheint, stiftet sie doch die Einheit des ganzen Geistes. Immanuel Kant hat diesen Sachverhalt bereits gesehen. Es liegt nicht fern zu vermuten, dass schließlich auch Hegel erkannt hat, dass es nur eine Möglichkeit gibt, die Einheit des absoluten Geistes und seiner Selbsterkenntnis verständlich zu machen, und dass es nur ein Wirkliches gibt, das es erlaubt, die Wirklichkeit des Geistes und seiner Selbsterkenntnis auszusagen – und dies ist das einzelne, das menschliche Ich. Schließlich gilt es, ein Missverständnis auszuräumen. Es wird hier nicht die These vertreten, dass Hegel ein Subjektivitätstheoretiker sei. Die ›Wissenschaft‹ bei Hegel, und das heißt die Philosophie, ist mit den logischen Strukturen der (wissenden) Selbstbeziehung des Geistes befasst. Sie analysiert nicht die phänomenalen Sachverhalte von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, sondern nur die Bedeutung und das Verhältnis der von uns verwendeten Begriffe in allen unseren Formen des Welt- und Selbstverstehens. Für Hegel kann auch eine Theorie des Selbstbewusstseins oder, wie es in dieser Zeit heißt, eine Theorie über das ›Ich‹ dazu gehören – doch wird auch sie von der Philosophie nur als eine der möglichen Formen des Selbstverstehens angesehen und als eine solche systematisch ›abgeleitet‹. Die hier vorgenommenen Erörterungen betreffen indessen nicht die Theoreme der logischen ›Wissenschaft‹, sondern die Frage, was es für ein Subjekt bedeutet, sich aus der Perspektive der philosophischen Wissenschaft zu verstehen, sie auf sich ›anzuwenden‹. Es handelt sich dabei um das berühmte und bis heute nicht geklärte Problem der Einleitung in die Philosophie. Wenn Hegels Aussagen aus den Jenaer Systementwürfen III richtig interpretiert sind, 29  Vgl.

die Stellenangaben oben in Anmerkung 9. hierzu die Auseinandersetzung Dieter Henrichs mit Ernst Tugendhat, in: Dieter Henrich: Noch einmal in Zirkeln, in: Mensch und Moderne. Beiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik. Festschrift für Helmut Fahrenbach. Hrsg. v. Clemens Bellut/Ulrich Müller-Schöll. Würzburg 1989, 93–132. 30 Vgl.

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dann besteht eine ihrer wesentlichen Aussageintentionen darin, zu behaupten, dass eine reflexive Selbstbeziehung, das heißt eine erkennende Selbstvermittlung des empirischen Subjektes, nur in Gestalt der philosophischen Wissenschaft und ihres ›Systems‹ möglich ist (und nicht etwa als Analyse des Phänomens ›Subjektivität‹).31 Nur als Analyse der logischen, naturphilosophischen, gesellschaftlichen und so weiter Formen, uns selbst auszulegen, ist eine Selbsterkenntnis des Menschen im vollständigen und begründeten Sinne möglich. Damit es dazu kommen kann, ist jedoch ein Akt der (unmittelbaren) Selbstidentifikation des ›Ich‹ mit dem Subjekt der Wissenschaft die Voraussetzung. Hegel wird diese Voraussetzung in der Theorie des objektiven Geistes wieder als eine der Formen, sich selbst auszulegen, das heißt als die Form, sich als ein solches ›unmittelbares Ich‹ zu verstehen, rekonstruieren und ableiten. Doch vom Standpunkt einer von Hegels Theoremen unabhängigen, an subjektivitätstheoretischen Fragen orientierten philosophischen Betrachtung betrifft dieser Sachverhalt, der am Anfang der Wissenschaft steht, die Probleme von ›Selbstzuschreibung‹ und ›Selbstbewusstsein‹. Es ist diese Perspektive, aus der Hegels Jenaer Überlegungen hier gedeutet worden sind.

31  Søren

Kierkegaard war hier hellsichtiger als manche modernen Interpreten und hat diesen Anspruch Hegels an die Philosophie gesehen und entsprechend bekämpft (vgl. etwa Søren Kierkegaard: Unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, Kapitel II, in: ders.: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Hrsg. v. Hermann Diem/Walter Rest. München 2005, 180 ff.).

V. JACOBI UND REINHOLD NACH 1800

Birgit Sandkaulen System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling 1. Jacobi gehört nicht zu den Systemkonstrukteuren der klassischen deutschen Philosophie. Die Frage, wie sich sein Systementwurf nach 1800 geändert haben mag, kann man deshalb an ihn nicht richten. Zu fragen wäre allein nach möglichen Änderungen seiner systemkritischen Position, aber auch derlei liegt nicht vor. Die einzige Modifikation betrifft den Vernunftbegriff, insofern Jacobi die anfängliche Engführung der Vernunft auf das Verfahren rationaler Begründung zugunsten der Unterscheidung zwischen einer Vernunft, die den Menschen hat, und einer instrumentellen Vernunft, die der Mensch hat, aufgegeben hat, zugunsten also der Differenz zwischen substantiver und adjektiver Vernunft oder zwischen Vernunft und Verstand. Allerdings werden diese neuen Bestimmungen bereits 1789, in der Beilage VII der Zweitauflage der Spinoza-Briefe entwickelt und 1799, in der Beilage II zum Brief an Fichte, dezidiert bekräftigt. Hat Jacobi keinen Anteil an der dynamischen Entwicklung der nachkantischen Philosophie? Er selbst hat die Lage anders beschrieben. »Wie schnell die philosophischen Systeme seit fünf und zwanzig Jahren in Deutschland gewechselt haben, ist allgemein bekannt«, heißt es 1811 in der Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. »Verschiedene Denker wandelten mehr als einmal den Leib. Ich ließ auch meine Seele wandern, doch mit Vorbehalt der Rückkehr nach vollendetem Versuch. Uebrigens that ich alles, was an mir war, um die Verwandlung jedesmal so vollkommen werden zu lassen, als es unter der angeführten Bedingung möglich war, und so dürfte ich wohl lehrrei-

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cher als Pytharogas berichten können, was ich während meiner Verwandlungen erfahren habe.«1 Unter dem »Vorbehalt der Rückkehr« vollzieht Jacobi den Wechsel der Systeme mit – womit die strukturelle Eigentümlichkeit seines Ansatzes, nämlich die von ihm seit der grundlegenden Auseinandersetzung mit Spinoza vertretene Doppelphilosophie zum Ausdruck kommt. Weder verschreibt sich Jacobi ausschließlich der Arbeit an einem Systemprojekt noch artikuliert er seine Distanz gegenüber einem solchen Projekt in einem gleichsam systemfernen Raum. Charakteristisch ist vielmehr die via negationis vollzogene Integration beider Seiten, wie sie in der Formulierung »meine[s] Spinoza und Antispinoza« ursprünglich greifbar wird.2 Das Provokationspotential dieser Doppelphilosophie hat bekanntlich seine immense Wirksamkeit entfaltet. Erheblich gesteigert wird es dadurch, dass Jacobi nicht zögert, die Doppelanlage seines Ansatzes in die Ausbildung der kantischen und nachkantischen Philosophie hinein fortzuschreiben. Der Wechsel der Systeme, so lautet die damit verbundene Behauptung, folgt einer Logik, die die ursprüngliche Konstellation – die Konstellation des »Spinoza und Antispinoza« – nicht etwa überwindet, sondern vielmehr wiederholt. Eine hinreichende Erörterung dieser Diagnose müsste ein ganzes Bündel von miteinander zusammenhängenden Motiven thematisieren und dabei – anders als es die Fokussierung des vorliegenden Tagungsbandes auf den Zeitraum zwischen 1800 und 1809 verlangt – auf die Debatte mit Fichte zurück- und auf die spätere Debatte mit Schelling vorausgreifen. Aus Gründen der Beschränkung stelle ich deshalb im Folgenden nur ein Problem zur Diskussion, das mir systematisch allerdings besonders wichtig und dringlich erscheint. Seltsamerweise – oder sollte man sagen: klarerweise? – gehört es zu den Fragestellungen, die in der Rezeption Jacobis zunächst nicht als ernsthafte Herausforderung gewürdigt worden sind. In Form der Gretchenfrage formuliert, lautet dieses Problem: Wie hältst du es mit der Zeit?

1 

Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Hamburg 1998 ff. Bd. 3 (2000), 7. Im Folgenden zitiert als JWA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2 Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, JWA 1.1, 274.

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2. Um die Sachlage zu schärfen, ist zunächst von Hegels Kritik an Jacobi in Glauben und Wissen auszugehen. Über Hegels in dieser Schrift verfolgte Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Fichte ließe sich vieles sagen. Jedoch konzentriere ich mich ausschließlich auf den buchstäblichen Mittelpunkt dieser Trias und verweise hier sogleich auf den maßgeblichen Punkt. Denn was Hegel an Jacobis Version der sogenannten »Metaphysik der Subjectivität« offenkundig am meisten irritiert,3 ist die von Jacobi ins Zentrum des Interesses gerückte Frage nach der Zeit, die mitten hinein in eine Debatte über Spinoza führt. Die in den Spinoza-Briefen formulierte These Jacobis besagt, dass Spinozas Ontologie am Problem der Zeit scheitert. Hegel hingegen hält diese These für vollkommen unsinnig. Für ihn verrät sie nur, dass Jacobi zwei entscheidende Fehler macht. Erstens, so behauptet Hegel, ist die Insistenz Jacobis auf dem Phänomen der Zeit überhaupt ganz abwegig, weil die Zeit als Index der Endlichkeit das Interesse eines wahren Philosophen gar nicht verdient. In seiner Konzentration auf die »Nichtigkeit« der Belange unserer endlichen Existenz widmet sich Jacobi also einer per se völlig irrelevanten Frage.4 Umso schlimmer ist für Hegel zweitens, dass Jacobi ausgerechnet Spinozas Ontologie mit dem Problem der Zeit konfrontiert und hier sogar so weit geht, im Entwurf von Spinozas Ethik eine innere Widersprüchlichkeit zu konstatieren. »Die Natur dieses polemischen Verfahrens besteht also darinn«, so Hegel, »daß Jacobi die Succession und Endlichkeit entweder vermißt, und sie in der Speculation schlechthin fordert oder sie hineinerklärt, und dann Ungereimtheiten findet«.5 Demgegenüber ist für Hegel sonnenklar, dass bei Spinoza das Phänomen der Zeit nur als ein Schein-Produkt der menschlichen »Einbildungskraft« gilt.6 3  Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Kritisches Journal der Philosophie. Hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler. Hamburg 1968. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 113-505, hier: 384–385. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 4 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 377. – Vgl. dazu Birgit Sandkaulen: Das Nichtige in seiner ganzen Länge und Breite. Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie. In: Hegel-Jahrbuch 2004, 165–173. 5 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 359–360. 6 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354–355.

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Damit zeichnen sich die Konturen einer hochinteressanten Debatte ab. Umstritten ist zum einen, was eigentlich im Text der Ethik Spinozas steht. Während Jacobi die These vertritt, dass Spinozas sub specie aeternitatis argumentierende Ontologie die Dimension der Zeit sehr wohl zu ihrer Durchführung braucht, sie aber zugleich nicht ohne innere Widersprüche in ihr Konzept integrieren kann, versucht Hegel, diese Problematik als gar nicht existent zu neutralisieren. Und damit direkt verbunden ist grundsätzlich umstritten zum andern, ob es sich in Gestalt der Zeit überhaupt um ein philosophisch relevantes Thema handelt oder nicht. Auf den zuletzt genannten Punkt komme ich später zurück und nehme zunächst die Frage einer angemessenen Lektüre Spinozas in den Blick. Hat Jacobi recht mit seiner Diagnose, dass die Ethik unter ungelösten Zeit-Problemen leidet? Oder hat Hegel recht, wenn er behauptet, dass Spinozas Entwurf die Zeit ganz konsistent zu einem bloßen Produkt der Einbildungskraft erklärt – Jacobi also völlig falsche Unterstellungen auf die Ethik projiziert? Bevor die Frage anhand Spinozas Text zu entscheiden ist, sind die beiden Versionen zunächst genauer vorzustellen. Was Jacobi betrifft, rekapituliere ich in aller Kürze die drei entscheidenden Strukturmerkmale seiner Erörterung Spinozas, um die Prob­ lematik der Zeit kontextuell zu verankern.7 Erstens geht auf Jacobi die erste rationale Rekonstruktion der Ethik zurück, die Spinozas Entwurf als in sich geschlossenes System einer Metaphysik der Immanenz durchsichtig macht. Damit verbunden ist zweitens, dass Jacobi diesen Entwurf als schlechthin exemplarisch bewundert und für unwiderleglich hält. Die Kritik, die Jacobi trotz allem an Spinozas Fatalismus übt, hat deshalb drittens den methodischen Charakter eines praktischen Widerspruchs, der vom Versuch einer theoretischen Widerlegung strikt zu unterscheiden ist. Die »Lehre des Spinoza«, so argumentiert Jacobi gegenüber Mendelssohn, ist »unwiederleglich«, »nicht unwidersprechlich«.8 Dieser Unterscheidung zwischen Widerlegung und Widerspruch entspricht, wo Jacobis Kritik an Spinoza inhaltlich ansetzt. Systemlogisch schlüssig zu verfahren, ist dieser Kritik zufolge untrennbar verbunden 7 Vgl.

dazu insgesamt Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000 (zur Problematik der Zeit insbesondere Kap. VI, 133–169) – sowie Birgit Sandkaulen: Wie ›geistreich‹ darf Geist sein? Zu den Figuren von Geist und Seele im Denken Jacobis. In: Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Damasio. Hrsg. v. Edith Düsing/Hans-Dieter Klein. Würzburg 2008, 143–159, – und ferner Birgit Sandkaulen: Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 259–272. 8 Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, JWA 1.1, 290.

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damit, unsere lebensweltlichen Überzeugungen direkt zu konterkarieren. Das betrifft unter dem Stichwort Freiheit allem voran den Prospekt des Handelns, der sich unter Ausschluss der causa finalis überhaupt nicht mehr zureichend verstehen lässt. Das betrifft substantiell aber auch die Dimension der Zeit, denn »eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding«.9 Jacobis fundamentales Interesse an der Zeit ist also an den Konditionen menschlicher Existenz orientiert, womit der Vorwurf einhergeht, dass diesem Interesse in Spinozas Ontologie systembedingt nicht Rechnung getragen wird. Dabei behauptet Jacobi wie schon angedeutet nicht, dass die Dimension der Zeit in der Ethik völlig fehlt. Mit einer plakativen Kontrastierung von Ewigkeit und Zeit hat er also nichts im Sinn. Die Pointe seines Einwands besteht vielmehr darin, dass Spinoza die Zeitlichkeit der endlichen Welt sehr wohl im Auge hat, mit ihr jedoch aus systemlogischen Gründen nur aporetisch umgehen kann. Dieser Einwand gilt Spinozas Projekt einer universalen und rationalen Welterklärung, das im Verzicht auf traditionelle Schöpfungsideen eine »natürliche Erklärung des Daseins endlicher und sukzessiver Dinge« beibringen muss,10 in der Durchführung aber in die widersprüchliche Bestimmung einer »ewigen Zeit« gerät.11 Nachdem Jacobi den Entwurf der Ethik als schlüssig und unwiderleglich bewundert, mag die Diagnose eines inneren Widerspruchs auf Anhieb überraschen. Kann ein System konsistent und zugleich in sich widersprüchlich sein? Tatsächlich schließt sich dies nach Jacobi nicht aus. Im Gegenteil liegt hier sogar das Kernstück seiner Argumenta­ tion, wonach ein System, das nicht einen bloß logischen, sondern einen ontologischen Anspruch erhebt, notwendig auf einem zwiespältigen Fundament basieren muss. Zwiespältig ist es deshalb, weil es im Interesse rationaler Welterklärung den »Begriff der Ursache mit dem Begriffe des Grundes vermischt«.12 Inwiefern diese ebenso basale wie fragwürdige Vermischung von Grund und Ursache die Frage der Zeit tangiert, folgt direkt aus Jacobis Erläuterung dieser Begriffe. Das logische Verhältnis von Grund und Folge ist durch den Ausschluss zeitlicher Sukzession

9 

Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und IrmgardMaria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg 2000, 283. Entscheidend hier und im Folgenden ist wie schon gesagt die Beilage VII der zweiten Auflage von 1789. 10 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 276. 11 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 276. 12 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 282.

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definiert. Im Kontrast dazu lässt sich das reale Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Jacobi auch das principium generationis genannt, überhaupt nur unter Bedingungen einer zeitlichen Sukzession verstehen, und zwar so, dass wir diese reale Kausalität ursprünglich in unserem eigenen Handeln erfahren.13 Zwischen Grund und Folge liegt eine logische, zwischen Ursache und Wirkung eine zeitliche Differenz: Dass Spinoza beide Hinsichten konstitutiv vermischt, bedeutet, dass die zeitliche Realität von Entstehen und Vergehen, von Werden und Veränderung nicht einfach ignoriert, sondern im Theorem der Immanenz logisch überblendet wird. Dem Anschein nach ist so im Binnenraum der Substanz die reale Sukzession sich verändernder Modi integriert, ohne zugleich den ewigen Zusammenhang von unendlicher Substanz und endlichem Modus zu zerstören. Und dazu passt nach Jacobis Darstellung perfekt, dass Spinoza im 12. Brief die »Begriffe von Zeit, Maß und Zahl« als »Wesen der Einbildung« bezeichnet hat.14 Der Begriff der Zeit, den die imaginatio erzeugt, impliziert die Trennung der Modi von der Substanz. Deshalb ist er für die Vernunft ohne Belang, die das Phänomen der Veränderung sozusagen in Reinform – ohne imaginativ vorgestellten Rest – der Logik des Grundes integriert.15 In Wahrheit aber, so Jacobi, 13  Ausdrücklich

hält Jacobi fest, »daß der Begriff von Ursache, in so fern er sich von dem Begriffe des Grundes unterscheidet, ein Erfahrungsbegriff ist, den wir dem Bewußtsein unserer Kausalität und Passivität zu verdanken haben, und der sich eben so wenig aus dem bloß idealischen Begriffe des Grundes herleiten, als in denselben auflösen läßt« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 282). Mit dem Begriff der Ursache und dem korrespondierenden Begriff der Wirkung ist demnach keinesfalls das Verhältnis naturgesetzlicher Kausalität gemeint. Dieser Typ Kausalität ergibt sich Jacobi zufolge vielmehr aus einer Vereinigung von Grund und Ursache, die ihre logische Entsprechung im Satz vom zureichenden Grund hat, wonach »alles Bedingte eine Bedingung haben müsse« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 283). Während diese Vereinigung von Grund und Ursache unproblematisch ist, insofern der »wesentliche Unterschied« zwischen logischen und realen Bedingungsverhältnissen transparent bleibt, besteht die Vermischung beider Begriffe genau darin, diesen Unterschied zu neutralisieren. In diesem Fall »erlaubt man sich den einen für den andern zu setzen und anzuwenden, und bringt glücklich heraus, daß die Dinge entstehen können, ohne daß sie entstehen; sich verändern, ohne sich zu verändern; vor und nach einander sein, ohne vor und nach einander zu sein« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 283). 14  Vgl. Baruch de Spinoza: Briefwechsel. Hrsg. v. Manfred Walther. Hamburg 1986, 50. 15  »Aus dem Satze: das Werden könne eben so wenig geworden oder entstanden sein, als das Sein oder die Substanz, zog Spinoza die richtige Folge, daß eine ewige unendliche Aktuosität der Materie eigen, und ein unmittelbarer Modus der Substanz sein müsse. Dieser unmittelbare ewige Modus, den er in dem Verhältnisse von Bewegung und Ruhe der naturae naturatae ausgedrückt zu finden glaubte,

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handelt es sich hier um eine Selbsttäuschung der Vernunft. Im Paradox der »ewigen Zeit« ist die vermeintliche Integration modaler Veränderung immer schon neutralisiert. Das ist notwendig so, weil ein in sich geschlossenes System der Immanenz keinen nach vorne offenen Zeitverlauf kennt, sondern ihn bildlich gesprochen zu einem Kreis in sich zurückbiegen muss. Genau aus diesem Grund helfen auch die von Spinoza bemühten »Gleichnisse aus der Mathematik« hier nicht weiter. Geometrische Figuren haben als solche mit dem Phänomen realer Sukzession nichts zu tun. Bedient man sich also wie Spinoza solcher Figuren, um zu veranschaulichen, dass sich der Gedanke der Immanenz mit der Berücksichtigung realer Veränderungen im Bereich der endlichen Modi verträgt, dann lässt man sich, wie Jacobi betont, durch die »Imagination betrügen«. Es ist dann nämlich der Betrachter selbst, der auf die geometrische Figur subjektiv eine Bewegung projiziert, die objektiv in der Sache selbst überhaupt nicht vorhanden ist.16 war ihm die allgemeine ewige unveränderliche Form der einzelnen Dinge und ihres unaufhörlichen Wechsels. Hatte nun die Bewegung nie angefangen; so konnten auch die einzelnen Dinge keinen Anfang genommen haben. Sie waren also nicht allein dem Ursprunge nach von Ewigkeit her; sondern auch, ihrer Sukzession unbeschadet, dem Vernunftbegriffe nach, alle zugleich vorhanden: denn im Vernunftbegriffe ist kein Vorher und Nachher, sondern alles notwendig und zugleich; und eine Folge der Dependenz ist die einzige, welche sich darin gedenken läßt. Da Spinoza nun einmal die Erfahrungsbegriffe von Bewegung, Einzelnen Dingen, Generation und Sukzession, zu Vernunftbegriffen erhoben hatte; so sah er sie zugleich von allem Empirischen – gereinigt, und konnte, bei der festen Überzeugung: Es müsse alles – nur secundum modum quo a rebus aeternis fluit betrachtet werden: – die Begriffe von Zeit, Maß und Zahl, als von diesem Modo abgesonderte einseitige Vorstellungsarten, folglich als Wesen der Einbildung betrachten, von welchen die Vernunft keine Notiz zu nehmen brauche, oder sie erst reformieren, und auf das Wahre (vere consideratum) zurückführen müsse.« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 278–279). 16 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 276–277. Wie intensiv sich Jacobi mit dieser Problemlage auseinandergesetzt hat, verdeutlicht besonders gut auch die erhellende Ergänzung, die er in der dritten Auflage der Spinozabriefe von 1819 im Rahmen seiner späteren Werkausgabe eingefügt hat. Hier heißt es: »Spinoza leugnet allerdings ein gewordenes Werden der einzelnen Dinge, keinesweges aber ein nichtgewordenes, Anfang- und Endloses Werden, ein wahrhaft wirkliches Entstehen und Vergehen derselben, obgleich nur in einem ewigen, in sich selbst kreisenden, Flusse. Die einzelnen Dinge, lehrt Spinoza ausdrücklich, entspringen nicht unmittelbar aus dem Unendlichen, sondern jedes einzelne Ding setzt andere einzelne Dinge voraus bis ins Unendliche. Es entspringen daher die einzelnen Dinge aus Gott nur auf eine ewige und unendliche, nicht auf eine vorübergehende, endliche und vergängliche Weise; denn so entspringen sie bloß eines aus dem anderen, indem sie gegenseitig sich erzeugen und zerstören, und in ihrem ewigen Dasein darum nicht weniger unwandelbar beharren (Eth., P.I, Prop. XXVIII […]). Unwidersprechlich behauptete also Spinoza das wirkliche Dasein einer ewigen Zeitlichkeit, ein Anfangsloses, aber

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Aus dieser Analyse zieht Jacobi einen radikalen Schluss. Dass sich Spinoza im Widerspruch der »ewigen Zeit« verstrickt, zeigt, dass der systematische Anspruch universaler Welterklärung scheitert. Das Phänomen der zeitlichen Existenz bezeichnet das Menetekel und die Grenze der Vernunft. Beachtet man diese Grenze nicht, dann wird mit gravierenden ethischen Folgen das Erfahrungsfundament unseres Selbstund Weltverständnisses zerstört. Warum Hegel, dem ich mich jetzt zuwende, auf diese Analyse mit polemischer Entrüstung reagiert, ist nun nicht mehr erstaunlich. Denn hätte Jacobi recht, wäre über Spinozas Ontologie hinaus auch Hegels eigene Systemvision im Kern betroffen. Der Ethik Spinozas verpflichtet ist diese Vision in Glauben und Wissen ja genau insofern, als sie gegen die Reflexionsphilosophie der Subjektivität bei Kant, Jacobi und Fichte den Pros­ pekt einer holistischen Identitätsphilosophie umreißt. Aber wie steht es um die Aussicht auf Erfolg, wenn das Problem der Zeit die Überzeugungskraft jeglichen Systemanspruchs untergräbt? Die Generallinie, auf der Hegel in dieser Lage argumentiert, habe ich schon exponiert. Von einem Problem kann danach überhaupt keine Rede sein, denn auf die irrelevante »Nichtigkeit« der zeitlichen Existenz kommt es in der wahren Philosophie gar nicht an. Das allein genügt aber nicht, um Jacobis Kritik aus dem Feld zu schlagen. Gegen Jacobis Analyse ist vielmehr zu zeigen, dass bereits Spinozas Ethik die These von der »Nichtigkeit« der Zeit vertritt. Wie allein schon der signifikante Umfang der Auseinandersetzung belegt, ist dieser Nachweis für Hegel von größtem Belang.17 Aber das argumentative Profil von Hegels Ausführungen ist überschaubar und nicht allzu kompliziert. Dass Jacobis Diagnose komplett in die Irre geht, wirkliches und wahrhaftes Entstehen und Vergehen endlicher wirklicher und wahrhafter einzelner Wesen in einer notwendigen Folge. Den Einwurf aber, daß es eine Ungereimtheit sei, anzunehmen, es könne eine ewige Zeit auf den heutigen Tag kommen, entfernte er mit leichter Mühe dadurch, daß er zeigte, wie die Zeit vor der Vernunft notwendig und von selbst aus dem Zeitlichen verschwinde; womit dieses dann so fort zu einem unveränderlichen Ewigen, zu der leibhaften Gottheit selbst verklärt werde. […] In Wahrheit aber ist dem System damit doch nicht geholfen, wie ich an den vorhin angeführten drei Orten genügend dargetan zu haben glaube. Ja es tritt die Doppelfrage an Spinoza nun erst recht hervor; ob er lehre: es gebe in der Natur nur ein Sein, aber kein Werden; oder umgekehrt: es gebe in ihr nur ein Werden, aber kein Sein? Auf die zweite Frage erhalten wir von ihm ein klares Nein zur Antwort; auf die erste aber nur ein Ja mit Nein, und, Kraft dieses Mit, streitende Bestandteile, die sich durchaus nicht zu einem wahrhaft friedlichen Bunde vereinigen lassen.« (Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 277–278.) 17  Vgl. Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354–359.

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es also unsinnig ist zu behaupten, Spinoza hätte sich in die Aporie der »ewigen Zeit« verstrickt, untermauert Hegel mit einer Spinoza-Version, die anders als Jacobis Lesart konstitutiv zwischen Zeit und Ewigkeit trennt. Ontologisch von Bedeutung ist ausschließlich die Dimension der Ewigkeit. Im Kontrast dazu basiert das ontische Phänomen der Zeit auf einer »Abstraktion«, die das wahre Verhältnis zwischen der Substanz und ihren Modi verstellt. Damit geht Hegels These einher, dass man Spinozas Ansatz adäquat nur dann versteht, wenn man zwei Typen des Unendlichen streng auseinanderhält. Zu unterscheiden ist demnach zwischen dem »infinitum actu« oder dem absolut Unendlichen einerseits und der von Hegel so genannten empirischen Unendlichkeit andererseits.18 Das absolut Unendliche ist als die »absolute Affirmation der Existenz« charakterisiert: »Diese einfache Bestimmung macht also das Unendliche zum absoluten sich selbst gleichen untheilbaren wahrhaften Begriff, welcher das Besondere oder Endliche seinem Wesen nach zugleich in sich schließt«.19 Hegel zufolge bezeichnet Spinoza diesen Typ des Unendlichen als die »Unendlichkeit des Verstandes«, was in Hegels Version direkt mit der »intuitiven Erkenntniß« zusammengeschlossen wird.20 Demgegenüber ist die »empirische Unendlichkeit« ein Fall der »Einbildungskraft«.21 Indem die Einbildungskraft von der affirmativen Unendlichkeit abstrahiert, ist sie durch Negation charakterisiert. Sie spaltet also den Modus von der Substanz ab, zerlegt ihn quantifizierend in Teile und schreibt ihm damit auch allererst eine Existenz in der Zeit zu. Die »Dauer«, so betont Hegel ausdrücklich, ist ein »Zeitmoment, ein Endliches«, das allein »durch Einbildung« gesetzt wird. Und genau so entsteht dann auch die »empirische Unendlichkeit« als fortgesetzte Einbildung zeitlich fixierter, voneinander unterschiedener einzelner Dinge. Vor diesem Hintergrund macht Hegel zweierlei geltend. Sofern nur die »Einbildungskraft oder Reflexion […] auf einzelne Dinge oder auf Abstraktionen und Endliches« geht, ist erstens klar, dass die zeitliche Existenz der Dinge »an sich schlechthin nichts« ist. Dass sie in dieser Form nur für die Einbildung – also nicht wirklich – existieren, will Spinoza nach der Darstellung Hegels auch durch seine geometrischen Beispiele belegen. Ebenfalls klar ist zweitens, dass Jacobi seinerseits gänzlich unfähig ist zu spekulativem Denken. Stattdessen ist er vollständig 18  Vgl.

Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354–355. Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354. 20 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354. 21 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354–355. 19 Hegel:

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durch die »Einbildung« absorbiert. Deshalb hält er die »Nichtigkeit« zeitlicher Existenz für etwas an sich Wirkliches, was sie in Wahrheit gar nicht ist. Und deshalb trägt er auch an Spinoza eine von vornherein absurde Problemstellung heran. Nicht allein greift der Einwand einer »ewigen Zeit« ins Leere. Bereits die Aufgabe einer »natürlichen Erklärung des Daseins endlicher und sukzessiver Dinge«, die Jacobi der Ethik unterstellt, beweist sein substantielles Fehlverständnis dieser Philosophie. Denn wie hätte es Spinoza je in den Sinn kommen können, eine solche Erklärung zu unternehmen, wo es ihm im Gegenteil darum ging, die abstrakte »Einzelheit und Endlichkeit« in der »Idee« zu vernichten?22 Damit sind die Positionen geklärt und in eins damit auch das Interesse, das Jacobi und Hegel in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza bewegt. Beiden geht es nicht um Doxographie, sondern um die Sache: darum, Aufschluss über unser Selbst- und Weltverständnis zu gewinnen, für dessen Orientierung in beiden Fällen Spinozas Ethik exemplarische Geltung besitzt. Genau deshalb ist es aber auch entscheidend, abschließend die Plausibilität der Versionen zu prüfen und sie nicht etwa nur als hermeneutische Varianten zur Kenntnis zu nehmen. Hat Jacobi den Punkt getroffen oder Hegel, wenn er Jacobis Analyse für das Zeugnis falschen, der bloßen Einbildung verhafteten Denkens hält? Die Antwort fällt nicht zugunsten Hegels aus. Nach seiner Ver­sion hätte man es bei Spinoza mit einer ausschließlich essentialistisch konzipierten Metaphysik zu tun. Davon kann aber in dem Maße keine Rede sein, wie Spinoza zwischen zwei Formen modaler Existenz unterschei22 Vgl.

den Passus im Ganzen: »[D]ie Einbildung oder Reflexion geht allein auf einzelne Dinge, oder auf Abstractionen und Endliches, und diese gelten ihr als absolut; in der Idee aber wird diese Einzelheit und Endlichkeit dadurch vernichtet, daß das Entgegengesetzte der Reflexion oder der Einbildung, das ideell oder empirisch Entgegengesetzte, als Eins gedacht wird; so viel kann die Reflexion begreiffen, daß hier Dinge, die sie als besondere setzt, als identisch gesetzt werden, aber nicht, daß sie damit zugleich vernichtet sind; denn eben indem sie nur thätig ist, sind ihre Producte absolut; indem sie also beydes, die Identität dessen, was für sie nur ist, indem es getrennt ist, und das absolute Bestehen desselben in dieser Identität setzt, so hat sie glücklich eine Ungereimtheit gefunden. So setzt Jacobi das Abstractum der Zeit, und das Abstractum eines einzelnen Dings, Producte der Einbildung und der Reflexion, als an sich seyend, und findet, daß wenn das absolute Zugleich der ewigen Substanz gesetzt wird, das einzelne Ding und die Zeit, die nur sind, insofern sie von ihr weggenommen waren, ebenfalls mitgesetzt werden, – aber reflectirt nicht darauf, daß sie, indem sie der ewigen Substanz, von der sie genommen sind, wieder gegeben werden, aufhören das zu seyn, was sie nur, von ihr abgerissen, sind; er behält also in der Unendlichkeit und Ewigkeit selbst, Zeit und Einzelheit und Wirklichkeit.« (Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 356.)

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det: der wesentlichen oder realen Existenz, der wie der Substanz Ewigkeit zukommt, und der aktualen Existenz der Modi in der Zeit.23 Diese aktuale Existenz wird als unendlicher Wirkungszusammenhang der endlichen Dinge bereits in propositio 28 des Ersten Teils der Ethik eingeführt, um dann ab dem Zweiten Teil den ganzen weiteren Gedankengang zu bestimmen – einschließlich des conatus-Theorems, das das Streben des Modus nach Selbsterhaltung mit dessen »essentia actualis« identifiziert. Als aktualisierte Essenz erstreckt sich deshalb das Selbsterhaltungsstreben in unbestimmter Zeit.24 In diese konkreten Strukturen zeitlicher Endlichkeit dringt Hegels essentialistische Spinoza-Deutung gar nicht erst vor. Im Gegenteil: Das zeitliche Sein der Dinge zum Produkt der »Einbildungskraft« zu erklären und diese These mit dem abwegigen Verweis auf propositio 28 des ersten Teils der Ethik zu belegen,25 läuft im wahrsten Sinne auf die Vernichtung des ontologischen Bodens hinaus, der Spinozas ethische, am faktischen Lebensvollzug orientierte Theorie unverzichtbar trägt. Hegels irrige Auffassung der imaginatio unterstreicht diesen Punkt. Keineswegs ist die imaginatio für die angebliche Schein-Existenz der zeitlichen Welt verantwortlich, wie Hegel behauptet. Ihr Defizit besteht nach Spinoza darin, dass sie die aktuale Existenz dieser Welt, auf die sie sich bezieht, nicht adäquat erkennt.26 Höchst aufschlussreich ist daher Hegels merkwürdig synonyme Rede von »Einbildungskraft oder Refle­ xion«. Ohne jeden Anhaltspunkt bei Spinoza selbst zeigt dies nämlich, welchem Denkmodell Hegel in Wahrheit folgt: Offenkundig hat er in Glauben und Wissen den Ansatz der Identitätsphilosophie Schellings auf Spinozas Ethik projiziert. Darauf komme ich zurück. Der Vorwurf der Projektion, den Hegel an Jacobi adressiert, fällt somit aber nicht nur auf ihn selbst zurück. Vielmehr trifft dieser Vorwurf auf Jacobi seinerseits nicht zu, der im Kontrast zu Hegel eine präzise Analyse Spinozas bietet. Festzuhalten ist erstens, dass Jacobi die ontologi23  Vgl.

Baruch de Spinoza: Ethik. Hrsg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999, V, prop. 29, scholium. 24 Spinoza: Ethik, III, prop. 7 und 8. 25 Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, GW 4, 354–355. 26  Darauf ist dann auch Spinozas Äußerung im 12. Brief zu beziehen: Aus der inadäquaten Erkenntnis der imaginatio folgt, dass sie einen abstrakten Begriff der Zeit bildet, der die Modi von der Substanz abspaltet. Spinozas Kritik an dieser Abstraktion bedeutet aber nicht, die Zeitlichkeit als ontisches Phänomen zu negieren, wie Hegel behauptet und dabei die Distinktion Spinozas zwischen essentieller und aktualer Existenz der Modi vollständig übersieht, von der gerade der 12. Brief durchgehend handelt.

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sche Differenz zwischen essentiell-realer und zeitlich-aktualer Existenz überall im Auge hat und damit verbunden auch sieht, dass Spinozas Theorie des menschlichen Erkennens und Handelns auf der Voraussetzung des aktual existierenden Körpers basiert.27 Noch entscheidender ist zweitens, dass Jacobi darüber hinaus auch nach der Möglichkeit der Begründung dieser Differenz unter den Bedingungen einer Metaphysik der Immanenz fragt und die Schwierigkeit einer solchen Begründung in Spinozas These lokalisiert, dass das zeitliche Sein der Dinge nicht unmittelbar, sondern mittelbar aus der ewigen Substanz folgt.28 Denn selbst wenn man konstatiert, dass das zeitliche Sein ein Faktum ist, das eine vollständige Ontologie – im Blick zumal auf die ethische Orientierung des Lebens – beachten muss, aber nicht direkt aus dem ewigen Sein der Substanz herleiten kann, dann ist die Frage immer noch die, wie denn dieses Faktum in die Einheit des Systems zu integrieren ist. Was also kann es heißen, wenn Spinoza in eben diesem Zusammenhang versichert: »Aber alle Dinge, die sind, sind in Gott und beruhen [dependent, v. Verf.] derart auf Gott, daß sie ohne ihn weder sein noch begriffen werden können«?29 Unter der systemischen Bedingung allumfassender Einheit kann die Dimension der zeitlichen Existenz nicht aus der Immanenz herausfallen. Deshalb kann sie auch nicht als offener – indefiniter – Prozess, vielmehr muss sie als infinit, »als wirklich unendlich« gedacht werden: mit der Folge, dass genau diese notwendig zu denkende Infinitheit der aktualen Existenz auf den »ungereimten Begriff einer ewigen Zeit« führt, »der sich durch keine mathematische Figur auf die Seite räumen läßt«.30 Dass Spinoza selbst von der Bestimmung einer »ewigen Zeit« gesprochen hat, behauptet Jacobi natürlich nicht. Nach seiner Argumentation hat sich Spinoza ja gerade 27  Vgl.

Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 102 ff. Ethik, I, prop. 28, scholium; vgl. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 277–278. 29 Spinoza: Ethik, I, prop. 28, scholium. 30 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen, 283. Im Gegenzug zu Hegels irriger Unterscheidung zwischen infiniter und »empirischer«, also indefiniter Unendlichkeit bedeutet das, dass man bei Spinoza in Wahrheit mit zwei Typen von infinit Unendlichem rechnen muß: mit einer essentiellen Unendlichkeit und einer aktualen Unendlichkeit. Dabei ist es entscheidend, dass sich das Dilemma der aktualen Unendlichkeit auch nicht dadurch auflösen lässt, dass man zwischen Dauer und Zeit unterscheidet. Sieht man vom abstrakten und damit inadäquaten Begriff der Zeit ab, den die hier ohnehin nicht einschlägige imaginatio bildet, hält Spinoza selbst keinerlei konsistente Unterscheidung zwischen Dauer und Zeit in der Ethik durch, womit gerade auch dieser Befund von neuem auf das von Jacobi markierte grundsätzliche Problem verweist. 28 Spinoza:

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über das Paradox im Zentrum seines Entwurfs in der Verwendung geometrischer Beispiele betrogen.

3. Jacobis Antwort auf Hegels Schrift findet sich in den 1803 als Beigabe zu Köppens Buch über Schelling publizierten Drei Briefen an Friedrich Köppen. Wendet man sich diesen Briefen vor dem Hintergrund der erörterten Problemlage zu, dann scheint die Debatte um die Zeit auf den ersten Blick ohne Reflex geblieben zu sein. Jacobi erwähnt Hegels Einlassung zu Spinoza nicht und insofern insistiert er auch nicht auf der sachlichen Richtigkeit seiner eigenen Analyse. Was er dezidiert als Verfälschung seiner Position zurückweist, betrifft den Vernunftbegriff, nämlich Hegels Unterstellung, »daß mir die Vernunft etwas allgemein Subjektives sey«:31 eine Auffassung, die sich definitiv nicht mit der von Jacobi reklamierten Unterscheidung zwischen einer substantiven und adjektiven Vernunft verträgt. Diesen Strang der Diskussion lasse ich hier auf sich beruhen. Denn bei näherem Hinsehen ist der erörterte Casus der Zeit sehr wohl – und zwar als die Hauptsache – präsent. Und dabei zeigt sich zugleich, warum Jacobi auf die Verhandlung Spinozas nicht mehr eigens zurückgreifen muss. Schließlich ist in Gestalt von Schellings Identitätsphilosophie die Nachfolgerin Spinozas hervorgetreten, die die bei Kant und Fichte angelegten Konsequenzen explizit zieht und der Jacobi bescheinigt, »offenbar Recht« zu haben, »sobald die absolute Nothwendigkeit einer Philosophie aus einem Stück vorausgesetzt wird«.32 Lange vor dem Streit um die Göttlichen Dinge gerät hier also Schelling erstmals ins Visier und dies deshalb, weil Jacobi aus stilistischen Gründen zwar richtig auf Hegels Autorschaft der Schrift über Glauben und Wissen geschlossen, zugleich aber auch bemerkt hat, dass die Systemvision, die im Hintergrund von Hegels Kritik steht, schellingschen Ursprungs ist.33 Nicht falsch ist daher auch seine Annahme, dass der verbal von Hegel geführte Angriff de facto als ein Unternehmen verstanden wer31 Jacobi:

Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 369. Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 364. 33  Vgl. hierzu auch von Birgit Sandkaulen: Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ›Widerlegung‹ der Spinozanischen Metaphysik. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism 5 (2007). Berlin/New York 2008, 235–275. 32 Jacobi:

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den muss, das Hegel und Schelling gemeinsam zuzuschreiben ist. Eine briefliche Äußerung Schellings belegt dies im übrigen konkret und verweist in eins damit auf den entscheidenden Punkt: »Jacobi’s speculative Seite«, so Schelling im Begleitbrief seiner Sendung von Glauben und Wissen im August 1802 an August Wilhelm Schlegel, »ist bis zu den neuesten Aeußerungen, die Sie kennen, und bis in das offenbare Grundprincip aller, die Scheu vor der Vernichtung des Endlichen, recht gut verfolgt«.34 Genau diese Einschätzung kehrt dann Jacobi seinerseits – als hätte er Schellings briefliche Notiz gekannt – hervor, indem er den gesamten Angriff in Glauben und Wissen auf den Versuch zurückführt, die Provokation seiner Doppelphilosophie zu entschärfen. Dass er aus systemlogischen Gründen das Erfordernis einer »Philosophie aus einem Stück« unterschreibt und sich doch zugleich weigert, diesem Projekt restlose Anerkennung zu zollen, ist danach ein »Widerspruch«, den sich Schelling und Hegel »nicht anders als psychologisch und moralisch aus einer Gemüthsfeigheit erklären« können, »die mich vor dem Verlust meines endlichen Wesens bange seyn und niederträchtigerweise ausschlagen läßt, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit […] überzugehen«.35 Damit aber nicht genug. Denn der Befund, dass Jacobi sehr wohl weiß, worauf es systemlogisch ankommt, diese Einsicht jedoch sichtlich nicht zugunsten des Systemprojekts Platz greifen lassen will, »weil mir, wie gesagt, vor dem Gedanken, meine Endlichkeit und Zeitlichkeit einzubüßen, schaudert«, führt schließlich dazu, dass »aus der Vollkommenheit des Nichtwollens auf eine Unvollkommenheit des Könnens zurückgeschlossen« werden muss, Jacobi mithin nicht nur bescheinigt wird, sich an ein in Wahrheit nichtiges Phänomen zu klammern, sondern auch unfähig zu spekulativem Denken zu sein.36 Beeindruckt von dieser Diagnose zeigt sich Jacobi nicht. Weder verteidigt er die ihm zugeschriebene »Scheu vor der Vernichtung des Endlichen«, um es mit Schelling zu sagen, noch weist er diesen Vorwurf als unstatthafte Vermischung psychologischer und sachlicher Motive eigens zurück. Dass die Kritik an seiner Position auf diese Weise verfährt, wird lediglich festgestellt, und mehr als das ist offenbar nicht nötig, nachdem es sich dabei um so etwas wie ein Fazit seiner vorangegangenen Darstellung von Schellings Philosophie im Zweiten Brief 34  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an August Wilhelm Schlegel, August 1802, JWA 2.2, 489. 35 Jacobi: Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 365. 36 Jacobi: Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 365–366.

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an Köppen handelt. Auf diese Darstellung, die sich auf drei Schriften Schellings, auf den Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, auf die Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, beide 1799, sowie auf die Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 bezieht, kommt es demnach an. Aber inwiefern? Gestützt auf Schellings Äußerung, bei der Konzeption seiner Naturund Transzendentalphilosophie als zwei verschiedener Wissenschaften je schon die absolute Identität vor Augen gehabt zu haben, stellt Jacobi, ausgehend von der Darstellung des Identitätssystems, die genannten Texte in einen gedanklichen Zusammenhang, was – dies sei vorab vermerkt – nicht ganz unproblematisch ist. Denn abgesehen davon, dass man über die Plausibilität von Schellings Selbstdeutung durchaus anderer Meinung sein kann, neutralisiert Jacobi die gleichwohl bestehenden Differenzen zwischen Natur- und Identitätsphilosophie durch ein Verfahren, das Textpassagen aus beiderlei Kontexten miteinander verschmilzt. Allerdings sind diese Passagen besonders eindrücklich gewählt. Kontextübergreifend markieren sie das Grundproblem, in das sich Schelling tatsächlich verstrickt und das Jacobis Darstellung zufolge eben darauf zurückzuführen ist, das »Räthsel von dem Ursprunge und Bestehen der Dinge, deren Inbegriff wir Welt, Natur oder Universum nennen, menschlich«,37 das heißt in einem Akt systemischer Konstruktion, lösen zu wollen. Dann nämlich verschwindet diese Welt als wirklich existierende endliche Welt nicht nur aus dem Blick, insofern sie je schon in eine Einheit aufgelöst ist, die die Differenz zwischen Unendlichem und Endlichem als eine nur mehr interne Differenz absorbiert. Eigentlich ruinös für diesen Ansatz ist vielmehr das, was daraus folgt: dass die Rede von der Natur überhaupt jeglichen bestimmten Sinn verliert. »Ihr Wesen«, so rekapituliert Jacobi Schellings Entwurf einer spekulativen Physik, »ist daher Identität und Indifferenz des Könnens und Nichtkönnens: reine, durchaus gleichgültige Geschäftigkeit. Sie will weder Gestalt noch Ungestalt, sondern absolut ein Weder das Eine noch das Andre; sie will absolut das, was nie werden kann, damit ein ewiges Werden und nur dieses sey. Ein hermaphroditischer ewiger Beyschlaf ohne Erzeugung ist ihr wahrhaftes Leben und Weben. Sie dualisirt sich, in so fern sie sich dualisirt, einzig und allein, um diesen Zustand eines simulirenden Erzeugens hervorzubringen.«38 37 Jacobi: 38 Jacobi:

Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 355. Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 359–360.

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Dass in Gestalt des »ewigen Werdens«, in dem deshalb nichts eigentlich wird und werden soll, die früher an Spinoza adressierte Problematik der »ewigen Zeit« wiederkehrt, ist offensichtlich. Allerdings geht aus Jacobis Darstellung zugleich auch hervor, dass diese Problematik durch Schelling nun noch deutlich übertroffen wird. Schelling ist Erbe und Nachfolger Kants und Fichtes, mit denen das Konstruktionsparadigma der Systemlogik zu ausdrücklichem Bewußtsein gekommen ist. Im Vergleich zu Spinoza bedeutet das erstens, dass Schellings Naturund Identitätsphilosophie keinen Anhalt mehr für diejenige Unterscheidung bietet, die Spinoza zwischen der essentiellen und der aktual-zeitlichen Existenz des Endlichen als einer ontologisch gehaltvollen Unterscheidung getroffen hatte. Vielmehr ist Schelling tatsächlich der Auffassung, die Hegel dann wie gesehen fälschlich auf Spinozas Ontologie projiziert und die offenbar auch Schelling selbst für ein adäquates Verständnis Spinozas hält, dass die endliche Welt als eine zeitlich verfasste Welt »überhaupt und schlechthin nichts« ist und allein »nach Gesetzen des Reflexes« entsteht.39 Mit dieser offensiven Vernichtung der zeitlichen Welt und der Aufhebung des Endlichen in die absolute Einheit mit dem Unendlichen geht zweitens einher, dass sich – wiederum anders als im Fall Spinozas – auch der Einwand erübrigt, sich über die innere Widersprüchlichkeit des Konzepts hinwegzutäuschen. Der widersprüchliche Gedanke eines »ewigen Werdens«, das »keineswegs antiproduk-tiv, doch ganz und gar anti-produktisch ist«,40 das eine »antiproduktive Produktivität und produktive Antiproduktivität« in sich verbindet,41 dieser Gedanke ist es ja gerade, der planmäßig angezielt und als die einzig wahre Auffassung des Sachverhalts behauptet wird. Allerdings bezahlt er dafür auch den Preis, jeglichen bestimmten Sinn und jede Möglichkeit präziser wirklichkeitsaufschließender Aussagen einzubüßen. »Damit die Vernunft aufgehe, muß der Verstand untergehen«, kommentiert Jacobi diesen Befund, um vollends ironisch mit den Worten zu schließen, dass »das Versinken in dieser Alleinsicht von einer solchen allgenugsamen Anschauungs- und Betrachtungsseligkeit begleitet seyn [soll], daß der

39  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke in XIV Bänden. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Bd. IV, 333–510, hier: 385–386. Im Folgenden zitiert als SW mit Angabe der Bandnummer in römischen Zahlen. 40 Jacobi: Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 359. 41 Jacobi: Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 361.

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diesen Zustand Kostende sich tief in die Erde hinein schämen würde, über ihn hinaus noch irgend einen anderen Wunsch zu hegen«.42 Ob Hegel diese Kritik Jacobis an Schelling zur Kenntnis genommen hat? Nicht zu übersehen ist jedenfalls, dass er sich Jahre später in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes mit verblüffend ähnlichen Argumenten seinerseits von Schelling distanziert.

4. Ob direkt inspiriert durch Jacobi oder nicht: Zweifellos ist Hegels Bruch mit Schelling als Indiz dafür zu werten, dass das zunächst so vehement verfolgte Programm einer »Vernichtung des Endlichen« einschließlich der gegen Jacobi ins Werk gesetzten Polemik, mit der Hinsicht auf die Zeitlichkeit endlicher Existenz einer baren »Nichtigkeit« anzuhängen, eine fatale Fehleinschätzung gewesen ist. Eine Fehleinschätzung dessen, was philosophisch geleistet werden muss, im Übrigen auch in den Augen Schellings, wenn er später die gesamte Phase seiner Natur- und Identitätsphilosophie unter das – vermeintlich immer schon verfolgte – Vorzeichen einer negativen Philosophie setzt und in eben diesem Zusammenhang der Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie dem Phänomen der Zeit größte Aufmerksamkeit schenkt: »Die Zeit ist der Anfangspunkt aller Untersuchungen in der Philosophie und nie wird sich eine verständliche Entwicklung geben laßen ohne bestimmte Erklärung von der Zeit.«43 In Anbetracht solcher erheblicher Änderungen ist es nicht übertrieben festzustellen, dass Jacobi um und nach 1800 seiner Zeit offenkundig weit voraus gewesen ist. Damit drängen sich aber zugleich zwei Fragen auf. Die Frage ist erstens, was Schelling und Hegel zu ihrer zunächst vertretenen Auffassung motiviert hat. Einfach ignorieren lässt sich der erörterte Befund schon deshalb nicht, weil ohne Analyse des Ausgangspunkts unklar bleibt, inwieweit und warum die ›Systeme in Bewegung‹ geraten. Wie also ist es denkbar, dass das Phänomen der Zeit geradezu

42 Jacobi:

Drei Briefe an Friedrich Köppen, JWA 2.1, 361. Wilhelm Joseph Schelling: System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hrsg. und eingeleitet v. Siegbert Peetz. Frankfurt/M., erweiterte Aufl. ²1998, 16. – Hinsichtlich seiner eigenen früheren Konzeption vermerkt Schelling nun zugleich ausdrücklich: »Ein ewiges Geschehen ist aber kein Geschehen.« (Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW X, 1–200, hier: 124). 43  Friedrich

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mit Inbrunst für irreal und das Interesse an diesem Phänomen für irrelevant erklärt worden ist, wo es doch nach Kant eigentlich darum geht, einen neuen Realismus zu begründen? Es scheint mir nicht abwegig, zumindest ein mögliches Motiv in Kants Zeitlehre als subjektiver Anschauungsform a priori zu vermuten. In seiner Schrift von 1801 Über das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen hat Jacobi diese Position Kants in seine Erörterung der Zeitproblematik einbezogen und vehement kritisiert, während umgekehrt gerade Kants Zuweisung der Zeit an die Erscheinung dazu veranlasst haben mag, zeitliche Phänomene für Produkte der Imagination auszugeben und die wahre Realität woanders zu suchen. Sind Schelling und Hegel in diesem Sinne noch immer Kantianer und lesen eben deshalb auch Spinozas Ontologie und Jacobis Kritik an Spinoza eindeutig falsch? Die zweite Frage schließt daran direkt an. Wenn meine Vermutung richtig ist (ohne darum schon die überwältigende Perhorreszierung des Endlichen zu erklären), dann wäre im weiteren Verfolg der nachkantischen Systementwürfe zu prüfen, ob, wann und inwiefern eine Distanzierung von Kants Theorie der Zeit zu beobachten ist. Hinreichend ist dies aber noch nicht. Denn sofern es sich weiterhin um die Ambition von Systemprojekten handelt, kommt es nicht einfach nur auf die Hinsicht auf die Zeit als ontologisch gehaltvolles Phänomen, sondern auf die Integration dieser Hinsicht in das Systemganze an. Entscheidend zu verfolgen ist deshalb letztlich das Problem, vor das Jacobi in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza von Anfang an gestellt hat: dass aus systemlogischen Gründen mit der Wiederkehr der Paradoxie einer »ewigen Zeit« auch im Postkantianismus gerechnet werden muss.

Martin Bondeli Denken statt Vorstellen. Überlegungen zu Reinholds Parteinahme für ein System des Rationalen Realismus Karl Leonhard Reinhold gibt um 1800 bekannt, er werde seinen philosophischen Weg mit einer Lehre des ›Denkens‹ fortsetzen, genauer: mit einem System des Logischen Realismus oder Rationalen Realismus,1 zu welchem Christoph Gottfried Bardili mit seinem Grundriß der Ersten Logik die Vorlage geliefert habe.2 Rund zehn Jahren zuvor hat Reinhold in der Absicht, Kants Vernunftkritik zu vollenden, ein aus einer Theorie des Vorstellungsvermögens entwickeltes System der Elementarphilosophie oder ›Philosophie ohne Beynamen‹ aufgestellt und damit den Entwicklungsgang der nachkantischen Systemphilosophie Fichtes, Schellings und Hegels eingeleitet.3 Von Ende 1796 bis 1799 hat er Fichtes Wissenschaftslehre als legitimes Nachfolgesystem der Elementarphilosophie verteidigt und daraufhin seine eigene, veränderte Position als Verbindung von Wissenschaftslehre und jacobischer Glaubenslehre, als »Standpunkt zwischen Fichte und Jacobi«,4 kenntlich gemacht. Nach der Abfassung seiner bis 1805 erscheinenden Schriften und Aufsätze zum Rationalen Realismus wird er sich für den Rest seiner intellektuellen 1  Im

Folgenden werde ich mich auf den Ausdruck ›Rationaler Realismus‹ beschränken, den Reinhold bei den einschlägigen Darstellungen dieses Systems bevorzugt hat. 2  Christoph Gottfried Bardili: Grundriß der Ersten Logik, gereinigt von den Irrthümmern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondere. Keine Kritik sondern eine Medicina mentis, brauchbar hauptsächlich für Deutschlands Kritische Philosophie. Stuttgart 1800. – Das Herder, Schlosser, Eberhard und Nicolai dedizierte Werk erschien bereits zur Michaelismesse 1799. 3  Den Auftakt zu diesem nachkantischen Systemunternehmen bildet Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/ Jena 1789 (K. L. Reinhold: Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. v. Martin Bondeli. Basel 2013. Bd. 1. Im Folgenden zitiert als RGS mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen.). Ab 1790 erweitert Reinhold die Systemkonzeption des Versuchs zu einem in Abteilungen der reinen und empirischen, theoretischen und praktischen Philosophie untergliederten System der ›Philosophie‹ schlechthin. Die Bezeichnung ›Elementarphilosophie‹, die sich für dieses System umgehend eingebürgert hat, steht eigentlich nur für dessen Grundlagenteil. Man beachte dazu die Systemidee und den Systemplan im Versuch einer neuen Eintheilung der Philosophie, in: Karl Leonhard Reinhold: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Bd. 1: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. Jena 1790, 85–90. 4  So lautet Reinholds Bezeichnung im Sendschreiben an J. C. Lavater und J. G. Fichte über den Glauben an Gott. Hamburg 1799, 6.

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Laufbahn dem sprachphilosophischen Projekt einer ›Synonymik‹ widmen.5 Man hat es bei dem System des Rationalen Realismus demnach mit dem obgleich noch nicht fertigen, so doch reifen, erfahrungsreichen und durch die Auseinandersetzung mit kongenialen Mitstreitern geprägten Denkergebnis eines ursprünglich von Kant ausgehenden Philosophen zu tun.

1. Der Rationale Realismus und das Identitätssystem Schellings und Hegels Betrachtet man den Rationalen Realismus im Zusammenhang der diversen Phasen und Fraktionen der nachkantischen Systemphilosophie der 1790er Jahre und des darauf folgenden Jahrzehnts, gilt es insbesondere auf Parallelen mit dem sich gleichfalls um 1800 formierenden identitätsphilosophischen System Schellings und Hegels aufmerksam zu machen.6 Sowohl im Rationalen Realismus Reinholds und Bardilis als auch im Identitätssystem Schellings und Hegels besteht das Bemühen, ein monistisches Gesamtsystem der Philosophie zur Ausführung zu bringen, das seiner Grundarchitektonik nach aus logischen, naturphilosophischen und geistphilosophischen Teilen komponiert wird. In beiden Richtungen wird dafür argumentiert, dass als höchstes und, in 5  Zu

nennen sind hier die Aufsätze zur Darstellung und Verteidigung des Rationalen Realismus aus den von Reinhold herausgegebenen und großenteils auch selbst verfassten 6 Heften der Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts (Hamburg 1801–1803) sowie seine Schriften zum Thema des Widerspruchs und der analytischen Methode aus den Jahren 1804 und 1805. 6  Es geht dabei um Parallelen zwischen dem Rationalen Realismus und der Identitätsphilosophie Schellings und Hegels, die nicht nur, wie noch Franz Wolfgang Garbeis (Bibliographie zu Christoph Gottfried Bardili. Aus den Quellen ermittelt und historisch-kritisch erläutert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, 26) meinte, bloß die »makroskopische« Systemdimension betreffen. Diese Parallelen erstrecken sich, neben der allgemeinen Systemarchitektonik, auch auf das Anfangsprinzip und die dynamischstufenförmige Struktur des Systems sowie auf die ihm immanente Logikkonzeption und Erkenntnismethode. Eine detaillierte Untersuchung in dieser Sache, bei der selbstverständlich zu beachten ist, dass der Rationale Realismus Reinholds nicht in jeder Hinsicht den Vorgaben Bardilis entspricht und dass von Anbeginn stets auch gewisse Differenzen zwischen Schelling und Hegel in Bezug auf die gemeinsam durchgefochtene Identitätsphilosophie bestehen, steht noch aus. Ansätze dazu finden sich im 3. Hauptteil meiner Monographie Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803. Frankfurt/M. 1995.

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der Abfolge der Bestimmungen, erstes Prinzip des Systems kein anderes in Frage kommen kann als das unbedingte ›Seyn‹ oder – wie es bei Reinhold und Bardili häufig genannt wird – das »Seyn κατ’ ἐξοχήν«.7 Beiden Richtungen zufolge soll dieses Prinzip dabei in logischer, ontologischer, entwicklungslogischer und theologischer Bedeutung aufgefasst werden. So soll es sowohl für eine logische Einheit, die dem Urteilen und Schließen vorangeht und sich darin als ›Est‹ des Urteils und ›Ergo‹ des Schlusses identifizieren lässt, als auch für den an sich seienden Gegenstand, den wir zu denken und zu erkennen haben, stehen. Ferner soll es das werdende Sein, das durch Stufen, Entwicklungsgrade und Potenzen charakterisiert ist, bezeichnen sowie schließlich das göttliche Wesen, das sich in der Welt realisiert oder – wie Reinhold sich gerne ausdrückt – ›manifestiert‹. In beiden Richtungen wird zudem, in Abhebung von Kants transzendentaler, sich auf den Bereich endlicher Erfahrung beziehender Form von Erkenntnisbegründung, die epistemologische These vertreten, dass man zu realer (das heißt nicht bloß formaler) und wahrer (das heißt nicht scheinbarer, nicht falscher, nicht unvollständiger) Erkenntnis dann und nur dann gelangt, wenn man von der rein logischen oder vernünftigen Idee der Einheit von Denken und Sein ausgeht.8 Und schließlich ist beiden Richtungen eine Distanzierung von der Subjektphilosophie eigen. Beide verstehen ihr höchstes Prinzip des ›Seyns‹ auf je eigene Weise als Alternative zu Fichtes Ausgang vom ›Ich‹. Um nachvollziehen zu können, weshalb die besagten Parallelen bestehen, muss man sich die Überschneidung zweier Denkkontexte vor 7 

Siehe Bardili: Grundriß der Ersten Logik, 247. und Bardili vertreten diese These ausdrücklich in Auseinandersetzung mit der gegen Fichte gerichteten Erklärung Kants von 1799, wonach es vergebliche Mühe sei, aus der reinen Logik ein reales Objekt herauszuklauben. Das logische Denken, wird es nur richtig verstanden, sei, so Bardili, gerade nicht subjektiv, sondern objektiv, der »Schlüssel zum Wesen der Natur« (Bardili: Grundriß der Ersten Logik, XV). Schelling und Hegel machen diese These vornehmlich gegen einen Kant geltend, der eine wahre philosophische Idee in unphilosophischer Art und Weise artikuliert. In seinen moralisch-praktischen Überlegungen zum Glauben an Gott spricht Kant, so Hegel, in verkappter Weise aus, »daß das unendliche Denken zugleich absolute Realität ist oder die absolute Identität des Denkens und des Seyns« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: Kritisches Journal der Philosophie 2/2 (1802), in: ders.: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Bd. 4, 313–414, hier: 344–345. Im Folgenden zitiert als GW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen). 8 Reinhold

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Augen halten: der Tübinger Seins- und Vereinigungsphilosophie einerseits und der Jenaer Vorstellungs- und Subjektphilosophie andererseits. Nicht nur in der frühen Denkentwicklung Schellings und Hegels, sondern auch in Reinholds Philosophieren um 1800 kommt es zu einer e ­ igentümlichen Zusammenführung beider Strömungen. Im Falle Schellings und Hegels werden durch Ideen Spinozas, Herders und Jacobis modifizierte religiöse Tübinger Vereinigungsideale mit dem ­Jenaer Kantianismus reinholdscher und fichtescher Herkunft synthetisiert. Im Falle Reinholds ergibt sich aufgrund der Zuwendung zu Bardili eine Verbindung des Jenaer Kantianismus mit einer orthodox anmutenden Tübinger Seinsmetaphysik. Bardili, ein Cousin Schellings, hat am Tübinger Stift wenige Jahre vor Hölderlin, Hegel und Schelling studiert und als Tutor gewirkt.9 Auffällig sind sein Anschluss an das vom Tübinger Stiftslehrer Gottfried Ploucquet hochgehaltene leibnizsche Projekt der Universalmathematik und seine Vorliebe für eine durch neupythagoreische und neuplatonische Quellen beeinflusste Metaphysik des Einen schlechthin.10 Er verkörpert zwar einen anderen Gelehrtenschlag und eine andere Stiftsgeneration als Hölderlin, Hegel und Schelling, aber er teilt selbstverständlich mit den Jüngeren eine Vielzahl von Ideen, die als typisch für die Tübinger Lehre gelten. So ist der von Hölderlin und Hegel während der 1790er Jahre ausgiebig diskutierte Gedanke eines »Seyns schlechthin«, welches insbesondere den Kontrapunkt zu Vorstellungen der »Ur-Theilung« und der »ursprünglichen Trennung« des Vereinigten in die Bereiche von »Object und Sub-

9 Hölderlin und Hegel haben 1790 Bardilis Veranstaltung Usus scriptorum profanorum in Theologia besucht (vgl. Wilhelm G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 65, 67). Zu beachten ist ferner, dass Bardili von 1788 bis 1790 in den Tutorien des Stiftes für die Vermittlung der auf der Grundlage von Ploucquet gelehrten Logik zuständig war (vgl. Michael Franz/Riccardo Pozzo: Erläuterungen zu Ploucquets Inauguralthesen zur Metaphysik (1790), in: »…im Reiche des Wissens cavalieremente«? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen. Hrsg. v. Michael Franz. Tübingen 2005, 40). 10  Zur philosophischen Entwicklung und zu den Hauptwerken Bardilis vgl. Fritz Karsch: Christoph Gottfried Bardili. Der Vertreter des logischen Realismus im Zeitalter des deutschen Idealismus. Marburg 1923 [Dissertation]; Rebecca Paimann: Denken als Denken. Die Philosophie des Christoph Gottfried Bardili. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009. Zur Charakterisierung von Bardilis Logikkonzept siehe neben den betreffenden Abschnitten bei Karsch und Paimann auch Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 277–314. Zur Bedeutung Bardilis für die Tübinger Platon-Interpretation vgl. Michael Franz: Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen 1996, 138–149.

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ject« bilden soll,11 auch in der Systematik von Bardilis Logikkonzept von tragender Bedeutung.12 Sachliche Parallelen und Gemeinsamkeiten in den Denkvoraussetzungen können, aber müssen freilich nicht zur Konsequenz haben, dass sich gleichfalls das Verhältnis der beteiligten Parteien oder Akteure untereinander harmonisch gestaltet. Im vorliegenden Falle herrscht zwischen den Hauptexponenten des Rationalen Realismus und jenen der Identitätsphilosophie Feindschaft und Rivalität. Beide Lager bezichtigen den jeweiligen Antipoden der ›Philodoxie‹ und erheben den Anspruch, das avancierteste und einzig richtige philosophische System des angebrochenen neuen Jahrhunderts aufgestellt zu haben. Da in der Tat zwei ähnliche Systeme aufeinander stoßen, ergibt sich überdies ein zäher Streit um die Urheberschaft postkantischer und postfichtescher Einheitsideen. Daraus entspannt sich über mehrere Jahre hinweg eine teils bissige und witzige, teils stumpfe, geschmacklose und mit der Zeit langweilige Polemik.13 Zweifellos bestehen zwischen dem Rationalen Realismus und dem Identitätssystem auch in der Sache nicht nur Parallelen. Schelling und Hegel plädieren für einen strengen Monismus des Wissens und für 11  Vgl.

Friedrich Hölderlin: Seyn Urtheil Möglichkeit, in ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge. Bd. 4. Hrsg. v. Dietrich E. Sattler. München 2004. 163–164, hier: 163. 12 Bardili stellt den Übergang vom Denken schlechthin, welches unweigerlich höchste Einheit und Sein implizieren soll, zu dem auf die Materie, auf die Mannigfaltigkeit des Stoffes, bezogenen Denken in den Zusammenhang einer »Ur-theilungs- oder Objekt-lehre« (vgl. Bardili: Grundriß der Ersten Logik, 67). Der Übergang des Denkens schlechthin zur Materie wird mit anderen Worten als ursprüngliche Teilung des Seins dargestellt, auf logischer Ebene als Verwandlung des reinen Denkens in das Urteilen und Schließen, auf erkenntnistheoretischer Ebene als Fortbestimmung des Seins im Hinblick auf Objekte. 13  Die Attacken Reinholds und Bardilis finden sich verstreut in den Heften der Beyträge zur leichtern Uebersicht, jene der Gegenpartei in Hegels Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen System der Philosophie, GW 4, 1–92 sowie in ders.: Einleitung. Ueber das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere, in: Kritisches Journal der Philosophie 1.1 (1802), GW 4, 113–194. Zu den Hintergründen und zur Abwicklung des Streites vgl. vor allem Manfred Zahn: Fichtes, Schellings und Hegels Auseinandersetzung mit dem »Logischen Realismus« Christoph Gottfried Bardilis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29/2 (1965); Helmut Girndt: Die Differenz des Hegelschen und Fichteschen Systems in der Hegelschen »Differenzschrift«. Bonn 1965. Zur Beurteilung einzelner Vorwürfe vgl. Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 311–314, 316–327, 336–339, 353–362; Rolf Ahlers: Reinhold on Being, Appearance and Ursein and some Consequences, in: Wille, Willkür, Freiheit. Reinholds Freiheitskonzeption im Kontext der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Violetta Stolz/ Marion Heinz/Martin Bondeli. Berlin/Boston 2012, 471–512.

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eine starke Idee der Vereinigung von subjektiven und objektiven, intellektuellen und sinnlichen Erkenntniskomponenten, Reinhold und Bardili dagegen favorisieren einen Monismus, der die Differenz von Glauben und Wissen nicht völlig aufhebt, und konzentrieren sich stärker auf das Ziel diskursiver Allgemeingeltung denn auf jenes der Vereinigung gegensätzlicher Erkenntniskomponenten.14 Schelling und Hegel legen großen Wert auf die Ausarbeitung von Denkfiguren, welche die Systemdynamik und das begriffliche Fortschreiten betreffen, Hegel dabei insbesondere auf die Erklärung des begrifflichen Fortschreitens als antinomisches Verhältnis von Selbstbeziehung und Negation, als Weg einer »duplicis negationis, die wieder affirmatio ist«.15 Reinhold dagegen setzt seinen Schwerpunkt bei Theoremen der Begründung von Wissen und operiert vor diesem Hintergrund vornehmlich mit einer Begrifflichkeit, die sich um ein Verhältnis von Form und Materie dreht sowie um eine Methode der »Analysis«, die sich aus den Momenten der »Synthesis«, »Disjunktion« und »Konjunktion« sowie »Thesis«, »Antithesis« und »Hypothesis« zusammensetzt.16 Schelling und Hegel kritisieren die Subjektphilosophie primär aufgrund der Überlegung, dass diese bisher – und dabei insbesondere in ihrer fichteschen Gestalt – die Natur und deren Geistpotentiale ungenügend in den Blick gebracht, die Natur somit in ihrer Lebendigkeit und Eigenständigkeit nicht anerkannt hat.17 Die Subjektivität in der Bedeutung von Geist soll Schelling und Hegel zufolge deshalb über Fichte hinaus auch als etwas, was bereits rudimentär in der Natur vorliegt, wiedergegeben 14 

Die Tatsache, dass Reinhold und Bardili für eine schwächere Variante des Monismus eintreten, trägt ihnen von Seiten Schellings und Hegels den Vorwurf des Dualismus ein. Reinhold seinerseits versucht aufzuzeigen, dass der strenge Monismus Schellings und Hegel zu einem impliziten Dualismus führt (vgl. Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 369–376). 15  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe II. Hrsg. v. Rolf-Peter Horstmann/Johann Heinrich Trede. Hamburg 1971, GW 7, 34. 16  Vgl. hierzu vor allem Karl Leonhard Reinhold: Die Elemente des rationalen Realismus oder der philosophischen Analysis, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Zweytes Heft (1801), 179–205, hier: 184 ff.; ders.: Neue Darstellung der Elemente des rationalen Realismus, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Drittes Heft (1802), 128–162, hier: 133 ff.; ders.: Elemente einer Phänomenologie oder Erläuterung des rationalen Realismus durch seine Anwendung auf die Erscheinungen, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Viertes Heft (1802), 104–185, hier: 144 ff.; ders.: Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Sechstes Heft (1803), 1–117, hier: 45 ff. 17  Wie Hegel behauptet, entspricht Fichtes Teleologie des Subjekts dem gemeinen teleologischen Prinzip, »daß die Natur Nichts an sich, sondern nur in Beziehung auf ein Anderes, ein absolut Unheiliges und Todtes ist«. (Hegel: Glauben und Wissen, GW 4, 405).

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werden. Reinhold dagegen kritisiert die Subjektphilosophie, als deren vollständigster Ausdruck ihm nebenbei nicht Fichtes Wissenschaftslehre, sondern Schellings Naturphilosophie erscheint,18 weil er in ihr einen Grundirrtum entdeckt zu haben glaubt. Die Subjektphilosophie, so diagnostiziert Reinhold, gehört zum philosophischen Paradigma des Vorstellens oder subjektiven Denkens, welches alles echte, objektive Denken verkennt. Dem entsprechend wird nicht eine Korrektur oder vertiefte Fundierung der Subjektphilosophie angestrebt, sondern der Bruch mit derselben, und das objektive Denken wird im Sinne eines neuen philosophischen Paradigmas als Standpunkt des ›Denkens als Denkens‹19 geltend gemacht. Sowohl im Rationalen Realismus als auch in der Identitätsphilosophie sind diese und weitere sachlichen Abweichungen vom jeweiligen Gegensystem zwar ebenfalls bereits diskutiert, jedoch mit schlagwortartigen Kontrastierungen wie jenen von Spekulation und Reflexion, Monismus und Dualismus, Philosophie und Philodoxie völlig unzureichend auf den Begriff gebracht worden. Ich habe im Folgenden nicht vor, auf die diesbezüglichen Debatten einzugehen, und es ist auch nicht meine Absicht, die genannten sachlichen Unterschiede zwischen Rationalem Realismus und Identitätssystem weiter auszuführen. Mich interessiert vielmehr die Frage, wie man den von Reinhold vollzogenen Übergang von einem Paradigma des Vorstellens oder subjektiven Denkens zu einem Paradigma des objektiven Denkens oder ›Denkens als Denkens‹ beurteilen soll. In welche Richtung bewegt sich Reinhold mit seinem neuen Paradigma? Geht er voran oder fällt er zurück? Entwickelt er etwas, was, wie zuvor bei seinem System der Elementarphilosophie, einen kantischen Ausgangspunkt fortsetzt oder trifft das von manchen Interpreten gefällte Urteil zu,20 dass er als rationaler Realist zum Apologeten einer vorkritischen Gestalt des Philosophierens wird?

18  Vgl. Karl

Leonhard Reinhold: Ideen zu einer Heautogonie oder natürlichen Geschichte der reinen Ichheit, genannt, reine, Vernunft, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Erstes Heft (1801), 135–154; ders.: Ueber die Autonomie als Princip der praktischen Philosophie der Kantischen und der gesammten Philosophie der Fichtisch-schellingschen Schule, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Zweytes Heft (1801), 104–140. 19  Zum Ausdruck ›Denken als Denken‹ siehe Anm. 40. 20  Genannt sei stellvertretend Alfred Klemmt. Dessen Darstellung zum Rationalen Realismus (vgl. Alfred Klemmt: Die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds nach 1800, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), 79–101 und 250–277) steht im Zeichen der Auffassung, dass Reinhold mit diesem System hinter die Philosophie Kants und die eigene Elementarphilosophie zurückfällt.

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Die Vermutung, Reinhold falle hinter Kant zurück, ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Denn weshalb soll im Blick auf die Begründung von Erkenntnis wiederum der Begriff des Denkens im Zentrum stehen und die Annahme einer Einheit von Denken und Sein verteidigt werden, nachdem doch Kant ausführlich dargelegt hat, dass Denken noch kein Erkennen ist und dass ein Schluss vom Denken auf das Sein in jenen Fällen, wo es um Vorstellungen des Ersten oder Höchsten geht, eine äußerst dubiose Angelegenheit ist? Weshalb soll wiederum für ein objektives Denken, das erklärtermaßen von subjektivem Denken abzuheben ist, Partei ergriffen werden, nachdem Kant die eminente Bedeutung von Leistungen des Erkenntnissubjekts für das Verständnis objektiv gültiger Erkenntnis aufgewiesen und überdies dafür argumentiert hat, dass nur unter der Annahme einer vorstellenden Subjektivität und der damit verbundenen These der Unerkennbarkeit der Dinge, wie sie an sich sind, eine Überwindung des erkenntnistheoretischen Dogmatismus möglich ist? Ob die besagte Vermutung auch als erhärtet gelten kann, ist allerdings eine andere Frage. Ich werde mich den beiden Themen, der Einheit von Denken und Sein sowie der Frage des objektiven Denkens, im Einzelnen zuwenden. Um Reinholds neuen Standpunkt in ausreichender Weise transparent machen zu können, muss ich allerdings vorgängig auf einige Ergebnisse der kantischen Erkenntnistheorie, die für Reinhold vor 1800 bedeutsam waren, sowie auf einige allgemeine Tendenzen und Überlegungsschritte in Reinholds Denkweg unmittelbar vor 1800 zu sprechen kommen.

2. Kant, Reinholds Vorstellungstheorie und der Weg zu einer anti-subjektivistischen Seinslehre In Kants erkenntnistheoretischer Begrifflichkeit wird »Denken« seinem Wesen und seiner Funktion nach von »Anschauung« unterschieden.21 Das Vermögen des Denkens, dessen Werkzeug in dem in Urteilen und Schlüssen verwendeten Begriff besteht, ist Spontaneität und stiftet Einheit, das Vermögen der Anschauung dagegen, dem ein Gegenstand als Empfindung gegeben sein muss, ist Rezeptivität und empfängt im Rahmen seiner reinen Formen, Raum und Zeit, etwas Mannigfaltiges. Das Denken oder der Begriff gilt als Vorstellung, die sich mittelbar, die An21 Vgl.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, A 19/B 33; A 50–51/B 74–75; A 67–68/B 92– 93.

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schauung als Vorstellung, die sich unmittelbar auf einen Gegenstand bezieht. Im Denken stehen Inhalte als ein Besonderes unter einem Begriff als Allgemeinem, in der Anschauung, die es mit dem Einzelnen zu tun hat, gilt ein Immanenzverhältnis von Ganzem und Teilen. Da nur Begriff und Anschauung zusammen Erkenntnis bewirken können, wird das »Denken« gleichfalls in markanter Weise vom »Erkennen« abgehoben.22 Von Denken kann dort die Rede sein, wo der Verstand als Instanz des denkenden Ich die Einheit des in der sinnlichen Anschauung gegebenen Mannigfaltigen zu garantieren hat sowie in der Eigenschaft eines synthetischen Vermögens des Urteilens als ein Ensemble von Denkformen (Urteilsfunktionen, Kategorien) auftritt, von Erkennen dort, wo der kategoriale Verstand sich mittels Einbildungskraft auf das in der sinnlichen Anschauung Gegebene bezieht. Wenn Kant auf der Basis dieses Verständnisses von Erkennen einen transzendentalen Beweis führt, bei dem dafür argumentiert wird, dass ohne Kategorien des Verstandes Erfahrung unmöglich wäre (das heißt Erfahrungssätze nicht artikuliert werden könnten), dass wir nun aber über Erfahrungssätze verfügen und dass deshalb die Kategorien objektiv gültig oder als Bedingungen von Erfahrung zugleich Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung sind,23 kann man durchaus von einer Einheit von Denken und Sein oder auch von einem Schluss vom Denken auf das Sein sprechen. Aber es versteht sich, dass in diesem Zusammenhang nur ein Denken in Frage kommt, das im Vorhinein auf eine unter den Ordnungsstrukturen von Raum und Zeit stehende und somit endliche Erfahrung abgestimmt ist. Es geht mit anderen Worten um ein Denken, genauer: um Denkbestimmungen, innerhalb des Kreises formaler Bedingungen der endlichen Erfahrung. Zudem gilt es bei dem Schluss vom Denken auf das Sein zu vergegenwärtigen, dass unter ›Sein‹ ein Gegenstand oder Sachverhalt gemeint ist, der aus den formalen Erfahrungsbedingungen sowie aus der als »materiale« Erfahrungsbedingung aufgefassten Tatsache, dass grundsätzlich ein Zusammenhang mit der »Empfindung« besteht,24 das heißt ein Bezug auf den Stoff der Erfahrung vorliegt, erschlossen wird. Es handelt sich somit um einen Gegenstand oder Sachverhalt möglicher (ausgehend von den Erfahrungsbedingungen erschlossener) Er22  Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 55 ff./B 79 ff.; B 131 ff., B 146 ff., B 150 ff. Argument ergibt sich sinngemäß ausgehend vom »Principium« der trans­zendentalen Deduktion (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 93–94/B 126–127) sowie vom »obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 158/B 197). 24  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 218/B 265–266; A 233/B 270. 23  Dieses

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fahrung und nicht zugleich auch wirklicher (sowohl ausgehend von den Erfahrungsbedingungen als auch ausgehend von den jeweiligen empirischen Gegebenheiten erschlossener) Erfahrung. Die Eingrenzung des Erkennens auf endliche Erfahrung soll, wie Kant im Anschluss an sein begründendes Vorgehen darlegt, mit der Konsequenz einhergehen, dass sich – entgegen den Ansichten des klassischen Rationalismus – die als Vorstellungen des Unendlichen aufzufassenden Hauptbegriffe der bisherigen Metaphysik (Seele, Welt, Gott) nur noch als Vernunftideen oder als Postulate der praktischen Vernunft rekonstruieren und begründen lassen. Als Vernunftideen dienen sie dabei am Ende nicht der eigentlichen, konstitutiven Herausbildung von Erkenntnis, sondern der regulativen Vereinheitlichung oder Systematisierung von Erkenntnissen. Denn das eigentliche Geschäft oder die Hauptidee der theoretischen Vernunft ist »das Systematische der Erkenntnis«.25 Als Postulate der praktischen Vernunft stehen sie im Kontext einer mit dem Sittengesetz einhergehenden Forderung nach Realisierung der Idee einer moralischen Welt. Als Reinhold im Jahre 1789 mit seiner vorstellungstheoretischen Neudarstellung der Vernunftkritik an die philosophische Öffentlichkeit trat, sah er keinen Grund, dieses kantische Ergebnis zu den Auffassungen von Denken, Anschauung und Erkennen sowie die kantische Eingrenzung des Erkennens auf den Bereich endlicher Erfahrung in Frage zu stellen. Im Gegenteil war Kant für ihn in diesen Punkten nachgerade das Maß aller Dinge. Was ihn aber irritierte und am Ende zu kritischen Revisionen der Vernunftkritik antrieb, war Kants im Zusammenhang der Erkenntnisfrage selbstverständliche, jedoch nicht ausreichend thematisierte Verwendung des Vorstellungsbegriffs.26 Bei seiner Interpretation der Kritik der reinen Vernunft richtete Reinhold ein besonderes Augenmerk auf die Tatsache, dass Kant, so sehr er die Bereiche der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft voneinander separiert, diese gleichwohl durch die Annahme eines vorstellungstheoretischen Erkenntnismodells vereinheitlicht. In allen Bereichen wird mit einem Erkenntnismodell operiert, welches die Bezugspunkte und den Aktionsradius der Formen der sinnlichen Anschauung, der 25  Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 645/B 673. Dazu äußert sich Reinhold erstmals und noch recht vage im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 65–66 (RGS Bd. 1, 38–39). Deutlicher wird dieser Punkt in Reinhold: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, 265– 270 sowie in ders.: Ueber das Fundament des philosophischen Wissens. Jena 1791, 74–77 (RGS Bd. 4. Basel 2012, 48–49). 26 

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Kategorien des Verstandes sowie der Ideen der Vernunft festlegt. Es handelt sich um das Modell einer mit der intentionalen Bedeutung des Vorstellens – des Vorstellens von etwas – implizierten Beziehung von Subjekt und Objekt, die ihren Wesenseigenschaften nach als Verhältnis von Form und Materie oder Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit, Spontaneität und Rezeptivität bestimmt wird. Diesem Modell entsprechend, fasst Kant im Bereich der Anschauung den äußeren und inneren Sinn, Raum und Zeit, als eine im Gemüt bereitliegende »Form«, welche eine »Materie«, das durch Empfindung gegebene Mannigfaltige, nach bestimmten Verhältnissen ordnet.27 Der »innere Sinn«, der Form nach die »Zeit«, wird dabei im Blick auf seine Verortung im erkennenden Subjekt auch als Vermögen beschrieben, mittels dessen das »Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet«28 oder »durch sich selbst affiziert wird«,29 wobei es sich, wie Kant wiederholt einschärft, bei dieser Selbstbeziehung nicht um die »innere Anschauung«, die »intellektuell« heißen kann, handelt.30 Im Bereich des Verstandes geht Kant sodann davon aus, dass sich eine Form in der Eigenschaft einer erkenntniskons­titutiven Einheit des Begriffes auf eine Materie oder auf ein Mannigfaltiges im Sinne von unter raum-zeitlichen Bedingungen stehenden Daten der Erfahrung, im Bereich der Vernunft, dass sich eine regulative Einheit auf eine Vielzahl gegebener Erkenntnisse bezieht. Die Beziehung von Subjekt und Objekt und dabei insbesondere die Spontaneität des denkenden und erkennenden Subjektes kommen hier zu ihrer eigentlichen Geltung. Verstand und Vernunft stiften in ihrem Bezug auf gegebene Daten in der sinnlichen Anschauung Einheit und üben synthetische Tätigkeiten aus. Auch auf dieser Stufe spielen der innere Sinn und die Selbstaffektion des Gemütes eine Rolle. Die Tatsache, dass der Verstand den inneren Sinn affiziert, ist gleichbedeutend mit jener, dass wir als Subjekt »innerlich von uns selbst affiziert werden«.31 In der Folge dieser Betrachtung vertrat Reinhold die Auffassung, dass es bei Kants Begründung synthetischer Urteile a priori auf einsichtige Bestimmungen nicht nur zu Raum, Zeit und zum Verstand in seinen kategorialen Leistungen und Anwendungsmöglichkeiten ankommt, sondern auch zu der um das besagte Erkenntnismodell kreisenden Begrifflichkeit. Der erwähnte transzendentale Beweis und die flankierenden 27  Vgl.

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 20/B 34. Kritik der reinen Vernunft, A 22/B 37. 29 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 68. 30  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 68, B 72, B 159. 31  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 156. 28 Kant:

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Überlegungen zur Art und Weise, wie Erfahrung möglich ist, lassen sich, so eine zentrale Einsicht, welche hinter dieser Auffassung steht, nur dann überzeugend ins Feld führen, wenn von vornherein Annahmen akzeptiert sind wie: dass nur mittels Form und Einheitsstiftung etwas Materielles, Mannigfaltiges artikulierbar wird, dass nur durch spontane und rezeptive Leistungen des Subjekts ein Gegenstand der Erfahrung zustande kommt und dass schließlich überhaupt ein Subjekt besteht, das sich auf einen Gegenstand oder ein Objekt bezieht. Von daher versteht sich das Bemühen Reinholds, mit seiner Elementarphilosophie eine Neudarstellung der Vernunftkritik zu liefern, die mit einem eigenständigen vorstellungstheoretischen Systemstück anhebt und die den intentionalen Vorstellungsbegriff in die Form eines sicheren Axioms, des gewissen und durch sich selbst bestimmten »Satzes des Bewußtseyns«,32 bringt. Auch anderweitige Vorschläge zur Verbesserung der Vernunftkritik standen in Reinholds Systemunternehmen zur Diskussion. Besonders augenfällig ist das Bestreben, die Formen der sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit, aus einem allgemeinen Verständnis von äußerer und innerer Anschauung zu entwickeln sowie die gesamte Urteils-, Kategorien-, Schematismus- und Ideenlehre ausgehend von der Unterscheidung von Form und Materie des Urteils sowie von einem dreigliedrigen Schema der Einheit und Vielheit neu durchzukomponieren. Zudem war Reinhold, was seine Kant-kritische Haltung betrifft, offenbar der Ansicht, in Kants Erkenntnislehre seien nicht bloß der Vorstellungsbegriff, sondern ebenso die in Anspruch genommenen Bestimmungen zur Spontaneität des denkenden und erkennenden Subjekts ungenügend zur Geltung gebracht worden. Diese Ansicht, mit der Reinhold sich allerdings eher zurückhielt, führte zur Eingliederung einer Theorie des »Bewußtseyns überhaupt« in die Bestimmungen zum Erkenntnisvermögen allgemein, einer Theorie, in welcher eine Konzeption von »Selbstbewußtseyn« herausragt.33 Diese Konzeption hatte der Sache 32  Zu

Reinholds Begründung der Ansicht, der Satz des Bewusstseins (im Bewusstsein wird die Vorstellung vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen) sei ein durch sich selbst bestimmter Satz, siehe vor allem Reinhold: Ueber das Fundament des philosophischen Wissens, 77–88 (RGS Bd. 4, 49–54). 33  Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 333–340 (RGS Bd. 1, 217–221); ders.: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, 221–223. – Zur Deutung von Reinholds Konzeption von Selbstbewusstsein vgl. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986, 43–45, 58 Anmerkung; Dieter Henrich: Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789), in: Zwischenbetrachtungen. Im

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nach Kants Auffassung der Selbstaffektion zum Vorbild, entwickelte Reinhold sie doch in engem Anschluss an die Überlegung, dass die im Gemüt vorliegenden Formen sich nicht nur auf einen äußeren, sondern auch auf einen inneren Stoff, einen »Stoff a priori«,34 und damit auf sich selbst beziehen. Reinhold stellte dabei allerdings weit klarer als sein Lehrmeister heraus, dass mit diesem Theorem eine unmittelbare Selbstbeziehung des Subjekts – eine Einheit von affizierendem und affiziertem Ich – impliziert ist.35 Und im Unterschied zu Kant war Reinhold hier überdies der Überzeugung, dass es diese Selbstbeziehung als eine »innere Anschauung«, die »intellektuell« ist,36 zu kennzeichnen gilt. Es leuchtet ein, dass sich für Reinhold mit dieser Konzeption von Selbstbewusstsein in absehbarer Zeit eine Gemeinschaft mit Fichtes Auffassung von selbstbezüglicher Subjektivität anbieten konnte. Was Reinholds Übergang zu Fichtes Wissenschaftslehre und sodann die Entwicklung hin zum Rationalen Realismus betrifft, wurde allerdings diese Übereinstimmung in der Subjektfrage nie zu einem dominanten Entwicklungsstrang. Es waren andere Fragen oder Reflexionen, welche den Gang der Sache entscheidend vorantrieben. Reinhold, der mit dem Anschluss an Kants Vernunftkritik selbstverständlich auch die mit Prozeß der Aufklärung. Hrsg. v. Axel Honneth/Thomas McCarthy/Claus Offe/Albrecht Wellmer. Frankfurt/M. 1989, 147–152; Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, 144–153. 34  Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 301–307 (RGS Bd. 1, 198–202); ders.: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, 214–215. 35 Vgl. dazu Reinholds Erklärungen in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 335 (RGS Bd. 1, 218): Beim »Selbstbewußtseyn wird das Objekt des Bewußtseyns als Identisch mit dem Subjekte vorgestellt«. Zu einer vergleichbaren Überlegung Kants, vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 155. 36 Reinhold: Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, 249–251. – Es ist zu beachten, dass bei Kant »intellektuelle Anschauung« für den anschauenden oder autonom-schöpferischen Verstand und damit für eine Erkenntnisvoraussetzung steht, die zur dogmatischen These führt, die Dinge ließen sich als Ding an sich erkennen. Das bei der Selbstaffektion anzunehmende Faktum der Selbstbeziehung des Gemütes darf deshalb nicht als »intellektuelle Anschauung« kenntlich gemacht werden. Es ist im Sinne einer anderen, nicht zur dogmatischen These der Erkenntnis von Dingen an sich führenden Bedeutung von »Selbstanschauung« zu fassen (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 157–158 Anmerkung). Reinhold seinerseits klassifiziert das besagte Faktum der Selbstbeziehung als eine intellektuelle innere Anschauung, wobei er voraussetzt, dass diese Art von Anschauung nicht der anschauende Verstand und das damit implizierte Vermögen, die Dinge an sich zu erkennen, ist. Im Grunde verhält es sich deshalb so, dass dasjenige, was bei Kant »Selbstanschauung« heißt, bei Reinhold als »innere Anschauung«, die »intellektuell« ist, auf den Begriff gebracht wird.

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Paradoxien behafteten Erklärungen zur Unerkennbarkeit des Dinges an sich übernommen hatte, gelangte allmählich zu der Einsicht, dass er sich mit diesem Erbe in einer höchst unbequemen Situation befand und dass er sich aus dieser nur mit dem Anschluss an eine monistische Systemform, wie Fichte sie in Vorschlag brachte, zu befreien vermochte.37 Hinzu kam, dass für Reinhold die mit Kant über mehr als zehn Jahre geteilte Ansicht, dass sich die Vorstellung des Daseins Gottes lediglich in der Form eines Postulates der praktischen Vernunft halten lässt, an Überzeugungskraft verlor. Ein Gottesglaube, bei dem an etwas, was bloß sein soll, geglaubt wird und der somit nicht nur kein Wissen von dem höchsten Sein voraussetzt, sondern auch kein Glauben an dasselbe ist, erschien ihm auf einmal als substanzlos, unlebendig, ja absurd. Es wird – so Reinhold, der sich hier bereits merklich jacobischer Redensarten bediente – hiermit über etwas gesprochen, was nur künstlich und nicht reell ist. Die kantische Philosophie wird an dieser Stelle artifiziell. Auch hier war Reinhold Fichtes Position durchaus willkommen, zumal in dieser sowohl die Idee des Wissens des höchsten Seins als auch die Auffassung, dass dieses Wissen letztlich in einem Glauben an das höchste Sein verankert ist, ausgesprochen wird.38 Allerdings konnte Reinhold sich dabei mit dem fichteschen Vorschlag, dieses höchste Sein mit einem absoluten Ich in Zusammenhang zu bringen, nur schwer anfreunden. Denn das Ich, so Reinholds damalige Optik, ist zwar durchaus nicht mehr etwas bloß Postuliertes, sondern etwas Seiendes, aber am Ende doch nur ein Seiendes unter anderen Seienden und nicht das höchste Sein, welches allein mit dem Gottesbegriff assoziiert werden darf.39 Die Idee zu einem monistischen System, bei 37  Vgl. Carl Leonhard Reinhold: Auswahl vermischter Schriften. Zweyter Theil. Jena 1797, VII–VII, 300 ff., 321 ff. (RGS Bd. 5/2, Basel 2017, 118 ff., 125 ff.) 38  Bereits in der Aenesidemus-Rezension von 1794 hat Fichte darüber gesprochen, dass es die Frage gewissen Wissens aus dem Standpunkt sowohl des Wissens als auch des Glaubens zu beantworten gilt (vgl. Johann Gottlieb Fichte: Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmassungen der VernunftKritik, in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Abt. III, Bd. 2, 31–67). Spätestens mit dem Dritten Buch seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (Berlin 1800) hat Fichte zudem klargestellt, dass es das Wissen im Glauben zu verankern gilt. 39 Reinhold wird diesen Gedanken um 1801 auch dahingehend zum Ausdruck bringen, dass das absolute Ich nur eine relative, nicht die »absolute Absolutheit« sein kann (vgl. Karl Leonhard Reinhold: Was heißt philosophiren? was war es, und was soll es seyn?, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Erstes Heft (1801), 66–89, 84–85). Vgl. dazu auch Wolfgang H. Schrader: C. L. Reinholds »Systemwechsel« von der Wissenschaftslehre zum Rationalen Realismus Bardilis in der Auseinandersetzung mit J. G. Fichte, in:

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dem ein gleichermaßen im Wissen wie im Glauben zugängliches Reelles oder Sein schlechthin an der Spitze steht, und zwar ein Reelles oder Sein schlechthin, das über dem ›Ich bin‹ steht, war damit in groben Zügen gegeben. Wie sie sich konkretisierte, will ich hier nicht ausführen. Es ist genug gesagt, um zu einer Beurteilung von Reinholds neu vertretener Auffassung, was wahre Erkenntnis sei, müsse ausgehend von einer Einheit von Denken und Sein bestimmt werden, sowie zu seiner Forderung eines objektiven Denkens übergehen zu können.

3. Denken als Denken. Die Einheit von Denken und Sein Der im Rationalen Realismus im Brennpunkt stehende Begriff des »Denkens«, oder genauer: des »Denkens als Denkens«,40 wird von Reinhold, in Anlehnung an Vorgaben Bardilis, als ein mittels der Formel »A als A in A durch A« expliziertes Identitätsprinzip aufgefasst.41 Zum Ausdruck gebracht wird mit diesem Prinzip sinngemäß die folgende Überlegung: Wenn wir denken oder einen Gedanken fassen, so fassen Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1999, 97–98. 40  Der Ausdruck »Denken als Denken« ist mehrdeutig. So wie Bardili und Reinhold ihn in der Regel verwenden, steht er für reines Denken oder Denken als solches im Gegensatz zu angewandtem Denken, aber auch für objektives oder wahres im Gegensatz zu subjektivem oder scheinbarem Denken. Bei Reinhold wird damit ferner an eigentliches, richtig zu verstehendes Denken appelliert. Das als hat in diesem Falle die Funktion eines – mit Heidegger gesprochen – ›hermeneutischen‹ als. Die Auffassung von Rebecca Paimann, Bardilis Rede von »Denken als Denken« lasse sich, mit Blick auf einen mutmaßlichen Anschluss an Aristoteles’ »ἔστιν ἡ νόησις νοήσεως νόησις« (Aristoteles: Metaphysik, Buch XII, 1074 b), ebenfalls in die Richtung eines reflexiven Denkens, eines »Denkens des Denkens«, interpretieren (vgl. Paimann: Denken als Denken, 100 Anmerkung), scheint mir eher problematisch zu sein. Dies ist nicht so sehr der Fall wegen des bekannten Streites da­rüber, ob diese Aristoteles-Aussage sich als ›das Denken ist Denken des Denkens‹ übersetzen lässt, sondern vielmehr deshalb, weil das Paradigma des ›Denkens‹ bei Bardili und Reinhold in einem scharfen Kontrast zu Denkfiguren der Subjektivität und Selbstbezüglichkeit ausformuliert wird. Akzeptabel erscheint vor diesem Hintergrund allenfalls die Lesart eines »Gedachtwerdens des Denkens« (vgl. Bardili: Ueber Bardilis erste – Kants transcendentale – und die bisherige allgemeine – Logik, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Zweytes Heft (1801), 72–103, hier: 74). Dass Aristoteles’ Metaphysik für Bardili, soweit dieser als Denker von verschiedenen Formen oder Wurzeln des ›Grundes‹ in Erscheinung tritt, zu den wichtigen Quellen gehört, ist natürlich nicht in Abrede zu stellen. 41 Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Erstes Heft (1801), 100–112, hier: 108–109. – Eine wichtige Quelle dieses Identitätsprinzips dürfte Aristoteles’ Theorem des Unveränderlichen am Veränderlichen (­Metaphysik, Buch XII, 1069b–1070a) sein.

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wir einen Denkinhalt im generellen Modus einer als Einheit des Einen und Vielen zu verstehenden Wiederholbarkeit (A als A) und in den speziellen Modi des In-sich-Seins (A in A) und des Durch-sich-Seins (A durch A). Und gemeint ist hiermit ebenso: Wenn – und nur wenn – wir einen Denkinhalt den genannten drei Modi gemäß fassen, verfügen wir über ein Denken im strengen Sinne des Wortes. Dabei wird dieses Identitätsprinzip von Reinhold und Bardili von vorneherein als ein Prinzip geltend gemacht, das gleichermaßen für ein die Operation des »Rechnens« ermöglichendes logisches »Eines und Ebendasselbe, im Vielen« steht wie für eine höchste reale Einheit,42 für das sich in der Welt als »Urwesen offenbarende A als A in A durch A«.43 Zu den systemrelevanten Besonderheiten des Identitätsprinzips gehört im Weiteren ein ausgehend vom Gedanken des Bezugs des reinen Denkens auf die Materie und des dadurch ermöglichten ›Denkens von etwas‹ artikuliertes Verhältnis von »Denken« als solchem und »Anwendung des Denkens«.44 Ersteres ist eine als unendlich einzustufende Denkform der Einheit des Einen und Vielen, des Immanentseins und des Selbstgrundes, die über allen Urteilsarten und über der Beziehung von Subjekt und Objekt steht, letzteres dagegen ein Ensemble von als endlich einzustufenden urteilenden und vorstellenden Denkformen. Im angewandten Denken sind dementsprechend alle Urteilsformen und kategorialen Denkbestimmungen anzusiedeln, die Kant unter den Titeln der Quantität, Qualität, Relation und Modalität zusammengestellt hat. Zudem geht es in diesem Bereich um das Denken, das auf einen Gegenstand gerichtet ist, was zur Konsequenz hat, dass hier die mit dem Vorstellungsparadigma einhergehenden Begriffsverhältnisse im Fokus stehen und dem neuen Paradigma gemäß ausformuliert werden. Der Gegenstand ist zu begreifen als ein Stoff, der im und durch das Denken unter eine Form gebracht wird. Was die epistemologische Seite des Identitätsprinzips betrifft, wird, aufgrund der Unterscheidung von Denken als solchem und angewandtem Denken, die Frage, was wahre Erkenntnis ist, in zwei unterschiedlichen Hinsichten beantwortet. Beim Denken als solchem ist von der Einheit von Denken und Sein auszugehen und es gilt sinngemäß die folgende Annahme: Ein Denkinhalt, der im strengen Sinne des Wortes 42 Vgl.

Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, 103 ff.; Bardili: Grundriß der Ersten Logik, 1–2. 43  Vgl. Reinhold: Die Elemente des Rationalen Realismus, 200. 44  Vgl. Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, 109 ff. und ders.: Die Elemente des Rationalen Realismus, 180 ff.

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gedacht werden kann, darf als seiend beziehungsweise wahr behauptet werden. Anders ausgedrückt: Was dem Identitätsprinzip entspricht, ist seiend beziehungsweise wahr. Wahre Erkenntnis ist somit grundsätzlich eine Frage der Übereinstimmung eines Denkinhaltes mit der Denkform der Einheit des Einen und Vielen, des Immanentseins und des Selbstgrundes. Beim angewandten Denken dagegen ist primär eine Methode des Erkennens zu beachten und es gilt die Regel, dass ein Denkinhalt als seiend beziehungsweise wahr nur dann gelten kann, wenn er sich anhand dieser Methode bewahrheitet. Wie Reinhold in der Zeitspanne von 1801 bis 1803 in mehreren Anläufen darlegt, ist diese Methode das Zurückführen eines »vorläufig« Wahren auf ein so genanntes »Urwahres«.45 Das vorläufig Wahre soll dabei im Sinne einer Hypothese verstanden werden, welche sich durch einen Vergleich mit dem Urwahren als einer These zu bewahrheiten hat.46 Und dieser Vergleich seinerseits soll durch antithetische und synthetische, disjungierende und konjungierende Verfahrensschritte geleistet werden. Daraus ergibt sich, dass die besagte Methode des Zurückführens, auch »Analysis« genannt, letztlich eine »Vereinigung der Thesis und der Hypothesis als Antithesis und Synthesis zugleich« darstellt.47 Reinhold war es sodann auch vorbehalten, die beiden Richtungen der Erkenntnisbegründung zusammenzuführen. Das Urwahre oder die These ist nichts anderes als das Identitätsprinzip, das vorläufig Wahre oder die Hypothese der endliche Denkinhalt. Zu prüfen gilt es demnach, ob ein endlicher Denkinhalt sich im Zurückführen auf das Identitätsprinzip bewährt. Dem entsprechend geht Reinhold 1803 dazu über, ein als »heuristisches Princip« aufzufassendes »Verhältniß« der »Identität« (des Identitätsprinzips) und der »Nichtidentität« (des endlichen Denkinhaltes) auszuformulieren.48 Mit diesem Ergebnis wird das Identitätsprinzip, soweit es in dem Verhältnis zu einem endlichen Denkinhalt steht, das heißt das in Anwendung begriffene Identitätsprinzip ist, nicht mehr bloß als Sein oder als »wahrhaft Real«, sondern auch als »wahrhaft Ideal« begriffen.49 Es kann deshalb lediglich von einer Annäherung des endlichen Denkinhaltes an das reale Prinzip der Identität gesprochen werden. Wie ist dieses Ergebnis generell zu deuten? Ist hier eine Renaissance pythagoreischer und dialektischer Denkfiguren Platons zum Ideal ma45  Vgl.

Reinhold: Was heißt philosophiren?, 70–72. Reinhold: Die Elemente des Rationalen Realismus, 181. 47  Vgl. Reinhold: Neue Darstellung der Elemente des Rationalen Realismus, 131–133. 48  Vgl. Reinhold: Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie, 19 ff. 49  Vgl. Reinhold: Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie, 69. 46  Vgl.

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thematischen Denkens und zum Verhältnis von Einheit und Vielheit im Gange? Wird hier zu verstehen gegeben, dass es zu Spinozas Definition der Substanz als In-sich-Sein und Durch-sich-Begriffenwerden oder zu Leibniz’ wahrheitstheoretischen Grundsätzen des Widerspruchs und des zureichenden Grundes zurückzukehren gilt? Oder soll es darum gehen, eine objektivistische Neuformulierung von Fichtes mit sich identischem, in und durch sich bestehendem Ich zur Debatte zu stellen? In der Tat sind die Texte Bardilis und Reinholds zum Rationalen Realismus reich an Anspielungen, die solche Anknüpfungsmuster nahe legen.50 Genauer besehen ist jedoch, und dies gilt jedenfalls für Reinhold, ein anderer Ansatzpunkt in Erwägung zu ziehen: nämlich die kantische Ideenlehre. Reinhold hat auf eine Hervorhebung der kantischen Ideenlehre bereits im Rahmen des Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens Wert gelegt. Das dort im Dritten Buch unterbreitete kantische System der Ideen wurde nicht nur sehr ausführlich hergeleitet und entwickelt, es wurde auch im Sinne einer höchsten Stufe des Erkennens konzipiert. Erkennen erscheint darin nicht nur als Weg der Begründung nach dem Prinzip der Ermöglichung von Erfahrung, sondern auch als Aufsteigen von den Stufen der Sinnlichkeit und des Verstandes zur Stufe der Vernunft, die ihrerseits in der Idee des »allerrealsten Wesens«,51 das heißt in einer Idee aus Kants Lehrstück zum »Ideal« der reinen Vernunft,52 kulminiert. Dass Kant zufolge Ideen im Sinne von »Hypothesen«,53 welche die Funktion nicht der Begründung, aber doch der Verteidigung eines Erkenntnisanspruchs haben, verwendet werden können und dass ihnen dabei aus dem Standpunkt der theoretischen Vernunft lediglich hypothetische Erkenntnisgewissheit zugesprochen werden kann, wurde von Reinhold durchaus akzeptiert. Daran sollte ebenso wenig etwas geändert werden wie an Kants Unterscheidung von konstitutiver Erkenntnisfunktion im Bereich des Verstandes und regulativer Erkenntnisfunktion im Bereich der Vernunft oder Ideen. Wenn Reinhold nun im Rahmen des Rationalen Realismus eine Methode des Erkennens 50  Wiederholt

werden, was den Zusammenhang von Denken und Rechnen betrifft, Bezüge zu Platon hergestellt. Reinhold verweist unter anderem auf Platon: Politeia VII, 522 c (vgl. Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, 106). 51 Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 578 (RGS Bd. 1, 366). 52 Kant spricht in diesem Zusammenhang von dem »All der Realität (omnitudo realitatis)« oder von der »höchsten Realität« (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 576–577/B 604–605; A 580/B 608). 53  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 769–782/B 797–810.

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skizziert, die darin besteht, dass eine im Sinne einer Hypothese zu begreifende endliche Denkbestimmung auf ein Identitätsprinzip, das in seiner Anwendung ein Ideal darstellt, zurückgeführt wird, so bringt er der Sache nach eine radikalisierte und zugleich neuartige Variante von Kants Auffassung von Idee als Hypothese zur Geltung. Im Unterschied zur früheren Phase wird auf der Basis dieser Auffassung nicht mehr ein partielles, lediglich den Vernunft-Überbau der Stufen der Sinnlichkeit und des Verstandes betreffendes, sondern ein umfassendes Erkenntniskonzept entwickelt. Betrachtet man Reinholds neue Methode des Erkennens vor dem Hintergrund seiner früheren, mit den kantischen in Einklang stehenden Ergebnissen, ist festzuhalten, dass damit 1) die strenge Unterscheidung von konstitutiver und regulativer Erkenntnisfunktion zugunsten eines Stufenmodells, bei dem sich jede Stufe durch konstitutive und regulative Erkenntnisleistungen auszeichnet, fallengelassen wird, 2) die transzendentale Beweisart nach dem Modell der Ermöglichung von Erfahrung zugunsten eines beim Gedanken der Bewahrheitung einer Hypothese ansetzenden Verfahrens der Begründung, bei dem es aus dem Standpunkt des Endlichen keine absolute Gewissheit gibt, aufgegeben wird, 3) davon ausgegangen wird, dass der Wahrmacher von Erkenntnis nicht im Bezugsrahmen von formalen und materialen Erkenntnisbedingungen, von apriorischen sinnlichen und kategorialen Vorstellungen einerseits und Daten der Empfindung andererseits zu suchen ist, sondern in einer höherstufigen Systemform, in einem diesem Bezugsrahmen übergeordneten und zugleich diesem Bezugsrahmen immanenten Identitätsprinzip. Was hiermit im Großen und Ganzen herauskommt, ist selbstverständlich eine erhebliche, aber keineswegs eine als insgesamt vorkritisch einzustufende Abweichung von Kant. Denn offensichtlich ist ja doch vor allem, dass Reinhold sich in die Richtung eines erkenntnisund wahrheitstheoretischen Gedankens vorarbeitet, der später bei Jakob Friedrich Fries oder – denkt man an das 20. Jahrhundert – bei Karl Popper in sehr ausgeprägter und methodisch ausgefeilter Weise zum Durchbruch gelangen wird. Wie der junge Popper, der Kants trans­ zendentale Deduktion in die Auffassung überführt, dass »Gesetzmäßigkeiten«, welche Erfahrung ermöglichen, ausnahmslos nur als Ideal, nur als »Als-Ob-Gesetzmäßigkeiten« und damit nur als zu überprüfende »Hypothesen« annehmbar sind,54 macht Reinhold im Anschluss an 54 Vgl.

Karl Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930–1933, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2 (2010). Tübingen 2001 ff., 93–95.

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Kant eine Konzeption des Bewährens hypothetischer Bestimmungen zur eigentlichen Grundlage des Erkennens. Erkennen ist, so Reinhold, auf jeder Stufe ein Bewähren hypothetischer Bestimmungen. Als Fixpunkte und damit nicht als Hypothesen können dabei lediglich diese Konzeption des Erkennens selber und das als Ideal zu verstehende angewandte Identitätsprinzip gelten. Was Reinholds Hypothese-Gedanken von späteren, wissenschaftstheoretischen Ausformulierungen der Methode hypothetischen Erkennens unterscheidet, ist, dass dieser Gedanke innerhalb eines theologischen Rahmens steht. Der Maßstab der Überprüfung ist ein Identitätsprinzip vom Range einer höchsten, theologisch abgestützten Denkform, und er ist dabei allein dieses Identitätsprinzip. Die Option, den Maßstab in einem niedrigeren, die Nähe zum Stoff suchenden Formbereich anzusetzen, steht ebenso wenig zur Diskussion wie der Versuch, den Maßstab als balancierendes Verhältnis von Form und Stoff in Vorschlag zu bringen. Erst ein solches Verhältnis würde es ermöglichen, die Idee der Überprüfung einer hypothetischen Bestimmung gleichfalls in die Richtung einer Überprüfung an der Empirie auszugestalten.

4. Objektives Denken versus subjektives Denken oder Vorstellen Kommen wir zu Reinholds Forderung eines objektiven Denkens und zur Frage, ob damit nicht Kants kritizistische Position, die mit der These der Unerkennbarkeit des Dinges an sich steht und fällt, verlassen wird. Was versteht Reinhold unter ›objektiv‹ beziehungsweise dem ›Objektiven‹? Um dies beantworten zu können, ist es erforderlich, sich Reinholds erklärte Abgrenzung des objektiven Denkens vom Vorstellen als bloß subjektivem Denken zu vergegenwärtigen. Die besagte Abgrenzung vollzieht sich in Form einer negativen und verallgemeinernden Reflexion. Denken, so wird expliziert, ist nicht eine Art des Vorstellens, nicht ein Vorstellen mittels Begriff, das neben einem Vorstellen mittels Anschauung steht.55 Denken ist auch nicht zu ver55 Bereits

im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 225–227 (RGS Bd. 1, 148–150), hat Reinhold sich darum bemüht, Denken und Vorstellen voneinander abzugrenzen. So wurde dort erklärt, »Denken« sei nicht als ein »Vorstellungen haben« oder »hervorbringen« zu definieren, denn dies führe zum einen zu einer Psychologisierung des Denkens in seiner logischen Bedeutung, zum anderen zu einer Verkennung dessen, was Vorstellen seinem Wesen nach sei. Doch stand noch keineswegs ein Primat des Denkens vor dem Vorstellen zur Diskussion, sollte das Denken doch vielmehr als eine Art des richtig verstandenen Vorstellens aufge-

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wechseln mit dem denkenden Subjekt. Denken ist lediglich die Eigenschaft des Denkens, die im Falle des denkenden Subjekts vorausgesetzt ist. Doch was ist dieses Denken? Die bisherige formale Logik (auch die kantische) macht es, ihrer Einteilung in Begriff, Urteil und Schluss entsprechend, als Begreifen, Urteilen und Schließen kenntlich. Letztlich ist es vor diesem Hintergrund ein Urteilen, da von Begriffen nur in Urteilen Gebrauch gemacht werden kann und da Schlüsse auf Urteilen beruhen. Damit aber, so bemängelt Reinhold in Anlehnung an ein Erklärungsmuster, das er einige Jahre zuvor im Falle des Vorstellens verwendet hat, wird lediglich über Arten des Denkens oder über ein angewandtes Denken gesprochen. Die involvierte Gattung, das Denken als solches, bleibt unbestimmt. Dieses Denken als solches ist nun aber nichts anderes als die »absolute Wiederholbarkeit des Einen, das kein Anderes voraussetzt, das aber zur endlosen Wiederholung des Einen in einem Andern vorausgesetzt wird«.56 Das Wesen des Denkens ist mit anderen Worten »die unendliche Wiederholbarkeit des A als A in A und durch A«.57 Wird schließlich Denken als Bestandteil einer Identität des »Subjektiven und Objektiven« oder als diese Identität selber geltend gemacht,58 so wird, wie Reinhold mit einem kritischen Seitenhieb gegen Schelling einschärft, die Sache, um die es letztlich geht, ebenfalls verfehlt. Denn in diesem Falle wird nicht ein Denken oder eine Identität schlechthin ins Visier genommen, sondern eine besondere, nach subjektivem und objektivem Gesichtspunkt aufzuteilende Subjekt-Objekt-Identität. Ob, wie Reinhold unterstellt, bei einem abstrahierenden Hinaufsteigen zum Denken überhaupt genau das Identitätsprinzip und nichts anderes aufgedeckt wird, ob also Denken in der Tat als Identität im Sinne des Identitätsprinzips definiert werden muss oder soll, sei dahingestellt. Von Belang ist für uns hier, dass mit diesem Räsonnement fasst werden, das heißt ausgehend vom Vorstellen in seiner Grundstruktur des aufeinander Bezogen- und voneinander Unterschiedenseins von Subjekt und Objekt. Das Bestreben, die Auffassung von Denken von Konnotationen mit der Spontaneität des Subjekts und der Rezeptivität des Objekt fernzuhalten, war damit ebenso evident wie die Tatsache, dass eine Ausgliederung der Auffassung von Denken aus dem allgemeinen Subjekt-Objekt-Verhältnis noch kein Thema sein konnte. 56 Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, 107–108. 57 Reinhold: Was ist das Denken, als Denken?, 108. 58  Vgl. Reinhold: Ueber das absolute Identitätssystem, oder den neuesten reinen Rationalismus des Herrn Schelling und dessen Verhältniß zum rationalen Realismus, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Drittes Heft (1802), 163–184, hier: 169–170; ders.: Schlüssel zur Philodoxie überhaupt und insbesondere zur sogenannten Spekulativen, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Viertes Heft (1802), 186–201, hier: 187; ders.: Populäre Darstellung des rationalen Realismus, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Fünftes Heft (1803), 1–22, hier: 20–21.

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zugleich zum Ausdruck gebracht wird, was unter einem Objektiven im strengen Sinne des Wortes nicht verstanden werden soll. So wie Reinhold argumentiert, kann unter dem Objektiven nichts verstanden werden, was sich in augenfälliger Weise ausgehend vom Verhältnis von Subjekt und Objekt ergibt: nicht das Objekt als Relat der Subjekt-Objekt-Beziehung und auch nicht das Objektive als Resultat eines im Rahmen dieser Beziehung stattfindenden und mit dem Anspruch auf Erkenntnis verbundenen Bezugs des Subjekts auf das Objekt. Und auch die Bedeutung von ›objektiv gültig‹, die sich im Zusammenhang von Kants transzendentalem Beweis nach dem Prinzip der Ermöglichung von Erfahrung ergibt, fällt damit weg. Doch was heißt dies im positiven Sinne? Muss nicht offenbar ein Objekt an sich gemeint sein? In der Tat verwendet Reinhold bei den Erklärungen zu seinem neuen Objektivitätsverständnis denn nun da und dort auch ausdrücklich die Termini »Objektivität an sich«, »Objekt an sich« oder »Objektives an sich«.59 Doch gibt er sogleich auch zu verstehen, dass er darunter nicht das »Ding an sich« begriffen wissen möchte. Das »Objektive an sich« besteht »weder in dem Dinge an sich der Metaphysiker« noch in einer Einheit von Subjekt und Objekt, wie sie von der neuen »Alllehre« Schellings behauptet wird.60 Reinhold verficht somit nach wie vor im Einklang mit Kant die These, das Ding an sich sei unerkennbar. Und er verteidigt diese These sehr klar auch im Wissen darum, welche von Kant aufgezeigten anti-dogmatischen oder anti-skeptizistischen Implikationen damit einhergehen. Würde Reinhold diese These aufgeben, könnte sein rationaler Realismus als dogmatischer Realismus oder skeptischer Realismus gelten. Dies will Reinhold aber keinesfalls zulassen. Die mit dem Kritizismus ermöglichte Position eines nicht externen, sondern internen Realismus muss beibehalten werden. Es sei daran erinnert, dass Reinhold in der Phase der Elementarphilosophie den Vorstellungsbegriff als das entscheidende Bollwerk gegen eine Philosophie, welche die Erkennbarkeit von Dingen an sich behauptet, betrachtete. Da Dinge, wenn wir sie erkennen wollen, vorgestellt werden müssen, haben wir nur vorgestellte Dinge und nie Dinge an sich. Wenn Reinhold sich vor diesem Hintergrund überzeugend gegen einen dogmatischen oder skeptischen Realismus wenden möchte, muss er deshalb entweder eine neue Erklärungsstrategie bereithalten oder in neuer Weise zum Vorstellungsbegriff Zuflucht nehmen. 59  Vgl. 60  Vgl.

Reinhold: Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie, 67–68. Reinhold: Neue Auflösung der alten Aufgabe der Philosophie, 68.

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Doch kommen wir zurück auf das erwähnte Objektive an sich, welches, wie Reinhold zu beherzigen fordert, nicht mit dem Ding an sich verwechselt werden darf. Lässt sich hier eine Unterscheidung ausgehend von dem, was Reinhold entwickelt, auch in einsichtiger Weise kenntlich machen? Ich denke ja. Um dies zu belegen, sei nochmals ein Blick auf die Methode des Zurückführens einer Hypothese auf eine These geworfen. Reinhold hat diese Methode auch als Vorgang beschrieben, bei dem es zur »Abscheidung« des Subjektiven oder Scheins vom Objektiven oder der Wahrheit kommt.61 Mit der Zurückführung der Hypothese auf die These wird mit anderen Worten der Weg von einem (potentiell) subjektiven zu einem objektiven Denken zurückgelegt. Von Bedeutung ist dabei die Überlegung, dass das Denken durch Formung die Materie »unterwirft (subjicirt)« und gleichzeitig »zur Objektivität erhebt, objektivirt«.62 Das Zurückführen der Hypothese auf die These ist demnach gleichzeitig ein Objektivieren des Stoffes. Bereits um 1800, in seiner Rezension zu Schellings System des transzendentalen Idealismus,63 hat Reinhold eine ausgeprägt auf die Frage wahren Wissens konzentrierte Fassung dieses Methodenaspektes erörtert. Auf Schellings Erklärung, Wissen oder – was dasselbe sei – wahres Wissen bestehe in der »Ueberstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven«,64 entgegnet Reinhold, wahres Wissen, das von falschem Wissen zu unterscheiden sei, ergebe sich nur bei einem Bewusstsein, bei welchem die subjektiven Prozesse und Zustände, die mit dem Erfassen des Objektes unweigerlich einhergehen, zugunsten des Objekts negiert würden. Was Reinhold hier mit wahrem Wissen in Verbindung bringt, ist die Einstellung einer Selbstnegation des Subjekts zugunsten des Objekts, und zwar sowohl zugunsten des Objekts als Bewusstseinsinhalt als auch zugunsten des Objektes, welches die Selbstnegation des Subjekts steuert. Das Subjekt als Träger von Bewusstsein nimmt sich als Akteur in diesem Bewusstsein so radikal wie nur möglich zurück. 61 Vgl.

Reinhold: Die Simplicität der Philosophie im Gegensatz mit der Duplicität der Philodoxie, in: Beyträge zur leichtern Uebersicht. Viertes Heft (1802), 212–218, hier: 213. 62 Reinhold: Die Elemente des rationalen Realismus, 188–189. – Vgl. auch ders.: Populäre Darstellung des rationalen Realismus, 9. 63  Karl Leonhard Reinhold: Rezension zu Schellings »System des transzendentalen Idealismus«, in: Allgemeine Literatur-Zeitung. Jena 1800. Nr. 231 vom 13.8. 1800, Col. 361–366, Nr. 232 vom 13.8.1800, Col. 369–376. 64 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Abt. I, Bd. 3, 327–634, hier: 339.

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Sucht man nach Vergleichen mit dieser reinholdschen Objektivitätsforderung, muss man auf Hegels Darstellung zu einem sich selbst prüfenden und sich selbst bewahrheitenden Bewusstsein – einem Bewusstsein, dessen Prüfungsmaßstab als völlig intern zu verstehen ist – hinweisen.65 Aufmerksam zu machen ist zudem auf Freges Statuierung eines sowohl von den Dingen der Außenwelt als auch von den Vorstellungen dieser Dinge abzuhebenden Reichs der – einen Wahrheitsanspruch implizierenden – »Gedanken«,66 eines Reichs, das sich gegenüber dem Vorstellen dadurch auszeichnet, dass kein Subjekt als Träger angenommen werden muss. Das Gleiche gilt für Russells Behauptung, Bewusstsein sei für uns im Sinne eines Inhaltes und Gegenstandes des Bewusstseins begreiflich, nicht jedoch als Akt des Bewusstseins, weshalb letzterer eine überflüssige Annahme sei.67 Zwar spricht Reinhold in der Regel über das Denken und nicht über Gedanken oder Denkinhalte, und er dehnt seine Subjektivitätskritik auch nicht so weit aus, dass der Sinn eines Trägers oder Aktes des Denkens in Frage gestellt wird. Jedoch ist das Bemühen, das Denken als eine eigene, neben dem Vorstellen und den äußeren Dingen bestehende, mit einem Wahrheitsanspruch in Verbindung zu bringende Sphäre kenntlich zu machen, unbestreitbar. Und mit der Rede von Form und Stoff des Denkens wird in der Sache ebenfalls angezeigt, dass es um einen geformten Denkinhalt geht und nicht nur um eine gesetzmäßige Denkaktivität. Noch macht Reinhold, der von Anbeginn darum bemüht war, sprachphilosophische Reflexionen in seine Arbeiten zu einem System der Philosophie einzuflechten, sich an diesem Punkt nicht hinreichend klar, dass Gedanken zwar als relativ unabhängig vom Träger und Akt des Denkens bestehend behauptet werden können, jedoch schwer als unabhängig von den Sprachzeichen, mit denen sie artikuliert werden. Da es unterschiedliche Sprachgemeinschaften oder Sprachspiele gibt, ist die Auseinandersetzung mit einer noch anderen Variante subjektiven Denkens, der sprachlichen Relativität des Denkens, zu führen. Will man verstehen, weshalb Reinhold am Ende noch einen Schritt über das Paradigma des Denkens hinausgegangen ist, wird man an dieser Stelle ansetzen müssen.68 65  Zu

den Gemeinsamkeiten und Differenzen Reinholds und Hegels in dieser Sache vgl. Martin Bondeli: Reinhold und Hegel, in: Hegel-Studien 30 (1995), 73–78. 66  Vgl. Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung, in: ders: Logische Untersuchungen. Hrsg. und eingeleitet v. Günther Patzig. Göttingen ³1986, 43–44. 67  Vgl. Bertrand Russell: Die Analyse des Geistes. Übersetzt v. Kurt Grelling. Hamburg 2006, 12–13. 68  Ich danke Jean-Claude Wolf und Silvan Imhof für Korrekturen und kritische Kommentare zu diesem Beitrag.

VI. SCHLEGEL UND SCHLEIERMACHER: DIE SYSTEMKONZEPTION IN DER ROMANTIK NACH 1800

Jure Zovko Friedrich Schlegels Theorie des Bewusstseins in den Kölner Vorlesungen 1804/05 Die intensive Glanzzeit seiner philosophischen Kreativität, in der Schlegel sich bemüht hat, das Leben und die Gesellschaft poetisch zu machen und die Poesie wiederum »lebendig und gesellig«,1 hat kaum ein Jahrzehnt gedauert. Seit dem Übertritt zum Katholizismus (1808) findet bei Schlegel eine eindeutige Interessensverschiebung statt: er versucht fortan, sich in die bestehende sittliche Lebenswelt einzuleben und aus dieser Faktizität eine Lebensphilosophie auszuarbeiten. Im Brennpunkt seines Interesses steht die neue und anspruchsvolle Intention, die er in den 1812 gehaltenen Wiener Vorlesungen vorgetragen hat, »der großen Kluft, welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben der Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt«,2 entgegenzuwirken. Eine ganz andere Absicht verfolgte er noch während der florierenden Athenäumszeit. Die Jenenser Romantiker haben sich damals als Avantgarde der Moderne betrachtet, sie wollten im »kritischen Zeitalter«3 nicht nur eine »neue Mythologie«,4 Religion und Kunst aus dem Geiste der Moderne schaffen, sondern auch einen »neuen Leser« »konstruieren«.5 Ihre revolutionären Ideen fanden keineswegs die Akzeptanz und Resonanz in der Gesellschaft, die sie ursprünglich erwartet hatten. In Konsequenz haben die frühromantischen Ironiker ihre sprichwörtliche Unverständlichkeit zum Prinzip des Verstehens erho1 

Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett/Hans Eichner. Paderborn u. a. 1958 ff. Bd. 2, 165–255, hier: 182. Im Folgenden zitiert als KFSA mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 2 Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur, KFSA 6, 1–420, hier: 4. 3 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, KFSA 2, 363. 4 Schlegel: Gespräch über die Poesie, KFSA 2, 311. 5 Schlegel: Über die Unverständlichkeit, KFSA 2, 362.

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ben. In der Einsicht, dass wertvolle Werke wegen der vielen enthaltenen Deutungsperspektiven, streng hermeneutisch betrachtet, auch unverstanden bleiben müssen, protestierte Schlegel damals entschlossen gegen diejenigen Kritiker, die permanent jammerten, dass »die deutschen Autoren [...] nur für einen so kleinen Kreis, ja oft für sich selbst untereinander« schreiben. Nach seinem kritischen Geschmack ist das »recht gut«, denn »[d]adurch wird die deutsche Literatur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen«.6 Die Kölner Vorlesungen könnte man als Werk des Übergangs betrachten, weil in ihnen noch Spuren von Schlegels frühromantischer Philosophie zu finden sind; man kann an ihnen genau verfolgen, wie Schlegel sein frühromantisches Schaffen »in seine spätere Lebensarbeit hinüberrettete«.7 Schlegel hat in diesen Vorlesungen eine beachtenswerte Destruktion der traditionellen sowie der seinerzeit gegenwärtigen Philosophie unternommen. Er behauptet dort, dass auch die idealistischen Denker der postkantischen deutschen Philosophie nur nach den Gesetzen der formalen Logik verfahren, indem sie sich permanent auf die Beharrlichkeit und Verdinglichung als basalen Prinzipien des Denkens stützen. Demgegenüber war Schlegels Intention in den Kölner Vorlesungen unter anderem, eine Theorie des Bewusstseins zu erarbeiten, die das faktische Leben und die Vielfältigkeit der Lebensformen adäquat erkunden kann. Es handelt sich offensichtlich um eine eigenartige Fortsetzung seiner früheren Intention, das Transzendentale zu historisieren, dass Klassische zu kritisieren, die Formen des Lebens zu ergründen, die Welt der schönen Künste zu erschließen. Die Kölner Vorlesungen sind ein Nachweis dafür, dass etliche Motive und Themen in Schlegels Opus durchgängig erhalten bleiben, wie beispielsweise das interdependente Verhältnis von Poesie und Philosophie, Kunst und Leben, eine Theorie des Verstehens, das konsistente Plädieren für die dialogische Form des Denkens, die als Charakteristik sowohl der kritischen Frühschriften als auch der späteren Lebensphilosophie gilt. Schlegels schlagfertige Gerede von einem »Kritik-« und

6 Schlegel:

Athenäums-Fragmente, KFSA 2, 212. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 11991, Bd. I 1, 7–122, hier: 16. 7 Vgl.

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»Ironieverzicht«8 in seiner späteren Lebensphilosophie lässt sich vor diesem Hintergrund meines Erachtens mit Hilfe der genaueren hermeneutischen Explikation der genannten Termini widerlegen, wie es unter anderem aus den Kölner Vorlesungen ersichtlich ist.9 Dass Schlegel noch nach seiner Konversion zum Katholizismus den Kerngedanken der kritisch-hermeneutischen Reflexion verbunden bleibt, ist aus seinen wertvollen Beiträgen zum Wesen der »philosophischen Kritik«10 und Über die deutsche Literatur11 ersichtlich. Kritik, so heißt es dort, ist »kein geschlossener Lehrbegriff, sondern von mehr unbestimmter und ganz freier Art«, denn es lässt sich kein »unabänderlicher Kanon derselben aufstellen«, sondern sie muss »auf verschiedene Weise geübt und nach allen Seiten hin ausgebildet werden«.12 Im Hinblick auf die Programmbestimmung der Zeitschrift Deutsches Museum (1812/13) behauptet Schlegel entsprechend, dass dieselbe nicht »wie eine Schulstube sein sollte, wo einer allein auf dem Thron sitzt und von oben herab doziert«, sondern nach dem Model einer »Gelehrten-Republik« herauszugeben sei.13 Die Ansicht zu vertreten, dass die Nation und die nationale Literatur das Höchste und Wertvollste seien, wäre nach Schlegels Beurteilung in diesem Sinne »patriotische Abgötterei und nur eine andere Art von Egoismus«. »Der innere Mensch und die Entwicklung des Menschengeistes«, ein unaufhörliches »Ringen und Streben nach Wahrheit« bleibt für Schlegel also über seine frühromantische Philosophie hinaus die primäre Intention und die Verpflichtung der Literatur- und Philosophiekritik.14 Daher wird man hinter dem äußerlichen Bruch zwischen Schlegels frühromantischer Philosophie und späterer Lebensphilosophie bei der genaueren, kohärenten Explika­

8  Vgl.

Matthias Schöning: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens. Paderborn u. a. 2002. 9 Vgl. dazu Jure Zovko: Friedrich Schlegels ironische Verdachtshermeneutik, in: Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe. Hrsg. v. Ingolf Dalferth. Tübingen 2006, 83–94. 10 Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen, KFSA 3, 51–60; ders.: Rezension: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur von Adam H. Müller, KFSA 3, 145–158. 11 Schlegel: Über die deutsche Literatur, KFSA 3, 258–273. 12 Schlegel: Rezension: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur von Adam H. Müller, KFSA 3, 145–158, hier: 148. 13 Schlegel: Über die deutsche Literatur. Antwort des Herausgebers, KFSA 3, 258–273, hier: 261. 14 Schlegel: Über die deutsche Literatur, KFSA 3, 273.

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tion seines Schaffens eher eine »Kontinuität im Wandel« konstatieren können.15 Schlegel ist vor allem an der Kontinuität der europäischen Kultur in ihren Transformationen interessiert, da sich für ihn das Leben der europäischen Völker in der literarischen Welt geschichtlich und kulturell reflektiert. Die Pluralität der europäischen Sprachen erscheint ihm dabei als die Grundlage der einheitlichen Kultur der Moderne, wobei jede Nation und jede Sprache »ihre eigentliche Regel des Schicklichen« hat.16 Bereits in Schlegels Abschluß des Lessing-Aufsatzes (1801) lässt sich eine Wende zu dieser Thematik diagnostizieren.17 Schlegel kündigt dort an, sich künftig auf die »Geschichte der Dichtkunst« und die »Kritik der Philosophie« zu konzentrieren.18 Schlegels Wende zum vielfältigen Reichtum der europäischen Kultur war ein Schritt des verantwortlichen Kunsttheoretikers und Kritikers, der sich damit als anerkannter Kulturforscher in fast allen Bereichen der Geisteswissenschaften erweisen sollte – mit dem eindeutigen Zweck, die Fülle und den Reichtum der europäischen Kultur zusammenzutragen und ihre Relevanz für die Epoche der Moderne zu ergründen. Mit seinem 1808 erfolgten Übertritt zum Katholizismus erreicht die Interessensverschiebung bei Schlegel ihren Höhepunkt: Er versucht seitdem, sich in die bestehende sittliche Lebenswelt einzuleben und dieser Faktizität heraus eine eigene Lebens- und Kulturphilosophie auszuarbeiten. Dabei verfolgt er die Intention, die miserable Situation der Abstraktheit der mechanistischen Welt- und Menschenkonzeption aufzuheben, in der »der Mensch selbst fast zur Maschine geworden« ist.19 Im Brennpunkt seines Interesses steht nun auch ein neues, anspruchsvolles Vorhaben, das in der Widmung der 1812 gehaltenen Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur an den Fürsten Metternich umrissen wird: Jetzt geht es Schlegel darum, »der großen Kluft« entgegenzuwirken, »welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen 15 Vgl.

Berbeli Wanning: Friedrich Schlegel zur Einführung. Hamburg 1999, 7–23, 101. Zur Kontinuität des Schlegelschen Denkens vgl. auch Jure Zovko: Carl Wilhelm Friedrich von Schlegel, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007). Hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 40–42. 16 Schlegel: Über die deutsche Literatur, KFSA 3, 268. 17  Matthias Schöning: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen »Athenäum« und »Philosophie des Lebens«. Paderborn u. a. 2002. 18 Schlegel: Eisenfeile, KFSA 2, 399–416, hier: 409. 19 Schlegel: Reise nach Frankreich. Betrachtungen, KFSA 7, 71–79, hier: 76. Hier kritisiert die biologistische Konzeption des Menschen von Julien Offray de Lamettrie.

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Wirklichkeit trennt«.20 Die Hinwendung zur kulturellen Lebenswelt der europäischen Geistesgeschichte bedeutet für ihn zugleich eine Distanzierung von den Grundlinien der Philosophie des Deutschen Idealismus. Während im ersten Band der Zeitschrift Europa von 1803 »der Idealismus als die wesentliche Bedingung sine qua non, als Erhaltungsmittel und Grundlage unserer neuen Literatur« gilt,21 wird diese bedeutende philosophische Formation der Moderne in den Kölner Vorlesungen von 1807 schließlich als System betrachtet, das den Menschen in »absolute Einsamkeit« führt und daher unter allen philosophischen Systemen »am meisten Furcht erregt«.22 Diese Ohnmacht des einst gefeierten Individuums versucht Schlegel schließlich durch eine positive beziehungsweise poetische Religion zu überwinden. Ganze zehn Jahre nach seiner Konversion zum Katholizismus spricht Schlegel davon, dass dabei der Kerngedanke der Kritik seine Philosophie zu Recht von der ersten Epoche an durchzogen habe. Die im Geiste der Aufklärung etablierte Ansicht, »die Philosophie müsse kritisch seyn«, erhält in dieser Spätphase seiner Philosophie allerdings den beachtenswerten Zusatz: »aber in einem ganz anderen und viel höheren Sinne als bei Kant«.23 Schlegel ist sich durchaus im Klaren, dass es in Fragen der Ausübung und Anwendung der Kritik nicht so sehr auf die Methode und Methodologie ankommt, sondern wesentlich mehr auf den Scharfsinn des Kritikers, »auf große Gelehrsamkeit und Unparteilichkeit«, das heißt auf »Eigenschaften, die nicht in dem Gesetz und der Methode, sondern einzig in den Individuen liegen«.24 Die Tatsache, dass man die so genannten Regeln und Kriterien der Methodologie streng beachtet und verfolgt, verbürgt mitnichten, dass die Kritik als Kunst des Verstehens und Beurteilens von philosophischen oder künstlerischen Werken gelingen kann. Deshalb kann Schlegel behaupten, dass es streng genommen keine kritische Methode gibt: »es kann bloß vom kritischen Geiste die Rede sein«.25 Ähnlich wird im Lessing-Aufsatz (1804) bei der Explikation der Aufgabe der Kritik festgestellt, dass für die Kritik nicht viel gewonnen ist, »solange man den Kunstsinn nur erklären will, statt daß

20 Schlegel:

Geschichte der alten und neuen Literatur, KFSA 6, 4. Aufsätze in Europa. Literatur, KFSA 3, 3–16, hier: 7. 22 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 107–480, hier: 151. 23 Schlegel: Zur Philosophie und Theologie. 1818.2, KFSA 19, 334–346, hier: 346 Fragment 296. 24 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 313. 25 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 313. 21 Schlegel:

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man ihn allseitig üben, anwenden und bilden sollte«.26 Kritik hat ferner einen veritativen Charakter: Sie allein ist imstande, die irrtümlichen Ansichten, Ideen, Meinungen und Gedanken der anderen Philosophen zu widerlegen. Der Kritik sollte eigentlich zugemutet werden, was man in der Regel von der Logik erwartet, nämlich eine Bestätigung dafür, ob man sich auf dem richtigen Wege des Denkens befindet. Schlegel ist fest überzeugt, »daß die Logik uns gar nicht lehren kann, was Wahrheit ist, uns ebensowenig das Grundprinzip der Philosophie geben kann«.27 Da es nach Schlegels Einsicht keine Philosophie gibt, die an sich oder per definitionem wahr und vollendet wäre, bleibt die verantwortliche Aufgabe der Kritik, jedes philosophisches System sub ratione veritatis zu prüfen und dabei nachzuweisen, inwiefern einige philosophische Systeme in ihrem gegenseitigen Widerstreit »auf dem rechten Weg, eigentlich philosophisch, andere hingegen auf dem falschen Weg unphilosophisch sind: das plus und minus unter diesen Systemen, die geringere und größere Entfernung von dem Wahren zu unterscheiden und deutlich anzugeben, erfordert freilich noch einen höhern Grad von Kritik.«28 Die eigentliche Intention der schlegelschen als Kritik konzipierten Verdachtshermeneutik bleibt, zuerst nachzuweisen, »wo der eigentliche Punkt aller Schwierigkeiten und Irrtümer der ganzen Philosophie« liegt,29 und dann nach der Widerlegung der unakzeptablen philosophischen Ansichten zur Konstruktion eines mit dem faktischen Leben konvergierenden, zuverlässigen philosophischen Weltbildes überzugehen. In den Kölner Vorlesungen wird behauptet, dass die Geschichte der Philosophie ein Prinzip liefere, das in verschiedenen Variationen die »gemeinschaftliche Quelle alles Irrtums in der Philosophie« zu sein scheint, nämlich »der Begriff des Dinges, der Substanz«.30 Diese bündig prägnante Antwort auf die Frage nach der »gemeinschaftliche[n] Quelle alles Irrtums«31 soll für alle Gebiete der theoretischen und der praktischen Philosophie gültig sein, weil jede Begründung in gewisser Hinsicht einen verdinglichenden Grundsatz beziehungsweise ein Prin-

26 Schlegel:

Lessings Gedanken und Meinungen. Allgemeine Einleitung, KFSA 3, 51–60,

hier: 57. 27 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 110. 28 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 114. 29 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 305. 30 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 305. 31 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 305.

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347

zip beansprucht. Das permanente Bestehen auf dem Unveränderlichen, Invariablen und Beharrlichen in der europäischen Philosophie bleibt die eigentliche Achillesferse der traditionellen Ontologie, die überwiegend nach dem Allgemeinen, Prinzipienhaften fragt und die Frage nach dem faktischen Leben, nach der kreativen Individualität dadurch völlig ausklammert. Da Subjekt, Subjektivität, Bewusstsein und Selbstbewusstsein sich in der neuzeitlichen Philosophie als das fundementum inconcussum erwiesen haben, hält es Schlegel für unumgänglich, diese Philosopheme anzuzweifeln und infrage zu stellen. Der moderne Idealismus vermag nach Schlegels Urteil ebenso wenig der Herrschaft des Begriffs des Dinges beziehungsweise der Substanz zu entkommen wie vor ihm die traditionelle Ontologie. Es ist unbestreitbar, so Schlegel, dass die bedeutendsten Vertreter des Deutschen Idealismus Dasein und Realität gemeinhin im Leben, in der Freiheit und der Tätigkeit gesucht haben. Jedoch behauptet er in den Kölner Vorlesungen, dass die idealistische Philosophie, obwohl sie das denkende Subjekt zum Grundprinzip genommen hat, methodologisch stricto sensu wie die traditionelle Ontologie verfährt. Durch die Anwendung der drei logischen Grundsätze – dem Grundsatz der Identität, des Grundes und des Widerspruches –, die eigentlich auf dem »Begriff des Dinges«32 beruhen, erhielt sowohl die traditionelle Ontologie als auch die neuzeitliche Transzendentalphilosophie durch die Verbindung mit der formalen Logik ihre Fundierung. Der moderne Idealismus bleibt damit an einem Prinzip festgebunden, das in verschiedenen Variationen in der traditionellen Philosophiegeschichte die »gemeinschaftliche Quelle alles Irrtums in der Philosophie« war, nämlich »der Begriff des Dinges, der Substanz« beziehungsweise der Identität.33 Demzufolge behauptet Schlegel, dass alle Idealisten »die ältesten und die neusten, von Heraklit bis zu Fichte […] doch eine Art des Beharrlichen, nämlich Gesetze« bestehen lassen.34 Das Positive an Kants Philosophie sieht Schlegel darin, dass sie vom Skeptizismus ausgeht und bestreitet, dass die Vernunft als das höchste Vermögen in uns, das Übersinnliche, Unendliche erkennen kann. Aber in der Theorie des Verstandes, die den eigentlichen Kern der kantischen Philosophie darstellt, kämen die Dinge an sich wiederum ins Spiel, und zwar dadurch, dass sie Vorstellungen ermöglichen, die sie in uns erwirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Ferner seien Kants Kategorien 32 Schlegel:

Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 249, 310. Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 305. 34 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 310. 33 Schlegel:

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als reine Verstandesbegriffe apriorische Konstrukte des verdinglichenden Verstandes die die synthetische Einheit unserer Vorstellungen ermöglichen. Auch Kants Lehre von den Formen und Gesetzen, die unsere Moral begründen, ist nach Schlegels Ansicht zwar »sehr lose und willkürlich«,35 aber in ihrer Struktur sei sie doch eine Modifikation des Dingprinzips und könne als solche unsere vielfältige ethische Praxis keineswegs begründen. Bei all dieser Kritik Schlegels an Kant und dem Deutschen Idealismus bleibt die Frage offen, was von dem klassischen transzendentalen Ansatz, dass die Realität nicht unabhängig vom Bewusstsein zu behandeln ist, bei Schlegel remanent ist. Fest steht, dass Schlegel seit seiner frühromantischer Kritik am fichteschen Idealismus nicht mehr an Grundsätzen oder Prinzipien festhält. Auch von einer Gewissheit des Ichs will er seitdem nicht mehr sprechen, da dies nach seiner Ansicht eine Gefahr der Verdinglichung in sich birgt. Deshalb fängt er mit dem »Zweifel an dem Ding« und der »Wahrscheinlichkeit des Ichs« an,36 wobei ihm das Ich »ein unauflösliches Rätsel«37 bleibt. Die fixierte Selbstanschauung kann in Fragen des Ich nach Schlegels Einschätzung keineswegs der Quell der Erkenntnis sein: »Denn will man das Ich in der Anschauung erkennen, so muß man es fixieren; dann verwandelt es sich unter der Hand zum Ding; die Seele, das Leben verschwindet und läßt uns nur die tote Hülle zurück«.38 Schlegel sieht den eigentlichen Zugang zum Ich im unmittelbaren Selbstbewusstsein, das er terminologisch als »Selbstgefühl[]« beziehungsweise »Empfindung« bezeichnet: das Ich kann »nicht bewiesen, sondern nur gefunden werden«.39 Der fichteschen Theorie des »Machen des Ichs«, wonach sich das Ich durch seine eigene Tathandlung schafft, setzt Schlegel sein »Finden des Ichs« entgegen.40 Das so verstandene Selbstbewusstsein »kann nicht weiter abgeleitet und bewiesen werden; es begründet alles andere, ist also unmittelbar, schlechthin gewiß«.41 Aus dieser Gewissheit leitet Schlegel in einem weiteren Schritt »die Gewißheit des Unbegreiflichen«42 ab.

35 Schlegel:

Propädeutik und Logik, KFSA 13, 177–324, hier: 290. Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 328. 37 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 330. 38 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 330. 39 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 334. 40 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 343. 41 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 333. 42 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 334. 36 Schlegel:

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349

Es ist beachtenswert, dass Schlegel darauf besteht, dass unser Selbstbewusstsein unbegreiflich bleibt. Es ist nach seiner Einschätzung vielmehr ein »Selbstgefühl«, das uns immer begleitet beziehungsweise mit der eigenen Existenz vertraut macht. Dementsprechend bezeichnet Schlegel das Selbstbewusstsein als »Empfindung, als ein in sich finden, weil das Ich eigentlich nicht bewiesen, sondern nur gefunden werden kann«.43 Im Sinne dieser Empfindung entsteht, wenn sich unser Bewusstsein an einen äußeren Gegenstand richtet, ein »Bild« als Ausdruck des Gegenstands, als ein »Gegen-Ding«, welches das denkende Ich hervorbringt, um »seine Freiheit zu retten«.44 Hierin sieht Schlegel die eigentliche Kraft der Sprache, die uns von der »Tyrannei der Dinge« befreit. Die Sprache wird unter Menschen nicht bloß zum Zwecke der biologischen Kommunikation gebraucht, wie dies bei den Tieren geschieht: »Wäre die Sprache wirklich bloß aus jenen niedrigen Bedürfnissen, so wäre gar kein Grund vorhanden, warum die Tiere nicht eine ähnliche hätten. Das Bedürfnis zu sprechen und sich mitzuteilen kann aber nur bei den Menschen stattfinden, da dies Bedürfnis hervorgeht aus dem Streben einer vernünftigen Kraft, sich selbst hervorzubringen und sich frei zu machen von der Herrschaft des Dings. Die Sprache ist nach dieser Ansicht ein Bedürfnis des nach Freiheit strebenden Menschen, um sich mit gemeinsamen Kräften gegen die Übermacht der Welt zu stärken und davon zu befreien. Diese Begründung und Notwendigkeit der Sprache liegt also nach diesem Standpunkt bloß und allein in der Natur der Menschheit; sie ist, abstrahiert von ihrem höhern Geiste, nach dem gemeinern Zwecke [...] etwas rein Menschliches.«45 Schlegel scheint das denkende Subjekt und die Subjektivität auf den funktionierenden, kommunikativen Sprachgebrauch zu reduzieren. Der poetischen Reflexion aus der Athenäumszeit entspricht in den späteren Kölner Vorlesungen die kreative Einbildungskraft, die dem vorstellend vernehmenden Denken der Vernunft diametral entgegengesetzt wird. Sie wird als »ein freies Denken« gekennzeichnet, das »durchaus nicht an die Gesetze der Dinge, der objektiven Welt gebunden« bleibt. »Die Vernunft vermeidet alles Bildliche und strebt nach dem Abstrakten, während die Einbildungskraft gerade umgekehrt nach dem

43 Schlegel:

Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 344. Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 344. 45 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 345. 44 Schlegel:

350

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Bildlichen strebt und das Abstrakte vermeidet.«46 Die in den Jenaer Vorlesungen zur Transcendentalphilosophie vorgetragene Ansicht, wonach das Individuum als bildhaftes Bewusstmachen des bewusstlosen Unendlichen verstanden wird,47 wird hier wieder aufgenommen. Das sich selbst schaffende Individuum wird dabei zum Bild des Unendlichen, das »ein Werk des Ichs, ein Gegen-Ding« darstellt, den Versuch, sich von der »Herrschaft des Dings« zu entreißen.48 In den Kölner Vorlesungen wird behauptet, dass der Zweck der Einbildungskraft »das innere, freie, willkürliche Denken und Dichten« ist. »Im Dichten ist sie [die Einbildungskraft, v. Verf.] auch wirklich am freisten«.49 Die eigentliche Frage der poetischen Reflexion lautet: »Was denn der Mensch eigens aus sich selbst produzieren könne?«50 Der Grund, aus welchem das kritische Denken seine Kreativität schöpft, bleibt für Schlegel die Sprache. Die Würde des Menschen sieht Schlegel in seiner »Sprachfähigkeit«,51 im Vermögen seine Kreativität im produktiven Schaffen zu manifestieren und dadurch die eigene Autonomie und Freiheit zu bezeugen. Die Sprache offenbart uns höhere Bedeutung und ursprünglichen Sinn und erweist sich als »das Geistige im Körperlichen«,52 als das eigentliche Inzitament des Lebens und Denkens. Durch die Besinnung auf die Ursprünglichkeit der Sprache vermag der Mensch die verdinglichende Struktur des vorstellenden Denkens zu überwinden. Die Begeisterung, die Schlegel für die »bewundernswürdige Lehre des Idealismus der neuen Schule« in seinem Aufsatz Über die Form der Philosophie zur Sprache gebracht hat, ist ein Nachweis, dass er weiterhin an die Philosophie der Subjektivität anknüpfen möchte: denn nur aufgrund der Autonomie des Denkens kann man ergründen, »was der Mensch bloß durch sich selbst vermag, durch die Kraft und Kunst des freien Denkens allein, und durch den festen Muth und Willen dazu, in steter Befolgung der einmal erkannten Grundsätze«.53 Seine endgültige Distanzierung von Fichtes, Schellings und Hegels Idealismus vollzieht Schlegel nach seiner Wende zur positiven Philosophie. Hegel habe nach seinem Urteil die idealistische Philosophie

46 Schlegel:

Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 359. Transzendentalphilosophie, KFSA 12, 1–106, hier: 39 ff. 48 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 345. 49 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 359. 50 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 359. 51 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 344. 52 Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, KFSA 12, 347. 53 Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen, KFSA 3, 98. 47 Schlegel:

Schlegels Theorie des Bewußtseins – Kölner Vorlesungen 1804/05

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wieder auf »den leeren Raum des absoluten Denkens« eingeschränkt,54 er sei hauptsächlich schuld daran, dass »das Wesen des Geistes ausdrücklich in die Verneinung gesetzt« und dieser »Geist der Verneinung in abstrakter Verirrung aufgestellt und vergöttert« wird. Der Grundbegriff der hegelschen Philosophie wird als das »feindliche Prinzip« des Menschengeschlechts gebrandmarkt, »dieser absolute, d.h. böse Geist der Verneinung und des Widerspruchs« wird »auf den letzten Abwegen der deutschen Philosophie, obwohl in abstrakter Unverständlichkeit, in der Mitte des verworrenen Systems auf den Thron gestellt«.55 Das verschlüsselte Syntagma von der Gestalt des Bösen aus der Phänomenologie erhält den endgültigen Rückschlag durch die Metapher der Inthronisierung des diabolisch Absoluten. Nach Schlegels Urteil besteht der Grundfehler aller traditionellen Philosophie in der vergeblichen Bemühung, die philosophische Wahrheit »in mathematischer Gewißheit durch logische Beweise, sowohl selbst erfassen, als auch für andere aufstellen zu wollen«.56 Diese Tendenz, die Philosophie nach szientistischen Kriterien zu konstruieren und zu verifizieren, besteht nicht erst seit Kant, sondern seit Francis Bacon, »seitdem der Einfluß und das glänzende aber unpassende Beispiel der Mathematik und der Physik den spekulativen Geist, der ersten Wirkung nach, mehr überfüllte als bereicherte«.57 Im Gegensatz zu dieser abstrakten Denkweise, soll die »positive« Philosophie »das Wirkliche vor dem Notwendigen« präferieren und »statt des leeren, unbestimmten Seins nur das lebendige, wirkliche Dasein« als Ausgangspunkt des Philosophierens nehmen.58 Schlegels Kritik des wissenschaftstheoretisch orientierten Denkens kommt besonders in der ironischen Bemerkung zum Ausdruck, dass die Schlange im Paradies »den ersten Syllogismus gemacht« hat.59 Bereits am Anfang seiner Geschichte wurde der Mensch verführt und hat sich für die Abstraktion, statt für das Leben entschieden. Aus diesem Denken, das sich vom Baum des Lebens zum Baum der abstrakten Erkenntnis gewendet hat, hat sich seine metaphysische onto-theologische Struktur im Lauf der europäischen Metaphysik entfaltet. 54 Schlegel:

Philosophie des Lebens, KFSA 10, 1–307, hier: 16. Philosophie des Lebens, KFSA 10, 17. 56 Schlegel: Über Jacobi, KFSA 8, 585–596 hier: 590. 57 Schlegel: Fichte, KFSA 8, 63–85, hier: 84. 58 Schlegel: Zur Philosophie und Theologie. 1818.2, KFSA 19, 343 Fragment 279; vgl. auch ders.: Über Jacobi, KFSA 8, 594. 59 Schlegel: Zur Philosophie und Theologie. 1810–1812, KFSA 19, 294–307, hier: 300 Fragment 41. 55 Schlegel:

Andreas Arndt Das systematische Reale und seine ideale Darstellung. Zum Systembegriff in Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre Schleiermacher gehört gemeinhin nicht zu den Protagonisten der Klassischen Deutschen Philosophie nach Kant, die als Begründer eines Systems hervorgetreten sind, jedenfalls nicht dann, wenn darunter ein in sich vollständiges oder wenigstens vollständig grundgelegtes System der philosophischen Wissenschaften verstanden wird. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Schleiermacher lässt sich durchgängig von der Auffassung leiten, dass es einen solchen Abschluss des Wissens in sich noch nicht gebe und – vielleicht – auch nie geben werde. Bis hin in die Vorlesungen über die Dialektik besteht die Frage darin, wie unter der Voraussetzung einer Unentschiedenheit in den Grundsätzen des Wissens (und Handelns) gleichwohl ein Wissen, wenn auch nicht ein Wissen der Grundsätze, gerechtfertigt werden kann. Dass ein systematischer Abschluss der philosophischen Wissenschaften unter dieser Vorrausetzung unmöglich ist, versteht sich von selbst. Tatsächlich spielt der Begriff des Systems bei Schleiermacher auch keine sonderlich prominente Rolle und wird in den frühen Schriften und Entwürfen eher umgangssprachlich für einen theoretischen Zusammenhang überhaupt gebraucht. Erst in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre kommt überhaupt die philosophische Problematik des Systembegriffs in den Blick. Warum das so ist, bedarf der Erläuterung durch den Rückgang auf Schleiermachers Position in den Reden über die Religion (1). Im Blick auf die Grundlinien selbst ist dann zu fragen, welche Architektonik der Philosophie im Ganzen sie in den Blick nehmen (2) und schließlich soll Schleiermachers Begriff des Systems betrachtet, also der Frage nachgegangen werden, was für ihn eigentlich die Systematizität eines Systems ausmacht (3).

1. Erstaunlich ist, dass Schleiermacher – auch in der Phase seines Symphilosophierens mit Friedrich Schlegel in der gemeinsamen Wohnung vor

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dem Oranienburger Tor in Berlin1 – die Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit, anders als Schlegel2 und Novalis, an keiner Stelle bemüht. Dabei teilt Schleiermacher durchaus deren grundlegende Auffassung, dass die letztlich aporetischen subjektiven Bemühungen des Denkens zur Etablierung eines Systems sich auf einen objektiven systematischen Zusammenhang beziehen. Für ein solches Bemühen steht in den Reden über die Religion paradigmatisch wiederum der Standpunkt Spinozas: »Nun laßt uns höher steigen, dahin, wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener?«3 Freilich ist Schleiermacher zugleich der Ansicht, dass eine systematische, denkend-begriffliche Erfassung des Universums nicht möglich sei. Die Metaphysik beziehungsweise Transzendentalphilosophie – für Schleiermacher ist die Transzendentalphilosophie die einzig legitime Art, metaphysische Fragen noch zu thematisieren – »klaßifizirt das Universum und theilt es ab in solche Wesen und solche […] sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Geseze«.4 Anders gesagt: Da sich das begreifende Denken notwendig in Gegensätzen bewegt, muss es jenes System, welches als die Vereinigung aller streitenden Gegensätze die Einheit in der Vielheit objektiv ist, nämlich das Universum, notwendig verfehlen. In den Reden fällt daher die Aufgabe der Erfassung dieses Systems als System auch nicht der Philosophie, sondern der Religion zu, die wesentlich als Anschauen des Universums bestimmt wird. Zwar kann auch die Religion das Universum nicht systematisch erfassen, aber sie 1 Vgl.

Andreas Arndt: Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel, in: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796– 1802. Hrsg. v. Andreas Arndt. Berlin/New York 2009, 3–14. 2 Vgl. Andreas Arndt: Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff, in: System und Systemkritik um 1800. Hrsg. v. Christian Danz/Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2011, 287–300. 3  Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Berlin/New York 1980 ff. Abt. I, Bd. 2, 185–326, hier: 245. Im Folgenden zitiert als KGA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 4 Schleiermacher: Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 208.

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vermittelt doch eine Intuition für die ursprüngliche Einheit und damit die Systematizität des All-Einen: »Ein System von Anschauungen, könnt ihr euch selbst etwas wunderlicheres denken? Laßen sich Ansichten, und gar Ansichten des Unendlichen in ein System bringen?«5 Eben deshalb dürfe, so Schleiermacher, die Religion nicht »mit Philosophie überschwemmt« und in die »Feßeln eines Systems« geschlagen werden.6 Die Religion ist kein System und darf keinem System unterworfen werden, aber sie ist der privilegierte Zugang zu einem gleichsam objektiven System, das sich beziehungsweise seinen Grund nur in Anschauung und Gefühl zeigt, wobei das Gefühl das subjektive Innewerden dessen ist, wie sich das Universum in der Anschauung darstellt. Über den Gehalt der Anschauung oder des Gefühls kann jedoch systematisch nicht gesprochen werden, denn – wie es in der Zweiten Rede heißt –: »eine nothwendige Reflexion trennt beide [Anschauung und Gefühl, v. Verf.], und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen. […] Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinnes können wir diesem Schiksal nicht entgehen; nicht anders als in dieser getrennten Gestalt können wir seine Produkte wieder zur Oberfläche herauffördern und mittheilen.«7 Es ist dieser privilegierte Zugang, den die Religion in der ursprünglichen Einheit von Anschauung und Gefühl zur All-Einheit des Universums und damit zu dem wahren System hat, der Schleiermacher vor der Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit bewahrt. Die Religion übernimmt als eine eigene Provinz innerhalb des menschlichen Gemüts gleichsam arbeitsteilig die systematische Perspektive, die der Reflexion notwendig abgeht, da sie sich innerhalb von Trennungen und Entgegensetzungen bewegt. Nicht innerhalb der Philosophie, sondern als Gegengewicht zur Philosophie wird die Systemperspektive zur Geltung gebracht, und deshalb ist es aus der Sicht des Redners auch »verwegener Übermuth«, »Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion«.8 Und ausdrücklich heißt es dann wenig später, Religion müsse »dem Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus«, das »Gegengewicht halten« und »einen höhe5 Schleiermacher:

Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 215. Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 217. 7 Schleiermacher: Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 220–221. 8 Schleiermacher: Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 212. 6 Schleiermacher:

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ren Realismus« ahnden lassen, denn der Idealismus werde sonst »das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit«.9 Hieran ist zweierlei hervorzuheben. Zum einen: Ein »System der Vernunft«,10 wie es nach Schleiermachers Auffassung wohl der Idealismus erstrebt, ist für Schleiermacher an dem höheren Realismus der Anschauung des Universums als des All-Einen zu messen und dabei notwendig defizitär. Ein System der Vernunft bleibt subjektiv und kann unsere Beschränktheit nicht überwinden. Damit optiert Schleiermacher für ein systematisches Reales, welches unserem Erkennen voraus- und zugrunde liegt. Zweitens aber ist dieses systematische Reale nicht durch philosophische Reflexion einzuholen und daher, so scheint es, auch nicht deren internes Moment. Das unterscheidet Schleiermachers dialektischen Systembegriff radikal von demjenigen Schlegels, denn dort war das gleichsam objektive System unter dem Titel des Unbedingten oder Absoluten insofern internes Moment des Prozesses, als das Erkennen an der Grenze zum Absoluten zugleich über diese Grenze hinaus war.11 Für den jungen Schleiermacher dagegen wird die Philosophie, jedenfalls in den Reden, durch die Religion äußerlich begrenzt.12 Sie kann und soll zwar im Lichte einer durch die Religion vermittelten Intuition operieren, ist aber selbst nicht in der Lage, diese Intuition einzuholen. Dass in den Reden die Religion einerseits in einen »schneidende[n]« Gegensatz zur Philosophie (»Metaphysik« und »Moral«) gebracht, andererseits aber die religiöse Position nicht nur philosophisch konstruiert wird,13 sondern auch philosophische Konsequenzen hat, wurde bereits vielfach als widersprüchlich angesehen und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls ist deutlich, dass die Position der Reden nicht das letzte philosophische Wort Schleiermachers zum Systembegriff 9 Schleiermacher:

Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 213. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga ²1787, 25; vgl. Walter Jaeschke/Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. München 2012. 11  Vgl. Arndt: Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff. 12 Schleiermacher: Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 211. – Vgl. Andreas Arndt: Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen/Walter Jaeschke. Hamburg 2004, 126–141. 13 Schleiermacher: Reden über die Religion (1799), KGA I 2, 211. – Vgl. Andreas Arndt: On the Amphiboly of Religious Speech. Religion and Philosophy in Schleiermacher’s »On Religion«, in: Interpreting Religion. Hrsg. v. Dietrich Korsch/Amber L. Griffioen. Tübingen 2011, 99–111. 10 Vgl.

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sein konnte. Allerdings kam Schleiermacher auf die Problematik erst zurück, als er zum ersten Mal daran ging, seine philosophischen Positionen zusammenhängend darzulegen – in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), deren Vortrag nach Schleiermacher in »schulmäßiger«, also streng wissenschaftlicher Form, erfolgen sollte.14

2. Die Eigenart der Grundlinien besteht erstens darin, dass sie rein negativ verfahren: Sie sagen nicht, wie eine Sittenlehre positiv beschaffen sein müsse, welche Inhalte und Grundsätze sie haben müsse, sondern nur, welche Form der Sittenlehre nicht tauge, die Aufgabe einer Wissenschaft zu erfüllen. Zweitens besteht die Eigenart der Grundlinien darin, dass sie es nicht mit der Philosophie überhaupt, sondern nur mit einer philosophischen Realwissenschaft, eben der Ethik, zu tun haben. Beides lässt zunächst nicht erwarten, dass Schleiermacher hier etwas zu seiner eigenen Konzeption eines philosophischen Systems sagt. Tatsächlich ist er hierzu jedoch wenigstens in Ansätzen gezwungen, denn hinsichtlich der Form ist zu erörtern, ob und in welcher Hinsicht diese überhaupt systematisch sein könne und auch, welcher Platz der Ethik im Zusammenhang der philosophischen Wissenschaften insgesamt zukomme. Ich beginne, wie eingangs erwähnt, mit der letzteren Frage. Vorauszuschicken ist, dass Schleiermacher sich in der Betrachtung der bisherigen Sittenlehre auf diejenigen Positionen beschränkt, die selbst Anspruch auf ein System machen können, wo nämlich »ein zusammenhängendes und das Gebiet umfassendes System verheißen worden ist, welches das zufällige menschliche Handeln unter einer Idee betrachtet, nach der, was darin ihr angemessen ist, ausschließend und ohne Ausnahme als gut gesezt, als böse aber eben so Alles mit ihr unvereinbare verworfen wird.«15 Es geht im Weiteren dann darum, »die verschiedenen Ideen, welche bisher der Ethik zum Grunde gelegt worden, in Absicht auf ihren Werth, nemlich ihre Tauglichkeit zur Aufführung eines wissenschaftlichen Ge-

14  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher an Karl Gustav Brinckmann, 22.3.1800, KGA V 3, 433–437, hier: 434. 15 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 27–357, hier: 37.

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bäudes«, zu beurteilen.16 Die zentrale Idee der ethischen Betrachtung kann grundsätzlich auf verschiedenen Wegen gewonnen worden sein: (a) ausgehend von den einzelnen Sätzen auf induktivem Wege; (b) aus einem besonderen inhaltlichen Bedürfnis in bezug auf die Ethik und (c) dadurch, dass die Ethik und ihre höchste Idee »noch einen höheren wissenschaftlichen Grund über sich« habe, zu dem sie sich ins Verhältnis setzen müsse.17 Während die ersten beiden Formen der Gewinnung der leitenden Idee – Empirismus und Subjektivismus – kaum zu einer wissenschaftlichen Systematik führen können, stellt sich mit der dritten Form sogleich das Problem der systematischen Gestalt der Philosophie insgesamt und des systematischen Ortes der Ethik. Schleiermacher geht hier von so etwas wie einem systematischen Bedürfnis der Philosophie aus, das »seine Ruhe nirgends anders finden« könne »als in der Bildung einer – wenn hier nicht ein höherer Name nöthig ist – Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften«.18 Über die Forderungen, die an den Status dieser Wissenschaft und ihre Gestalt zu stellen seien, hat Schleiermacher relativ klare Vorstellungen – ungeachtet der Tatsache, dass er immer wieder betont, es gebe diese Wissenschaft noch gar nicht. »Wäre nun«, so heißt es wenig später, »jene höchste Erkenntniß bereits auf eine unbestrittene Art mit dem unmittelbaren Bewußtsein allgemeiner Uebereinstimmung gefunden: so würde aus unserem Standort die Ethik, welche sich in dieser gründete, allen übrigen vorzuziehen sein. […] Allein jene Erkenntniß ist nicht auf eine solche Art gefunden, sondern nur einige Versuche gemacht, deren keiner recht genügen will.«19 Dies betrifft unter den Zeitgenossen namentlich Schelling und Fichte, wobei Schelling in den Grundrissen deshalb keinen Gegenstand der Auseinandersetzung bildet, weil er nach Schleiermachers Auffassung gar keine Ethik zu bilden imstande sei, während umgekehrt Fichte keine Naturphilosophie ausbilden könne, wie im »Beschluß« der Grundlinien noch einmal ausdrücklich (wenn auch ohne die Namen der Vertreter 16 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 47. 17 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 47.

18 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 47–48. 19 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 47–48.

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des »dynamischen Idealismus« zu nennen) hervorgehoben wird.20 Fichtes Wissenschaftslehre bezeichnet für Schleiermacher daher auch nur das Programm der gesuchten obersten Wissenschaft, kann aber nicht als deren Durchführung gelten. Die Erfindung des Namens »Wissenschaftslehre« sei »vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten […], als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System. Denn ob dieses die Sache selbst gefunden habe, ist noch zu bestreiten, so lange es nicht in einer ungetrennten Darstellung bis zu den Gründen aller wissenschaftlichen Aufgaben und den Methoden ihrer Auflösung herabgeführt ist.«21 Anders gesagt: Könnte Fichte zeigen, dass vom Standpunkt der Wissenschaftslehre eine Naturphilosophie konstruiert werden könnte, die sich als Realwissenschaft mit der Ethik auf eine Ebene stellen und vermitteln ließe, so wäre die Wissenschaftslehre tauglich zur Begründung eines Systems. Tatsächlich hat Schleiermacher keinen Zweifel daran, dass Fichtes Wissenschaftslehre dies nicht leisten kann.22 Aber auch sonst sind keine Kandidaten sichtbar, die Schleiermachers Forderungen genügen könnten. Auch der Blick zurück zu den Griechen hilft nicht weiter, denn auch diejenigen, »welche in einem geschlossenen Zusammenhange die sogenannte Philosophie vortrugen, pflegten sie einzutheilen, in die logische, physische und ethische, ohne den gemeinschaftlichen Keim, aus welchem diese drei Stämme erwachsen sind, aufzuzeigen, noch auch höhere Grundsäze aufzustellen.«23 Die neuere Philosophie (die mittelalterliche ist für Schleiermacher weitgehend terra incognita) hat hier auch nicht mehr zu bieten, denn: »Dieselbige Bewandniß hat es mit der neueren Eintheilung der Philosophie in die theoretische und praktische, welche auch mit der vorigen,

20 Schleiermacher:

356.

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

21 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 48. 22 

»Aus dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewundernswürdigkeit der Zurüstungen« (Schleiermacher: Gedanken V (1800–1803), KGA I 3, 281–340, hier: 320, Nr. 149). 23 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 49.

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bis auf die Aussonderung der Logik, ganz übereinkommt.«24 Dies gilt auch für Kant.25 In jedem Falle wird deutlich, dass Schleiermacher die Systemfrage historisch verortet: Sie hat sich nicht immer und überall gestellt, sondern sie ist offenbar ein Produkt der nachkantischen Diskussionslage. Nun hat Schleiermacher, wie bereits erwähnt, durchaus eine Vorstellung davon, was die gesuchte »Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften«26 leisten und welche Gestalt sie haben müsse. Sie dürfe, so heißt es, »selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.«27 Schleiermachers berühmte und vielzitierte Ausführung ist nicht nur äußerst gedrängt, sie bedarf auch einer näheren Erläuterung. Offenkundig ist, dass er sich hier nachdrücklich von der sogenannten Grundsatzphilosophie distanziert. Weder dürfe die oberste Wissenschaft überhaupt auf einem Grundsatz beruhen, noch könne sie überhaupt begründet und bewiesen werden. Eine Letztbegründung scheidet damit aus und mit ihr die Bemühungen namentlich Reinholds und Fichtes um eine Grundlegung der Philosophie aus Prinzipien.28 Offenbar greift Schleiermacher hier auf ein Theorem zurück, das ihm durch Friedrich Schlegel geläufig war, der sich in seiner Rezen­ sion von Jacobis Roman Woldemar 1796 mit Jacobis These auseinandergesetzt hatte, dass jeder Erweis schon etwas Erwiesenes voraussetze. Dies gilt nach Schlegel nur für »diejenigen Denker, welche von einem einzigen Erweis ausgehn. Wie wenn nun aber ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der

24 Schleiermacher:

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 49–50. 25  Vgl. Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 50 ff. 26 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 48. 27 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 48. 28 Schleiermacher hatte für die oberste Wissenschaft auch die an Reinhold anknüpfende Bezeichnung »Elementarphilosophie« erwogen; vgl. Schleiermacher: Gedanken V (1800–1803), KGA I 3, 310, Nr. 107.

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Grund der Philosophie wäre?«29 Schleiermacher nimmt diesen Gedanken auf in der Vorstellung eines Ganzen, »in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht«.30 Beide, Schlegel und Schleiermacher, stimmen mit der »Grundsatzphilosophie« darin überein, dass der von Jacobi kritisierte unendliche Regress des Bedingens beziehungsweise Erweisens durch ein Unbedingtes außer Kraft gesetzt werden müsse, das nicht im Sinne eines Bedingungsverhältnisses begründet werden könne. Der alles entscheidende Unterschied besteht darin, dass Schlegel – und mit ihm Schleiermacher – das Unbedingte als Totalität denkt, innerhalb derer die Elemente sich wechselseitig bedingen. Während Schlegels Konzeption bereits vielfach diskutiert wurde und hier nicht weiter zu erörtern ist,31 ist die weitgehende Übereinstimmung Schleiermachers mit Schlegel in diesem Punkt noch wenig erörtert worden.32 Die Konsequenzen der schleiermacherschen Intuition einer Wissenschaftslehre sind nicht eindeutig zu bestimmen. Offenkundig ist, dass Schleiermacher Philosophie als System im Sinne einer organischen Einheit denkt, wo Teil und Ganzes, Einzelnes und Allgemeines sich wechselseitig durchdringen und bedingen. In welcher Weise das durchgeführt werden soll – in der Totalität der Realwissenschaften (Physik bzw. Naturphilosophie und Ethik) oder auch für sich gestellt in einer Art Wissenschaftslehre – wird nicht ganz deutlich. Dass die einzelnen Wissenschaften ausdrücklich auf einem Grund beruhen, besagt noch nicht zwingend, dass der Wechselerweis in eine für sich zu stellende höchste Philosophie fällt, wie Peter Grove dies kritisch gegen mich behauptet hat.33 Vielmehr kann auch zwischen den bedingten Grundsätzen der Physik und Ethik ein Wechselerweis eintreten, durch welchen sich aus den Realwissenschaften heraus eine Totalität konstituiert. Schleiermachers wenig später gehaltene Vorlesungen zur Ethik in Halle gehen jedenfalls so vor, dass sie Ethik und Physik direkt aufeinander

29  Friedrich

Schlegel: Rezension zu Jacobis »Woldemar« 1796, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett/Hans Eichner. Paderborn u.a. 1958 ff. Bd. 2, 57–77, hier: 72. 30 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 48. 31  Vgl. zur Diskussionslage Jaeschke/Arndt: Die klassische Deutsche Philosophie nach Kant, 231 f. 32 Vgl. Andreas Arndt: Kommentar, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften. Frankfurt/M. 1996, 1070–1071, 1083 ff.; Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion. Berlin/New York 2004, 243 ff. 33 Grove: Deutungen des Subjekts, 246, 466 Anmerkung.

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beziehen, wobei diese durchaus unterschiedliche Grundsätze haben.34 Das entspricht der im Brouillon zur Ethik (1805/06) vorgetragenen Polemik gegen die »gewöhnlichen« Formen der »Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will«.35 Eine Wissenschaft über den Realwissenschaften wird hier ausdrücklich zurückgewiesen; gleichwohl gibt es so etwas wie eine Anschauung des Ganzen, dessen Momente Natur und Geschichte (Ethik) sind. Eine abschließende Gewissheit darüber, was Schleiermacher 1803 genau meinte, lässt sich indessen wohl nicht gewinnen. Aufschlussreich ist jedoch, was Schleiermacher im Blick auf die beiden von ihm favorisierten Systeme der Ethik sagt, nämlich diejenigen Platons und Spinozas. Sie kommen darin überein, dass sie »objectiv philosophirt haben, das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen sind«.36 Diese Perspektive auf das Unendliche, die Totalität, strukturiert die jeweilige philosophische Systematik. Platon und Spinoza kämen, so Schleiermacher, darin überein, »daß ihnen die Erkenntniß des unendlichen und höchsten Wesens nicht etwa erst Erzeugniß einer andern ist, vielweniger ein zu andern ersten Gründen noch hinzugeholtes Noth- und Hülfsmittel, sondern die erste und ursprüngliche, von welche jede andere ausgehen muß«.37 Der Mangel bestehe bei Spinoza darin, dass er die »einzelnen Naturen«, das heißt die Inidividualitäten, unterbestimmt habe; dies beruhe auf dem Fehlen »jeder Vorstellung einer Kunst oder eines Kunstwerkes. Man kann daher nicht läugnen, daß die Ethik ihm fast wider seinen Willen, und wohl nur polemisch zu Stande gekommen ist, es sei nun um die gemeinen Begriffe zu bestreiten, oder um seine Theorie vom höchsten Wesen zu rechtfertigen und zu bewähren.«38 Bei Platon dagegen erscheine »das unendliche Wesen nicht nur als seiend und hervorbringend, sondern auch als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche zusammengeseztes

34 Vgl.

Andreas Arndt: Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme. Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schleiermachers Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1807/08, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 103–121. 35  Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Hrsg. v. Otto Braun. Leipzig 1913, 175. 36 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 66. 37 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 63. 38 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 65.

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Kunstwerk«.39 Schleiermacher will hier ausdrücklich nicht entscheiden, ob »die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder so wie Platon sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten Wesen hinzeichnet, einen festen Grund habe«,40 festzuhalten ist jedoch, dass weder Spinoza noch auch nach Schleiermachers Auffassung Platon über eine selbständig hervortretende oberste Wissenschaft verfügen.

3. Es wurde bereits gesagt, dass die philosophischen Realwissenschaften – Naturphilosophie und Ethik – durchaus einen Grundsatz haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass innerhalb dieser Wissenschaften ein deduktives Begründungsverfahren stattfindet. Tatsächlich setzt Schleiermacher den obersten Grundsatz mit einer leitenden Idee gleich; es sei »das erste Erforderniß einer jeden Ethik die leitende Idee, oder der oberste Grundsaz, welcher diejenige Beschaffenheit des Handelns aussagt, durch welche jedes Einzelne als gut gesezt wird, und welche sich überall wieder finden muß, indem das ganze System nur eine durchgeführte Aufzeichnung alles desjenigen ist, worin sie erscheinen kann.«41 In dieser Hinsicht sind die Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften und die Realwissenschaften isomorph: Dem notwendigen Bezug auf das Unbedingte dort entspricht hier eine Idee, deren Erscheinungsweisen nicht abzuleiten, sondern aufzuzeichnen, das heißt gleichsam zu protokollieren sind. Ein Blick in Schleiermachers Hallenser Ethik bestätigt diesen Befund. Eine »ursprüngliche Anschauung« bildet hier den Ausgangspunkt, welche man »nicht in einem Saz zusammenfassen« könne, weshalb man »unmittelbar in der Anschauung haften bleiben« müsse.42 Nach dieser Seite sei die Ethik »Beschreibung«, »schlichte Erzählung«, »Aufzeigen« der »Geseze des menschlichen Handelns« als »Naturgeseze«;43 entsprechend

39 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 65. 40 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 66. 41 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 42. 42 Schleiermacher: 43 Schleiermacher:

Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 82. Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 80–81.

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heißt es in den Grundlinien, die Ethik sei ein »System über das zufällige menschliche Handeln«.44 Dieses Handeln selbst ist als zufällig nicht deduktiv aus Prinzipien einzuholen, aber dies ist auch nicht die Aufgabe der Ethik, die vielmehr darin besteht, den Bezug alles möglichen Handelns auf die leitende Idee begrifflich zu sichern: »Endlich aber entsteht die Frage, ob auch die Gesamtheit dieser Begriffe die ganze Sphäre des möglichen menschlichen Handelns ausfülle, so daß nichts was darin ethisch gebildet werden könnte, ausgeschlossen, und nichts, was sich als Gegenstand sittlicher Beurteilung zeigt, unbestimmt gelassen worden; kurz, ob das System auch vollständig und geschlossen ist.«45 Die Vollständigkeit und Geschlossenheit des Systems, die Schleiermacher fordert, steht der immer wieder geäußerten Auffassung entgegen, er habe genau das Gegenteil erstrebt und sich von den Systembildungsversuchen der Zeitgenossen ferngehalten.46 Die Geschlossenheit des Systems bezieht sich jedoch nicht auf einen deduktiven Zusammenhang, sondern auf die vollständige Erfassung des möglichen Felds empirischer Phänomene, hier: des zufälligen menschlichen Handelns. Allerdings gilt auch hier, dass das Handeln – wiewohl es im Einzelnen zufällig sein mag – hinsichtlich seiner grundlegenden Bedingungen sehr wohl strukturiert ist und so etwas wie einen systematischen Zusammenhang bildet. In der Hallenser Ethik bezieht sich dies auf die Handlungsräume, also, wie es dort heißt, auf das »Fachwerk« der Vernunfttätigkeiten.47 In den Grundlinien wird dies so zur Geltung gebracht: »Wenn aus einem ethischen Grundsatze ein System von Handlungen sich soll entwickeln lassen: so muß auch die Gesammtheit dieser Handlungen oder Zustände, damit auch die gleich einbegriffen werden, welche nicht auf ein eigentliches Handeln gehen, ein Ganzes und Gleichartiges ausmachen, welches daher auch unter Einem Begrif muß dargestellt werden können.«48 44 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 39. 45 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 43. 46 Vgl.

den Überblick bei Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers. Darmstadt 1984, 64 ff. 47 Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 90. 48 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 100.

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Die Gesamtheit der Handlungen »unter einem Begriff« darstellen, diese Forderung bezieht sich demnach nicht darauf, dass die Handlungen selbst (und sei es post festum) aus einem Grundsatz abgeleitet werden, sondern darauf, dass alle möglichen Handlungsfelder in der Sphäre der leitenden Idee beziehungsweise des obersten Grundsatzes stehen und darauf bezogen werden können. Der Grundsatz könne sich, so Schleiermacher, »eines vermittelnden und leitenden Begriffes« – auch »Hülfsbegrif« – bedienen, so dass »in dem durch den Hülsbegrif gezeichneten Umriß nichts übrig bliebe, was nicht durch den Grundsaz ethisch bestimmbar wäre, und auch keine Anwendung des Grundsazes, innerhalb der menschlichen Welt nemlich, gedacht werden könne, die nicht auch durch die Anwendung des Grundsazes auf jenen Begrif sollte zu finden sein.«49 Ich will dies hier nicht weiter im Detail verfolgen. Deutlich wird, dass die Systematizität des Systems wesentlich von der Vernunft ausgeht, das heißt auf einem notwendigen Zusammenhang begrifflicher Bestimmungen beruht, denn der Grundsatz wird nicht unmittelbar auf empirische Phänomene – das zufällige Handeln – bezogen, sondern durch ein begriffliches Verfahren wird ein systematischer Zusammenhang von Handlungsfeldern konstituiert, der im Blick auf alle möglichen menschlichen Handlungen als vollständiges Beschreibungsmodell gelten kann. Hierbei handelt es sich nicht um empirische Verallgemeinerungen, sondern eher um so etwas wie eine apriorische Struktur, die in der Vernunft selbst insofern begründet ist, als es ja nach Schleiermacher im ethischen Handeln um ein Handeln der Vernunft geht, die Vernunft also als Subjekt desjenigen Handelns fungiert, das sie beschreibt, indem sie einen begrifflichen Rahmen konstituiert. Ausdrücklich hält Schleiermacher fest: »Die untergeordneten Begriffe, wie verschieden sie auch sein mögen, sowohl dem Umfange nach, als in der Gestalt, können in ihrer Beziehung auf das System nicht anders gedacht werden, als daß sie durch Ableitung hervorgegangen sind aus der höchsten Idee.«50 Ganz allgemein ist für Schleiermacher die

49 Schleiermacher:

104.

50 Schleiermacher:

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 149. Im Folgenden grenzt Schleiermacher dies ausdrücklich gegen eine induktionistische Theorie ab.

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»Idee eines Systems […] in jedem Falle eine solche, die zwar als Forderung der Vernunft im Allgemeinen von Jedem, welcher über die Natur der menschlichen Erkenntnis nachdenkt, muß zugegeben werden, deren Anwendbarkeit für einen einzelnen Fall aber gegen die Einwendungen des Skeptikers nur entweder durch ihre unmittelbare wirkliche Ausführung kann sicher gestellt werden.«51 Zwar könne, wie Schleiermacher immer wieder betont, die oberste Idee nicht auf induktivem Wege gewonnen werden, gleichwohl lässt sich die Vollständigkeit des aus der Vernunft begrifflich begründeten Systems auf empirischem Wege immer nur vorläufig sichern, was den Skeptizismus auf den Plan ruft. Hiermit steht die Idee des Systems selbst auf dem Spiel, denn sie ist zunächst eine Forderung der Vernunft. Tatsächlich ist sie aber nach Schleiermachers Auffassung nicht einmal im Blick auf die Vernunft selbst realisiert, denn dann wäre ein anerkanntes System der Vernunft vorhanden und die Philosophie tatsächlich, wie Fichte es verheißen hatte, in eine Wissenschaftslehre überführt. »Wäre«, so heißt es in den Grundrissen, »nun auch nur das Ganze der menschlichen Erkenntnis, sollte es gleich bloß im Umriß sein, als System gegeben, und dabei zugestanden, daß die Ethik einen wesentlichen Teil jenes Ganzen ausmache: so würde dann leicht sein zu zeigen, daß auch sie schon deshalb systematisch müsse gebildet werden. Jetzt hingegen wird dieses von Einigen, jenes von Anderen geleugnet, und auch wenn eine der Ethik ähnliche Erkenntnis als System vorgezeigt würde, möchte Streit entstehn über den Grund der Ähnlichkeit, indem man dabei entweder ausgehn müßte von irgend einer einzelnen, also bestrittenen Vorstellung der Ethik, oder von jener eigentlich noch gar nicht vorhandenen Idee eines Systems der ganzen Erkenntnis, worin denn freilich einzelne Teile andern entsprechen müßten.«52 Es scheint, fährt Schleiermacher fort, als habe »die ganze Forderung nicht hinlänglichen Grund« und müsste »vielmehr aufgegeben werden […], wenn sich nicht der Gedanke aufdränge, daß sie nicht unmittelbar das Ideale der Ethik betrift, sondern vielmehr ihr Reales, oder, um

51 Schleiermacher:

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

52 Schleiermacher:

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

267. 267.

Zum Systembegriff in Schleiermachers Grundlinien

367

es anders zu sagen, nicht die Erkenntnis, sondern den Gegenstand«.53 Genau genommen geht es Schleiermacher um das, was er 1801 in einem Brief als sein Hauptbestreben bezeichnet hatte: die Vereinigung des Idealismus und Realismus.54 Die Forderung der Vernunft bezieht sich auf ein ideales System, das begrifflich konstruiert wird, das aber nur im Bezug auf ein reales System beglaubigt werden kann. Ein reales System ist, wie Schleiermacher näher ausführt, entweder ein organisches Ganzes, »dessen Teile nur aus dem Ganzen und durch dasselbe können verstanden werden«, wie zum Beispiel unser Sonnensystem, oder das System ist »die Gesamtheit, es sei nun der Äußerungen einer Kraft, die sich nur in einer Mannigfaltigkeit des Einzelnen offenbart, oder sonst eines Allgemeinen, welches sich vereinzelnd darstellt«, wie das Weltganze – der Kosmos – selbst.55 Aber auch für die realen Systeme gilt, »daß wir die Regel, nach welcher die Gesamtheit des Einzelnen das Ganze erschöpft, noch nicht gefunden haben«.56 Mit anderen Worten: Es handelt sich für Schleiermacher bei dem realen System um eine denknotwendige Annahme; fast möchte man sagen: um ein regulatives Prinzip, wenn Schleiermacher diesen kantischen Gedanken nicht immer weit von sich gewiesen hätte. So bleibt die Begründung des Systems bei Schleiermacher in der Schwebe. Das System, wie es sich durch die und aus der Vernunft bildet, ist notwendig auf ein Reales bezogen, durch das es bewahrheitet wird, zugleich aber ist die Systematizität des Realen immer nur darstellbar durch das Ideale.

53 Schleiermacher:

267.

54 Vgl.

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher an Carl Schwarz, 28.3.1801, KGA V 5, 73–81, hier: 73–76: »Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte, v. Verf.] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet«. 55 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 268. 56 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4, 268.

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»Von einem […] systematischen Realen, muß nun unfehlbar auch die ideale Darstellung systematisch ausfallen, wenn sie anders getreu sein, und die Idee nicht verlassen will, unter welcher das Reale, worauf sie sich bezieht, wenn gleich nur problematisch ist angeschaut worden.«57 Diese Formulierung ist bemerkenswert. Von Seiten des Idealen wird das Reale unter einer problematischen Idee betrachtet, die das Ideale selbst als Abbild (»getreue Darstellung«) des Realen ansieht. Problematisch bleibt hier Beides, das ideale System und das reale System, und nur die fortgesetzte Beziehung des idealen Systems auf das Reale kann die Selbstaffirmation des idealen Systems der Vernunft sichern, ist aber – da das Reale wiederum nur in der idealen Darstellung Systematizität gewinnen kann – zugleich auch die Quelle eines sich immer wieder erneuernden Skeptizismus. Dies ist nicht weniger hart als die Paradoxie des Systems der Systemlosigkeit bei Friedrich Schlegel und Novalis, auch wenn Schleiermacher die Paradoxie durch die Prozessualisierung des Systems zu entschärfen sucht. Dass dieses frühromantische Erbe gleichwohl bis in die spätere Dialektik Schleiermachers hinein wirksam ist, hat Jonas Cohn schon 1923 ausgesprochen, ohne damit auf große Resonanz zu stoßen: »Die Dialektik hat bei ihm [Schleiermacher, v.Verf.] den Begriff des Systems selbst ergriffen. Es ist, als klinge in dem reif gewordenen Schleiermacher, der die Romantik längst überwunden hat, das Wort seines Jugendfreundes Friedrich Schlegel nach: ›Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden‹. Das bedeutet: ein System zu haben, das sich seines Ungenügens stets bewußt bleibt, das immer wird und nie ist.«58

57 Schleiermacher:

268.

58 

Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803), KGA I 4,

Jonas Cohn: Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie. Leipzig 1923, 44–45.

Ulrich Barth Schleiermachers Systemgedanke und der Deutsche Idealismus Dass Schleiermachers Denken sich in vielfältiger Weise mit der Philosophie jener Zeitgenossen berührt, die man später unter der Sammelbezeichnung Deutscher Idealismus zusammengefasst hat, steht außer Frage. Man braucht nur Themenfelder wie Subjektivität, Vernunft, Freiheit oder Religion in Erinnerung zu rufen, um sogleich der zahlreichen Entsprechungen in Fragestellung und Problemformulierung innezuwerden. Die Philosophie- und Theologiegeschichtsschreibung hat gewaltige Anstrengungen darauf verwandt, die hier obwaltenden Beziehungen freizulegen, um das Profil der Epoche insgesamt zu erheben. Dabei hat sich freilich auch gezeigt, dass Übereinstimmungen im Großen tiefgreifende Differenzen im Detail keineswegs ausschließen, und zwar nicht nur auf der inhaltlichen, sondern vor allem auch auf der methodischen Ebene. Die inzwischen hochgradig spezialisierte Fichte-, Schelling-, Hegel- und Schleiermacherliteratur samt der auf deren Wirkungsfelder bezogenen Konstellationsforschung neigt deshalb eher dazu, die jeweiligen Besonderheiten zu betonen, wobei dann Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge leicht ins Hintertreffen geraten. Gesamtwürdigungen der Epoche sind – im Gegensatz zu früher – heute darum vergleichsweise selten. Die Einordnung Schleiermachers wird dadurch nicht gerade erleichtert. Ich werde mich im Folgenden keineswegs einem der oben genannten, sondern einem anderen, kaum minder repräsentativen Themenfeld zuwenden, das gegenwärtig – wie mir scheint – zu Unrecht in den Hintergrund getreten ist. Ich denke an den Begriff des Systems. Der Stuttgarter Hegel-Kongress 1975 stand unter der Leitfrage: Ist systematische Philosophie möglich?; die Mehrzahl der Beiträge gab sich – wie nicht anders zu erwarten – reserviert. Und wo innerhalb der gegenwärtigen evangelischen Dogmatik überhaupt noch Entwürfe unter dem Titel Systematische Theologie auftreten, fallen die Bezugnahmen auf jenen Methodenbegriff selbst eher marginal aus. Beide Befunde sind Ausdruck einer weit verbreiteten Skepsis, die sich allerdings aus unterschiedlichen Motiven speist. Zunächst sind es die metaphysischen oder – wie heute häufig zu lesen ist – fundamentalistischen Konnotationen jenes Terminus, die auf Kritik stoßen. Im Hintergrund stehen Vorbehalte allgemeinerer Art, die aber ganz unterschiedlich gelagert sind. Auf der

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einen Seite wird gesagt, Erfahrung sei zu fragmentarisch, chaotisch, labyrinthisch verfasst, um in die Form eines apriorischen Systems gegossen werden zu können. Umgekehrt wird auf die Fülle der Wirklichkeit verwiesen, die per se die Grenzen jedes Systems sprenge. Gleichsam zwischen beiden Positionen steht der Einwand, Systeme führten zu Egalisierung und Nivellierung, weil sie nicht in der Lage seien, die kontingente Unverwechselbarkeit des Individuellen zur Darstellung zu bringen. Bereits Heinrich Rickert suchte derartigen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen und zugleich möglichen Kurzschlussreaktionen entgegenzutreten, indem er zwischen geschlossenen und offenen Systemen unterschied. Doch langfristig hat sich im Bereich des Begriffswissens eher jenes Unbehagen durchgesetzt, das Nietzsche auf die amüsante Formel brachte, der »Wille zum System« sei gleichbedeutend mit der Maxime, »sich dümmer zu stellen als man ist«. Diesem vielgestaltigen Ernüchterungsprozess steht aber ein anderer Tatbestand jüngeren Datums entgegen, der einen vorsichtig machen sollte, derartigen Absagen allzu großes Gewicht oder gar den Rang eines Fazits beizumessen. Ich denke an neuere Tendenzen innerhalb der empirisch orientierten Wissenschaften. Unübersehbar ist die auf ganz unterschiedlichen Gebieten zu beobachtende Neukonjunktur des Systembegriffs. Soziologie und Politologie, Biologie und Ökologie machen mit großem Erfolg von ihm Gebrauch. Disziplinen wie Informationstheorie, Kybernetik oder Computertheorie begreifen sich explizit als Systemwissenschaften. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass viele der im idealistischen Denken aufgewiesenen Formeigenschaften in anderer oder teilweise sogar identischer Nomenklatur wieder begegnen, etwa: Reduktion von Komplexität, reflexive Anreicherung von Bestimmtheit oder nichtlineare Begründung. Wir stehen heute vor dem paradoxen Befund, dass Philosophie und Theologie größte Vorbehalte gegenüber dem Systembegriff anmelden, während er sich in anderen Wissenschaften ungeahnter Beliebtheit erfreut. Im Folgenden soll Schleiermachers Verwendung des Systembegriffs etwas genauer unter die Lupe genommen werden, und zwar mit stetem Seitenblick nicht nur auf jene spekulativ-idealistischen Entwürfe, sondern auch auf die ältere Tradition, die beiden Gedankenformationen in der einen oder anderen Weise zugrunde lag. Um die Mehrdimensionalität seines Systembegriffs einigermaßen übersichtlich zu präsentieren, werde ich so verfahren, dass ich das Thema in einem dreifachen Anlauf behandle, und zwar unter einem jeweils anderen inhaltlichen und problemgeschichtlichen Aspekt.

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Auf den ersten Blick hat es den Anschein und wurde auch vielfach so empfunden, als verdanke sich die theologische Verwendung des Systembegriffs den Einflüssen der Philosophie – woran sich dann leicht die Forderung anschließen konnte, ihn ganz aus dem Gebiet der Dogmatik auszuscheiden. Doch seit der grundgelehrten Studie des einstigen Bonner Dogmenhistorikers Otto Ritschl wissen wir, dass jener Eindruck trügt.1 Der szientifische Begriff des Systems ist vielmehr eine Errungenschaft der altprotestantischen Theologie des späten 16. Jahrhunderts und breitete sich von hier rasch in andere Wissensbereiche aus. Er findet sich noch nicht in Melanchthons 1521 erschienenen Loci communes, dem ersten Dogmatik-Lehrbuch evangelischer Theologie. Melanchthon wählte diesen Titel mit Bedacht. Er entstammt humanistischer Rhetoriktradition und hatte seinen Ort vorwiegend im Kontext didaktischer Vermittlung. Loci sind Leitbegriffe (Topoi) der Gliederung und Anordnung eines vorgegebenen Lehrstoffs zum Zweck seiner sicheren Handhabung. Im Fall der Dogmatik gehörte dazu auch die Bezugnahme auf die jeweils einschlägigen Bibelstellen. Dieses ausbildungs- und anwendungsbezogene Verständnis von Lehre erwies sich gegenüber den ihr begegnenden Herausforderungen jedoch als ungenügend. Bald setzten nacheinander zwei Entwicklungen ein, die das Modell der Loci allmählich verdrängten, auch wenn der Ausdruck selbst aus Pietät noch lange Zeit beibehalten wurde. Die lutherischen und reformierten Dogmatiker legten Wert darauf, dass die theologische Lehre nicht nur inhaltlich alles Wesentliche bietet, sondern darüber hinaus auch methodisch ein integrales Ganzes bildet, weil nur so die Einheit der biblischen Offenbarung zum Ausdruck gebracht werden kann. In 1 Vgl.

Otto Ritschl: System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie. Bonn 1906. – Auf dieser Studie basieren alle neueren Lexikonartikel. Vgl. Karl Steinbacher: Artikel System/ Systemtheorie, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1990. Bd. 4, 500–506; Karl Steinbacher/Hans-Dieter Klein: Artikel System/Systemtheorie 2. Zur Begriffs- und Problemgeschichte, in: Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1999. Bd. 2, 1579–1584; Christian Strub: Artikel System, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel. Basel 1971–2007. Bd. 10 (1998), 824–856; Geo Siegwart: Artikel System, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart 1996. Bd. 4, 183–185. – Vgl. auch Friedrich Kambartel: »System« und »Begründung« als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Jürgen Blüdorn/Joachim Ritter. Frankfurt/M. 1969, 99–113; Claus-Wilhelm Canaris: Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts. Berlin 1983.

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diesem Zusammenhang kommen die Begriffe System und systematische Methode als Eigenschaften theologischen Wissens auf. Daneben wuchs unter dem Eindruck des italienischen Neuaristotelismus bei protestantischen Autoren, die außer der Theologie meist zugleich Philosophie lehrten, die Absicht, auch der Logik als formaler Hilfsdisziplin die Gestalt eines geordnet verfahrenden Lehrganzen zu verleihen. Hierfür bot sich ebenfalls der Terminus System an, der alsbald auf andere philosophische Disziplinen überging. Beide Traditionen beginnen sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu durchdringen. Jetzt erst werden die Merkmale der Durchgegliedertheit, Ausführlichkeit und Vollständigkeit zu konstitutiven Eigenschaften des Systembegriffs. An seiner Karriere wirkten – über die genannten Gründe hinaus – weitere dogmatische Motive der Zeit mit: erstens, das Bestreben, dem in der Konkordienformel aufgestellten Schriftprinzip auch in der materialen Darstellung prinzipientheologischen Rang zu verleihen; zweitens, das Bestreben, den vorgegebenen Stoff nach dem Muster der neuen analytischen Methode durchzuformen;2 drittens, das Bestreben, die eigene Lehre im Hinblick auf kontroverstheologische Apologetik und Polemik logisch wasserdicht zu machen. So tragen die beiden bedeutendsten Kompendien lutherischer Hochorthodoxie, das von Abraham Calov (1655-77) wie das von Johann Andreas Quenstedt (1685), auch im Titel die Bezeichnung Systema. Doch auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung setzte die Gegenbewegung ein. 1675 publizierte Philipp Jacob Spener seine Pia desideria. Gegen gelehrten Pomp, begriffliche Sophisterei und auswucherndes Schulgezänk wird an die geistliche Kraft und die mit Einfalt verbundene erbauliche Weisheit eines Luther erinnert, samt derer, die ihm folgten. Damit verglichen erscheinen ihm die Kompendien der Zeitgenossen als »verkünsteltes wesen«, »fürwitzige subtilitäten« und geistlich »lähr«.3 Gottfried Arnold, der Kirchenhistoriker des Pietismus, hat dieses Urteil dann festgeschrieben. Der ›Greuel der Schultheologie‹ bestand für ihn vor allem in der Künstlichkeit und Distinktionswut theologischer Systembildung. Spener, Arnolds Vorbild, hatte bekanntlich keine Dogmatik verfasst. Stattdessen veröffentlichte er einen vollständigen Zyklus an der Dresdener Schlosskapelle im Jahre 1687 gehaltener

2  Vgl.

Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, 30–31. 3  Philipp Jacob Spener: Pia desideria. Hrsg. v. Kurt Aland. Berlin ³1964, 22.

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Predigten. Er gab ihm den Titel Die Evangelische Glaubens-Lehre.4 Damit ist das Stichwort gefallen, das in der Folgezeit dann geradewegs zum Gegenbegriff des Systemgedankens avancierte. Über Sigmund Jacob Baumgarten und Johann Salomo Semler wurde es auch in der Auf­ klärungstheologie heimisch. Glaubenslehre besagt – traditionell ausgedrückt –, dass die fides quae creditur immer an die fides qua creditur rückgebunden bleiben muss, wenn es nicht zu einem Leerlauf dogmatischer Gedanken kommen soll. Man muss diese komplexe Vorgeschichte vor Augen haben, wenn man ermessen will, welchen Spagat sich Schleiermacher damit zumutete, beide Traditionen gleichermaßen zur Geltung zu bringen. Denn daran kann kein Zweifel sein, dass seine theologische Dogmatik5 in genau jenem Sinne Glaubenslehre sein wollte wie umgekehrt System in der prägnanten Bedeutung des Wortes. Gleich zu Beginn der Erstauflage (1821/22)6 werden beide Momente zusammengeführt, wenn von der Dogmatik gesagt wird, ihr Geschäft beruhe im Wesentlichen »auf zweierlei, einmal auf dem Bestreben die Erregungen des christlich frommen Gemüthes darzustellen, und dann auf dem Bestreben, was als Lehre ausgedrückt ist, in genauen Zusammenhang zu bringen«.7 Das erste kann als das deskriptive, das zweite als das systematische Kriterium definiert werden. Jenes zeichnet sich dadurch aus – und darin schlägt sich der pointiert subjektivitätstheoretische Zugang dieser Dogmatik nieder –, dass nicht etwa religiöse Gegenständlichkeiten, sondern deren subjektives Korrelat, das fromme Selbstbewusstsein, den Bezugspunkt der Darstellung bildet. Schleiermacher unterscheidet dreierlei Arten dogmatischer Sätze: Beschreibungen innerer Erfahrung, Begriffe göttlicher Eigenschaften und Aussagen über Beschaffenheiten der Welt.8 Nur der erste Typus erfüllt im vollen Sinne die durch das deskriptive Kriterium aufgestellten Bedingungen. 4  In

der postumen Frankfurter Ausgabe von 1717 ist ein Auszug aus dem 1680 dort vorgetragenen Zyklus beigegeben. 5  Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), in: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Berlin/New York 1980 ff. Abt. I, Bd. 7, 3 Teile. Im Folgenden zitiert als KGA mit Angabe der Abteilung in römischen Zahlen und Angabe der Bandnummer und des Teilbandes in arabischen Zahlen. 6  Wo die Formulierungen der Zweitauflage von 1830/31 klarer sind, werden zusätzlich deren Angaben beigegeben, Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), KGA I 13, 2 Teile. 7 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/21, KGA I 7.1, 16, § 3. 8 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/21, KGA I 7.1, 119–120, § 34 und ebenso ders.: Der christliche Glaube 1830/31, KGA I 13.1, 193–196, § 30.

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Er repräsentiert darum die Grundform dogmatischer Sätze, während die beiden anderen Typen immer nur den Status abgeleiteter Sätze verkörpern. Schleiermacher glaubt auf sie nicht verzichten zu können, weil sich sonst viele Aussagen der Lehrtradition nicht mehr in den neuen Aufriss integrieren ließen. Das andere Kriterium, das systematische, wird vergleichsweise konventionell bestimmt. Als Merkmale von Systematizität werden angeführt: Zusammenhang, Vollständigkeit und Geschlossenheit, samt deren begriffs- und urteilslogischen Implikationen. Beide Kriterien stützen einander, können sich in der Anwendung jedoch auch gegenseitig einschränken. Schleiermacher ist der Auffassung, dass die Homogenität des Lehrzusammenhangs nur dann gewährleistet ist, wenn sich nichts Fremdartiges in die Darstellung einschleicht. Insofern kommt genannter Grundform dogmatischer Sätze zugleich eine kritische Funktion zu. Sie verhindert, dass inhaltlich ähnliche Aussagen anderer Herkunft in die Dogmatik aufgenommen werden. Schleiermacher denkt insbesondere an die spekulative Theologie (bezüglich der Gotteslehre) und die physikalische Kosmologie (bezüglich der Schöpfungslehre). Eine wechselseitige Relativierung beider Kriterien ergibt sich umgekehrt dann, wenn die Genese dogmatischer Aussagen unter dem Aspekt begrifflicher Bestimmtheit betrachtet wird. Diesbezüglich werden vier Schritte der Versprachlichung religiöser Erregungen unterschieden: Erstens, die Überführung gegebener Gefühlsgehalte in intentionale Vorstellungen,9 zweitens, deren Präsentation in Bildern und Symbolen – Schleiermacher spricht in noch unterminologischem Sinne von dichterischer Darstellung –, drittens, die auf konkrete Mitteilung angelegte rednerische Darstellung und viertens, die auf gedankliche Genauigkeit zielende didaktische oder dialektische Darstellung.10 Es ist offenkundig, dass beide Kriterien, deskriptive Unmittelbarkeit und systematische Bestimmtheit, hier einander gegenläufig sind. In dem Maß, als letztere zunimmt, reduziert sich erstere. Auf jene Stufensequenz ist auch das Diktum vom »mittleren Ton der heiligen Schriften« zu beziehen.11 Für Schleiermacher scheidet jede biblizistische Dogmatik schon aus bestimmungslogischen Gründen aus. An dieser Stelle verdient schließlich eine weitere Anspielung der Beachtung. Im Zweiten Sendschreiben an Lücke kommt Schleiermacher 9 Schleiermacher:

Der christliche Glaube 1821/21, KGA I 7.1, 32–33, § 9.3 Zusaz und ebenso ders.: Der christliche Glaube 1830/31, KGA I 13.1, 38–40, § 4.4. 10 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/21, KGA I 7.1, 14–15, § 2.1; 16–17, § 3.1 und ebenso ders.: Der christliche Glaube 1830/31, KGA I 13.1, 130–136, § 16. 11 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/21, KGA I 7.1, 14, § 2.1.

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en passant auf das Programm einer »praktischen Dogmatik«12 und die von ihr favorisierte »Simplificationsmethode« zu sprechen. 13 Beide werden rundweg verworfen. Dieser Abweis ist nicht nur in methodischer, sondern auch in theologiegeschichtlicher Hinsicht aufschlussreich. Pietismus und Aufklärungstheologie waren sich darin einig, dass es dem Christentum unter den kulturellen Bedingungen der Moderne abträglich sei, wenn es seinen religiösen Gehalt nur in Hunderten von Lehrartikeln und Paragraphen darzustellen weiß. Darum plädierten sie für eine freiwillige Selbstbegrenzung der Dogmatik, nicht in endlosen Erörterungen umherzuschweifen, sondern sich stattdessen auf wenige Grundwahrheiten zu konzentrieren, um diese dafür um so schlagkräftiger zur Geltung zu bringen. Schleiermacher sah letzterem Anliegen bereits durch die Wesensbestimmung des Christentums innerhalb der Prolegomena Genüge getan, erblickte in dem weiteren Ansinnen, »von scharf geschnittenen und gespaltenen Vorstellungen sich zu unbestimmten und verwaschenen hin[zu]wenden« indes eher ein Symptom »rathloser Ermüdung«.14 In dieser Beziehung scheint seine Glaubenslehre eher den methodischen Vorstellungen der Orthodoxie verwandt zu sein als den Reformbestrebungen ihrer pietistischen und aufgeklärten Kritiker. Darum hält er an der Idee der Dogmatik als »System« fest.15 Doch Schleiermachers Systemdenken ließ es nicht bei der Anknüpfung an die dogmatische Lehrtradition bewenden, sondern suchte auch die inzwischen errungenen Einsichten auf dem Gebiet der Philosophie zu integrieren. Damit sind wir bei unserem Thema im engeren Sinne. Es ist hier nicht der Ort, jene philosophische Entwicklung im Einzelnen nachzuzeichnen. Ich sehe vor allem zwei entscheidende Phasen: zum einen den Weg von Leibniz über Wolff zu Lambert, zum anderen die Weiterbildung von Kant über Reinhold zu Fichte. Für uns ist vor allem letztere von Bedeutung. Kant verhandelte das fragliche Thema unter der Rubrik einer Architektonik der reinen Vernunft, weil sie es ist, die innerhalb der transzendentalen Methodenlehre speziell mit der Kunst der szientifischen Verbindung von Erkenntnissen befasst ist. Jener Begriff war durch Lambert eingeführt worden. Die Besonderheit von Kants Entfaltung dieses Lehr12 Schleiermacher:

Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, KGA I 10, 307–394, hier: 343. 13 Schleiermacher: Über die Glaubenslehre, KGA I 10, 365. 14 Schleiermacher: Über die Glaubenslehre, KGA I 10, 365. 15 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1830/31, KGA I 13.1, 150, § 20; ders.: Über die Glaubenslehre, KGA I 10, 327.

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stücks besteht darin, dass er aus der Reihe der von Lambert aufgeführten möglichen Systemprinzipien allein den Gesichtspunkt der Vereinigung von Teilen nach übergeordneten Absichten aufgriff, die dort ebenfalls genannte Möglichkeit ihrer Verankerung in einer gemeinsamen Grundlage jedoch gänzlich außer Acht ließ. Damit empfing Kants Systembegriff von vornherein einen teleologischen Zuschnitt: Architektonische Einheit ist systematische Einheit unter einem höchsten Zweck der Vernunft. Da es sich dabei aber um eine bloße Abschlussidee handelt, bedarf es zur Gliederung des Wissens eines Schemas ihrer Anwendung. Dieses entnimmt er dem Endzweck des Menschen, nämlich dem Gebrauch der Vernunft in Gestalt einer doppelten Gesetzgebung: als Naturgesetz und als Sittengesetz, wobei letzterem der Primat gebührt. Reinhold, nach seiner Schulung im Jesuitenorden zunächst zum überzeugten Kantianer bekehrt, hielt dieses Systemkonzept jedoch alsbald für unzulänglich, weil es – im Sinne des anderen lambertschen Kriteriums – über keinen tragfähigen Grund verfüge. Teleologische Einheitsprinzipien könnten niemals aitiologische ersetzen. Ansätze dazu habe Kant durchaus geliefert, nur nicht systemtheoretisch ausgewertet. Als neues Fundament stellt Reinhold darum eine Theorie des Vorstellungsvermögens auf. Sie ist aus der Tatsache des Bewußtseins auf dem Wege begrifflicher Abstraktion gewonnen. Die so ermittelte Grundstruktur aller möglichen Vorstellungen besitze die für ein absolut-erstes Prinzip erforderliche Eigenschaft des Durchsichselbstbestimmtseins. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes, dass Reinholds Systemfundament eher Wolffs vis repraesentativa ähnelt als dem, was er im Hinblick auf Kant als Desiderat einklagte. Denn in jenem Prinzip ist keinerlei Anhaltspunkt zur Ableitung dessen enthalten, was für Kant das Problem philosophischer Deduktion überhaupt bildete, nämlich die Möglichkeit der Ableitung synthetischer Urteile apriori. Zutreffend ist allerdings Reinholds Beobachtung, dass in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft Hinweise enthalten sind, die sich durchaus als Beiträge zu einer Systembegründung im Sinne eines obersten Grundsatzes lesen lassen. Vorrangig wäre hier der berühmte Satz der Zweitauflage der Kategoriendeduktion zu nennen, wonach »die synthetische Einheit der Apperzeption« den »höchste[n] Punkt« bildet, »an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß«.16 Von diesem Prinzip macht Kant 16 

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, B 134.

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in der Tat systemtheoretischen Gebrauch, wenn auch in ganz anderer Weise als im Sinne der Methodenlehre. Es fällt auf, dass Kant überall dort, wo es um rationale Gliederungsfragen apriorischer Art geht, die Kategorientafel zum Einsatz bringt und anhand ihrer die Einteilung des jeweiligen Themenfeldes vornimmt. Diese Rolle kommt ihr deshalb zu, weil die hier versammelten Verstandesbegriffe das vollständige und in sich geschlossene Gefüge möglicher Gedankenformen bilden, soweit sie in der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins gründen. Dies ändert für Kant aber nichts daran, dass die systematische Einheit aller Verstandeserkenntnisse eine Vernunftidee darstellt, die als solche immer nur regulative, niemals konstitutive Funktion besitzt. Sollten beide Einheitsprinzipien, die Einheit des Selbstbewusstseins und die Einheit der Vernunft, miteinander zur Deckung gebracht werden, so bedurfte es tiefgründigerer Analysen und Synthesen, als sie Reinhold zu Gebote standen. Ein solcher Entwurf begegnet uns erstmals in Fichtes Begriffs- und Grundlagenschrift von 1794/95. Fichte stimmt Kant darin zu, dass ein System der Vernunft nur dann diesen Namen verdient, wenn es deren Gesetzgebung in beiden Feldern einschließt, im Bereich der Natur wie im Bereich der Freiheit. Er bejaht auch Kants These vom Primat der praktischen Vernunft und sucht ihn noch stringenter zur Geltung zu bringen. Mit Reinhold hält er die teleologische Fassung von System­ einheit jedoch für unzulänglich. Letztere muss vielmehr bereits in der Grundlegung verankert werden, wenn die darin versammelten Aufbaumomente nicht heterogener Art sein sollen und ihrem Zusammentreten nicht der Stempel der Kontingenz anhaften soll. So betrachtet gilt es auch den kantischen Hiatus von Verstand und Vernunft zu überwinden. Fichte nimmt diese Aufgabe in der Weise in Angriff, dass er Kants These von der Einheit der transzendentalen Apperzeption als Prinzip des Verstandes mit der Autonomie des Subjekts verknüpft, die im Freiheitsbewusstsein der praktischen Vernunft enthalten ist. Als gemeinsame Basis von theoretischem und praktischem Selbstbewusstsein wird der Begriff des Ich eingeführt. Die von Kant namhaft gemachte teleologische Funktion der Vernunft fällt unter den Begriff des Ich als Idee. Damit ist auch zugleich angedeutet, in welcher Richtung Reinholds Konzept eine Korrektur erfuhr. Fichtes Kritik ist dreifach gestaffelt: Erstens, aus dem einen Prinzip wird ein Dreiergefüge von Prinzi­ pien, da sich aus einer einzigen Prämisse überhaupt nichts folgern lässt. Zweitens, als tragender Grund fungiert nicht die aus der Tatsache des Bewusstseins abstrahierte Struktur der Vorstellung, sondern die davon

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noch gänzlich freie, ihr vorgängige Tathandlung des Ich. Drittens, die im Begriff der Vorstellung schon vorausgesetzte Differenz von Subjekt und Objekt muss allererst aus dem Sich-Setzen und Sich-Entgegensetzen des Ich samt ihrer beider Wechselwirkung erklärt werden. Letztere bildet die eigentliche Systembasis, aus der nicht bloß die Form der Vorstellung, sondern auch die Differenz von intelligentem und praktischem Ich samt deren apriorischen Strukturmerkmalen verständlich gemacht wird. In genau diesem Sinne implizieren sich die Letztbegründetheit der Prinzipien und die Totalität des Prinzipierten wechselseitig. Fichtes spekulative Fassung des Systembegriffs hat Furore gemacht, nicht nur bei Schelling und Hölderlin, sondern auch bei den Frühromantikern. Hegel ging spätestens nach seiner Schelling-Phase andere Wege und kann darum hier ausgeklammert werden. Auch Schleiermacher war von der prinzipientheoretischen Vertiefung des Systembegriffs stark beeindruckt. Diese Feststellung bedarf allerdings einer wesentlichen Einschränkung. Für den Bereich der Dialektik,17 also auf dem Feld der Erkenntnistheorie und Methodenlehre, verwarf er ausdrücklich das Verfahren des Ausgangs von obersten Axiomen oder Grundsätzen.18 Als abschreckendes Beispiel werden Spinozas Ethik und Fichtes Wissenschaftslehre genannt. Deren Fehler liegt für ihn in einem Doppelten. Als Basis wird eine ursprüngliche Gewissheit angenommen, aus der alles Weitere folgen soll. Seiner Auffassung nach ist Ausgangspunkt des Philosophierens aber nicht irgendein Evidenzgefühl, sondern das Wissen-Wollen. Dies hat zur Folge, dass die Ermittlung der Prinzipien des Wissens immer nur die Form des reduktiven Verfahrens, das heißt des Rückgangs auf dessen Ermöglichungsbedingungen, annehmen kann. Darüber hinaus impliziert der Ausgang von einem absoluten Anfang die strikte Trennung zwischen einem vermeintlich höheren und einem niederen Standpunkt. Dies würde bedeuten, dass ersterer nur durch einen Sprung erreicht werden kann und der Übergang zwischen beiden unerklärt bliebe. Demgegenüber geht Schleiermacher davon aus, dass das reine Denken bereits im realen Wissen präsent ist, wenn auch auf kunstlose Weise. Die Aufgabe der Erkenntnistheorie und Methodologie besteht demzufolge darin, jene stillschweigend beanspruchten Regeln und Prämissen herauszufiltern und sie in Gestalt einer Kunstlehre zu exponieren. Das zweite 17 Schleiermacher:

Vorlesungen über Dialektik, KGA II 10, 2 Teile. Ulrich Barth: Der Letztbegründungsgang der »Dialektik«. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, 353–385. 18 Vgl.

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Ziel der Dialektik, der Erweis des Zusammenhangs allen Wissens, wird von Schleiermacher dahingehend operationalisiert, dass alle Begriffseinteilungen und Urteilsverknüpfungen in ein architektonisches Verfahren einmünden, das sich seinerseits an der Idee der Welt als regulativem Prinzip orientiert. Unverkennbar ist, dass in Schleiermachers Abweis des Modells einer Grundsatzphilosophie wichtige Motive von Kants transzendentalem Kritizismus nachwirken. Dem steht diametral entgegen die Art und Weise, wie innerhalb der Philosophischen Ethik fragliches Thema zum Zuge kommt.19 Schleiermacher versteht sie als materiale Grundlegungswissenschaft und ist der Auffassung, dass dieses Ziel nur erreichbar ist, wenn sie in der Gestalt eines Systems durchgeführt wird. Dessen Begriff bewegt sich nun nicht mehr auf der vergleichsweise reservierten Ebene der theologischen Lehrtradition, an welche die Methodenüberlegungen der Glaubenslehre anknüpfen, sondern macht unverkennbar von den prinzipientheoretischen Vertiefungen Gebrauch, die Fichte und Schelling vorgenommen haben. Bereits die 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre20 lassen keinen Zweifel daran, dass die gesuchte Form von wissenschaftlicher Ethik an einem Wissenschaftsbegriff gemessen werden soll, der den beiden Hauptmerkmalen jenes radikalisierten Systembegriffs genügt, nämlich Begründung aus höchsten Grundsätzen und Vollständigkeit in der Erfassung des Sachgebiets. Die Ausführungen selbst erschöpfen sich allerdings weithin in der Überprüfung anderer Positionen unter diesem Gesichtspunkt. Erst die beiden Einleitungen von 1816 – ich beschränke mich bewusst auf vergleichsweise späte Manuskripte – lösen jenes Ziel ein.21 Die Philosophische Ethik ist Schleiermachers Systemtheorie par excellance. Das Grundsatzproblem wird unter dem Terminus Höchstes Wissen erörtert, das Vollständigkeitsproblem in Form der Ableitung dreier ethischer Teilgebiete, Tugend-, Pflichten- und Güterlehre, die zusammen das Gesamtspektrum möglicher Behandlungsarten der Ethik ausfüllen, als einzelne jedoch bereits für sich die Eigenschaft der Vollständigkeit besitzen. Insofern erweist sich der Systembegriff der Ethik durchaus einer internen Pluralisie-

19 Vgl.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: ders.: Werke. Auswahl in vier Bänden. Hrsg. v. Otto Braun/Johannes Bauer. Neudruck der 2. Auflage. Aalen 1967. Bd. 2. Im Folgenden zitiert als AW mit Angabe der Bandnummer in arabischen Zahlen. 20 Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, KGA I 4, 27–358. 21 Vgl. Schleiermacher: Ethik 1816 (Allgemeine Einleitung), AW 2, 485–511; ders.: Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I), AW 2, 513–626, hier: 513–557.

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rung fähig. Eine weitere höchst bedeutsame Modifikation findet sich in der Güterlehre.22 Schleiermacher hält einerseits daran fest, dass die von ihr vorgenommene Gliederung der ethischen Lebenssphäre deren Gebiet vollständig umfassen muss, räumt andererseits jedoch ein, dass die daraus abgeleiteten Formeln sich immer an dem induktiv gewonnenen Erfahrungsmaterial zu bewähren haben und gegebenenfalls durch alternative Begriffseinteilungen zu ersetzen sind. Insofern tritt ein hypothetisches Element in den zugrunde gelegten Systembegriff ein. Trägt man beiden Modifikationen Rechnung, dann lässt sich zusammenfassend sagen, dass Schleiermachers Philosophische Ethik eine Art mittlere Position zwischen einem geschlossenen und einem offenen System einnimmt. Schleiermachers Verwendung des Systemgedankens weist aber noch eine dritte Problemdimension auf, die sich freilich nicht auf Anhieb erschließt, weil der entsprechende Begriff selbst nicht fällt. Gleichwohl gelangen die Merkmale seiner prinzipientheoretischen Vertiefung gerade hier in besonders eindrücklicher Weise zur Anwendung. Um ihrer ansichtig zu werden, lohnt es sich, nochmals auf Fichte zurückzukommen. Die Wissenschaftslehre von 1794/95 erblickt die systembegründende Funktion der drei Grundsätze darin, dass durch sie das Identitäts-, Differenz- und Limitationsprinzip aller Formen von Ich-Tätigkeit bereitgestellt wird. Jacobi bescheinigte ihr darum den Rang des vollendetsten aller neueren Vernunftsysteme, das bezüglich prinzipientheoretischer Klarheit und logischer Folgerichtigkeit einzig in Spinoza seinesgleichen fände. Der Vergleich diente ihm allerdings nur als Aufhänger, sie demselben Fundamentaleinwand zu unterziehen wie anderthalb Jahrzehnte zuvor Spinozas Ethica more geometrico demonstrata. So begegnet neben Jacobis eigenen Thesen auch hier wieder die alte Kritik am Rationalismus: Fichtes Wissenschaftslehre sei reine Begriffskunst, Spiel mit leeren Denkschemata und »kahlen Buchstabenwesen«23 – mit einem Wort »blos logischer Enthusiasmus«.24 Nun soll keineswegs bestritten werden, dass Jacobis scharfe Kritik Fichte durchaus zu denken gab. Das Resultat dieser Auseinandersetzung finden wir bekanntlich bereits um 1800 vor und dann vor allem im Spätwerk. Zu fragen ist hier lediglich, ob der Vorwurf des »blos logische[n] Enthusiasmus« auf die frühe Wissenschaftslehre tatsächlich zutrifft. 22  Vgl.

Schleiermacher: Ethik 1816 (Einleitung und Güterlehre I), AW 2, 561–626. Friedrich Heinrich: Jacobi an Fichte, in: ders.: Werke. Leipzig 1816. Bd. 3, 1–57, hier: 51. 24 Jacobi: Jacobi an Fichte, 27. 23 Jacobi,

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Den ersten Grundsatz versteht Fichte nicht als Prämisse im üblichen Sinn – obwohl ihm diese Funktion in logischer Hinsicht zukommt –, sondern als Ausdruck oder Erzählung einer Tathandlung, nämlich des absoluten Sich-Setzens. Selbiges gilt für den zweiten Grundsatz. Auch ihm kommt nur insofern die Rolle einer Prämisse zu, als er eine gleichfalls ursprüngliche Handlung des Ich zum Ausdruck bringt, die Handlung des Sich-Entgegensetzens. Allererst der dritte, seiner Form nach bedingte Grundsatz wird auf dem Wege der Demonstration gewonnenen, nämlich durch den Nachweis der Vereinbarkeit von Sich-Setzen und Sich-Entgegensetzen vermöge wechselseitiger Einschränkung. Aber der Nachdruck liegt auch hier nicht auf dem logischen Aspekt, sondern auf dem Aufweis einer ursprünglichen synthetischen Handlung. Sie bildet die Basis jener Tätigkeiten des komplexen Ich, deren Gesamtheit dann das System ausmacht. Man darf also die von der Wissenschaftslehre geltend gemachten Ich-Vollzüge nicht mit den begrifflichen Formeln ihrer sprachlichen Fixierung verwechseln. Die Begründungsfunktion der drei Grundsätze liegt nicht in der axiomatischen Stellung ihrer begrifflichen Einführung, sondern in der gestuften Prinzipienfunktion der darin namhaft gemachten Formen von Ich-Tätigkeit. Prinzipien sind für Fichte ursprüngliche Handlungen des Ich, nicht die sie dokumentierenden Satzwahrheiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Systembegriff. Die Wissenschaftslehre besitzt den Charakter eines Systems nicht kraft ihres logischen Status als Zusammenhang von Satzwahrheiten, sondern als Darstellung eines in sich geschlossenen Gefüges von Ich-Tätigkeiten. Dessen Vollständigkeit beruht auf dem systemischen Charakter jener ursprünglichen Handlungen, die in den Grundsätzen exponiert werden. In genau diesem Sinne ist die These der Begriffsschrift gemeint, dass von einem System nur dort die Rede sein könne, wo Letztbegründetheit und Vollständigkeit sich wechselseitig implizieren. Sucht man nach einem Strukturäquivalent zum eben Dargelegten bei Schleiermacher, so wird man weder in den philosophischen Schriften noch in den wissenschaftstheoretischen Ausführungen zur Theologie fündig, wohl aber – so meine These – in der materialen Dogmatik und den ihr entsprechenden Partien der Predigten. Gemeint ist die von Schleiermacher selbst als Zentrum der Glaubenslehre 1830/11 bezeichnete sogenannte Gnadenlehre.25 Sie zerfällt in die drei Hauptteile: Christologie (§ 92–105), Soteriologie (§ 106–112) und Ekklesiologie, 25 Schleiermacher:

Der christliche Glaube 1830/11, KGA I 13.

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die ihrerseits in der Pneumatologie (§ 115-125) gründet.26 Die Christologie beschreibt die von keinen Schwankungen getrübte Stetigkeit und schlechthinnige Kräftigkeit des Gottesbewusstseins Jesu als des Urbilds von Erlösung. Die Soteriologie beschreibt den Sachverhalt, dass das Urbild am Ort des gläubigen Individuums immer nur in Gestalt asymmetrischer Bedingungsverhältnisse zum Ausdruck gelangt. Und die Pneumatologie macht geltend, dass die Reinheit dieses Darstellungsverhältnisses nur dann gewährleistet ist, wenn die Gläubigen auf geisthafte Art miteinander- und aufeinanderwirken:27 miteinander, sofern sie jenen Ursprungsbezug gemeinsam zur Darstellung bringen und sich darin jeweils ergänzen; aufeinander, sofern sie sich wechselseitig einschränken hinsichtlich dessen, was allen derartigen Ausdrucksgestalten infolge ihrer Endlichkeit und Partikularität noch an Inadäquatem anhaftet. Prägnanter formuliert: Die Christologie formuliert das christliche Grundprinzip als solches, die Soteriologie formuliert den in dessen Begründungsfunktion enthaltenen Überschritt zum Anderen seiner selbst, die Pneumatologie formuliert die Wechselbestimmung des in beiderlei Hinsicht, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Prinzipiierten.28 Ich denke, es ist kaum zu weit her geholt, darin die fichtesche Trias von Identitäts-, Differenz- und Limitationsprinzip wiederzuerkennen. Wenn dies zutrifft, dann besteht Schleiermachers Kunstgriff darin, Fichtes Strukturmodell der Ich-Tätigkeit von dessen inhaltlichen Bestimmungen gelöst und auf die Konstitutionsmomente des christlichfrommen Selbstbewusstseins übertragen zu haben.29 Das besagt im Hinblick auf unser Thema: Die Inhalte christlicher Frömmigkeit bilden kein bloßes Aggregat, sondern ein einheitliches Gefüge untereinander verbundener Glaubensvorstellungen, also das, was die altprotestantischen Dogmatiker als corpus integrum bezeichneten. Schleiermachers besondere Leistung besteht darin, dass er diesen internen Verweisungszusammenhang nicht in Form gegenständlicher Bestimmun26  Schöpfungslehre

und Sündenlehre gehören nicht zu Gnadenlehre, sondern bilden – in unterschiedlicher Weise – nur Voraussetzungen derselben. Darum tauchen sie in der nachfolgend zu beschreibenden Binnenstruktur der Gnadenlehre nicht als eigenständige Elemente auf. 27 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1830/31, KGA I 13.2, 239–240, § 115; 278– 283, §121. 28  Vgl. Ulrich Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Göttingen 1983, 105. 29  Die Möglichkeit dieser Übertragung beruht darauf, daß Identität, Differenz und Limitation die dialektischen Prinzipien eines jeden absoluten Verhältnisses darstellen; vgl. Hans Wagner: Philosophie und Reflexion. München/Basel ²1967, §§ 13–15.

Schleiermachers Systemgedanke und der Deutsche Idealismus

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gen, sondern im Horizont seines subjektivitätstheoretischen Begriffs der christlichen Religion auf der Ebene von Momenten des frommen Selbstbewusstseins entfaltet hat. Das christliche Bewusstsein ist an ihm selbst systemisch verfasst und gelangt deswegen nur dort zu angemessener Klarheit, wo es sich in Gestalt eines in sich geschlossenen Darstellungs- oder Reflexionszyklus auslegt. Religiöses Leben verdankt seinen Reichtum nicht der Aneignung und Verknüpfung dogmatisch-distinkter Lehrgehalte, sondern der ihm selbst eigenen Lebendigkeit des Ineinanderübergehens seiner Momente. Dies ist der tiefere Sinn, dem Begriff der Glaubenslehre gegenüber dem der Dogmatik oder Loci den methodischen Vorrang zu geben. Das eigentlich Spekulative bei Schleiermacher, das Spekulative im eben dargelegten systemtheoretischen Sinne, ist der Gehalt des zweiten Teils der Glaubenslehre, der von ihr thematisierte Darstellungszyklus des christlichen Selbstbewusstseins. Dessen Bestandteile bilden ein in sich geschlossenes lebendiges Ganzes, auch wenn sie auf der Ebene der Beschreibung allein im diskursiven Nacheinander analysiert und gedanklich vergegenwärtigt werden können. Nur wenn dieser systemtheoretische Sachverhalt in Rechnung gestellt wird, besteht meines Erachtens überhaupt eine Chance, jenes vielzitierte Wort zu verstehen, das uns aus Schleiermachers allerletzten Stunden überliefert ist: »In meinem Inneren verlebe ich die göttlichsten Momente – ich muß die tiefsten spekulativen Gedanken denken und sie sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen«.

PERSONENVERZEICHNIS

Abicht, Johann Heinrich  32 ff. Ahlers, Rolf  321 Alighieri, Dante  95 Aristoteles  13, 157, 203, 331 Arndt, Andreas  143, 185, 216, 222, 354, 356, 361 f. Arnold, Gottfried  372 Asmuth, Christoph  59, 61, 63, 66, 68, 137 Austin, John  75 B Bach, Kent  75 Bachmann, Carl Friedrich  139 Bacon, Francis  351 Baggessen, Jens  33 Bardili, Christoph Gottfried  37, 317 ff., 330 ff., 334 Barth, Roderich  59, 61, 74 Barth, Ulrich  107, 111 f., 378, 382 Baumanns, Peter  22 Baumgarten, Hans Michael  98 Baumgarten, Sigmund Jacob  373 Baum, Manfred  140 Beethoven, Ludwig van  23 Beier, Kathi  242 Benjamin, Walter  342 Bickmann, Claudia  187 Blamauer, Michael  121 Bondeli, Martin  318, 320 ff., 329, 340 Bonsiepen, Wolfang  251 Bourgeois, Bernard  262 Bouterweck, Friedrich Ludewig  32 f. Bowman, Brady  283 Breazeale, Daniel  41 Brinckmann, Karl Gustav  357 Buchheim, Thomas  113, 131, 139 ff., 154 C

Calov, Abraham  372 Canaris, Claus-Wilhelm  371 Castellucci, Romeo  243 Cervantes, Miguel de  92 Clark, David L.  152 Cohn, Jonas  368 D D’Alfonso, Matteo Vincenzo  104 Danz, Christian  104, 110 Derrida, Jacques  95, 218 Descartes, René  84, 158 ff., 176, 285 ff. Durner, Manfred  117, 138 Düsing, Klaus  168, 174, 283 E Eberhard, Johann August  317 Ehrhardt, Walter E.  102 Eichendorff, Joseph von  216, 227 ff., 241 Eschenmayer, Carl August  117, 125, 129 Euklid  14, 102 F Fichte, Johann Gottlieb  11, 19 ff., 81 ff., 89, 93, 98, 100, 118, 124, 135 f., 139, 141 f., 144, 163 f., 167, 171 f., 183 ff., 189 ff., 197, 202, 213 f., 253, 266, 274, 276, 283 ff., 289 f., 292, 299 ff., 306, 311, 314, 317, 319 ff., 328 ff., 334, 347, 350 f., 358 f., 366 f., 369, 375, 377, 379 ff. Förster, Eckhart  122 f. Frank, Manfred  120 f., 146 Franz, Michael  320 Frege, Gottlob  340 Friedrich, Hans-Joachim  152 Friedrich, Johann  161 Fuhrmans, Horst  131

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Personenverzeichnis

Fujita, Masakatsu  131, 137, 140, 150 Fulda, Friedrich  186 G Gabler, Georg Andreas  140 Gabriel, Markus  85, 152 Gadamer, Hans-Georg  120 Gaitsch, Peter  0 f. Garbeis, Franz Wolfgang  318 Gawoll, Hans-Jürgen  176 Geml, Gabriele  183 Ghert, Peter Gabriel van  175 Gibbon, Edward  245 Girndt, Helmut  321 Gloy, Karen  129 Goethe, Johann Wolfgang von  123 Grove, Peter  361 H Habermas, Jürgen  220, 227, 239 Haering, Theodor  253, 258 Hahmann, Andree  187 Hamann, Johann Georg  32, 34, 38 Hardenberg, Friedrich von (Novalis)  90, 186 Harris, Henry S.  137 Harris, Henry Stilton  283 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  20, 34, 81, 98, 118 f., 128, 130 ff., 157, 163 ff., 183 ff., 195 ff., 209 ff., 238 ff., 283 f., 288 ff., 301 f., 306 ff., 314 ff., 340, 350, 369, 378 Heidegger, Martin  95, 100, 133, 147, 149, 152, 154, 161, 178, 331 Hennigfeld, Jochem  98, 152 Henrich, Dieter  123, 286, 296 f., 328 Heraklit 347 Herder, Johann Gottfried  32, 34, 38 f., 317, 320 Hermanni, Friedrich  113, 115, 149 Heusinger, Johann Heinrich Gottlieb  32, 34, 37 f. Hoffmann, Thomas Sören  188 Hoffmeister, Johannes  251, 253 Hogrebe, Wolfgang  85 Hogrebe, Wolfram  146

Hölderlin, Friedrich  90, 186, 246, 268, 278, 320 f., 378 Honneth, Axel  222, 224 f., 244 Houlgate, Stephen  144 Hühn, Lore  143, 149 Hume, David  183 ff., 189, 192, 205, 207 f., 211, 245 Hyppolite, Jean  253 I Iber, Chrstian  131 Imhof, Silvan  340 Ivaldo, Marco  67 J Jacobi, Friedrich Heinrich  21 f., 24 ff., 32 ff., 39 f., 176, 180, 188, 299 ff., 319 f., 330, 360 f., 380 Jacobs, Wilhelm G.  320 Jaeggi, Rahel  221 Jaeschke, Walter  187 f., 283, 356 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter)  32 f., 38 f. Johannsen, Friedrich  49 Jürgensen, Sven  98, 131 K Kaehler, Klaus Erich  160 Kallhoff, Angela  240, 242 Kambartel, Friedrich  371 Kant, Immanuel  11, 14 ff., 24, 32, 34, 36 f., 82, 90, 93 f., 104 ff., 113, 123 f., 157, 159 ff., 172 f., 177, 183 ff., 187 ff., 198 f., 203, 205 ff., 213 f., 218, 246, 269, 279, 284, 286, 292, 297, 299 ff., 306, 311, 314, 316 ff., 323 ff., 334 ff., 345, 347 f., 351, 353, 356, 360 f., 371, 375 ff., 379 Karsch, Fritz  320 Kastner, Othmar  218, 224 Kierkegaard, Søren  132, 298 Kimmerle, Heinz  168, 187, 283 Klein, Hans-Dieter  371 Klemmt, Alfred  323 Klingner, Stefan  120 Klotz, Christian  42, 45 f., 55 Koch, Anton Friedrich  143 Köhler, Dietmar  113, 131, 154

Personenverzeichnis Kontriner, Anna Maria  183 Köppen, Friedrich  311 ff. Korten, Harald  98, 100 Krebs, Angelika  242 Krings, Hermann  131, 137, 149 L Lauer, Christoph  137 Lauth, Reinhard  42, 118, 120 Lavater, Johann Caspar  317 Leibniz, Gottfried Wilhelm  146, 159 ff., 279, 285, 320, 334, 375 Löwith, Karl  222 Luhmann, Niklas  265 Luther, Martin  371 f. M Mabille, Bernard  262 Maimon, Salomon  22 Marx, Karl  221, 244 Mehmel, Gottfried Ernst  33 Meist, Kurt Rainer  140, 290 Mendelssohn, Moses  188 Menke, Chrisoph  238, 244 Mensch, Jennifer  14 Michelet, Karl Ludwig  132 f., 140, 252 Mutschler, Hans-Dieter  121 N Newton, Isaac  14 Nicolai, Friedrich  32, 34, 38, 49, 317 Nicolai, Gottlob Samuel  32, 37 Nietzsche, Friedrich  370 Nussbaum, Martha  224, 242 P Paetzold, Heinz  126 Paimann, Rebecca  320, 331 Parmenides 157 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 188 Peetz, Siegbert  139 Platon  320, 333 f., 362 f. Ploucquet, Gottfried  320 Pöggeler, Otto  253, 261 Popper, Karl  335 Pozzo, Riccardo  320 Q

387

Quenstedt, Johann Andreas  372 R Radrizzani, Ives  24, 35 Rang, Bernhard  138 Reimer, Andreas  40 Reinhold, Karl Leonhard  19, 21, 32, 34, 37 f., 49, 144, 146, 193, 317 ff., 326 ff., 375 ff. Richli, Urs  63 Ricœur, Paul  244 Ritschl, Otto  371 Rosenkranz, Karl  139 f., 253, 283 Russell, Bertrand  340 S Sandkaulen(-Bock), Birgit  100, 120 f., 179 f., 301 f., 311 Schäfer, Rainer  140 Schalhorn, Christof  284 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 20 f., 28 f., 32, 34, 36 f., 40 ff., 49 ff., 81 ff., 97 ff., 146 ff., 166 f., 171, 184, 186, 188, 190, 192, 197, 214, 245 ff., 249, 252 f., 255, 268, 271, 274 ff., 278, 289, 299 f., 309, 311 ff., 337 ff., 350, 358, 369, 378 f. Schiller, Friedrich  90, 98 Schlegel, August Wilhelm  34, 312 Schlegel, Friedrich  34, 89 f., 341 ff., 353 f., 356, 360 f., 367 f. Schleiermacher, Friedrich  32, 353 ff., 373 ff., 378 ff. Schlosser, Johann Georg  317 Schlösser, Ulrich  59, 61, 68, 75 Schmidt am Busch, Hans-Christoph  217, 226, 242 Scholtz, Gunter  364 Schöning, Matthias  343 f. Schrader, Georg  58 Schrader, Wolfgang H.  330 Schulze, Gottlob Ernst  22 Schwab, Philipp  152 Schwarz, Carl  367 Searle, John R.  75 Semler, Johann Salomo  373 Sen, Amartya  224

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Personenverzeichnis

Sennett, Richard  240 Siegwart, Geo  371 Siep, Ludwig  65, 223, 240 Smith, Adam  245 Sparn, Walter  372 Spener, Philipp Jacob  372 Spinoza, Baruch de  101 f., 119, 159 f., 167, 171, 176, 183 ff., 188 f., 197, 213 f., 246, 249, 271, 279, 296, 299 ff., 314, 316, 320, 334, 354, 362 f., 380 Steinbacher, Karl  371 Steuart, James Denham  245 Stolzenberg, Jürgen  61 f., 72, 79, 118, 142, 328 Strecker, Nicole  243 Strub, Christian  371 T Tillich, Paul  100 Tilliette, Xavier  120 Tomasello, Michael  239

Traub, Hartmut  31 Tugendhat, Ernst  297 V Vater, Michael G.  55 ff. W Wagner, Hans  382 Waibel, Violetta L.  186, 192, 194, 202, 225 Wanning, Berbeli  344 Weil, Eric  121 Wittgenstein, Ludwig  219 Wolff, Christian  160, 190, 375 f. Wolf, Jean-Claude  340 Z Zahn, Manfred  321 Zantwijk, Temilo van  103 Ziche, Paul  102 ff. Zöller, Günter  14, 16, 18 ff., 23, 25 f., 28 ff. Zovko, Jure  343 f.