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German Pages 410 [411] Year 2011
System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 3
SYSTEM DER VERNUNFT KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS
Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Jürgen Stolzenberg Violetta Waibel Band 3
Kant-Forschungen Band 19
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
SYSTEM UND SYSTEMKRITIK UM 1800
Herausgegeben von
hristian danz und
jürgen stolzenberg
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Herausgegeben in Verbindung mit der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Gesellschaft »System der Philosophie«, Kant-Gesellschaft, North American Kant-Society, Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft, Internationalen Schelling-Gesellschaft, Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Hegel-Vereinigung, Internationalen Hegel-Gesellschaft, Internationalen Gesellschaft für Dialektische Philosophie – Societas Hegeliana
Bibliographische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2145-2 Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch, KuselSatz, Hamburg. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
INHALT
Vor ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Einleitung Jürgen Stolzenberg System und Systemkritik um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT UM 1800 Günter Zöller Das »erste System der Freiheit«. Fi tes neue Darstellung der Wissens
a slehre (1795–1801) . . . . .
13
Stefan Lang Fi tes Programm einer Ges i te performativen Selbstbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Birgit Sandkaulen I heit und Person. Zur Aporie der Wissens a slehre in der Deba e zwis en Fi te und Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Oliver Ko Von Fi tis en ›S au-Mens en‹ und Jacobis en ›Preismens en‹. Zum Verhältnis von personalem Dasein und philosophis em System bei Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Christian Danz System und Leben bei Fi
elling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Wilfried Grießer Die Auflösung der Entgegensetzung von System und Leben im Element der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
te und S
VI
Inhalt
II. DIE KONTROVERSE ZWISCHEN FICHTE UND SCHELLING UM 1800 Alexander Ai ele Metaphysis es oder logis es Systemprinzip? Die Dynamik des Unbedingten und seine Deduktion in S ellings Naturphilosophie von 1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Thomas Pos S ellings und Hegels Naturphilosophien als Ansätze zu ni t-reduktionistis en Naturtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
Paul Zi e Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei S
elling . . . . . . .
147
Matteo Vincenzo d’Alfonso Konstruktion als Paradigma für die Kausalität der Freiheit . . . . . . .
169
Jürgen Stolzenberg Der Streit ums Absolute. Fi te vs. S elling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Thomas Kisser Unbestimmtheit und Unbedingtheit. Einige Anmerkungen zu Fi tes Kritik an S elling um 1800 und der Entwi lung des S ellings en Denkens. . . . . . . . . . . . . . .
193
III. HEGELS KRITIK DER REFLEXIONSPHILOSOPHIE Markus Gabriel Absolute Identität und Reflexion. Kant, Hegel, McDowell . . . . . . . .
211
Thomas Auinger Kritik und Verteidigung der Normativitäts-Hegelianer. Anmerkungen zu Markus Gabriel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Jakub Kloc-Konkołowicz Ist der Primat des Praktis en nur ›eine hohle Deklamation‹? Hegels e Kritik an Fi te in Glauben und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Inhalt
VII
Lars-Thade Ulri s Ein leerer Geldbeutel? Hegels Fi tekritik in Glauben und Wissen und die Revision der Wissens a slehre in der Wissens a slehre nova methodo . . . . . . . . .
253
Walter Jaes ke Resumtion im Geist. Zur Charakteristik der frühen Systemkonzeption Hegels . . . . . . . . .
265
Jindři Karásek Berner und Frankfurter Ansätze zum Systemgedanken Hegels . . . .
277
IV. KRITIK DES SYSTEMS Andreas Arndt Friedri S legels dialektis
er Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jure Zovko Kritik versus System. Ein ironis es Spiel im Denken Friedri
legels . . . . . . . . . . . . . .
301
Ulri Barth Wissen – System – Gefühl. Die subjektivitätstheoretis en Grundlagen von S leierma ers Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Peter Grove System und Subjektivität na
345
S
S
287
leierma
ers Dialektik . . . . . . . . .
Viole a L. Waibel »Das oberste Princip – ein Frey Gema tes, ein Erdi tetes, Erda tes«. Anmerkungen zu Hardenbergs Systemkritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Andreas Kubik Wel es System – wel e Systemkritik? Zu Hardenbergs Systemgedanken und zu Viole a Waibels Hardenberg-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
383
Personen erzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT
Der vorliegende Band ist der dritte in der Reihe System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus. Nachdem der erste Band die Architektonik und Systemform der Philosophie Kants zum Thema hatte und der zweite Band den frühidealistischen Systementwürfen nach Kant gewidmet war, geht der vorliegende Band dem Verhältnis von System und Systemkritik um 1800 nach. Dies geschieht sowohl mit Blick auf die beträchtlichen Fortschritte der historisch-kritischen Ausgaben der Werke Fichtes, Schellings und Hegels als auch vor dem Hintergrund der neueren Tendenzen der internationalen Idealismus-Forschung. Sie hat sich zunehmend von der Beschränkung auf das Dreigestirn Fichte, Schelling, Hegel befreit und verstärkt dem überaus breiten Spektrum der Debatten um die Möglichkeit eines Systems der Philosophie nach Kant zugewendet, als deren Protagonisten insbesondere Jacobi, Schlegel, Hardenberg und Schleiermacher zu nennen sind. Ihre Überlegungen haben sich nicht nur in ständigem Kontakt zur Philosophie Kants und dem Kantischen Systembegriff ausgebildet, sondern auch in einem Netzwerk der Diskussionen, deren Dichte und bis in die Gegenwart reichende Wirkungsmacht erst in jüngster Zeit in den Blick gebracht worden sind. Darauf reagiert der vorliegende Band. Zu den zentralen Fragen, die hier zu Debatte stehen, gehört neben der Klärung des Begriffs des Wissens und seiner Funktion für die Begründung eines Systems der Philosophie die Frage, auf welche Weise eine Philosophie der Natur begründet werden kann, die sich unter der Leitung des Gedankens einer ursprünglichen Produktivität der Natur mit Kants Methodenreflexionen und seiner Konzeption der Naturphilosophie einerseits, dem Fichteschen Begriff selbstbezüglichen Wissens andererseits ins Verhältnis zu bringen hat. Sie beherrscht die Kontroverse zwischen Fichte und Schelling um das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie um 1800. Mit Bezug auf die Integration der frühromantischen Experimente und Debatten um die Möglichkeit der Philosophie nach Kant in die nachkantische Theoriekonstellation ist für die Idealismus-Forschung einiges zu tun. Sie hat die Fronten unvoreingenommen zu klären, und hierfür hat sie die systematischen Potentiale, die mit den Positionen Schlegels, Hardenbergs und Schleiermachers hinsichtlich der Strategien der Begrün-
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Vorwort
dung der leitenden Prinzipien und der jeweiligen Gestalt systematischer Philosophie verbunden sind, argumentanalytisch freizulegen und hinsichtlich ihrer Leistungskraft zu prüfen. Erst auf diese Weise läßt sich eine systematisch orientierte Übersicht über das Problemfeld ›System und Systemkritik um 1800‹ gewinnen. Der vorliegende Band sucht hierzu beizutragen. Der Band reagiert auch insofern auf neuere Tendenzen der IdealismusForschung, als einige Beiträge sich auf die Hegel- und Idealismusrenaissance im angelsächsischen Sprachraum einlassen. Deren Potentiale werden erkundet und kritisch gewürdigt. Der Band geht auf eine internationale Tagung zurück, die vom 3. bis 4. April 2009 an der Universität Wien stattgefunden hat. Die Beiträge waren jeweils als Haupt- und Korreferate geplant. In überarbeiteter Form werden sie hier dokumentiert. Die Tagung wurde veranstaltet von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie dem Institut für Philosophie der Universität Wien in Zusammenarbeit mit der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie der Internationalen Gesellschaft ›System der Philosophie‹, der Kant-Gesellschaft, der North American Kant-Society, der Internationalen J.G. Fichte-Gesellschaft, der Internationalen Schelling-Gesellschaft, der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Internationalen HegelVereinigung, der Internationalen Hegel-Gesellschaft und der Societas Hegeliana – Internationale Gesellschaft für Dialektische Philosophie. Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien sowie die Universität Wien haben die Drucklegung des Bandes durch die Gewährung von Druckkostenzuschüssen unterstützt. Allen, die durch Planung, Organisation und Finanzierung zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich gedankt. Allen Beiträgern gilt für ihre Mitwirkung und ihr Engagement ein besonderer Dank. Dem Meiner Verlag, Hamburg, und seinem Lektor, Herrn Horst D. Brandt, gilt ein herzlicher Dank für die vertrauensvolle und entgegenkommende Betreuung dieses Bandes. Patrick Leistner und Christiane Straub ist für die wertvolle Hilfe bei der Einrichtung und Durchsicht der Manuskripte für den Druck zu danken. Halle und Wien, im Frühjahr 2011
Christian Danz Jürgen Stolzenberg
Jürgen Stolzenberg Einleitung: System und Systemkritik um 1800 1. Philosophie und Wissenschaft um 1800 Die Frage, in welcher Weise die Philosophie sich als Wissenschaft verstehen und zu einem System verschiedener Disziplinen ausbilden könne, trat nur wenige Jahre nach dem Erscheinen der dritten kritischen Hauptschrift Kants, der Kritik der Urteilskraft, erneut in das Zentrum der Diskussion. Es war Johann Gottlieb Fichte, der diese Frage zunächst in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 zu lösen suchte. Im Ausgang von einem System von Grundsätzen sollten auf deduktivem Wege die Grundbestimmungen des Wissens und dessen Gegenstände entwickelt werden. Die neuen Darstellungen der Wissenschaftslehre ab 1796 und die ihr zuzuordnenden Schriften zur Grundlage des Naturrechts (1796) und zum System der Sittenlehre (1798) suchen die nachkantische Idee systematischer Philosophie als eine Theorie des Aufweises von Bedingungen des Selbstbewußtseins zu begründen. In der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 tritt der Begriff des Wissens selber unter dem Titel eines absoluten Wissens in das Zentrum der Überlegungen. Seine Konzeption wird zum Ausgangspunkt des Streits mit Schelling. Zeitgleich bestimmt, unter der Federführung Friedrich Heinrich Jacobis, der Verweis auf das Phänomen ›Leben‹ und seine Bedeutung für die Ausbildung eines Systems der Philosophie die zeitgenössische Debatte. Von ihr ist Fichtes Bestimmung des Menschen von 1800 maßgeblich beeinflußt. Hegels berühmtes sog. Systemfragment von 1800 wird von der Frage beherrscht, auf welche Weise die theoretische Reflexion das Phänomen Leben angemessen zu begreifen vermag. Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins, die er in diesem Fragment als Antwort auf diese Frage entwickelt und die bemerkenswerte Parallelen zu Schleiermachers Theorie der Religion in den Reden über die Religion von 1799 aufweist, wird wenig später in Jena durch eine im Kontakt mit Schelling entworfene Theorie der Subjektivität, die die Ontologie und Philosophie der Natur umfaßt, ersetzt. Schelling seinerseits war mit seinem System des transzendentalen Idealismus von 1800 Fichtes Methodenprogramm des Aufweises von Bedingungen des Selbstbewußtseins in der Form einer Geschichte des Selbstbewußtseins gefolgt, wenngleich nicht ohne erhebliche fichtekritische Modifikationen, die sowohl die Methode als auch die Integration einer Philosophie der Natur sowie den Abschluß des Systems betreffen. Damit ist der Rahmen
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Jürgen Stolzenberg
umrissen, in den sich die Beiträge der ersten Abteilung Philosophie und Wissenschaft um 1800 einfügen. Günter Zöller stellt die für die Philosophie Fichtes leitende Verbindung von Systembegriff und Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt der Überlegungen. Dabei wird deutlich, daß die neue, selbstkritische Darstellung der Wissenschaftslehre der Sache nach bis in die frühe Berliner Zeit reicht. Sie ist geprägt von der Darstellung der Wissenschaftslehre als wesentlich praktischer Philosophie und der ihr entsprechenden Willenslehre. Diese Konzeption ist mit der berühmten Programmformel der Philosophie als ›System der Freiheit‹ angezeigt. Der Beitrag von Stefan Lang konturiert ergänzend die Methode und die Grundlinien des Fichteschen Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins, das im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre zu einer Geschichte performativen Selbstbewußtseins erweitert wird. Das läßt sich anhand der Analogie der hier von Fichte entwickelten Theorie des Ich mit Merkmalen performativer Äußerungen zeigen. Deren wesentlicher Charakter besteht darin, daß mit der Erzeugung des Gedankens ›Ich‹ ein selbstbewußtes Subjekt entsteht, das als Grundlage einer performativen Theorie begrifflich bestimmten Selbstbewußtseins fungiert. Im Blick auf die Ursprünge der den nachkantischen Systemkonzeptionen gleichsam auf dem Fuße folgenden, je unterschiedlich inspirierten und motivierten Systemkritik eines Jacobi, Schlegel und Hardenberg greift Birgit Sandkaulen auf die Auseinandersetzung Fichtes, Schellings und Hegels mit den systemverstörenden Einwürfen auf der einen Seite, der Metaphysik Spinozas auf der anderen Seite zurück. Die Debatte wird von der Unterscheidung zwischen Idealismus und Realismus bzw. dem Verhältnis von Spekulation und Leben beherrscht. Während für Jacobi das Systemprojekt an der Vermittlung beider Standpunkte scheitert, sucht Fichte sie innerhalb der Wissenschaftslehre zu begründen, insbesondere anhand der Unterscheidung zwischen absolutem Ich und Individuum. Der Beitrag rekonstruiert textnah die Debatte zwischen Jacobi und Fichte um das Verhältnis von Spekulation und Leben, reinem Ich und Individuum. Am Ende zeigt sich die sachliche Überlegenheit von Jacobis Insistieren auf der Uneinholbarkeit der qualitativen Bestimmtheit einer individuellen Person. Auf die immer noch zu wenig beachtete und kaum angemessen gewürdigte Rolle Jean Pauls im Streit zwischen Fichte und Jacobi um die Möglichkeit einer philosophischen Theorie des individuellen Ich weist Oliver Koch hin. Im Unterschied zu Jacobi wendet Jean Paul sich in seiner Schrift Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana der praktischen Philosophie Fichtes zu,
Einleitung: System und Systemkritik um 1800
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um anhand einer Kritik des Fichteschen Interpersonalitätsbeweises die Unmöglichkeit einer Deduktion von Individualität aus dem absoluten Ich darzutun. Jean Pauls eigene Bemühungen um eine Theorie der Individualität tragen dem begrifflich nicht deduzierbaren, stets fragilen Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit im Modus der Poesie und ihrer humoristischen Konkretion Rechnung. Von der Debatte zwischen Jacobi und Fichte über das Verhältnis von Philosophie und Leben geht auch der Beitrag von Christian Danz aus. Gegen Jacobi gewendet erklärt Fichte vom Standpunkt der späten Wissenschaftslehre die Einheit von systematischer Philosophie und Leben als eine Selbstreflexion des Lebens. Vor diesem Hintergrund geht Danz den unterschiedlichen Konzeptionen des Verhältnisses von subjektivem, lebensweltlichem Vollzug und dessen Reflexionen in den Systemkonstruktionen Fichtes und Schellings nach. Hierbei argumentiert Danz für die These, daß Fichte wie Schelling davon ausgehen, daß ›Leben‹ auf seine vollständige reflexive Durchsichtigkeit im Selbstverhältnis des Geistes angelegt ist. Die Differenz zwischen Fichte und Schelling sieht Danz darin, daß der lebensweltliche Vollzug humanen Selbstverständnisses für Fichte im moralischen Selbstverhältnis fundiert ist, während Schelling ihn aus dem Akt des Selbstbewußtseins als solchen in Gestalt einer Geschichte des Selbstbewußtseins zu rekonstruieren sucht. Besondere Bedeutung kommt hierbei der wenig beachteten Religions- und Geschichtsphilosophie des Systems von 1800 zu. Ihre Aufgabe ist es zu zeigen, wie eine allgemeine Rechtsordnung durch Freiheit realisiert werden kann, die ihrerseits eine Voraussetzung individueller Freiheit ist, ohne in einen vitiösen Begründungszirkel zu geraten. Dies wird durch den Übergang in die religiöse Dimension möglich, in der das Subjekt sich sowohl als Individuum als auch in der Geschichtlichkeit als frei versteht. Die Auflösung der Entgegensetzung von System und Leben im Element der Anerkennung ist das Thema des Beitrags von Wilfried Grießer. Grießer stellt die von Danz behandelte Thematik in den Rahmen der Philosophie Hegels und sucht zu zeigen, auf welche Weise Hegels Figur der Anerkennung den Gegensatz von spekulativer Philosophie und der Faktizität des Lebens zu vermitteln vermag.
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Jürgen Stolzenberg
2. Transzendentalphilosophie vs. Naturphilosophie. Die Kontroverse zwischen Fichte und Schelling um 1800 Die Kontroverse zwischen Fichte und Schelling, die sich vor allem im Briefwechsel um 1800 niederschlägt, ist nicht nur ein Dokument der Krise, in die die Philosophie nach Kant mit Bezug auf ihren Begriff, ihre Reichweite und ihre Leistungskraft alsbald geriet, sie dokumentiert auch die hermeneutischen Turbulenzen, in die die Kontrahenten gerieten, als sie sich darum bemühten, ihre Positionen in einem rationalen Diskurs abzuklären, in der Absicht, »die Mißverständnisse aufs gewisseste und auf immer zu beseitigen« (Schelling). Eben diese Absicht führte zum dauerhaften Bruch zwischen Fichte und Schelling. Die Umstände, Gründe und Folgen des Scheiterns dieser Verständigungsbemühungen sind bis heute nicht hinreichend geklärt. Die verhandelte Streitsache, die Frage nach den methodischen Bedingungen der Konstruktion eines Systems der Philosophie und der Möglichkeit der Integration einer Philosophie der Natur, fordert dazu auf, methodische, sachliche und prinzipientheoretische Probleme zu unterscheiden. Hierzu zählen die Gründe, die Schelling zur Konzeption einer Philosophie der Natur geführt haben, sowie die alternativen idealistischen Beweiskonzepte unter den Titeln von Konstruktion und Deduktion und schließlich die Spitze des Streits, die Konzeption einer Theorie des Absoluten. Alexander Aichele geht der Frage nach, wie Schellings Versuch, Natur als unbedingte Bedingung der durch Denken konstituierten Erfahrung zu denken, sich zur Konzeption eines Systems der Naturphilosophie verhält. Aus dem Begriff der Unbedingtheit der Natur ergibt sich ihr Charakter einer ursprünglichen Produktivität, die durch eine ihrerseits ursprüngliche Dualität von Unendlichkeit und Endlichkeit, für die der Bereich der Objekte der Natur steht, bestimmt ist. Mit Bezug auf die Möglichkeit der Konstruktion einer Philosophie der Natur zeigt Aichele eine im Wortsinne prinzipielle Schwierigkeit auf: Da sich Schellings Prinzip eines Systems der Natur nicht auf Sätze, sondern auf Kräfte bezieht und da sich, so Aichele, die in der Natur herrschende Kausalität nicht durch die logische Form eines Bikonditionals erfassen läßt, die für die Konstruktion eines geschlossenen Zusammenhangs der Sätze einer Philosophie der Natur zu fordern ist, kann das Prinzip eines Systems der Natur nicht zugleich die Konstruktion eines Systems der Naturphilosophie begründen. Dieser Befund wird durch Überlegungen zum Begriff und zur Funktion des Verfahrens einer rechtstheoretischen bzw. philosophischen Deduk-
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tion bzw. eines deduktiv verfahrenden philosophischen Systems bestätigt. Thomas Posch zeigt ein weiteres Problem in Schellings Naturphilosophie auf, das sich aus der Perspektive Hegels ergibt. Es besteht in dem von Schelling nicht überzeugend eingelösten Anspruch einer ›nichtreduktionistischen‹ Theorie der Natur. ›Reduktionismus‹ meint gleichermaßen eine Reduktion von Leben auf Materie wie von Materie auf Leben. Dies gilt auch für die Reduktion von Vielheit auf eine absolute, göttliche Einheit. Genau dagegen richtet sich der Einwand Hegels gegen Schelling. Der Beitrag von Paul Ziche greift noch einmal das Problem der Begründung eines Systems der Philosophie auf. Hier gewinnt das von Schelling um 1802/03 eingeführte Verfahren der Konstruktion eine zentrale Bedeutung. Es ersetzt den Begriff einer ableitenden Erklärung. Ziche charakterisiert Schellings Methodenkonzept der Konstruktion als eine Medientheorie, insofern das zu Konstruierende in einen umfassenden ›Raum‹ eingetragen wird, der eine identifizierende und absolut begründende Funktion übernimmt und profiliert Schellings Konstruktionsverfahren gegenüber Kants Theorie geometrischer Konstruktion sowie gegenüber Hegels Schelling-kritische Argumente. Matteo d’Alfonso stellt Schellings Verfahren der Konstruktionen in den Kontext der Wissenschaftslehre Fichtes, insbesondere Fichtes Ableitung bzw. Konstruktion der Kategorien. Hierbei spielt das Konzept einer lebendigen Kraft und ihrer Erhaltung eine zentrale Rolle. Im Rückgriff auf eine Interpretation des Kausalverhältnisses als Informations- und Energieübertragung schlägt d’Alfonso eine Interpretation von Fichtes Konzeption von Freiheit vor, die als Fundament für Schellings Konzeption eines Absoluten als eines allgemeinen Mediums gelten kann, das über alle Veränderungen hinweg durch eine invariante lebendige Kraft charakterisiert ist. Dem Streit zwischen Fichte und Schelling um die angemessene Konzeptualisierung eines obersten Prinzips der Philosophie und um das Verhältnis von Natur- und Transzendentalphilosophie geht der Beitrag von Jürgen Stolzenberg nach. Mit Fichte ist gegen Schelling geltend zu machen, daß im Begriff des Wissens ein subjektiv-reflexives Moment enthalten ist, das es verbietet, die Momente des Subjektiven und Objektiven als gleichrangig anzusehen und sie als komplementäre Prinzipien der Natur- bzw. Transzendentalphilosophie anzusehen. Auch das Verfahren der Abstraktion der subjektiven Tätigkeit im Begriff des Selbstbewußtseins, durch das Schelling zufolge der Begriff einer objektiven Subjekt-Objekt-Einheit als
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Jürgen Stolzenberg
Prinzip der Naturphilosophie gewonnen werden soll, erscheint aus der Sicht Fichtes nicht durchführbar. Und schließlich vermag auch Schellings Versuch in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801, aus dem logischen Satz der Identität das Sein der Identität abzuleiten, nicht zu überzeugen. Mit der Preisgabe des Primats des Seins in der kritischen Philosophie Kants und mit dem Ausgang der Philosophie von Gedanken des Unbedingten bei Fichte und Schelling sieht Thomas Kisser ein Moment der Unbestimmtheit und Offenheit gegeben, das zusammen mit den Momenten der Kontingenz, der Potentialität und Kreativität für das Selbstverständnis der Moderne charakteristisch ist. Dem entspricht eine Neubewertung des Denkens, das nicht mehr als Nachvollzug eines vorgegebenen Seins, sondern als autonome Setzung und Konstruktion der Bedingungen objektiv gültiger Erkenntnisse aufgefaßt wird. Erst im Zuge der Analyse des fundierenden Prinzips des Selbstbewußtseins gerät der Begriff des Seins in den Blick und wird zum eigentlichen Bezugspunkt der Reflexion. Er ist auch der Kern der Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling. Der Beitrag sucht die Differenz zwischen Fichte und Schelling anhand der Art und Weise zu bestimmen, wie das Verhältnis von Identität und Differenz, Unendlichem und Endlichem, Unbestimmtheit und Bestimmtheit im Begriff des Absoluten selber gedacht wird.
3. Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie Relativ spät betrat Hegel die Bühne der Philosophie. Umso vehementer und wirkungsmächtiger griff er in die Debatten um die Begründung der Philosophie und ihrer Ausgestaltung zu einem System ein. Hegels erste selbständige Schriften, die sog. Differenzschrift von 1801 und die Schrift Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität von 1802, sind, um ein Wort Hegels aufzugreifen, zwar bekannt, deswegen aber nicht auch schon erkannt. Problematisch und ein Stein des Anstoßes für jede um argumentative Klarheit bemühte systematische Interpretation ist und bleibt der Umstand, daß der frühe Hegel seine Argumente auf der Grundlage einer Systemkonzeption entwickelt, die verdeckt und unausgeführt bleibt. Der Frage, wie sich Hegels Begriff einer absoluten Identität zu dem der Reflexion verhält, kommt hierbei eine zentrale systematische Bedeutung zu. Hegels Begriff eines praktischen Wissens und seine Polemik gegen den Fichteschen Begriff des Willens, dem er selber gleichwohl viel verdankt, verdient in diesem Zusammenhang eine genauere Unter-
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suchung. Dem gehen die Beiträge der dritten Abteilung Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie nach. Im Namen Hegels und Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie wendet sich Markus Gabriel gegen neuere Tendenzen der Hegel-Interpretation (McDowell, Brandom), die als eine Erneuerung einer Spielart von Reflexionsphilosophie erscheint, gegen die sich Hegels Kritik wendet. Gabriel zeigt, daß die an Hegel orientierte Kant-Kritik McDowells hinsichtlich der bloßen Faktizität und Kontingenz der Formen der Sinnlichkeit und der Unzugänglichkeit des Dings an sich die eigentliche Pointe der Hegelschen Konzeption übersieht. Sie besteht darin, diejenigen Bedingungen namhaft zu machen, unter der die erkennende Bezugnahme auf Gegenstände und d. h. die Verwendung und Anwendung von Begriffen in Urteilen allererst möglich ist. In der Sicht Gabriels ist es die Funktion des Hegelschen Konzepts einer absoluten Identität, eine allgemeinheitsfähige Dimension bereitzustellen, innerhalb derer Unterschiede und auch die Wahrheitswertdifferenz sowie im Raum des Politischen geltende Normen erst etabliert werden können. Diese Option kritisiert Thomas Auinger als eine transzendentalphilosophische Fehlinterpretation Hegels. Sie verdankt sich ihrerseits einer äußeren Reflexion, die dem eigentümlichen spekulativen Gehalt der Bestimmungen Hegels in der Wissenschaft der Logik nicht gerecht zu werden vermag. Ziel des Beitrags von Jakub Kloc-Konkołowicz ist es, den in der gegenwärtigen Hegel-Renaissance unterschätzten innovativen Charakter der Philosophie Fichtes zu profilieren. Er besteht zum einen darin, den repräsentionalen Charakter von Bewußtsein von Anfang an auf die Begründung von Objektreferenz hin anzulegen. Zum anderen ist der gegen die Fichtesche Philosophie gerichtete Vorwurf des Solipsismus, Formalismus und Rationalismus cartesischer Prägung mit Blick auf die Fichtesche Idee der intersubjektiven Anerkennung sowie der Betonung der Leiblichkeit als Bedingung vernünftiger Selbstkonstitution zurückzuweisen. Im Blick auf den von Brandom vertretenen expressivistischen Inferentialismus läßt sich schließlich Fichtes Programm der Begründung der Objektreferenz als Explikation dessen verstehen, was implizit akzeptiert ist, wenn man ›ich‹ sagt. Lars-Thade Ulrichs legt sich die Frage vor, ob und inwiefern die Kritik des frühen Hegel an der praktischen Philosophie Fichtes in Glauben und Wissen im Rückgriff auf die Wissenschaftslehre nova methodo entkräftet werden kann. Dabei geht es vor allem um die Frage nach der Möglichkeit einer Sicherung der Realität der objektiven Welt innerhalb der praktischen
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Jürgen Stolzenberg
Philosophie. Sie erhält für Fichte wie für Hegel eine systematisch zentrale Bedeutung, da beiden eine solche Realitätssicherung innerhalb der theoretischen Philosophie zunehmend als aussichtslos erschien. Ulrichs zeigt, daß Hegels Kritik, so berechtigt sie im Hinblick auf den frühen Fichte ist, Fichtes Konzept des reinen Willens, wie er sie in der Wissenschaftslehre nova methodo darlegt, in entscheidenden Punkten verfehlt. Der Beitrag von Walter Jaeschke geht den immer noch verborgenen Ursprüngen von Hegels Systemkonzeption nach. Sie sind weder in der Differenz-Schrift noch im sog. Systemfragment von 1800 und auch nicht in den späten Frankfurter Texten zu finden. Den für die Philosophie Hegels konstitutiven Gedanken von der Einheit des Begriffs des Absoluten und des Systems der Philosophie illustriert Jaeschke an einem Vorlesungsfragment von 1801/02 unter dem Titel Die Idee des absoluten Wesens, das nicht nur den enzyklopädischen Rahmen des späten Systems skizziert, sondern auch schon seine interne Struktur als ausgeführte Selbsterkenntnis des Absoluten entwirft. Darüber hinaus läßt dieser Text auch die Frontstellung gegenüber den Systemkonzeptionen Fichtes und Schellings und der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Natur- und Transzendentalphilosophie erkennen. Hegels Originalität besteht in der um 1801/02 konzipierten Idee, daß der Begriff des Absoluten nur als Prozeß der Selbsterkenntnis und als Manifestation seiner realen Gestalten zugleich verstanden werden kann. Dies ist auch das Prinzip der Systementwicklung Hegels. Hierfür hat Hegel den Begriff des Geistes geprägt. ˇ Karásek im Rekurs In Ergänzung zum Beitrag von Jaeschke geht Jindrich auf die frühen Berner und Frankfurter Manuskripte Hegels der Frage nach der Genese und der logischen Verfassung der philosophischen Reflexion nach, die eine Selbstreflexion des Absoluten bzw. des absoluten Geistes sein soll. Die Selbstreflexion des Geistes besteht in der Sicht Karáseks formal in den Momenten einer ursprünglichen Selbstreflexion, der Selbstentäußerung und der Rückkehr in sich. Dieses Modell findet sich Karásek zufolge bereits in den Berner und Frankfurter Manuskripten im Kontext von Hegels Kritik der christlichen Religion in Gestalt der Verbindung des Geistbegriffs mit der Naturphilosophie und dem Gedanken von einem Endzweck der Welt. Ein weiteres Motiv ist in dem theologischen Problem der Übereinstimmung der Lehre von Jesus mit dem Willen Gottes zu sehen, dessen Lösung die Selbstbewegung des Geistes darstellt, die als Negation des von ihm selbst erzeugten Anderen zu begreifen ist. Eine Entsprechung findet diese Struktur in den Manuskripten der Frankfurter Zeit mit Bezug auf Hegels Beschreibung der Erkenntnis als Negation der Negation einer ursprünglichen, nur als Gefühl zugänglichen Einheit.
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Dieses Verhältnis interpretiert die Phänomenologie des Geistes sodann als Prozeß der Verwandlung unmittelbarer Gewißheit in Wahrheit, der der Hegelsche Begriff des absoluten Wissens entspricht.
4. Kritik des Systems Von Anfang an war in der Philosophie nach Kant die Polemik gegen die Möglichkeit einer sich zum System ausbildenden Philosophie präsent. Hierfür stehen neben Friedrich Heinrich Jacobi vor allem die Namen Friedrich Schlegels, Friedrich Schleiermachers und Friedrich von Hardenbergs. Zu konstatieren ist, daß die Idealismus-Forschung sich diesem Bereich der Debatten bisher eher zögernd zugewandt hat. Während Schlegel die Dialektik als Instrument der Kritik zur durchgreifenden Methode erhebt, die zugleich den Einspruch gegen ein geschlossenes System der Philosophie enthält, ist es für Schleiermacher die eigentümliche Rationalität und Erschließungskraft des Gefühls, das dazu auffordert, sich von dem Vertrauen auf ein universales logisches System von Denkbestimmungen zu distanzieren. Friedrich von Hardenberg schließlich darf als einer der originellsten Protagonisten eines neuen, kritisch auf die zeitgenössischen enzyklopädischen Systeme der Philosophie bezogenen experimentellen Philosophierens gesehen werden, das, im ständigen Kontakt zu Kant und Fichte, die Tendenzen Schlegels und Schleiermachers in sich aufnimmt. Gegen die in der Forschung vorherrschende Tendenz, Schlegels Plädoyer für die Verbindung von System und Systemlosigkeit als Ausdruck des Scheiterns der philosophischen Darstellung eines Systems und die favorisierte Systemlosigkeit als Folge eines fehlenden obersten Prinzips zu interpretieren, argumentiert Andreas Arndt dafür, Schlegels Systembegriff aus der Verbindung von System und Historie zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion nimmt ihren Ausgang von Schlegels Auseinandersetzung mit Kants Systembegriff und der Kantischen These, daß die Idee einer systematischen Einheit der Vernunft nur ein methodisches Prinzip der Systematisierung und Erweiterung der Erfahrungserkenntnis ist, sowie der weiteren, am Ende der Kritik der reinen Vernunft formulierten These Kants, daß die Vernunft hinsichtlich ihrer eigenen Systematizität wesentlich historisch verfaßt ist. Anders als Kant hat Schlegel der Dialektik der Vernunft indessen eine konstitutive Rolle für die Darstellung der Geschichtlichkeit der Vernunft zugemessen. Aufgrund des damit verbundenen konstitutiven Bezugs der Philosophie auf empirische Gehalte ist ein abgeschlossenes System der menschlichen Vernunft nicht möglich,
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an seine Stelle tritt eine ›unendlich zyklische Progressivität‹, die sich in stets neuen Zuständen organisiert. Daraus lassen sich auch Schlegels Konzeptionen der Dialektik und des Grenzbegriffs der Ironie verständlich machen. Beiden kommt die Funktion zu, im Wechsel von Setzung und Negation ein Ganzes in der Form einer nur als Prozeß zu denkenden Totalität zur Darstellung zu bringen. Im Anschluß an den Beitrag von A. Arndt greift Jure Zovko das Schlegelsche Ironie-Konzept auf. Gegen die etablierte Forschung gewendet, zeigt Zovko, daß mit der Parteinahme für Ironie als Organ des unauflösbaren Widerstreits zwischen Bedingtem und Unbedingtem nicht eine Relativierung der epochalen Leistung der Fichteschen Philosophie verbunden ist. Schlegels Interesse ist vielmehr zum einen auf die Korrektur der Grundsatzphilosophie durch einen gleichsam kohärentistischen, gleichwohl unabschließbaren „Wechselerweis“ gerichtet, der sich in der hermeneutischdialektischen Praxis der Explikation und Interpretation von Texten und Kunstwerken bewähren soll sowie der Berücksichtigung der Faktizität des Geschichtlichen. Daraus gewinnt Schlegel das Motiv für das Projekt einer Enzyklopädie aller Künste und Wissenschaften, das in den veröffentlichen Vorlesungen allerdings nur fragmentarisch realisiert ist. Der Beitrag von Ulrich Barth bietet eine Rekonstruktion der Grundlagen von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Theorie der Subjektivität und ihrer begründungstheoretischen Funktion. Unter Bezug auf die formale Grundlagendisziplin der Dialektik, die als Variante und Alternative der nachkantischen Systementwürfe bis zum mittleren Schelling zu verstehen ist, zeichnet der Beitrag am Leitfaden von Schleiermachers Begriff des Gefühls die Grundlinien von Schleiermachers transzendentaler Theorie der Letztbegründung und Subjektivitätstheorie nach. Die Aufgabe der Philosophie besteht für Schleiermacher vor allem darin, Prinzipien der allgemeinen Wissenspraxis begrifflich darzustellen. Dies geschieht im Ausgang von einer an Kants Zwei-Stämme-Lehre orientierten Erkenntnistheorie, die in eine Theorie dialektischer Verständigungspraxis eingepaßt wird. Die notwendige Bedingung intersubjektiv vermittelter Weltauslegung ist für Schleiermacher die gemeinsame Bezogenheit auf Sein. Da Schleiermacher den Begriff des Seins als Aufhebung des Gegensatzes von Gedanke und Gegenstand versteht, ist mit ihm ein letzter Einheitsgedanke bezeichnet, der dem philosophischen Begriff des Absoluten entspricht. Die Repräsentation dieses Einheitsgrundes leistet Schleiermacher zufolge das, was er Gefühl bzw. unmittelbares Selbstbewußtsein nennt. Gemeint ist die Bewußtseinsform, in der ein Subjekt sich auf vorreflexive Weise der Identität seiner selbst im Wechsel zwischen Denken und Wollen
Einleitung: System und Systemkritik um 1800
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inne wird. Der spezifische Einheitssinn des Gefühls ist der Grund für die entscheidende These Schleiermachers, daß es als Erscheinung und Repräsentation der übergegenständlichen Einheit des Absoluten begriffen werden muß. Dies ist der höchste Punkt der Letztbegründungstheorie der Dialektik. Unter dem Titel eines allgemeinen Abhängigkeitsgefühls ist es zugleich das Fundament von Schleiermachers Theorie der Religion. Der Beitrag von Peter Grove ergänzt die Ausführungen von Ulrich Barth in zwei Hinsichten, zum einen hinsichtlich der von Schleiermacher in den Reden von 1799 erklärten ›Neigung der Philosophie zum System‹ und ihrer Bedeutung für die Dialektik, zum anderen hinsichtlich Barths Interpretation von Schleiermachers Gefühlsbegriff. Während in den Reden ein kritischer Bezug auf den Systembegriff überwiegt, wird in den späteren Schriften der Bezug der Erkenntnis auf ein System deutlich. Der Beitrag stellt einige Aspekte des Schleiermacherschen Systemgedankens dar, der als Alternative zu den vorherrschenden Debatten des nachkantischen Idealismus anzusehen ist, unter ihnen die Anerkennung des Faktums der Mannigfaltigkeit von Systemen und das Plädoyer für eine stetige Entwicklung des Wissens, für die das vollendete System nur ein theoretischer Zielbegriff ist. Mit Bezug auf Barths Interpretation des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs als Bewußtsein einer unbestimmten mentalen Aktivität im Sinne einer intentionalen Disposition zum Wissen, eines ›Wissenwollens‹, führt Grove weitere Evidenzen aus der späteren Glaubenslehre und der Ästhetik von 1832/33 an. Friedrich von Hardenbergs Systemkritik geht der Beitrag von Violetta Waibel nach. Hierfür steht die paradoxe Formel einer ›Systemlosigkeit, in ein System gebracht‹ und die Intention, ›Fehler des Systems‹ zu vermeiden. Mit Kant und Fichte geht Hardenberg von dem Prinzip eines reinen Ich aus, doch gelten ihm Prinzipien wie Sein, Natur oder Gott neben dem Ich ebenfalls als erste Prinzipien der Philosophie. Eine der methodischen Maximen Hardenbergs ist es, begriffliche Fixierungen durch den Wechsel von Bestimmung und Nicht-Bestimmung zu vermeiden. Dem entspricht eine systematische Anlage der Philosophie, die prinzipiell durch Offenheit charakterisiert ist. Waibel zeigt, daß Hardenbergs Neubestimmung des Systembegriffs eine sachliche Nähe zur Systemtheorie Johann Heinrich Lamberts aufweist. So besteht ein System Lambert zufolge aus Teilen, unter denen verbindende Kräfte wirksam sind, die ein theoretisches Prinzip zu einer Ganzheit zusammenfügt. Als System versteht Lambert indessen auch instabile Anordnungen von Teilen. Im Ausgang von Lamberts Systematologie und der Nähe zu Kants Teleologie der Natur rekonstruiert Waibel Hardenbergs systemkritisches Universalsystem. Waibel bezeich-
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net es als »Poesislehre«. Damit soll zum einen die Idee der Freiheit als Grundlage allen Philosophierens zum Ausdruck gebracht werden, zum anderen ist die Untersuchung unbewußter Prozesse vorgesehen, die sich im Gefühl kundtun und zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden. Die analytische und die synthetische Methode sind Hardenberg zufolge aufeinander verweisende Verfahrensweisen, die auch bei der Suche nach einem absoluten Grund in Einsatz gebracht werden müssen. Daß damit kein geschlossenes, sondern ein offenes System intendiert ist, für das eine Art ›Wechselbeziehungssatz‹ als oberster Grundsatz in Anschlag gebracht werden muß, ist eine der entscheidenden Pointen des auf Freiheit, Kreativität und Offenheit verpflichteten Philosophierens Hardenbergs. Andreas Kubik würdigt Waibels Hardenberg-Deutung im Kontext der neueren Idealismus- und Novalis-Forschung. Im Unterschied etwa zu Manfred Frank, der Hardenberg als konsequenten Realisten und Skeptiker des Wissens und dezidierten Fichte-Kritiker liest, ordnet Waibel – auf diese Weise, wie Kubik ausführt, »Frank zurecht vom Kopf auf die Füße« stellend – Hardenberg entschieden der Geschichte der Subjekt-Philosophie zu. Dem entspricht, daß Hardenbergs Auseinandersetzung mit Fichte bis zu seinem Lebensende fortdauert. Früheren Interpretationen entgegen kann Hardenberg Waibel zufolge auch nicht in die Reihe der frühromantischen Systemkritiker gestellt werden, die das Fragment zur bevorzugten Weise des Philosophierens erhoben haben, weil der Hardenberg der Fichte-Studien das Fragment als Darstellungsform noch gar nicht kennt. Kubik diskutiert sodann vor allem Waibels These, daß nach Hardenberg Systeme von beliebigen Entitäten aus entwickelt werden können und unter ›System‹ nicht eine geschlossene, streng deduktiv verfahrende Argumentation, sondern nur ein geordnetes und von einer Absicht geleitetes Gefüge von Gedanken zu verstehen sei. Schließlich sucht Kubik aus den späteren Schriften, insbesondere die Dichtungen, dem Allgemeinen Brouillon und der Rede Die Christenheit oder Europa Anhaltspunkte für materiale Teile des intendierten, aber nicht vollendeten Systems zu gewinnen. Das Grundmodell sieht Kubik im Ofterdingen-Roman in der Bewegung der Selbsterkenntnis des Ich, das in der Beziehung auf Anderes sich selbst entfremdet und, das Fremde als das Eigene dechiffrierend, zu sich selbst zurückkehrt – sei es auf religiösem oder wissenschaftlichem Wege oder in der ästhetischen oder ethischen Praxis.
I. PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT UM 1800
Günter Zöller Das »erste System der Freiheit«. Fichtes neue Darstellung der Wissenschaftslehre (1795–1801) »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.«1
Der Beitrag untersucht Fichtes ›neue Darstellung der Wissenschaftslehre‹ im Licht der von ihm 1795 geprägten Programmformel von der Wissenschaftslehre als dem »erste[n] System der Freiheit«. Abweichend von der gängigen Periodisierung der Philosophie Fichtes wird der Geltungsbereich der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von der frühen Jenaer Zeit (1795) bis in die frühe Berliner Zeit (1801) ausgedehnt und umfaßt damit mehr als ein Viertel von Fichtes zwanzig Jahre währender Arbeit an der Wissenschaftslehre. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das originelle Junktim von Systembegriff und Freiheitsbegriff in Fichtes Denken in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre und die darin implizierte Selbstkritik an der ursprünglichen Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1794/95.
1. Systemdenken als Systemkritik Das philosophische Denken zwischen dem Kritizismus und dem Spätidealismus ist durch die szientifische Form des Systems geprägt. Die Hauptvertreter des Systemgedankens – von Kant über Reinhold zu Fichte, Schelling und Hegel – zielen ab auf die Neu- oder Erstbegründung der Philosophie als Wissenschaft, die den inneren Sinnzusammenhang des Wissenden wie des Gewußten in der äußeren Ordnungsgestalt des Sy1
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hrsg. v. Wolfdietrich Rasch. München 1971, 48 (Athenäums-Fragmente).
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stems zur Darstellung bringen soll. Neben das affirmative Philosophieren unter dem Anspruch des Systemgedankens tritt praktisch zeitgleich und mit ebenso langfristiger wie breiter Wirkung die negative Kritik an der systematischen Form der Philosophie als Wissenschaft. Die zeitgenössische philosophische Systemkritik nimmt ihren Ausgang von der Radikalopposition Friedrich Heinrich Jacobis zum Methodenideal der wissenschaftlichen Philosophie, die ihn sukzessive als erfolgreichen und einflußreichen Gegenspieler von Kant, Fichte und Schelling in Erscheinung treten läßt. Sie umfaßt aber auch die antisystematische Ästhetisierung und Literarisierung philosophischen Denken in der frühen Romantik und beim frühen Hölderlin, die im wesentlichen als produktive Kritik an Fichtes systematischer philosophischer Leistung zur Ausbildung gelangt. Doch die Systemkritik ist dem Systemdenken um 1800 nicht nur äußerlich entgegengesetzt – als frühromantische Opposition gegen ein hochklassisches Denken –, sondern zugleich auch innerlich zugehörig – als Selbstkritik des Systemdenkens an den Formen und Gehalten seiner progressiven Selbstentfaltung. Die Ausgestaltung des Systemdenkens als Systemkritik tritt dabei gleich in mehrfacher Form in Erscheinung. Zum einen erfolgt die systemphilosophische Systemkritik als Kritik an früheren philosophischen Systemversuchen, insbesondere als Kritik an den dogmatischen Systemen der vorkritischen Philosophie. So wendet sich Kants kritische Transzendentalphilosophie gegen die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie und Fichtes systematischer Real-Idealismus gegen den Dogmatismus des spinozistischen Systems. Dazu kommt die gegenseitige Kritik der Vertreter des Systemdenkens an den Versuchen der unmittelbaren Vorgänger und Konkurrenten. Zu nennen sind hier die Kant-Kritik Fichtes und Hegels, die hauptsächlich den Unzulänglichkeiten und der fehlenden Vollendung des kantischen Systems gilt, die Reinhold-Kritik Fichtes, in deren Mittelpunkt der systematische Neuansatz der wissenschaftlichen Philosophie als Grundsatzphilosophie steht, die Fichte-Kritik Schellings und Hegels, die vor allem die Einseitigkeit und damit die Unvollständigkeit des subjektiv-idealistischen Systems bei Fichte ins Feld führt, sowie die Schelling-Kritik Fichtes, die primär die systematische Komplettierung des Idealismus der Transzendentalphilosophie durch den Realismus der Naturphilosophie bei Schelling betrifft. Neben die antidogmatische und die inneridealistische Systemkritik tritt als dritte Steigerungsform der Selbstkritik des Systemdenkens um 1800 die Systemkritik, die durch ein und denselben Autor am eigenen systematischen Denken erfolgt. Zu nennen wären hier die selbstkritischen Systementwicklungen bei Schelling, die von den fichteanischen Anfängen
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über das Systemprojekt der Naturphilosophie und die Systemsynthese der Identitätsphilosophie zu den späten Autotransformationen der Philosophie in eine rein-rationale oder ›negative Philosophie‹ und eine mythologisch-religiös gegründete oder ›positive Philosophie‹ reichen. Ebenso einschlägig ist die systematische Entwicklung von Hegels Denken, von den Berner und Frankfurter systematischen Anfängen über die Jenaer Systementwürfe zu den Nürnberger, Heidelberger und Berliner Ausarbeitungen des enzyklopädischen Systems der Philosophie. Doch mehr noch als Schellings und Hegels Werk ist das Denken Fichtes von systematischer Selbstkritik und selbstkritischer Systematik geprägt. Die frühe wie die folgende und fortgesetzte philosophischen Entwicklung Fichtes vom Kritiker Kants, Aenesidemus-Schulzes und Reinholds über den Kritiker Jacobis und Bardilis bis zum Kritiker Schellings und Herbarts ist immer zugleich auch Kritik am eigenen Denken, das sich im Medium der kritischen Auseinandersetzung mit Vorgängern, Verbündeten und Nachfolgern aus- und umgestaltet in einer fortlaufenden produktiven Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen philosophischen Debatten und Kontroversen. Dabei ist es charakteristisch für Fichtes philosophische Entwicklung, daß die selbstkritische Fortbildung seines Systemdenkens nicht in der Revision oder Emendation partikularer Doktrinen besteht und auch nicht im einfachen Ersatz von vormals behandelten Themen und vertretenen Thesen durch neue und andere Aufgabenstellungen und Lösungsansätze. Vielmehr vollzieht sich die Fortentwicklung des systematischen Denkens bei Fichte primär auf der Ebene methodologischer und argumentationsstrategischer Umorientierungen, durch die er den sich verändernden Rezeptionsbedingungen seines philosophischen Denkens im Kontext des sich entwickelnden zeitgenössischen philosophischen Diskurses Rechnung zu tragen versucht.2 Das selbstkritische Systemdenken Fichtes manifestiert sich so in der kritisch veränderten systematischen Darstellungsform eines Denkens, das – im wesentlichen – während der gut zwei Jahrzehnte seiner Entwicklung und Entfaltung über die Änderungen im Fortgang der philosophischen Debatten hinweg unverändert vom transzendental-idealistischen Geist
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Zur formativen Funktion von Fichtes Auseinandersetzung mit Schelling für die Fortentwicklung der Wissenschaftslehre vgl. v. Verf.: Das Absolute und seine Erscheinung. Die Schelling-Rezeption des späten Fichte, in: Jahrbuch des deutschen Idealismus/Yearbook of German Idealism 1 (2002), 165–182 sowie ders.: Fichte, Schelling und die Riesenschlacht um das Sein, in: Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis. Hrsg. v. Ursula Baumann. Hannover 2006, 93–110.
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der kritischen Philosophie geprägt ist.3 Insgesamt und durchweg ist Fichtes Philosophie charakterisiert durch das eigentümliche Ineinander von unveränderter Grundposition und deren prinzipiell veränderlicher und faktisch immer wieder veränderter systematischer Darstellungsform. Das komplexe Wechselverhältnis von invarianter Grundgestalt und variabelvariierter Ausführung in Fichtes Philosophie tritt allerdings erst zutage, wenn man in der Auffassung von Fichtes philosophischer Entwicklung genau trennt zwischen den äußeren Gestalten und Umgestaltungen, die sich auf präsentationeller wie doktrinaler Ebene verzeichnen lassen und jenem konzeptuellen Grundbestand, den man mit einem der Philosophie des Organischen bei Kant entlehnten Ausdruck als die »innere Form« von Fichtes Philosophie bezeichnen könnte.4
2. Fichtes French Connection Die innere Form des Systems der Wissenschaftslehre – diesseits ihrer mannigfach-einheitlichen Ausführung im Verlauf zweier Jahrzehnte – hat Fichte selbst benannt, als er sein System als »das erste System der Freiheit« kennzeichnete.5 Die beiden erhaltenen Briefentwürfe vom Frühjahr 1795, in denen sich diese Selbstdeutung der Philosophie Fichtes findet,6 stehen im Kontext von Plänen Fichtes, die langjährige, womöglich ein ganzes Leben erfordernde »Darstellung meines Systems« als Pensionär der französischen Nation »im Elsaß, oder einer andern Deutschen Pro-
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Zum ›Geist‹ der Fichteschen Philosophie vgl. v. Verf.: Die Sittlichkeit des Geistes und der Geist der Sittlichkeit. Fichtes systematischer Beitrag, in: Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. Hrsg. v. Edith Düsing u. Hans-Dieter Klein. Würzburg 2009, 217–238. 4 Siehe Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, später Berlin/New York 1900ff., hier Band 5, 378 (dort »innern Form«; Kritik der Urtheilskraft). Der Terminus, der sich danach bei Wilhelm von Humboldt zur Kennzeichnung der lebendigen Geistigkeit der Sprache fortentwickelt findet (»innere Sprachform«), ist bei Kant hapax legomenon. Vgl. auch Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flittner u. Klaus Giel. Darmstadt 1963; hier Band 3, 463–473. 5 Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff.; hier Abt. III, Band 2, 289. 300 (Briefentwürfe vom April/Mai 1795, vermutlich an Jens Immanuel Baggesen). Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 6 Zur Datierung vgl. a. a. O., 297 Anm.
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vinz der Republik« zu unternehmen.7 Fichte zitiert als Präzedenzfall einer solchen langfristigen Alimentierung die Versorgung Klopstocks während der Jahrzehnte seiner Arbeit am Messias durch den König von Dänemark und Norwegen und Herzog von Schleswig-Holstein, Friedrich V. Doch unterstreicht Fichte sogleich, daß die Wissenschaftslehre nach ihren »Grundsätzen« nicht mit fürstlichem oder königlichem Mäzenatentum kompatibel ist. Als geeigneter öffentlicher Geldgeber für die systematische Ausführung der Wissenschaftslehre kommt deshalb nur »die französische Nation« in Frage, »die jetzt ihre Augen anfängt auch auf Kunst, u. Wißenschaft zu werfen«.8 Zur näheren Begründung der Qualifikation der Wissenschaftslehre für französische Förderung verweist Fichte auf die tiefe Affinität zwischen der politischen Selbstbefreiung des Menschen durch die französische Nation und der philosophischem Selbstbefreiung des Menschen durch die Wissenschaftslehre: »[…] wie jene Nation von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reis’t mein System ihn von den Feßeln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen, selbst in dem Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, und stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbständiges Wesen hin.«9 Doch Fichte macht nicht nur die strenge Analogie zwischen der Abschaffung von politischer und von epistemischer Unfreiheit geltend, sondern reklamiert auch die Rolle des französischen Revolutionsgeschehens als Quelle für die Anregung, ja Begeisterung bei der Herausbildung des emanzipatorischen Grundgedankens der Wissenschaftslehre: »Es (sc. Fichte System) ist in den Jahren, da sie (sc. die französische Nation) mit äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpfte, durch innern Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurtheilen entstanden; nicht ohne ihr Zuthun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte […].«10 Nach Fichtes Selbsteinschätzung ist der formative Einfluß der französischen Revolution auf die Wissenschaftslehre insbesondere vermittelt durch seine frühe publizistische Auseinandersetzung mit der Revolution in Frankreich:
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A. a. O., 300. Die von den Herausgebern präferierte alternative Lesart lautet »Vervollständigung meines Systems«. 8 A.a. O., 298. 9 Ebd. 10 Ebd.
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»Indem ich über ihre Revolution schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke u. Ahndungen dieses Systems.«11 Die enge Anbindung der Entstehung des Systemgedankens der Wissenschaftslehre an die Theorie und Praxis des revolutionären Geschehens in Frankreich manifestiert sich auch in der Ausrichtung von Fichtes projektiertem theoretischen Lebenswerk auf die Praxis und speziell auf die politische Praxis. Er prophezeit dem System der Wissenschaftslehre, daß es den Menschen »durch die erhabne Stimmung, die es mitteilt – Kraft, sich auch in der Praxis loszureißen«, verleihen wird.12 Fichte benennt auch deutlich die Implikationen und Konsequenzen der von ihm anvisierten dauerhaften Übersiedlung nach Frankreich und der damit verbundenen Einbürgerung als citoyen français: das System wird – »es käme nun auf einmal, oder stükweise heraus« – »in der UniversalSprache, der Lateinischen« zu schreiben sein, »mit Zuziehen anderer, dieser Sprache mächtigern«, und so auch nicht primär der französischen Nation, der es seine Ausarbeitung verdanken wird, sondern »dem ganzen culitivirten Europa« als deren »Geschenk« an es zugute kommen.13 Unter der Zusicherung, von der französischen Nation einen »lebenslänglichen Ehrengehalt« zu beziehen, erklärt Fichte sich bereit, »alle meine gegenwärtigen Bindungen aufzugeben« und sich dem »Haß und Neide meines Vaterlandes« auszusetzen.14 Nun ist bekanntlich aus der neufränkischen Lebens- und Werkplanung Fichtes nichts geworden. Die Wissenschaftslehre wurde weiterhin in deutschen Landen und auf deutsch vorgetragen. Fichte blieb, zumindest vorerst, Professor in Jena. Und statt den Haß und Neid bekam Fichte schon bald die Ignoranz und Bigotterie der mitteldeutschen Kleinststaaten zu spüren. Schließlich sollte der vormalige Champion der französischen Revolution gar noch zum scharfen Kritiker der französisch geprägten Aufklärungskultur15 und des auf ganz Europa ausgreifenden post-revolutionären Imperiums von Napoléon Bonaparte werden.16 11
Ebd. Für Fichtes Einschätzung der Französischen Revolution siehe GA I/1, 203– 404 (Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution. Erster Theil. Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkeit). 12 GA III/2, 300. 13 A. a. O., 298. 14 A. a. O., 300. 15 Zu Fichtes differenziertem Verhältnis zur europäischen Aufklärung vgl. Fichte und die Aufklärung. Hrsg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo, Carla de Pascale u. Verf. Hildesheim 2005. 16 Zum schwierigen Verhältnis von (deutschem) Patriotismus und (französisch-
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Doch invalidiert der abweichende Verlauf von Fichtes Biographie nicht schon die von ihm so emphatisch vorgenommene Invokation der bereits erfolgten politischen Befreiung für die Grundlegung und Ausführung der anstehenden philosophischen Befreiung. Vielmehr erlaubt die Konfrontation der programmatischen politischen Begründung der Wissenschaftslehre und ihrer sukzedierenden theoretischen Ausführung wichtige Einsichten in die Grundverfassung von Fichtes Philosophieren diesseits partikularer Doktrinen und pluraler Methodologien.
3. Die neue Darstellung der Wissenschaftslehre Zusätzlich zur forcierten politischen Analogie im Kontext des zeitweiligen Emigrationsplans ist an Fichtes formelhaft summarischer Selbstdeutung der Wissenschaftslehre als des ersten Systems der Freiheit deren genauer Zeitpunkt in der Chronologie von Fichtes Wirken bemerkenswert. Im Frühjahr 1795, in dem Fichte das Vorhaben einer Übersiedlung ins revolutionäre Frankreich lanciert und dabei die Programmformel entwikkelt, liegen bereits zwei Schriften zur Wissenschaftslehre vor, die ihrerseits auf Vorlesungen in Zürich und Jena beruhen: die Programmschrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie aus dem Jahr 1794 und die ersten beiden Teile der Fundamentalschrift Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, die zuerst in Einzelbögen und dann in Buchform im gleichen Jahr publiziert wurde und die »Grundsätze der gesammten Wissenschaftslehre« sowie die »Grundlage des theoretischem Wissens« umfaßte.17 Erst im Sommer 1795 erschien als dritter Teil der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre die »Grundlage der Wissenschaft des Practischen«, buchtechnisch zusammengefaßt mit der Ergänzungsschrift Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. Doch war der Dritte Teil der Grundlage bereits Gegenstand von Fichtes Jenaer Privatvorlesungen des Wintersemesters 1794/95. Im Wintersemester 1795/96 sollte der akademische Vortrag des Naturrechts erfolgen, begleitet von der zweiteiligen Publikation der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1795/96). Ein Jahr
deutschem) Kosmopolitismus bei Fichte siehe Verf.: Politische Hermeneutik. Die philosophische Auslegung der Geschichte in Fichtes ›Reden an die deutsche Nation‹, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 7: Hermeneutik der Geschichte. Hrsg. v. Günter Figal, Tübingen 2008, 219–243.
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später, im Wintersemester 1796/97, wird Fichte eine neue Darstellung der Wissenschaftslehre (»nova methodo«, wie es in der lateinischen Ankündigung heißt) in Vorlesungen vortragen, die er in den beiden folgenden Wintersemestern jeweils wiederholen und mit einer Fragment gebliebenen Publikation, dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre – in Gestalt zweier Einleitungen in die Wissenschaftslehre und eines ersten Kapitels ihrer neuen Darstellung –, der breiteren Öffentlichkeit unterbreiten wird (1797/98).18 Von den unpublizierten Vorlesungen der Wissenschaftslehre nova methodo haben sich zwar nicht Fichtes Manuskripthefte, wohl aber mehrere Vorlesungsnachschriften aus verschiedenen Semestern erhalten, die Konzeption und Ausführung der Wissenschaftslehre in ihrer neuen Darstellung verläßlich dokumentieren.19 Außerdem erscheint ab Herbst 1797 bogenweise und im März 1798 in Buchform20 Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre,21 auf der Grundlage von Jenaer Vorlesungen über die Moralphilosophie vom Wintersemester 1797/98.22 Schließlich gehören auch die im Gefolge des Atheismusstreits veröffentlichten nicht streng wissenschaftlich sondern »populair« gehaltenen Verteidigungs- und Erläuterungsschriften der Jahre 1799 bis 1801 in den Umkreis der Wissenschaftslehre nova methodo. Dies gilt insbesondere für die Erbauungsschrift Die Bestimmung des Menschen (1800)23 und die Streitschrift Sonnenklarer Bericht an das größere Publicum über das Wesen der neuesten Philosophie (1801),24 auch wenn einzelne Interpreten in der Bestimmung des Menschen, und speziell in deren Drittem Buch, das mit ›Glaube‹ betitelt ist, bereits den Übergang zur späteren Wissenschaftslehre, mit ihrem Rekurs auf ›das Absolute‹, ›das Seyn‹ oder ›Gott‹ meinen feststellen zu können. Doch den Schritt vom absoluten Ich zum absoluten Sein vollzieht Fichte erst – nach weiterer dreijähriger intensiver Arbeit an der Wissenschaftslehre – in den fünf Darstellungen der Wissenschaftslehre
17
Vgl. GA I/2, 175. Vgl. GA I/4, 183–281. 19 Vgl. GA IV/2, 17–267 (Nachschrift Halle); GA IV/3, 323–535 (Nachschrift Krause) sowie Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. v. Erich Fuchs. Hamburg 21994. 20 Vgl. J. G.. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Band 5: 1812–1814. Hrsg. v. Erich Fuchs. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 264–66. 21 Vgl. GA I/5, 20–317. 22 Vgl. GA IV/1, 7–148. 23 Vgl. GA I/6, 185–331. 24 Vgl. GA I/7, 183–268. 18
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aus dem Doppeljahr 1804/05.25 Noch die Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1801/02, die in Gestalt des Originalmanuskripts der von Fichte selbst weder publizierten noch für die Publikation vorgesehenen privaten Berliner Vorlesungen verfügbar ist,26 behandelt den Begriff des Wissens, speziell in Gestalt des apodiktisch gewissen und nur auf sich selbst gegründeten oder ›absoluten Wissens‹, als Ausgangs- wie Zielpunkt der Wissenschaftslehre. Daß der Zeitrahmen der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre durchaus bis in die ersten Jahre von Fichtes Aufenthalt in Berlin reicht, geht deutlich hervor aus Fichtes im Januar 1801 veröffentlichter Ankündigung der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, bei der es sich um die im Stil einer Überarbeitung durchzuführende Ausarbeitung der Manuskriptversion der Wisssenschaftslehre nova methodo der Jahre 1796/99 handeln soll, deren Anfangszeitpunkt er dabei im übrigen explizit auf das Jahr 1795 datiert: »Seit fünf Jahren befindet sich eine neue Darstellung der Wissenschaftslehre in meinem Pulte, nach welcher ich meine Vorlesungen über diese Wissenschaft zu halten pflegte. Ich bin diesen Winter mit einer Umarbeitung dieser neuen Darstellung beschäftigt, und hoffe dieselbe künftigen Frühling dem Publikum gedrukt vorlegen zu können.«27 Auch Fichtes Briefwechsel mit Schelling aus den Jahren 1800 und 1801 bestätigt die anhaltende Geltung der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Freilich konnten weder Schelling noch alle anderen, die nicht bei den Jenaer Vorlesungen zur Wissenschaftslehre nova methodo der Wintersemester 1796/97, 1797/98 und 1798/99 gegenwärtig gewesen waren, deren Inhalt oder auch nur deren Grundzüge kennen. So verweist Fichte denn auch Schelling gegenüber zur Klärung zwischen ihnen strittiger Fragen auf die geplante Publikation der »neue[n] Darstellung« der Wissenschaftslehre.28 Für die unmittelbare Einsichtnahme in deren Gedankengang kann er ihn vorerst nur auf eine populäre Kurzversion in Gestalt bloßer »Winke« im Dritten Buch der Bestimmung des Menschen 25
Vgl. GA II/7, 66–235 (Wissenschaftslehre 1804, 1. Vortrag); GA II/8, 2–421 (Wissenschaftslehre 1804, 2. Vortrag); GA II/7, 301–368 (Wissenschaftslehre 1804, 3. Vortrag); GA II/7, 378–489 (Die Principien der Gottes- Sitten- u. Rechtslehre) und GA II/9, 179–311 (Wissenschaftslehre 1805, ›Erlangen‹). 26 Vgl. GA II/6, 129–324. 27 GA I/7, 153–167, hier 153 (Beilage Nr. 1 zur Nr. 24 der Cottaschen Allgemeinen Zeitung vom 24. 1. 1801). 28 GA III/4, 360 (Brief Fichtes an Schelling vom 15. 11. 1800).
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verweisen.29 Auch referiert und resümiert Fichte in der Korrespondenz mit Schelling in den Jahren 1800 und 1801 wichtige theoretische Positionen, die im Horizont der Ausführungen der Wissenschaftslehre nova methodo stehen, insbesondere zur prädisjunktiven Einheit von Idealem und Realem im Ich sowie zur Deduktion der Individualität und der Sozialität des Ich.30 Der chronologische Rahmen von Fichtes ›neuer Darstellung der Wissenschaftslehre‹ reicht damit nachweislich vom Jahr 1795 bis in das Jahr 1801 und umfaßt das Gros von Fichtes Jenaer Produktion unter Einschluß der ganz frühen Berliner Nachlaßnotizen, Vorträge und Publikationen der Jahre 1800/1801 und unter Ausschluß der gegenüber der Wissenschaftslehre nova methodo wesentlich veränderten ›Darstellung der Wissenschaftslehre‹ von 1801/02. Wer Fichtes Systemdenken um 1800 in den Blick nehmen will, sollte dies deshalb nicht anachronistisch in Vorwegnahme eines erst 1804 manifest gewordenen Entwicklungsstandes tun, sondern im Rekurs auf die gesamte zweite Phase von Fichtes Jenaer Periode, in deren Mittelpunkt die Wissenschaftslehre nova methodo steht, die ihrerseits geprägt ist von der systematisch erweiterten Darstellung der Wissenschaftslehre als Willenslehre und der systematisch veränderten Darstellung der Wissenschaftslehre als praktischer Philosophie.31 Genau diese doppelte Innovation annonciert aber Fichtes Programmformel aus dem Jahre 1795, deren Einsatz damit als der dokumentierte Beginn der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre angesehen werden kann. Fichtes briefliche Äußerungen vom Frühjahr 1795, die in der Programmformel vom ersten System der Freiheit münden, entsprechen nämlich der soeben skizzierten Zwischensituation von Fichtes Denkbiographie zum damaligen Zeitpunkt. Mit dem Verweis auf den »ersten Grundsatz[e]«, mittels dessen die Wissenschaftslehre qua Freiheitssystem den Menschen »als selbständiges Wesen« hinstellt,32 verweist Fichte zwar noch zurück auf den »Erste(n), schlechthin unbegingte(n) Grundsatz« im § 1
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GA III/4, 405 (Brief Fichtes an Schelling vom 27. 12. 1800). A. a. O., 360 (Brief Fichtes an Schelling vom 15. 11. 1800) bzw. GA III/5, 46 (Brief Fichtes an Schelling 31. 5. 1801). 31 Zum theoretisch-praktischen Doppelcharakter Wissenschaftslehre in ihrer neuen Darstellung als transzendentaler Theorie des Wollens vgl. v. Verf.: Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambridge 1998. Paperback-Ausgabe 2002. Im folgenden zitiert als »Verf., Fichte’s Transcendental Philosophy«, mit Angabe der Seitenzahl. 32 GA III/2, 298. 33 Ebd. 30
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der Grundlage von 1794.33 Doch mit dem Hinweis auf die »Vollendung meines Werkes« und die noch zu leistende »Vervollständigung« oder »Darstellung meines Systems«34 benennt Fichte zugleich ein zum damaligen Zeitpunkt bestehendes doppeltes systematisches Desiderat für die eigene weitere philosophische Arbeit. Zum einen ist die, vorerst nur ihren drei Grundsätzen und ersten achten Lehrsätzen nach grundgelegte Wissenschaftslehre zu ergänzen um bereichsspezifische Anwendungen der Fundamentalphilosophie auf diverse Wissensgegenstände, insbesondere auf Natur, Recht, Moral und Religion, die allesamt nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre und als deren integraler Bestandteile auszuführen sind.35 Allerdings hat Fichte, bedingt durch äußere Umstände in Folge des sogenannten Atheismusstreits, nur die Rechts- und Sittenlehre in Vorlesungs- und Buchform ausgearbeitet und publik gemacht. Zum anderen besteht zum Zeitpunkt von Fichtes Gebrauch der Programmformel vom ersten Freiheitssystem eine Ergänzungsbedürftigkeit der Wissenschaftslehre auch und gerade in ihrer Grundlegung, noch unabhängig von der anzuschließenden Anwendung auf die diversen Gebiete des Wissens. Zwar war der theoretische Teil der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre mit der »Deduktion der Vorstellung« zu einem systematischen Abschluß gebracht worden,36 dem gegenüber nur der Übergang in die »Wissenschaft des Practischen« argumentativen Fortschritt und die Komplettierung des Systems der Wissenschaftslehre leisten konnte. Doch blieb gerade der für die systematische Abschlußleistung vorgesehene Schlußteil der Grundlage, dessen Umfang durch den für die ihm zugrundeliegenden Vorlesungen zur Verfügung stehenden Zeitrahmen bestimmt war, faktisch unvollendet.37 Insbesondere fehlt in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre die Herleitung des an die praktischen Kategorien von Trieb, Sehnen und Streben systematisch anzuschließenden zentralen Konzepts des Willens, über das auch erst die Fundamentalkategorie der Freiheit ihren systematischen Ort erhalten hätte. In Anbetracht dieser Befunde ist davon auszugehen, daß sich die Programmformel vom ersten System der Freiheit prognostisch und proleptisch auf die neue Darstellung der Wissenschaftslehre als ursprünglich praktischer Philosophie mit der Freiheit als Systemprinzip bezieht. 34
A. a. O., 300. Vgl. GA IV/2, 262–266 (Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift Halle). 36 Vgl. GA I/2, 369–384. 37 Vgl. dazu auch Reinhard Lauth: Die Frage der Vollständigkeit der Wissenschaftslehre im Zeitraum von 1793–1796, in: ders.: Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis. Neuried 1994, 57–120. 35
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4. Vom »System über Freiheit« zum »System der Freiheit« Mit der Programmformel von der Wissenschaftslehre als erstem Freiheitssystem erhebt Fichte zunächst einen historischen Anspruch. Die Wissenschaftslehre wird von ihm nicht etwa als das erstrangige System der Freiheit präsentiert, dem andere solche Systeme nachzuordnen wären. Vielmehr ist die Wissenschaftslehre das erste aufgestellte System der Freiheit überhaupt und damit zugleich das einzige bislang vorliegende oder doch konzipierte Freiheitssystem. Die Präzedenzlosigkeit von Fichtes systematischem Anspruch beeinträchtigt insbesondere den möglichen Anspruch Kants auf denselben Titel. Mit dem Hinweis auf den bei Kant noch vorfindlichen unfreien Einfluß der Dinge an sich markiert Fichte den prinzipiellen Unterschied zwischen der kritischen Transzendentalphilosophie – die bei aller Idealisierung und Subjektivierung formaler gegenstandskonstitutiver Bestimmungen (reine Anschauungen, reine Verstandesbegriffe) materiale aposteriorische Bestimmungen (Empfindungen) als Affektionen auf vorauszusetzende Einwirkungen durch Dinge an sich zurückführt – und der Wissenschaftslehre als vollständigem Idealismus, der die Empfindung (›Gefühl‹) auf die selbstbeschränkend-selbstbeschränkte, zur nur scheinbaren Passivität verminderte Tätigkeit zurückführt. An die Stelle inskrutabler pluraler Dinge an sich tritt bei Fichte der »Anstoß«38 als irreduzibler und indeduzibler Ausgangspunkt für die Verendlichung der ursprünglich unendlichen Tätigkeit des Vernunftsubjekts (›Ich‹). Damit bleibt die Funktion des Dings an sich als explanas endlicher Aktivität erhalten, ohne daß dieses zu einem kausalen Akteur substantialisiert werden müßte. Die von Fichte gegen alle bisherige Philosophie, einschließlich der kantischen, geltend gemachte erstmalige Befreiung von den Dingen an sich betrifft also zunächst eine Freiheit in epistemischer Hinsicht. Auch in der beim theoretischen Wissen vorliegenden Bestimmung des Subjekts durch das Objekt soll es sich, nach Maßgabe des der Politik entlehnten theoretischen Freiheitsprogramms nicht um eine von außen erfolgende Fremdbestimmung handeln, sondern um eine Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung, genauer: um die Selbstbestimmung des Ich durch das Ich zur Fremdbestimmung des Ich durch das Nicht-Ich, die deshalb die interne Pluralisierung des Ich – seine Selbstunterscheidung und Selbstentgegensetzung – beinhaltet.
38
Vgl. GA I/2, 355 ff.
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Doch mit der historischen und epistemischen Spezifizierung sind Sinn und Anspruch der Fichteschen Programmformel noch keineswegs erschöpft, zumal die von Fichte dem Ich vindizierte Fremdbestimmung in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre nicht als Vollzug von Freiheit oder als Vorgang von willentlicher (Selbst-)Bestimmung eingeführt wird, sondern als vor- und außerbewußte ursprünglich-unbedingte Tätigkeit (›sich setzen‹) bzw. von deren Selbstopposition (›sich entgegensetzen‹) und Selbstdiminution (›sich teilbarsetzen‹).39 Die Freiheit, von der in der Programmformel die Rede ist, wäre deshalb wohl nicht – jedenfalls nicht primär und sicher nicht exklusiv – auf die Unbedingtheit oder Absolutheit des grundsätzlichen Setzens in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zurückbeziehen. Vielmehr wäre sie vorauszubeziehen auf die umfassende systematische Funktion der Freiheit in der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in der das Wollen und speziell das absolute, von aller Fremdbestimmung freie Wollen (›reine Wollen‹) im Zentrum des Systems steht.40 Der von Fichte vollzogene Übergang von der ersten, in mehrfacher Hinsicht unvollständigen Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem ersten Jenaer Doppeljahr (1794/95) zur neuen, vervollständigten Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren von 1795 bis 1801 dokumentiert sich schon in der veränderten Konjunktion von Systemgedanke und Freiheitsgedanke in den beiden Textcorpora. In der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre werden die Schlüsselbegriffe ›System‹ und ›Freiheit‹ nur einmal zusammengebracht und dies in negativer Absicht, um den intelligiblen Fatalismus als das »konsequenteste(n) System über Freyheit« zu kennzeichnen, »das vor der Begründung einer Wissenschaftslehre möglich war«.41 Die damit implizit vorgenommene Charakteristik der Wissenschaftslehre als des konsequentesten »Systems über Freyheit« betrifft, wie aus dem Kontext der einschlägigen Stelle hervorgeht, speziell die Unendlichkeit und damit die Unbeschränktheit und Unbestimmtheit der »reine(n) Thätigkeit« des Ich, die nicht an sich oder durch sich selbst, sondern erst durch den auf sie erfolgenden Anstoß umgelenkt und damit
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Vgl. GA I/2, 255 ff. Vgl. GA IV/2, 113 ff. (Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift Halle). Zur systematischen Funktion des reinen Wollens bei Fichte siehe v. Verf., Fichte’s Transcendental Philosophy sowie ders.: Einheit und Differenz von Fichtes Theorie des Wollens, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), 430–440 und ders.: Denken und Wollen beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 17 (2000), 283–298. 41 GA I/2, 398 Anm. 40
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verendlicht wird. Die Wendung »System für die Freyheit« meint hier also ein Lehrsystem über das Ich, in dem – anders als im Lehrsystem des intelligiblen Fatalismus – der Freiheit ein systematischer Ort in der Lehre vom Ich zugewiesen wird: das Ich ist als solches, diesseits seiner anstoßinduzierten Selbstbeschränkung, unbedingt oder absolut tätig und insofern als frei anzusehen. Über die spezifische Verbindung der Freiheit mit dem als Lehrbegriff verstandenen Systembegriff geht nun die neue Programmformel von der Wissenschaftslehre als dem »ersten System der Freiheit« hinaus, insofern sie nicht bloß das reine, absolute Ich unter den Lehrbegriff der Freiheit – statt unter den des (intelligiblen) Fatalismus – bringt, sondern die Philosophie qua Wissenschaftslehre insgesamt der Freiheit als architektonischem Systemprinzip subordiniert.42 In der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre ist die Freiheit nicht nur Ausgangsmoment der Selbstentfaltung des Ich, sondern der die Individualisierung, Pluralisierung und Sozialisierung des Ich durchwaltende Grundcharakter des Ich. Für die systematische Darstellung der ichlichen Grundverfaßtheit allen Wissens – subjektiv, im Hinblick auf das Wissende, wie objektiv, im Hinblick auf das Gewußte – bedeutet dies die Doppelfunktion der Freiheit als Prinzip des Systems im ganzen wie in jedem seiner Teile. Insbesondere zielt die neue Darstellung der Wissenschaftslehre darauf ab, Freiheit auch und gerade als Prinzip der theoretischen Philosophie zu erweisen – und dies nicht mehr nur indirekt, über die Funktion der praktischen Philosophie für die Komplettierung der in eine Aporie mündenden theoretischen Philosophie, wie dies im Verhältnis des theoretischen Teils zum praktischen Teil der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre der Fall gewesen war.43 Vielmehr soll nunmehr die Freiheit direkt die theoretische Philosophie als solche begründen, durch ihre Funktion als praktisches Prinzip des theoretischen Wissens: »Das Vernunftwesen, welches […] sich selbst als absolut frei, und selbstständig setzen soll, kann dies nicht, ohne zugleich auch seine Welt theoretisch auf eine gewisse Weise zu bestimmen. […] – Die Freiheit ist ein theoretisches Princip.«44 42
Zur Doppelbedeutung von ›System‹ als Lehrbegriff und Lehrgebäude schon bei Kant vgl. v. Verf.: Die »Seele des Systems«. Systembegriff und Begriffssystem in Kants Transzendentalphilosophie, in: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus I. Architektonik und System in der Philosophie Kants. Hrsg. v. Hans Friedrich Fulda u. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2001, 53–72. 43 Vgl. GA I/2, 383 f. 44 GA I/5, 82 (Das System der Sittenlehre) Hvh. v. Verf..
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Die streng wissenschaftliche Version des Systemprojekts der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre ist die Deduktion gegenständlicher Bestimmtheiten von Ich wie Nicht-Ich als Möglichkeitsbedingungen des praktischen Selbstbewußtseins. Dabei folgt die Deduktion dem Schema der Fragestellung: Wie muß sich ein endlich-unendliches, der theoretischen Erkenntnis fähiges und zum praktischen Handeln selbstverpflichtetes Wesen (unsereins) die Welt als den Schauplatz für die Bewährung seiner vernünftigen Praktizität vorstellen (›setzen‹).45 Die populäre Gestalt des neuen, eleutheriologischen Deduktionsprogramms ist die propagierte Letztbegründung des Wissens im freiwillig angenommenen Glauben, wie ihn das Dritte Buch der Bestimmung des Menschen vorführt.46 In architektonischer Hinsicht schließlich annonciert die Programmformel vom ersten System der Freiheit die Integration der theoretischen Philosophie in die praktische Philosophie.47 Das Zentrum der als praktische Philosophie grundgelegten wie ausgeführten Wissenschaftslehre bildet in deren neuer Darstellung die Lehre vom reinen Willen und vom unbedingten Wollen als der absoluten prädisjunktiven Grundlage von Gegenstandserkennen wie Zweckhandeln, die allem individuell-bestimmten Ich und Nicht-Ich als Inbegriff von Bestimmbarkeit vorauszusetzen ist. Diese Absolutheitsfunktion reinen Wollens in der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre dürfte auch den Ausgangspunkt gebildet haben für ihre Fortbildung zur Wissenschaftslehre vom absoluten Sein in den Darstellungen aus dem Jahr 1804, insbesondere im sog. Zweitem Vortrag. Auch lassen die ganz späten Darstellungen der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1810 bis 1814 mit ihrer Wiederaufnahme der Willens- und Freiheitskonzeptualität in den Kernbestand der Wissenschaftslehre48 darauf schließen, daß Fichte durchweg
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Vgl. dazu die Ausführungen zur Realität der Welt als Bedingung des praktischen Selbstbewußtseins in GA I/3, 348 (Grundlage des Naturrechts). 46 Zum Glaubensbegriff der Bestimmung des Menschen siehe v. Verf.: »Das Element aller Gewissheit«. Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben, in: Fichte-Studien 14 (1998), 21–41. 47 Vgl. dazu die Ausführungen zum systemarchitektonischen Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie in der Wissenschaftslehre nova methodo: GA IV/2, 17 (Nachschrift Halle). Zum Gesamtcharakter von Fichtes Philosophie als praktischer Philosophie vgl. Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung. Hrsg. v. Hans Georg von Manz u. Verf. Hildesheim 2006. 48 Vgl. dazu v. Verf.: Denken und Wollen beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 17 (2000), 283–298; ders.: Leben und Wissen. Der Stand der Wissenschaftslehre beim letzten Fichte, in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo und Giovanni Moretto. Stutt-
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an der systematischen Zentralität der Freiheit festgehalten hat und daß die von ihm 1795 geprägte Programmformel vom ersten System der Freiheit auch über den Zeitraum der sogenannten neuen Darstellung der Wissenschaftslehre hinaus Geltung beanspruchen darf.
gart-Bad Cannstatt 2001, 307–330; ders.: »On revient toujours … «. Die transzendentale Theorie des Wissens beim letzten Fichte, in: Fichte-Studien 20 (2003), 253–266 und ders.: Fichte in Berlin in München. Eröffnungsvortrag des Präsidenten der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft, in: Fichtes letzte Darstellungen der Wissenschaftslehre. Beiträge des Fünften Internationalen Fichte-Kongresses München 2003. Band 1. Hrsg. v. Verf. u. Hans Georg von Manz. Fichte-Studien 28 (2006), 1–14.
Stefan Lang Fichtes Programm einer Geschichte performativen Selbstbewußtseins
Die idealistischen Systeme Johann Gottlieb Fichtes und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings um 1800 sind maßgeblich von einem Theorieprogramm beeinflußt, welches Fichte im praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 entwickelt.1 Es ist dies das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins.2 Im Rahmen dieses Theorieprogramms entwickelt Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre eine Theorie des Begriffs vom Ich, welche als eine performative Theorie von Selbstbewußtsein bezeichnet werden kann und erweitert damit das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins zu einer Geschichte performativen Selbstbewußtseins.3 Die Entwicklung des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins und die Entwicklung einer performativen Theorie von Subjektivität können somit zu den zentralen Aufgabenstellungen und innovativen Leistungen von Johann Gottlieb Fichte um 1800 gezählt werden. Im folgenden werden wesentliche Merkmale dieses Theorieprogramms identifiziert sowie Fichtes performative Theorie des Begriffs vom Ich in dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre dargestellt.4
1
Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: als Handschrift für seine Zuhörer (1794/95). Hamburg 1997, 141. Im folgenden zitiert als »Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, mit Angabe der Seitenzahl. 2 Die Bezeichnung Geschichte des Selbstbewußtseins verwendet Schelling im System des transzendentalen Idealismus. Fichte bezeichnet seine Untersuchung in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 als eine pragmatische Geschichte des Bewußtseins. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1992, 67. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 141. 3 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Erste Einleitung. Zweite Einleitung. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. StuttgartBad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. I, Band 4 (1970). Im folgenden zitiert als »Fichte, Versuch einer neuen Darstellung«, mit Angabe der Seitenzahl bzw. als »Fichte, Erste oder Zweite Einleitung«, mit Angabe der Seitenzahl. 4 In der Idealismus-Forschung hat sich bisher nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Philosophen mit dem Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins beschäftigt. Die erste systematische Untersuchung hat Ulrich Claesges in den 1970er Jahren v. a. mit Bezug auf Fichtes frühe Wissenschaftslehre vorgelegt. Mitte der 1990er Jahre wurde von Klaus Düsing erstmalig der Versuch einer Reformulierung dieses Theoriepro-
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1. Fichtes Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins In § 5 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre entwickelt Fichte im genetischen Beweis das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins.5 Es ist dies das Programm einer handlungstheoretischen Untersuchung menschlicher Subjektivität, die sich dadurch auszeichnet, daß die Perspektive der ersten Person das die Untersuchung leitende Paradigma ist. Die Entwicklung der Theorie wird in Fichtes Geschichte des Selbstbewußtseins von der Untersuchung der Frage bestimmt, wie das Subjekt der Untersuchung selber Selbstbewusstsein entwickelt. »Das Ich«, so erläutert Fichte im genetischen Beweis in § 5 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre »soll sich nicht […] selbst setzen für irgendeine Intelligenz außer ihm, sondern es soll sich für sich selbst setzen«.6 Im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der Perspektive der ersten Person wird in einer Geschichte des Selbstbewußtseins der Unterschied zwischen der Perspektive des Subjekts der Untersuchung und der Perspektive des Lesers/Theoretikers thematisiert. Der Leser/Theoretiker erhält Informationen über die methodische Verfahrensweise der Unter-
gramms unternommen. Düsing entwickelt eine eng an den idealistischen Entwürfen einer Geschichte des Selbstbewußtseins orientierte Theorie menschlicher Subjektivität, die eine Typologie von Selbstbeziehungsmodellen enthält. Jürgen Stolzenberg hat die Entwicklung von Fichtes Programm einer Geschichte des Selbstbewusstseins, beginnend bei den nicht zur Ausführung gelangten Ansätzen Karl Leonhard Reinholds, sowie die Umsetzung dieses Programms in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes untersucht. Vgl. Ulrich Claesges: Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794–95. Den Haag 1974. Im folgenden zitiert als »Claesges, Geschichte des Selbstbewußtseins«, mit Angabe der Seitenzahl. Klaus Düsing: Strukturmodelle des Selbstbewußtseins. Ein systematischer Entwurf, in: Fichte-Studien 7 (1995), 7–26. Klaus Düsing: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. München 1997. Im folgenden zitiert als »Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle«, mit Angabe der Seitenzahl. Jürgen Stolzenberg: »Geschichte des Selbstbewußtseins«. Reinhold Fichte – Schelling, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism. Hrsg. v. Karl Ameriks u. dems. Band 1: Konzepte der Rationalität im Deutschen Idealismus. Berlin u. a. 2003, 93–113. Im folgenden zitiert als »Stolzenberg, Geschichte des Selbstbewußtseins«, mit Angabe der Seitenzahl. Ders.: Geschichten des Selbstbewußtseins. Fichte – Schelling – Hegel, in: B. Sandkaulen / V. Gerhardt / W. Jaeschke (Hg.), Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Hegel-Studien Beiheft 52. Hamburg 2009. Im folgenden zitiert als »Stolzenberg, Gestalten des Bewußtseins«, mit Angabe der Seitenzahl. 5 Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 188 ff. 6 A. a. O., 191. Die Kursivierungen entsprechen dem Original.
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suchung und die Konstitution von Subjektivität, welche dem Subjekt der Untersuchung verborgen bleiben. Zudem verfügt der Leser/Theoretiker anhand von Fichtes Erläuterungen und Einführung in die Untersuchung über Begriffe von Subjektivität, von denen in der Entwicklung der Theorie gezeigt wird, wie das Subjekt der Untersuchung diese Begriffe entwikkelt.7 In Fichtes handlungstheoretischer Untersuchung menschlicher Subjektivität sind die mentalen Handlungen, die Selbstbewußtsein ermöglichen, die Prädikate des Subjekts der Bewußtseinszustände. Dies bedeutet, daß in einer Geschichte des Selbstbewußtseins eine handlungstheoretische Ontologie des Subjekts der Bewußtseinszustände entwickelt wird. Auf diese handlungstheoretische Interpretation des Selbst macht Fichte den Leser in mehreren Publikationen mit besonderem Nachdruck aufmerksam. In der Ersten Einleitung zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre betont Fichte: »Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Tun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeutet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne.«8 Die Prädikate des Subjekts der Bewußtseinszustände erfüllen in Fichtes Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins zwei Aufgaben. Die Eigenschaften des Selbst sind mentale Handlungen, die menschliches Selbstbewußtsein ermöglichen und zugleich notwendige Bedingungen von menschlicher Erfahrung darstellen.9 Zu den Bedingungen menschlicher Erfahrung, die in einer Geschichte des Selbstbewußtseins identifiziert werden, zählen aber nicht nur mentale Handlungen des Subjekts der Bewußtseinszustände. Es werden auch subjektunabhängige Bedingungen identifiziert, wie z. B. der Anstoß, d. h. ein nicht vom Subjekt erzeugter Inhalt, insofern sie für die Erklärung der Konstitution von menschlicher Erfahrung und Selbstbewusstsein erforderlich sind. Ein besonderes Merkmal des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins besteht darin, daß die Bedeutung der Prädikate des Subjekts 7
Hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung die Unterscheidung dieser Perspektiven für die Entwicklung der Theorie besitzt, unterscheiden sich die idealistischen Geschichten des Selbstbewußtseins. Eine ausführliche systematische Darstellung dieser Unterschiede ist ein Desiderat der Idealismus-Forschung. 8 Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 200. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre 1796, in: GA I/3, 313 f. Im folgenden zitiert als »Fichte, Grundlage des Naturrechts«, mit Angabe der Seitenzahl. 9 Die Ausdrücke ›Subjekt der Bewusstseinszustände‹, ›Selbst‹ und ›Subjekt‹ werden, wenn nicht anders angegeben, synonym verwendet.
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der Bewußtseinszustände theorieimmanent bestimmt wird.10 Die Bedeutung der Prädikate des Subjekts wird nicht von philosophischen Theorien, wie etwa Kants kritischer Erkenntnistheorie, übernommen. Die Bedeutung der Prädikate des Subjekts wird in der Entwicklung der Theorie begründet, indem die Bedeutung der Prädikate mit der Funktion identifiziert wird, welche die Prädikate in der Geschichte des Selbstbewußtseins erfüllen.11 So bezeichnet z. B. der Trieb ein »sich selbst produzierendes Streben […] das festgesetzt, bestimmt, etwas Gewisses ist«12 und trägt u. a. dazu bei zu erklären, wie die als Streben bezeichnete Handlung möglich ist.13 Schließlich zeichnet sich Fichtes Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins dadurch aus, daß die Konstitution von Selbstbewußtsein und menschlicher Erfahrung im Rahmen einer teleologischen Entwicklungsgeschichte erklärt wird. D. h. daß in einer Geschichte des Selbstbewußtseins eine Theorie notwendig aufeinander folgender mentaler Handlungen des Selbst entwickelt wird, der ein bestimmtes Ziel zugrunde liegt. Das Ziel von Fichtes Geschichte des Selbstbewußtseins besteht darin zu erklären, wie das Subjekt der Untersuchung ein Bewußtsein von demjenigen Begriff von Subjektivität gewinnt, mit dem die Theorie einsetzt. Die wesentlichen Merkmale von Fichtes Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins sind somit, daß erstens eine handlungstheoretische Untersuchung von menschlichem Selbstbewußtsein und menschlicher Erfahrung entwickelt wird, in der zweitens die Perspektive der ersten Person das die Untersuchung leitende Paradigma ist. Indem die mentalen Handlungen des Subjekts mit den Prädikaten des Subjekts der Bewußtseinszustände identifiziert werden, wird in Fichtes Geschichte des Selbstbewußtseins drittens eine handlungstheoretische Ontologie des Selbst entwickelt. Die Bedeutung der Prädikate des Selbst wird viertens in der Entwicklung der Theorie anhand der Funktion bestimmt, welche die Prädikate in der Entwicklung der Theorie erfüllen. Schließlich besagt das fünfte Merkmal des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins, daß in der Theorie im Rahmen einer teleologischen Entwicklungsgeschichte gezeigt wird, wie das
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Vgl. Stolzenberg, Geschichte des Selbstbewußtseins. Vgl. ferner: Jürgen Stolzenberg: Fichte heute, in: Information Philosophie. Online (27. August 2009): http://www. information-philosophie.de/?a=1&t=2503&n=2&y=5&c=29. 11 Vgl. Stolzenberg, Geschichte des Selbstbewußtseins; Stolzenberg, Gestalten des Bewußtseins. 12 Vgl. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 204. 13 Vgl. ebd.
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Subjekt der Untersuchung ein Bewußtsein von dem Begriff von Subjektivität entwickelt, von dem die Theorie ausgeht. Die erste Wissenschaftslehre, welche dieses Theorieprogramm vollständig entwickelt, ist die Wissenschaftslehre nova methodo. Wie Günter Zöller in seinem Beitrag in diesem Band zu Recht feststellt, fehlt in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre eine ›Herleitung‹ des reinen Willens, d. h. eine Darstellung, wie das Subjekt der Untersuchung ein Bewußtsein von dem Begriff von Subjektivität entwickelt, mit dem die Untersuchung einsetzt. Fichtes Entwurf des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins im praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre unterscheidet sich daher von dem Theorieprogramm, das den idealistischen Geschichten des Selbstbewußtseins von Fichte und Schelling um 1800 zugrunde liegt. Im Unterschied zu den Darstellungen der Geschichten des Selbstbewußtseins um 1800 zeigt die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre nicht, wie das Subjekt der Untersuchung ein Bewußtsein von demjenigen Begriff von Subjektivität entwickelt, mit dem die Untersuchung einsetzt. Kurze Zeit vor der Entwicklung der Wissenschaftslehre nova methodo wendet Fichte das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre an.14 Die Grundlage des Naturrechts enthält somit die erste Anwendung des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins. Dies wurde in der Idealismus-Forschung bisher nicht näher untersucht.
2. Die Darstellung des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins in der Grundlage des Naturrechts Frederick Neuhouser hat in dem Aufsatz The Efficacy of the Rational Being15 die Aufgabenstellung der Grundlage des Naturrechts folgendermaßen zusammengefaßt: Fichtes Anliegen in der Grundlage des Naturrechts ist es,
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Der erste Teil der Grundlage des Naturrechts erschien im Frühjahr 1796. Die erste Vorlesung der Wissenschaftslehre nova methodo hat Fichte im Wintersemester 1796/97 gehalten. Es ist jedoch möglich, daß Fichte bereits zur Zeit der Entwicklung der Grundlage des Naturrechts die Entwicklung der Wissenschaftslehre nova methodo begonnen hatte. Vgl. hierzu die Anmerkungen der Herausgeber der Gesamtausgabe der Werke Fichtes, in: Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo WS 1796/99. Kollegnachschrift Halle, in: GA IV/2, 8 f. Im folgenden zitiert als »Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo«, mit Angabe der Seitenzahl. 15 Frederick Neuhouser: The Efficacy of the Rational Being (First Proposition: § 1), in:
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1) den Inhalt des Begriffs vom Recht zu bestimmen, 2) zu zeigen, daß der Begriff vom Recht eine notwendige Vernunftidee ist und 3) zu zeigen, wie dieser Begriff vom Recht in der Erfahrungswelt angewandt werden kann.16 Wie Neuhouser zu Recht anführt, löst Fichte diese Aufgabenstellung, indem er den Begriff vom Recht als eine notwendige Bedingung von Selbstbewußtsein identifiziert: »The key to articulating Fichte’s strategy for achieving these goals lies in his understandig of what ›deduction‹ consists in […] ›deduction‹ in the present context refers to a species of transcendental argument. According to his view, philosophy proves the rational necessity of the concept of right by showing it to be a necessary condition of the possibility of self-consciousness.«17 Unter Selbstbewußtsein versteht Fichte in der Grundlage des Naturrechts das Bewußtsein, Zweckbegriffe entwickeln sowie spontan und ›selbstbestimmt‹ handeln zu können.18 Fichte betont, daß bei der Identifizierung der notwendigen Bedingungen von Selbstbewußtsein die Perspektive der ersten Person das die Untersuchung leitende Paradigma ist. Fichte zeigt in der Grundlage des Naturrechts, wie das untersuchte Subjekt selbst ein Bewußtsein von sich selbst entwickelt: Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts. Hrsg. v. Jean-Christophe Merle. Berlin 2001, 39–50. Im folgenden zitiert als »Neuhouser, The Efficacy of the Rational Being«, mit Angabe der Seitenzahl. 16 Vgl. Neuhouser, The Efficacy of the Rational Being, 39. Zur Bedeutung des Rechtsbegriffs in der Grundlage des Naturrechts vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 319 f. 17 Neuhouser, The Efficacy of the Rational Being, 39. 18 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts., 319: »Im Begriffe der Freiheit liegt zuvörderst nur das Vermögen durch absolute Spontaneität, Begriffe von unsrer möglichen Wirksamkeit zu entwerfen; und nur dieses bloße Vermögen schreiben vernünftige Wesen einander mit Nothwendigkeit zu.« A. a. O., 343: »Das Subjekt kann sich nicht genöthigt finden, auch nur überhaupt wirklich zu handeln; es wäre dann nicht frei, noch ein Ich. […] Wie und in welchem Sinne ist es denn also bestimmt zur Wirksamkeit, um sich als ein Objekt zu finden? Lediglich in so weit, daß es sich findet als etwas, das hier wirken könnte, zum Wirken aufgefordert ist, aber es eben sowohl auch unterlassen kann.« Es ist dies ein intentionales externalistisches praktisches Selbstbewußtsein, d. h. ein Bewußtsein von der eigenen praktischen Spontaneität, das durch eine externe Ursache ermöglicht wird und das ein Bewußtsein von dieser externen Beeinflussung enthält: »Die Frage war: wie vermag das Subjekt sich selbst zu finden als ein Objekt? […] Es konnte, um sich als Objekt (seiner Reflexion) zu finden, sich nicht finden, als sich bestimmend zur Selbstthätigkeit […] sondern als bestimmt dazu durch einen äussern Anstoß, der ihm jedoch seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muss«. A. a. O., 343.
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»Für dieses reflektirende Ich nun soll ein anderes Ich, d. h. dieses Ich soll für sich selbst, Objekt seyn. Wie ist dies möglich? davon wird hier geredet.« 19 Das Subjekt der Bewußtseinszustände ist also nicht nur der Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern das Ziel der ›Deduktion des Begriffs vom Recht‹ besteht darin zu zeigen, wie das Subjekt Selbstbewußtsein entwickelt. Fichte erklärt in der Grundlage des Naturrechts die Konstitution von Selbstbewußtsein, indem er notwendig aufeinander folgende mentale Handlungen des Subjekts als auch intersubjektive Bedingungen von menschlichem Selbstbewußtsein identifiziert.20 Zu den intersubjektiven Bedingungen zählt z. B. die gegenseitige Anerkennung von Subjekten als vernünftige Wesen, die Zwecke setzen und in der Erfahrungswelt verwirklichen können.21 Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet jedoch die Identifizierung von mentalen Handlungen des Selbst, die Fichte mit den Prädikaten des Subjekts identifiziert: »Das vernünftige Wesen ist, lediglich inwiefern es sich, als seyend sezt, d. h. inwiefern es sich seiner selbst sich bewußt ist. […] es thut sonach nothwendig alles dasjenige, was zu seinem Setzen durch sich selbst gehört, und in dem Umfange der durch dieses Setzen ausgedrückten Handlung liegt […] es selbst ist ja sein Handeln und nichts anderes«.22 Die Bedeutung der Prädikate des Subjekts bestimmt Fichte in der Grundlage des Naturrechts, indem sie als notwendige Bedingungen von Selbstbewußtsein identifiziert werden. Die Bedeutung der Prädikate des Subjekts wird mit anderen Worten in der Entwicklung der Theorie anhand der Funktion bestimmt, welche die Prädikate in der Erklärung der Konstitution von Selbstbewußtsein erfüllen.23 So erfüllt z. B. die Eigenschaft des Subjekts,
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Fichte, Grundlage des Naturrechts, 333. Vgl. auch Neuhouser, The Efficacy of the Rational Being, 41: »The Grundlage des Naturrechts […] inquires into the conditions under which a finite, rational subject can achieve consciousness of itself as such, and its aim is to show that the concept of right constitutes one of those conditions.« 20 Vgl. Ludwig Siep: Methodische und systematische Probleme in Fichtes ›Grundlage des Naturrechts‹, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hrsg. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1981. Axel Honneth: Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität, in: Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts. Hrsg. v. Jean-Christophe Merle. Berlin 2001, 63–80. 21 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 350 f. Ludwig Siep: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt 1992, 32. 22 Fichte, Grundlage des Naturrechts, 314. 23 Vgl. a. a. O., 315: »Dieses Wort [d. h. der Begriff, S.L.] soll hier nicht mehr, und nicht weniger bedeuten, als das hier beschriebne; ob nun der Leser bisher dasselbe dabei gedacht haben möge, oder nicht. Ich berufe mich nicht auf einen bei ihm schon
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die Fichte in § 1 der Grundlage des Naturrechts identifiziert und als Tätigkeit in der Weltanschauung bezeichnet, die Funktion zu erklären, wie die Selbstreflexion des Subjekts möglich ist.24 Fichte verwendet in der Grundlage des Naturrechts somit das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins, um den Begriff vom Recht zu bestimmen und als einen Vernunftbegriff zu erweisen. Die Grundlage des Naturrechts entwickelt eine handlungstheoretische Untersuchung von menschlichem Selbstbewußtsein, in welcher die Perspektive der ersten Person den Leitfaden der Untersuchung darstellt. In Übereinstimmung mit dem Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins werden notwendig aufeinander folgende mentale Handlungen identifiziert, die Selbstbewußtsein ermöglichen und die Prädikate des Subjekts der Bewußtseinszustände darstellen. Dabei wird die Bedeutung der Prädikate theorieimmanent begründet, indem die Bedeutung der Prädikate mit der Funktion identifiziert wird, welche die Prädikate in der Entwicklung der Theorie erfüllen. Schließlich ist in Übereinstimmung mit dem Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins das Ziel der Untersuchung zu zeigen, wie es möglich ist, daß das Subjekt der Untersuchung ein Bewußtsein von dem Begriff von Subjektivität entwickelt, mit dem die Untersuchung einsetzt. Die Grundlage des Naturrechts ist jedoch keine Darstellung der Wissenschaftslehre, d. h. des Fundaments von Fichtes philosophischem System, sondern enthält eine philosophische Begründung der Naturrechtslehre. Die Geschichte des Selbstbewußtseins, die Fichte in der Grundlage des Naturrechts entwickelt, unterscheidet sich daher in mehreren Aspekten von der Darstellung der Geschichte des Selbstbewußtseins in der Wissenschaftslehre nova methodo.25 Dies ist insbesondere daran zu erkennen,
vorhandenen Begriff, sondern ich will erst einen solchen in seinem Geiste entwickeln und bestimmen.« 24 Vgl. a. a. O., 329 f. 25 Eine systematische Untersuchung der methodischen und argumentationslogischen Unterschiede von Fichtes Darstellungen der Geschichten des Selbstbewußtseins ist nach wie vor ein Desiderat der Fichte-Forschung. In der Idealismus-Forschung gibt es zudem auch keine ausführliche systematische Untersuchung der Unterschiede zwischen den Geschichten des Selbstbewußtseins von Fichte, Schelling und Hegel. Hinweise zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Geschichten des Selbstbewußtseins in der klassischen deutschen Philosophie sind enthalten in: Claesges, Geschichte des Selbstbewußtseins; Stolzenberg, Geschichte des Selbstbewußtseins; Stolzenberg, Gestalten des Bewußtseins; Klaus Düsing: Hegels ›Phänomenologie‹ und die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins, in: Hegel-Studien 28 (1993), 103–126. Vgl. zudem Urs Richli: Ich aber fordere Sie auf, absolute Genesis ins Auge zu fassen! Realität und absolute
Fichtes Programm einer Geschichte performativen Selbstbewußtseins
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daß in der Grundlage des Naturrechts das endliche Subjekt der Ausgangspunkt der Untersuchung ist und in der Wissenschaftslehre nova methodo das absolute Subjekt. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Grundlage des Naturrechts erweitert Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins zu einer Geschichte performativen Selbstbewußtseins. Im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung eine Theorie des Begriffs vom Ich, die auf Grund ihrer Übereinstimmung mit Merkmalen von performativen Äußerungen als eine performative Theorie des Begriffs vom Ich bezeichnet werden kann. Die Aufgabe der Geschichte des Selbstbewußtseins besteht nunmehr darin, die Bedingungen zu eruieren, die erfüllt sein müssen, damit die Konstitution des Begriffs vom Ich möglich ist. Diese Geschichte performativen Selbstbewußtseins hat Fichte nicht vollständig veröffentlicht. Nach der Veröffentlichung von zwei Einleitungen zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre und der Darstellung des Ausgangspunkts der Untersuchung bricht Fichte seine neue Darstellung der Wissenschaftslehre ab.26 Die wenigen Seiten, die Fichte veröffentlicht hat, ermöglichen jedoch zumindest eine Rekonstruktion von Fichtes performativer Theorie des Begriffs vom Ich.27
3. Fichtes performative Theorie des Begriffs vom Ich im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre Daß Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich eine performative Theorie darstellt, ist zu erkennen, sobald Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich mit den Merkmalen von performativen Äußerungen verglichen wird.
Negativität in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 und in Hegels Wissenschaft der Logik, in: Realität und Gewissheit. Hrsg. v. Helmut Girndt u. Wolfgang Schrader. Amsterdam u. a. 1994, 423–434. 26 Die sachlichen Gründe, die für diesen Abbruch verantwortlich sind, sind noch nicht endgültig geklärt. 27 Der Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre hätte die für die Veröffentlichung bearbeitete Wissenschaftslehre nova methodo sein sollen. Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo liegt nur in Kollegnachschriften seiner Zuhörer vor.
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a) Performative Äußerungen In der analytischen Philosophie werden diejenigen Äußerungen als performative Äußerungen bezeichnet, in denen mit einer Äußerung eine Handlung vollzogen wird.28 So wird etwa mit der Aussage: ›Ich taufe dich auf den Namen xy.‹ eine Taufe vollzogen. Performative Äußerungen sind aber nicht nur Aussagen, die Handlungen darstellen, sondern eine performative Äußerung enthält einen semantischen Gehalt, welcher die Handlung thematisiert, die mit der performativen Äußerung vollzogen wird. So thematisiert der Gehalt der Aussage ›Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau.‹ die Handlung, die mit der performativen Äußerung vollzogen wird.29 Performative Äußerungen schließen somit in der Regel mit ein, daß die Person, die eine performative Aussage äußert, über ein Bewußtsein von der performativen Handlung verfügt. Es sind zwar Fälle möglich, in denen eine Person eine performative Aussage äußert und sich dessen nicht bewußt ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine Person eine performative Aussage in einer Sprache äußert, die sie nicht versteht. In der Regel versteht eine Person jedoch die Bedeutung der Aussage, die sie äußert, und verfügt damit über ein Bewußtsein von der Handlung, die sie vollzieht. Performative Äußerungen sind daher in der Regel wahre Aussagen: Eine Person, die eine performative Aussage äußert, vollzieht eine Handlung und verfügt über ein Bewußtsein von dieser Handlung.30
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Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 2002. Im folgenden zitiert als »Austin, Sprechakte«, mit Angabe der Seitenzahl. John L. Austin: Performative Utterances, in: Philosophical Papers. Hrsg. v. James Opie Urmson u. Geoffrey James Warnock. Oxford 1990, 233–252. Im folgenden zitiert als »Austin, Performative Utterances«, mit Angabe der Seitenzahl. Vgl. ferner Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 22001, 138 ff. 29 Vgl. etwa: Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Performanz. Zwischen Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Uwe Wirth, Frankfurt 2002, 10 f. 30 Ein Schwerpunkt der Debatten, die sich mit performativen Äußerungen beschäftigen, besteht in der Untersuchung der Frage, ob performative Äußerungen wahre Aussagen darstellen oder nicht. Während Deskriptivisten wie Kent Bach annehmen, daß es sinnvoll ist, performative Äußerungen als wahre Aussagen zu bezeichnen, weisen Non-Deskriptivisten wie John Austin diese Annahme zurück. In vorliegender Untersuchung wird der Standpunkt der Deskriptivisten vertreten. Vgl. Kent Bach: Performatives are statements too, in: Philosophical Studies 28 (1975), 229–236. Im folgenden zitiert als »Bach, Performatives«, mit Angabe der Seitenzahl. Austin, Performative Utterances. Aus diesem Grund werden in dieser Untersuchung performative Äußerungen auch als performative Aussagen bezeichnet.
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Eine performative Aussage kann jedoch auch misslingen, wenn bestimmte Rahmenbedingungen nicht erfüllt sind. So misslingt etwa die performative Aussage: ›Ich schenke es Dir.‹ wenn das Geschenk nie übergeben wird.31 Damit eine performative Aussage sinnvoll ist, müssen also z. B. zusätzliche weitere Handlungen vollzogen werden.
b) Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre Im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre entwickelt Fichte eine handlungstheoretische Interpretation der Bedeutung des Begriffs ›Ich‹.32 Der Begriff ›Ich‹ bezeichnet nicht ein bestimmtes raumzeitliches Individuum. Fichte erläutert im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, daß der Begriff ›Ich‹ der Begriff von einem ›in sich zurückgehenden Denken‹ bzw. ›auf sich Handeln des Ich selbst‹ ist.33 Der Begriff ›Ich‹ ist mit anderen Worten der Begriff von einem Subjekt, welches auf sich selbst reflektiert. Fichte weist im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre den Leser mit Nachdruck darauf hin, daß der Begriff ›Ich‹ Resultat eines ›in sich zurückgehenden Denkens‹, d. h. des Prinzips der Wissenschaftslehre,34 ist: »Oder, um die Sache deutlicher zu machen: – wie ich dir sagte: denke dich; und du das letztere Wort verstandest, vollzogst du im Acte des Verstehens selbst die in sich zurückgehende Thätigkeit, durch welche der Gedanke des Ich zu Stande kommt«.35 Das Selbstbewußtsein, welches durch die ›in sich zurückgehende Tätigkeit‹ bzw. die Selbstreflexion des Subjekts erzeugt wird, ist jedoch nur dann möglich, wenn das Subjekt
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Vgl. Austin, Sprechakte, 31. Fichte entwickelt im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre keine semantische Analyse der Bedeutung des Ausdrucks ›ich‹. Wenn im folgenden Fichtes Begriff vom Ich thematisiert wird, wird der Begriff ›Ich‹ daher in Abgrenzung von semantischen Untersuchungen des Ausdrucks ›ich‹ groß geschrieben. 33 A. a. O., 272. Vgl. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung, 273: »So mochtest du vielleicht in den Begriff des Ich mancherlei aufgenommen haben, was ich in denselben nicht aufgenommen hatte, z. B. den Begriff deiner Individualität, weil auch dieser durch jenes Wortzeichen bedeutet wird. Alles dies wird dir nunmehr erlassen, nur dasjenige, was durch das bloße Zurückgehen deines Denkens auf dich selbst zu Stande kommt, ist das Ich, von welchem ich hier rede.« 34 Vgl. a. a. O., 276. 35 A. a. O., 280. 32
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den Begriff ›Ich‹ erzeugt:36 »Es war sonach der Begriff des Ich, der mit der Anschauung [d. h. die ›in sich zurückgehende Tätigkeit‹] desselben nothwendig vereinigt war, und ohne welchen das Bewusstseyn des Ich unmöglich geblieben wäre; denn der Begriff erst vollendet und umfasst das Bewusstseyn.«37 Fichte betont im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, daß die Konstitution von Selbstbewußtsein zugleich eine Konstitution vom Subjekt der Bewußtseinszustände darstellt.38 Das Subjekt der Bewußtseinszustände entsteht im Zusammenhang mit der Konstitution des Begriffs ›Ich‹. Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich zeichnet sich somit durch das für performative Aussagen charakteristische Merkmal aus, daß mit der Erzeugung eines semantischen Gehalts ein Phänomen entsteht. Im Zusammenhang mit der Erzeugung des Begriffs ›Ich‹ entsteht ein selbstbewußtes Subjekt.39
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Im Verlauf der Untersuchung zeigt Fichte, daß diese Form von Selbstreflexion kein Fall von intentionalem Selbstbewußtsein ist. Dennoch bezeichnet Fichte diese nicht-intentionale Handlung in der Neuen Bearbeitung der Wissenschaftslehre von 1800 als ›Reflex des Bewußtseins‹. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre, in: GA II/5 (1979), 347. Aus diesem Grund ist im vorliegenden Zusammenhang die Bezeichnung ›Selbstreflexion‹ angebracht. 37 Ebd. 38 A. a. O., 277: »Dieses unmittelbare Bewußtseyn ist die so eben beschriebene Anschauung des Ich; in ihr setzt das Ich sich selbst nothwendig; […]. Es soll durch dieses sich selbst Setzen nicht etwa eine Existenz des Ich, als eines unabhängig vom Bewußtseyn bestehenden Dinges an sich, hervorgebracht werden, […]. Eben so wenig wird dieser Anschauung eine vom Bewußtseyn unabhängige Existenz des Ich, als (anschauenden) Dinges vorausgesetzt.« 39 Dies bedeutet nicht, daß immer dann, wenn ein Subjekt besteht, das Subjekt den Begriff ›Ich‹ erzeugt. Fichtes Aussage bezieht sich vielmehr auf die Konstitution von Subjektivität im Zusammenhang mit begrifflich artikuliertem Selbstbewußtsein. Von diesem begrifflich artikulierten Selbstbewußtsein ist die intellektuelle Anschauung bzw. die ›in sich zurückgehende Tätigkeit‹ zu unterscheiden. Die intellektuelle Anschauung besteht nämlich nicht nur im Zusammenhang mit der Konstitution des Begriffs ›Ich‹, sondern auch in Fällen von körperlichem Selbstbewußtsein. Vgl. Fichte, Zweite Einleitung, 217: »Wohl aber läßt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen, daß diese intellektuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewußtseins vorkomme. Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektuelle Anschauung meines Selbstbewußtseins in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, daß ich es tue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objekte des Handelns.« Die Subjektkonstitution findet also nicht ausschließlich in dem Fall statt, daß der Begriff ›Ich‹ erzeugt wird. Gleichwohl entsteht das Subjekt aber immer auch im Zusammenhang mit der Erzeugung dieses Begriffs. Vgl. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung, 273 f., 277.
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Indem der Begriff ›Ich‹ die Information enthält, daß das Subjekt auf sich selbst reflektiert, entwickelt Fichte zudem eine Theorie der Konstitution von begrifflichem Selbstbewußtsein, welcher das Verhältnis von einer Handlung des Subjekts und einem semantischen Gehalt zugrunde liegt, das im Fall von performativen Aussagen besteht. Bei performativen Aussagen thematisiert der Gehalt der performativen Aussage die Handlung, die mit der performativen Aussage vollzogen wird. Eben dies Verhältnis zeichnet Fichtes Erklärung der Konstitution von Selbstbewußtsein aus: Der Begriff ›Ich‹, den das Subjekt erzeugt, enthält die Information, daß die Tätigkeit ›in sich zurückgeht‹ bzw., daß das Subjekt auf sich selbst reflektiert. Zugleich, so betont Fichte, wird der Begriff ›Ich‹ durch die ›in sich zurückgehende Tätigkeit‹ bzw. Selbstreflexion des Subjekts erzeugt.40 Wie im Fall von performativen Aussagen gilt daher auch für Fichtes Erklärung der Konstitution des Begriffs ›Ich‹, daß ein Subjekt einen wahren Gedanken faßt, sobald es den Begriff ›Ich‹ erzeugt. Indem das Subjekt den Begriff ›Ich‹ erzeugt, reflektiert es auf sich selbst und entwickelt ein Bewußtsein von sich als einem Subjekt, welches auf sich selbst reflektiert. Schließlich stimmt Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich mit performativen Aussagen auch insofern überein, als bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, damit die Konstitution des Begriffs ›Ich‹ möglich ist. So wie im Fall der performativen Aussage ›Ich schenke es Dir‹ zusätzliche Handlungen erforderlich sind, damit diese Aussage eine performative Aussage darstellt, muß ein Subjekt zusätzlich zu der ›in sich zurückgehenden Tätigkeit‹ weitere Handlungen vollziehen, damit die Konstitution des Begriffs ›Ich‹ möglich ist. Fichte erläutert nämlich in der Ersten Einleitung zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, daß die Wissenschaftslehre die Konstitution von menschlicher Erfahrung rekonstruiert, indem zunächst der Begriff ›Ich‹ erzeugt wird und in der Theorie die Handlungen identifiziert werden, die erforderlich sind, damit die Konstitution des Begriffs ›Ich‹ möglich ist.41 40
Vgl. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung, 280: »Der Begriff ist überall nichts anders, als die Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst; und so verhält es sich auch mit dem Begriffe des Ich.« Vor dem Studium der Wissenschaftslehre ist sich der Leser freilich nicht bewußt, wie die in sich zurückgehende Tätigkeit vor sich geht, d. h. daß es sich hierbei um eine nicht-intentionale Selbstreflexion handelt. 41 Fichte, Erste Einleitung, 204 ff.: »Dieser Idealismus geht aus, von einem einzigen Grundgesetze der Vernunft, welches er im Bewußtsein unmittelbar nachweist. Er ver-
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Obgleich Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre keine semantische Untersuchung des Ausdrucks ›ich‹ durchführt, entwickelt Fichte somit im Zusammenhang mit seiner Theorie des Begriffs vom Ich eine performative Erklärung der Konstitution von Ich-Bewußtsein.42 Wie im Fall performativer Aussagen vollzieht ein Subjekt bei der Konstitution des Begriffs ›Ich‹ eine Handlung, die ein Phänomen hervorbringt und einen begrifflichen Gehalt erzeugt, der diese Handlung thematisiert. In Übereinstimmung mit performativen Aussagen verfügt die Person, die diesen Begriff erzeugt, über ein Bewußtsein von der Handlung, die sie vollzieht und enthält dieses Bewußtsein einen wahren Gedanken. Schließlich ist die Konstitution des Begriffs ›Ich‹ aber nur möglich, wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind, d. h. wenn das Subjekt zusätzliche Handlungen vollzieht. Der Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, daß Fichte eine performative Theorie von Ich-Bewußtsein entwickelt. Indem Fichtes methodische Verfahrensweise bei der Rekonstruktion menschlichen Selbstbewußtseins und menschlicher Erfahrung darin besteht, die Bedingungen zu identifizieren, welche die Konstitution des Begriffs ›Ich‹ ermöglichen, enthält der Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre eine Darstellung des Programms einer Geschichte des Selbstbewußtseins, die eine Theorie der Möglichkeit von performativem Ich-Bewußtsein enthält. Die von Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre geplante, aber nicht vollständig veröffentlichte Geschichte des Selbstbewußtseins ist daher als eine Geschichte performativen Selbstbewußtseins zu bezeichnen. Die Entwicklung einer performativen Theorie von menschlichem Selbstbewußtsein zählt somit neben der Entwicklung des Programms
fährt dabei folgendermaßen. Er fordert den Zuhörer auf, mit Freiheit einen bestimmten Begriff [dies ist der Begriff ›Ich‹] zu denken; werde er dies, so werde er finden, daß er genötigt sei, auf eine gewisse Weise zu verfahren. […] Er [der Idealismus] zeigt, dass das zuerst als Grundsatz Aufgestellte […] nicht möglich ist, ohne dass zugleich noch etwas anderes geschehe, und dieses andere nicht, ohne dass zugleich etwas drittes geschehe; solange bis die Bedingungen des zuerst Aufgewiesenen vollständig erschöpft, und dasselbe, seiner Möglichkeit nach, völlig begreiflich ist. […] Ist die Voraussetzung des Idealismus richtig, […], so muß als letztes Resultat, als Inbegriff aller Bedingungen des zuerst Aufgestellten, das System aller notwendigen Vorstellungen, oder die gesamte Erfahrung herauskommen.« Vgl. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, 31 f., 40. Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause. Hrsg. v. Erich Fuchs. Hamburg 1982, 32. 34. 43. 42 Vgl. hierzu: Stefan Lang: Die Spontaneität des Selbst. Göttingen 2010.
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einer Geschichte des Selbstbewußtseins zu den zentralen Aufgaben und innovativen Leistungen Johann Gottlieb Fichtes um 1800.43
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Werner Stelzner interpretiert in dem Aufsatz Selbstzuschreibung und Identität nicht den Begriff vom Ich, sondern das Prinzip der Wissenschaftslehre selbst als einen performativen Akt. (Vgl. Werner Stelzner: Selbstzuschreibung und Identität, in: Wolfram Hogrebe: Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt a. M. 1995, 117–140. Im folgenden zitiert als »Stelzner, Selbstzuschreibung und Identität«, mit Angabe der Seitenzahl.) Stelzner behauptet, daß das absolute Subjekt als ein »spezieller existenzstiftender performativer Akt aufgefaßt werden [kann]« (A. a. O., 133), da es sich bei dem Prinzip der Wissenschaftslehre um einen selbstkonstitutiven Prozess handelt, der ein Bewußtsein von eben diesem Prozess mit einschließt. Der Versuch, das Prinzip der Wissenschaftslehre als einen performativen Akt zu interpretieren, ist in der Fichte-Forschung jedoch auf Ablehnung gestoßen. So lehnt z. B. Jörg-Peter Mittmann eine performative Interpretation des Prinzips der Wissenschaftslehre ab, da sich performative Aussagen in einer wichtigen Hinsicht vom Prinzip der Wissenschaftslehre unterscheiden. (Vgl. ders.: Das Prinzip der Selbstgewißheit: Fichte und die Entwicklung der nachkantischen Grundsatzphilosophie. Bodenheim 1993. Vgl. auch Peter Baumanns: Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes ›Wissenschaftslehre‹, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hrsg. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1981, 187.) Während nach Ansicht von Mittmann performativen Aussagen »weder Wahrheit noch Gewißheit« (143) zugesprochen werden können soll, zeichnet sich das Prinzip der Wissenschaftslehre dadurch aus, daß es den Gedanken der Wahrheit des Prinzips mit einschließt. Eine performative Interpretation des Prinzips der Wissenschaftslehre soll aus diesem Grund nicht möglich sein. Der von Mittmann vorgebrachte Einwand ist jedoch nicht zutreffend. Schließlich vertreten Deskriptivisten wie Kent Bach den Standpunkt, daß performative Äußerungen wahre Aussagen darstellen. Bach begründet dies damit, daß eine performative Aussage eine Handlung ist, die von dem semantischen Gehalt der performativen Aussage thematisiert wird: »Uttering a performative sentence is to do what one is stating one is doing; indeed, that is what makes the statement true.« (Vgl. Bach, Performatives, 229). Obwohl die Kritik von Mittmann an einer performativen Interpretation von dem Prinzip der Wissenschaftslehre nicht überzeugend ist, ist es nicht sinnvoll, das Prinzip der Wissenschaftslehre als einen performativen Akt zu bezeichnen. Zwar weist das Prinzip der Wissenschaftslehre Übereinstimmungen mit performativen Aussagen auf, indem Fichtes Begriff vom absoluten Subjekt bspw. eine Tätigkeit bezeichnet, durch die ein Phänomen hervorgebracht wird, das vor dieser Tätigkeit nicht besteht, nämlich das Subjekt selbst. Vgl. z. B. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 17. Das Prinzip der Wissenschaftslehre erzeugt jedoch nicht notwendiger Weise einen semantischen Gehalt, welcher die Handlung thematisiert, die das absolute Subjekt vollzieht. Vgl. Fichte, Zweite Einleitung, 217. Eine performative Interpretation und Explikation von dem Prinzip der Wissenschaftslehre ist daher im Unterschied zu Fichtes Theorie des Begriffs vom Ich nicht möglich. Schließlich zeichnet sich eine performative Aussage gerade dadurch aus, daß sie einen semantischen Gehalt hervorbringt, welcher die Handlung thematisiert, die mit der Erzeugung dieses Gehalts vollzogen wird.
Birgit Sandkaulen Ichheit und Person. Zur Aporie der Wissenschaftslehre in der Debatte zwischen Fichte und Jacobi 1. Einleitende Überlegungen Das in der Reihe der Wiener Tagungen zum ›System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus‹ gestellte Thema ›System und Systemkritik um 1800‹ ist glücklich gewählt. Einzuholen ist damit eine Problematik, die die nachkantische Formation der klassischen deutschen Philosophie durch und durch prägt. Ohne zu übertreiben, gerät man hier am Beginn der eigentlichen Moderne in das initiative Zentrum einer Diskussion hinein, die im 19. und 20. Jahrhundert nicht erst entdeckt, sondern fortgesetzt worden ist, und deren Linien sich bis in die Gegenwart ausziehen lassen.1 Dabei bilden Jacobi, Friedrich Schlegel, Hardenberg und Jean Paul die Reihe derer, die man im oberflächlichen Rekurs auf die Epoche gerne übersieht, sofern man sich vorzugsweise auf die großen Protagonisten Fichte, Schelling und Hegel konzentriert, während man gerade in solcher isolierenden Konzentration auf die erwähnten Protagonisten ebenso leicht aus den Augen verliert, daß sich die Genese und die spezifische Gestalt der von ihnen entworfenen Systeme nicht allein maßgeblich der Aufnahme systemkritischer Motive verdankt. Mehr als das: Im Zuge solcher Aufnahme betreiben sie selber Systemkritik, indem sie einerseits einander attackieren, und zwar nicht in diesem oder jenem einzelnen Punkt als vielmehr hinsichtlich der Grundlagen des Ganzen, und sich zugleich andererseits in diesmal übereinstimmender Kritik nicht nur auf Kant, sondern konstitutiv auch auf Spinoza beziehen als auf die via negationis unverzichtbare Folie ihrer ganzen systemischen Anstrengung. Sieht man die Sache so und stellt dabei ein für allemal in Rechnung, daß die Kronersche Titulatur ›Von Kant bis Hegel‹ wirklich der Vergangenheit angehören sollte,2 dann präsentiert sich die Ursprungsszenerie der
1
Vgl. dazu v. Verf.: System und Systemkritik. Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung eines fundamentalen Problemzusammenhangs, in: System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Kritisches Jahrbuch der Philosophie 11. Hrsg. v. ders. Würzburg 2006, 11–34. 2 Damit wird hier selbstverständlich nicht die absurde Behauptung aufgestellt, daß
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Systemkritik als außerordentlich komplex. Allen Beteiligten gemeinsam ist die der Logik der Systemkritik schlechthin unabdingbar eingeschriebene Überzeugung, daß das Systemdenken keine beliebige Ausgeburt philosophischer Überforderung ist, die man ebensogut auch preisgeben könnte. Es steht im Gegenteil als eine ernstzunehmende und nicht zu übersehende Herausforderung im Brennpunkt des Interesses. Wie aber mit dieser Herausforderung umzugehen ist, was genau also der Zusammenhang von System und Systemkritik besagt, dies ist bei den am Diskurs Beteiligten nicht generell vorentschieden, sondern gerade dies setzt heftig geführte ›Streitsachen‹ und mit ihnen eine Reihe verschiedener Typen der Systemkritik frei.3 In struktureller Kennzeichnung lassen sich drei Modelle unterscheiden. Die radikalste Version stammt von Jacobi, der damit zugleich den Problemkomplex von System und Systemkritik initiativ in die Debatte eingebracht hat. Ursprünglich ausgebildet in der Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik und deshalb zunächst unter den bezeichnenden Namen »mein Spinoza und Antispinoza« gerückt,4 bedeutet der via negationis angezielte Gegenentwurf hier, allem Systemdenken im Kern, das heißt systemverstörend zu widersprechen. Ausdruck solchen Widerspruchs ist der Sprung eines ›Salto mortale‹, der Kierkegaard später nicht zufällig beeindruckt hat.5 Eine zweite Version kennzeichnet die Frühromantik. Vordringlich im Bezug auf das unterdessen von Fichte vorgestellte System der Wissenschaftslehre lassen auch Schlegel und Hardenberg den Systemanspruch keineswegs einfach fallen. Anders als Jacobi insistieren sie aber auch nicht auf dem asystemischen Widerspruch des Sprungs. Sie versuchen vielmehr, wie Schlegels Wort typischerweise deutlich macht, die tödliche Unmöglichkeit, »ein System zu haben, und keins zu haben«, in ihren Gegenentwürfen zu »verbinden«.6 Das hier intendierte Projekt soll demdie Auseinandersetzung mit Kant nicht von Belang wäre. Wohl aber ist es angesichts des Horizontes der faktischen Problemlage dringend geboten, den Einsatz in Kants Transzendentalphilosophie um die Einbeziehung Spinozas zu ergänzen. 3 Vgl. dazu auch den Band: System and Context. Early Romantic and Early Idealistic Constellations. Hrsg. v. Rolf Ahlers. Lewiston/New York 2004. 4 Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, in: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Hamburg 1998 ff., Band 1,1, 271. Im folgenden zitiert als »JW« unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl. 5 Vgl. dazu insgesamt v. Verf.: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000. 6 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, Nr. 53, in: Studienausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. Hans Eichner. Paderborn 1988, hier Band 2, 109.
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nach beides, System und zugleich Nicht-System sein; es soll, wie Hardenberg in seinen Fichte-Studien formuliert, »Systemlosigkeit, in ein System gebracht« sein.7 Die dritte Version ist von noch einmal ganz anderer Art. Ausgehend von Jacobi stimmen Fichte, Schelling und Hegel in der Orientierung an Spinozas Metaphysik als exemplarischem Entwurf eines philosophischen Systemmodells überein.8 Als affirmative Folie der Systemkritik dient diese Vorlage hier jedoch dem Ziel, »ein Gegenstück zu Spinoza aufzustellen«,9 ein Programm also von solcher Gestalt zu entwerfen, das nicht im asystemischen Widerspruch und auch nicht im Zugleich von System und Nicht-System, sondern im Entwurf eines alternativen Systems sein ausschlaggebendes Interesse hat. Dabei speist sich dieses Interesse aus der Erwartung, auf dem Wege solcher Systemkritik die Gefahr systemkritischer Destruktion erfolgreich zu absorbieren, was offenbar nur dann ins Werk zu setzen ist, wenn man das Potential einschlägig verstörender Motive beachtet und ihm innerhalb des alternativen Systems Rechnung zu tragen sucht. Vor diesem Hintergrund gewinnt die prominente Auseinandersetzung zwischen Fichte und Jacobi ihre spezifische Kontur. Nicht allein aus chronologischen, sondern auch aus sachlichen Gründen ist sie durch eine gewisse Asymmetrie gekennzeichnet, was im folgenden zu beachten sein wird. Aus der Sicht Jacobis stellt sich die Debatte als strukturelle Wiederholung dar, der zufolge die frühere Antithese »meines Spinoza und Antispinoza« im Kontext der Fichteschen Wissenschaftslehre nunmehr in die Antithese von »Allein-Philosophie« und »Unphilosophie« übersetzt wird.10 Diese These einer Wiederholung fundiert und durchzieht
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Novalis: Fichte-Studien, Nr. 648, in: Werke. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl. München 1978, hier Band 2, 200. 8 Vgl. Hegels markante spätere Formulierung, wonach »Spinoza […] Hauptpunkt der modernen Philosophie [ist]: entweder Spinozismus oder keine Philosophie«. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel. Frankfurt a. M. 1969-1971, hier Band 20, 163 f. Eine umsichtige Erörterung dieser Problemanlage bietet jüngst Peter Rohs: Der Pantheismus bei Spinoza und im Deutschen Idealismus, in: Subjektivität und Anerkennung. Hrsg. v. Barbara Merker, Georg Mohr u. Michael Quante. Paderborn 2004, 102–121. 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856-61, Band 1, 159. 10 Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an Fichte, in: JW 2,1, 198. Mit Blick auf diesen Text erübrigt es sich auch, den Begriff ›System‹, der hier und im folgenden ohne weitere Er-
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den Brief an Fichte, mit dem Jacobi, anschließend an seine bahnbrechende Kant-Kritik, 1799 in den Gang der nachkantischen Philosophie eingreift und ihren Fortgang unübersehbar mitbestimmt. Demgegenüber besteht das Anliegen Fichtes von Beginn an darin, Jacobis systemkritischen Einwänden innerhalb seines eigenen Systementwurfs Folge zu leisten. Die Probleme, die zum Sprung aus dem System veranlaßt haben, sollen sich in dem Maße erübrigen, wie den von Jacobi gegenüber Spinoza reklamierten Anliegen im System der Wissenschaftslehre, das alles Selbst- und Weltverständnis im Entwurf absoluter Subjektivität fundiert, Beachtung und Gerechtigkeit widerfährt. Verbunden mit der offenkundig aufrichtig gehegten Erwartung, mit einem solchen Systemprojekt die Anerkennung und Zustimmung Jacobis zu erlangen,11 trifft Fichte frühzeitig eine Unterscheidung, die seine Sicht der Dinge bis zuletzt orientiert: die Unterscheidung zwischen Idealismus und Realismus oder Spekulation und Leben, von der gilt, daß hier allerdings zwei verschiedene Gesichtspunkte maßgeblich sind, die aber, anstatt das Systemprojekt zu zerbrechen, innerhalb der Wissenschaftslehre
läuterung verwendet wird, umständlich einzuführen und zu definieren. Eine bessere und zugleich plastischere Erklärung als diejenige Jacobis selbst dürfte es schwerlich geben, der den in sich geschlossenen Zusammenhang eines Systems als »Philosophie aus Einem Stück« bezeichnet hat (JW 2,1, 200). Offenbar hat auch Fichte diese Formulierung so beeindruckt, daß er sie bis in die Fassungen der späten Wissenschaftslehren hinein immer wieder für sich adaptiert. 11 Vgl. Fichtes Brief an Jacobi, Jena, 29. 9. 1794: »Ist irgend ein Denker in Deutschland, mit welchem ich wünsche und hoffe in meinen besondern Ueberzeugungen übereinzustimmen, so sind Sie es, mein verehrungswürdigster Herr«. In: J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Glawitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. III, Band 2, (Brief Nr. 237), 202. Äußerungen wie diese haben in der Fichte-Forschung seit langem dazu geführt, die konstitutive Bedeutung Jacobis zu würdigen, während es in Sachen Schelling und Hegel, wo Jacobis einflußreiche Rolle gleichermaßen zu beachten wäre, nach wie vor um die Berücksichtigung und Diskussion einschlägiger Bezüge eher schlecht bestellt ist. Allerdings neigt man in der Fichte-Forschung dazu, Fichtes Unterfangen der Integration von System und Systemkritik Erfolg zu attestieren, während es im folgenden um eine kritische Analyse seines Projekts geht. Dabei wird mit der Frage nach der Person ein Problem im Mittelpunkt stehen, das Fichte selber evoziert, das aber aus den bisher vorliegenden Erörterungen sowohl generell als auch im Verhältnis Fichte-Jacobi weitgehend ausgeblendet wird. Vgl. dazu (mit einer ausführlichen Bibliographie) Marco Ivaldo: Wissen und Leben. Vergewisserungen Fichtes im Anschluß an Jacobi, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hrsg. v. Walter Jaeschke u. Verf. Hamburg 2004, 53–71. Im folgenden zitiert als »Jaeschke/Verf., Friedrich Heinrich Jacobi«.
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begründet, ausdifferenziert und vermittelt werden sollen und können.12 Entscheidend für die im weiteren zu unternehmende Analyse ist nun, daß Fichte diese Unterscheidung und systemische Integration der beiden genannten Gesichtspunkte ebenfalls von Anfang an mit der Hinsicht auf das Differenzgefälle zwischen dem Gedanken des absoluten Ich und dem Phänomen des Individuums zusammenführt. »Mein absolutes Ich«, so heißt es im Brief an Jacobi vom 30. August 1795, »ist offenbar nicht das Individuum; so haben beleidigte Höflinge und ärgerliche Philosophen mich erklärt, um mir die schändliche Lehre des praktischen Egoismus anzudichten. Aber das Individuum muß aus dem absoluten Ich deducirt werden. Dazu wird die Wissenschaftslehre im Naturrecht ungesäumt schreiten.«13 Was immer unter den Titeln ›Leben‹ und ›Realismus‹ noch zu verstehen sein mag: Mit der Fokussierung darauf, daß es dabei in jedem Fall auf das konkrete Individuum, auf die Person in ihrer jeweiligen Individualität, ankommt, hat Fichte in der Tat einen maßgeblichen Punkt im systemkritischen Anliegen Jacobis erfaßt. Wie aber steht es um seinen Anspruch, diesem Anliegen der Berücksichtigung personaler Subjektivität erfolgreich zu entsprechen? Nimmt man Fichtes Anspruch ernst, dann ist diese Frage nicht allein im historischen Kontext der Auseinandersetzung mit Jacobi, sondern im Interesse einer sachlichen Verständigung über die Reichweite systemphilosophischer Vorhaben grundsätzlich von Belang. Die folgende Verhandlung, die im Fokus der Diskussionslage um 1800 nur einen Ausschnitt bieten, die angezeigte Problematik mithin an dieser Stelle keinesfalls erschöpfend erörtern kann, geht in drei Schritten vor. In einem ersten Schritt wird mit Blick auf Fichtes Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797 der Sachstand analysiert, auf den Jacobi in seinem Brief an Fichte und damit zusammenhängenden Äußerungen gegenüber Jean Paul direkt reagiert.14 In einem zweiten Schritt wird Fichtes unmittelbare Erwiderung, wie sie in seinem Brief an Jacobi und einer Fragment 12
Bezeichnenderweise formuliert Fichte dieses Vorhaben erstmals in seinem Brief an Jacobi, Oßmannstädt, 30. 8. 1795, in: GA III/2 (Brief Nr. 307), 391–393. Das hier in Aussicht gestellte »Bündniß« der genannten Gesichtpunkte wird dann 1797 in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre gleichsam öffentlich gemacht (Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. ND Berlin 1971, Band 1, 482 f.). Im folgenden werden Fichtes Werke zitiert als »FW« unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl; die Zweite Einleitung wird zitiert als »Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre«, mit Angabe der Seitenzahl. 13 GA III/2 (Brief Nr. 307), 392. 14 Dies schließt selbstverständlich die Diskussion der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre mit ein.
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gebliebenen Vergewisserung über sein Projekt sowie schließlich im Sonnenklaren Bericht von 1801 greifbar ist, auf die Strategie hin untersucht, mit der Fichte den aufgebrochenen Konflikt zwischen Spekulation und Leben neu zu bewältigen sucht. In einem dritten Schritt schließlich ist der Sonnenklare Bericht daraufhin zu prüfen, inwieweit Fichtes Verteidigungsposition mit Blick auf die Frage konkreter Subjektivität überzeugen und dem Selbstverständnis von Personen Rechnung tragen kann.
2. Ichheit und Person: Die Problemlage a) Fichtes Kleiderprobe Was meinen wir, wenn wir ›ich‹ sagen, also den sprachlichen Ausdruck ›ich‹ verwenden? In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre antwortet Fichte auf diese Frage mit zwei Beispielen, die »aus dem gemeinen Leben« stammen: »Wenn ihr jemandem in der Finsterniss zuruft: Wer ist da? und er giebt euch, in der Voraussetzung, dass seine Stimme euch bekannt sey, zur Antwort: Ich bin es; so ist klar, dass er von sich, als dieser bestimmten Person rede, und so zu verstehen sey: Ich bin es, der ich so und so heiße, und keiner unter allen übrigen, die nicht so heißen; und das darum, weil ihr zufolge eurer Frage, Wer da sey, schon voraussetzt, dass es überhaupt ein vernünftiges Wesen sey, und jetzt nur wissen wollt, welches bestimmte unter den möglichen vernünftigen Wesen es sey.« Soweit das erste Beispiel, nun das zweite: »Wenn ihr aber etwa – man verzeihe mir dieses Beispiel, das ich vorzüglich passend finde – einer Person am Leibe etwas an ihren Kleidungsstücken nähtet, schnittet u. dergl., und ihr verletztet unversehens sie selbst, so würde sie etwa rufen: Höre, das bin ich, du triffst mich. Was wollte sie denn dadurch sagen? Nicht, dass sie diese bestimmte Person sey, und keine andere; denn das wisst ihr sehr wohl; sondern dass das, was ihr getroffen, nicht ihr todtes und fühlloses Kleidungsstück sey, sondern ihr lebendiges und fühlendes Selbst; welches ihr nicht wusstet. Sie unterscheidet durch dieses Ich sich nicht von anderen Personen, sondern von Sachen.«15 Soweit zu sehen, wird diesem Passus üblicherweise keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jedoch lohnt es sich, Fichtes Beispiele genauer zu analysieren. In vier Zügen gelangt man so ins Zentrum der Debatte, die das 15
Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 503 f.
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Problem von System und Systemkritik im Verhältnis zwischen Fichte und Jacobi bestimmt. Zu notieren ist erstens, daß der Gebrauch des Ausdrucks ›ich‹ immer in einem Differenzgefälle steht. Wer ›ich‹ sagt, spricht von sich und grenzt sich dabei instantan von anderem ab. Je nachdem aber, ob es sich dabei um jemand anderen oder etwas anderes handelt, betrifft die mit dem Ich-Sagen verbundene Differenz entweder Personen oder Sachen. Grammatisch reformuliert heißt das, daß ausgehend vom ›ich‹ der ersten Person im einen Fall zwischen ›ich‹ und ›du‹, im andern Fall zwischen ›ich‹ und ›es‹ unterschieden wird. So sprechen wir tatsächlich – aber was Fichte im Auge hat, ist damit noch gar nicht berührt. Zu beachten ist deshalb zweitens, daß der Verwendungskontext die Bedeutung des Ausdrucks ›ich‹ jeweils affiziert. Je nachdem, ob ich mich von Personen oder Sachen unterscheide, beziehe ich mich zugleich anders auf mich selbst. Wie zeigt sich das? Hier kommt man der Sache schon näher. Denn was Fichte insinuiert, ist, daß es sich im ersten Fall der Unterscheidung von Personen um eine äußerliche, im zweiten Fall der Unterscheidung von Sachen hingegen um eine innerliche Abgrenzung handelt. Daß ich ›ich‹, nämlich diese bestimmte Person bin, zeigt sich relativ zu anderen Personen, auf die je schon Bezug genommen ist, um mich als die, die ich bin, zu identifizieren. Im Kontrast dazu ist die Unterscheidung zwischen mir und einer Sache auf den Umweg über äußerliche Relationen nicht nur nicht angewiesen. Sie ist darüber hinaus aus der Außenperspektive auch gar nicht zugänglich, sondern evoziert die Innenperspektive meines »lebendigen und fühlenden Selbst«. Somit ist jetzt schon klar, daß Fichte dieses Verhältnis gegenüber dem ersten privilegiert. Verbunden damit ist drittens, daß der Ausdruck ›ich‹ keineswegs durchgehend auf eine bestimmte Person referiert, die als solche sowohl in interpersonalen Bezügen als auch in Sachbezügen steht. Vielmehr ist für die Innenperspektive des »lebendigen und fühlenden Selbst« der Aspekt der personalen Bestimmtheit überhaupt nicht relevant. Anstatt auf den Unterschied zwischen Person und Sache kommt es demnach im zweiten Fall darauf an, den Ausdruck ›ich‹ auf ein Selbst zu beziehen, das Subjekt im Unterschied zum Objekt ist. Hat man aber die Dinge so weit getrieben, folgt der vierte Zug von selbst: »Kurz«, so folgert Fichte, »Ichheit und Individualität sind sehr verschiedene Begriffe […]. Durch den ersteren setzen wir uns allem, was ausser uns ist, nicht bloss Personen ausser uns, entgegen; und wir befassen unter ihm nicht nur unsere bestimmte Persönlichkeit, sondern unsere Geistigkeit überhaupt.«16 16
FW 1, 504.
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Demnach war es die »Ichheit«, die von der Nadel gestochen aufschrie? Die Innenperspektive des »lebendigen und fühlenden Selbst« war die überindividuell universale Vergewisserung der »Geistigkeit überhaupt«? Nachdem Fichte sein Schneiderbeispiel wie erinnerlich »vorzüglich passend« fand, erscheint das hier markant aufbrechende Dilemma um so dramatischer. Tatsächlich steckt das Problem, das die Kleiderprobe zutage fördert, im Ansatz der Theorie selbst, der im Ausgang vom Konzept der »Ichheit« das prekäre Verhältnis zum konkreten Ich von Beginn bis zuletzt konstitutiv eingeschrieben ist.17
b) Synthesis und Abstraktion Fichtes Absicht in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre besteht darin, seine Konzeption vor der ruinösen Verwechslung von überindividuellem und individuellem Ich zu verwahren. Seine Polemik gilt deshalb dem »Unvermögen« derer, die sich unter dem Begriff »Ich« stets nur »ihre individuelle Person« vorstellen, was Fichte nicht als »Schwäche ihrer Denkkraft«, sondern als »Schwäche ihres ganzen Charakters« diagnostiziert.18 Mitfolgend aber legt er an dieser Stelle die substantielle Problematik der Wissenschaftslehre frei. Deutlich wird das im Zuge zweier gegenstrebiger Bewegungen, die im Umkreis des zitierten Passus paradigmatisch vorgeführt werden. Die eine Bewegung ist die der Deduktion oder genetischen Konstruktion, die hier als »Synthesis des Begriffs der Person« bezeichnet wird. Auszugehen ist danach vom ursprünglichen Gegensatz zwischen der »Ichheit« als rein selbstbezüglicher »Subject-Objectivität« einerseits und dem »Es« als Signum blanker Objektivität andererseits, auf das dann der Begriff der »Ichheit« mit dem Resultat des »Du« übertragen wird. »Der Begriff des Du entsteht aus der Vereinigung des Es und des Ich. Der Begriff des Ich in diesem Gegensatze, also der Begriff des Individuums, ist
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Diese zeitliche Angabe ist wörtlich zu verstehen: Fichtes unablässiges Kreisen um das Problem, wie innerhalb einer Systemphilosophie das Differenzgefälle zwischen Ichheit und individuell konkretem Ich zu bewältigen ist, setzt mit der Bestimmung des Gelehrten 1794 ein und zieht sich bis in die späten Entwürfe der Wissenschaftslehre durch. Sprechenden und dabei streckenweise erschreckenden Aufschluß über die anhaltenden Aporien geben Fichtes Diarien aus den Berliner Jahren, deren Erscheinen in der Akademieausgabe nunmehr bevorsteht. 18 FW 1, 504 f.
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die Synthesis des Ich mit sich selbst.«19 Mit Bezug auf den eben genannten ersten Punkt der Beispielsanalyse heißt das, daß Fichte die Perspektive der ersten Person auf eine ausdrücklich als »thetisch, nicht synthetisch« bezeichnete Meta-Instanz hin übersteigt, aus der heraus das konkrete Verhältnis von »ich«, »du« und »es« seinerseits erst abgeleitet werden soll.20 Diesem Anspruch der synthetischen Konstruktion der Person korreliert die gegenläufige Bewegung direkt. Denn, so Fichtes Argument, von dem, was Produkt einer Synthesis ist, kann man umgekehrt auch wieder abstrahieren. Dieser Vollzug, durch »Abstraction« von aller individuellen Bestimmtheit das »Ich überhaupt, d. h. das Nicht-Object« zu gewinnen,21 läßt sich seinerseits in zweierlei Hinsicht verstehen. In systemischer Hinsicht wird so das Prinzip der genetischen Konstruktion selber freigelegt. In praktischer Hinsicht hingegen ergeht an die konkrete Person die sittliche Aufforderung, ihre Individualität zugunsten der mit der Vernunft identischen »Ichheit« zu überwinden. Im Resultat führt dies zur Beschreibung der Wissenschaftslehre als einer Theorie, für die die »Vernunft das
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A. a. O., 502. Demgegenüber hat Jürgen Stolzenberg jüngst den Versuch unternommen, Fichtes Theorie einer »Geschichte des Selbstbewusstseins« als »konsequente Durchführung der erstpersonalen Perspektive« zu rekonstruieren (Jürgen Stolzenberg: Geschichten des Selbstbewußtseins. Fichte – Schelling – Hegel, in: Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels. Hrsg. v. Verf, Volker Gerhardt u. Walter Jaeschke. Hegel Studien, Beiheft 52. Hamburg 2009). Zwar bezieht sich Stolzenberg dabei auf § 5 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und zeichnet somit den praktischen Teil vor der Grundsatzsystematik aus, die er ihrerseits der »Perspektive der dritten Person« verpflichtet sieht, um demzufolge in der GWL von einer »Umstellung der Perspektive der dritten Person auf die Perspektive der ersten Person« zu sprechen. Wie Fichte an der hier zitierten Stelle jedoch deutlich macht, wird in Gestalt der »Ichheit« offenbar eine Dimension reklamiert, die weder mit der dritten noch mit der ersten Person zusammenfällt, sondern solche – lebensweltlichen – Unterscheidungen allererst begründen soll. Das dem absoluten Ich zu seiner selbstreflexiven Begrenzung verhelfen sollende Anstoßtheorem der GWL, dessen Aporie Stolzenberg hervorhebt, hat damit direkt zu tun. Vor diesem Hintergrund habe ich ähnliche Schwierigkeiten mit der These, daß der Sinn der Rede von der »Ichheit« darin liegt, sich als individuelles Ich, zugleich aber, insofern »Ichheit« ein »allgemeiner Gedanke« ist, »als eines unter einer Vielzahl anderer Selbste« zu verstehen (Jürgen Stolzenberg: Fichte heute, in: Information Philosophie. 02 .06. 2009. http://information-philosophie/de. Abgerufen am 13. 07. 2009). Als »allgemeiner Gedanke« neutralisiert der Begriff »Ichheit« die vielen einzelnen Selbste ja gerade, was umgekehrt bedeutet, daß Fichte den Befund, einer unter anderen zu sein, stets schon der synthetischen Konstruktion der je spezifisch bestimmten Person vorbehält. 21 FW 1, 502. 20
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einige an sich, und die Individualität nur accidentell« ist. Die Vernunft ist »Zweck; und die Persönlichkeit Mittel; die letztere nur eine besondere Weise, die Vernunft auszudrücken, die sich immer mehr in der allgemeinen Form derselben verlieren muss. Nur die Vernunft ist ihr ewig; die Individualität aber muss unaufhörlich absterben.«22 Mit anderen Worten handelt es sich um ein »System, dessen Anfang und ganzes Wesen darauf geht, dass die Individualität theoretisch vergessen [und] praktisch verläugnet werde«.23 Wo die Problematik in Fichtes Entwurf liegt, ist vor diesem Hintergrund klar. Ganz abgesehen davon, daß in theoretischer und praktischmoralischer Perspektive die entschiedene Tendenz zur Aufhebung der individuellen Person unübersehbar ist, von ihrer irreduziblen Anerkennung also keine Rede sein kann, sind zwei Punkte zu markieren. Unverständlich ist erstens, wie und woher hier ein principium individuationis bezogen und im Gefälle von Ichheit und Person überhaupt auch nur die extrinsische Bestimmtheit des Individuums generiert werden soll. Worauf es aber in eins damit vor allem ankommt, ist zweitens, daß sowohl in der Richtung der Synthesis als auch in der der Abstraktion der eigentlich entscheidende Sachverhalt, nämlich das »lebendige und fühlende Selbst«, notwendig zum blinden Fleck gerät, womit zugleich die jemeinige Innenperspektive der Person im toten Winkel der Konstruktion verschwindet.24 Mit Recht hatte Fichte die Kleiderprobe an dieses Selbst zunächst
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A. a. O., 505. A. a. O., 516 f. 24 Auf eine analoge Problematik stößt man bei Dieter Henrich, dessen Überlegungen zum Selbstbewußtsein offenbar einer Anverwandlung Fichtescher Denkfiguren verpflichtet sind. Ausgehend vom sprachlichen Ausdruck der ersten Person gilt es Henrich zufolge die Hinsichten von Person und Subjekt zu unterscheiden: Die Korrelation von ›ich‹, ›er‹ oder ›du‹ impliziert die Aussonderung »als Person unter Personen«; die Korrelation hingegen von ›ich‹ und ›es‹ diejenige »als Subjekt aus allen Entitäten und Sachverhalten insgesamt«. »Wir verstehen uns gleich ursprünglich als einer unter allen anderen und als der Eine gegenüber der ganzen Welt.« (Dieter Henrich: Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1982, 138). Ebenso wie bei Fichte wird das Konzept der Person extrinsisch, durch »Indizierung« in Raum und Zeit, bestimmt, was im übrigen auch der Auffassung Strawsons im Personkapitel seines Buches Individuals entspricht. Demgegenüber soll das Konzept des Subjekts intrinsisch bestimmt sein, wobei es bei Henrich im Unterschied zu Fichte – und der gegenüber Fichte divergenten These der Gleichursprünglichkeit von Subjekt und Person entsprechend – nicht mit einer überindividuellen Vernunftstruktur der »Ichheit« belastet, sondern vielmehr auf seine »Meinungsgeschichte« (a. a. O., 137) bzw. »Erfahrungsgeschichte« abgehoben wird (a. a. O., 154). Was genau man sich bei der inneren Verfaßtheit dieses Subjekts zu denken hat, bleibt indessen unklar. Nachdem Henrich (wie Fichte und Strawson) das 23
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adressiert, bevor er es im Zuge der abwegigen Funktionalisierung des Beispiels als Aufweis der »Geistigkeit überhaupt« nicht zufällig aus den Augen verliert.
3. Im Bündnis mit Jacobi? Zum Diskursstand um 1800 a) Individualität als Fundamentalgefühl: Jacobis Reaktion Die vorangegangenen kritischen Überlegungen wurden im Interesse der Sache bewußt ohne Rücksicht auf die Position Jacobis formuliert. Die Frage allerdings, wie Fichte sich je im Duktus der zitierten Ausführungen vor allen anderen ausgerechnet der Zustimmung Jacobis hat versichern und sich mit ihm in einem »Bündnis«25 sehen wollen, drängt sich inzwischen von selber auf. Was konnte er nach Sätzen, die das akzidentelle Verhältnis der Individualität zur Ichheit bzw. Vernunft behaupten und insofern an das spinozanische Verhältnis des Ausdrucks von Substanz und Modus erinnern, als Reaktion Jacobis erwarten?26 Als Reaktion des-
Phänomen der Individualität der extrinsisch indizierbaren Person zugeschrieben hat, kann die konkrete Jemeinigkeit einer dem Subjekt eigenen Erfahrungsgeschichte nicht mehr hinreichend artikuliert werden. Analog zu Fichte gerät damit auch hier das »lebendige und fühlende Selbst« aus dem Blick. 25 Vgl. den in Fußnote 12 zitierten Brief Fichtes an Jacobi. Vgl. auch seinen folgenden Brief an Jacobi, Jena, 26. 4. 1796 (GA III/3, 17–18 (Brief Nr. 335), hier 18: »Ja, theurer edler Mann, wir stimmen ganz überein; und diese Uebereinstimmung mit Ihnen beweist mir mehr als irgend etwas, daß ich auf dem rechten Wege bin. Auch Sie suchen die Wahrheit da, wo ich sie suche, im innersten Heiligthum unsres eigenen Wesens. Nur fördern Sie den Geist als Geist, so sehr es die menschliche Sprache erlaubt, zu Tage: ich habe die Aufgabe, ihn in die Form des Systems aufzufassen, um ihn, statt jener Afterweisheit, in die Schule einzuführen.« Vgl. im Blick auf den hier anschließenden Passus zur Problematik insgesamt auch v. Verf.: »Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren«. Problematische Transformationen in der klassischen deutschen Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 363–375. 26 Anders als Georg Mohr, der Fichtes Position lediglich referiert (Georg Mohr: Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, in: Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Hrsg. v. Dieter Sturma. Paderborn 2001, 103–141), hat Peter Rohs die Problemlage kritisch durchleuchtet. So hält auch er mit Bezug auf diesen Passus im Kontext seiner Darstellung der Wissenschaftslehre nova methodo fest, daß Fichtes Konzeption an Spinoza erinnert: »Es dürfte aber auf der Hand liegen, daß das Verhältnis von Vernunft und Individualität mit diesen Begriffen [den Begriffen von Substanz und Akzidenz] nicht befriedigend zu bestimmen ist. Fichte erörtert viele Themen, die nur bezüglich individueller Personen Sinn machen – wie Gefühl, Streben, Anschauung usw., – bevor die Individualität abgeleitet ist. Diese wird
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jenigen also, dessen fester, seit 1789 öffentlich formulierter Überzeugung gemäß Spinozas Monismus »nur von der Seite seiner Individuationen mit Erfolg angegriffen werden« kann27 und der dementsprechend dem sachlichen Interesse an der Irreduzibilität personaler Subjektivität überall, philosophisch und literarisch, Ausdruck gegeben hat? Auf alle Facetten von Jacobis Brief an Fichte kann und braucht hier gar nicht eingegangen zu werden.28 Es genügt, im Fokus der Frage nach dem Status der Person den zentralen Passus beizuziehen. In entschiedener Diktion, aber sachlich nicht verwunderlich, bekommt Fichte hier das Folgende zu lesen, womit Jacobi, sowohl den Zugzwang der Systemoption, die Logik der »Allein-Philosophie«, als auch die opponierende Systemkritik der »Unphilosophie« unterstreichend, seinen Nihilismus-Vorwurf in praktischer Rücksicht konkretisiert: »Lehret mich nicht was ich weiß, und, beßer als euch lieb seyn möchte, darzuthun verstehe: Nehmlich,
gerade mit Hilfe jener Begriffe deduziert. Der Status des Ich bleibt so fortwährend unklar: ein überindividuelles kann keine Gefühle haben, ein individuelles kann auf diesen frühen Stufen nicht gemeint sein. Es ist ähnlich wie bei der Zeit: die einseitige Bestimmung, daß die Vernunft Substanz und die Individualität akzidentell sein soll, ist sicherlich falsch. Substanzen und Akzidenzen gibt es in diesem Verhältnis nicht.« (Peter Rohs: Fichte. München 1991, 82). Dementsprechend unterstreicht Rohs auch an späterer Stelle, daß es »zweifellos der theoretische Hauptmangel der Fichteschen Philosophie« sei, »daß der Status des Ich und – wenn man denn ein überindividuelles annehmen will – das Verhältnis zwischen diesem und den individuellen Personen niemals befriedigend geklärt werden« (a. a. O., 127). Dieses basale Problem im Ansatz Fichtes ist insofern nicht zu verwechseln mit der Frage, ob und inwieweit es ihm gelingt, im monologischen Rahmen der Wissenschaftslehre zu einem Konzept von Intersubjektivität vorzustoßen. Dies ist zwar gleichfalls ein Problem, wie etwa Axel Honneth in seinem präzisen Kommentar zum Naturrecht zeigt (Axel Honneth: Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität, in: Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts. Klassiker Auslegen 24. Hrsg. v. Jean-Christophe Merle. Berlin 2001, 63–80), das ursächlich jedoch auf den prinzipiell aporetischen Punkt des individuellen Ich im Verhältnis zur Ichheit zurückverweist. 27 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in: JW 1,1, 234 (Es handelt sich um die Beilage VI der zweiten Auflage von 1789, in der es um Differenzen und Übereinstimmungen zwischen Spinoza und Leibniz geht). Weiter heißt es hier hinsichtlich des Verhältnisses von Substanz und einzelnen Dingen bei Spinoza: »Von der inneren Möglichkeit aber solcher einzelner Dinge in dem absoluten Continuo seiner Einzigen Substanz gab er keine Rechenschaft; keine von ihrer Sonderung, Wechselwirkung, Gemeinschaft, und dem wegen einer flüchtigen Individualität vorhandenen wunderbaren bello omnium contra omnes in und mit dem unendlichen alle Einheit verschlingenden Einzigen.« (JW 1,1, 234). Das Dilemma Fichtes ist damit präzise vorweggenommen. 28 Auf die generelle Anlage im Verhältnis von ›Allein-Philosophie‹ und ›Unphilosophie‹ komme ich später anläßlich von Fichtes Verteidigung seiner Position zurück.
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daß jener Wille der nichts will, jene unpersönliche Persönlichkeit; jene bloße Ichheit des Ich ohne Selbst – daß, mit Einem Worte, lauter rein und baare Unwesenheiten nothwendig zum Grunde gelegt werden müssen, wenn – ein allgemeingültiges, streng wißenschaftliches System der Moral zu Stande kommen soll. Dem sicheren Gange der Wißenschaft zu Liebe müßet ihr – O, ihr könnt nicht anders! Einem Lebendigtodten der Vernünftigkeit das Gewißen (den gewißeren Geist) unterwerfen, es blind-gesetzlich, taub, stumm und fühllos machen«.29 Es ist evident, und dies zumal deshalb, weil hier vom inneren Selbstverhältnis in Gestalt des Gewissens die Rede ist, daß Jacobi nicht allein das Konstruktionsprinzip der bloßen »Ichheit des Ich ohne Selbst« als zwar systemkonforme, aber eben deshalb auch sachlich leere gedankliche Abstraktion verwirft. In eins damit distanziert er sich im Namen des »Selbst« vielmehr ebenso von der extrinsischen Bestimmung der individuellen Person, wie Fichte sie zu deduzieren versucht und dabei, wie gesehen, das »lebendige und fühlende Selbst« im toten Winkel liegen läßt. Insofern ist es aus inhaltlichen Gründen entscheidend, die Homonymie in der terminologischen Verwendung des Ausdrucks Person zu beachten, die sich semantisch eindeutig immer nur relativ zum Kontext der jeweiligen Position entzerren läßt.30 Um so aufschlußreicher für das, was Jacobi im Auge hat, sind seine Äußerungen gegenüber Jean Paul, in denen er im Anschluß an seinen Brief an Fichte und offenbar mit direktem Bezug auf das beigezogene Textstück der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre seine Auffassung nochmals bekräftigt. »Individualität«, so heißt es hier, »ist ein Fundamentalgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntniß; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Substanzialität überall nichts. Ichheit als eine bloße Handlung des Gleichsetzens von – Nichts, als Nichts, in Nichts, durch Nichts, ist ein
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Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an Fichte, in: JW 2,1, 211 f. In diesem Passus (zumal er durch die von Hegel bis zuletzt immer wieder herangezogene Sequenz, daß »das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen«, eingeleitet wird [a. a. O., 211]), ist im übrigen eine wesentliche Quelle für Hegels Erörterung des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes zu sehen. Nicht von ungefähr lenkt Hegel dabei das Augenmerk seinerseits auf das konkrete Selbst. 30 Weit über den Diskurs um 1800 hinausgehend ist diese Homonymie zu konstatieren. Sie sorgt dafür, daß der Begriff der Person längs durch die ganze Ideengeschichte von Boethius bis auf den heutigen Tag zu den interessantesten, aber auch komplexesten und semantisch schillerndsten Begriffen gehört. Vgl. zum Personkonzept Jacobis ausführlicher v. Verf.: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen, in: Jaeschke/Verf., Friedrich Heinrich Jacobi, 217–237.
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baarer Un-Gedanke […]. Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne Der. – Der oder das ist nothwendig immer ein Individuum […]. Die Persönlichkeit des Menschen ist als ein bloßes Schweben durch Synthesis ganz undenkbar.«31 Topischerweise wird die Auseinandersetzung zwischen Fichte und Jacobi unter das Stichwort »Atheismusstreit« subsumiert. Fügt man dem den sogenannten »Pantheismusstreit« der achtziger Jahre und den späteren »Theismusstreit« mit Schelling hinzu, dann scheint Jacobi vornehmlich für die religiösen Streitsachen der klassischen deutschen Philosophie verantwortlich zu sein. Daß dies eine eklatante Verkürzung der Problemlage darstellt, wird bereits im Fall der Jacobi-Fichte-Debatte um 1800 deutlich, deren Fokus sich inzwischen herauskristallisiert hat. Was den Beitrag Jacobis betrifft, gehören deshalb die dem Brief an Fichte im Anhang beigefügten Texte unverzichtbar zu seiner Stellungnahme hinzu. Nicht zufällig besteht deren übergreifendes, von Jacobi seit jeher verfolgtes Interesse im Motiv der »wirklichen Person«32 und der korrespondierenden Kritik an einem Konzept der »Persönlichkeit ohne Person und Personen-Unterschied«,33 womit die These einhergeht, daß sich diese, auf extrinsische Bestimmungen nicht reduzierbare Dimension personaler Individualität dem systemischen Zugriff entzieht. Dem entspricht, daß Fichte seinerseits in seiner direkten Reaktion auf Jacobi, die seinen Brief vom 22. April 1799 und ein Fragment gebliebenes Stück der Vergewisserung umfaßt, die religiöse Thematik nur am Rande streift. Von erheblicher und dabei bis ganz zuletzt nachwirkender Bedeutung ist für ihn der grundsätzliche Befund, daß mit Jacobis Einrede das vermeintlich geklärte Verhältnis von Spekulation und Leben von neuem in Frage steht.
b) Spekulation und Leben: Verteidigungsstrategien Fichtes Seine Position zu verteidigen, ist demzufolge Fichtes Ambition. Der Erörterung seiner einschlägigen Argumente im voraus ist damit bereits ein entscheidender Umstand zu notieren. Fichtes Irritation ist – seiner enttäuschten Erwartung des Einverständnisses mit Jacobi entsprechend –
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Brief Jacobis an Jean Paul, Eutin, 16. 3. 1800, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie. Philosophisch-literarische Streitsachen 2.1. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1993, 78–80, hier 80. 32 Vgl. JW 2,1, 253 (entnommen dem Roman Allwill). 33 Vgl. a. a. O., 256 (entnommen dem Roman Woldemar).
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groß, was jedoch anders als später bei Schelling hier nicht zur Verfertigung eines schrillen Pamphlets, sondern zu einer ernsthaften Sichtung und Vergewisserung seiner Anliegen führt. Damit geht einher, daß der von Fichte sogenannte »Standpunkt des Lebens«, mit dem er Jacobis Position identifiziert,34 nicht nur nicht im mindesten seiner Kritik oder irgendeinem Verdacht auf defizitäre oder gar falsche Überzeugungen verfällt. Im Gegenteil versichert Fichte, im Leben den Einsatzpunkt der Wissenschaftslehre und ihre Zielbestimmung zugleich zu finden. »Ich erkläre sonach hiermit öffentlich, dass es der innerste Geist und die Seele meiner Philosophie sey: der Mensch hat überhaupt Nichts, denn die Erfahrung, und er kommt zu allem, wozu er kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. Alles sein Denken, sey es ungebunden oder wissenschaftlich, gemein oder transcendental, geht von der Erfahrung aus, und beabsichtigt hinwiederum Erfahrung. Nichts hat unbedingten Werth und Bedeutung, als das Leben; alles übrige Denken, Dichten, Wissen hat nur Werth, insofern es auf irgendeine Weise sich auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht, und in dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt.«35 Ob und inwieweit diese Versicherung trägt, bleibt zu bedenken. Strukturell wichtig ist, daß Fichte zumindest behauptet, auf dem Standpunkt des Lebens dessen Überzeugungen zu teilen. Spekulation und Leben dissoziieren sich nicht in zwei miteinander inkompatible Welten, vielmehr besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, genau dieses Leben »erschöpfend«,36 wie Fichte betont, zu umfassen und darzustellen. Wie oben schon vermerkt, hatte sich Fichte, unter Einschluß von Jacobis Kritik 34
Über die Aporien hinaus, die Fichte sich mit seiner Konzeption zweier und dabei systemisch integrierter »Standpunkte« einhandelt, wird man sich im übrigen davor hüten müssen, den an Jacobi adressierten »Standpunkt des Lebens« umstandslos mit der Position, die Jacobi selber einnimmt, gleichzusetzen. Denn was Fichte an Jacobis Position ausblendet und notwendigerweise ausblenden muß, ist die epistemische Reflexion auf ihren »unphilosophischen« Status, der sich via negationis, in der im Sprung vollzogenen Antithese also zum Systemdenken ergibt und somit auf keinen Fall schlicht den unhinterfragten Überzeugungen des common sense entspricht. Strukturelle Mißverständnisse dieser Anlage des Jacobischen Denkens führen auch aktuell immer wieder dazu, vom angeblich »naiven Realismus« Jacobis zu sprechen oder gar anzunehmen, die von Jacobi vertretene »Unmittelbarkeit« bilde perfekt den von Sellars attackierten »Mythos des Gegebenen« ab. 35 Johann Gottlieb Fichte: Sonnenklarer Bericht an das grössere Publicum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen, in: FW 2, 333 f. 36 Johann Gottlieb Fichte: Fragment. Anhang zu Fichtes Brief an Reinhold, Jena, 22. 4. 1799, in: GA III/3, 330–330 (Brief Nr. 440), hier 331. Im folgenden zitiert als »Fichte, Fragment«.
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an Kants Annahme von Dingen an sich, in diesem Sinne bereits früher den Realismus Jacobis zueigen gemacht,37 um daran unter dem jetzt dominierenden Titel des Lebens auch weiterhin festzuhalten. Aufs Ganze besehen bedeutet das, daß Fichtes Wissenschaftslehre ein gegenüber Kant wesentlich erweitertes Konzept von Transzendentalphilosophie verfolgt. Die bereits angeführten und im folgenden weiter zu diskutierenden Schwierigkeiten haben hierin ihren Grund. Wie aber sieht nun das Verhältnis von Spekulation und Leben nach dieser Vorverständigung genauer aus? Überblickt man Fichtes einschlägige Äußerungen, so lassen sich ein methodologisches und ein sachliches Motiv voneinander unterscheiden.38 In methodologischer Hinsicht besteht Fichtes vorrangiges Interesse nicht von ungefähr darin, den zentralen Nihilismus-Vorwurf Jacobis als ein Mißverständnis der Wissenschaftslehre zu entkräften. Fichtes Argument lautet demnach, daß sie des Nihilismus nur dann verdächtig wäre, wenn sie den Anspruch hätte, im reinen Denken neue und wirkliche Objekte zu produzieren, deren Irrealität sich so allerdings leicht durchschauen ließe. Tatsächlich aber kann von einem solchen Anspruch gar keine Rede sein. Auf dem »Standpunkt der Spekulation« geht es nicht darum, irreale Gedanken für Reales auszugeben, sondern lediglich darum, die Erkenntnis des Lebens in Form seiner »systematischen Ableitung«,39 also durch dessen Nachbildung, Nacherfindung oder Re-Konstruktion zu betreiben. »Unser philosophisches Denken bedeutet nichts, und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in seinem Denken gedachte Denken bedeutet und hat Gehalt.«40 Als bloßes Mittel zum Zweck der Erkenntnis des Lebens entbehrt das transzendentalphilosophische System aber nicht nur eines genuinen Inhalts. Es arbeitet darüber hinaus an seiner eigenen Abschaffung, da nach Fertigstellung des Erkenntniswerks »das Instrument als unnütz weggeworfen« wird.41 Die Strategie, die Fichte zu seiner Verteidigung wählt, ist kühn. Ob sie aber auch klug oder gar einleuchtend ist, steht auf einem anderen Blatt. Evident ist ja nicht nur dies, daß er mit der Behauptung eines in sich 37
Vgl. dazu v. Verf.: Das »leidige Ding an sich«. Kant – Jacobi – Fichte, in: System der Vernunft. Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus 2. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, 175–201. 38 Hinzu kommt ein funktionales Motiv, das die Rolle der das Leben darstellenden Philosophie für das Leben zu bestimmen sucht. Fichte schwankt dabei zwischen rein deskriptiven und revisionären Bestimmungen, womit er seine grundsätzliche Verlegenheit gleichfalls zu erkennen gibt. 39 FW 2, 354. 40 Fichte, Fragment, 331. 41 Ebd.
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selbst gehalt- und bedeutungslosen philosophischen Systems den Nihilismus-Vorwurf gleichsam freiwillig adaptiert, was dann in der Konsequenz die spätere Theorieanstrengung einer Erscheinungslehre des Wissens nötig machen wird.42 Evident und gleichermaßen befremdlich ist hier vor allem, daß der Einwand Jacobis ja genau auf das Erkenntnisverfahren der Wissenschaft zielte, von dem Fichte sich die Lösung des Problems erhofft. »Wir begreifen eine Sache nur in sofern wir sie construiren, in Gedanken vor uns entstehen, werden laßen können« – dies hatte Jacobi im Rekurs auf die Beilage VII seiner Spinozabriefe als Grundregel wissenschaftlichen Operierens im Brief an Fichte ausdrücklich noch einmal notiert. Und eben daraus hatte er dann die Folgerung gezogen, daß, wenn »ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll«, wir es »objectiv – als für sich bestehend – in Gedanken aufheben, vernichten« müssen, »um es durchaus subjectiv, unser eigenes Geschöpf – ein bloßes Schema – werden zu laßen.«43 Mit der Unterstellung, das in Gedanken erzeugte Schema erhebe fälschlich einen eigenen Anspruch auf Realität, hat diese Überlegung gar nichts zu tun. Die Nihilismus-Kritik galt vielmehr der Vernichtung ursprünglicher Realität, auf der das Konstruktionsgeschäft basiert. Was durch Konstruktion begriffen werden soll, wird in seinem Selbstsein zwangsläufig aufgehoben und durch das produzierte Schema ersetzt. Den hier aufbrechenden Hiat nicht zu sehen, die Diskontinuität zwischen den ursprünglichen Überzeugungen des Lebens und dem, was davon via constructionis übrigbleibt, zu ignorieren, und statt dessen alles Interesse im irrealen Konstruktionsprinzip einer »unpersönlichen Persönlichkeit«, einer »bloßen Ichheit des Ich ohne Selbst« zu verankern: das war das von Jacobi markierte Problem. Bezeichnend ist deshalb nicht zuletzt, daß Fichte, so als hätte er die Stoßrichtung dieses Einwands wirklich nicht gesehen, sein wissenschaftliches Konstruktionsverfahren ausgerechnet mit Körper- und Maschinenmetaphern zu verdeutlichen sucht.44 Das hebt zwei42
Vgl. v. Verf.: Spinoza zur Einführung. Fichtes Wissenschaftslehre von 1812, in: Fichte-Studien 30 (2006), 71–84. 43 JW 2,1, 201 f. 44 Vgl. FW 2, 346 ff., wo Fichte (nachdem man in der Epoche längst zu organischen Denkmodellen übergegangen war) das »mechanische Kunstwerk« einer Uhr heranzieht, um den hier vorliegenden Zusammenhang von Teilen und Ganzem einschließlich des konstruktiven Schlusses von einem Teil auf das Ganze auf das »Grundsystem alles Bewusstseyns« zu übertragen, in dem ein »dem mechanischen ähnlicher Zusammenhang« zu finden und dementsprechend konstruktiv zu behandeln sei. Höchst problematisch ist diese mechanistische Deutung des Lebens natürlich auch deshalb, weil auf diese Weise ganz unverständlich wird, wie die Dimension der Freiheit im
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fellos den technischen Aspekt der Sache hervor, aber in eins damit eben auch, daß die Einsicht in den buchstäblich so genannten »Mechanismus des Lebens«45 die Zerlegung des Lebens selbst erforderlich macht. »Der lebendige Körper, den wir nachbilden, ist das gemeine reelle Bewußtseyn. Das allmählige Zusammenfügen seiner Theile sind unsere Deductionen, die nur Schritt für Schritt fortrücken können. Ehe nicht das ganze System vollendet dasteht, ist alles, was wir vortragen können, nur ein Theil.«46 Indem diese Bemerkung das methodologische Motiv noch einmal in gefährlicher, das Systemprojekt – ganz auf der Linie von Jacobis Kritik – als technisches Bauprojekt illustrierender Plastizität unterstreicht, rückt sie zugleich das damit verbundene sachliche Motiv ins Licht. In sachlicher Hinsicht geht es darum, die systematische Deduktion der Wissenschaftslehre bis an den Punkt zu treiben und dergestalt zu vollenden, an dem in der Form genetischer »Abbildung« das »vollständige reelle und gemeine Denken« getroffen und transparent gemacht ist.47 Auf die Vollständigkeit dieser Abbildung legt Fichte den allergrößten Wert: »Jede Abweichung derselben von dem wirklichen Bewusstseyn wäre der sicherste Beweis der Unrichtigkeit ihrer Ableitung.«48 Allerdings gewinnt man hier den Eindruck, daß Fichte zunächst jedenfalls auch in diesem Punkt einem Mißverständnis Jacobis erliegt. Offenbar ist er der Meinung, Jacobi hätte seinen Entwurf nicht allein fälschlich als Beanspruchung »reellen Denkens«, sondern auch entschieden zu früh, noch in statu nascendi der Zusammenfügung der Teile kritisiert, anstatt die Vollendung des Systems zu erwarten.49 In diesem Zusammenhang findet sich denn auch der einzige Hinweis auf die in Fichtes Augen allein noch ausstehende »Religionsphilosophie«, deren Ausarbeitung er ja zur selben Zeit auch Schelling gegenüber ankündigt. Versetzt man sich Leben jetzt noch zu thematisieren sein könnte. Insofern ist es zwar konsequent, wenn Fichte Spekulation und Leben unversehens in einen Zusammenhang dergestalt rückt, wonach »[e]ins nicht möglich ohne das andere« sei: »das Leben, als thätiges Hingeben in den Mechanismus, nicht ohne die Thätigkeit und Freiheit (sonst Spekulation), die sich hingiebt […]; die Spekulation nicht ohne das Leben, von welchem sie abstrahirt« (Fragment, 333). Indessen hat er sich mit dieser Verteilung von Mechanismus/Leben und Freiheit/ Spekulation, dem Zugzwang der systemischen Logik folgend, zugleich ganz und gar von dem entfernt, was unter dem Titel »Leben« als sachliches Anliegen Jacobis integriert werden müßte. 45 Fichte, Fragment, 332; vgl. FW 2, 349. 46 Fichte, Fragment, 332. 47 Ebd. 48 FW 2, 394. 49 Fichte, Fragment, 332.
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indessen auf den von Fichte selbst an Jacobi adressierten »Standpunkt des Lebens«, dann ist es in gar keiner Weise hinreichend, das Kriterium der Vollständigkeit in der Aussicht auf die früher oder später geschlossene Rekonstruktion diverser, gleichsam regional ausdifferenzierter Teile zu erfüllen. Was mit Blick auf das Leben in Frage steht, liegt in einer viel tieferen Schicht. Im wahrsten Sinne alles andere fundierend geht es hier um den Anspruch einer vollständigen Einsicht in die Verfaßtheit des Bewußtseins selbst. Wie aber könnte dieser Anspruch nach Maßgabe des in Anschlag gebrachten Konstruktionsverfahrens jetzt überhaupt noch zu erfüllen sein?
4. Weder Cajus noch Sempronius. Das »wirkliche Bewusstsein« im Sonnenklaren Bericht Es ist signifikant, daß Fichte um 1800, sowohl in der Bestimmung des Menschen als auch im Sonnenklaren Bericht, zweimal die Form dialogischer Darstellung wählt. Offenkundig ist dieser Textbefund weder zufällig noch gar von theoretisch minderwertigem Belang. Vielmehr bringt Fichte, provoziert durch Jacobis Kritik, ja gerade so sein dringliches Anliegen zum Ausdruck, sich des gelungenen Verhältnisses von Spekulation und Leben zu versichern, die Wissenschaftslehre mithin als ein Systemprojekt zu verteidigen, das ohne Verstellungen und falsche Ambitionen zur Erkenntnis des Lebens führt. Nicht zu übersehen ist deshalb in beiden Fällen auch, daß der Part des lebensweltlichen Bewußtseins, das von der Wissenschaftslehre überzeugt werden soll, immer wieder mit wörtlichen Jacobischen Anleihen ausgestattet wird. Dem ist hier nicht im einzelnen nachzugehen. Festzuhalten ist vor diesem Hintergrund aber, daß es methodisch offenkundig kein Fehler, sondern vielmehr geboten ist, von Fichtes Texten nun in der Tat den vollständigen Aufschluß über dasjenige Selbstverständnis der Person zu erwarten, das Jacobi in eins mit der Behauptung seiner systemischen Unzugänglichkeit vertritt.50 50
Dazu paßt, daß Jacobi in der Einleitung des Sonnenklaren Berichts sogar namentlich angesprochen wird. Im Anschluß an den früher zitierten Passus über die Relevanz der Erfahrung und den unabdingbaren Bezug der Wissenschaftslehre auf das Leben, fährt Fichte fort: »Dies ist die Tendenz meiner Philosophie. Dasselbe ist die der Kantischen, die wenigstens über diesen Punct sich nicht von mir lossagen wird; dasselbe die eines mit Kant gleichzeitigen Reformators in der Philosophie, Jacobi’s, der, wenn er mich auch nur über diesen Punct verstehen wollte, wenig Klagen mehr über mein System erheben würde.« (FW 2, 334).
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Inzwischen kaum mehr überraschend werden indes genau diese Erwartungen enttäuscht. Anstatt sein Versprechen auf Vollständigkeit einzulösen, gibt Fichte vielmehr in beiden Texten seine theoretische Verlegenheit kund. Dies ist hier anhand des alles andere als sonnenklar argumentierenden Sonnenklaren Berichts zu beleuchten,51 in dem nicht nur, aber wesentlich auch von Beginn bis zum Schluß undeutlich bleibt, auf welches »wirkliche Bewusstsein« sich die Wissenschaftslehre eigentlich bezieht, um das, was im Leben selbst gefunden wird, in Gestalt seiner genetischen Abbildung für die Erkenntnis zu erzeugen.52 Der einen Version zufolge hat man es dabei mit einem allgemeinen »Grundbewusstsein« zu tun. Danach sieht die Wissenschaftslehre sowohl ihrer Ausgangs- als auch ihrer Zielbestimmung nach von vornherein von aller individuellen und sogar gattungsspezifischen Bestimmtheit des Bewußtseins ab. Worauf sie den Blick richtet, sind apriorische »Grundbestimmungen«, die »für alle Vernunft« gelten und damit selbst das Merkmal »Mensch« als hier nicht einschlägig ausschließen.53 Daß dies ein ebenso konsequenter wie extrem kontraintuitiver Einstieg in eine Verständigung ist, die für die Wissenschaftslehre als eine durchweg der Erfahrung des menschlichen Lebens verpflichtete Rekonstruktionsanstrengung werben will, liegt auf der Hand. Tatsächlich scheint Fichte sich hier in ein Transzendentalprogramm Kantischer Prägung zurückzuziehen, das streng zwischen apriorischen und aposteriorischen Konditionen trennt, hier aber zugleich Ausdruck der aporetischen Lage ist, in die Fichte selbst sich mit der Beteuerung hineinmanövriert hat, keinerlei Ansprüche auf »reelles Denken« zu erheben. Komplementär dazu wird das »wirkliche Bewusstsein« auf kategoriale Bestimmungen reduziert. Und dem wiederum entspricht, daß in diesem Bewußtsein sodann die Evidenz des »Selbstbewusstseyns« in Gestalt der »Ichheit« aufgedeckt wird, deren »Subject-Objectivität« »jedes Kind, das nur aufgehört hat von sich selbst in der dritten Person zu reden, und
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Nicht weil die Bestimmung des Menschen weniger wichtig und aufschlußreich als der Sonnenklare Bericht wäre, sondern weil ich mich zur Bestimmung des Menschen bereits ausführlich geäußert habe, konzentriere ich mich im folgenden auf den Sonnenklaren Bericht. Vgl. v. Verf.: Monistische Variationen: Fichte und Spinoza. »Die Bestimmung des Menschen« gegen den Strich gelesen, in: Fichte und Spinoza. (Tagungsakten der Spinoza-Fichtung-Tagung im Schloß Rammenau 2006). Hrsg. v. Robert Schnepf u. Jürgen Stolzenberg. Im Druck. 52 FW 2, 357 f. 397 f. 53 A. a. O., 352 f.
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sich selbst Ich nennt«54, je schon vollzogen hat. Um aber in der »Ichheit« zugleich den Ausgangspunkt der systematischen Ableitung des Bewußtseins zu gewinnen, wird dem Dialogpartner eine Maßnahme eingeschärft, die das anhaltende Dilemma der Fichteschen Bemühungen direkt zum Vorschein bringt. Denn wenn ich »mich selbst denke«, habe ich »dieses bestimmte Individuum, diesen Cajus oder Sempronius«, gedacht. Das »reine Ich« erzielt man deshalb dann, wenn man »von diesen besonderen Bestimmungen« der »Persönlichkeit« absieht und »lediglich auf das Zusammenfallen des Denkenden und Gedachten« reflektiert.55 Definitiv unklar ist hier zum einen, wie man es im Gang einer Überlegung, die selbst das Gattungsmerkmal »Mensch« aus dem relevanten »Grundbewusstsein« ausgeschieden hatte, um »das gesammte gemeinsame Bewusstseyn aller vernünftigen Wesen schlechthin a priori« zu konstruieren,56 unversehens mit konkreten, namentlich genannten Individuen zu tun haben kann. Diese Verwirrung schlägt sich dann auch in Fichtes weiteren Ausführungen nieder, in denen man einer zweiten Version des »wirklichen Bewusstseins« begegnet. »Das Ich des wirklichen Bewusstseyns ist allerdings auch ein besonderes und abgetrenntes: es ist eine Person unter mehreren Personen, welche insgesammt, jeder für sich, sich gleichfalls Ich nennen; und eben bis zum Bewusstseyn dieser Persönlichkeit setzt die Wissenschaftslehre ihre Ableitung fort.«57 Damit hat Fichte den Kantischen Rahmen erneut gesprengt und die beanspruchte Vollständigkeit der Abbildung des Lebens bis zur Behauptung der Deduktion des individuellen Individuums hin heruntergebrochen. Eben das lenkt aber zugleich auf den weiteren und eigentlich entscheidenden Punkt. Denn definitiv unklar ist zum andern, und zwar hinsichtlich beider zitierten Passagen, was man mit Fichtes formelhafter Kennzeichnung des Unterschieds zwischen reinem und individuellem Ich gewinnt. Von welcher Art sind die sogenannten »besonderen Bestimmungen«, die das Ich zu einer bestimmten Person individuieren? Und vor allem: Wie will Fich-
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A. a. O., 362 f. A. a. O., 364 f. 56 A. a. O., 379. 57 A. a. O., 382. Wobei selbstverständlich die Differenz zwischen dieser Zielbestimmung des konkreten Ich und der Instanz seiner Ableitung eingeschärft bleibt: »Ganz etwas anderes ist das Ich, von welchem die Wissenschaftslehre ausgeht: Es ist durchaus nichts weiter, als die Identität des Bewusstseyenden und Bewussten; und zu dieser Absonderung muss man sich erst durch Abstraction, von allem Übrigen in der Persönlichkeit, erheben.« (ebd.). 55
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te die Selbstidentität dieser bestimmten Person begreiflich machen, sofern Identität dem Gedanken einer selbstbezüglichen »Ichheit« zugeschrieben wird, deren Reinform genau dann zutage tritt, wenn man von der »Individualität«, mit der sie im »gemeinen Bewusstseyn« »unzertrennlich vereinigt« ist, abstrahiert?58 Mit anderen Worten: wäre in Gestalt des benannten Cajus oder Sempronius wirklich derjenige gemeint, der sich selbst denkt – und dies einmal abgesehen davon, ob ›Denken‹ hier die richtige Vollzugsform ist –, dann würde man durch Abstraktion von dieser Perspektive nichts gewinnen, was sich ihr anschließend wieder umstandslos implantieren ließe. Vielmehr handelte es sich um kategorial und inhaltlich völlig differente Formen von Selbstbezüglichkeit, deren angeblich gemeinsamer Nenner eben nicht in der abstrakten, der Implosion des Reflexionsmodells des Selbstbewußtseins geschuldeten Subjekt-Objekt-Identität bestünde. Soll hingegen umgekehrt diese Abstraktionsbewegung garantieren, daß sich die Wissenschaftslehre in der »Ichheit« ihres Konstruktionsprinzips versichert, dann war – abgesehen von der peinlichen Frage nach den individuierenden Faktoren – die Jemeinigkeit des Cajus oder Sempronius von vornherein nie im Spiel. Und das wiederum hat zur Folge, daß sich der Anspruch auf die vollständige Abbildung des Lebens auf generische Vernunftbestimmungen beschränken muß, die die Erfahrungen konkreten Lebens im selben Augenblick eklatant unterbieten. Ersichtlich begegnet man so aufs Neue dem Befund, daß das »lebendige und fühlende Selbst« in den toten Winkel solcher Konstruktionsanstrengungen gerät. Und insofern hilft es auch nicht weiter, wollte man im Rückblick auf frühere Texte Fichtes wenigstens die Frage der individuierenden Faktoren aufzuklären suchen und es dabei dahingestellt sein lassen, ob die jeweils beanspruchte Deduktion überhaupt gelingt und sich nicht vielmehr als theoretisch gar nicht durchführbar erweist.59 Denn ob das principium individuationis dem Naturrecht zufolge in den raum-zeitlichen Bedingungen leiblicher Einwirkung von Ichen aufeinander oder der Sittenlehre zufolge im Gedanken einer an Leibniz gemahnenden Vernunftwelt liegen soll, in der »erste bestimmte Puncte der Individualität« in ihren Einflüssen aufeinander prädeterminiert sind:60 immer handelt es
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Ebd. Daß letzteres wirklich der Fall ist, machen die immer neu ansetzenden Reflexionen Fichtes in den erwähnten Diarien unmißverständlich klar. 60 FW 4, 227. Die Frage nach der Herkunft solcher »Punkte« beantwortet die Wissenschaftslehre nova methodo mit der Logik von Bestimmbarkeit und Bestimmung, wonach 59
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sich hier – mit Thomas Nagel gesagt – aus der Perspektive der Ichheit um »the view from nowhere«. Um einen Blick also, der es, nicht umsonst in vorzugsweise geometrisch quantifizierendem Duktus, der auch die Wissenschaftslehre nova methodo sowie den Sonnenklaren Bericht durchherrscht, wenn überhaupt nur zu extrinsischer, die Personen äußerlich voneinander separierender Bestimmtheit bringen, aber nicht einholen kann, wie es für die jeweilige Person selber ist, dieses individuelle Individuum, dieses »lebendige und fühlende Selbst« zu sein. Dieser Aspekt des jemeinigen Fürmichseins der Person hat weder mit empirischen Raum-Zeit-Bestimmungen noch mit a priori verteilten Handlungsoptionen und schließlich auch und schon gar nichts mit dem Gedanken selbstidentischer »Ichheit« als der »Geistigkeit überhaupt« zu tun. Auf genau diesen Aspekt personaler Existenz, der auch das konkrete Bewußtsein moralischer Verantwortung trägt, hat indessen Jacobi seine Kritik der Wissenschaftslehre gestützt. Und um ihn hinreichend deutlich zu unterstreichen, war dem Brief an Fichte unter anderem auch der folgende Auszug aus dem Allwill-Roman eigens beigefügt: »So wenig der unendliche Raum die besondere Natur irgend eines Körpers bestimmen kann; so wenig kann reine Vernunft des Menschen mit ihrem überall eben guten Willen, da sie in allen Menschen Eine und dieselbe ist, die Grundlage eines besondern, verschiedenen Lebens ausmachen, und der wirklichen Person ihren eigenthümlichen individuellen Werth ertheilen.«61 Noch bevor ich als Individuum bzw. Person »ein durch sich selbst herausgegriffener Theil aus den Vernunftwesen« bin (Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Hrsg. v. Erich Fuchs. Hamburg 21994, 177). Dies reduziert Individualität nicht allein auf die Vorstellung eines bestimmten »Quantums« einer »Masse« (vgl. a. a. O., 149. 233), sondern vermag selbst diesen Gedanken im Grunde gar nicht zu erklären. Ist die Masse der Vernunftwesen als allgemeine und insofern bestimmbare Größe der Vernunft gedacht, dann ›gibt‹ es denjenigen genau nicht, der sich hier »herausgreifen« und auf diesem Wege als bestimmtes Individuum manifestieren könnte. Soll indes solches Herausgreifen der Vorgang einer äußerlichen Unterscheidung von anderen, somit ihrerseits bestimmten Vernunftwesen sein, dann ist immer schon vorausgesetzt, was eigentlich begriffen werden sollte, ohne zugleich ein qualitatives Distinktionskriterium dafür, »daß das Geistige sich theilen lasse« (a. a. O., 149), angegeben zu haben. 61 JW 2,1, 253 (Anhang 3). Wie ich in meinem in Anm. 30 unter Bezugnahme auf weitere Texte Jacobis genannten Aufsatz argumentiert habe, geht es hier um die Dimension des »Wer einer ist«. Dies schließt auch bei Jacobi, so habe ich dort gezeigt, die prädikative Dimension des »Was einer ist«, durchaus nicht aus. Entscheidend ist aber, daß die Dimension des »Wer« – bereits bei Boethius als die individuelle Subsistenz der Person bezeichnet – auf die »Was«-Dimension nicht reduzierbar ist. Die flüchtige, immer einmal wieder auftauchende und immer aufs Neue verschwindende Figur des »lebendigen und fühlenden Selbst« bei Fichte zielt auf das »Wer«, während in der Konstruktion des Systems die »Was«-Perspektive unübersehbar dominiert.
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Fichte überhaupt dazu ansetzt, war damit jeglichem Versuch, durch quantifizierende Verfahren zur »wirklichen Person« zu gelangen, ein Riegel vorgeschoben. Als qualitativ bestimmtes Phänomen läßt sich das Personsein im System, in einer »Philosophie aus Einem Stück«, per se nicht konstruieren. Zu seiner Darstellung sind andere, »unphilosophische« Mittel vonnöten. Fichtes Unterfangen, dem zum Trotz auf dem Weg des Systems eine vollständige Abbildung des Lebens erreichen zu wollen, endet nicht zufällig aporetisch.
Oliver Koch Von Fichtischen ›Schau-Menschen‹ und Jacobischen ›Preismenschen‹. Zum Verhältnis von personalem Dasein und philosophischem System bei Jean Paul
Das konkrete zeitliche Dasein des Ich als Individuelles ist die entscheidende Hinsicht, die Jacobis prominente Kritik an Fichtes philosophischem System leitet. Tatsächlich gelingt es Fichte wohl trotz erheblicher Anstrengungen nicht, die Selbstwahrnehmung konkreter Einzelner durch die Ableitung aus einer allgemeinen reinen Ich-Struktur begrifflich einzuholen.1 Sein Ziel war dies sehr wohl. Dies zeigt nicht nur Die Bestimmung des Menschen (1800) durch die geradezu exzessive, oft wörtliche Aufnahme diesbezüglicher Jacobischer Formulierungen. Ohne eine solche Annahme müßte auch sein bereits 1794 einsetzendes Werben um Jacobis philosophische Zustimmung vollkommen unverständlich bleiben. Gleiches gilt von Fichtes Vermutung, Jacobi selbst sei ein Leugner der »eigentliche[n] persönliche[n] Freiheit des endlichen Wesens«, weil er »alle Thätigkeit in diesem auf den Unendlichen, als den letzten Grund derselben, [übertrage]«.2 Mit diesem Verdacht verschärft Fichte sogar noch einmal seinen eigenen philosophischen Anspruch im Blick auf das individuelle Dasein eines Ich; nunmehr erscheint die Wissenschaftslehre gleichsam als letzte wahre Verteidigerin der ›Person‹. – Weder Reinhold noch Jacobi reagieren im übrigen inhaltlich auf Fichtes Verdächtigung. Vielmehr ist es der Literat Jean Paul, der diese unverzüglich im Sinne Jacobis noch einmal umkehrt und feststellt, daß Fichte selbst es sei, der die persönliche Freiheit leugne, indem er sie »ins unendliche Ich verleg[e]«.3
1
Siehe hierzu den Beitrag von Birgit Sandkaulen in diesem Band. Brief Fichtes an Reinhold v. 8. 1. 1800, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Canstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. III, Band 4, 182. 3 Brief Jean Pauls an Jacobi v. 21. 2. – 6. 3. 1800, in: ders.: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Hrsg. v. Eduard Berend, Weimar/Berlin 1927 ff. Im folgenden zitiert als »JPSW«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. III, Band 3, 299 Anm.. 2
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Nicht nur wegen dieses Auftritts verspricht ein näherer Blick auf Jean Paul eine interessante Ergänzung für die Diskussion personalen Daseins. Was zunächst als bloßer Seitenblick auf einen randständigen philosophischen Dilettanten erscheinen könnte, verbleibt nämlich tatsächlich historisch wie sachlich unmittelbar im Streit zwischen Fichte und Jacobi über die systemische Einholbarkeit des individuellen Ich. Denn erstens steht Jean Paul mit Jacobi um 1800 in einem intimen schriftlichen Gedankenaustausch über den Kasus Fichte, mit dem er wiederum persönlichen Umgang hat. – Zweitens mischt sich Jean Paul selbst zeitnah auf Seiten Jacobis in die öffentliche Debatte ein, ja bereichert in seiner kleinen Schrift Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (1800) Jacobis Kritik sogar auf signifikante Weise: Als ganz bewußt inszeniertes, raffiniertes Spiel mit Verschiebungen von absolutem und einzelnem Ich besteht ihre Originalität insbesondere darin, im Gegensatz zu Jacobi an der praktischen Philosophie Fichtes anzusetzen4 und den Egoismusvorwurf im vollen Aufmerken auf dessen Interpersonalitätstheorem zu reformulieren. Interessant ist dies vor allem deshalb, weil im Interpersonalitätstheorem sich die beiden Differenzstrukturen Ich-Es und Ich-Du offenkundig durchdringen.5 In Fortbestimmung des dritten Grundsatzes aus der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre soll hier als wesentliche Konstitutionsbedingung des ›lebendigen Selbst‹ im Sinne des sich vom Objekt unterscheidenden Subjekts gerade seine Beziehung zu anderen (einzelnen) Ichen nachgewiesen werden. Jean Paul erkennt die zentrale Rolle des Interpersonalitätsbeweises bei Fichte, versucht aber zugleich aufzuzeigen, daß die Annahme mehrerer wirklicher, individueller Iche mit dem aus dem absoluten Ich folgenden System unvereinbar sei. Es geht in der Clavis wesentlich darum, »den Fichtischen Idealismus mit dem apodiktischen Dasein fremder MitIchs, das ihn gerade stützen soll, umzubrechen« (Abschnitt 1).6 – Drit4
Dabei ist es vor allem das System der Sittenlehre, von dem aus Jean Paul Zugang zur Wissenschaftslehre findet (vgl. Briefe an Jacobi v. 13. 10. 1798, 3. 12. 1798 u. 15. 5. 1799, in: JPSW III/3, 106 f. 128–133. 197–200). 5 Zu den Differenzbeziehungen von Ich-Du und Ich-Es vgl. den Beitrag Birgit Sandkaulens sowie Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1971. Im folgenden zitiert als »SW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier Band 1, 501 ff. 6 Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, in: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Norbert Miller München/Wien 1959 ff. Im folgenden zitiert als »JPW«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. I, Band 3, 1011–1056, hier 1013. – Seitdem die Forschung die grundlegende Bedeutung der Interpersonalitätslehre für die Wissenschaftslehre herausgestellt hat, gilt in großen Teilen der Fichte-Literatur der Solipsismus-Vorwurf, wie er von Jacobi und Reinhold erhoben wurde, als »stichhaltig
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tens schließlich bemüht sich auch Jean Paul selbst intensiv und in der festen Überzeugung, ganz mit Jacobi übereinzustimmen, um eine Selbstverständigung darüber, was es heißt eine ›Person‹, ein genuin sittliches Individuum zu sein. Zur Identifizierung eines diesbezüglichen Defizits der Wissenschaftslehre bedarf es nämlich, so weiß auch Jean Paul, dieser Selbstverständigung über eine alternative Bezieh- und Darstellbarkeit auf bzw. von Personsein (Abschnitt 2).
1. Die Kritik des Solipsismus der Wissenschaftslehre in Jean Pauls Clavis Fichtiana Die komplizierte und bewußt verwirrende Komposition der Clavis macht ihre gerechte Beurteilung nicht leicht. Denn in dieser kleinen Schrift gilt es, allein drei Abschnitte und fünf Texte von zwei (oder gar drei) zum Teil fiktiven Autoren sowie zwei Redemodi, Scherz und Ernst, zu unterscheiden. Leider kann ich dies hier nicht weiter verfolgen. Für die Jacobisch-Fichtische Auseinandersetzung über das Verhältnis von personalem Dasein des Ich und dem System der Wissenschaftslehre ist dabei jedoch Folgendes entscheidend: 1. Die Rekonstruktion der Position Fichtes durch die Romanfigur Leibgeber folgt den Grundthesen Jacobis, wonach (a) die Wissenschaftslehre die aus systematischen Gründen notwendig radikalisierte Fassung des transzendentalidealistischen Ansatzes Kants und (b) als Systemphilosophie in ihrem Wesen bereits vollständig aus ihrem Prinzip erkennbar sei, so daß es (c) bei der kritischen Bewertung nicht auf das in der Deduktion von Fichte Intendierte, sondern nur auf das tatsächlich Deduzierbare ankomme. Daher versteht sich die Darstellung Leibgebers selbst noch einmal als konsequentere Präsentation der Resultate der Wissenschaftslehre im Vergleich zu dieser selbst. – Jeans Pauls (wie Jacobis) zentrale kritische These besteht dabei in der Beurteilung der Transzendentalphilosophie als rein formale, d. h. realitätslos bleibende Wirklichkeitskonstitution. Denn ihr programmatischer Anspruch führe notwendig zur Substitution des ursprünglichen Realen durch die von der Philosophie (re-)konstruierbaren
widerlegt« und sachlich wertlos (Alain Perrinjaquet: Individuum und Gemeinschaft in der WL zwischen 1796 und 1800, in: Fichte-Studien 3 (1989), 7–28, hier 7 f.). Angesichts des angezeigten programmatischen Vorhabens der Clavis ist es zumindest im Fall von Jean Pauls Solipsismusdiagnose jedoch ungenügend, diese durch das weitverbreitete bloße Hervorzeigen des Fichteschen Interpersonalitätstheorems widerlegen zu wollen.
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apriorischen egologischen Sinnstrukturen von Wirklichkeit. Die Formalismusdiagnose legt Jean Pauls Darstellung allein bereits dadurch prägnant vor Augen, daß Leibgeber seine Rekonstruktion der Wissenschaftslehre streng alphabetisch, nicht inhaltlich ordnet und doch mühelos den Gang der begrifflichen Entwicklung der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre zu reproduzieren vermag. – Konkreter gefaßt, behauptet Jean Paul mithin, daß sowohl mein bestimmtes Ich als auch bestimmte andere Iche, Dus also, als solche innersystemisch bei Fichte keinen Bestand haben: Denn es zeige sich einerseits eine wesentliche Fremdheit und prinzipielle inhaltliche Verschiedenheit von absolutem und realem empirischem Ich sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Das ›absolute Ich‹ könne, recht besehen, eine strenge begrifflich-systematische Ableitung des endlichen Ich als Ich nicht tragen, weil es als Verbindung von ›Ich‹ und ›Absolutheit‹ selbst eine genuin widersprüchliche Benennung sei, deren bloß metaphorischen Charakter Fichte übersehe oder verschleiere.7 – Sieht man von diesem Problem einmal ab und nimmt das ›absolute Ich‹ als prinzipiierenden Begriff, gilt nach Jean Paul in der Wissenschaftslehre andererseits aber, daß es als absolut Selbsttätiges und alleiniger Seinsbzw. Bewußtseinsgrund das (für es) Existierende nur in sich selbst setzen könne – und dabei zugleich auch nichts anderes als endliche Bilder seiner selbst, bloße Einschränkungen seiner eigenen Tätigkeit zu schaffen vermöge. Daher dürfe der Wissenschaftslehrer »als streng-konsequenter Theoretiker« auch unmöglich mehrere wirkliche Ichs annehmen; nur als Phänomene könne das (reine) Ich sie setzen, nicht aber als eigenständige und in ihrer Ich-Natur vom setzenden Ich verschiedene Wesen, als Iche an sich selbst, wodurch erst eine wahre Pluralität von Ichen gegeben wäre.8 2. Jean Paul läßt zur näheren Begründung der These, daß Fichtes eigene Interpersonalitätslehre, die den Rahmen des empirisch-epistemischen Realismus zu überschreiten sucht, mit dem aus dem absoluten Ich als Prinzip folgenden System unvereinbar ist oder aber nicht leiste, was sie vorgebe, Leibgeber vier Argumente gegen Überlegungen aus ihrem Kontext aufbieten: Aus der Pflicht könne (a) nur ein Wollen, nicht aber ein
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Vgl. Jean Paul: Clavis Fichtiana, in: JPW I/3, 1025 f. 1036. – Tatsächlich verzichtet Fichte bald darauf, das Absolute als Ich zu verstehen, was Jean Paul sofort überrascht registriert, sprengt es in seinen Augen doch Fichtes ursprünglich egologisches System (vgl. Jean Pauls Brief an Jacobi vom 9. 4. 1801, in: JPSW III/4, 63). 8 Auch diese Diagnose bestätigt Fichte selbst im übrigen als triftig (vgl. Fichtes Vorlesungsnotizen 3ter Cours der W.L. 1804, in: GA II/7, 351).
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Glauben oder Wissen der Wirklichkeit der Bedingungen der Pflicht gefolgert, mithin kein praktisch-realistischer Standpunkt konstituiert werden.9 Im Gedanken der Pflicht, etwas für wahr zu halten, die die methodische Prämisse auch des Interpersonalitätsbeweises (in der Sittenlehre) bildet, liege die Aufopferung der Vernunft und damit des System- und Wissenschaftsanspruchs der Wissenschaftslehre. – Das moralische Gesetz setze, so Leibgeber darum im Blick auf die einzig verbleibende (gleichsam kantische) Alternative von transzendentalem und empirischem Standpunkt, (b) auch gar kein existierendes Ich voraus, da das reine Ich (als sein Subjekt) weder gegen ein anderes reines Ich (wegen des fehlenden Daseins bzw. Bewußtseins beider) noch als ein rein empirisches Ich gegen ein anderes empirisches Ich handeln könne. Denn als (bloß) empirisch-phänomenales, endliches Ich habe es gar keine Pflicht. – Aus dem Postulat fremder moralischer Subjekte würde (c1) vielmehr notwendig die Anerkennung der Sinnenwelt als substantiell und somit ein vom bloß ›empirischen‹ (aber auch von einem praktisch befohlenen epistemischen) zu unterscheidender unmittelbar praktischer Realismus folgen, da ein Handeln gegen andere Ichs nur in der Sinnenwelt möglich sei. Ist die Gewißheit fremder Moralität und Immoralität nur eine genuin sinnliche und gründet auf ihr zugleich die Gewißheit »kategorische[r] Befehle«, muß nach Leibgeber die sinnliche Gewißheit selbst so realitätshaltig wie die moralische sein und nicht erst vermittels dieser.10 – Denn die Alternativthese (c2) dazu, die einen Parallelismus der von den reinen bzw. praktischen Ichen konstituierten Welten annehmen müßte, die die Vermittlung durch eine gemeinsame reale Sinnenwelt erübrigen würde, führe nicht weiter. Entweder sei sie (i) ohne Grund, d. i. ohne ein den Parallelismus Verbürgendes, oder (ii) ohne ausreichende Erklärungskraft. Fichtes absolutes Ich sei (ii) bloß konstitutives Moment des Selbst- und Weltbewußtseins. Seiner Allgemeinheit zum Trotz, sei es daher zu schwach, eine reale gemeinsame Sphäre aktualen Handelns einer Pluralität sittlicher Subjekte bzw. die Übereinstimmung ihrer Handlungssphären zu gewährleisten. Die »sogenannte moralische Weltordnung Fichtes« könne wohl eine optimistische Harmonie zwischen meinem Ich und Nicht-Ich einführen, aber nie zwischen ihm und fremden Ichs und Nicht-Ichs und deren moralischen
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Vgl: »Ohne was es überhaupt keine Pflicht geben könnte, ist absolut wahr; und es ist Pflicht, dasselbe für wahr zu halten.« (Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, in: SW 4, 165) 10 Zu Fichtes Kritik einer solchen unmittelbaren, konkreten sittlichen Gewißheit, von ihm als »materielle Glaubenspflicht« verstanden, vgl. ebd.
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Weltordnungen.11 Würde die prästabilierte Harmonie den realen sittlichen Subjekten (i) hingegen »von unbekannter Hand« geschenkt, müßte sie unter den Prämissen der Wissenschaftslehre diesen für sie selbst notwendig unbekannt bleiben. Daher könne sie (für mich) auch keine Beziehung oder gar Identität zwischen dem von mir in meiner Sphäre als anderes moralisches Subjekt gesetzten fremden Ich und dem wirklichen anderen, selbst eine Welt setzenden Ich begründen. »Dennoch soll ich, da durch keine Konsekration ein Gott in diese Statuen [das sind die anderen Iche als Erscheinungen, O. K.] zu bringen ist, bloß ein Vergehen an diesen Statuen, wie eines an den römisch-kaiserlichen, für ein Majestätsverbrechen halten; ich soll wie Hexen durch das Bild das ferne Original treffen […] bloß ein übender Gliedermann meiner Moralität, ein Mit-Akteur soll der fremde Schau-Mensch vor mir sein, den ich auf der Bühne beschenke und liebe, ohne daß er etwas davon hat, nur die dramatische Kunst der Tugend soll dabei profitieren«. – 3. Jean Pauls Argumentation gegen Fichtes Interpersonalitätstheorem fand kaum Beachtung und Anerkennung. Selbst wohlmeinende Interpreten der Clavis sehen sie allenfalls gegen dessen Fassung aus den Vorlesungen von den Pflichten der Gelehrten im Recht. Im Blick auf Naturrecht und Sittenlehre falle Jean Pauls Kritik hingegen »in sich zusammen«; die genetische Ableitung eines Anderen als Konstitutionsbedingung des Ich selbst, scheine Jean Paul unbekannt.12 – Diese Annahme ist aufgrund von Jean Pauls belegter Kenntnis der Sittenlehre wenig glaubhaft und auch inhaltlich unhaltbar. Zwar stellt Leibgeber in der Tat das Du als ›Postulat‹ des Ich dar, wie es im strengen kantischen Sinne sich allenfalls in Fichtes Gelehrtenschrift findet. Und wirklich fehlt zudem in der Clavis jeder Reflex auf Fichtes Aufforderungstheorem. Doch nimmt Leibgeber, genauer betrachtet, auf den eigentlichen Interpersonalitätsbeweis der Gelehrtenschrift genausowenig Bezug wie auf den Begriff der Aufforderung aus Naturrecht und Sittenlehre. Denn während jene die Notwendigkeit eines anderen Ich aus den Folgen und Implikationen des sittlichen Triebes beweist, bezieht sich Jean Paul auf die Anerkennung fremden personalen Daseins als Bedingung der Pflicht, deren Prämisse, den Übergang von der
11
Hier und im folgenden: Jean Paul: Clavis Fichtiana, in: JPW I/3, 1041–1043. Zur ›moralischen Weltordnung‹ vgl. u. a. Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: SW 5, 175–189, v. a. 184 ff. 12 Vgl. Sandra Hesse: »Mir (empirisch genommen) grauset vor mir (absolut genommen).« Zur philosophischen Kritik und poetologischen Reflexion in Jean Pauls Clavis Fichtiana, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 40 (2005), 107–149, v. a. 111 u. 131 f.
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Pflicht zum epistemischen Führwahrhalten der Realität ihrer Verwirklichungsbedingungen, jedoch gleich Leibgebers erstes Argument ablehnt. – Daß das Aufforderungstheorem selbst keine Aufmerksamkeit erfährt, obwohl Leibgebers Überlegungen sich von Beginn an an die Sittenlehre adressieren, hat neben seiner erklärten Absicht, nur die Resultate der Wissenschaftslehre zu geben, auch einen Sachgrund: Die argumentationslogische Analyse der Aufforderungslehre würde noch keine Bewertung darüber zulassen, ob der Wissenschaftslehre die Ableitung realer anderer Iche gelingt. Indiz dafür ist, daß Fichte selbst in dem Maße das Aufforderungstheorem in Naturrecht und Sittenlehre auf ganz unterschiedliche ›Gegenstände‹ anwendet, wie ihm Recht und Moral als grundlegend verschiedene Sphären oder Disziplinen gelten, in denen darum ganz unterschiedliche Begriffe des Ich und der Freiheit im Spiel sind. – Leibgebers Argumente nehmen auf Rechtssphäre und Naturrecht keinerlei Bezug. Aus gutem Grund, geht es hier doch allein um äußere Freiheit, sinnliche Wirksamkeit und um die ›Aufforderung‹ bloß als Gegebenes der äußeren Empfindung.13 Das nachgewiesene Du ist wie das von ihm aufgeforderte Ich im Naturrecht nur ein Wesen mit technisch-praktischer Vernunft, ein rational kalkulierendes Naturwesen. ›Lebendige fühlende Selbste‹ und ihre Innenperspektiven sind hier noch gar nicht im Vollsinne im Spiel. Zudem ist eine Pluralität rein endlicher und bedingter Rechtssubjekte als phänomenale problemlos vereinbar mit ihrer monologischen transzendentalen Konstitution durch vorbewußte Tätigkeiten des Ich. Nichts spricht grundsätzlich dagegen, das Du in Fichtes Naturrecht bloß als Implikat des Ich zu verstehen.14 Empfindlich wird die Frage allererst im Blick auf moralisch-praktische Selbste, wie sie in der Sittenlehre und in Leibgebers drittem Argument thematisch sind. Würde man nämlich, wie Jean Paul es tut, die Idee einer Pluralität sittlicher, d. h. in einer Hinsicht unbedingter, unendlicher und schlechthin freier Wesen ernstnehmen, müßten Ich und Du auch als sittliche, als unbedingte Wesen, d. h. in dem, was sie zu einem sittlichen, unbedingten macht, für individuell und voneinander real verschieden genommen werden, anstatt sie darin als identisch zu betrachten. Eine Pluralität solcher Wesen ließe sich aber nicht mehr durch die unbewußte Setzung ein und desselben einzigen reinen Ichs oder Willens, durch eine identische
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Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: SW 3, 9. 33 und 55. Vgl. Axel Honneth: Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität (Zweiter Lehrsatz: § 3), in: Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts. Ein kooperativer Kommentar. Hrsg. v. Jean-Christophe Merle. Berlin 2001, 63–80, v. a. 79. 14
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Unbedingtheit erklären. – Im ersten Teil der Interpersonalitätsüberlegungen der Sittenlehre findet sich indes kein belastbarer Hinweis, daß ein derartiges Aufbrechen des monologischen Ansatzes bei Fichte erfolge. Die Deduktion eines realen Du über das Aufforderungstheorem steht erneut unter dem Vorbehalt, daß es um ein durch das Ich ›gesetztes‹, ›angenommenes‹ oder ›zugeschriebenes‹ geht – wenn auch nicht bloß als endliches vernünftiges Naturwesen wie im Naturrecht. Wenn Leibgeber das Du als bloße Projektion des (transzendentalen) Ich versteht, unterläuft ihm noch immer kein offenkundiger Fehler. Zumal entgegen Fichtes Insinuierung, hier die notwendige Existenz eines anderen Ich – ›eines‹ im numerischen Sinne – gezeigt zu haben,15 der Beweis, streng genommen, wohl die Frage nach der Wirklichkeit anderer vernünftiger Individuen noch gar nicht erreicht. Denn Fichte selbst erklärt wenig später, daß das dem Du hier korrelierende Ich erst ein »bloßes Vernunftwesen überhaupt« sei.16 Das ›Du‹ des ersten Beweisgangs wäre dementsprechend selbst zunächst bloß der kategoriale Begriff ›andere Ichheit‹ bzw. ›Duheit‹. – Die Ebene konkreter Einzelner als Einzelner kommt allenfalls im zweiten Beweisteil in den Blick: in der apriorischen Deduktion nicht der (transzendentalphilosophisch) unbeweisbaren Wirklichkeit, wohl aber der Möglichkeit einer Mehrzahl empirisch bestimmter, besonderer Vernunftwesen. Daß es gerade diese Argumentation Fichtes ist, die in Leibgebers Kritik die meisten Spuren hinterlassen hat, zeigt Jean Pauls philosophisch genaue Lektüre an. Zwar gilt auch weiterhin, daß »dasjenige, was außer uns seyn soll, […] selbst erst erklärt werden [muß], aus etwas in uns«.17 Doch schimmert hier wenigstens kurz die im dritten Argument Leibgebers von Jean Paul aufgedeckte Problematik der Pluralität sittlicher Individuen als sittlicher durch, insofern Fichte plötzlich mit dem Gedanken einer nichtempirischen materialen Bestimmung des individuellen Ich als individuellem konfrontiert ist. Allerdings bringt er diese Frage unmittelbar und instantan zugleich in einer merkwürdigen, leibnizianisch-spinozistischen Figur einer in der absoluten Vernunft verbürgten Prädetermination der empirischen Bestimmungen der sittlichen Individuen und einer sub specie aeterni15
Vgl. Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, in: SW 4, 221. – Grund für Fichtes Selbstdeutung ist ohne Zweifel seine These, daß es einen »Willen überhaupt« als bloß »abstracten Begriff« nicht gibt, sondern er nur je als ein bestimmtes Wollen wirklich existiert (a. a. O., 158). Allerdings steht gerade die Vereinbarkeit dieser Behauptung mit der systemkonstitutiven absoluten Tätigkeit des Ich (›Tathandlung‹) für Jean Paul in Frage. 16 A. a. O., 225. 17 A. a. O., 224.
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tatis prästabilierten Harmonie zwischen den Tätigkeiten der einzelnen Wesen zum Verschwinden. Jean Paul bzw. Leibgeber weist hellsichtig darauf hin: Identifiziert man diese absolute Vernunft mit dem reinen Ich, gilt neuerlich die (monologische) Projektionsdiagnose, die mit dem Aufheben anderer Iche mich selbst als Person systemisch aufgibt und das intendierte individuell Daseiende durch seine (Re-)Konstruktion als ideales Allgemeines ersetzt. Bestreitet man diese Identifizierung oder hält man die anderen Selbste für wesentlich individuell und damit für vom (reinen) Ich substantiell verschieden, ist der transzendentalidealistische Ansatz gesprengt.18 4. Der Ausdruck ›Person‹ (›Ich‹) bei Fichte oszilliert m. a. W. für Jean Paul zwischen begrifflich-allgemeinem und anschaulich-existentiellem Charakter. Darum könne aber auch die Wissenschaftslehre nicht im strengen Sinne argumentativ widerlegt werden; Fichte bleibe die begrifflich unangreifbare Möglichkeit, sich mit der moralischen Welt auf die gleiche Weise wie mit der sinnlichen abzufinden19 – um den Preis eines nur unmittelbar gewissen Verlustes des sittlich Konkreten. Die Komposition der Clavis reflektiert diese Beschränkung, indem sie in wesentlichen Teilen den Widerstand gegen die Wissenschaftslehre in die Anschauung verlegt. Die Klage des (absoluten) Ich über seine selbstwidersprüchliche Natur und seine transzendentale Einsamkeit ist humoristische Inszenierung und nihilistische Schreckensvision in einem. In Ergänzung und Überbietung der immanenten begrifflichen Argumentation soll uns die Darstellung der begrifflich streng notwendigen, unseren lebensweltlich-praktischen Hoffnungen, Vorstellungen und Gewißheiten als daseiende Individuen jedoch entgegenlaufenden Konsequenzen der Wissenschaftslehre gerade aufgrund ihrer existentiell-lebenspraktischen Unannehmbarkeit der Unwahrheit der ihnen zugrundeliegenden philosophisch-systemischen Prämissen und Begriffe versichern. – Ein solches Vorgehen bliebe jedoch philosophisch ohne Wert, das weiß auch Jean Paul, gelänge trotz aller prinzipiellen Schwierigkeiten keine alternative Selbstverständigung und Darstellung über das in der Wissenschaftslehre vermeintlich Verlorene, d. h. darüber, was es heißt, ein konkreter Einzelner zu sein. Daher sei am Ende noch ein kurzer Blick auf Jean Pauls ›Konzept‹ der ›Person‹ geworfen.
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Zur Kritik von Fichtes Überlegungen vgl. z. B. Hansjürgen Verweyen: Rechtslehre und Ethik bei Fichte. Grundzüge und Aktualität, in: Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung. Hrsg. v. Hans Georg von Manz u. Günter Zöller. Hildesheim 2006, 111–126, hier 115. 19 Vgl. Jean Paul: Clavis Fichtiana, in: JPW I/3, 1013.
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2. Person-Sein als ›geistige Individualität‹ »Ich ist« – so Jean Paul – »das Höchste so wie Unbegreiflichste, was die Sprache ausspricht und wir anschauen. Es ist auf einmal da, wie das ganze Reich der Wahrheit und des Gewissens.«20 Jean Pauls ›Ich‹ soll, als ein genuin konkretes und reales, nicht nur dem Fichtischen reinen Ich, der Ichheit, entgegengesetzt sein, sondern, als unbedingte Totalität, ebenso dem Verständnis als Bündel von Eigenschaften, als »zufälliges Weg- und Zuwägen einzelner Kräfte«.21 Die philosophische Alternative zum transzendental Allgemeinen ist mithin nicht die ›schlechte‹ sinnlich-zufällige Einzelheit, kein »bloßes Bewußtsein persönlicher [d. i. physischer und bürgerlicher, O.K.] Verhältnisse«,22 sondern eine »geistige Individualität«, eine von Zufälligem, Zahl und Zeit unberührte stetige, ja ewige, höhere konkrete geistige Einheit, die alle ästhetischen, sittlichen und intellektuellen Kräfte zu einer Seele binde und beherrsche. Allein auf diesem je bestimmten »durch das ganze Leben reichende[n] Wollen«,23 – kurz: auf dem »Charakter«, dem inneren »Preismenschen«24 – gründe der Wert eines Menschen. Auf ihm beruhe unser Vertrauen, Befreunden und Anfeinden ebenso wie unser Glauben an eigene oder fremde Autorität, die entscheidend für Überzeugungen auch im theoretischen Feld sei.25 Fichtes Überlegungen zum Ich als sittlich-praktischem Individuum, an das sich die Sittenlehre und vor allem die Bestimmung des Menschen über weite Strecken ausdrücklich wendet, ähnelt Jean Pauls Beschreibung zunächst durchaus.26 Denn auch Fichte experimentiert, wie gesehen, mit dem Gedanken einer nichtphysischen materialen Bestimmung des individuellen sittlichen Ich als individuellem: Im genuin individuellen Gewissen, das nur mir je in innerlicher Anschauung zugänglich ist, werde »jedem seine besondere Pflicht auferlegt«; dadurch würden wir »als einzelne, und besondere Wesen hingestellt« und »die Grenzen unserer Per-
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Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: JPW I/5, 564. Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, in: JPW I/4, 221 f. 22 Brief Jean Pauls an Jacobi v. 1. –7. 4. 1800, in: JPSW III/3, 315. 23 Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: JPW I/5, 783, vgl. auch 18. 24 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: JPW I/5, 56 bzw. ders.: Levana oder Erziehlehre, in: JPW I/5, 560. 25 Vgl. a. a. O., 18. 73. 636 f. 26 Auch im Theoretischen läßt sich spätestens seit 1796/1797 ähnliches beobachten, insofern Fichte den Hörer/Leser selbst als vollziehenden Akteur der Reflexion anspricht. Doch zielt dies auch hier zuletzt nicht auf ein Individuelles, sondern ein transzendentales Allgemeines in seinem Handeln. 21
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sönlichkeit« gezogen.27 – Zwei weitere systemisch bedingte und in der Wissenschaftslehre konstante Hinsichten führen jedoch auch hier zu einer grundlegenden Differenz zwischen Fichte und Jean Paul (sowie Jacobi) in der Auffassung des konkreten Ich: In der Bestimmung des Menschen ist dies Fichtes These, daß der endliche Wille seine Wahrheit im bloßen reinen, also unpersönlichen Wollen, als ›absolute Freiheit des Willens‹, hat. Vor dem Ziel des allgemeinen »Fortgangs der Vernunft und Sittlichkeit im Reiche der vernünftigen Wesen« sei mir – so heißt es am Ende des dritten Buches – meine Persönlichkeit schon längst untergegangen;28 das einzelne Ich ist wiederum in ein allgemeines Geistiges aufgelöst. – In der Sittenlehre korrespondiert dem das Verständnis meines Willens als bloßes Faktum in der Sinnenwelt, also als einzelnes, endliches Glied »in einer sinnlichen Ordnung«. War im Naturrecht die Leiblichkeit bzw. physische Ungleichheit das dominierende principium individuationis, so schreibt zuletzt auch die Sittenlehre die materiale Bestimmtheit des Sittengesetzes dem bloßen Naturtrieb zu.29 Einwenden ließe sich, daß diese beiden der ›geistigen Individualität‹ entgegenlaufenden Motive auch bei Jean Paul offenbar eine große Rolle spielen. Der Einzelne sei, so lesen wir nämlich, »Gattung«, »in welcher sich die Menschheit widerspiegelt«;30 im sittlichen Ideal bzw. Charakter gehe es ums ›Allgemeine‹, »Rein-Menschliche«, nicht um »die Zufälligkeiten der Individualität«, die gelegentlich als Zeichen der sinnlich-körperlichen Verfaßtheit gilt.31 Liebe und Freundschaft, zumindest in ihrem höchsten Grad der ›Menschenliebe‹, sehen nach Jean Paul daher nicht nur von gewissen zufälligen Verhältnissen ab, wie Verwandtschaft; geliebt werde auch nicht der Freund als der konkrete Freund, sondern als »etwas Höheres«: als ›Mensch‹ bzw. ›Menschheit‹.32 Jeder bekannte (sittliche) Fehler bedrohe daher unser Verhältnis, weshalb Freunde wie Geliebte sittliche Perfektion vortäuschen müßten.33 27
Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, in: SW 4, 168 (vgl. auch 225 ff.). Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: SW 2, 312. 29 Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, in: SW 4, 154 sowie 152. 30 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: JPW I/5, 59. 31 A. a. O., 75. 32 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, in: JPW I/4, 224 u. ders.: Vorschule der Ästhetik, in: JPW I/5, 221 f. 33 Vgl. Brief Jean Pauls v. 19. 3. 1796 an Amöne Herold, in: JPSW III/2, 183. – Zudem scheint es so, als könnten Einzelne als ›schlechte‹ Individuen auch ganz aus der sittlichen Ordnung herausfallen: Wenn Madame Corday Marat erdolcht, dann tötet sie nicht unzulässigerweise als einzelne Bürgerin einen anderen einzelnen Bürger, sondern als Agentin eines sittliches Organismus (und ausgestattet mit dem Glaubensmut 28
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Indes darf man diese Ausführungen Jean Pauls nicht mißverstehen; sie zeigen weniger einen Universalisten Kantisch-Fichtischer Art als die Schwierigkeit der philosophischen Annäherung an die ›Person‹, gerade eingedenk des berechtigten Interesses an über das Jetzt und Hier hinausgehender Verbindlichkeit, Stetigkeit und Selbstgleichheit. – Bereits ein Blick auf die Freundschaftsverhältnisse im Roman Titan verrät, daß die Freundschaft zwischen Roquairol und Albano gerade an der Unfähigkeit scheitert, im Gegenüber den realen Menschen zu erblicken und nicht nur das selbst entworfene Ideal des Anderen, das uns gemeinsame Allgemeine. – ›Allgemeinheit‹ bedeutet bei Jean Paul nicht die Priorität des Rein-Menschlichen gegenüber seiner einzelnen, nur noch modalen Erscheinungsform; in der Idee der »allegorischen oder symbolischen Individualität«34 geht es vielmehr darum, die Eigenständigkeit des Konkreten gegenüber dem einen schlechthin Wahren und untereinander zu erhalten: Jedes Individuum müsse sich so finden, daß jedes nur sein Besonderes in einem Allgemeinen finde, wie der Mondschein, »welcher nachts dem einen Wanderer im Walde von Gipfel zu Gipfel nachfolgt, zu gleicher Zeit auch einem andern von Welle zu Welle«.35 Nicht als modaler Ausdruck, sondern als je eigenständiges Bild spiegeln nach Jean Paul alle Wesen die Wahrheit. Sie spiegeln sie ganz, insofern noch das kleinste Individuum selbst ein Ganzes und Unbedingtes ist, aber auf individuelle Weise. Das Individuum ist m. a. W als bestimmtes Unbedingtes ein Unbedingtes, nicht aber wegen eines schlechthin allgemeinen Unbedingten, an dem es teilhat.36 Jeder sittliche Charakter ist mithin durch eine konkrete Tugend ausgezeichnet, die sowohl seine sinnlich-natürlichen Bestimmtheiten als auch die allgemeinen Regeln, Gesetze und begrifflichen Einsichten des Verstandes erst durch geistige Anverwandlung (Metaphorisierung) zu Momenten seiner Bestimmtheit macht – zumindest temporär. Während Fichtes System auf der Idee einer Identität zwischen dem Prinzip des reinen Ich und dem prinzipiiertem konkreten Ich aufgebaut ist und daher alles, was diese sprengt, wie die Wirklichkeit als Konkretes, letztlich als unwesentlich und bloß endlich in ihrem Eigensinn aufhebt, versuchen Jean Pauls wie Jacobis Überlegungen im Modus des Bruches
des sittlichen Genies) den »Staatsfeind«, das ›kranke Glied‹ (Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise, in: JPW I/6, 337). 34 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: JPW I/5, 221. 35 A. a. O., 46. 36 Vgl. Jean Paul: Levana oder Erziehlehre, in: JPW I/5, 563; vgl. ders.: Vorschule der Ästhetik, in: JPW I/5, 226.
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zu operieren,37 d. i. im originären Verhältnis der Differenz von Urbild und Spiegelbild, das beiden eine wesentliche Eigenständigkeit und Freiheit gewähren und zugleich eine (begrifflich nicht auflösbare) Beziehung der Ähnlichkeit bewahren soll. Der Mensch selbst ist also von metaphorischem Charakter und gilt Jean Paul statt als Einheit als ewiger Bruch, nicht aber als Widerspruch zwischen seiner geistigen und sinnlich-körperlichen Verfassung.38 Denn er ist in der Lage durch Anverwandlung den Körper temporär zur »Reliquie des Geistes«, eines konkreten Geistes zu machen.39 Insofern es um Metaphorisierung und das gebrochene Verhältnis der Ähnlichkeit, nicht um begriffliche Allgemeinheit und Gleichheit geht, ist das eigentliche Medium der Selbstverständigung und Darstellung des Lebens bei Jean Paul wie bei Jacobi die Poesie mit ihrer sinnlichen, d. h. für Jean Paul ihrer schönen oder humoristischen Konkretion, nicht die systemische Philosophie. Höchste Manifestation der ›Logik des Bruches‹ ist aber die Rede von der Personalität Gottes.40 Fichte muß diese im Rahmen seines an begrifflicher Allgemeinheit orientierten systemischen Projektes, in dem Einzelnes, Endliches und Bedingtes identifiziert werden, konsequenterweise um der Unendlichkeit und Unbedingtheit Gottes willen zurückweisen. Für Jacobi und Jean Paul wird die begrifflich unhaltbare Rede von der Person Gottes hingegen gerade zum paradigmatischen Ausdruck einer Bezüglichkeit, zu der die Gleichheit qua Ähnlichkeit genauso wesentlich gehört wie die Eigenständigkeit und reale Differenz der sittlichen Individuen als bestimmte Unbedingte. Um eine Übertragung aller Tätigkeit des einzelnen Ich auf einen unendlichen, letzten Grund, wie von Fichte gemutmaßt, geht es ihnen dabei nicht.
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Vgl. Jean Paul: Clavis Fichtiana, in: JPW I/3, 1031. Zu Jacobi vgl. Birgit Sandkaulen: Zur Vernunft des Gefühls bei Jacobi, in: Fichte-Studien 11 (1997), 351–365. 38 Vgl. Jean Paul: Siebenkäs, in: JPW I/2, 546 u. ders.: Das Kampaner Tal, in: JPW I/4, 565. 39 Jean Paul: Siebenkäs, JPW I/2, 452. 40 Vgl. die Briefe Jean Pauls an Jacobi v. 25. – 27. 1. 1816 u. 21. 2. – 6. 3. 1800, in: JPSW III/7, 56 u. III/3, 299.
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»Dies, das wahre Leben leben, könnte er [sc. der Philosoph] nun, ohne sein Wissen, gar nicht; denn das vollendete Leben der Erscheinung ist notwendig ein sich selbst erscheinendes, durchsichtiges, klares, von sich durchdrungenes: und so zeigt sich denn die Spekulation als eine durchaus notwendige Bestimmung des Lebens selbst, als der wahre Paraklet, auf den das Christenthum […] vertröstet hat.«1 Mit diesen Worten faßte Johann Gottlieb Fichte am 3. Mai 1810 in einem Schreiben an Friedrich Heinrich Jacobi seine Sicht von System und Leben zusammen, wie sie sich auf der methodischen Grundlage der späten Wissenschaftslehren darstellt. Fichtes Brief und die in diesem skizzierte These, daß das Leben auf seine vollständige reflexive Durchsichtigkeit hin angelegt sei, System und Leben sich mithin nicht ausschließen, darf zugleich als ein abschließender Kommentar zu Jacobis gut elf Jahre zuvor publizierter Stellungnahme zum Atheismusstreit verstanden werden. In seinem Sendschreiben An Fichte vom März 1799 hatte Jacobi nicht nur in den Atheismusstreit um Fichte eingegriffen, sondern diesen über seinen unmittelbaren Anlaß hinaus, nämlich Fichtes Identifizierung des Gottesgedankens mit dem Gedanken einer moralischen Weltordnung, auf eine prinzipiellere Ebene gehoben. Die sich als System vollendende Transzendentalphilosophie, wie sie in Fichtes Wissenschaftslehre vorliege, nämlich als einer »durchaus reinen, in und durch sich selbst bestehenden Philosophie«, tendiere, ob des in ihr geltend gemachten Produktionscharakters des Wissens einerseits und ihrer vollständigen Selbstbezüglichkeit andererseits, geradewegs in einen Nihilismus.2 »Alles außer ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht einmal von Etwas; sondern ein Gespenst
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Brief von Fichte an Jacobi vom 03. 05. 1810, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. III, Band 6, 331. 2 Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte (1799), in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Band 2.1. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1993, 3–31, hier 6. Im folgenden zitiert als »Jacobi, Jacobi an Fichte«, mit Angabe der Seitenzahl.
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AN SICH: ein reales Nichts; ein Nichts der Realität.«3 In seiner Diagnose und Kritik an Fichtes Transzendentalphilosophie als einer vollendeten Wissenschaft, die nichts außer ihr kennen kann, greift Jacobi auf Motive zurück, welche er in seinem Spinoza-Büchlein Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn vierzehn Jahre zuvor bereits gegenüber dem angeblichen Spinozismus Lessings geltend gemacht hatte.4 In Jacobis Augen lassen sich diese ruinösen Konsequenzen des vollendeten Idealismus der Wissenschaftslehre nur dann vermeiden, wenn zwischen System und Leben nicht nur strikt unterschieden wird, sondern auch das Leben den übergeordneten und grundlegenden Bezugsrahmen des philosophischen Systems darstellt. Aus diesem Grund gelte hier, in Umkehrung der bekannten Ordnung, daß der »Vorläufer offenbar der Vornehmere« sei.5 »Da ich nehmlich das Bewußtseyn des Nichtwissens für das Höchste im Menschen, und den Ort dieses Bewustseyns für den der Wissenschaft unzugänglichen Ort des Wahren halte; so muß es mir an Kant gefallen, daß er sich lieber am System als an der Majestät dieses Orts versündigen wollte.«6 Jacobis soeben kurz in Erinnerung gerufener Kommentar zu Fichtes vollendetem Idealismus,7 wie er in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 ausgeführt ist, darf als in mehrerer Hinsicht symptomatisch für die Debatten um die systematische Form der Philosophie um 1800 gelten. Einerseits formuliert Jacobi mit seiner Entgegensetzung von System und Leben ein Problem, welches sich als Verhältnis zwischen Philosophie und lebensweltlichem Realitätsbewußtsein oder von reflexiver Bestimmtheit und unmittelbarem Vollzug reformulieren läßt. In Frage
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Jacobi, Jacobi an Fichte, 14. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Hrsg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke, Darmstadt 2000. 5 Jacobi, Jacobi an Fichte, 4. 6 Jacobi, Jacobi an Fichte, 5. 7 Ausführlich hierzu Walter Jaeschke: Der Messias der spekulativen Vernunft, in: Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle u. Martin Ohst. Würzburg 1999, 143–157. Im folgenden wird dieser Band zitiert als »Fichtes Entlassung«, mit Angabe der Seitenzahl; Gunnar Hindrichs: Der Standpunkt des natürlichen Denkens. Fichtes ›Bestimmung des Menschen‹ in der Auseinandersetzung mit der »Unphilosophie« Jacobis, in: System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen. Würzburg 2006, 109–129. Im folgenden zitiert als »Sandkaulen, System«, mit Angabe der Seitenzahl. Zu Jacobi siehe Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000. 4
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steht damit nicht nur das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung, sondern auch die Begründung der Realitätshaftigkeit des Wissens. Zum anderen rückt er mit seinem Insistieren auf dem Phänomen des subjektiven Lebens einen Aspekt in den Blickpunkt, dem in den philosophischen Debatten um die Jahrhundertwende eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil und das unter verschiedenen Leitbegriffen thematisiert wurde.8 Erinnert sei hier nur an Schleiermachers Erstlingswerk Über die Religion aus dem Jahre 1799 oder an die frühromantischen Konzeptionen einer poetischen Einbildungskraft. Im folgenden soll es nicht so sehr um die von Jacobi proklamierte Entgegensetzung von System und Leben gehen, sondern – freilich auf dem Hintergrund des von Jacobi artikulierten Problemniveaus und in Auseinandersetzung mit ihm – um die von Fichte und Schelling um 1800 vorgenommene Verzahnung von systematischer Form der Philosophie und lebensweltlichem Vollzug. Das Interesse gilt also nicht dem in der Literatur oft traktierten Bruch zwischen Fichte und Schelling nach 1800 sowie der Vorgeschichte dieser Entfremdung, die spätestens mit Schellings Abhandlung Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre aus dem Jahre 1806 zum endgültigen Zerwürfnis zwischen beiden Philosophen führte,9 sondern allein den unterschiedlichen systematischen Konstruktionen des Verhältnisses von unhintergehbarem subjektiven Leben und der systematischen Reflexion dieses Lebens in Gestalt von umfassenden Systemkonzeptionen. Die These, welche ich hierbei begründen und ausführen
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Siehe hierzu Jürgen Stolzenberg: Weltinterpretationen um 1800, in: 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999. Hrsg. v. Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthövener. Berlin/New York 2000, 58–78. Im folgenden zitiert als »Stolzenberg, Weltinterpretationen«, mit Angabe der Seite. Siehe auch Birgit Sandkaulen: System und Systemkritik. Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung eines fundamentalen Problemzusammenhangs, in: Dies., System, 11–34. 9 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben, in: GA II/10, 11–65; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/ Augsburg 1856–1861, hier Band 7, 1–126. Im folgenden wird diese Schellingausgabe zitiert als »SW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Aus der Vielzahl der Literatur zu dieser Kontroverse siehe Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (1795–1801), Freiburg/München 1975; Christoph Asmuth: Das Verhältnis von Philosophie und Religion zur Religionsphilosophie Fichtes, in: F.W.J. Schelling: Philosophie und Religion. Hrsg. v. Alfred Denker u. Holger Zaborowskis. Freiburg/München 2008, 143–154.
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möchte, lautet, daß sowohl Fichte als auch Schelling davon ausgehen, daß das Leben auf seine vollständige reflexive Selbstdurchsichtigkeit im Selbstverhältnis des Geistes angelegt ist. Diese reflexive Erfassung des Selbstverhältnisses und seiner Bedingungen, welche die Transzendentalphilosophie rekonstruiert, wird nun von beiden Autoren auf unterschiedliche Weise mit dem lebensweltlichen Vollzug des humanen Selbstverhältnisses verzahnt. Bei Fichte ist dies das konkret bestimmte moralische Selbstverhältnis und bei Schelling das Selbstverhältnis als solches. Dadurch wird die Entfaltung des Systemgedankens von Schelling zur Beschreibung derjenigen Strukturen erweitert, in denen das Subjekt in seinem Weltbezug sich selbst verständlich wird. Diese These möchte ich mit Blick auf die Schriften beider Autoren um 1800 erhärten. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen also einerseits Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen aus dem Jahre 1800, die auch als eine erste Antwort auf Jacobis Brief vom März 1799 gelesen werden kann, und andererseits Schellings System des transzendentalen Idealismus aus dem gleichen Jahr. Einzusetzen ist mit dem Älteren.
1. System und Leben in Fichtes Die Bestimmung des Menschen, oder die konkrete Pflicht als Realitätsglaube Fichtes im Jahre 1800 publizierte populäre Schrift Die Bestimmung des Menschen stellt nicht nur, wie bereits erwähnt, eine erste Antwort auf Jacobis Stellungnahme zum Atheismusstreit vom März 1799 dar, sondern sie darf vor allem auch als ein ausführlicher Kommentar zu einer kryptischen Bemerkung Fichtes aus seiner Schrift Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung verstanden werden, eben jener Schrift, welche den sogenannten Atheismusstreit mitprovoziert hatte. In der besagten Schrift schreibt Fichte im Kontext der Einführung des transzendentalen Gesichtspunkts, der den Ausgangspunkt seiner Religionstheorie bildet: »Ich könnte weiter, wenn ich auch selbst in bloss theoretischer Hinsicht mich in das unbegrenzte Bodenlose stürzen, absolut Verzicht leisten wollte auf irgend einen festen Standpunct, mich bescheiden wollte, selbst diejenige Gewissheit, welche alles mein Denken begleitet, und ohne deren tiefes Gefühl ich nicht einmal auf das Speculieren ausgehen könnte, schlechterdings unerklärbar zu finden. Denn es giebt keinen festen Standpunct, als den angezeigten, nicht durch die Logik, – sondern durch die moralische Stimmung begründeten; und wenn unser Räsonnement bis zu diesem entweder nicht fortgeht, oder über ihn hinausgeht,
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so ist es ein grenzenloser Ocean, in welchem jede Woge durch die andere fortgetrieben wird.«10 Zum Verständnis der herangezogenen Stelle aus der Schrift über den Grund unseres Glaubens, die eine konsequente Transzendentaltheorie andeutet, ist sowohl Fichtes methodische Unterscheidung von Philosophie und Leben als auch die Unterscheidung von drei Standpunkten oder Stufen des Bewußtseins der Menschheit und des Individuums heranzuziehen. Was zunächst Fichtes methodische Unterscheidung von Spekulation und Leben betrifft, so ist zu sagen, daß diese grundlegend ist für Fichtes Verständnis der Transzendentalphilosophie. Fichte war der Meinung, daß die Mißverständnisse der Wissenschaftslehre, nicht zuletzt auch bei Jacobi, auf der Nichtberücksichtigung dieser Unterscheidung beruhen.11 Der Transzendentalphilosophie Fichtes geht es um eine Erklärung der lebensweltlichen Überzeugungen von der Realität und Unabhängigkeit der Objekte in der Welt. Aus diesem Grund beziehen sich die Rekonstruktionen und Unterscheidungen der Transzendentalphilosophie auf eine strikt von dem lebensweltlichen Bewußtsein unterschiedene Ebene. Sodann deutet Fichte in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre als Grundlage der Unterscheidung von Dogmatismus und Idealismus12 eine
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Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1845–1846 = 1971. Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert als »SW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier Band 5, 182 f. Einen genauen Kommentar zu der herangezogenen Stelle aus dem Grund unseres Glaubens sowie zu Fichtes Religionsphilosophie während des Atheismusstreits bietet Folkart Wittekind: Religiosität als Bewußtseinsform. Fichtes Religionsphilosophie 1795–1800. Gütersloh 1993. Im folgenden zitiert als »Wittekind, Religiosität als Bewußtseinsform«, mit Angabe der Seitenzahl. 11 Vgl. etwa Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: ders.: Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre und Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Hamburg 1954, 69 Anm.: »Daher mochte es kommen, daß der hellste Denker unseres Zeitalters [sc. Jacobi], auf dessen Schrift ich mich oben berufe, den so richtig gefaßten transzendentalen Idealismus nicht annahm, ja durch die bloße Darstellung ihn zu vernichten glaubte, weil er sich diesen Unterscheid der zwei Gesichtspunkte nicht klar dachte, und voraussetzte, die idealistische Denkart werde im Leben angemutet; eine Anmutung, die allerdings nur dargestellt werden darf, um vernichtet zu sein.« Noch in den Rückerinnerungen zum Atheismusstreit, geschrieben Anfang 1799, unterscheidet Fichte strikt zwischen Philosophie und Leben. »Beide, Leben und Speculation, sind nur durch einander bestimmbar. Leben ist ganz eigentlich Nicht-Philosophiren; Philosophiren ist ganz eigentlich Nicht-Leben; und ich kenne keine treffendere Bestimmung beider Begriffe, als diese.« (Johann Gottlieb Fichte: Rückerinnerungen, Antworten, Fragen, in: SW 5, 335–373, hier 343) 12 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Einleitung, in: GA I/4, 194 f.
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Unterscheidung von drei Stufen des Bewußtseins an, die er auch in der Wissenschaftslehre nova methodo skizziert hat. Fichte unterscheidet zwischen einer ersten Stufe des Bewußtseins, auf der zwar den Denkgesetzen des Bewußtseins gefolgt wird, jedoch so, daß nicht darauf reflektiert wird. Diese unterste Stufe des Bewußtseins vergleicht Fichte mit dem des Kindes.13 Auf der zweiten Stufe des Bewußtseins werden dem Menschen die Denkgesetze zwar bewußt, so daß sie Realität haben. Allerdings werden diese Denkgesetze auf dieser Stufe des Bewußtseins lediglich so bewußt, daß die »Resultate der Begriffe für Dinge an sich« gehalten werden.14 Fichte identifiziert diese Stufe des Bewußtseins mit der »Entstehung des Dogmatismus« und unterscheidet sie von einer dritten Stufe des Bewußtseins, »indem es sich seine Vorstellungen und Begriffe als ein Handeln des Vorstellenden nach bestimmten Regeln« vorstellt.15 Auf dieser dritten Stufe kommt die theoretische Aufklärung des Bewußtseins an ihr Ziel. Hier werden die Denkgesetze als Leistungen des Bewußtseins durchsichtig. Damit ist freilich Fichtes Analyse des Bewußtseins nur nach einer Seite hin vorgestellt. Unberücksichtigt blieb bislang das im Handeln auftretende Bewußtsein der Freiheit. Die theoretische Aufklärung des Bewußtseins zielt auf eine Erklärung des Gefühls der Notwendigkeit von Vorstellungen. Im lebensweltlichen Bewußtsein tritt jedoch nicht nur dieses Gefühl auf, sondern auch das der Freiheit. Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie Fichtes, der die Aufgabe obliegt, die Handlungen des Bewußtseins zu rekonstruieren, die in dem Alltagsbewußtsein und seinen Realitätsvermeinungen immer schon angewandt sind, ist das im Bewußtsein vorkommende Gefühl der Freiheit. Durch dieses Freiheitsgefühl erst entsteht auf den unteren Stufen des theoretischen Bewußtseins der Antagonismus von Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl.16 Auf der dritten Stufe des theoretischen Bewußtseins, welches die Denkgesetze als Handlungen der selbsttätigen Vernunft versteht, stimmt dieses mit dem Freiheitsbewußtsein im Handeln überein. Damit ist der begriffliche und strukturelle Rahmen angedeutet, der im Hintergrund von Fichtes Schrift über Die Bestimmung des Menschen steht
Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, in: GA IV/2, 26: »1ste Stufe der Menschheit – indem sie nach den Gesetzen der Vernunft – nemlich d. theoretischen, in Absicht der Denkgesetze handelt, ohne sich derselben bewußt zu seyn, wie Zb. das Kind, der Wilde – der gemeine Mensch.« 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Siehe hierzu Wittekind, Religiosität als Bewußtseinsform, 114. 13
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und der es nun auch erlaubt, die abgekürzte Rede Fichtes über eine konsequente Transzendentaltheorie aus dem Grund unseres Glaubens zu verstehen. Erst auf diesem theoretischen Hintergrund kann dann auch eine Antwort auf die Zuordnung von System und Leben gegeben werden, wie sie Fichte um 1800 vorschwebt. Was zunächst die erste Frage betrifft, so ist zu sagen, daß das zweite Buch der Schrift von 1800, von Fichte »Wissen« genannt, eine Ausführung des in dem Aufsatz von 1798 angedeuteten konsequenten Transzendentalsystems bietet, welches, wie es in dem genannten Aufsatz hieß, über den »festen Standpunct« des moralischen Gefühls hinausgeht. Es hat den Status eines theoretischen Gegenmodells, welches gerade nicht auf Moralität bezogen ist.17 Fichte rekonstruiert hier die selbsttätigen Leistungen des Bewußtseins, die von dem natürlichen Standpunkt, welcher im ersten Buch als Idealform des Dogmatismus dargestellt wird, bereits in Anspruch genommen werden. Der natürliche Standpunkt wird also methodisch über sich selbst aufgeklärt und dadurch zur dritten Bewußtseinsstufe erhoben. Der Geist bringt dem Philosophierenden aus dem ersten Buch »keine neuen Offenbarungen. Was ich dich lehren kann, das weißt du längst, und du sollst dich jetzt derselben nur erinnern«.18 Fichte skizziert im zweiten Buch seiner Bestimmung des Menschen als Gegenmodell zu dem natürlichen Standpunkt eine konsequente Transzendentaltheorie, welche alle denkbaren Gehalte des Bewußtseins als Leistungen und Produktionen des Bewußtseins erklärt. Dadurch wird alle Realität des natürlichen Standpunkts in Leistungen des Bewußtseins aufgelöst. »Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt.«19 Auch der Gedanke des Ich von sich selbst, der alle Vorstellungen muß begleiten können, löst sich hier in ein von dem Ich gesetzten Bild seiner selbst auf und wird eine »bloße Erdichtung, da jenes Vermögen und jenes Wesen selbst nur erdichtet ist«.20 Der Übergang vom zweiten zum dritten Buch der Bestimmung des Menschen, also der Übergang vom Wissen zum Glauben, ist allein durch die 17
So zu Recht Wittekind, a. a. O., 117. Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: GA I/6, 145–309, hier 215 = SW 2, 199. Im folgenden wird diese Schrift zitiert als »Fichte, Die Bestimmung des Menschen«, mit Angabe der entsprechenden Seite in der ›Gesamtausgabe‹ wie in den ›Sämtlichen Werken‹. 19 A. a. O., GA I/6, 251 = SW 2, 245. 20 A. a. O., Die Bestimmung des Menschen, GA I/6, 251 = SW 2, 244. 18
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Frage nach einer Begründung der Realitätshaltigkeit des Wissens auf der Grundlage der Einsicht in den Produktionscharakter aller Wissensgehalte, auch des Gedankens des Ichs von sich selbst, motiviert. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Realitätshaltigkeit des Wissens nun durch irgendwelche außer dem Wissen liegenden Gehalte begründet werden soll, sondern es geht allein um die Realität, welche das um sich wissende Ich von sich selbst haben kann.21 Freilich kann die Realitätshaltigkeit des Wissens auch nicht durch das theoretische Bewußtsein begründet werden. Die auf dem dritten Bewußtseinsstandpunkt erreichte Einsicht in den Produktionscharakter jeglicher Bewußtseinsgehalte, einschließlich des Gedankens des Ichs von sich selbst, war es ja, welche die Iteration im Begründungsgang hervorgerufen hatte und die Fichte in das Bild des Denkens von einem Traum, der träumt, daß er träumt, gekleidet hatte. Es ist das bewußte praktische Leben und die mit diesem verbundene Moralität, welche für Fichte in der Bestimmung des Menschen einen Ausweg aus dem begründungslogischen Dilemma des theoretischen Wissens auf dem dritten Bewußtseinsstandpunkt eröffnet. Mit dieser Perspektive wird aber zugleich auch deutlich, daß mit der theoretischen Aufklärung des Bewußtseins, wie sie durch den dritten Bewußtseinsstandpunkt namhaft gemacht wurde, das wirkliche Bewußtsein noch gar nicht erklärt ist. Damit ist auch das unhintergehbare lebensweltliche Freiheitsgefühl durch die philosophische Theorie ebenfalls nicht abgeleitet. Eben diese zu leisten, ist die Aufgabe von Fichtes Theorie des Glaubens, wie sie von diesem im dritten Buch der Bestimmung des Menschen ausgeführt wurde. »Ich habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität, und mit dieser zugleich wahrscheinlich alle andere Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall giebt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung seyn könnte, zur Gewißheit, und Ueberzeugung erhebt.«22
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Anders Edith Düsing: Das Verhältnis von Ich und Absolutem bei Fichte und Kierkegaard, in: Gott und das Absolute. Studien zur philosophischen Theologie im Deutschen Idealismus. Hrsg. v. Christian Danz u. Robert Marszałek. Wien 2007, 71–103, bes. 78–82. 22 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, GA I/6, 257 = SW 2, 253. Zu Fichtes Glaubensbegriff siehe auch Günter Zöller: »Das Element aller Gewißheit« – Jacobi, Kant
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Fragt man, warum das, was Fichte Glaube nennt, zur Grundlage der Wahrheits- und Realitätsgewißheit wird, dann zeigt sich zweierlei. Einmal ist der Ort dieses Glaubens für Fichte die, wie er es in der Schrift von 1800 nennt, innere Stimme oder das Gefühl des Gewissens, welches sich mit seiner überindividuellen Forderung im Selbstverhältnis meldet und welche auf den Willen als Selbstbestimmung verweist. Darin zeigt sich auf dem lebensweltlichen Standpunkt, daß die praktische Vernunft die Grundlage der theoretischen Vernunft ist. Glaube, so kann man diesen Gedanken Fichtes zusammenfassen, ist das Bewußtsein, in dem sich dem Menschen die übersinnliche und überindividuelle Dimension von individueller Gewißheit erschließt, die zugleich die Voraussetzung seiner Selbstdeutung darstellt. Damit ist freilich der Gehalt von Fichtes Glaubensbegriff noch nicht vollständig beschrieben. Hinzu kommt noch ein zweiter Aspekt. Er besteht darin, daß die Forderung der Stimme des Gewissens lebensweltlich in dem konkret bestimmten Pflichtbewußtsein präsent ist. »Jene Stimme in meinem Innern, der ich glaube, und um deren Willen ich alles andere glaube, was ich glaube, gebietet mir nicht nur überhaupt zu thun. Dieses ist unmöglich; alle diese allgemeinen Sätze werden nur durch meine willkührliche Aufmerksamkeit, und Nachdenken über mehrere Thatsachen gebildet, drücken aber nie selbst eine Thatsache aus. Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besondern Lage meines Daseyns, was ich bestimmt in dieser Lage zu thun, was ich in ihr zu meiden habe: sie begleitet mich, wenn ich nur aufmerksam auf sie höre, durch alle Begebenheiten meines Lebens, und sie versagt mir nie ihre Belehrung, wo ich zu handeln habe.«23 In der konkreten Forderung und nicht in der allgemeinen, die ja nur ein Gedanke wäre, erhebt sich das Individuum also nicht nur in die übersinnliche Dimension, sondern es erfaßt vielmehr in der konkreten Forderung einen unbedingten geltenden reinen Willen.24 Darin erfaßt sich das Subjekt allerdings nicht nur
und Fichte über den Glauben, in: Fichte und Jacobi. Fichte-Studien 14. Hrsg. v. Klaus Hammacher. Amsterdam/Atlanta 1998, 21–41, bes. 39–41. 23 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, GA I/6, 261 = SW 2, 258. 24 Vgl. a. a. O., GA I/6, 291 f. = SW 2, 297 f.: »Ein Wille, der rein, und blos als Wille wirkt, durch sich selbst, schlechthin ohne alles Werkzeug, oder sinnlichen Stoff seiner Einwirkung, der absolut durch sich selbst zugleich That ist und Produkt, dessen Wollen Geschehen, dessen Gebieten Hinstellen ist; in welchem sonach die Forderung der Vernunft, absolut frei, und selbstthätig zu seyn, dargestellt ist. Ein Wille, der in sich selbst Gesetz ist, der nicht nach Launen, und Einfällen, nach vorherigem Ueberlegen, Wanken und Schwanken sich bestimmt, sondern der ewig und unveränderlich bestimmt ist, und auf den man sicher und unfehlbar rechnen kann.«
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in seiner ursprünglichen Verfassung, sondern es gewinnt auch allererst einen angemessenen Ausdruck seiner selbst als einem frei handelnden Wesen, der zum Bestimmungsgrund seines Handelns wird.25
2. System und Leben in Schellings System des transzendentalen Idealismus, oder das System als Explikation der Selbsterfassung des Subjekts Im gleichen Jahr wie Fichtes Bestimmung des Menschen erschien auch Schellings System des transzendentalen Idealismus. Wie Fichte in den neuen Darstellungsweisen der Wissenschaftslehre seit 1796 befolgt auch Schelling im System von 1800 ein methodisches Verfahren, dem es um eine Analyse derjenigen Bedingungen geht, die im Selbstbewußtsein bereits beansprucht sind.26 Damit ist freilich noch längst nicht alles über die Verwandtschaft von Schellings Transzendentalsystem mit Fichtes Philosophie um 1800 gesagt. Denn ebenso wie Fichte ist auch Schelling bestrebt, das System der Transzendentalphilosophie mit der lebensweltlichen Selbsterfassung des Subjekts zu verzahnen. Allerdings geschieht dies bei Schelling nicht wie bei Fichte in dem Gefühl des Gewissens, sondern Schelling rekonstruiert im System des transzendentalen Idealismus mit dem Aufbau der Akte des Selbstbewußtseins zugleich die Weisen, wie sich das Subjekt auf die Welt und darin auf sich selbst bezieht.27 Schelling nannte dieses methodische Verfahren unter Aufnahme eines von Fichte geprägten Begriffs ›Geschichte des Selbstbewußtseins‹. Den mit diesem gegenüber Fichte veränderten methodischen Programm verbundenen Konsequenzen für die Durchführung des philosophischen Systems gelten die nachfolgenden Überlegungen. Schellings System des transzendentalen Idealismus soll, wie er bereits in der Vorrede ausführt, ein System des gesamten Wissens sein. In dieser Bestimmung liegt sowohl eine Kritik an der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants als auch an deren Weiterführung durch Fichte beschlos25
Siehe hierzu auch Stolzenberg, Weltinterpretationen, 68; ders.: Religionsphilosophie im Kontext der Sittenlehre. Zu Fichtes Begründung einer Theorie der Religion um 1800, in: Fichtes Entlassung, 49–59, bes. 53–55. 26 Siehe hierzu Christian Klotz: Die Methode des Zugangs zum Prinzip in Fichtes Wissenschaftslehre ›nova methodo‹ und der Transzendentalphilosophie des frühen Schelling, in: Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft. Kant und der Deutsche Idealismus 2. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, 233–247. 27 Siehe hierzu auch Stolzenberg, Weltinterpretationen, 76 f.
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sen. Gegenüber Kant macht Schelling geltend, daß dieser mit dem Gegensatz von Anschauung und Begriff sowie dem von theoretischer und praktischer Vernunft von Gegensätzen ausgehe, die erst innerhalb des Systems der Philosophie zu begründen sind. Mit dieser Kritik ist freilich die Forderung nach einem Prinzip als Ausgangspunkt verbunden, von dem gelten muß, daß es diesen Gegensätzen zwar nicht unterworfen ist, aber von dem aus diese einsichtig zu machen sind. Mit Fichte stimmt Schelling zwar darin überein, daß die Transzendentalphilosophie von dem reinen Selbstbewußtsein als Prinzip auszugehen habe, aber im System des transzendentalen Idealismus soll es nun »nicht um Wissenschaftslehre, sondern um das System des Wissens selbst nach Grundsätzen des transscendentalen Idealismus« gehen.28 Die beiden genannten Aspekte zusammengenommen, also das gesamte System des Wissens und seiner Aufbauelemente aus einem Prinzip abzuleiten, versucht Schelling durch die Explikation der Struktur, Subjektivität in Form einer Geschichte des Selbstbewußtseins einzulösen.29 In dieser Fassung des Programms des Transzendentalsystems ist es begründet, daß es sich durch eine Ebenendifferenzierung aufbaut. Der Gegenstand des Systems ist nämlich von der Art, daß er selbst kein Gegenstand ist, sondern der Akt, durch den alles Wissen von Gehalten erst produziert wird.
28
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: ders.; Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. Hermann Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Im folgenden zitiert als »AA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. Schellings Schrift wird als »Schelling, System des transzendentalen Idealismus«, mit Angabe der entsprechenden Seite in der ›Historisch-Kritischen Ausgabe‹ wie in den ›Sämmtlichen Werken‹ zitiert; hier AA I/9,1, 68 = SW 3, 378. Siehe hierzu Michaela Boenke: Transformation des Realitätsbegriffs. Untersuchungen zur frühen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 323–368; Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990, bes.: 89 ff. 125 ff.; System als Wirklichkeit. 200 Jahre Schellings »System des transzendentalen Idealismus«. Hrsg. v. Verf., Claus Dierksmeier u. Christian Seysen. Würzburg 2001. Im folgenden zitiert als »Verf./Dierksmeier/Seysen, System«, mit Angabe der Seitenzahl. 29 Vgl. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, AA I/9,1, 24 f. = SW 3, 331: »Das Mittel übrigens, wodurch der Verfasser seinen Zweck, den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen, zu erreichen versucht hat, ist, daß er alle Theile der Philosophie in Einer Continuität und die gesamte Philosophie als das, was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient, vorgetragen hat.«
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Dieser Akt des Selbstbewußtseins kann nun freilich nur auf einer von dem unmittelbaren Vollzug unterschiedenen Ebene rekonstruiert werden, die Schelling ideelle Reihe im Unterschied zu der reellen Reihe der von dem Selbstbewußtsein durchlaufenen Akte nennt. Allerdings beschränkt sich Schelling im System von 1800 auf »diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewußtseyns gleichsam Epoche machen«, um sie in ihrem »Zusammenhang miteinander« aufzustellen.30 Diese von der Philosophie darzustellenden Epochen sind diejenigen, durch welche »jene Eine absolute Synthesis« des Selbstbewußtseins »successiv zusammengesetzt wird«.31 Das Transzendentalsystem expliziert damit auf eine progressive Weise die Bedingungen des Weltverhältnisses des Subjekts und darin die kategorialen Formen, in denen es sich objektiv wird und als Subjekt in der ihm eigenen strukturellen Verfassung begreift. Dies geschieht in den unterschiedlichen Epochen des Selbstbewußtseins auf unterschiedlichen Niveaus. Während in der theoretischen Philosophie das Ich nur als Subjekt seiner Weltbezüge thematisch ist, gewinnt dieses erst im Übergang zur praktischen Philosophie, also in der dritten Epoche der Geschichte des Selbstbewußtseins, ein Verständnis seiner selbst als freier Selbstbestimmung. »Erst im Wollen wird auch diese zur höheren Potenz erhoben, denn durch dasselbe wird das Ich als das Ganze, was es ist, d. h. als Subject und Object zugleich, oder als Producirendes sich zum Objekt.«32 Denn erst hier wird dem Subjekt mit dem Wollen seine eigene freie Selbstbestimmung zum Objekt des Bewußtseins. Zwar kann damit gesagt werden, daß dem Ich im Wollen von etwas seine eigene Verfassung als Selbstbestimmung zum Ausdruck seiner selbst wird und daß es sich darin in seiner Freiheit versteht, aber damit ist das lebensweltliche Verständnis des Ichs noch gar nicht hinlänglich beschrieben. Nicht gezeigt ist bislang, wie sich das Subjekt in seiner inneren Verfassung auch lebensweltlich ansichtig wird. Dies zu zeigen, ist die Aufgabe der von Schelling im System des transzendentalen Idealismus skizzierten geschichtsphilosophischen Religionstheorie.33 30
Schelling, System des transzendentalen Idealismus, AA I/9,1, 91 = SW 3, 398. A. a. O., AA I/9,1, 91 = SW 3, 399. 32 A. a. O., AA I/9,1, 232 = SW III, 534. Siehe hierzu Jürgen Stolzenberg: Autonomie. Zu Schellings Begründung der praktischen Philosophie im System des transzendentalen Idealismus von 1800, in: Verf./Dierksmeier/Seysen, System, 41–55, bes.: 49–55; Lothar Knatz: Freiheit zur Selbstbestimmung. Die praktische Identität des Subjekts, in: JTLA 32 (2007), 75–88. 33 Siehe hierzu v. Verf.: Geschichte als fortschreitende Offenbarung Gottes. Überle31
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Schelling erörtert im System von 1800 seine Religions- und Geschichtsphilosophie im Kontext der Rechtsphilosophie. Es geht um die Auflösung der Frage, daß die Freiheit des Individuums sich nur in rechtlichen Verhältnissen realisieren kann, diese jedoch wiederum nur durch Freiheit zustande kommen können. Die Auflösung dieses offenen Problems der Rechtsphilosophie thematisiert Schelling in einer transzendentalen Geschichtsphilosophie. Diese hat, da das »einzige Object der Geschichte das allmählige Realisiren der Rechts-Verfassung ist«,34 die Aufgabe aufzulösen, wie die Freiheit des Individuums mit der Freiheit der anderen zusammenstimmen kann. »Nun handelt aber doch jedes einzelne Individuum, obgleich das Objective in allen Intelligenzen dasselbe ist, absolut frey, es würden also die Handlungen verschiedener Vernunftwesen nicht notwendig zusammenstimmen, vielmehr je freyer das Individuum, desto mehr Widerspruch würde im Ganzen seyn, wenn nicht jenes Objective allen Intelligenzen Gemeinschaftliche eine absolute Synthesis wäre, in welcher alle Widersprüche zum voraus aufgelöst und aufgehoben sind.«35 Die Zusammenstimmung der notwendig differenten individuellen Freiheitsvollzüge fußt also Schelling zufolge darauf, daß das Objektive, nämlich die durch das bewußtlose Wollen konstituierte Natur, in allen Intelligenzen gemeinschaftlich ist. Damit kann jedoch die Einlösung der Aufgabe, eine Voraussetzung aufzuzeigen, die in dem freien Handeln schon in Anspruch genommen ist, noch nicht abgeschlossen sein. Denn durch den Rekurs auf die absolute Synthesis ist bisher nur dargelegt, wie das Objektive für alle Intelligenzen dasselbe sein kann. Nicht dargelegt ist bislang, wie die Freiheit ihrerseits mit dem Naturmechanismus zusammenstimmen könne. Der Auflösung dieser Frage ist der letzte Argumentationsgang Schellings in unserem Kontext gewidmet. Er dient dem Aufweis der absoluten Identität als derjenigen Bedingung im Selbstverhältnis des reinen Selbstbewußtseins, in der Freiheit und Notwendigkeit vermittelt sind.36 gungen zu Schellings Geschichtsphilosophie, in: Verf./Dierksmeier/Seysen, System, 69–82; Georg Neugebauer: Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption. Berlin/New York 2007, 57–65. 34 Schelling, System des transzendentalen Idealismus, AA I/9,1, 291 = SW 3, 593. 35 A. a. O., AA I/9,1, 296 f. = SW 3, 598. 36 Vgl. a. a. O., AA I/9,1, 299 = SW 3, 600: »Wenn nun jenes Höhere nichts anders ist als der Grund der Identität zwischen dem absolut Subjectiven, und dem absolut Objectiven, dem Bewußten, und dem Bewußtlosen, welche eben zum Behuf der Erscheinung im freyen Handeln sich trennen, so kann jenes Höhere selbst weder Subject, noch Object, auch nicht beydes zugleich, sondern nur die absolute Identität seyn,
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Die von Schelling mit dem Aufweis der absoluten Identität im reinen Selbstbewußtsein im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie beantwortete Frage, wie eine universelle Rechtsordnung durch die Freiheit realisiert werden kann, obwohl sie doch selbst eine Voraussetzung der individuellen Freiheit darstellt, wird nun von Schelling mit lebensweltlichen Erscheinungsformen verbunden. Dies ist dann auch der systematische Ort im System von 1800, an dem Schelling das religiöse Bewußtsein ableitet. »Erhebt sich aber die Reflexion bis zu jenem Absoluten, was der gemeinschaftliche Grund der Harmonie zwischen der Freyheit und dem Intelligenten ist, so entsteht uns das System der Vorsehung, d. h. Religion in der einzig wahren Bedeutung des Worts.«37 Religion ist für Schelling die Form des Bewußtseins, in dem sich das Subjekt nicht nur in der inneren Struktur seiner Freiheit versteht, sondern zugleich auch sich selbst in der Geschichtlichkeit seines reflexiven Bezugs auf sich selbst erfaßt. Bekanntlich endet die von Schelling im System des transzendentalen Idealismus rekonstruierte Geschichte des Selbstbewußtseins nicht mit der Ableitung der Religion als dem Ort, an dem das Subjekt sich in seinem Weltbezug selbst verständlich wird. Erst in der Kunst, als dem wahren Organon und Dokument der Philosophie, wird sich das konkrete, empirische Subjekt in seiner ihm eigenen Verfassung verständlich. »Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunct zurückgeführt ist. Aber eben dieß ist der Fall mit unserem System. Denn eben jener ursprüngliche Grund aller Harmonie des Subjectiven und Objectiven, welcher in seiner ursprünglichen Identität nur durch intellectuelle Anschauung dargestellt werden konnte, ist es, welcher durch das Kunstwerk aus dem Subjectiven völlig herausgebracht, und ganz objectiv geworden ist, dergestalt, daß wir unser Object, das Ich selbst, allmählig bis auf den Punct geführt, auf welchem wir selbst standen, als wir anfiengen, zu philosophiren.«38 Versucht man die voranstehenden Überlegungen zu dem Spannungsverhältnis von System und Leben bei Fichte und Schelling um 1800 zusammenzufassen, dann läßt sich sagen, das beide Philosophie als eine reflexive Beschreibung der Durchsichtigkeit des konkreten Ichs in seinen lebensweltlichen Vollzügen verstehen. Sowohl Fichte als auch Schelling gehen hierbei von der für die Transzendentalphilosophie konstitutiven methodischen Unterscheidung von systematischer Philosophie und
in welcher gar keine Duplicität ist, und welche ebendeßwegen, weil die Bedingung alles Bewußtseyns Duplicität ist, nie zum Bewußtseyn gelangen kann.« 37 A. a. O., AA I/9,1, 300 = SW 3, 601. 38 A. a. O., AA I/9,1, 328 f. = SW 3, 628 f.
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Leben aus. Die philosophische Beschreibung der Durchsichtigkeit des Lebens steht unter der Bedingung dieser methodischen Unterscheidung. Unterschiedlich konstruieren allerdings Fichte und Schelling diesen Zusammenhang von Philosophie und Leben, durch den die Transzendentalphilosophie erst begründet wird. Bei Fichte ist es das konkrete sittliche Pflichtbewußtsein, welches sich freilich nur theoretisch beschreiben läßt, in dem als Evidenzgefühl der Selbstbestimmung die Begründung der Transzendentalphilosophie überhaupt liegt. Schellings System der Transzendentalphilosophie konstruiert mit der sukzessiven Entfaltung des Weltbezugs des Subjekts zugleich dessen Selbsterfassung. Zum Ziel und damit zur Begründung der Transzendentalphilosophie kommt dieses alle Weltsphären einbeziehende System erst in der Kunstanschauung. Mit diesem Resümee ist freilich noch nicht alles über das Verhältnis von System und Leben bei Fichte und Schelling gesagt. Schelling hat bekanntlich die im System von 1800 vorgenommene systematische Begründung des Prinzips Subjektivität durch eine Darstellung einer Geschichte des Selbstbewußtseins schon kurze Zeit später in eine identitätsphilosophische Begründung überführt. Und was Fichte betrifft, so ist zu sagen, daß die eingangs mitgeteilte Bemerkung aus seinem Schreiben an Jacobi vom Mai 1810, in dem das Leben selbst als der Ort der reflexiven Selbstdurchsichtigkeit bezeichnet wird, eine gegenüber der Bestimmung des Menschen veränderte Systemkonstruktion voraussetzt.39
39 Siehe hierzu v. Verf.: Das Bild als Bild. Aspekte der Phänomenologie Fichtes und ihre religionstheoretischen Konsequenzen, in: Die Spätphilosophie J.G. Fichtes. FichteStudien 18. Hrsg. v. Wolfgang H. Schrader. Amsterdam 2000, 1–17.
Wilfried Grießer Die Auflösung der Entgegensetzung von System und Leben im Element der Anerkennung
Im folgenden soll versucht werden, die im vorangegangenen Beitrag entwickelten Ansätze Fichtes und Schellings hinsichtlich der Selbsterfassung des Lebens im spekulativen System mit einem Blick auf Hegel in einen größeren systematischen wie geschichtlichen Rahmen zu stellen. Dabei soll der vor allem von Hegel entwickelte Gedanke der Anerkennung als Interpretament für eine produktive Auflösung der Entgegensetzung von ›System‹ und faktischem Leben herangezogen werden – und zwar mit einem beständigen Blick auf Jacobis in Hinsicht auf die weitere geistige wie politische Entwicklung Deutschlands nachgerade prophetischen Nihilismus-Vorwurf, auch wenn dieser an Fichte ergangen war.
1. Hinführung Bekanntlich teilt auch Hegel die Auffassung Fichtes wie Schellings, daß das Leben auf seine reflexive Selbstdurchsichtigkeit hin angelegt sei und in der spekulativen Philosophie nicht nur die Philosophie, sondern auch das Leben sich selbst erfasse. Wo Spekulation und Leben (wie auch schon mancherorts bei Fichte1) dennoch in einen notwendigen Gegensatz treten, kommt es bzw. bleibt es gerade bei Hegel bei keiner Trennung von spekulativer Philosophie bzw. philosophischem System einerseits und Faktizität des Lebens andererseits. Was den Gegensatz entscheidend vermittelt, ist der Gedanke der Anerkennung. Dieser spielt bekanntlich bereits bei Fichte eine große Rolle und begegnet auch bei Schelling im Kontext der Übereinstimmung individueller Freiheit mit der Freiheit Anderer. Seine reichhaltigste Entfaltung findet er zweifellos bei Hegel, wo er (konkret im Gewissens-Kapitel der Phänomenologie des Geistes) weit über einen praktischen bzw. rechtlichen Akt hinaus ein Wissen um das eigene Anderssein impliziert. Dieses Wissen mithin vom Nichtwissen stellt m. E. das ent1
Vgl. etwa Johann Gottlieb Fichtes Rückerinnerungen zum Atheismusstreit, in: Fichtes Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, 11 Bände, Berlin 1971. Im folgenden zitiert als »FW«, mit Angabe der entsprechenden Band- und Seitenzahl; hier Band 5, 335–373, dort bes. 343.
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scheidende Moment bereit, die Spannung von System und Leben produktiv auflösen zu können, ohne das eine Moment zugunsten des anderen einzuziehen und ohne sich (Jacobi folgend2) vermittels eines ›erbaulich‹ gelesenen Kant auf eine Selbstbescheidung zurückziehen zu müssen, die im übrigen gar nicht so bescheiden ist, wie sie sich gibt und die (wenngleich nur unter der Hand!) sehr wohl ein Wissen vom Nichtwissen beansprucht. (Sofern eine solche Selbstbescheidung über Naivität hinaus zur Heuchelei tendiert und in der Folge zur Militanz des Niederhaltens aufkommen wollender Fortentwicklung in der Philosophie, verdanken wir Hegels Darlegungen allerdings auch die Einsicht in die Notwendigkeit von Heuchelei, Verrat, Betrug und Selbstbetrug als Momenten des erscheinenden Wissens. Ja, gerade die Heuchelei ist es, die vom Gewissen selbst noch bekannt und anerkannt wird.) Bevor wir Hegels Konzeption der Anerkennung mit Bezug auf die Thematik von System und Leben konkreter aufgreifen, werfen wir einen Blick auf die diesbezügliche Problemexposition des jungen Hegel vor und um 1800. 2. System und Leben beim jungen Hegel Bekanntermaßen kreisen Hegels Überlegungen von Anbeginn um die ›Realisierbarkeit‹ wie Wirklichkeit des kantischen Prinzips Selbstbewußtsein.3 Dabei geht es Hegel um die Überwindung der Trennungen der kantischen Philosophie und konkret um die Ausgleichung von Einzelnem und Allgemeinem. Ganz generell läßt sich sagen, daß Hegel, wenn er in sehr frühen Abhandlungen vom Leben spricht, Leben mit Vereinigung und Versöhnung (aber nie mit Erlösung!) konnotiert, um es der Trennung und Positivität als dem Tod entgegenzusetzen. Erst später verbürgt gerade die Differenz, ja Trennung Freiheit und ›Leben‹ und verhilft dem Anerkennungsgedanken zu seiner eigentlichen Reife, wobei Hegel klarer wird, daß die Emphasis von Vereinigung (wie zahlreiche Gestalten der Phänomenologie des Geistes zeigen) auch Fanatismus und Tod bedeuten kann.4 2
Vgl. den Beitrag von Christian Danz in diesem Band. Dabei kann die ›Realisierung‹ sowenig ein Machen sein, das die Vernunft erst in eine vernunftlose Welt zu bringen vermeint, als die Wirklichkeit der Vernunft, die gegen ein solches Herstellen (wie etwa Hegels Idee des Guten in seiner Wissenschaft der Logik zeigt) vielmehr schon in der Welt ist, nur ein verschleiertes Sistierenwollen des Denkens sein darf. 4 Wieweit diese Einsicht mit einer Abkehr vom Antisemitismus des jungen Hegel einhergeht, wäre gesondert zu untersuchen. 3
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In dem Vorlesungsfragment »Introductio in philosophiam« aus 1801/02 äußert Hegel sich direkt zum Ineinanderspiel von Philosophie und faktischem Leben: »Was das allgemeine des Bedürfnisses der Philosophie betrifft, so wollen wir es in der Form einer Antwort auf die Frage, welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben? klar zu machen suchen, eine Frage, die eins ist mit der: inwiefern ist die Philosophie praktisch? Denn das wahre Bedürfniß der Philosophie geht doch wohl auf nichts anders als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen. Sie selbst kann auch wohl auch als Einleitung in Wissenschafften, als eine Art von aüsserer Verstandesbildung angesehen werden, aber wir wollen diesen untergeordneten Zwek einstweilen aus den Augen lassen, oder vielmehr glauben, daß das Bedürfniß der Philosophie, wenn es nur diesen Zwek zu haben glaubt, der allerdings auch durchs Studium der Philosophie erreicht wird, sich nur misversteht, und im Grunde ein weitumfassenderes und würdigeres Ziel vor sich hat.«5 Dieses Bedürfnis der Philosophie zeichnet bekanntlich nicht nur Einzelne in ihrem individuellen Lebensvollzug aus, sondern betrifft Hegel zufolge ganze Kulturen, und zwar gerade in Zeiten einer Krise, wo Althergebrachtes nicht mehr gangbar scheint und Neues sich in einer erst unbestimmten Weise ankündigt. Tritt die Philosophie an den Einzelnen oft schon in Gestalt einer (z. B. universitären) Institution heran, so entspringt sie zumindest als kulturelles Phänomen (einen anderen berühmten Hegelschen Topos aufgreifend:) der Notwendigkeit, ihre Zeit in Gedanken zu fassen und die Not einer Epoche konstruktiv zu ›wenden‹. Wie die Philosophie es zu leisten vermag, zu einem gelingenden (individuellen wie auch gesellschaftlich-politischen6) Leben anzuleiten, verrät Hegel in dem Zitat nicht, doch wird sich dies nur aus dem ›Ganzen‹ seiner Philosophie erschließen können – und schon dies verweist wiederum auf den Zentraltopos der Anerkennung und mithin auf Hegels frühes Hauptwerk aus 1807, in welchem die Anerkennung des Gewissens das Selbsterscheinen des (titelgebenden) Geistes eröffnet. Als entscheidend wird man jedenfalls (in einer ersten Näherung) ansehen müssen, die Not
5
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Im folgenden zitiert als »GW« mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier Band 5, 261. 6 Und auch damit hinwiederum individuellen!
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nicht bloß zu ›intellektualisieren‹ und die Ungewißheit und Unwägbarkeit menschlichen Daseins (unter der Hand schon reaktiv!) zu beruhigen zu versuchen, auf daß sie darob umso härter hervorbricht,7 sondern mit ihr, wie sie immer auch eine Notwendigkeit der Freiheit ist, umgehen zu lernen, und also im Sinne eines Fortschreitens im Bewußtsein der Freiheit mit Freiheit umgehen zu lernen. Auch das kritische Moment der kantischen Philosophie bleibt auf diese Weise gewahrt. (Wird die Philosophie indes nur als Luxus gesehen, der einer Krisenzeit als erstes zum Opfer fällt, so besteht die Gefahr, daß das sich Wenden der Not, die oft nicht einfach nur ertragen werden kann,8 einmal mehr zum Sein des Todes wird.) – ›System der Freiheit‹ kann dann ferner heißen, sich aus einer grundlosen wie abgründigen Freiheit Gottes heraus zu verstehen9 und demgemäß die Freiheit des Anderen, der gerade in seiner Fremdheit meinesgleichen ist10 wie auch der ›Welt‹ selbst noch in ihrer ›Widerständigkeit‹ zu bejahen.
7 Eine Gefahr, die mit Hegels Philosophie damals wie heute zweifellos gegeben ist und die gerade dadurch umso subtiler besteht, als noch das Negative in sie aufgenommen ist. Dies kann zur Täuschung und zum Selbstbetrug werden, das Negative schon (und zumal ›für immer‹) ›bewältigt‹ zu haben – eine Täuschung, die zunächst gar nicht gesehen wird, indem das Ausschließen des Negativen in dem Versuch, ein unmittelbares ›Ganzes‹ festzuhalten, sich im Ausschließen noch selbst ausschließt, mit der Folge, daß der Widerspruch, der ›bewältigt‹ werden sollte, nur als namenloses Unglück widerfährt. Die mögliche weitere Dialektik lautet dann: Heroistischer Trotz gegen die ›Welt‹, und schließlich Raserei im Sinne einer adaequatio intellectus ad rem, die darin besteht, zu töten und sich zu töten. Die Realisierung des Prinzips Selbstbewußtsein wäre der Suizid, und im Sinne der umfassenden Wirklichkeit des Selbstbewußtseins totaler Krieg und kollektiver Suizid, welcher selbst noch ein heroistisch bzw. ›tragisch‹ verschleierter sowie metaphysisch-naturalistisch ›gerechtfertigter‹ ist (›Heldentod‹), jedoch in seiner Wahrheit nur nackte Verzweiflung ist bzw. in seinem Resultat das bloße Sein des Todes. 8 Kein Mensch kann etwa den Widerspruch, welcher der Hunger ist, bloß ertragen. Den Hunger ertragen zu wollen, heißt, ebenso, wie ihm trotzen oder ihn heroistisch überwinden zu wollen, zu verhungern und stellte eine Form des Suizids dar. Dies gilt auch für den geistigen Hunger, für die verborgenen Sehnsüchte vor allem junger Menschen unter der Herrschaft der Technokratie. 9 Auch hier ergeben sich ähnliche ›Fallstricke‹, den für Hegels Religionsphilosophie zentralen Topos des Todes Gottes zur Selbstvergewisserung zu gebrauchen (und insofern Gott ermordet zu haben, sowie schon christlicherseits den Juden Jesus von Nazareth, sosehr, umgekehrt, nur für einen Juden jener Zeit Jesus als der Messias ein Ärgernis sein konnte), wie andererseits in Gott als dem ›ganz Anderen‹ auch nur alles Denken abzuwerfen. 10 Dies wäre, ganz nebenbei, eine Deutung der Feindesliebe, die (bar jedes Masochismus) die Trias von Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe nicht nur vertieft, sondern erst eigentlich vollendet und vor Vereinnahmung schützt.
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Wenn Hegel 1801/02 die Frage »Welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben?« derart beantwortet, »von ihr und durch sie leben zu lernen«, so heißt dies also keineswegs, daß Philosophie und Leben schlechthin ›eins‹ zu sein haben, mit der Gefahr, daß Fichtes sich selbst träumender Traum der Freiheit gegen Ende des zweiten Buches der Bestimmung des Menschen11 gerade dann noch, wenn dieser sich als selbstbezügliche Negativität zur Wirklichkeit vermittelt (und dies noch mit Wissen), im Ergreifen seiner Wirklichkeit seine Freiheit auch schon verliert und (wovor Jacobi warnt) in der Tat in Nihilismus umzuschlagen geneigt ist. Ein solcher Nihilismus kann sich auch als Heroismus der Freiheit maskieren (und also sich betrügen),12 der sich durch Entwertung der Welt und des Anderen erhöht und dessen zunächst namenlose ›Spannung‹ demgemäß zu Trutz und Treue gegen eine feindselige Welt wird, in welcher er nur fremden Betrug wittert, um schlußendlich in den Wahn zu schlittern und bei einer Wirklichkeit anzukommen, die nur noch der Tod ist.
3. System, Leben und Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes In Hegels frühem Hauptwerk begegnet das Leben zunächst im Übergang von Kraft und Verstand zum Selbstbewußtsein, welches sich, indem es als Ich auftritt, das Leben als sein Leben unmittelbar vindiziert hat.13 Damit hat es sich zugleich das Leben entgegengesetzt, das sich seinerseits in sich reflektiert; und so wie Ich das absolute Trennen ist wie die Aufhebung der Trennung, trennt sich zugleich das Leben von sich: Die Dialektik des Selbstbewußtseins antizipierend und zwecks eines umfassenderen Verständnisses, als es der zu entwickelnden Bewußtseinsgestalt möglich ist, vertiefend, greift Hegel sodann Motive auf, die sich schon in vorangegangenen naturphilosophischen Entwürfen finden: Das Leben, das hier primär als natürliches Leben begegnet und nicht als faktischer Selbstvollzug bzw. als ›ordinary life‹,14 ist die Wirklichkeit des Selbstbewußtseins, aber 11
Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: FW 2, 245. Man vergleiche etwa das HJ-Lied ›Nur der Freiheit gehört unser Leben‹. 13 Mit Blick auf den Abschnitt »Die Lust und die Notwendigkeit« könnte man sagen, daß es sich hierdurch sein Leben schlicht genommen hat. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: GW 9, 201. Im folgenden zitiert als »PhdG«, mit Angabe der Seitenzahl. 14 Dies mag als Schwachpunkt erscheinen, ist aber zugleich der Vorzug einer größeren Weite gegenüber der formellen ›Nabelschau‹ eines einzelnen philosophierenden 12
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nicht allein der ›Inhalt‹ zur Form des Ich, sondern schon eine eigene Wirklichkeit. Die Wahrheit des Lebendigen der Natur bzw. des Lebewesens, wie es sich bereits der Natur entgegensetzt, um selbst die Gattung zu sein, ist jedoch der existierende Mensch; und sowie der Mensch seine Natürlichkeit und in ihr seine Wirklichkeit (letztlich:) anerkennt, erweist sich die Natur, ihrerseits schon Selbstbewußtsein zu sein. Dies Selbstbewußtsein ist aber nicht nur eine in sich geistvolle Natur, nicht nur ›Weltseele‹, sondern (und hier kommt gegen einen ›schwärmerischen‹ Idealismus die Ohnmacht der Natur ins Spiel!) konkret der Andere, schon in Gestalt der eigenen Fremdheit15 wie umso mehr der Unableitbarkeit und Fremdheit des Anderen,16 auch wenn dieser im Selbstbewußtseins-Kapitel nur vernichtet, geknechtet bzw. stoizistisch intellektualisiert und im VernunftKapitel nur (sexuell) genossen und sodann zum ›Forum‹ für monologische Weltentwürfe und schließlich für hemmungslose Selbstdarstellung wird, an welcher letzteren jener wechselweise Betrug und Selbstbetrug aufgeht, der im Gewissen eingestanden wird. Das Begehren des Selbstbewußtseins geht jedenfalls auf ein anderes Selbstbewußtsein, und es ist kein Zufall, daß Hegel hier jene Anerkennungsdialektik vorwegnimmt, die im Gewissen dahingehend ihre Ausführung erfährt, daß die dortigen Kontrahenten, handelndes und urteilendes Bewußtsein, erkennen, daß sie (und zwar gerade noch in ihrer Heuchelei) dasselbe tun. Das Anerkennen des Trennens und Getrennthabens der Substanz wie des (Ver-) Urteilens des Anderen und das Erkennen der Selbigkeit des eigenen Tuns wie des Tuns des Anderen ergeben erst das Gelingen von Anerkennung, die (etwa in der Vorstellung einer ›Volksgemeinschaft‹) positivieren zu wollen nur in jene Gefährdungen mündet, die im Gewissens-Kapitel ihre Entlarvung erfahren. Wenn schon das bekannte Zitat aus dem Selbstbewußtseins-Kapitel, einander »als gegenseitig sich anerkennend« anzuerkennen,17 zugleich ein Wissen vom Anerkennen impliziert, so ist dieses im Gewissen denIch. Systematisch ergibt sich dies aus dem ›Status‹ des Ich, selbst erst ein ›natürliches‹ zu sein bzw. als Ich unmittelbar in die Natur herabgefallen zu sein. 15 Konkret etwa der Leiblichkeit, sofern wir nicht nur unser Leib sind, sondern auch einen Leib haben, der wir sind. 16 Die Ohnmacht der Natur ist dabei nicht allein ihr Mangel gegen den Menschen (der ja selbst deren ›Teil‹ ist), sondern Signum der Freiheit des Anderen – und zwar weder derart, daß erst der als ›ohnmächtig‹ entwertete, ja gequälte Andere anerkannt werden kann (wobei dies Quälen als eine natürliche ›Ohnmacht‹ verschleiert wäre), noch derart, daß gerade ein Idealismus, der die Freiheit in der Ohnmacht und in der Ohnmacht die Freiheit erblickt, im Quälen seine Wahrheit hätte. 17 PhdG, 110. (Hvh. abweichend vom Text v. Verf.)
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noch ein erst praktisches, in der durch die Versöhnung des Gewissens eröffneten Religion dagegen ein in die Aura des ›Reinen‹ Getauchtes bzw. ein nur gemeiniglich vorstellend eingekleidetes.18 – Diese gedoppelte Anerkennung zunächst des Gewissens und dann der offenbaren Religion, die hier nicht im Detail entfaltet werden kann,19 gestattet auch eine ›Aufhebung‹ jener Orte, in welchen sich bei Fichte bzw. bei Schelling in deren Konzeptionen um 1800 das Leben selbst durchsichtig wird, in den systematischen Gang der Phänomenologie des Geistes:20 Ist bei Fichte das moralische Selbst der Ort, wo das Leben seine Faktizität reflexiv einholt (auch wenn sich dieses nochmals durch Gott fundiert weiß),21 so endigt Hegels Auseinanderlegung der kantischen wie fichteschen Moralität in der Phänomenologie des Geistes genau mit der Anerkennung des handelnden und des urteilenden Gewissens, in welchem zuletzt gleichsam Gott mitten unter den einander Anerkennenden erscheint.22 Ist indes die Religion der entscheidende Ort dieser Selbsttransparenz des Lebens zufolge Schelling,23 so eröffnet die Anerkennungsdialektik des Gewissens unmittelbar die Sphäre der Religion, in welcher sich die in der christlichen Religion vorstellig werdende Versöhnung von religiösem und wirklichem Bewußtsein als deren Grund und Fundament erweist.
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Vgl. a. a. O., 365. In der ersteren Bedeutung kann bei dem Kleid auch an die (den Romantikern ›gewidmete‹) ›Geist-Gemeinde‹ der schönen Seele gedacht werden. (Vgl. a. a. O., 353 ff.) – Zu einer Interpretation der Metapher vom Kleid siehe Kurt Appel: Das Kleid der offenbaren Religion, in: Wissen und Bildung. Zur Aktualität von Hegels Phänomenologie des Geistes anläßlich ihres 200jährigen Jubiläums. Hrsg. v. Thomas Auinger u. Friedrich Grimmlinger. Frankfurt a. M. 2007. 19 Hierzu ausführlich: Thomas Auinger: Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2003. 20 Hierbei begnüge ich mich mit der Darlegung, daß und an welcher Stelle die Ansätze Fichtes und Schellings bei Hegel 1807 in einem durch den Anerkennungsgedanken geleiteten Gang ihren Ort haben. Eine nähere Ausarbeitung, auf welche Weise Hegel Fichtes und Schellings Ansätze um 1800 in seiner Phänomenologie des Geistes ›aufhebt‹, bedürfte längerer Abhandlungen (auch zu Hegels Phänomenologie!), die hier nicht gegeben werden können. 21 Auch Fichte spricht im Kontext des praktischen, moralischen Selbst ja vom Gewissen. (Siehe den Beitrag von Christian Danz in diesem Band.) 22 Vgl. PhdG, 362. 23 Und zwar auch bei Schelling schon in einer über die individuelle Frömmigkeit eines formellen Selbst hinausgehenden soziokulturellen Perspektive mit geschichtstheologischem ›Unterbau‹, wie überhaupt die Anlage der Phänomenologie des Geistes jene des Systems des transzendentalen Idealismus wesentlich beerbt und weiterentwikkelt.
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Sofern bereits Schellings System des transzendentalen Idealismus nicht mit der Religion endigt, vermittelt in Hegels Konzeption aus 1807 schlußendlich das absolute Wissen die Versöhnung, wie sie dem religiösen Bewußtsein vorstellig wird, mit der Versöhnung des Gewissens. Den letztendlichen Ort anerkennend vermittelter Selbsttransparenz wie Selbsttranszendenz derart, daß noch alles idealistische ›Einkleiden‹ selbst der Schuld (als einer etwa nur zeitlos-metaphysischen) vielmehr schon der Akt eines Schuldigwerdens ist, stellt also das absolute Wissen dar. – Zuletzt erfolgt im absoluten Wissen schon 1807 der später vielproblematisierte Übergang in die Realphilosophie, der selbst nochmals als ein Anerkennen der Wirklichkeit des Logischen, das nie nur Logik war, gedeutet werden kann;24 d. h. das bereits 1807 konzipierte freie Entlassen von Natur und Geschichte wäre seinerseits im Kern als ein Anerkennen zu verstehen und weder eine Art ›selige‹ Selbstversenkung eines in sich vollendeten Selbst25 noch ein ›gönnerhafter‹ Gestus gegen eine ohnehin als nichtig gewußte und jedenfalls nicht an den ›Zauber‹ der logischen Idee heranreichende Wirklichkeit.
4. Immun gegen den Nihilismus? Auch eine (etwa mit dem Bekennen der Schuld einhergehende) ›Erdung‹ des Fichteschen sich selbst träumenden Traumes hin zur Wirklichkeit des Selbstbewußtseins in seinem faktischen Lebensvollzug garantiert die Freiheit noch nicht, und zwar selbst dann nicht, wenn diese als durch göttliche Selbstpreisgabe an den Menschen (›Tod Gottes‹) vermittelt ge24
Vgl. hierzu v. Verf.: Die Selbstexplikation des Logischen als absolute Methode und die Dialektik der Zeit. Überlegungen zum Anfang der Hegelschen Naturphilosophie und zu deren Stellung und Funktion in Hegels System, in: Die Natur in den Begriff übersetzen. Zu Hegels Kritik des naturwissenschaftlichen Allgemeinen. Hrsg. von Thomas Posch u. Gilles Marmasse. Frankfurt a. M. 2005, 132–157, hier bes. 141 ff. 25 Eine ›Selbstversenkung‹, die, wenn sie nicht erneut in einen Gegensatz treten soll, eigentlich nur der Tod sein kann. Näher ist dieser Tod ein sich seinen suizidalen Charakter verschleiernder (denn andernfalls wäre es mit der ›Seligkeit‹ dahin) Suizid. Sobald in den ›seligen Schlummer‹ die Differenz wieder einkehrt, kann die Verschleierung solchen Wegwerfens etwa die Form haben, sich als gänzlich nichtiger Teil einer übermächtig-erhabenen Natur auszulegen, d. h. die Anerkennung des Daseins des Geistes schon in der Natur hätte, wo sie über ein erstes Staunen hinausgeht, eine objektivistische Schlagseite wie, umgekehrt, ein ›gönnerhaftes‹ Freilassen einer nur ›ohnmächtigen‹ Natur eine subjektivistische Schlagseite hätte, derart, daß die Stellung zu Natur und Geschichte die eines Beherrschens wäre – eines Beherrschens, das gleichsam im Töten des Anderen wie seiner selbst seine letzte Wahrheit hätte und nur die Kehrseite jener Selbstversenkung ist. (Vgl. auch die Anm. 16).
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wußt wird. Das entscheidende Element ist die Anerkennung, in all ihrer möglichen Bedeutung als Anerkennung des eigenen Andersseins (mithin der Leiblichkeit, Verletzlichkeit usw.), als Anerkennung des Mitmenschen wie auch der Freiheit Gottes, nicht nur in seiner zeitlosen Selbstpreisgabe frei gewesen zu sein, sondern auch jederzeit wieder zum namenlosen Feind werden zu können, wo die erlangte Freiheit zum Besitz geworden ist und der Tod Gottes in Wahrheit schon ein heimtückischer intellektueller Mord war.26 Betont das absolute Wissen zuletzt die Aufschließung gerade zur Äußerlichkeit, so muß dies die geist-volle Bejahung des Anderen und Fremden wie der eigenen Fremdheit implizieren, als daß diese Äußerlichkeit nur ein intellektualisierendes Abspannen gerade der ›Dynamik‹ von ›System‹ und ›Leben‹ wäre, nur die beschauliche Vorstellung der Anerkennung und unter der Hand schon ein Abwurf des wirklichen Selbst. Wo alle Beruhigungs- wie Verschleierungsversuche aufbrechen, wäre die Äußerlichkeit nicht mehr nur das Ausblenden des Anderen gerade noch in der Vorstellung von dessen Anerkennung, sondern die reale völlige Bedeutungslosigkeit des (Mit-)Menschen, derart daß der Zusammenschluß mit ihr in extremster Konsequenz in einem jeder Gefühlsregung entbehrenden Morden bestünde, wie Hegel dies (in freilich banalerer Gestalt) bereits im Schrecken der absoluten Freiheit vorführt.27 Schlußendlich bestünde dieser Zusammenschluß im sich Wegwerfen des Menschen, der noch seinen Suizid als ›Weihehandlung‹ kaschiert,28 so, wie er schon im Umschlagen der Allmacht in die Ohnmacht, nur ein Stück Staub in einem gigantischen Kosmos zu sein,29 seine Fremdheit im Gestus heroischen Er26
Näher besehen, wird hierbei der Deismus der Aufklärung (der bereits eine Art ›Verzeitlichung‹ eines als höchstes Seiendes vorgestellten und das ›System‹ sicherstellenden Gottes darstellt) zum negativen Deismus eines sich aus sich selbst ausgeschlossen habenden Gottes, der das mögliche Moment des Mordes als einen bereits innergöttlich vorgängigen ›Suizid‹ tarnt, wie denn namentlich Schelling ein quälendes Ringen Gottes mit sich veranschlagt, wogegen der Tod Gottes bei Hegel die Faktizität von Freiheit immer schon vermittelt hat. Wird die forsch okkupierte (sich Gott zum Feind machende und dessen Tod hinterher als Mord erscheinen lassende) Freiheit in ihrem Selbstverlust ›trotzend‹ heroisiert, um im sich Zerlaufen des Trotzes die Bedeutung der ›Schicksalsergebenheit‹ zu erlangen, mutiert Gott als der wiederauferstandene ›ganz Andere‹ seinerseits zur tragischen Größe. 27 Vgl. auch schon den Kampf auf Leben und Tod am Eingang des Selbstbewußtseins-Kapitels. 28 Vgl. etwa in dem Hans-Baumann-Lied ›Nun laßt die Fahnen fliegen‹ die Verszeile: Deutschland, sieh uns, wir weihen dir den Tod als kleinste Tat, grüßt er einst unsre Reihen, werden wir die große Saat. 29 Wobei dieser Kosmos gerade durch die idealistische, ›dynamisierte‹ Naturbetrachtung Aufwertung erfährt, und mithin durch die Anerkennung, selbst schon im-
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tragens nur abwirft und damit wiederum flieht. Allein die Wahrheit einer solchen ›Weihe‹ ist nicht die Anerkennung (ohnehin nur noch für den ›Heldentod‹, auf den die Vorstellung der ›Volksgemeinschaft‹ letztlich hinauslief), sondern der elendigliche Kriegstod bzw. der verzweifelte Suizid. 5. Schlußbetrachtung Ist das Leben nun das stets Größere gegen den philosophischen Vollzug und gegen das, was diesem gegenständlich wird? Man bedenke, daß auch ein Vitalismus Flucht vor dem Selbst sein kann, das immer schon ein ›philosophierendes‹ ist und das unmittelbare Leben negiert hat. ›Zurück zu Kant‹ – das kann auch eine Flucht vor dem Denken sein und nicht nur Kritik, deren Selbstkritik freilich entwickelbar wäre. Das Leben ist zwar Ausgangsort des Philosophierens, aber es ist dies gerade dadurch, daß es in sich gebrochen erscheint, und es ist ein Ausgangsort, der erst als ein solcher erscheint, indem philosophiert wurde. Die Spekulation ist daher, wie Fichte 1810 an Jacobi schrieb, in der Tat »eine durchaus notwenige Bestimmung des Lebens selbst«30 – zunächst des individuellen Lebens, aber auch (bei Fichte vielleicht unterbelichtet) des politisch-gesellschaftlichen Lebens, zu dem der philosophierende Selbstvollzug sich gleichsam im Element der Anerkennung aufzuschließen vermag, indem er es setzt, daß die eigenen Gedanken (in Abwandlung eines Hegelschen Diktums) zugleich Gedanken ihrer Zeit sind. Zwar treten Philosophie und Leben einander auch entgegen, doch tut dies schon das Leben selbst, das sein eigener Gegenstand wird (und hierdurch zur Philosophie in einem weitesten Sinn), und ebenso die Philosophie, die sich selbst gegenständlich wird und nie nur Philosophie war (und insofern zum Leben wird). Und wenn das Leben zum Philosophieren und die Philosophie sich wiederum zum Leben wird, so waren beide Momente zugleich schon das Andere, zu welchem sie sich machen: Das Philosophieren bleibt in aller Entgegensetzung gegen das Leben zugleich sein unmittelbarer Vollzug (also ›Leben‹), wie umgekehrt das Leben erst als Gegenstand der Philosophie pliziter Geist zu sein. – Die Ohnmacht ist hinwiederum zugleich ihr Rückschlag in die abstrakte Allmacht, wie dies auch den gegenwärtigen, sich zwar nicht als ›natur-‹, wohl aber als ›gottbefohlen‹ verhüllenden islamistischen Terrorismus charakterisieren dürfte. 30 Brief von Fichte an Jacobi vom 03. 05. 1810, in: J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abt. III, Band 6. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, 331.
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(die hier die Stellung des Vollzugs-Moments einnimmt) bzw. als durch die Philosophie entlassener Gegenstand ›Leben‹ ist. Jedes Moment ist zugleich sein Anderes, und dieses Selbstanderssein ist wiederum das, was nach Hegel die Grundlage des Geistes ausmacht. Dessen Näherbestimmung als Anerkennung sowie die Engführungen und Gefährdungen der hierin vermittelten Freiheit haben wir angedeutet – und es sind dies Gefährdungen, die Hegel selbst schon namentlich in seiner Phänomenologie des Geistes gesehen und zu Gestalten des Bewußtseins bzw. des Geistes ›verarbeitet‹ hatte. Was die Reichweite der Philosophie anbelangt, so muß diese zugleich ihre eigene – aber geist-volle und nicht bloß sich abstrakt relativierende und auch damit wegwerfende – ›Passion‹ als Moment beinhalten.
II. DIE KONTROVERSE ZWISCHEN FICHTE UND SCHELLING UM 1800
Alexander Aichele Metaphysisches oder logisches Systemprinzip? Die Dynamik des Unbedingten und seine Deduktion in Schellings Naturphilosophie von 1799 Unter den Bedingungen der Transzendentalphilosophie schlechthin Denkunabhängiges zu denken oder gar zu erkennen, ist schwierig. Und nicht nur das: Ein solcher Versuch scheint sogar auf den ersten Blick kaum möglich. Sind nämlich die Bedingungen aller möglichen Erkenntnis mit der Einrichtung des erkennenden Subjekts a priori vorgegeben, konstituiert dies also erst selbst die Gegenstände seiner Erkenntnis, bleibt deren erkenntnisunabhängige Beschaffenheit, mithin die Wirklichkeit der Dinge außerhalb des Subjekts, wenigstens unbekannt – wenngleich immerhin keine Notwendigkeit besteht, diese gleich ganz zu leugnen. Die klassische Frage der Metaphysik danach, was etwas für sich genommen sei, ist folglich unbeantwortbar oder jedenfalls falsch gestellt. Weil alle wahrheitsdifferenten Aussagen über Dinge von den prinzipiellen Erkenntnismöglichkeiten des erkennenden Subjekts abhängen, kann es auch keine wahrheitsdifferenten Aussagen über Dinge, wie sie an sich sind, geben. Unbedingtes ist auch unerkennbar.1 Nun heißt Unerkennbarkeit nicht dasselbe wie Undenkbarkeit. Schelling kann daher den Versuch unternehmen, das Unbedingte zu denken, das sich aller möglichen Erfahrung entzieht, weil es selber die Bedingung der Erfahrbarkeit ist, d. h. die Natur. Daß sowohl Durchführung als auch Erfolg eines solchen Unternehmens dessen wesentliche Gebundenheit an einen durchaus traditionell verstandenen Begriff von System erfordern, soll im folgenden gezeigt werden. Zunächst ist anhand des Ersten Entwurfs eines Systems der Naturphilosophie und dessen Einleitung Verfah1 Vgl. Wolfgang Wieland: Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Hrsg. v. Manfred Frank u. Gerhard Kurz. Frankfurt a. M. 1975, 237–279, insb. 247 ff.
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ren und Form von Schellings Naturphilosophie einerseits und deren Gegenstand und Problemstellung andererseits zu klären. Sodann kann das daraus gewonnene Prinzip der Natur in eine bestimmte Form gebracht und sowohl seine Funktion für das entworfene System der Natur wie der Naturphilosophie rekonstruiert als auch der Gebrauch analysiert werden, den Schelling von jenem Prinzip macht.
1. Verfahren und Form von Schellings Naturphilosophie Der Befund über die Unerkennbarkeit des Unbedingten stellt einem Unternehmen, das sich ausdrücklich die philosophische Erfassung der Natur in ihrer Unbedingtheit zum Ziel setzt, große Hürden in den Weg. Genau diesen Versuch indes unternimmt Schellings Naturphilosophie. Sie stellt deswegen auch nicht die erwähnte Frage nach dem Wesen der Natur – wenngleich sie, wie sich zeigen wird, diese trotzdem in durchaus klassischer Weise zu beantworten scheint. Schelling ist sich vielmehr der transzendentalphilosophischen Beschränkungen seiner Frage- und Antwortmöglichkeiten bewußt.2 Er fragt daher nach den Prämissen, unter denen die Natur als unbedingt, und damit denk- und erkenntnisunabhängig, gedacht werden kann. Dies klingt widersprüchlich, da so die Natur ja ganz offensichtlich zum Gegenstand des Denkens gemacht wird und demzufolge gerade dadurch bedingt sein müßte. Schelling begegnet diesem Vorwurf, indem er der Naturphilosophie die Aufgabe zuweist, »das Ideelle aus dem Reellen zu erklären«.3 Da dies nichts anderes als die Forderung bedeutet, das ›Bewußte‹ aus dem ›Bewußtlosen‹ zu erklären,4 muß es der Naturphilosophie letztlich um die Frage gehen, wie in der und durch die Natur denkende und ihrer selbst bewußte Dinge bzw. die
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Wilhelm G. Jacobs betont zu Recht, daß »Kants transzendentalphilosophische Untersuchung der Natur von Schelling anerkannt und weitergeführt wird«; ders.: Schelling im Deutschen Idealismus. Interaktionen und Kontroversen, in: F. W. J. Schelling. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Stuttgart/Weimar 1998, 66–81, hier 73. 3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder über den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (1799), in: Schellings Werke. Münchner Jubiläumsdruck. Hrsg. v. Manfred Schröter. München 1927 u. ö., Bd. 2, 269–326, hier 272. Im folgenden wird diese Schrift zitiert als »Schelling, Einleitung«, mit Angabe der Seitenzahl; Schellings Werke werden im folgenden zitiert als »SW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 4 Vgl. a. a. O., 271.
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durch diese gedachte Ordnung, d. h. kurzgefaßt: Denken, möglich sind. Die Naturphilosophie stellt demnach die Umkehrung bzw. »das Entgegengesetzte der Transzendentalphilosophie«5 dar. Aus der Perspektive der Naturphilosophie ist infolgedessen das Denken durch die Natur bedingt: Die Natur bildet die Bedingung der Möglichkeit des Denkens und kann daher nicht selbst durch dies bedingt sein. Die Unbedingtheit der Natur zu denken heißt demzufolge, sie als Bedingung des Denkens zu begreifen. Aus dieser Aufgabe ergeben sich nun zwei Konsequenzen für das Unternehmen einer Naturphilosophie: Zum einen »[finden] in dieser Wissenschaft keine idealistischen Erklärungsarten statt«.6 Sie versteht sich im Gegenteil als »wahre Naturwissenschaft« und verfährt deswegen nach dem Grundsatz, »alles auch aus Natur-Kräften zu erklären«.7 Diesen »Realismus als Princip angenommen, [würde] nichts weiter daraus folgen, als daß auch das, was wir Vernunft nennen, ein bloßes Spiel höherer und nothwendig unbekannter Naturkräfte ist.«8 Eine realistische Erklärung, wie sie die Naturphilosophie anstrebt, hat folglich dem Anspruch zu genügen, alles Seiende, die Vernunft und ihre Tätigkeit, das Denken, eingeschlossen, vermittels einer fortlaufenden Kette von Bedingungen zu erklären, die jederzeit bloß natürlichen Ursprungs sind und bis zur Natur selbst als der letzten und daher unbedingten Bedingung dieser Kette führt. Diese Kette selbst wird kausal verfaßt sein müssen, weil die realistische Erklärung von Kräften ausgeht und diese nur als Bedingungen gelten können, wenn sie einerseits Wirkungen induzieren und andererseits selbst in Verwirklichung sich befinden.9 Bereits aus dem Begriff einer realistischen Erklärungsart erhellt also, daß die Natur, sofern sie als Unbedingtes gedacht werden soll, als Kraft gedacht werden muß, die sich irgendwie selbst verwirklicht. Zum anderen darf an keiner Stelle vergessen werden, daß es der Naturphilosophie darum geht, die Natur als unbedingt zu denken, indem die dafür anzunehmenden Prämissen gesucht werden. Es darf also nicht um Behauptungen metaphysischen Charakters gehen, welche die klassi-
5
A. a. O., 273. Ebd. 7 Ebd. 8 A. a. O., 273 f. 9 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen (1799), in: SW 2, 1–268, hier 185. Im folgenden zitiert als »Schelling, Erster Entwurf«, mit Angabe der Seitenzahl. 6
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sche ›Was ist X?‹-Frage beantworten. Die Naturphilosophie besitzt zwar – wie nach Schellings Auffassung jede Philosophie – einen unbedingten Gegenstand,10 ihr Verfahren und damit auch ihre Resultate können aber eben deswegen nicht selbst Unbedingtheit beanspruchen, sondern bestenfalls Angemessenheit an ihren unbedingten Gegenstand. Dieser ist aber prinzipiell unerkennbar. Er kann daher auch nicht vorgegeben sein, weil es unter keinen Umständen möglich wäre, ihn zu identifizieren. Die Naturphilosophie muß diesen Gegenstand also erst selbst hervorbringen, indem sie die Bedingungen der Möglichkeit seiner Unbedingtheit zu ermitteln sucht. Schelling drückt das ein wenig umstandsloser aus: »Ueber die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen.«11 Das Ziel der naturphilosophischen Bemühung ist daher, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt, eine Konstruktion. Deren Prinzip ist nämlich für den Philosophen gerade das Unbedingte, »wo das Construirende und Construirte – Denkende und Gedachte – schlechthin in eins zusammenfällt«.12 Soll die Natur also als unbedingt gedacht werden, ist zu zeigen, wie Natur und Denken so als Einheit gedacht werden können, daß letzteres aus ersterer hervorgehen kann, mithin ihr Produkt ist. Denn in der Naturphilosophie besteht die Konstruktion in einer »Reduktion auf Naturursachen«.13 Konstruiert werden aber immer nur Ideen.14 Ideen geben nun zwar gerade keine möglichen Gegenstände von Erfahrung.15 Jedoch erfordert die Unerkennbarkeit des Unbedingten die Überschreitung des Bereichs möglicher Erfahrung, damit Unbedingtes überhaupt gedacht werden kann – unerkennbar heißt ja nicht zugleich undenkbar. Die Konstruktion von Ideen geschieht durch Denken und ist somit Sache der Vernunft, die hierin produktiv wird. Ideen sind demnach intelligible bzw. logische Gegenstände, die Gegenstände möglicher Erfahrung erklären sollen, ohne selbst durch Erfahrung gegeben werden zu können bzw. erfahrbar zu sein. Die solchermaßen spekulativ gewonnene Idee überschreitet zwar die Erfahrung, sie löst sich aber nicht vollständig von ihr ab: Spekulation liegt nicht
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Vgl. a. a. O., 12. A. a. O., 13. 12 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Ueber die Construktion in der Philosophie (1803), in: SW 3, 545–571, hier 554. Im folgenden zitiert als »Schelling, Ueber die Construktion«, mit Angabe der Seitenzahl. 13 Schelling, Erster Entwurf, 153. 14 Vgl. Schelling, Ueber die Construktion, 555. 15 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974 u. ö., A 634 f./B 662f (558). Im folgenden zitiert als »Kant, KrV«, mit Angabe der Auflage und der Seitenzahl. 11
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schon in willkürlicher Hypothesenbildung.16 Im Gegenteil betont Schelling die rigide Kontrollfunktion der Erfahrung bei der Beurteilung der Wahrheit der Konstruktion, die deswegen gerade nicht willkürlich sein darf, weil »[d]iese absolute Voraussetzung« nicht nur »ihre Nothwendigkeit in sich selbst tragen«, sondern »noch überdieß auf empirische Probe gebracht werden [muß]«: »[W]ofern nicht aus dieser Voraussetzung alle Naturerscheinungen sich ableiten lassen, wenn im ganzen Zusammenhange der Natur eine einzige Erscheinung ist, die nicht nach jenem Prinzip nothwendig ist, oder ihm gar widerspricht, so ist diese Voraussetzung eben dadurch schon als falsch erklärt«.17 Die Idee der Natur muß also ein oberstes Prinzip enthalten, das selbst ihre Konstruktion als diese und keine andere rechtfertigt. Dieses Prinzip darf kein metaphysisches Prinzip, sondern muß ein logisches Prinzip sein. Denn es ist das Ziel der Naturphilosophie, eine Idee der Natur zu konstruieren, die alle möglichen Naturerscheinungen unter sich begreift, indem sie sich aus einem, selbst voraussetzungslosen Prinzip ableiten und so nicht nur in ihrer Möglichkeit, sondern auch in ihrer Notwendigkeit erklären lassen.18 Die Naturphilosophie bildet demnach einen Zusammenhang von Sätzen, deren jeder sich auf ein und dasselbe oberste Prinzip, das deswegen ebenfalls die Form eines Satzes haben muß, zurückführen lassen muß, d. h. das System einer Wissenschaft, wie es paradigmatisch Aristoteles in den Zweiten Analytiken seiner Form nach entwirft. Eine solche philosophische Naturwissenschaft verfährt selbst nicht empirisch, wenngleich sie sich wesentlich auf die Resultate »der experimentirenden Nachforschung« bezieht.19 Naturwissenschaft ist nicht selbst Naturforschung. Die empirische Forschung liefert der Naturphilosophie ihr Material, das sie in eine Theorie integriert, deren »Hauptcharakter […] innere Nothwendigkeit«20 ist. Denn erst die Naturphilosophie ermöglicht durch die ihr eigentümliche Idee der Natur »unmittelbar oder mittelbar die Einsicht« in die »innere Nothwendigkeit« eines grundsätzlich »bloß historisch[en] […] Erfahrungssatz[es]«.21 Sie ist genau deswe-
16
Vgl. Schelling, Einleitung, 277. Ebd. 18 Vgl. auch Michael Rudolphi: Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 131 ff. Im folgenden zitiert als »Rudolphi, Produktion«, mit Angabe der Seitenzahl. 19 Schelling, Einleitung, 279. 20 Schelling, Erster Entwurf, 239. 21 Schelling, Einleitung, 278. 17
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gen »speculative Physik«.22 Ein deskriptiver Satz über »unter natürlichen oder veranstalteten Umständen Geschehene[s]«,23 d. h. über Einzelnes, hat nämlich als solcher keinen wissenschaftlichen Wert. Erst wenn seine innere Notwendigkeit eingesehen ist, wenn er also in den Satzzusammenhang der Naturphilosophie eingefügt und somit aus dessen obersten Prinzip abgeleitet ist, wird aus dem Erfahrungssatz eine wissenschaftliche Aussage. Er ist dann Gegenstand wissenschaftlichen Wissens und dadurch – gleichgültig, welchen Inhalts er ist – nach Schelling zu einem apriorischen Satz geworden.24 Die Naturphilosophie enthält folglich nur apriorische Sätze, deren Apriorizität erweist sich durch ihre Ableitbarkeit und die Wahrheit der zugrundegelegten Idee der Natur durch ihre Integrationsfähigkeit. Die Wahrheit sowohl des Satzzusammenhangs als auch einzelner Sätze ist infolgedessen nicht eine Frage der Korrespondenz von Sätzen und Dingen bzw. Sachverhalten, sondern der Kohärenz von Sätzen mit einem Prinzip der Konstruktion einer Idee der Natur. Diese muß geeignet sein, jeden möglichen Erfahrungssatz zu integrieren, d. h. als Ableitung aus ihrem Prinzip zu erweisen.25 Gelingt dies nicht auf Anhieb, hat die empirische Forschung die Aufgabe, Resultate zu finden, die als »Zwischenglieder« die gesuchte Ableitung ermöglichen, deren »Mangel« die Naturphilosophie aufzeigt26 – dazu reicht es offenkundig schon, daß sie Integrationsprobleme hat. Die spekulative Physik gibt aufgrund dieser theoretischen Lücken der empirischen, insbesondere der experimentellen Forschung ihr Programm vor. Sie gibt sich auf diese Weise – so Schelling – »als Mutter aller großen Entdeckungen in der Natur« zu erkennen, da die spekulative Physik insofern »die Seele des wahren Experiments«
22
Vgl. a. a. O., 275–280 (§ 4). A. a. O., 283. 24 A. a. O., 278. 25 Trotz dieses hohen Anspruchs darf freilich der lang bekannte Sachverhalt nicht vergessen werden, daß Schelling bei aller durchaus umfassenden Kenntnis der Naturforschung seiner Zeit und ihren empirischen wie theoretischen Ergebnissen (vgl. dazu die vorbildlichen Dokumentationen von Manfred Durner, Jörg Jantzen und Francesco Moiso, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ergänzungsband zu Werke Bd. 5–9. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs u. Hermann Krings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994) durchaus frei und selektiv mit deren Resultaten umging, d. h. eben nicht jeder empirisch hinreichend erwiesene Satz fand die Würde eines Platzes in seinem System (vgl. z. B. Bernd-Olaf Küppers: Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt a. M. 1992, 81). 26 Schelling, Einleitung, 279. 23
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darstellt,27 als in jedem solchen »ein verstecktes Urtheil a priori« enthalten ist.28 Folglich obliegt die Identifikation der gesuchten Zwischenglieder als Zwischenglieder ebenso der Naturphilosophie, da dies vom Besitz der Idee der Natur und ihres Konstruktionsprinzips abhängt. Aufgrund dessen kann offensichtlich allein die spekulative Physik selbst ihr Scheitern an der Empirie feststellen. Die Hürden dafür liegen allerdings außerordentlich hoch. Das erklärte Ziel der spekulativen Physik ist nämlich »die vollständige Entdeckung aller Zwischenglieder im Zusammenhang der Natur«.29 Schelling stellt deswegen fest, »daß also auch unsere Wissenschaft selbst eine unendliche Aufgabe ist«.30 Daraus ergibt sich aber genaugenommen, daß das Scheitern des naturphilosophischen Unternehmens bzw. die Falschheit der spekulativ gewonnenen Idee der Natur niemals endgültig festgestellt werden kann. Wird die spekulative Physik nämlich mit einem experimental gewonnenen Erfahrungssatz konfrontiert, den sie nicht in ihr System integrieren kann, kann sie stets auf fehlende Zwischenglieder verweisen, Forschungsaufträge erteilen und so fort ad infinitum. Gerade ihr Vollständigkeitsanspruch scheint sie auf diese Weise unwiderleglich zu machen. Gesetzt den Fall, dieser Anspruch wird geteilt, und gesetzt den Fall, auch eventuelle Inkohärenzen in ihren Ableitungen ließen sich mit technischen Mitteln, auf die Schelling leider keinen großen Wert legt, beseitigen, und weiterhin gesetzt den Fall, man akzeptierte das spekulative Verfahren, bliebe allein die Angemessenheit oder die Form ihres obersten Prinzips zu bestreiten.
2. Gegenstand und Problem der spekulativen Physik Daß auch die spekulative Physik im klassischen Sinne als Physik zu verstehen ist, zeigt »das erste Problem dieser Wissenschaft«.31 Es besteht in der Auffindung der »absoluten Ursache der Bewegung (ohne welche die Natur nichts in sich Ganzes und Beschlossenes ist)«.32 Wie in der aristotelischen Physik, deren augenfällige Parallelen zu Schellings Überlegungen an dieser Stelle nicht thematisiert werden können, gilt auch Schelling
27 28 29 30 31 32
A. a. O., 280. A. a. O., 276. A. a. O., 279. Ebd. A. a. O., 274. Ebd.
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Bewegung als dasjenige, was das von Natur aus Seiende als solches ausmacht.33 Soll daher die Natur als Einheit begriffen werden, ist sie unter einen allgemeinen Begriff von Bewegung zu bringen, von dem aus alles Geschehen in der Natur erklärt werden kann. Weil diese aber ohne weitere Voraussetzungen gedacht werden soll, muß die Ursache der allgemeinen Bewegtheit, welche die Natur selbst ist, auch in ihr selbst liegen: Die Natur muß daher das Prinzip ihrer eigenen Bewegung enthalten. Sind alle Bewegungen in ihr dadurch prinzipiiert, ist sie im eigentlichen Sinne Prinzip der Bewegung (¥rc¿ kinÃsewf). Dieses Prinzip muß ein aktives Prinzip sein, wenn der Bereich des Natürlichen nicht transzendiert werden soll, wie dies die Aufgabe der Naturphilosophie, die Natur als unbedingt zu denken, vorgibt. Die Möglichkeit von Bewegung überhaupt kann daher nicht mechanisch erklärt werden. Denn die Möglichkeit, mechanisch bewegt zu werden, erfordert im jeweils Bewegten nur ein passives Vermögen zur Bewegung und eine Ursache, die dieses verwirklicht. Bleibt es aber bei der mechanischen Erklärung, muß auch diese Ursache wieder von einer von ihr verschiedenen Ursache in Bewegung gesetzt werden und so fort ad infinitum. Wie nun Aristoteles vermittels dieses Arguments die explikative Notwendigkeit der Annahme des logischen Gegenstands eines Ersten Bewegenden epistemisch rechtfertigt, um die Einheit der Naturbewegung zu gewährleisten, so benutzt es auch Schelling, um den dynamischen Ansatz seiner spekulativen Physik zu legitimieren. Dieser besagt, »daß Bewegung nicht nur aus Bewegung, sondern selbst aus der Ruhe entspringe, daß also auch in der Ruhe der Natur Bewegung sey, und daß alle mechanische Bewegung die bloß secundäre und abgeleitete der einzig primitiven und ursprünglichen sey, die schon aus den ersten Faktoren der Construktion einer Natur überhaupt [den Grundkräften] hervorquillt«.34 Soll also die Natur als unbedingt gedacht werden, ist sie dynamisch zu denken. Wird sie aber auf diese Weise als absolute Bewegtheit gedacht, darf ihre Idee nicht als gegenständlich bestimmtes Sein konstruiert werden: »[D]er Begriff des Seyns als eines Ursprünglichen soll aus der Naturphilosophie […] schlechthin eliminiert werden«.35 Die Idee der Natur muß daher als Prozeß gedacht werden, der sich selbst prinzipiiert bzw. verursacht.
33
Vgl. zu Aristoteles’ Natur- bzw. Bewegungsbegriff ausführlich v. Verf., Ontologie des Nicht-Seienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009. Im folgenden zitiert als »Verf., Ontologie«, mit Angabe der Seitenzahl. 34 Schelling, Einleitung, 274 f. 35 Schelling, Erster Entwurf, 12.
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Weil dies ein aktives Prinzip erfordert, gilt für die Naturphilosophie, daß »das Seyn selbst aber = absoluter Tätigkeit« ist.36 Schelling unterscheidet also das Sein von Einzeldingen vom Sein der Natur selbst, das er als Tätigkeit verstehen muß, um den Bestand von Einzeldingen erklären zu können und nicht bereits von diesem auszugehen und so eine zirkuläre Erklärung zu liefern.37 Daraus folgt, daß jedes Einzelding aus der Perspektive der Naturphilosophie als zeitlich-räumliche Instanz innerhalb des fortlaufenden Naturprozesses zu gelten hat, daß es mithin in der »continuirlich-wirksame[n] Naturthätigkeit« nichts geben kann,38 das sich schlechthin in Ruhe befände. Aus diesem Grunde verfehlt ein Ansatz, der vermittels der Beobachtung und Beschreibung einzelner Naturdinge oder -ereignisse zu deren Erklärung gelangen will, sein Ziel vollständig. Denn indem er die Natur als Inbegriff aller Objekte – womöglich noch: nur einer bestimmten Klasse – versteht, begreift er sie als vorgegebenes, statisches Sein und kann ihr Vorliegen deswegen gar nicht mehr erklären. Ein solches Vorgehen, das die Natur als Mannigfaltigkeit bestimmter einzelner Objekte begreift, bleibt bloße Empirie, welche die Natürlichkeit ihrer Gegenstände gar nicht erfaßt und infolgedessen auch nicht Wissenschaft von der Natur sein kann. Denn deren Aufgabe ist es im Gegenteil, »was Objekt ist, in seinem ersten Ursprung zu erblicken«,39 da man »nur von solchen Objekten wissen kann, von welchen man die Prinzipien ihrer Möglichkeit einsieht«.40 Die Naturphilosophie als wahre Naturwissenschaft betrachtet die Natur daher als Subjekt, weil nur Subjekte von selbst tätig sein können.41 Allein dadurch gelangt sie zu einer adäquaten Theorie der Natur. Diese geht von einer ursprünglich positiven, d. h. hervorbringenden, Tätigkeit der Natur aus. Schelling nennt sie deswegen »Produktivität«.42 Soll die Natur also als unbedingt gedacht werden, ist sie als ursprünglich und wesentlich produktives Subjekt zu denken, d. h. 36
A. a. O., 13. Vgl. zum stets wiederkehrenden Zirkularitätsproblem in Schellings Begründungsversuchen: Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen 1990, hier insb. 95 u. 111. Im folgenden zitiert als »Sandkaulen-Bock, Ausgang«, mit Angabe der Seitenzahl. 38 Schelling, Erster Entwurf, 13. 39 Ebd. 40 Schelling, Einleitung, 275. 41 Es trifft daher zu, auch Schellings Naturphilosophie vom Primat des Praktischen her zu begreifen, gerade weil »Schellings Praxis-Begriff von allen sittlichen Inhalten (abstrahiert), um seinen rein produktiven Charakter herauszustreichen« (Rudolphi, Produktion, 53). 42 Schelling, Einleitung, 284. 37
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als »natura naturans«.43 Geht die Naturphilosophie aber davon aus, hat sie neben dem Problem der absoluten Bewegungsursache, die auf ein logisches Prinzip zu bringen ist, aufgrund der Unbedingtheit der Natur noch aus demselben Prinzip zu erklären, warum in einer vollständig dynamisierten Natur überhaupt so etwas wie bestimmbare Einzeldinge bzw. ›permanente Objekte‹ vorkommen können.44 Letzteres bildet sogar das »Hauptproblem der Naturphilosophie«.45
3. Das Prinzip der Produktivität Es liegt auf der Hand, daß die Rede von absoluter bzw. reiner Produktivität für sich genommen weder das Vorliegen noch die Möglichkeit von Einzeldingen vollständig erklären kann. Sie liefert so verstanden allenfalls eine notwendige Bedingung dafür. Im Gegenteil enthält reine Produktivität für sich genommen, wie auch Schelling betont,46 nur reine, gegenstandslose Prozessualität. Diese kann nicht einmal der Art nach als Produktivität bestimmt werden, wenn sich nicht irgendwelche Resultate dieser Aktivität auffinden lassen – so ephemere »Scheinprodukte«47 diese auch sein mögen. Von der Gegebenheit solcher »Naturprodukte«48 und damit zugleich ihrer Möglichkeit scheint Schelling ohne weiteres auszugehen.49 Er muß dies auch, um seine Untersuchung zu motivieren: 43
Ebd. Vgl. a. a. O., 289. 45 Schelling, Erster Entwurf, 18. 46 Schelling, Einleitung, 287: »Die Natur ist ursprünglich nur Produktivität, es kann also in dieser Produktivität nichts Bestimmtes seyn (denn alle Bestimmung ist Negation), also kann es auch durch sie nicht zu Produkten kommen.« 47 Schelling, Erster Entwurf, 18. 48 A. a. O., 13. 49 Diese ganz schlichte Feststellung, daß nicht einmal Schellings Naturphilosophie ex nihilo beginnen kann, scheint Marie-Luise Heuser (Schellings Organismusbegriff und seine Kritik des Mechanismus und Vitalismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 18 (1989), 17–36) zu übersehen, wenn sie aus dem Verfahren, »das in der Erfahrung Aufweisbare zu beschreiben und zu analysieren«, folgern möchte, daß als »Konsequenz« daraus »eine statische, gegenständliche Naturauffassung« resultieren müsse, »weil immer nur bereits Bestehendes in den Blick kommt und selbst dynamische Vorgänge nur in ihrer Faktizität als Zustandsänderungen vorgegebener Objekte wahrgenommen werden können« (a. a. O., 17). Dem wäre – von der Unzulässigkeit eines solchen Schlusses vom Nicht-Tun auf’s Nicht-Können ganz abgesehen – aus historischer Perspektive entgegenzuhalten, das etwa schon Aristoteles im Ausgang von der Beobachtung von Einzeldingen zu einem durch und durch dynamischen Begriff der Natur und ihrer Produkte kommt (vgl. Verf., Ontologie). 44
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Ohne dies wäre seine Fragestellung ganz unverständlich.50 Der Grund zur Annahme der Existenz von Naturprodukten in welcher »Form« auch immer,51 von dem auch die Naturphilosophie ausgehen muß, kann aber nicht aus der Naturphilosophie selbst kommen: »Ursprünglich aber ist für uns in der Natur überhaupt kein einzelnes Seyn [als ein zu Stande gekommenes] vorhanden, denn sonst ist unser Thun nicht Philosophie, sondern Empirie.«52 Die Naturphilosophie ist folglich von Anfang an auf die Empirie angewiesen. Schelling ist auch dies bewußt. Denn er betont ausdrücklich: »Wir wissen nicht nur dieß oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung«.53 Der Ursprung naturphilosophischen Wissens liegt folglich in der durch Erfahrung induzierten Annahme, daß von Natur aus Seiendes ist bzw. daß es Naturdinge gibt. Dies stellt eine metaphysische Annahme dar.54 Und an diesem metaphysischen Charakter der Annahme ändert auch deren Erhebung zur »Dignität«55 eines apriorischen Satzes im System einer Naturwissenschaft nichts. Denn diese besteht offenkundig in der Ersetzung einer fälschlich durch die Empirie womöglich nahegelegten Auffassung einer Einzeldingontologie durch eine Prozeßontologie. Schellings naturphilosophisches Unternehmen scheint demzufolge gar nicht umhinzukommen, eine metaphysische These zu begründen, wenn es die Natur selbst als Produktivität begreift: Sie könnte sonst reine Prozessualität nicht als Produktivität spezifizieren. Inwieweit sich dies noch mit den erklärtermaßen transzendentalphilosophischen Voraussetzungen verträgt oder stillschweigend zu einer spekulativen Metaphysik gerät, bleibt freilich fraglich. 50
Vgl. auch Hermann Krings: Natur als Subjekt. Ein Grundzug der spekulativen Physik Schellings, in: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hrsg. v. Reinhard Heckmann, Hermann Krings u. Rudolf W. Meyer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 111–128, hier 119. Im folgenden zitiert als »Heckmann/Krings/Meyer, Natur«, mit Angabe der Seitenzahl. 51 Schelling, Erster Entwurf, 13. 52 Ebd. 53 Schelling, Einleitung, 278. 54 Dieser ohne weiteres vollzogene und nicht eigentlich begründete Rückgriff auf eine »metaphysische Ausgangsbasis«, wie Wolfgang Bonsiepen herausarbeitet (Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt a. M. 1997, insb. 276 ff., hier 287) wiederholt sich bei der zwar transzendentalphilosophisch gemeinten, aber nicht entsprechend begründeten Einführung ›reiner Entelechien‹ als »bloße(n) Ansatz zum Produkt« (Schelling, Einleitung, 293), den man sich trotz aller argumentativen Bemühungen Schellings kaum anders als irgendwie materiell denken kann. 55 Schelling, Einleitung, 278.
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Das gesuchte Prinzip der Produktivität, das zugleich das Konstruktionsprinzip der Idee der Natur darstellen soll, muß also eine nicht nur notwendige, sondern notwendige und hinreichende Bedingung für die Existenz von Naturprodukten liefern, ohne welche die Tätigkeit der Natur gar nicht erfahrbar wäre.56 Da hierfür absolute Tätigkeit nicht zureicht, muß das Prinzip aufgrund der Unbedingtheitsvoraussetzung voneinander unterscheidbare ›Faktoren‹, d. h. »innere Bedingungen«,57 enthalten, ohne jedoch dadurch die Einheit der Naturidee, d. h. die Identität von Produktivität und Produkt,58 zu gefährden. Dann nämlich ließe sich die Möglichkeit von Naturprodukten nicht mehr vollständig aus der Natur erklären: Die Natur verlöre dann ihre »Autarkie« und wäre demzufolge auch nicht unbedingt.59 Sie darf daher nicht »als reine Produktivität« gedacht werden.60 Die Idee der Natur kann folglich auch nicht in »reine[r] Identität« bestehen, da in ihr nichts, also wiederum keine Produkte, voneinander unterschieden werden könnten.61 Es bleibt demnach nichts anderes übrig, als »in der Natur eine ursprüngliche Dualität schlechthin voraus[zu]setz[en]. Denn weiter ableiten läßt sie sich nicht, weil sie die Bedingung ist, unter welchen ein Unendliches überhaupt endlich darstellbar, d. h. unter welcher überhaupt eine Natur möglich ist.«62 Soll die Möglichkeit erfahrbarer Natur, die in der Existenz von Dingen besteht, begründet werden, darf Natur nicht exklusiv als Subjekt gedacht werden, weil die Natur nur als Objekt erfahren werden kann; sie darf aber auch nicht exklusiv als Objekt gedacht werden, weil sie dann nicht als unbedingt gelten kann. Das Prinzip der Produktivität, vermittels dessen sich eine angemessene Idee der Natur konstruieren läßt, ist infolgedessen relational verfaßt. Dabei stehen beide Relate in einem Verhältnis der Form ›Wenn A, dann B, und wenn B, dann A.‹ bzw. ›Wenn Subjekt, dann Objekt, und wenn Objekt, dann Subjekt.‹ bzw. ›Wenn Grundkraft P tätig, dann Grundkraft H tätig, und wenn Grundkraft H tätig, dann Grundkraft P tätig.‹ Nun kann man diese Relation sowohl auf denkunabhängige Ereignisse beziehen, d. h. sie metaphysisch interpretieren, als auch auf Aussagen, d. h. sie im Sinne der klassischen Logik interpretieren. Im ersten Fall 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. z. B. a. a. O., 287. Schelling, Erster Entwurf, 233. Vgl. Schelling, Einleitung, 284. Schelling, Erster Entwurf, 17. Schelling, Einleitung, 287. A. a. O. 287 f. Schelling, Erster Entwurf, 16; vgl. auch Einleitung, 288 f.
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hat man es mit einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu tun. Das Prinzip könnte man dann so formulieren: Die produzierten Objekte sind als solche durch die Produktivität der Natur bedingt, und die Produktivität der Natur ist als solche durch die Produktion von Objekten bedingt. Hierzu sind zwei Bemerkungen nötig: Zum einen darf auch in einem solchen Verhältnis die Natur nicht ihre Unbedingtheit einbüßen. Daß dies nicht geschieht, läßt sich von Schellings Position aus folgendermaßen begründen: Die Natur wird als Subjekt angesehen, da sie von sich aus aktiv sein muß, wenn sie nicht durch etwas von ihr Verschiedenes bedingt sein soll. Dies reicht jedoch nicht zu, um sie als produktiv zu bestimmen. Daher muß die Natur ebenso als Objekt angesehen werden, und zwar aufgrund ihrer Unbedingtheit als ihr eigenes. Schelling nennt dies »SelbstObjekt«.63 Die Natur darf infolgedessen weder bloß als Subjekt noch bloß als Objekt gedacht werden. Deswegen sagt allein das genannte Prinzip ihre Unbedingtheit und damit auch ihr Konstruktionsprinzip aus. Zum anderen dient das Prinzip zur Erklärung alles Naturgeschehens. Dies ist empirisch darstellbar und spielt sich mithin – so ephemer die entsprechenden Ereignisse auch sein mögen – in Raum und Zeit ab. Derartige Bedingungsverhältnisse können aber nur unter der Form der Kausalität gedacht werden. Daraus folgt durchgängige kausale Verknüpftheit allen Naturgeschehens und daher dessen vollständige Determiniertheit. Jedes Naturereignis kann also aus dem Naturprinzip kausal abgeleitet werden, und von jedem Naturereignis aus kann über kausale Analyse zum Naturprinzip gelangt werden. Unter Ansetzung jenes Prinzips wird die Natur folglich gedacht »als ein Ganze[s], das von sich selbst die Ursache zugleich und die Wirkung und in seiner [durch alle Erscheinungen hindurchgehenden] Duplicität identisch ist«.64 Die Natur bildet daher ein kausal bestimmtes, d. h. zufallsfreies, abgeschlossenes System,65 zu dem sich die logische Struktur der Naturphilosophie isomorph verhalten muß. Interpretiert man das Prinzip gemäß Schellings methodischer Vorgaben logisch, drückt es Äquivalenz aus. Dies erfordert die Wahrheit beider verknüpften Sätze. Das Prinzip ließe sich dann als Bikonditional formulieren: Wenn es wahr ist, daß die Natur nur dann produktiv ist, wenn sie Objekte hervorbringt, dann ist es wahr, daß es nur dann Objekte gibt, 63
Schelling, Einleitung, 288. Schelling bringt also durchaus ein Argument für diese Auffassung und geht nicht einfach von ihr aus, wie die Formulierung, daß dies »für Schelling keine Frage« sei, von Rudolf W. Meyer nahelegt (Zum Begriff der spekulativen Physik bei Schelling, in: Heckmann/Krings/Meyer, Natur, 129–155, hier 149). 64 Schelling, Einleitung, 284. 65 Vgl. a. a. O., 278 f.
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wenn die Natur sie hervorbringt. Oder kürzer: Daß die Natur produktiv ist dann und nur dann wahr, wenn es Naturprodukte gibt. Ist also das Prinzip wahr, folgt aus der Gegebenheit von Naturprodukten die Produktivität der Natur und aus der Produktivität der Natur die Gegebenheit von Naturprodukten. Nun dient aber das Prinzip zu nichts anderem als zur Erklärung der Möglichkeit von Naturprodukten. Wie bereits erwähnt wurde, ist die durchaus problematische Annahme der Gegebenheit von Naturprodukten Schelling zufolge bereits durch Erfahrungswissen gerechtfertigt. Sie müssen also auch möglich sein. Schlösse man daraus aber schon auf die Produktivität der Natur, ohne die Wahrheit dieser Behauptung erwiesen zu haben, beginge man eine petitio principii. Ein empirischer Nachweis ist jedoch nicht möglich, weil die ›ursprüngliche Produktivität‹ der Natur kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Sie soll daher auf spekulativem Wege als Idee konstruiert werden. Dies Vorgehen muß den Bereich möglicher Erfahrung transzendieren, weil es die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrbarkeit erklären soll. Der Erweis der Wahrheit der so gewonnenen Idee der Natur als Produktivität hängt folglich vom Erfolg des vermittels ihrer konstruierten Prinzips bei der Erklärung allen Naturgeschehens ab. Dieser bestünde in der Aufstellung eines Zusammenhangs von Aussagen, die alle miteinander gemäß des Verhältnisses von Grund und Folge, d. h. deduktiv, verknüpft sind und in den alle empirischen Sätze integriert, d. h. zu apriorischer Dignität erhoben, sind bzw. werden können. Die Naturphilosophie muß also ein vollständiges und abgeschlossenes System bilden, in dem jeder Satz mit dem Naturprinzip nicht nur verträglich ist, sondern auch aus ihm deduziert werden kann. Bis zum Abschluß eines solchen Systems bliebe daher das Naturprinzip eine Hypothese. Nun stellt aber das naturphilosophische Unternehmen eine unendliche Aufgabe dar. Das System der Naturphilosophie kann daher per definitionem nicht abgeschlossen werden. Das Naturprinzip ist daher – zumindest aus korrespondenztheoretischer Perspektive und mithin von seiten der Integrierbarkeit empirischer Sätze – bei hinlänglicher Kreativität des Naturphilosophen nicht falsifizierbar. Dies gilt jedoch nicht von einem kohärentistischen Standpunkt aus. Denn mag auch die spekulative Gewinnung des Natur- bzw. Konstruktionsprinzips gerechtfertigt sein, seine Anwendung auf einzelne Sätze bzw. Satzzusammenhänge unterliegt dem deduktiven Verfahren. Die Möglichkeit eines Verzichts auf solche logische Kontrollierbarkeit, die in Schellings Begriff der Konstruktion zu liegen scheint,66 führte zwar 66
Vgl. Rudolphi, Produktion, 162 ff.
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zur Hermetisierung der Naturphilosophie. Die Hermetik eines Systems ist jedoch nicht gleichbedeutend mit seiner Wahrheit, auch wenn es seinen Gegenstand der Form nach durch Totalität und Abgeschlossenheit, mithin kraft seiner Isomorphie repräsentieren mag. Die Annahme eines logischen Prinzips der Naturphilosophie ließe also, wenn überhaupt, nur aus kohärentistischer Perspektive eine Entscheidung über die Wahrheitsdifferenz der vorkommenden Sätze zu. Schellings ungebrochener Wahrheitsanspruch allerdings wäre aus einer solchen Perspektive immerhin legitimierbar und vielleicht sogar einzulösen. Indes soll sich sein Systemprinzip nicht auf Sätze, sondern auf Kräfte beziehen. Es ist daher metaphysischen Charakters. Genau deswegen kann es nicht gleichzeitig noch die systemerzeugende Funktion für die Naturphilosophie erfüllen, die Schelling ihm zugedacht hat, weil sich die im System der Natur herrschende Kausalität, nicht durch ein Bikonditional logisch erfassen läßt.
4. Deduktion des Prinzips und deduktives System Nun ließe sich gegen einen solchen Befund einwenden, daß die Perspektive, aus der er resultiert, irreführend sei oder wenigstens zu einseitig auf dem formalen Standpunkt logischer Kontrollierbarkeit beharre.67 Denn sie scheint an einem überkommenen, im weitesten Sinne aristotelischen Begriff von Deduktion festzuhalten und die Möglichkeit zu vernachlässigen, daß sich Schelling an einem solchen Gebrauch dieses Begriffs orientiert, wie ihn etwa auch Kant am Anfang seiner transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft unterstellt. Kant weist dort darauf hin, daß es in diesem Lehrstück nicht um Herkunft und Besitz der reinen Verstandesbegriffe geht, sondern um die »Befugnis« ihres apriorischen Gebrauchs.68 Die transzendentale Deduktion antwortet daher nicht auf die Quid-factum-Frage der Gegebenheit der Kategorien – dies soll die sog. ›metaphysische Deduktion‹ leisten69 –, sondern auf die Quid-iuris-Frage nach der Legitimität einer bestimmten Anwendung dieser logischen Regeln.70 Folglich ist, wiederum anders als im Fall 67
Für entsprechende Reaktionen, welche die folgenden Überlegungen zum Deduktionsbegriff motiviert haben, danke ich Violetta Waibel und Ulrich Barth. 68 Vgl. hierzu und zum folgenden Kant, KrV, A 84 ff./B 116 ff. 69 Vgl. dazu Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt a. M. 1995, etwa 181 pass. Im folgenden zitiert als »Wolff, Vollständigkeit«, mit Angabe der Seitenzahl. 70 Zum Regelcharakter dieser Begriffe vgl. Robert Schnepf: Die Frage nach der Ursa-
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der metaphysischen Deduktion,71 in diesem Zusammenhang der Deduktionsbegriff in seiner juristischen Bedeutung zu verstehen. Auf diesen Sachverhalt hat Dieter Henrich eher kursorisch und im Blick auf Kant hingewiesen.72 Daraus folgt aber weder die Verpflichtung Schellings oder gar der ganzen nachkantischen Philosophie auf diesen Gebrauch – auch Kant benutzt ja beide Bedeutungen – noch eine geringere formale Strenge im Falle ebendieses Gebrauchs für philosophische Zwecke. Denn auch hier liegt zum einen ein gänzlich von Begriffen abhängiges und auf Begriffe bezogenes Beweisverfahren vor, das zum anderen deswegen von einigem Interesse für die Philosophie ist, weil es bei ihm insbesondere darum geht, empirische Begriffe, die einen bestimmten Sachverhalt beschreiben,73 mit theoretischen Begriffen, wie sie etwa Rechtsnormen darstellen, zu vermitteln.74 Dies setzt voraus, daß die zu vermittelnden Begriffe bereits gegeben sind. Daraus folgt, daß sowohl die Frage nach der species facti, also nach den wesentlichen Momenten der Tat75 bzw. des zu untersuchenden
che, Systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen zum Kausalitäts- und zum Schöpfungsbegriff, Göttingen 2006, 293. 71 Vgl. Wolff, Vollständigkeit, 183 ff. 72 Vgl. Dieter Henrich: Kant’s Notion of a Deduction and the Methological Backgreund of the First Critique, in: Kant’s Transcendental Deductions. The Three ›Critiques‹ and the ›Opus postumum‹. Hrsg. v. Eckart Förster. Stanford/Cal. 1989, 19–46, hier 30–39. Im folgenden zitiert als »Henrich, Notion«, mit Angabe der Seitenzahl. Es muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß Henrichs Beobachtung bezüglich des Begriffsgebrauchs zwar durchaus zutrifft, seine – allerdings ganz auf die Interpretation des kantischen Verfahrens gerichteten – Überlegungen aber nicht recht geeignet sind, um einen einigermaßen präzisen Begriff einer juristischen Deduktion herauszuarbeiten. Insbesondere verzichtet Henrich trotz vager Verweise auf Pütter und Wolff vollständig auf nähere bzw. exakte Quellenangaben – der allgemeine Hinweis auf Gottfried Achenwalls Ius naturae (Göttingen 51763) ist wenig ergiebig, weil Achenwall nur an einer Stelle des ersten Buches auf die juristische Deduktion zu sprechen kommt und bei dieser Gelegenheit und in deren Folge nur erläutert, was eine solche beweisen soll (§ 292: »probatio iustitiae vel iniustitiae facti pertinet ad probationem [deductionem] iuris«), nicht aber, wie man so etwas genau macht (vgl. a. a. O., §§ 294/5). 73 Vgl. Joachim Hruschka: Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts, in: Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September bis 1. Oktober 1999. Hrsg. v. Jan Schröder. Stuttgart 2001, 203–214, hier 205. Im folgenden zitiert als »Hruschka, Zirkel«, mit Angabe der Seitenzahl. 74 Dies bemerkt bereits Leibniz; vgl. dazu M. Herberger: Art. Quaestion iuris/quaestio facti, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 7 (1989), Sp. 1739–1743, hier 1741 f. 75 Alexander Gottlieb Baumgarten: Initia philosophiae practicae, Halle 1760 (abgedruckt in: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissen-
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Sachverhalts, bereits beantwortet sein muß,76 bevor ein Gesetz bzw. eine Regel im Sinne der Zurechnung der entsprechenden Rechtsfolgen angewendet werden kann, als auch daß die anzuwendende Regel, dergemäß der zu untersuchende Sachverhalt zu betrachten ist, gegeben sein muß.77 Damit scheint, kurz gesagt, die Antwort auf die Rechtsfrage, welche vermittels einer juristischen Deduktion zu geben ist, den Beweis der Erfülltheit der Anwendungsbedingungen eines Gesetzes beinhalten zu müssen. Sie müßte also näherhin beweisen, daß der Subsumtionsschluß, den die Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen bestimmten Typ von Sachverhalt darstellt,78 gerechtfertigt ist. Daß diese vorläufige Bestimmung zutrifft, zeigt ein Blick auf zwei Klassiker des vorkantischen Rechtsdenkens, die das Verfahren einer juristischen Deduktion sowohl seiner logischen Form nach als auch hinsichtlich des Einsatzes dieses Verfahrens in der juristischen Praxis transparent machen. So findet sich in Christian Wolffs Jus naturae folgende Definition: »Der Beweis, daß irgendjemand ein erworbenes Recht zusteht, pflegt Deduktion genannt zu werden: so daß sein oder eines anderen Recht zu deduzieren dasselbe ist wie zu beweisen, daß ihm selbst oder einem anderen dies Recht zusteht, oder, weil hier von erworbenem Recht die Rede ist, daß durch diese Handlung er selbst oder ein anderer dieses Recht erworben hat.«79 Neben den schaften zu Berlin. Berlin 1902 ff. Abt. III, Band 19 (1934)). Im folgenden zitiert als »Baumgarten, Initia«, mit Angabe der Paragraphennummer. Hier: § 128: »Enumeratio momentorum in facto est SPECIES FACTI (factum). Hinc imputaturo prodest species facti, non quaestionibus quidem facti extraessentialibus distenta […].« 76 Wenn also die quaestio facti vor »unüberwindlichen Schwierigkeiten« steht, kann die quaestio iuris nicht bloß nicht »befriedigend beantwortet« werden, wie Henrich vermutlich aufgrund seiner allzu starken Betonung des narrativen Aspekts bei der Feststellung der species facti meint (Henrich, Notion, 36; vgl. dazu Johann Stephan Pütter: Anleitung zur Juristischen Praxi wie in Teutschland sowohl gerichtliche als außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley= Reichs= und Staats=Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt, und in Archiven beygelegt werden, Göttingen 51789, Band 1, I. §§ 105/106; im folgenden zitiert als »Pütter, Anleitung«, mit Angabe der Band-, Buchund Paragraphennummer); sie kann im Gegenteil gar nicht sinnvoll gestellt werden, wenn, um solche Unüberwindlichkeit mit Baumgarten zu spezifizieren, »1) exsistentia facti, e. g. corpus delicti, 2) aut persona eius auctor, aut 3) illius ab hoc dependentia omnino ignoratur« (Initia, § 128). 77 Vgl. zu Kants ganz orthodoxem Gebrauch der Terminologie auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie: Hruschka, Zirkel, 210 ff. 78 Vgl. Joachim Hruschka: Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts, in: Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung. Hrsg. v. Matthias Kaufmann u. Joachim Renzikowski. Frankfurt a. M. u. a. 2004, 17–27, hier 21 f. Im folgenden zitiert als »Hruschka, Zurechnung«, mit Angabe der Seitenzahl. 79 Christian Wolff: Jus naturae methodo scientifica pertractatum. Pars tertia, de modo
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hier enthaltenen Bestimmungen, daß sich Deduktionen auf privatrechtliche Sachverhalte bzw. Streitsachen beziehen und sich ihr Einsatzgebiet auf den gesamten Bereich der Universaljurisprudenz erstreckt, weil Besitz bzw. Eigentum sowohl unter natur- als auch positivrechtlichen Bedingungen erworben werden kann,80 geht es in der Hauptsache darum, daß die Deduktion auch im juristischen Sinn ein Beweisverfahren mit Gewißheitsanspruch darstellt: »Wer eines anderen Recht deduzieren will, muß zeigen, daß dasselbe gewiß ist.«81 Der alleinige Zweck einer Deduktion ist somit der Beweis der Gewißheit eines Rechts, die wiederum vollständig von der Durchführung eines entsprechenden Beweises dependiert: Was also das mathematisch-syllogistische Verfahren in der Logik leistet, leistet nach Wolff im Privatrecht die Deduktion.82 Sie kann diesen Anspruch erheben, weil ihr eine allgemeine logische Form zugrundeliegt: »Die Gewißheit eines erworbenen Rechts hängt von dieser allgemeinen Schlußform (syllogismo catholico) ab, der die Überlegungen dessen anleitet, der beweisen will, daß irgendjemandem ein erworbenes Recht zusteht: Wenn eine Handlung so beschaffen war, wird durch dieselbe ein so beschaffenes Recht erworben. Nun war diese Handlung so beschaffen. Also wurde ein so beschaffenes Recht durch dieselbe erworben.«83 Die Schlußform, die den Begriff der juristischen Deduktion logisch bestimmt, besteht also in nichts anderem als dem modus ponens, vermittels derivativo acquirendi dominium et jus quodcunque praesertim in re alterius (…), Hildesheim 1968 (ND der Ausg. Halle 1763), § 443: »Demonstratio juris acquisiti alicui competentis appellari solet Deductio: ut adeo jus suum vel alterius deducere idem sit ac demonstrare, quod sibi vel alteri hoc jus competat, vel, cum de jure acquisito hic sermo sit; quod hoc facto jus hoc acquisiverit ipse, vel alius.« 80 Vgl. a. a. O., § 445. 81 A. a. O., § 444: »Jus alterius deducturus ostendere debet, idem esse certum.« 82 Vgl. a. a. O., § 441, schol.: »Eodem sensu jus certum dicimus, quo propositionem certam appellamus in Logica. Certa est propositio, quae demonstrari potest (§ 568. Log.). Ergo certum quoque est jus, quod quod nobis competat demonstrari potest. Nimirum si dicis: Mihi competit hoc jus, & tu demonstrare potes, quod tibi competat, jus tuum certum est. In casu autem opposito incertum utique dicendum. Potest tibi actu competere aliquod jus, adeoque habere potes jus quaesitum (§ 102); quoniam tamen demonstrare nequis, quod tibi competat, jus tuum certum non est. Apparet adeo jus quaesitum omne non esse certum.« 83 A. a. O., § 442, schol.: »Certitudo juris acquisiti pendet ab hoc syllogismo catholico, qui dirigit cogitationes demonstraturi jus acquisitum alcui competere. Si factum fuerit tale, eodem tale jus acquiritur. Atque hoc factum fuit tale. Ergo tale jus eodem fuit acquisitum.«
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dessen die Wahrheit von hypothetischen Schlüssen bzw. Konditionalen bewiesen werden kann. Dabei bildet den Obersatz das fragliche Konditional, d. h. eine allgemeine Regel, und den Untersatz die Beschreibung der wesentlichen Merkmale einer Handlung, die der im Antezedens formulierten Bedingung entspricht, so daß der Konsequens in der Konklusion bestätigt wird. Dabei ist zweierlei klar: Zum einen ist der Subsumtionsschluß dann trivial,84 wenn das Problem der zutreffenden Handlungsbeschreibung, d. h. die Erfassung der species facti in Rücksicht auf ein der Möglichkeit nach anzuwendendes Gesetz,85 gelöst ist, und zum anderen spielt die Frage nach der Herkunft des Gesetzes, das den Obersatz bildet, nicht die geringste Rolle. Es ist vermutlich der zweite Punkt, der das juristische Deduktionsverfahren für einen philosophischen Gebrauch attraktiv macht, und dessen Erfolg entscheidet sich ganz offenkundig an der Darstellung des Untersatzes, welche die Legitimität der Erfassung des Geschehens als eines Falls der Regel, d. h. des Obersatzes, begründet. Ist dies geleistet, ist die quaestio iuris beantwortet. Das Deduktionsverfahren besteht folglich darin zu zeigen, daß eine empirisch gewonnene Aussage, die aus ebensolchen Begriffen besteht, – d. h. der jeweilige Untersatz – extensional im Antezedens des Obersatzes enthalten ist, der selbst kein empirischer Satz ist. Da eine entsprechende Beschreibung bereits vorliegen muß, damit die Rechtsfrage überhaupt gestellt werden kann, hat sich die Deduktion mit einer Untersuchung der Fallbeschreibung zu befassen. Denn erst eine solche ermöglicht die Entscheidung, ob der fragliche Fall als Untersatz der herrschenden Schlußform taugt. Dies erfordert die begriffliche Analyse der Fallbeschreibung, und zwar in doppelter Weise: Zum einen ist zu untersuchen, ob die in ihr gebrauchten Begriffe in zulässiger Weise, d. h. definitionsgemäß, verwendet werden, und zum anderen ist zu klären, ob diese Begriffe ihre Subsumtion unter den Antezedens erlauben, d. h. die Bedingung des Konditionals, das den Obersatz darstellt, erfüllen. Das Deduktionsverfahren ist daher vollständig logisch bestimmt. Gleichwohl unterscheidet es sich hinsichtlich des Grades seiner Gewißheit von einem mathematischen Beweis, d. h. einer Deduktion im hergebrachten Sinne. Denn es läßt sich keine Notwendigkeit im Gebrauch der Begriffe, die den Untersatz konstituieren, beweisen, weil diese empirisch sein müssen und demzufolge verschiedene Be-
84
Vgl. Hruschka, Zurechnung, 22. Zu dieser unumgänglichen Zirkularität in der Konstitution des Falles, der – pointiert formuliert – erst dadurch ein solcher wird, indem er unter ein Gesetz gebracht wird, vgl. Hruschka, Zirkel, insb. 211 f. 85
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schreibungen eines Geschehens möglich sind. Aus diesem Grund kann auch Uneinigkeit darüber bestehen, unter welche Norm jenes Geschehen zu subsumieren ist, mithin ob die Anwendung einer bestimmten Norm Rechtens ist. Darin besteht ja die quaestio iuris, und genau deswegen werden juristische Deduktionen überhaupt erst nötig. Die zu erzielende Gewißheit kann also gemäß der Terminologie des 18. Jahrhunderts immer nur subjektiv sein, da es jederzeit um die begriffliche Erfassung eines Einzelnen durch universale Terme geht.86 Deswegen resultiert der abschließende Urteilsspruch auch nicht aus einem mathematisch-logischen Verfahren, das sich prinzipiell automatisieren ließe, sondern erfordert eine eigene entscheidende und eben nicht irrtumsimmune Instanz in der Person des Richters. Daß diese theoretische Struktur auch die Praxis bestimmt, zeigt ein kurzer Blick auf ein, auch von Henrich erwähntes, Beispiel aus der Feder Johann Stephan Pütters,87 den immerhin Brockhaus’ Encyclopädie von 1832 als den »größten Deductionen-Meister Teutschlands« rühmt.88 Es handelt sich hierbei um eine Zusammenfassung der Argumente für die Rechtsposition der Herren von Zedtwitz, über deren Herrschaft Asch die böhmische Krone nach jahrhundertelanger reichsunmittelbarer Behandlung zunächst per Gerichtsbeschluß und sodann durch militärische Maßnahmen Hoheitsrechte beanspruchte.89 Die Frage war nun, ob dieser Herrschaftsanspruch der Krone Rechtens ist. Da Pütter die Sache der Zedtwit-
86
Vgl. dazu v. Verf.: Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005): Philosophia practica universalis. FS Joachim Hruschka, 3–30. Im folgenden zitiert als »Verf., Ungewißheit«, mit Angabe der Seitenzahl. 87 Vgl. zur Person: Jakob Meier: Kurzbiographie: Johann Stephan Pütter (1725–1807), in: Aufklärung 20 (2008): Alexander Gottlieb Baumgarten – Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hrsg. v. Verf. u. Dagmar Mirbach, 267–270. 88 Ludwig Wilhelm Anton Pernice: Art. Deductionen, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. v. Johann Gottfried Gruber, I. Sect., 23./24. Theil. Leipzig 1832, 317–319, hier 317. 89 Wenn Henrich bemerkt, daß eine solche Zusammenfassung dann nötig wurde, wenn eine Deduktionsschrift nicht die dafür nötigen strukturellen, inhaltlichen und stilistischen Kriterien erfüllte, also mißraten war (vgl. Henrich, Notion, 34), widerspricht dies zumindest der Auffassung Pütters, auf die Henrich verweist. Pütter nämlich empfiehlt eine solche Zusammenfassung schlicht aus Leserfreundlichkeit zum Zwecke schnellerer Information bzw. der Arbeitserleichterung: »Bey weitläuftigten oder schweren Sachen ist es sehr dienlich nebst der Haupt-Deduction noch einen kürzern Auffsatz zu entwerfen, worinn das wesentliche der Sache ins kurze gezogen, und so vorgestellt wird, daß man die ganze Sache dadurch geschwinder übersehen kann.« (Pütter, Anleitung, Band 1, I. § 120).
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zens vertritt, stellt sein Kurzer Begriff von der ganzen Zedtwitzischen Sache eine Widerlegungsschrift der »Böhmischen Deduction«90 dar, die sich offenbar an deren Aufbau orientiert.91 Deren Gegenstand war nun der Beweis, daß die Herren von Zedtwitz der Krone Gehorsam schulden. Dies wäre der Fall, wenn sie »würcklich Böhmische Unterthanen« wären.92 Dann nämlich stünde der Krone tatsächlich sowohl die durch das auf ihre Klage hin vom Prager Appellationsgericht ausgeübte Gerichtsbarkeit zu als auch das Recht, »sich bey ihren hergebrachten und habenden landesherrlichen iuribus selbsten wider ihre Unterthanen zu manuteniren, und sie zum Gehorsam zu bringen«.93 Der Obersatz der Rechtsfrage könnte daher lauten: Wenn einer Untertan eines Reichsstandes ist, schuldet er dem Reichsstand Gehorsam, d. h. der Reichsstand besitzt Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt über ihn. Gemäß des gegebenen theoretischen Modells erörtert Pütter nun alle hier durch die Behandlung der Zedtwitzens durch die böhmische Krone in Frage kommenden Eigenschaften des reichsständlichen Untertanenbegriffs vom Gesetzgebungsrecht über fiskalische Rechte bis zur faktischen Ausübung der Landeshoheit und der bisherigen Behandlung der Herrschaft Asch als reichsunmittelbar und kommt nach einer weiteren Diskussion der urkundlichen Belege zum Schluß,94 daß »also Böhmen nicht bewiesen« sei, der »Krone Böhmen der Besitz [fehlet], der zur landesherrlichen Selbsthülfe oder fiscalischen Klage erfoderlich wäre«, und die Krone ihre Ansprüche daher zu Unrecht erhebe, weil die Herrschaft Asch und die diese innehabenden Herren im Gegenteil reichsunmittelbar seien, »[d]aher allerhöchsten Orts von selbsten Aenderung zu hoffen ist«.95 Pütters Analyse des vorgelegten Faktums hinsichtlich der Erfüllung der im Antezedens des Obersatzes gegebenen Bedingung führt also zu einem negativen Ergebnis: Der Untersatz erfüllt jene Bedingung nicht, folglich kann er nicht unter den Obersatz subsumiert werden und es besteht daher keine Berechtigung, diesen anzuwenden.
90
Johann Stephan Pütter: Kurzer Begriff von der ganzen Zedtwitzischen Sache die von der Krone Böhmens bestrittene Reichsunmittelbarkeit betreffend. Göttingen 1772, § 36. Im folgenden zitiert als »Pütter, Kurzer Begriff«, mit Angabe der Paginierung bzw. der Paragraphennummer. 91 Vgl. Pütter, Anleitung, § 119. 92 Pütter, Kurzer Begriff, A3. 93 A. a. O., § 1. 94 Vgl. a. a. O., §§ 5–39. 95 A. a. O., A3.
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Die juristische Deduktion erweist sich demnach als ein sowohl bedingungs- als auch begriffsanalytisches logisches Verfahren, das eine Entscheidung über die Subsumierbarkeit bestimmter Ereignisklassen unter Regeln höherer Extension gemäß modus ponens ermöglicht, indem es die logischen Beziehungen klärt, die zwischen dessen Ober- und Untersatz bestehen. Das Resultat dieses Verfahrens kann allerdings aufgrund der empirischen Genese dieser Ereignisklassen nicht wie ein mathematischer oder rein theoretischer Beweis objektive Gültigkeit beanspruchen, sondern nur subjektive Gewißheit, mithin Wahrscheinlichkeit jenseits allen vernünftigen Zweifels. Die schließlich gefällte Entscheidung darf folglich nie absolute Gewißheit bzw. Wahrheit beanspruchen,96 obgleich sie spätestens letztinstanzlich gilt. Nun kann dahingestellt bleiben, ob der junge Schelling derart intensiv mit der juristischen Literatur der deutschen Aufklärung vertraut war wie Kant. Er war dies vermutlich nicht, hätte sich aber ohne weiteres zumindest näher über den einschlägigen Gebrauch des Deduktionsbegriffs informieren können, dessen konditionale, aber nicht bikonditionale Grundstruktur der von Schelling beim Studium der Ersten Kritik gebrauchte Kommentar von Johann Schulze97 immerhin andeutet.98 Schelling verfährt jedenfalls der Sache nach auch im Ersten Entwurf bzw. dessen Einleitung gemäß jenes Begriffs, wenn er die Gültigkeit seines unbedingten Prinzips der Natur, das selbiges ebenso für die angezielte philosophische Naturwissenschaft abgeben soll, zu beweisen sucht. Denn in nichts anderem besteht das bereits angesprochene Apriorisierungsverfahren für empirische Sätze, das diese in den Satzzusammenhang der Naturwissenschaft integriert, indem es sie unter dessen oberstes Prinzip bringt und damit ein durchgehendes logisches Bedingungsverhältnis gemäß Grund und Folge herzustellen strebt. Diese Integrationsbemühungen sind, wie man jetzt sieht, aufgrund der im Falle eines Prinzips, das ausdrücklich ein unbedingtes sein soll, gar nicht zu umgehen: Gerade weil es unbedingt ist, kann es ja nicht von irgendwoher abgeleitet werden. Daraus erhellt auch die Differenz zwischen dem originären Gebrauch von Deduktionen in der Jurisprudenz und der Nutzung dieses Verfahrens als Instrument der philosophischen Beweisführung. Denn ersterer geht es
96
Vgl. Verf., Ungewißheit, 27 ff. Vgl. Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus Tübingen – Jena 1790–1794. 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004, Bd. 2, 1561. 98 Vgl. Johann Schulze: Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft. Königsberg 1791, 34. 97
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niemals um die Überprüfung der Gültigkeit oder gar der Wahrheit des zu deduzierenden Obersatzes, d. h. der Rechtsnorm, sondern nur um die »Gerechtigkeit«99 bzw. die Angemessenheit seiner Anwendung. Daß zumindest Schelling jenes Verfahren in der Absicht gebraucht, nicht nur die Gültigkeit, sondern sogar die Wahrheit seines Prinzips durch universale Anwendbarkeit zu beweisen, zeigt sich am Vollständigkeitsanspruch der Naturphilosophie, den er mit der ausdrücklichen Anführung des dictum de omni et nullo herausstreicht.100 Auch ist so das gewählte Beweisverfahren von dem der Induktion unterschieden, dem es auf den ersten Blick zu ähneln scheint: Denn das induktiv zu beweisende Prinzip ist bereits induktiv, d. h. durch Verallgemeinerung aus der Erfahrung gewonnener, deskriptiver Sätze, erschlossen, während Schelling sein Prinzip spekulativ gewinnt. Dadurch vermeidet er das Induktionsproblem, weil das Deduktionsverfahren nur auf die logischen Eigenschaften der Untersätze, deren Rolle die zu integrierenden Erfahrungssätze einnehmen, und auf deren logische Beziehung zum Obersatz zu achten hat. Sowohl Obersatz, d. h. das Prinzip, als auch die Untersätze müssen infolgedessen logischer Natur sein. Aber nur wenn Schelling dieses Prinzip als Bikonditional verstünde, steht der Satzzusammenhang, den die Naturphilosophie bildet, unter der Anforderung vollständiger Kohärenz bzw. ›innerer Nothwendigkeit‹. Genau dann stellt dieser Satzzusammenhang ein System im Sinne des in sich geschlossenen Begründungszusammenhangs dar, das genau in diesem Sinne auch ›wahr‹ genannt werden kann. Seine Wahrheit hinsichtlich der Beziehung jener Sätze und insbesondere seines Prinzips auf das denk- bzw. aussageunabhängige Seiende ist hingegen nur in der Weise subjektiver Gewißheit beweisbar, weil das gewählte Deduktionsverfahren bloß für Konditionale gilt: Aus dem Obersatz und der Erfülltheit des Antezedens folgt nur der Konsequens, aber nicht gleichzeitig ebenso der Antezedens. Es sind daher auch jederzeit alternative, konkurrierende Systementwürfe möglich, die einem anderen Prinzip folgen und bei gleicher Integrationskraft den gleichen Wahrheitsanspruch erheben können. Versteht man Schellings Prinzip folglich als metaphysisches, wie er dies offenkundig tut, kann es gerade nicht als absolut, sondern muß es als Hypothese gelten.101
99
Pütter, Anleitung, § 95. Vgl. Schelling, Einleitung, 277 (s. Fn. 17). 101 Es ist genau dieses Problem der Unentscheidbarkeit über die Wahrheit konkurrierender, auf Hypothesen aufbauender und gleichermaßen kohärenter Theorien mit gleicher Erklärungsleistung, als deren Paradigma Descartes’ Principia Philosophiae gel100
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Aus Schellings Überlegungen zur Struktur seines Systems und mehr noch aus seiner Verfahrensweise ergibt sich darüber hinaus, daß der Bildner eines Systems der Naturphilosophie auch auf klassische Weise deduktiv verfahren muß. Denn er kann zwar bei auftretenden Integrationsproblemen auf fehlende ›Zwischenglieder‹ verweisen und entsprechende Forschungsaufträge verteilen. Er ist aber gerade, weil die spekulative Physik die ›Seele des wahren Experiments‹ darstellt, dazu verpflichtet, im vorhinein anzugeben, worin diese Zwischenglieder bestehen müssen. Tut er dies nicht, setzt er sich dem dann zu Recht erhobenen Vorwurf eines beliebigen und willkürlichen Zugriffs auf Ergebnisse der empirischen Forschung aus, der aufgrund seiner Selektivität dem eigenen Anspruch der Naturphilosophie widerspräche und in dieser unkontrollierten Weise nur zu Adhoc-Erklärungen führen würde, die allenfalls zufälligerweise korrekt sein könnten. Da es indes der Naturphilosophie nicht nur um Verträglichkeit empirischer Sätze mit ihrem obersten Prinzip, sondern auch um deren Ableitbarkeit aus ihm geht, läßt sich die geforderte Notwendigkeit, wenn noch keine einschlägigen Forschungsergebnisse vorliegen, nur deduktiv sichern. Freilich kann es dabei gar nicht um die Vorhersage von Einzelphänomenen gehen. Dies überstiege zweifellos die Möglichkeiten der deduktiven Logik. Gefordert werden kann und muß allerdings die prospektive Bestimmung von Fallklassen, die als Untersätze in die Lücken des bereits gewonnenen Bedingungsverhältnisses eingesetzt werden können. Die vollendete Gestalt der Naturphilosophie besteht deswegen offensichtlich in einem deduktiven logischen System, dessen oberstes Prinzip um der Ableitbarkeit, mithin objektiver Gewißheit willen ein Bikonditional bilden muß. Damit ist aber die Frage nach einem metaphysischen Prinzip der Naturphilosophie, als das Schelling das von ihm aufgefundene Prinzip gebrauchen will, nicht gelöst. Es mag zwar als ein möglicher Kandidat für eine solche Position gelten, wenn die Kohärenzbedingung erfüllt ist. Seine Wahrheit im metaphysischen, d. h. denk- und aussageunabhängigen, Sinne ist damit noch nicht erwiesen. Ob also die Natur ein solches kausal determiniertes System bildet, wie es Schelling entwirft, bleibt daher vom Standpunkt der Position des Ersten Entwurfs eines Systems der Naturphilosophie und dessen Einleitung fraglich. ten können (vgl. René Descartes: Principia Philosophiae, in: Oeuvres de Descartes, Band 4. Hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. Paris 1972, §§ 204/205), die Newton zur Entwicklung einer Methode führt, die Hypothesen prinzipiell aus der Wissenschaft verbannt (vgl. Isaac Newton: The Principia. Übs. v.Andrew Motte. Amherst/N.Y. 1995, 442 f.); vgl. dazu z. B. Andrew Janiak: Newton as Philosopher, Cambridge 2008, 23 f. pass.
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5. Natur als System und System der Naturphilosophie Zumindest aus diesem Grund ist es angebracht, zwischen Natur als System und einem System der Naturphilosophie streng zu unterscheiden. Schelling tut dies nicht immer in wünschenswerter Klarheit. Dies liegt jedoch keineswegs an seinem Programm. Die Aufgabe bestand ja darin, die Voraussetzungen zu finden, unter denen die Natur als unbedingt gedacht werden kann. Dies bedeutet – pointiert formuliert –, daß das denkende Subjekt sich an die Stelle dessen zu versetzen hat, was üblicherweise sein Objekt ist, und sich selbst auf diese Weise als Objekt zu denken, d. h. die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit. Daher entwirft Schelling die Naturphilosophie als umgekehrte Transzendentalphilosophie und bestimmt dies als spekulative Physik. Diese soll nichts geringeres liefern als das, was man in der modernen Naturwissenschaft gern flapsig die ›Theorie für alles‹ zu nennen pflegt. Gleichwohl bleibt auch dies eine Theorie, d. h. etwas, das ein denkendes Subjekt aus Begriffen, Sätzen und Schlüssen generiert. Es erschafft sich »mit Bewußtseyn […] eine ideelle Welt«.102 Trotz aller aus der philosophischen Perspektive des Unbedingten rechtfertigbaren Betonung der ursprünglichen Identität von bewußtloser und bewußter Tätigkeit, bleibt doch auch in der Naturphilosophie bei allem Bemühen das Bewußtsein nicht hintergehbar. Die Natur unter Verlust der eigenen Subjektivität als ein Ganzes anzuschauen, ist nicht dasselbe wie die Natur als System zu denken. Und die Natur als System zu denken, impliziert bereits, sie als so oder so bestimmtes System zu denken, weil sonst die Systematizitätsbehauptung haltlos wäre. Schellings Naturprinzip erfüllt daher entgegen seiner eigenen Annahme nicht die Kriterien eines in seiner absoluten Wahrheit erwiesenen metaphysischen Prinzips. Es könnte sich allein als logisches Systemprinzip bewähren. Dann wären allerdings Prinzip der Natur und Prinzip der Naturwissenschaft zu unterscheiden. Das von Schelling im Ersten Entwurfs eines Systems der Naturphilosophie und dessen Einleitung verfolgte Ziel muß daher als verfehlt gelten. Schelling hält – vermutlich zu Recht – die Natur für ein dynamisches bzw. aktives System. Dies führt aufgrund des spekulativ gewonnenen Naturprinzips zum Begriff einer Natur, die unendlich langsam expandiert bzw. sich evolviert und deswegen stets eine in sich abgeschlossene Totalität darstellt, weil sie sich stets selbst produziert. Eine dieser Idee angemessenes Naturphilosophie muß daher unabschließbar bleiben. Sie be102
Schelling, Einleitung, 271.
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sitzt zwar ein spekulativ gewonnenes Konstruktionsprinzip, das jedoch nur logischer Natur sein kann. Denn nur dann kann die Naturphilosophie ihren Anspruch erfüllen, indem sie sich jederzeit um dessen Anwendung auf die Resultate der Naturbeobachtung kümmert und ihr Prinzip durch deren Integration in ihren Satzzusammenhang rechtfertigt. Dies erfordert eine entsprechende logische Anstrengung, mithin unentwegte systematische bzw. systembildende Aktivität. Das sich Schelling womöglich aufgrund seiner eigenen intellektuellen Dynamik letzterer Aufgabe nicht noch intensiver gewidmet hat, heißt – wie gezeigt – nicht, daß er sie übersieht oder geringschätzt. Denn er läßt ihr ja allen Raum. Allerdings scheint wohl ebenjene mangelnde Konsequenz, mit der er dieses Integrationsprogramm aufgrund seines dominierenden metaphysischen Interesses103 analytisch durchdringt und verfolgt, auch dazu zu führen, daß er absolute Wahrheit behauptet, wo allenfalls Kohärenz vorliegt, bzw. absolute Wahrheit fordert, wo bestenfalls Kohärenz erreichbar ist.
103
Vgl. dazu Sandkaulen-Bock, Ausgang.
Thomas Posch Schellings und Hegels Naturphilosophien als Ansätze zu nicht-reduktionistischen Naturtheorien In Alexander Aicheles Beitrag wurde dargelegt, worin der Anspruch, aber auch, worin einige der Aporien der Schellingschen Naturphilosophie bestehen. Was den Anspruch Schellings betrifft, wurde gezeigt, wie die Natur von Schelling als Subjekt-Objekt-Einheit konzipiert wird und wie die Philosophie der Natur diese Einheit nach-denkend und damit zugleich nach-schaffend herzustellen, nicht hingegen bei der Betrachtung der Natur unter der Form des Objekts zu verweilen hat. Was das aporetische Moment anlangt, hob Aichele unter anderem die Gefahr einer Immunisierungsstrategie hervor: nämlich in dem Sinne, daß Schellings naturphilosophische Systemansätze der logischen Kontrollierbarkeit bzw. der Falsifizierbarkeit ermangelten. Vorliegender Beitrag zielt in erster Linie darauf ab, eine weitere Aporie in der Naturphilosophie Schellings aufzuzeigen: nämlich die, daß Schelling – ebenso wie sein Tübinger Stiftskollege Hegel – zwar die Absicht verfolgte, eine (modern gesprochen) nicht-reduktionistische Naturtheorie zu etablieren, daß er dieses Ziel aber letztlich nicht erreichte. Bevor ich dies (unten in Abschnitt 2.) zu begründen versuche, will ich kurz auf die Darstellung der Natur als eines lebendigen Ganzen bei Schelling und Hegel eingehen.
1. Verlebendigung und Vergeistigung der Natur bei Schelling und Hegel Bekanntlich gehen Schelling und Hegel beide davon aus, daß die Natur – so, wie sie sich uns unmittelbar darbietet – etwas der Freiheit Entgegenstehendes ist. In diesem Punkte sind sie sich noch mit Fichte einig. Bei Schelling spielt der Terminus »Freiheit« in der Naturphilosophie tendenziell eine größere Rolle als bei Hegel, der lieber vom Verhältnis zwischen Natur und Begriff bzw. Idee spricht und sagt, die Natur sei an sich Begriff, aber so, wie sie sich uns zunächst zeige, entspreche sie ihrem Begriff nicht. Die Naturphilosophie hat aber – weiterhin nach Schelling und Hegel – die Aufgabe, die Natur als ein lebendiges Ganzes darzustel-
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len,1 sie zu ›befreien‹, ›zu vergeistigen‹, oder, wie Novalis sagt, als »versteinerte Zauberstadt« zu erweisen.2 Schelling drückt sich hierüber im § 1 der Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie so aus: Es handle sich darum, zu erklären, »daß es eine bewußtlose, aber der bewußten ursprünglich verwandte Productivität ist, deren bloßen Reflex wir in der Natur sehen«3. In analogem Sinne heißt es zu Anfang des Systems des transzendentalen Idealismus: »Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige seyn, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste.«4 In der vor fast genau 200 Jahren erschienenen Freiheitsschrift spricht Schelling, obzwar von einem modifizierten Grund-Standpunkt aus, metaphorisch gar vom Menschen als einem »Erlöser der Natur«5. Der (oder ein) Weg zur Befreiung und Vergeistigung der Natur führt über eine substantielle Aufwertung der Teleologie gegenüber Kant. Schelling erklärt sich hierüber schon in der Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur, wo er festhält, »daß jene zweckmäßige Form [der Organismen] ursprünglich und ohne Zuthun eurer Willkühr gewissen Dingen außer euch schlechthin zukomme.«6 Hegel geht in diesem Punkt einen zu Schelling parallelen Weg, sowohl in der Phänomenologie des Geistes als auch später in der enzyklopädischen Naturphilosophie und im Abschnitt über die Objektivität in der Wissenschaft der Logik. In der Phänomenologie 1
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über Naturphilosophie Berlin 1821/22. Nachschrift von Boris von Uexküll. Hrsg. v. Gilles Marmasse u. Verf. Frankfurt a. M. u. a. 2002, 22: »Die Natur ist an sich ein lebendiges Ganzes, das Tier ist nicht nur an sich ein lebendiges Ganzes, sondern auch in seinem Dasein.« 2 Zitiert nach Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt a. M. 1972, 222. Im folgenden zitiert als »Bloch, Materialismusproblem«, mit Angabe der Seitenzahl. 3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Martin Baumgartner u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Im folgenden zitiert als »AA«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl; hier Band 8 (2004), 30. Im folgenden wird die Einleitung zitiert als »Schelling, Einleitung«, mit Angabe der Seitenzahl. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: AA 9,1, 31. Vgl. a. a. O., 30: »Die höchste Vervollkommnung der Naturwissenschaft wäre die vollkommene Vergeistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen der Anschauung und des Denkens. Die Phänomene (das Materielle) müssen völlig verschwinden, und nur die Gesetze (das Materielle) bleiben.« 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856– 61; hier Band 7, 411. 6 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, in: AA 5, 96. Im folgenden zitiert als »Schelling, Ideen«, mit Angabe der Seitenzahl.
Schellings und Hegels Naturphilosophien …
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des Geistes lesen wir etwa folgende ganz unverkennbar gegen Kant gerichtete Worte: »Das Organische zeigt sich als ein sich selbst Erhaltendes und in sich Zurückkehrendes und Zurückgekehrtes. Aber in diesem Sein erkennt dies beobachtende Bewußtsein den Zweckbegriff nicht oder dies nicht, daß der Zweckbegriff nicht sonstwie in einem Verstande, sondern eben hier existiert und als ein Ding ist. Es [= das beobachtende Bewußtsein, Th.P.] macht einen Unterschied zwischen dem Zweckbegriffe und dem Fürsichsein und Sichselbsterhalten, welcher keiner ist.«7 Die Schellingsche und Hegelsche Aufwertung der Zweckmäßigkeit gegenüber Kant ist als eine philosophiegeschichtlich verständliche, und man kann vielleicht sogar sagen, als eine im Kontext des Deutschen Idealismus folgerichtige, anzusehen. Weniger klar ist seit der im 19. Jahrhundert erfolgten massiven Kritik an den idealistischen Naturphilosophien, wie man ihre Versuche einer Vergeistigung der Natur beurteilen, wie man sich dazu im Sinne einer Wertung aus heutiger Sicht stellen solle.
2. Bleibt die Schellingsche Philosophie zu sehr ›im Identischen‹? Verfällt sie insofern einer Spielart des Reduktionismus? Der Nachdruck, mit dem Schelling und Hegel teleologische Kategorien aufwerten, hat dazu Anlaß gegeben, bei beiden – tendenziell negativ wertend – von einer »organistischen« oder »biologistischen« (statt einer mechanistischen) Betrachtung der Natur zu sprechen.8 Was der Rede von einer organistischen Naturbetrachtung bei Schelling und auch bei Hegel zugrunde liegt, ist beider eigentümliche Stellung zu dem, was man erst seit dem 20. Jahrhundert9 das Problem des Reduk-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970 ff. Im folgenden zitiert als »Werke«, mit Band- und Seitenangabe; hier Band 3 (1986), 200 f. Die Phänomenologie des Geistes wird im folgenden zitiert als »Hegel, PhdG« mit Angabe der Seitenzahl. 8 Mit Bezug auf den Primat des Organischen gegenüber der anorganischen Materie spricht zum Beispiel Ernst Bloch gar von einem Schellingschen »organischen Materialismus« anstatt eines mechanischen Materialismus. Vgl. Bloch, Materialismusproblem, 220. 9 Vgl. Manfred Stöckler: Art. Reduktionismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992), Sp. 378–383; hier Sp. 387: »Unter dem neuen, erst seit der Mitte des 20. Jh. verbreitet gebräuchlichen Begriff ›Reduktionismus‹ werden alte Probleme der Philosophie (z.B. Mechanismus, Materialismus) und der Methodologie der Einzelwissenschaften verhandelt.«
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tionismus nennt. Ich verstehe unter Reduktionismus jeden Versuch einer möglichst restlosen Rückführung von Kategorien einer Seinssphäre auf Kategorien einer anderen Seinssphäre. Klassische Reduktionismen sind etwa die versuchte Zurückführung von Freiheitskategorien auf Naturkategorien, des Organischen auf das Anorganische, des Psychischen auf das Physische oder die Erklärung sozialer Phänomene durch das Verhalten von Individuen.10 Diesbezüglich kann man feststellen, daß Schelling und Hegel11 bemüht sind, Reduktionismen zu kritisieren und zu vermeiden – ob ihnen beides gelingt bzw. ob beiden beides gelingt, ist eine andere, weiter unten zu stellende Frage. Schon in Hegels Jenaer Schriften und in Schellings naturphilosophischen Werken aus der Zeit um 1800 lassen sich programmatische, gegen Reduktionismen gewendete Äußerungen finden. So etwa lesen wir bei Schelling im § 5 der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie: „[…] nach dieser [der Kantschen bzw. Kantianischen] Vorstellungsart werden alle Phänomene der Natur nur auf ihrer tiefsten Stufe erblickt […]«12 Und an derselben Stelle: »Wir läugnen nun freylich gar nicht, daß diese Erscheinungen [= Elektrizität, Magnetismus] auf der äußersten Stufe ihrer Erscheinung Veränderungen im Verhältniß der Grundkräfte [gemeint: Grundkräfte der Repulsion und Attraktion] seyen; wir läugnen nur, daß diese Veränderungen sonst nichts seyen […].«13 Hegel schreibt, etwas dunkel, im Naturrechtsaufsatz: »Wie das Prinzip der Mechanik sich in die Chemie und Naturwissenschaft und das der Chemie wieder ganz besonders in die letztere sich eingedrängt hat, so ist dies in der Philosophie des Sittlichen zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Prinzipien der Fall gewesen.«14 In heutiger Terminolo-
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Vgl. a. a. O.: ›Reduktionismus‹ wird dort so gefaßt, daß der Begriff vornämlich zwei Bedeutungsfelder abdeckt: a) Die Behauptung der Rückführbarkeit von Entitäten auf bestimmte unveränderliche Elementarbestandteile (Elemente); b) Die Behauptung der Rückführbarkeit von Theorien oder ganzen Disziplinen auf einzelwissenschaftliche Basistheorien oder -disziplinen (a. a. O., 371. 378 ff.). Vgl. hierzu auch Hans Burkhardt/Rudolf Kötter: Art. Reduktion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992), 370–374. 11 Zur Hegelschen Variante einer nicht-reduktionistischen Naturphilosophie vgl. v. Verf., Hegel’s Anti-reductionism. Remarks on What is Living of his Philosophy of Nature, in: Angelaki. Journal of the Theoretical Humanities 10 (2005), 61–76. 12 Schelling, Einleitung, 38. 13 Ebd. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: Werke 2, 518. – Hegel weist dann auf die Theorie des contrât
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gie würden wir das hier Gemeinte etwa so ausdrücken: einzelne Erklärungsparadigmen werden sowohl in den Naturwissenschaften wie auch in Ethik und Sozialwissenschaften immer wieder herangezogen, um mit ihrer Hilfe möglichst viel zu erklären (doch dabei werden sie oft überbeansprucht). Später, in seinen Berliner naturphilosophischen Vorlesungen, spricht sich Hegel in ganz analogem Sinne, nur noch viel klarer und deutlicher aus: »Man will alles auf gleiche Stufe stellen. Freilich kann man alles chemisch behandeln, aber ebenso kann man auch alles mechanisch behandeln oder der Elektrizität unterwerfen. Aber durch diese Behandlung der Körper in einer Stufe ist die Natur der anderen Körper nicht erschöpft, z. B. wenn man vegetabilische oder animalische Körper chemisch behandelt. Diese Absonderung, jeden Körper nach seiner besonderen Sphäre zu behandeln, ist die Hauptsache.«15 Meine These ist nun aber: Das Ringen um eine nicht-reduktionistische Naturtheorie ist einer der Punkte, die Schelling und Hegel bis zu einem gewissen Grade einten und zugleich doch voneinander trennten. Dasselbe kann man auch so sagen: Hegel wußte, daß Schelling so wie er selbst nach einer nicht-reduktionistischen Naturtheorie suchte, meinte aber, daß sein langjähriger Weggefährte dabei selbst einer bestimmte Art von Reduktionismus verfallen sei. Um dies genauer explizieren zu können, ist noch eine Differenzierung innerhalb des Reduktionsmusbegriffs nötig: diejenige nämlich zwischen Reduktionismus ›von unten her‹ und ›von oben her‹. Mit dieser Unterscheidung knüpfe ich an Nicolai Hartmann an, der in seiner Philosophie der Natur von 1950 schrieb: »Der Fehler, den sie [= die beiden reduktionistischen Sichtweisen] begehen, ist […] im kategorialen Sinne derselbe. Sie dehnen den Geltungsbereich spezieller Schichtenkategorien auf eine andere Seinsschicht aus, die eine ›von unten‹, die andere ›von oben‹ her. Der Organismus wird im Aspekt der äußeren Gegebenheit unter lauter Kategorien der niederen Schicht (des Anorganischen) gesehen, im Aspekt der inneren Gegebenheit unter Kategorien der höheren (des seelischen social als Beispiel hin. – In bezug darauf schreibt Richard Kroner: »Der Philosophie fällt […] das Wächteramt zu, kraft dessen sie jeden Uebergriff einer empirischen in eine andere Disziplin, bzw. in die Philosophie selbst, zu verhüten und die Grenzen der Wissenschaften mit kritischer Strenge zu schützen hat.« (R. Kroner: Von Kant bis Hegel. Band 2. Tübingen 2007, 249). 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, in: Werke 9, 145 (§ 286 Zusatz). Im folgenden zitiert als »Hegel, Enzyklopädie«, mit Angabe der Seitenzahl.
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oder gar des geistigen Seins). Und so erschien er der einen Sicht als gesteigerter Mechanismus [=Reduktionismus von unten her], der anderen als reduziertes Seelenwesen, oder gar als Vernunft niederer Ordnung [= Reduktionismus von oben her].«16 Man wende nicht ein, daß diese Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten kategorialer Grenzüberschreitung nur im Rahmen der Hartmannschen Schichten-Ontologie möglich sei. Die spezielle Hartmannsche Terminologie einschließlich der Ausdrücke ›von unten her‹, ›von oben her‹, sowie ›niedere Schicht‹ und ›höhere Schicht‹, ist selbstredend an dessen Lehre von den Seinsschichten gebunden. Die Beobachtung hingegen, daß bestimmte Kategorien in ihrer Geltung sowohl in Richtung auf basalere als auch in Richtung auf komplexere hin ausgedehnt – und zwar über ihre Tragfähigkeit hinaus ausgedehnt – werden können, hat einen viel allgemeineren, nicht an Hartmanns ontologische Voraussetzungen gebundenen Sinn; an diesen schließe ich hier an. Heute ist die häufigere Form zweifellos Reduktionismus ›von unten her‹, etwa Reduktion von Freiheit auf Notwendigkeit oder von Leben auf unbelebte Materie. Man kann, wie schon angeklungen ist, schwerlich behaupten, daß bei Schelling derlei vorliege. Dieser behauptet – um den oben angeführten Beispielen ein weiteres hinzuzufügen – ganz ausdrücklich die Irreduzibilität von Leben auf bloße Materie; er schreibt in der Einleitung zu den Ideen: »Nun ist aber Mechanismus allein bey weitem nicht das, was die Natur ausmacht. Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur übertreten, hört […] alle mechanische Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf. Jedes organische Produkt besteht für sich selbst […].«17 Reduktionismus ›von oben her‹ meint hingegen Aussagen der Form »alle Materie (der ganze materielle Kosmos) ist eigentlich Leben« oder »Natur ist eigentlich Freiheit«. Auch in diesem Falle liegt ja der Versuch einer möglichst restlosen Rückführung von Kategorien einer Sphäre (z. B. Materie) auf Kategorien einer anderen Sphäre (z. B. belebte Materie) vor. Wenn Schelling beispielsweise in der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie schreibt: »Alle Qualität ist Electricität, und umgekehrt die Electricität eines Körpers ist auch seine Qualität«18, so kann man darin durchaus ein reduk-
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Nicolai Hartmann: Philosophie der Natur. Grundriß der speziellen Kategorienlehre. Berlin 1950, 28 f. (Einleitung). Vgl. auch 9 f. 17 Schelling, Ideen, 93. Vgl. auch 100 f. 18 Schelling, Einleitung, 50. An dieser Stelle kommt sogar ausdrücklich der Begriff
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tionistisches Moment ausmachen. Denn warum sollte es legitimer sein, alles Qualitative auf Elektrizität zurückzuführen als etwa auf die unterschiedliche Anordnung von Atomen? Dabei sind Aussagen des Typs ›Alle Qualität ist X‹ oder ›alles Qualitative geht zurück auf Y‹ bei Schelling keine bloßen Entgleisungen, sondern sie haben einen systematischen Grund, nämlich seine Potenzenlehre und seinen Begriff vom Absoluten. In deren Rahmen führt Schelling zwar einerseits durchaus eine ›Abstufung der Dinge‹ ein – nach dem Muster des klassischen Stufenleitermodells des Seins. Er bezeichnet sogar die Ableitung der (›dynamischen‹) Stufenfolge in der Natur als »Grundaufgabe der ganzen Naturphilosophie«.19 Dem entsprechend heißt es auch in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie aus dem Jahre 1806 unter Nr. 189: »Es ist die Sache der ins Besondere gehenden Betrachtung, zu beweisen, daß diese drei Stufen der Dinge wirklich ausgedrückt sind in der Natur: die erste durch die Materie, sofern die Besonderheit (das Werk der Einheit an ihr) ganz der Unendlichkeit untergeordnet ist; die zweite durch die Bewegung, sofern sie aus der Besonderheit der Dinge, aber […] mit Verlust ihres voneinander unabhängigen Lebens im Raume entspringt (dynamischer Prozeß); die dritte durch den Organismus […].«20 Andererseits betont Schelling im selben Atemzug – anknüpfend an Leibniz’ Monadologie –, daß durch die Unterschiede der Stufen die Einheit der Natur und letztlich »Gott, in dem das Wesen aller Dinge ist«21 hindurchscheine. Aus diesem Hindurchscheinen des Einen durch die Vielheit der Dinge ergibt sich dann für Schelling – überraschend schnell, ja überhastet – eine Annihilation der Differenz. Übermächtig saugt gleichsam das göttliche Eine alle Seinsstufen von oben her zu sich und komprimiert sie in sich (sub specie aeternitatis). Schelling bringt dies so zum Ausdruck: »Haben wir also zuvor alle Unterschiede der Existenz als nichtig erkannt an sich selbst, so mögen wir jetzt auch alle Quantitätsunterschiede als aufgelöst schauen im Absoluten.«22 Es erhält so die Rückführung (Reduktion) der Vielheit in die göttliche Einheit ein Übergewicht gegenüber der katego-
der Reduzierbarkeit vor: »alle Qualität ist reducibel auf Electricität«, heißt es weiter in einem eingeklammerten Halbsatz. 19 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: AA 7, 69. 20 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Manfred Frank. Band 3. Frankfurt a. M. 1985, 667 Nr. 189. 21 A. a. O., 671 Nr. 203. 22 A. a. O., 673 Nr. 214.
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rialen Ausdifferenzierung des Mannigfaltigen – ein Übergewicht, das zu Lasten der letzteren geht. Hegels kritischem Sinn ist es nicht entgangen, daß es sich hierbei um einen für das um 1800 gesuchte System der Philosophie zentralen Punkt handelt. Ein Beweis dafür ist die berühmte polemische Wendung, »im [Schellingschen] Absoluten […] sei alles eins«23 sowie die unmittelbar darauf folgende Forderung nach einer »unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden […] Erkenntnis«.24 Bedenkt man, daß diese 1807 publizierten Worte trotz Schellings beschwichtigender Reaktion in seinem letzten an Hegel gerichteten Brief vom 2. November 180725 dazu beitrugen, daß die Freundschaft zwischen Hegel und Schelling zerbrach, so ist es von da aus nur noch ein kleiner Schritt bis zur oben gebrauchten Formulierung, das Ringen um eine nichtreduktionistische Naturtheorie habe zu jenen Punkten gehört, die Schelling und Hegel zunächst einten und später voneinander trennten. In diese Richtung weisen auch einige der Ausführungen über Schelling in Hegels Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – so etwa der folgende Satz: »Die Konstruktion [in Schellings Philosophie] besteht eben darin, jedes Besondere, Bestimmte in das Absolute zurückzuführen oder es zu betrachten, wie es in der absoluten Einheit ist […].«26 Offenbar kann ja »das Besondere in das Absolute zurückführen« auch formuliert werden als »das Besondere auf das Absolute reduzieren« (wenn man »reduzieren« nicht als »herabstufen«, sondern im Sinne der erklärenden Reduktion versteht). Hinzuzufügen ist allerdings, daß Hegel diesem Reduzieren an der angeführten Stelle einen grundsätzlich positiven Sinn zu geben versucht, daß er jedoch die spezifische Weise, wie Schelling es in seiner Naturphilosophie ausführt, »höchst formell« nennt und in diesem Zusammenhang den schon in der Phänomenologie des Geistes erhobenen Vorwurf wiederholt: »Der Unterschied wird immer wieder aus dem Absoluten entfernt.«27 Aus diesem prinzipiellen – d. h. die gesamte Philosophie Schellings betreffenden – Grunde kommt Hegel näherhin für die Disziplin der Na-
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Hegel, PhdG, 22. Ebd. 25 Schelling schreibt dort, er könne die (oben zitierten) polemischen Worte in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes nicht auf sich, sondern nur auf »Nachschwätzer« beziehen. Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Band 1. Hamburg 31969., 194. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke 20, 446. 27 A. a. O., 447. 24
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turphilosophie zu dem Schluß, sie setze in ihrer Schellingschen Gestalt Begriffsbestimmungen, die auseinandergehalten werden müßten, auf ebenso fragwürdige Weise einander gleich wie die zeitgenössischen Naturwissenschaften dies täten. Das einschlägige Hegel-Zitat dazu lautet: »Man nennt die jetzige Philosophie Identitätsphilosophie; diesen Namen kann man mit viel größerem Rechte dieser Physik zuschreiben, welche nur Bestimmtheiten wegläßt, indem sie z. B. in der heutigen Elektro-Chemie Magnetismus, Elektrizität und Chemismus durchaus als eins ansieht. Es ist der Mangel der Physik, daß sie zu sehr im Identischen ist; denn die Identität ist die Grundkategorie des Verstandes.«28 Man kann dieses Problem noch von einer anderen Seite her betrachten – von einer Seite her, die mit der Abfolge der idealistischen Systeme um 1800 zusammenhängt. Schelling konzipierte seinen Begriff der Natur – wie u. a. Richard Kroner aufzeigte – nach dem Modell des Fichteschen ›Ich‹.29 (Dies läßt sich von Hegels Naturbegriff nicht in derselben Weise sagen.) Schon hierin liegt möglicherweise der Keim des Grundes dafür, daß Schellings Naturphilosophie stärker von oben her ›reduktionistisch‹ ist als die Hegelsche, zumal die Ich-analoge Konstruktion der Natur den Versuch ihrer restlosen Rückführung auf eine ontologisch höhere Sphäre bedeutet. Letztlich ist Reduktionismus ein Thema, das in die Kategorienlehre gehört. Denn schon in der (reinen) Kategorienlehre, nicht erst in der Naturphilosophie, entscheiden sich Fragen wie: Was heißt es, ein Ganzes aus seinen Teilen zu erklären? Was heißt es, die Denkform Wechselwirkung auf die Form der Kausalität zu reduzieren? Was kann eine Aussage der Form ›Chemismus ist auf Mechanismus reduzierbar‹ oder ›Qualität ist auf Elektrizität reduzierbar‹ bedeuten? Freilich beschäftigen diese Fragen Schelling ebensosehr wie Hegel;30 doch da Ersterem eine ins Detail ausgearbeitete Kategorienlehre fehlt bzw. er sich nicht der Mühe unterzog, eine
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Hegel, Enzyklopädie 20 (§ 246 Zusatz). Richard Kroner: Von Kant bis Hegel, Band 2, Tübingen 2007, 16: »Die Idee der Natur und die des Ich ist [nach Schelling] ein und dieselbe, sie ist die Idee einer Tätigkeit, die empirisch erscheint, insofern sie gehemmt ist, als absolute aber nicht durch etwas außer ihr selbst Liegendes eingeschränkt werden kann, sondern nur durch sich selbst.« – Vgl. zur Kritik der Ich-analogen Konstruktion der Natur a. a. O., 34: »Wenn Schelling der Natur die Wesenszüge des Ich leiht, wenn er sie […] behandelt, wie der Transzendentalphilosoph das Ich, so entfernt er sich gerade dadurch nicht nur von dem Geiste, sondern auch von den Prinzipien der Wissenschaftslehre vollständig.« 30 Vgl. a. a. O., 23. 29
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solche auszuarbeiten, fehlen ihm auch die erforderlichen systematischen Mittel dafür, auf sie eine befriedigende Antwort zu geben. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß Hegels spätere Ausführungen bezüglich Kausalität und Wechselwirkung oder bezüglich Mechanismus, Chemismus und Teleologie der Kanon der Wahrheit wären. Worauf ich hinweisen wollte, war erstens, daß in den Naturphilosophien des Deutschen Idealismus die Vermeidung reduktionistischer Aussagen ein wesentliches und bewußt verfolgtes Ziel war; zweitens aber, daß und weshalb dieses Ziel gerade von Schelling nicht immer erreicht werden konnte. Seine Erreichung bleibt gerade in einer Epoche wie der jetzigen, in der Reduktionismen jeglicher Art Hochkonjunktur haben, ein wesentliches Desiderat.
Paul Ziche Das System als Medium. Mediales Aufweisen und deduktives Ableiten bei Schelling 1. Systembegriff, Erklärungsformen und die Probleme kausalen Erklärens Wesentlich für die Idee eines Systems ist der Zusammenhang der einzelnen Teile eines Systems; ohne einen derartigen Zusammenhang zerfällt ein System in eine Aneinanderreihung oder Aufhäufung, mit Hegels Phänomenologie: in ein »Aggregat[…]«1 von Einzelheiten gerade ohne die Form, die für ein System kennzeichnend ist. Ein traditionelles Modell für systematischen Zusammenhang liegt in den Systemen ›more geometrico‹ vor, allen voran den Elementen des Euklid, dann aber auch der Ethica Spinozas, und in ihren Texten aus den Jahren nach 1794 haben auch Fichte und Schelling, im Anschluß insbesondere an Reinhold, ein System nach dem Modell des ableitenden Erklärens aus einem ersten Prinzip aufgefaßt. Der systematische Zusammenhang dieser Systeme reicht weit über das bloße Einordnen eines Einzelnen an seinen Platz im Ganzen hinaus; die einzelnen Kenntnisbestandteile werden durch eine Systematisierung in einen sehr viel stärkeren Ableitungszusammenhang gebracht, in dem aus einem ersten Prinzip bzw. aus mehreren grundlegenden Sätzen alle weiteren Aussagen deduktiv gerechtfertigt werden. Hieraus resultiert dann eine strukturierte, und zwar sequentielle Abfolge der einzelnen Sätze in einem System. Allerdings muß man sofort festhalten, daß der Systembegriff, wie er den idealistischen Autoren in dieser Zeit vorlag, eigentümlich unbestimmt und zugleich überdeterminiert ist.2 Gleich mehrere begriffliche Charakterisierungen für ihn werden angeboten, deren Verhältnis zueinander nicht von vornherein klar ist: Einmal die Relation des Ableitens, der Weitergabe epistemischer Qualitäten von einem ersten Prinzip zu allen abgeleiteten
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff.; hier Band 9, 9. Im folgenden wird diese Hegel-Ausgabe zitiert als »Hegel-GW«, mit Angabe des Bandes und der Seite. 2 Das notorische Problem, inwiefern in den Werken Kants ein System vorliegt und wie ggf. das System Kants zu rekonstruieren wäre, bleibt hier ausgeklammert.
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Sätzen in Entsprechung zu mathematischen Systemen, dann aber auch das Ideal organischer Ganzheit, das durch die Wechselwirkung von Ganzem und Teilen bestimmt ist und in dem die Teile damit nicht eindeutig unter das Prinzip untergeordnet werden können und dürfen. Inwiefern enzyklopädischen Präsentationsformen von Wissen in dieser Zeit ebenfalls der Charakter eines Systems zukommt, bleibt zu prüfen. Bei Schelling finden sich um 1802, in der Phase seiner sogenannten Identitätsphilosophie, simultan zwei Entwicklungen, die beide an diesem Konzept ansetzen. Zum einen figuriert der Systembegriff sehr prominent in den Titeln seiner Publikationen,3 in welchen er wiederholt auf das Modell Spinozas verweist, zum anderen aber unterzieht er Spinozas System einer Kritik und entwickelt dabei zugleich einen eigenen Vorschlag für ein alternatives Konzept von Begründung, das er unter dem Titel Konstruktion formuliert. Bereits wenn Schelling sich ausdrücklich an Spinoza orientiert, folgt er nicht der bei Spinoza und Euklid vorgebildeten Systemform: Waren es dort stets mehrere, nach Form und Funktion differenzierte Grundsätze, die den Ableitungen zugrunde lagen, so wird in den grundsatzorientierten Systemen Fichtes und Schellings ein einziger erster Grundsatz zum absoluten Fundament des Systems gemacht. Die inhaltliche und formale Differenzierung der Prinzipien des Euklidischen Systemmodells in Definitionen, Axiome und Postulate, mit der Schelling genauestens vertraut war,4 wird nicht übernommen. Die Einheit und Einheitlichkeit des Systems und damit auch des Erklärungsverfahrens ist, ganz im Sinne einer radikal umgesetzten Identitätskonzeption, nicht mit einer ›more geometrico‹ konzipierten Vielfalt von Grundsätzen kompatibel. Am Begriff der ›Erklärung‹ und seiner Rolle bei Schelling läßt sich eine mit der Kritik an Spinoza eng verbundene begriffliche Verschiebung 3
Wenn auch in eigentümlicher Brechung; lediglich das System des transscendentalen Idealismus von 1800 präsentiert sich ohne weitere Qualifikation als ›System‹, während sowohl die Darstellung meines Systems der Philosophie als auch die Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1801 und 1802 nicht mehr direkt als das System selbst auftreten. 4 Die Euklidische Mathematik und die Tradition der Euklidkommentierung bildeten einen Schwerpunkt des Mathematikstudiums in Tübingen zur Zeit Schellings; vgl. dazu v. Verf.: Die Thesen zur Mathematik und Physik. Übersetzung und Kommentar von Paul Ziche, in: »… im Reiche des Wissens cavalieremente«? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen. Hrsg. v. Michael Franz. Tübingen 2005, 313–371; ders.: Mathematik und Physik als philologisch-geschichtliche Wissenschaften. Christoph Friedrich Pfleiderers Inauguralthesen in den Fächern Mathematik und Physik (1790–1792), in: a. a. O., 372–404.
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ausmachen. Zunächst gebraucht Schelling dieses Konzept in epistemisch ganz neutraler Weise; »eigentliche« und bloß »gedichtete« Erklärungen sind gleicherweise möglich (AA I/1, 232).5 Im Kontext seiner Naturphilosophie, also innerhalb einer Systemgestalt, in der ein Systemteil – Naturbzw. Subjektphilosophie – eine begründende Funktion für den jeweils anderen übernehmen soll (vgl. AA I/9,1, 25), wird das Erklärungskonzept dann eingehend und im Zusammenhang gerade auch mit kausalen Strukturen erörtert (vgl. unten, Abschnitt 3), während in den identitätsphilosophischen Texten relativ abrupt ein radikaler Wandel der Terminologie eintritt, in dem der Erklärungsbegriff durch Konzepte wie ›Darstellung‹ oder ›Konstruktion‹ ersetzt wird. Hierin liegt eine zunehmend in den Vordergrund tretende Kritik am ableitenden Erklären, die sich in den Werken Schellings bis in seine spätesten Schriften hinein verfolgen läßt, die aber bereits in seinen naturphilosophischen Texten sichtbar wird. Es ist das Ideal seriellen Ableitens, dem das System Spinozas nicht Genüge tut, obwohl genau dieses Ideal seinem System zugrunde liegen soll: »Wenn Spinoza geirrt hat, so ist es darinn, daß er nicht weit genug zurück construirt, und wenn nicht die Form, doch die rein ideelle Seite der Philosophie zu sehr vernachlässigt hat.« (Hegel-GW 4, 278) Spinozas Methode und seine Systemform können also nicht garantieren, daß in der Tat eine Letztbegründung erreicht wurde. Idealiter, so folgt aus Schellings Kritik an Spinoza, würde man sich eine Erklärungstheorie wünschen, in die eine Garantie auf ultimative Begründungsleistung sozusagen fest eingebaut wäre. Die Kritik an Spinoza führt damit zu einer ersten Forderung an eine Theorie der Erklärung bzw. des systematischen Zusammenhangs: Diese muß automatisch sicherstellen, daß die Erklärung auch weit genug zurückgeht. Ein Fortschreiten in einem sich aufstufenden Gang mit (potentiell) unendlich iterierbarer Schrittfolge kann hierfür nicht als Modell dienen; eine übersichtliche Absicherung der Forderung nach absoluter Begründbarkeit wäre erst dann gegeben, wenn für jedes Explanandum in einem einzigen Schritt eine ultimative Erklärung gegeben werden könnte. Hiermit wird dann auch das Systemkonzept insgesamt durchgreifend modifiziert, allerdings immer noch, wie zu zeigen sein wird, in engem Kontakt mit der konkreten Praxis mathematischen Argumentierens und Beweisens.
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Die Abkürzung »AA« mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seite bezieht sich im folgenden auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. Hermann Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff.
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Schelling erörtert das Erklärungskonzept in der Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 direkt im Zusammenhang mit dem Problem der Kausalität.6 Dieses Problem ist in aktuellen Debatten eng mit dem Erklärungskonzept verbunden; Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit kausalen Erklärungen erörtert werden, lassen sich in einer Weise beschreiben, die direkt bei Schellings Überlegungen anschließt. Kausale Erklärungen sind typischerweise asymmetrisch, wobei der Grund dieser Asymmetrie erstaunlich schwer faßbar ist;7 das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in (kausalen) Erklärungen ist prekär, ebenso die Identifikation der Kategorie der Ursache. Typische Erklärungen invozieren – wie das Hempel-Oppenheim-Schema einer deduktiv-nomologischen Analyse von Erklärungen kodifiziert – allgemeine Gesetze nach dem Paradebeispiel von Newtons Gravitationsgesetz, unklar aber bleibt, inwiefern der Verweis auf ein solches Gesetz beitragen kann, um ein individuelles Ereignis hinreichend fassen zu können, und inwiefern beispielsweise das Gravitationsgesetz überhaupt über Ursachen spricht. Das Gravitationsgesetz scheint die bestmögliche Erklärung zu bieten für das Fallen eines Körpers, aber ist es wirklich das entscheidende Element in einer Erklärung, warum dieser Körper hier und jetzt fällt? Geht es in derartigen Erklärungen überhaupt um ein Erklären individueller Ereignisse, oder nicht vielmehr um eine Erklärung für ihrerseits allgemeine Aussagen wie das Fallgesetz? Alle diese Fragestellungen können auch historisch zugeordnet werden; die Debatten zwischen lokal-mechanistischem Cartesianismus und einem Newtonianismus, dessen Gesetze ohne einen kausalen Übertragungsmechanismus auskommen, bieten das deutlichste Beispiel. Wenn Schelling 1802/3 im Konstruktionsbegriff ein alternatives Methodenkonzept einführt,8 unternimmt er einen sehr gezielten Versuch, 6
Zu Schellings Auffassungen von Kausalität liegt wenig explizite Literatur vor; vgl. (jedoch auf die spätere Philosophie Schellings konzentriert) Joseph A. Bracken: Freiheit und Kausalität bei Schelling. Freiburg i. Br. 1972; ders.: Freedom and Causality in the Philosophy of Schelling, in: The New Scholasticism 50 (1976), 164–182. 7 Standardbeispiel, mit letztlich aristotelischen Wurzeln (Sylvain Bromberger: WhyQuestions, in: Mind and Cosmos. Essays in Contemporary Science and Philosophy. Hrsg. v. Robert Colodny. Pittsburgh 1966, 86–111): Die Länge des Schattens eines Fahnenmastes kann genauso aus der Länge des Fahnenmastes abgeleitet werden wie umgekehrt, das gilt aber nicht auch für die Erklärungsleistung: Die Mastlänge erklärt die Schattenlänge, aber nicht umgekehrt. 8 Der zentrale Text ist Schellings ausführliche Besprechung von B. Höijers Buch über Konstruktion (Benjamin Höijer: Abhandlung über die philosophische Construction, als Einleitung zu Vorlesungen in der Philosophie, aus dem Schwedischen. Stockholm 1801.
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Schwierigkeiten der genannten Art zu vermeiden, ohne Einbußen an der Strenge der Begründungsleistung hinnehmen zu müssen. Umrisse dieses Erklärungskonzepts sind bereits absehbar: Gesucht wird nach einer einzigen, universell anwendbaren Erklärungsform, die direkt, also nicht durch den Umweg über ein stufenweises Subsumieren oder über kausale Ketten, zu Begründungen führt. Das Modell eines Satzsystems wird damit inadäquat, wodurch es möglich wird, ein weiteres fundamentales Moment von Schellings Verständnis von Erklärungen zu benennen: Dasjenige, worauf die Erklärungen beruhen, muß von anderer Art sein, als die zu erklärenden Aussagen, um zu informativen Begründungen, nicht bloß zu regressiven Wiederholungen zu führen.
2. Konstruktion, A-Kausalität und Schellings Medientheorie des Erklärens In seinem Aufsatz Ueber die Construction in der Philosophie erläutert Schelling dieses Methodenkonzept durch den Vergleich mit der Methode der Mathematik: »Es ist nur Ein Princip der Construction, Eines, womit construirt wird, in der Mathematik wie in der Philosophie. Dem Geometer ist es die in allen Constructionen gleiche und absolute Einheit des Raums, dem Philosophen die des Absoluten. Es ist, wie schon gesagt, nur Eines, was construirt wird, nämlich Ideen.« (Hegel-GW 4, 283) Schelling setzt hier zwei Akzente. Zum einen betont er die Einheit und Einzigkeit des Prinzips der Konstruktion; auffallender aber ist der Akzent auf dem
Zu Höijer vgl. z. B. Jürgen Weber: Begriff und Konstruktion. Rezeptionsanalytische Untersuchungen zu Kant und Schelling. Diss. Göttingen 1995. Im folgenden zitiert als »Weber, Begriff und Konstruktion«, mit Angabe der Seitenzahl), die im dritten Stück von Band 1 des Kritischen Journals der Philosophie erschien (im folgenden zitiert nach der kritischen Ausgabe in Hegel-GW 4). Daneben ist vor allem § 4 der Ferneren Darstellungen (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, in: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Konrad Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856 ff.; hier Abt. I, Band 4, 391–411. Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert als »Schelling, SW«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl) zu vergleichen. Die Konstruktionsmethode wird auch in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803 durchgehend herangezogen. Der Konstruktionsbegriff im Zusammenhang von Schellings Methodenvorlesungen wird besprochen in Verf.: Die »reinen Vernunftwissenschaften«: Mathematik und »Philosophie im Allgemeinen«, in: »die bessere Richtung der Wissenschaften«. Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums als Wissenschafts- und Universitätsprogramm. Hrsg. v. dems./Gian Franco Frigo. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010.
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›womit‹ der Konstruktion, das im Text wiederholt hervorgehoben wird.9 Das Prinzip wird selbst nicht konstruiert, und auch die Resultate, das ›was‹ der Konstruktion, treten in der Bedeutung zurück gegenüber diesem ›womit‹. Schellings Methodenkonzept der Konstruktion kann damit in doppelter Hinsicht als eine Medientheorie aufgefaßt werden: Einmal aufgrund seiner Betonung der Mittel des Konstruierens neben oder sogar gegenüber dem Gegenstand, dem »was« der Konstruktion, zum anderen weil Konstruktion für Schelling definiert werden kann in Analogie zum Eintragen des zu Konstruierenden in einen umfassenden Raum, der gerade deshalb eine sowohl identifizierende als auch absolut begründende Funktion übernehmen kann, weil er als allgemeines Medium gleicherweise allen Konstruktionen zugrunde liegt. Alle Konstruktionen haben in ihm bzw. in ihn hinein zu erfolgen. Dieses Konzept von Konstruktion kann in zweierlei Weise in einen philosophiehistorischen Kontext eingebettet werden. Einmal verdankt es sich einer detailliert durchgeführten konstruktiven Kritik an Kants Konstruktionsbegriff in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, zum anderen aber läßt sich Schellings Konzept von Konstruktion direkt in Verbindung bringen mit der Kritik an Schelling bzw. allgemeiner an Schellingianischen Formen des Philosophierens, die Hegel in Einleitung und Vorrede der Phänomenologie formuliert. Hegel verweist ausdrücklich auf die Konstruktion (Hegel-GW 9, 37) und sieht hierin ein Modell für den leicht abzulernenden »Pfiff« einer Methode, die in »gestaltlose[r] Wiederhohlung« (Hegel-GW 9, 16. 37) über alles stets nur dasselbe und noch dazu Sachfremde, stets unmittelbar auf absolute Ideen Zielende auszusagen fähig sei. Damit verbindet Hegel eine zweite Linie der Kritik, die sich gegen die Auffassung richtet, das Erkennen sei wesentlich ein ›Mittel‹, dessen Wirkung man vom Erkannten subtraktiv abziehen könnte, um zur Sache selbst zu kommen, vergleichbar mit einem ›Medium‹, durch das hindurch ein Objekt um so klarer erblickt wird, je mehr das Medium selbst durchsichtig wird und damit verschwindet (Hegel-GW 9, 53 f.). Zugleich, und mit denselben Argumenten, formuliert Hegel eine Kritik an einer Auffassung von Erkenntnis als ›Werkzeug‹. Beides, der Vorwurf gegen das Medium wie der gegen den Werkzeugcharakter von Erkennen, läßt sich direkt mit Schellings prägnantem ›womit‹ in Beziehung setzen. Obwohl diese Kritik zunächst derart treffend scheint, wird sich ergeben, so eine These der folgenden Rekonstruktion von Schellings Konstruktionsbegriff, daß in Schellings eigenen Texten von 1802/3 bereits begriffli9
Vgl. auch Hegel-GW 4, 282.
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che Mittel verfügbar sind, die sich ihrerseits genau gegen die von Hegel inkriminierten Auffassungen richten. Die Umrisse von Schellings Theorie der Konstruktion werden üblicherweise folgendermaßen gezogen.10 Den Ausgangspunkt bildet deutlich Kants Konstruktionsbegriff: Die Mathematik, und hier wieder vor allem die Geometrie, ist für Kant in der glücklichen Lage, aktiv diejenigen Anschauungen innerhalb der Anschauungsformen Raum und Zeit hervorbringen zu können, die einem vorgegebenen mathematischen Begriff entsprechen, und so einem solchen Begriff – beispielsweise ›Dreieck‹ – a priori eine korrespondierende Anschauung beizugeben. Diese Konstruktionen weisen in mehrfacher Hinsicht einen idealen Charakter auf: Ein konstruiertes Dreieck ist tatsächlich aufgebaut aus perfekt geraden Linien ohne Breitenausdehnung; die konstruierte Anschauung korrespondiert vollständig mit dem Begriff, wie aus der Möglichkeit ersichtlich ist, auf eine konstruierte Anschauung strikt allgemeine Beweise aufzubauen. Dies ist sogar noch möglich, wenn man eine nicht perfekte Wiedergabe der idealen Konstruktion, etwa ein freihändig gezeichnetes Diagramm auf der Tafel, dem Beweis zugrunde legt. Konstruktionen sind damit als Anschauungen zwar stets individuell, die auf ihnen aufgebauten Aussagen aber völlig allgemeingültig; im Konstruieren produzieren wir Anschauungen, die allgemeinen Charakter haben. Kant ist sich völlig bewußt, daß eine solche allgemeine Anschauung eigentlich in sich widersprüchlich sein sollte, und betont entsprechend, mathematische Beweis-
10
Zum Konstruktionsbegriff vgl. Hermann Krings: Die Konstruktion in der Philosophie. Ein Beitrag zu Schellings Logik der Natur, in: Aspekte der Kultursoziologie. Aufsätze zur Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Geschichte der Kultur. Zum 60. Geburtstag von Mohammed Rassem. Hrsg. v. Justin Stagl. Berlin 1982, 341–351; Helga Ende: Der Konstruktionsbegriff im Umkreis des Deutschen Idealismus. Meisenheim a. Glan 1973; Franceso Moiso: Spekulative und empirische Wissenschaften in Schellings Naturphilosophie, in: Interaktionen zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Francis Bacon und Ernst Cassirer. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt a. M. u. a. 1995, 115–133; Marie-Luise Heuser-Keßler: Spekulative Konstruktion und mathematische Physik. Kant, Schelling und die Dynamisierung der Geometrie im 19. Jahrhundert, in: a. a. O., 135–152. Im folgenden zitiert als »Heuser-Keßler, Spekulative Konstruktion«, mit Angabe der Seitenzahl; Michael Rudolphi: Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. Im folgenden zitiert als »Rudolphi, Konstruktion«; Temilo van Zantwijk: Ist Anthropologie als Wissenschaft möglich? Der ›Mensch‹ in Schmids ›enzyklopädischer Topik‹ und Schellings ›philosophischer Konstruktion‹ der Wissenschaften, in: Schellings philosophische Anthropologie. Hrsg. v. Jörg Jantzen u. Peter L. Oesterreich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 110–154. Im folgendern zitiert als »van Zantwijk, Anthropologie als Wissenschaft«; Weber, Begriff und Konstruktion.
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verfahren demonstrierten die Möglichkeit und methodische Bedeutsamkeit von nicht-empirischer Anschauung;11 konstruierte Figuren erhalten ihre Funktion genau dadurch, daß sie eben nicht als einzelne Objekte auf der Tafel oder auch ›im Kopf‹ gebraucht werden. Für Kant bleibt diese Methode allerdings der Mathematik vorbehalten: Philosophie arbeitet für Kant im Medium des Begriffs, nicht mit A-priori-Verbindungen von Begriffen und Anschauungen, und kann sich deshalb der mächtigen Methode der Konstruktion nicht bedienen. Hier setzt Schelling an; er hinterfragt diese Restriktion mit dem Ziel, eine nicht-empirische Anschauung auch für die Philosophie, ja für alle Wissenschaften überhaupt nutzen zu können. Konstruktion würde dann zur Grundlage für alle Wissenschaften; diese Wissenschaften selbst und ihre Objekte müßten sich ebenfalls konstruieren lassen, wie Schelling beispielsweise in aller Entschiedenheit in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums ausführt. Schon in der hier stark abgekürzten Darstellung von Kants Konstruktionsbegriff wird deutlich, welche seiner Aspekte für Schelling von besonderem Interesse sein konnten; diese geben zugleich eine implizite Festlegung des hier nicht eigens betrachteten Konzepts der nicht-empirischen, bei Schelling dann als ›intellektuell‹ bezeichneten Anschauung. Bereits bei Kant liegt das Augenmerk nicht so sehr auf dem konkreten Objekt, das konstruiert wird; wie ein konstruiertes Dreieck konkret aussieht, ist nicht relevant. Wichtig ist vielmehr die Aktivität des Konstruierens, des Übersetzens der Merkmale des Begriffs in eine konkrete Anschauung. In Fichtes und Schellings Betonung des aktivischen, produktiven Charakters des menschlichen Erkennens, ebenso wie in Schellings Interesse an den Postulaten der Mathematik, die ebenfalls Handlungsanweisungen darstellen, kann man eine direkte Umsetzung dieser Kantischen Auffassungen sehen.12 In der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/2 verbindet Fichte die auch von ihm immer wieder geforderte Methode der Konstruktion dann auch direkt mit der handlungsgarantierenden Freiheit: »offenbar ist die Construction nach ihrem strengsten Begriffe die absolute Position der formalen Freiheit.« (Fichte-GA II/6, 241)13 Zugleich wendet sich Fichte 11
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten (A) und zweiten (B) Originalausgabe. Hrsg. v. Jens Timmermann. Hamburg 1998, hier A 713/B 741. 12 Zur Rolle mathematischer Postulate bei Schelling vgl. v. Verf.: Systemkonzepte der antiken Mathematik bei Schelling. Zur Interpretation des Postulate-Begriffs in Schellings Frühphilosophie, in: Das antike Denken in der Philosophie Schellings. Hrsg. v. Rainer Adolphi u. Jörg Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 615–636. 13 Die Abkürzung »Fichte-GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der
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gegen eine allzu wörtliche Übernahme des geometrischen Modells: »Unterlage ihrer Construction« muß allen Philosophen eben »das Handeln überhaupt oder die Freiheit« sein; ansonsten blieben nur die Anschauungsformen, und eine Identifikation von Konstruktion mit diesen führt zum absurden Resultat, daß dann beispielsweise das »Recht […] sonach etwa viereckig, und ihre Tugend cirkelrund ausfallen« müßte (Fichte-GA I/4, 220 f.). Mit welchem Anspruch Schellings Konstruktionsbegriff auftritt, wird vielleicht nirgends deutlicher als in der Tatsache, daß er genau die später von Hegel kritisch akzentuierten Aspekte der Medialität affirmativ wenden will, und daß er den Vergleich mit der Methode der Mathematiker, vor dessen möglichen Konsequenzen Fichte warnt, in aller Strenge durchgeführt wissen will. In der Übertragung des Konstruktionsverfahrens von der Mathematik auf die Philosophie müssen damit weitreichende Veränderungen an den Begründungsformen der Philosophie vorgenommen werden, die Schellings Konstruktionsbegriff nicht einfach als eine Ausweitung des Kantischen Konstruktionsverfahrens begreifbar werden lassen.
3. Kausalität, »innigste Einheit« und der Ausstieg aus der Serialität In der Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 baut Schelling die – mit Fichte geteilte – Idee weiter aus, daß das Subjekt nicht passiv sein kann, sondern als reine Aktivität betrachtet werden muß. Damit wird das Subjekt automatisch aus den kausalen Ketten herausgenommen, die zwischen Objekten bestehen; es kann höchstens noch ein absoluter Anfang sein, aber auch dann muß der Übergang von absoluter Aktivität zur Welt der Objekte erklärt werden. Zugleich ist klar, daß mechanische Ursache-Wirkungs-Erklärungen hier nicht anwendbar sind. Für die Naturphilosophie zieht Schelling die nötigen Konsequenzen: Erforderlich ist eine dynamistische Konzeption von Materie, in der auch Materie nicht mehr passiv ist, sondern durch eine Interaktion von Kräften erklärt wird. Atomistisches Zerteilen in kleinere Bestandteile kann in keinem Fall zu den letzten Grundelementen oder Erklärungsgründen
Seite bezieht sich im folgenden auf: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. StuttgartBad Cannstatt 1962 ff.
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führen (AA I/5, 78 f.).14 Serielles Einteilen, damit auch ein Argumentieren in Form regressiver unendlicher Reihen, fällt als Zugangsmöglichkeit zu den ultimativen Begründungselementen weg.15 Schelling liefert noch eine weitere kritische Diskussion von Reihenargumenten, wenn er sich in der Einleitung zu den Ideen detailliert mit Kausalketten in der Objektwelt auf der einen, mit der Sukzession von Vorstellungen im Subjekt auf der anderen Seite auseinandersetzt. Wie kann man, so fragt er, die Korrespondenz zwischen diesen beiden Reihen begreifen, die notwendig ist, um die Abstimmung zwischen unseren Vorstellungen und den Objekten zu verstehen? Selbstverständlich kann für Schelling die (subjektive) Abfolge der Vorstellungen nicht kausal durch die Reihe der Objektereignisse bestimmt und dieser untergeordnet sein. Dann aber bleibt als einzige Denkoption, so Schelling, eine Identitätsthese: Die Übereinstimmung zwischen subjektiven Strukturen und Objekten mit ihren objektiven Beziehungen ist nur begreiflich, wenn beide Seiten gleichzeitig, in ein und demselben Akt entstehen (AA I/5, 84–86). Schelling liefert ein starkes Argument für diese Gleichzeitigkeit, wobei er zugleich gegen solche Formen eines Kantianismus argumentiert, die annehmen, wir würden mittels Anschauungsformen und Kategorien in irgendeiner Weise eine Formgebung hinzufügen zu einer vorher unstrukturierten Welt von Objekten. Wenn man eine solche Konzeption verfolgt, so Schelling, muß man sich die Frage vorlegen, was man eigentlich behält, wenn man diese Hinzufügung rückgängig macht. Diese Überlegung entspricht genau dem Hegelschen Einwand gegen den Werkzeugcharakter des Erkennens, der im Idealfall möglichst unsichtbar bleiben sollte. Auch Schelling weist diese Vorstellung ab, allerdings betont er eine andere Absurdität, die sich aus dem Modell eines additiven Zusammenfügens von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismittel ergäbe: Man müßte dann nicht nur alle zeitliche Aufeinanderfolge weglassen, sondern auch von Ursachen und Wirkungen absehen. Es bliebe eine Vorstellung, die »zwischen Etwas und Nichts in der Mitte schwebt« und die damit »nicht einmal das Verdienst hat, absolut-Nichts zu seyn« (AA I/5, 88). Diese Konzeption einer unentschiedenen Mittelstellung kann also von Schelling selbst nicht intendiert sein. Simultaneität des Entstehens von 14
Fundamentale Kräfte haben für Schelling zwar sehr wohl mit der unendlichen Teilbarkeit des Raumes zu tun, aber nicht mit einem Aufbau des Raumes bzw. der raumerfüllenden Materie aus kleinsten, einen festen Raum einnehmenden Bestandteilen. 15 Zur Gegenüberstellung von Konstruktion und seriellem Ableiten vgl. auch Rudolphi, Konstruktion, 163.
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Dingen und Vorstellungen, so Schelling, bietet die einzige Möglichkeit, diese Schwierigkeiten aufzulösen; zugleich liegt hierin die Konsequenz aus einer kritischen Analyse der Kausalitätsauffassungen von sowohl Hume als auch von Kant (AA I/5, 86–89). Schelling benennt diese Gleichzeitigkeit, mit einem romantisch-emotiv aufgeladenen Term, als eine innige Vereinigung (»innigst vereinigt«),16 und führt diese zurück auf Spinoza. In diesem konzeptuellen Rahmen wird es nicht mehr nötig – und hierin klingt explizit Jacobis, von Schelling mehrfach zitierte, Charakterisierung Spinozas an – zwischen den beiden Reihen des Reellen und Ideellen einen Übergang vorzunehmen (AA I/3, 82), und natürlich findet man auch traditionelle Aspekte des Begriffs von Gott als eines Wesens, in dem alles zugleich ist, wieder. Schelling integriert Argumente und kritische Debatten zum Problem der Kausalität in sein Plädoyer für eine Identitätstheorie. Hierin liegt unmittelbar eine Spannung: Wenn die Asymmetrie von Ursachen und Wirkungen wesentlich ist für den Kausalitätsbegriff, muß dann nicht Kausalität insgesamt in einer solchen Identitätstheorie verschwinden? Wie kann eine solche Theorie dann noch informativ sein, wie kann bei einem Fehlen aller Ableitungsbeziehungen etwas Neues über einen Gegenstand ausgesagt werden? Mit diesen Problemen ist der Hintergrund von Schellings Theorie der Konstruktion benannt.17 Zugleich aber bewegt man sich hiermit weiterhin innerhalb eines Problemrahmens (früh-)idealistischer Systemkonzeptionen. Die Frage, was geschieht, wenn man aus dem Denken in der Form unendlicher Reihen heraus- bzw. zwischen zwei Reihen hinüber- und herübertritt, wird bereits in Fichtes Einleitungen in die Wissenschaftslehre von 1797/8 erörtert. Fichte vergleicht ebenfalls zwei Reihen, eine in der Welt der Objekte, eine in derjenigen der Vorstellungen, konzentriert sich aber nicht auf deren Parallelität, sondern auf die fundamentale Differenz beider, die ihm sein Argument gegen einen realistischen ›Dogmatismus‹ liefert. Die Reihe der Vorstellungen ist nämlich gekennzeichnet durch die Eigenschaft der Selbstreflexivität, die in der linearen Reihe kausal geord16
AA I/5, 90. Vgl. auch a. a. O., 73: »in uns [sind] Gegenstand und Vorstellung unzertrennlich vereinigt«. 17 Schellings Diskussion der Kausalitätskategorie ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich: Kausalität ist für Schelling stets nur als eine Form der Wechselwirkung zu denken; auf diese Kategorie können die übrigen Kantischen Relationskategorien reduziert werden (AA I/9,1, 173–175). Inwieweit dieser Fokus auf der Wechselwirkungskategorie in Zusammenhang zu bringen ist mit Schellings Annahme einer grundlegenden Identität, bliebe zu untersuchen.
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neter Objektereignisse nicht einholbar oder überhaupt nur repräsentierbar ist. In unseren Vorstellungen können wir aus der Reihe der UrsacheWirkungs-Relationen heraustreten und diese von außen betrachten; diese Operation des Heraustretens dient Fichte als ein Modell für die Struktur der Selbstreflexion. Schelling verwendet ähnliche Sprechweisen; im Reflektieren über den Ursprung seiner Vorstellungen nimmt das Subjekt einen Ort »über« der Abfolge der Vorstellungen ein (»erhebe ich mich selbst über die Vorstellung«, AA I/5, 73), und die Einschränkungen des Mechanismus liegen genau in seiner Unfähigkeit zum Heraustreten aus seiner eigenen Serialität (»Aber was im Mechanismus begriffen ist, kann nicht aus demselben heraustreten und fragen: wie ist dieses Ganze möglich geworden«, AA I/5, 74 f.). Wiederum kann man hierin sofort eine grundlegende Spannung entdecken: Wie kann man diese notwendige Operation des Heraustretens verbinden mit der zugleich geforderten innigsten Vereinigung? Wie weit dieses Problem reicht, wird in Schellings eigenen Worten am besten deutlich; im selben Satz, in dem er für ein ›Heraustreten‹ als eine Überwindung des Mechanismus plädiert, zeigt er auch an, was mit diesem Heraustreten gerade nicht gemeint ist. Im Heraustreten muß mehr liegen als nur eine Übersicht darüber, welchen Ort innerhalb eines größeren Kontexts die vielen einzelnen Ereignisse einnehmen. Genau dies nämlich, das ›Anweisen‹ einer ›Stelle‹, ist das Charakteristikum kausaler Ketten (AA I/5, 74 f.). Daß Schelling selbst eine Linie sieht, die seine Ideen zu einer Philosophie der Natur mit den Themen und Thesen seiner Identitätsphilosophie verbindet, wird von ihm selbst explizit gemacht, wenn der ›Zusatz‹ zur Einleitung der Ideen in der zweiten Auflage dieses Textes von 1803 direkt den Bezug auf den Konstruktionsbegriff herstellt (SW I/2, 60). 4. Identität und informative Tautologie: Die »Pflanze in der Pflanze« Damit sind wesentliche Forderungen an das Konzept der Konstruktion bereits benannt: Gesucht wird eine Operation, die das Moment des Heraustretens verbindet mit einem direkten Zugriff auf die Sache selbst; diese Operation soll für alle Explananda in gleicher Weise anzusetzen sein, ohne aber dem Hegelschen Vorwurf der Inhaltsleere zu verfallen. Serielles Begründen ist hierfür unzureichend, wie Schelling im Zusammenhang mit dem Konstruktionsbegriff prominent nochmals in den Ferneren Darstellungen formuliert: Ein »Hinausschieben des Erklärungsgrundes ins
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Unendliche« (SW I/4, 358) kann keinesfalls ultimative Erklärungen liefern. Alle diese Forderungen lassen sich auch an Schellings Konzept der Einheit bzw. Identität stellen, das hiermit ebenfalls eine wesentlich epistemische Funktion erhält. Auch in der Einheit bzw. Identität muß demnach eine innigste Vereinigung verbunden werden können mit einem immanenten Heraustreten, einer Differenzsetzung, um informativ sein zu können. Mit Blick auf die Identitätskonzeption geht Schelling so vor, daß er, in engem Kontakt mit der tatsächlichen Praxis unseres Sprachgebrauchs, Evidenz dafür zusammenträgt, daß wir in der Tat in unserer alltäglichen kognitiven Praxis genau eine solche Struktur des immanenten Heraustretens anwenden. Er beginnt mit einer kritischen Analyse von Vorgehensweisen von Wissenschaftlern: Ein Zerteilen von Naturobjekten, wie beispielsweise in der Praxis des Anatomen, aber auch in Newtons infinitesimalmathematischer Rekonstruktion der Planetenbahnen, verbleibe in der Argumentationsform des unendlichen Progresses und verfehle darum notwendig die fundamentale Begründungsleistung, die von jeglicher Wissenschaft erwartet werden muß. Der Anatom, so Schelling, wird niemals verstehen, was eine Pflanze ist. Schelling formuliert das wiederum in sehr kompakter, in der Kompaktheit aber vieldimensionaler Weise: Was der Anatom verfehlt, sei genau die »Pflanze in der Pflanze« (SW I/4, 362).18 Schelling formuliert hiermit eine Identitätsaussage, die nach trivialer Tautologie bzw. eben, in Hegels Wortwahl, nach »gestaltloser Wiederhohlung« klingt. Was fügt, so ist aus dieser Lesart heraus zu fragen, ein solches Erkennen der Pflanze in der Pflanze hinzu, über das Erkennen dessen hinaus, was die Pflanze ist? Es liegt nahe, eine Reformulierung in einer Begrifflichkeit von Wesensaussagen zu versuchen: Was gesucht wird, scheint doch das Wesen der Pflanze zu sein, dasjenige, was diese Pflanze zur Pflanze macht, die allgemeinen Aspekte des Typus Pflanze. Schelling jedoch unterstützt diese Lesart nicht; ihm ist eben der Identi-
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Inwiefern auch hier die relevanten Begriffsstrukturen durch Kants Kritik der Urteilskraft vorgeprägt sind, kann hier außer Betracht bleiben; vgl. Tobias Cheung: Der Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem bei Kant und Bonnet, in: Kants Philosophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung. Hrsg. v. Ernst-Otto Onnasch. Berlin/New York 2009, 25–49. Zu Schellings Formel vgl. auch v. Verf.: Metaphern und Identität. Schellings Metaphern und die Darstellung philosophischer Identitätsstrukturen, in: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Hrsg. v. Brady Bowman. Paderborn 2007, 195–210.
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tätsaspekt wichtig. Das Erkennen einer einzelnen Pflanze und der Pflanze überhaupt wird in einem sehr starken Sinn identifiziert; Motive aus Goethes Naturforschung klingen hier eindeutig an. Unterstützt wird diese Lesart durch eine Passage aus Schellings Bruno, in der Schelling, wieder am Beispiel der Pflanze, aber auch mit dem Dreieck als traditionellem Exempel für mathematische Konstruktion, die direkte Verbindung von Anschauung und Begriff im Aussprechen einer anschaulichen Wahrnehmung betont: »[S]o magst du […] nur dich selbst fragen, was du eigentlich anschauest, wenn du sagst, daß du ein Dreieck oder einen Cirkel oder eine Pflanze anschauest? Ohne Zweifel den Begriff des Dreiecks, den Begriff des Cirkels, den Begriff der Pflanze, und du schaust nie etwas anderes an als Begriffe.« (SW I/4, 292) Die Struktur der Sprache selbst stützt diese Auffassung von der Identität von Anschauung und Begriff, Denken und Sein; wir können über unsere Wahrnehmung ›dieser Pflanze‹ nicht anders sprechen als in allgemeinen und das heißt begrifflichen Termen. Auch im scheinbar direktesten Aussprechen dessen, was wir wahrnehmen, sprechen wir immer schon über begrifflich Verfaßtes.
5. Konstruktion und Medialität Schellings Formel von der ›Pflanze in der Pflanze‹ verwendet eine komprimierte Metapher der räumlichen Ineinanderschachtelung zur Darstellung fundamentaler Identitätsstrukturen. In Verbindung mit dem Vergleich der Rolle des Absoluten in philosophischen Konstruktionen mit der des Raumes in der Geometrie gewinnt diese Metapher eine fundamentale Bedeutung für seinen Konstruktionsbegriff. In zahlreichen Variationen beschreibt er die Prozesse des Konstruierens bzw. die Resultate von Konstruktion unter Verwendung der räumlichen Basisbegrifflichkeit eines ›In‹-Seins bzw. negativ als ein Nicht-Heraustreten-Müssen aus dem Raum: »Um die Eigenschaften der angegebnen Figuren zu beweisen, bedarf der Geometer nichts weiter, als die allgemeine und absolute Form des reinen Raums als solchen, er geht nicht aus seinem Absoluten heraus, um zum Besondern zu gelangen, und eben darauf, daß er zur Demonstration der besondern Einheit nichts anders als die absolute bedarf, beruht die Evidenz.« (Hegel-GW 4, 286). Diese Charakterisierung des Absoluten bleibt zunächst negativ und indirekt. Klarerweise wird das Absolute selbst nicht als etwas Intuitives oder als die Evidenz selbst beschrieben, klar ist aber auch, daß das Absolute keine exklusiv begriffliche, der Anschauung gegenübergestellte Struktur besitzt. Das ›Mittel‹ des Beweisens
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kann, wie Schelling ausdrücklich vermerkt (Hegel-GW 4, 283), weder ein Begriff sein noch wird es durch eine Anschauung erschöpft; Beweise vollziehen sich durch das Mittel der Gleichsetzung von Anschauung und Begriff, und diese wird, hier wiederum in Übereinstimmung mit Kant, durch das Eintragen von besonderen zu konstruierenden Objekten in den Raum umschrieben. Im Raum dann, stellvertretend für im Absoluten, liegt für Schelling tatsächlich umfassende Identität vor: »[D]as Absolute ist nur absolut, und was auch in ihm sey, ist nothwendig und immer dasselbe, nämlich nothwendig und immer absolut« (SW I/4, 374).19 Die Richtung des Darstellens bleibt dabei irrelevant, wie es im Zuge von Schellings Kritik an seriellen Argumentationsformen auch folgerichtig ist (Hegel-GW 4, 280), und das Resultat dieses Prozesses des Eintragens in das Absolute kann identifikatorisch als eine »Idee«, als »das im Allgemeinen dargestellte Besondre« (Hegel-GW 4, 281) bestimmt werden. Ähnlich identifikatorisch und den Modellcharakter des Raumes nun wiederum zurücknehmend kann Schelling den Raum mit der intellektuellen Anschauung identifizieren: »Der Raum […] ist die ganze intellectuelle Anschauung« (HegelGW 4, 279). Wichtig ist dabei, daß Schelling weiterhin daran festhält, daß die Konstruktion eine »Handlung« (Hegel-GW 4, 286) ist; auf keiner Ebene dieses Prozesses findet eine Verdinglichung statt. Auch der Raum als Repräsentant des Absoluten darf nicht als passiver Container gedacht werden. Es geht nicht einfach um die Aufnahme in das Absolute, es geht um die Weise, »wie« etwas – wieder in der räumlichen Basismetaphorik – »im Absoluten« (z. B. SW I/6, 40) ist. Auch »Abgeleitetes« wird »in seiner Idee« konstruiert (Hegel-GW 4, 283), was demnach als die Weise zu verstehen ist, wie es im Absoluten, versinnbildlicht durch die »absolute Gleichheit des Raumes«, ist (Hegel-GW 4, 293). Das Medium der Konstruktion ist entsprechend nach dieser Gleichheit des Raumes vorzustellen; auch die abkürzende Identifikation von Raum mit intellektueller Anschauung muß genauer als eine solche Gleichheit verstanden werden, die nur durch die Handlung der Gleichsetzung zu erreichen ist. Wenn Schelling wenig später, in der Philosophie der Kunst, Konstruktion alternativ über ein Bestimmen der »Stellung« des zu Konstruierenden »im 19
Genau derartige Formulierungen werden von Hegel in der Phänomenologie ebenfalls scharfer Kritik unterzogen, auffallenderweise ohne daß der Schellingsche Akzent auf dem »im« übernommen wird; vgl. Hegel-GW 9, 17: »Irgend ein Daseyn, wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sey zwar jetzt von ihm gesprochen worden, als von einem Etwas, im Absoluten, dem A=A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sey alles Eins.«
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Universum« definiert (SW I/5, 373), kann das, angesichts von Schellings Kritik am lokalisierenden Verorten, wiederum nicht das Anweisen eines konkreten Ortes bedeuten, sondern nur die Weise, wie etwas im Absoluten ist, wobei dieses ›im‹ nicht mehr das Enthaltensein in einem lokalen Gefüge räumlicher Objekte meinen kann. Die Weise des Enthaltenseins ›im Absoluten‹ umfaßt eine umfassende Vereinheitlichung (das Sein im Raum dient Schelling als Modell für dasjenige, was »in allen Constructionen« gleich ist) und enthält zugleich objekterhaltende und selbst strukturgenerierende Aspekte. Kant hatte die Aufgabe der Konstruktion darin gesehen, Anschauungen zu produzieren, die perfekt mit einem mathematischen Begriff übereinstimmen, wobei der Fokus auf dem Akt der Produktion liegt, nicht auf dem Produkt, das sowieso nicht mehr im Bereich des empirisch Anschaubaren angesiedelt ist. In der Konstruktion wird Einzelnes als Allgemeines verwendet, aber nicht mehr als bloße Instantiierung eines allgemeinen Konzepts, sondern als Darstellung des Allgemeinen selbst. Alle diese Aspekte von Kants Konstruktionsbegriff kann Schelling direkt übernehmen. Der fundamentale Unterschied zu Kant kann vielleicht am besten verdeutlicht werden, wenn man die Rolle von Konstruktionen für einen mathematischen Beweis betrachtet: Für Kant sind Konstruktionen wesentliche Schritte in einem mathematischen Beweis, der damit der Konstruktion noch übergeordnet ist; die Konstruktion eines Dreiecks allein ist lediglich im speziellen Fall einer Konstruierbarkeitsbehauptung beweiskräftig. Schelling hingegen sieht eine Konstruktion direkt als die ultimative Begründungsleistung, die in Philosophie und Wissenschaften gegeben werden kann, muß dann aber Alternativen zu traditionellen Begründungsformen entwerfen. Schelling greift hierin Kants Auszeichnung der Geometrie auf, nun aber, wie zitiert, in Form eines Vergleichs, nicht einer direkten Verbindung von Konstruktion und der Methode der Geometrie. Auch bei ihm muß es um die Konstruktion einzelner Gegenstände gehen – wobei hier ›Gegenstand‹ weiter gefaßt ist als die Restriktion auf geometrische Begriffe bei Kant, und ganze Theorien oder sogar noch umfassendere Gegenstandsbereiche wie die Geschichte oder das Christentum einschließt. Radikaler als bei Kant aber wird von Schelling die Dimension des einzelnen Konkreten für irrelevant erklärt und auf das Verfahren der Konstruktion gesehen. Wichtig ist Schelling nicht das Produkt einer einzelnen Konstruktion, sondern dasjenige, was allen Konstruktionen gemeinsam ist. Die Allgemeinheit, nach der er sucht, ist also nicht einfach das konstruierte Dreieck als Repräsentant aller Fälle von Dreiecken. Wie kann man
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angesichts dieser Suche nach der gleichbleibenden Unterlage aller Konstruktionen dann den Hegelschen Vorwurf der leeren Wiederholung, der bloßen Iteration der immergleichen Aussage abwehren? Bereits die bewußt gesetzte Tautologie von der ›Pflanze in der Pflanze‹ macht deutlich, daß Schelling gegenüber der Tautologie keine Berührungsängste kennt, und natürlich kann man die tautologische Wiederholung gerade unter Verwendung von Hegels Forderungen in der Phänomenologie positiv auslegen: Beim Eintragen in den absoluten Raum wird das Eingetragene ja nicht verformt, sondern als es selbst verzeichnet und somit sachgerecht wiedergegeben. Dennoch wird, auch wenn das in den Raum eingetragene Konzept unverändert bleibt, eben im Eintragen der Akzent der Betrachtung verschoben, vom ›was‹ auf das ›womit‹; hierin wird man den wesentlichen Erkenntnisgewinn einer Konstruktion sehen müssen. Die Konstruktion liefert keine zusätzliche Erkenntnis über das Einzelne als Einzelnes, sondern weist auf, wie das Einzelne im Absoluten ist. Inwiefern hat ein solcher Aufweis noch mit Erklärungen und Beweisen zu tun? Schelling stellt diesen Zusammenhang direkt her (Hegel-GW 4, 285) und verbindet den Demonstrationscharakter von Konstruktionen mit dem Aufweis einer »absoluten Möglichkeit«, die zugleich mit »absoluter Realität« identisch sei (Hegel-GW 4, 283 f.). Diesem Aufweis kann wiederum eine sehr konkrete Bedeutung gegeben werden. Auch bei Kant lag der Gewinn, den eine Konstruktion liefert, nicht in einem Mehr an begrifflicher Einsicht, sondern in der Verfügbarkeit einer Anschauung. Die Rolle dieser Anschauung wird bei Schelling noch ausgebaut. Entscheidend ist ja nicht, daß man überhaupt eine solche Anschauung besitzt, sondern daß diese eine zentrale Rolle innerhalb der Beweisverfahren der Mathematik spielt. Typische geometrische Beweise erfordern nicht nur die Produktion eines anschaubaren Objekts, sondern auch das Ziehen von Hilfslinien, das Verschieben und In-Deckung-Bringen von Figuren. Alle diese Operationen haben starke Voraussetzungen nötig, die in der Kommentarliteratur zu Euklid auch eingehend erörtert werden: Es muß zuvor als gesichert feststehen, daß die Hilfslinien gezogen und die Figuren verschoben werden können. Die Garantie dafür kann in doppelter Weise gegeben werden, einmal durch Postulate, die genau festlegen, welche Konstruktionen in allen Fällen möglich sein müssen, zum anderen durch die Struktur des Raumes, in dem die Konstruktionen erfolgen. Dieser inkorporiert dann, auf der Ebene einer nicht-empirischen Anschauung, die universelle Ermöglichung von Konstruktionen, wie sie in den Postulaten als Handlungsanweisungen formuliert sind. In diesem Sinn enthält tatsächlich jede besondere Konstruktion »ungetheilt« die »absolute Ein-
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heit« und umgekehrt (Hegel-GW 4, 285), wobei die »äußer[e] Nothwendigkeit«, mithin auch kausale Abhängigkeiten, ausgeschlossen bleiben (Hegel-GW 4, 284). Der Raum als Ort der Ermöglichung aller Konstruktionen liegt dabei als identisch allen Einzelhandlungen des Konstruierens zugrunde, ohne daß dadurch jedoch diese Konstruktionen selbst undifferenziert identisch würden. Hieraus ergibt sich als Kennzeichnung von Schellings ›Ideen‹-Verständnis, daß ein Einzelnes durch den tautologischen Mechanismus des Eintragens in der Konstruktion zur Idee wird; eine Idee ist das Einzelding, wie es im Absoluten ist. Dabei wird es selbst nicht verändert, jedoch in einen umfassenden Raum von Operationsmöglichkeiten eingebettet.20 Die McDowell/Sellarssche Metapher vom ›space of reasons‹ als Demarkationskriterium zwischen potentiell unterschiedlichen Anteilen der Erkenntnis operiert mit ganz ähnlichen Metaphern und Ansätzen.21 Der Raum wird dann zum universellen Receptaculum – aber eben nicht im Sinne eines Dinges; in ihm laufen alle Konstruktionen ab, und er garantiert die durchgehende Möglichkeit der relevanten Konstruktionsschritte. Wichtig ist, daß damit die Struktur des Raumes lediglich implizit festgelegt und dabei weitgehend offengehalten wird; lediglich soviel Struktur wird erfordert, wie für die Konstruktion aller relevanten Objekte der Geometrie benötigt wird.22 Alternative Geometrien sind mit einer solchen Raumkonzeption vereinbar, zudem ist ein solcher Raum dann nicht mehr als eine Form der Anschauung vorstellbar. Schelling stattet in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 dieses Mittel der Konstruktion, von dem man annehmen sollte, es verhalte sich strikt passiv aufnehmend, mit der Macht aus, Versuche des Eintragens abzuweisen, wenn sie nicht mit dieser Struktur kompatibel sind (als Beispiel kann man an das tradi-
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Heuser-Keßler, Spekulative Konstruktion, 142 f., zieht zur Erläuterung des Konstruktionsbegriffs, im Anschluß an moderne Theorien der Physik, die »Invarianten von Prozeßtypen« heran, die Gegenstand der Konstruktion seien. Mathematik befasse damit »die grundlegenden intrinsischen Organisierungsprinzipien der Natur«. Um diesen interessanten Vorschlag en detail auf Schellings Konstruktionsbegriff beziehen zu können, müßte noch geklärt werden, wie der moderne Invarianzbegriff, der eine Erhaltung unter jeweils spezifischen Prozeßformen meint, auf die absolute Universalität konstruktiver Beweise zu übertragen wäre; zudem scheint Schelling ja nicht solche invariante Strukturen zum Gegenstand, sondern eben zum Mittel der Konstruktion machen zu müssen. 21 John Mc Dowell: Mind and World. With a New Introduction. Cambridge (Mass.)/ London 1996. 22 Hierin kann man auch eine Fortsetzung einer Leibnizischen, von den Relationen des im Raum Befindlichen ausgehenden, Raumkonzeption sehen.
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tionelle Problem erinnern, eine ebene Figur zu konstruieren, die von zwei geraden Linien begrenzt wird). Die Metapher des Einschreibens greift er hier wörtlich auf, ebenso den Hinweis auf die Rolle des Raums als Analogon der fundamentalsten Erkenntnisfunktionen: »Daher sich auch in der wahren Wissenschaft die Vernunft wirklich leidend, verhält und eigentlich die Seele thätig ist. Die Vernunft ist nur das Aufnehmende der Wahrheit, das Buch, worein die Eingebungen der Seele geschrieben werden, aber zugleich auch ein Probierstein der Wahrheit. Was die Vernunft nicht annimmt, was sie zurückstößt, was sie nicht in sich verzeichnen läßt, das ist nicht von der Seele eingegeben, das kommt aus der Persönlichkeit. Sie ist in dieser Beziehung für die Philosophie das, was der reine Raum für den Geometer. Was in der Geometrie falsch ist, einen unrichtigen Begriff, nimmt der Raum nicht an, stößt es zurück; z. B. ein Dreieck, in dem die größere Seite dem kleineren Winkel gegenüber läge.« (SW I,7, 472) Das ›was‹ der Konstruktion, obwohl dieses doch die ›Ideen‹ sein sollen, tritt gegenüber dem Mittel der Konstruktion, dem Raum bzw. dem Absoluten, ›womit‹ die Konstruktionen erfolgen, zurück, was wiederum gegen die essentialistische Interpretation des Konstruktionsbegriffs spricht. Man kann dann konsequenterweise auch nicht mehr sagen, daß das Absolute, der Raum, in den hinein die Eintragungen erfolgen, konstruiert würde; auch damit würde man in die Sphäre der Objekte der Konstruktion verfallen. Die Rolle des Absoluten ist gerade nicht diejenige eines zu konstruierenden Objekts, sondern diejenige eines universellen Mediums. Nicht das Absolute wird sichtbar, sondern die Art und Weise, wie etwas im Absoluten ist. Das Absolute als Medium verliert damit den Charakter einer mehr oder minder opaken Zwischenstruktur zwischen Objekt und Erkennen; muß alles im Absoluten wahrgenommen werden, dann betrachtet man es nicht mehr durch dieses Medium, das Medium selbst bleibt wesentlich, ohne doch selbst sichtbar, zum Gegenstand des Erkennens zu werden.23 Damit verfangen Hegels Vorwürfe gegen eine Medienkonzeption des Erkennens nicht gegen Schellings Konstruktionsbegriff. Schelling selbst setzt seine Erkenntnisauffassung von älteren Theorien der Medialität ab, wenn auch mit einem anderen Argument als bei Hegel: Ein »optisches Glas«, das nur »Mittel in der Hand des Vernünftigen« ist, bleibt selbst ohne erklärende Kraft, da es eben nicht über den
23
In der Darstellung der reinrationalen Philosophie wird Schelling eine eingehende Rekonstruktion der Passagen aus Aristoteles’ De Anima geben, an denen Aristoteles, im Blick auf Anaxagoras, über die Rolle der Unvermischtheit und Durchsichtigkeit des Mediums reflektiert (SW II/1, 464).
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für Erkenntnis – und sei es in einer Konzeption der Identität von Objektivität und Subjektivität – unabdingbaren subjektiven Charakter verfügt (SW I/2, 21).
6. Konstruktion als a-kausale und antisyllogistische Erklärungsform Diese Rekonstruktion von Schellings Konzept der Konstruktion kann die eingangs erhobenen Forderungen an eine Theorie der Erklärung umsetzen: Ein einschrittiges, für alle Konstruktionsaufgaben identisches, aber stets noch strukturtragendes und informatives Verfahren, dessen Prinzipien in der Tat eine grundlegend andere Form aufweisen als die Resultate und das deshalb herausgetreten ist aus iterativen Begründungsmustern. Die Terminologie der Medialität, die Rolle eines Mediums, das im Resultat wieder zugunsten der inhaltlichen Ausfüllung des medial eröffneten Raumes zurücktritt, lädt ein, diese Methode doch nochmals mit klassischen syllogistischen Verfahren zu vergleichen. Auch dort wird ein Medium, ein Mittelterm – ›medius terminus‹ – gebraucht, der im Resultat des Syllogismus nicht mehr sichtbar ist, und in der traditionellen Syllogistik ist es genau der Mittelterm, durch den Wesensaussagen in eine Schlußfolgerung eingehen, die aber dann nur noch indirekt aufgewiesen werden können.24 Schelling verfolgt jedoch auch diese bereits sehr offene Rekonstruktion eines Mediums an der Hand des Syllogismus nicht weiter. Mehr noch: Er kritisiert jegliche syllogistische Methodenkonzepte massiv. Hierin liegt ein Programm, das sein ganzes weiteres Werk durchzieht, und vielleicht kann man hierin die entscheidende Leistung von Schellings Konstruktionsbegriff erblicken: Eine Wissenschaftskonzeption zu entwickeln, die streng ist, aber nicht erklärend, nicht kausal, nicht ableitend, nicht syllogistisch. Dieses Thema wird beispielsweise in der dritten Vorlesung von Schellings Philosophie der Offenbarung ausgearbeitet, das Schelling einer Kritik sowohl an empiristischer als auch an rationalistischer, syllogismusbasierter Philosophie widmet.25 Was wir letztlich benötigen, so Schelling,
24
Verf.: 'Estˆ toà mšsow ¹ z»thsij. Der Begriff der »Mitte« in Aristoteles’ Wissenschaftskonzeption, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), 9–24. 25 Eine eingehende Diskussion des Verhältnisses von empirischer und rationaler Erkenntnis, vor dem Hintergrund des Konstruktionsbegriffs und mit der These, beide
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ist eine Zwischenposition, die Anschauung und Intellekt, Begriffe und Erfahrung tatsächlich zu integrieren gestattet; hiermit werden sowohl Empirismus als auch Rationalismus mit denselben Argumenten kritisierbar. Sowohl das empiristische als auch das syllogistische Verfahren verbleiben notwendig jeweils innerhalb eines und desselben Bereichs, einmal innerhalb der empirisch gegebenen Data, einmal innerhalb formal bestimmter Sätze und ihrer Relationen. Hiermit sind generell keine letztbegründenden Erklärungen mehr möglich, aber auch der Übergang von Erfahrungsdaten zu allgemeinen Sätzen bzw. umgekehrt wird unbegreiflich. Der Syllogismus ist, symmetrisch den Eindrücken gegenübergestellt, fortwährend eingeschränkt auf die Ebene der Formalität und reicht nicht herab zur Ebene der Einzeldinge. In der Terminologie des späten Schelling: Nötig wird eine Form von Philosophie, in der der »Gegenstand selbst« (SW II/3, 42) erfaßt und zur Basis aller Begründungen gemacht wird. Dieser Gegenstand muß dann notwendigerweise als eine Form von Entität aufgefaßt werden, die jenseits der Gegenüberstellung von Anschauung und Verstand zu liegen kommt. In einem grundlegenden Punkt revidiert er hier frühere Auffassungen: Wir kennen Dinge stets durch eine Verbindung zweier Aspekte, nämlich von im Erkenntnisvermögen gelegenen Leistungen und einem unabhängig von der Erkenntnis bestehenden Objekt, das zwar »das Unbekannte«, mit Kant: »gleich dem mathematischen x« (SW II/3, 49) ist, aber notwendig unter Kausalkategorien gedacht werden muß. Dennoch: Die hierfür allein akzeptable Form von Kausalität kann nicht mehr nach dem Modell der kausalen Kette oder des syllogistischen Reihenarguments gedacht werden. Zugleich schreibt Schelling diesem ›x‹ die Funktion zu, daß wir aus ihm die Eindrücke in der Erfahrung »herleiten müssen« (SW II/3, 49). Kaum irgendwo wird deutlicher, daß Schelling trotz seiner Abkehr von traditionellen Erklärungsverfahren den Anspruch wissenschaftlicher Begründung nicht nur nicht aufgibt, sondern sogar bis in die Details hinein in der von ihm neu entwickelten Wissenschafts- und Methodenauffassung eine Rekonstruktion der wesentlichen Elemente des traditionellen Wissenschaftsbegriffs liefern will. Zusammengenommen ergibt sich damit ein Problem, das in wesentlichen Aspekten in direkter Entsprechung zum Konstruktionsbegriff der Jahre 1802/3 zu formulieren ist: Gesucht wird eine Methode strikter Begründung, die nicht dem Modell des Ableitens in dieser Erkenntnisformen ließen sich »nur als Abstraktionen eines einheitlichen Erkenntnisvollzugs sinnvoll fassen«, in: van Zantwijk, Anthropologie als Wissenschaft, 128–130.
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Form von (syllogistisch verbundenen) Satzketten folgt und die das Programm der grundsatzorientierten Systemform verläßt. Zugleich jedoch bleibt die Orientierung an den Modellen wissenschaftlicher Systeme in der Geometrie erhalten. Mit einem solchen Verfahren, um zurückzukehren zu den Formulierungen des Konstruktionsaufsatzes von 1802, wird es erst möglich, nicht nur ›in einem gewissen äußeren Ansehen des Zusammenhangs‹, sondern in durch die Konstruktion wissenschaftlich auf die ›Probe‹ gestellten Begründungszusammenhängen zu denken.
Matteo Vincenzo d’Alfonso Konstruktion als Paradigma für die Kausalität der Freiheit
1. Die Kantsche Problemstellung Die Rolle und Bedeutung zu untersuchen, die der Begriff der Kausalität im Deutschen Idealismus spielt, ist von besonderem philosophischem Interesse. Diese Untersuchung führt uns zur Frage nach der sogenannten Kausalität der Freiheit. Kant hat ja die Reflexion über die Kausalität auf zwei Ebenen geführt: einmal in bezug auf die Untersuchung einer möglichen Konsistenz der Wissenschaften, andererseits aber im Zuge der nicht weniger wichtigen Suche nach einer Grundlegung der Moral. Nur scheint es, daß diese doppelte Fundierung der Wissenschaft und der Sittlichkeit auf zwei geradezu kollidierenden Konzepten der Kausalität beruht: einem ersten, das in Form einer Kategorie des Verstandes allein für die Naturnotwendigkeit bürgt, und einem zweiten, das in dem ebenso kategorischen Imperativ die Kausalität der Freiheit – so Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – zum Ausdruck bringt. Diese zweite wäre nämlich eine Art von Kausalität, die solchen Gesetzen unterworfen ist, die ebenso wie diejenigen sind, die in der Natur herrschen, deren Wirkungsart allerdings per definitionem jenen entgegengesetzt ist und demzufolge unbegreiflich ist. Wie bekannt erklärt Kant weiter in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Widerspruch zwischen diesen zwei einander entgegengesetzten Formen der Kausalität für bloß scheinbar und beruft sich dabei auf den bereits in der Kritik der reinen Vernunft gemachten Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich.1 Denn entsprechend diesem Unterschied herrscht die erste der zwei Kausalitäten ausschließlich in der Erscheinungswelt, während die zweite allein in der intellegiblen Welt regiert. Der Mensch würde sich also zwischen den notwendigen Gesetzen zweier Welten zerreißen, d. h. zwischen der Heteronomie seiner körperlichen Natur, die ihn zum reinen tierischen Organismus macht, und
1
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1902 ff., Abt. I, Band 4 (1903) [= AA]. Hier: »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie«, 457 f.
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der Autonomie seiner Vernunft, die ihn zur Mitgliedschaft im Reich der Zwecke befähigt. Nur die Reflexion auf sein eigenes Ich kann noch dem Menschen unmittelbar bewußtmachen, daß das bloß Erscheinende an ihm auf einer sich in dieser Erscheinung manifestierenden Selbsttätigkeit gründet. Eine Selbsttätigkeit, die sich in ihrer reinsten Form mit der Autonomie der Vernunft, d. h. mit der Möglichkeit, die eigenen Maximen dem kategorischen Imperativ zu unterwerfen, zusammenfällt, aber sich zugleich auch als jene Spontaneität ausdrückt, die hinter der kategorialen Konstitution der Erfahrung steckt und die Heteronomie der Natur dadurch mitbestimmt. Die daraus resultierende Lehre des Primats der praktischen Vernunft über das Theoretische kann man somit aus zwei Gründen behaupten: 1) Wegen der Reinheit, mit der die Selbsttätigkeit allein im sittlichen Gesetz zum Ausdruck kommt – da im Erkennen die Spontaneität der Vernunft zwar auch zum Ausdruck kommt, aber erst in Anwendung auf die Daten der Sinnlichkeit, also nicht rein, wirkt; 2) Denn, indem wir selbst auf unser Ich das Erscheinung-Ding-an-sichModell anwenden, laut dem das An-Sich Grund der Erscheinung ist, leuchtet uns unmittelbar ein, daß der Grund unseres Ichs gerade diese Selbsttätigkeit ist, die sich nur im sittlichen Gesetz rein als solche manifestiert. Die Schwäche dieser Position liegt allerdings darin, daß das Sittengesetz wiederum nur dann eine praktische Wirkung ausübt, wenn die dank ihm gewählte Maxime, ohne mit der Naturnotwendigkeit zusammenzufallen, dennoch genauso notwendig wie diese ist. Das heißt, daß Kant nicht in der Lage ist, eine Form des notwendigen Wirkens irgend woanders herzuleiten, als sie wiederum von der Naturnotwendigkeit zu borgen. Da aber eine moralische Maxime notwendig wirken muß, wird diese kategorische Notwendigkeit durch einen Hinweis auf die Gesetze der Natur mittels eines Als-Ob dargestellt. Wir haben allerdings dabei einen Zirkel vor uns: Während nämlich die Freiheit der Vernunft, die am reinsten im sittlichen Gesetz auftritt, der Grund jeglicher authentischen Gesetzgebung sein sollte und zwar als Kausalität der Freiheit, ist für ihre Form gerade die ihr entgegengesetzte, auf Naturnotwendigkeit basierende Legalität maßgeblich. Denn allein auf der Gesetzmäßigkeit der Natur basiert die Analogie, die uns die Legalität überhaupt begreiflich macht. Um zu einem Schluß zu kommen, und das von Kant trotz der scheinbaren Lösung des skizzierten Widerspruchs offen gelassene Problem auf die Spitze zu treiben: Wir sind im Besitz eines einzigen Begriffs der Kausa-
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lität, der ja eine kategoriale Notwendigkeit darstellt. Dieser Begriff kann aber nur die unauthentische Kausalitätsform, diejenige der begründeten Welt, treffend ausdrücken; und das Verwirrende liegt darin, daß gerade diese Form der Gesetzmäßigkeit als analoges Muster derjenigen unbegreiflichen Legalität gelten sollte, der die Kausalität der Freiheit als Form des eigentlichen Gesetzes des Grundes entspricht. Die Frage, mit der sich ein guter Teil der post-Kantschen Debatte abgemüht hat, scheint folgende zu sein: Sollte man nicht eher von dem Standpunkt ausgehen, den Kant schon in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten darstellte, laut dem die Selbsttätigkeit der Grund im Ich ist und sich dabei eine Wirkungsform aneignen, die vom Begründeten unabhängig ist, womit die ganze Perspektive, aus der man die Kausalität der Natur interpretiert, umgedreht wird? Das würde aber heißen, zuerst die Wirkung der Kausalität der Freiheit zu erklären, ohne sich dabei der Analogie der Natur überhaupt zu bedienen und anschließend die Kausalität der Naturnotwendigkeit als ihre Erscheinung herzuleiten. Meine These ist, daß Schelling mit seiner Auffassung der Konstruktion diesen paradigmatischen Wechsel zu vollziehen versucht. Nach dieser These gälte die Art und Weise, wie Schelling die Konstruktion in seiner Identitätsphilosophie anwendet, als sein erster selbstständiger Versuch, eine Kausalität der Freiheit zu zeigen, die sich keiner fremden Analogie bediente – sei es der Logik, des Naturmechanismus oder sogar der Kunst. Denn umgekehrt würde die Konstruktion allen diesen zugrunde liegen. Die Möglichkeit dieser Umwendung hängt allerdings mit einer aus Fichte stammenden unabdingbaren Prämisse zusammen, die wir noch zu zeigen haben. 2. Die Umwendung des Standpunktes von Fichte zu Schelling Im Ältesten Systemfragment des deutschen Idealismus wird der Übergang aus der Ethik in die Physik, die das Programm der oben genannten Umkehrung ausdrücklich formuliert, mit folgenden Worten dargestellt: »Eine Ethik. Die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts – hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik, einmal wieder Flügel geben.«2 Es ist einleuchtend, daß in der hiermit aufgeworfe2
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Georg Wilhelm Friedrich
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nen Frage genau das Problem dargestellt wird, das ich im vorhergehenden Paragraphen präsentiert habe, d. h. die Struktur der physischen Welt ausgehend von dem moralischen Gesetz zu denken, statt wie üblich die Form der Gesetzmäßigkeit der Naturwelt auf die menschlichen Handlungen anzuwenden. Dieser Text ist bekanntlich von Fermenten durchsetzt, die ihre Wurzeln in der Debatte über Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre haben. Der Fichtesche Versuch, Kants transzendentale Wende durch die Abschaffung des Dings-an-sich zu vollziehen, wurde von ihrem Autor als wesentlicher Baustein des ersten Systems der Freiheit3 dargestellt und so auch von den Zeitgenossen rezipiert. Dreh- und Angelpunkt der Grundlage schien die Deduktion der Kategorien und daran anschließend der Vorstellung zu sein, die nur aus der Wechselwirkung zwischen Ich und Nicht-Ich im absoluten, d. h. absolut frei tätigen Ich resultieren. Die Welt würde in ihrer Gesamtheit zum Produkt der Selbsttätigkeit des absoluten Ichs durch das Bewußtsein gemacht: Diese ist dem Bewußtsein als Tathandlung intuitiv präsent. Das Aus-sich-Herausgehen dieser energischen Tätigkeit, zusammen mit deren Unterwerfung der Gesetzmäßigkeit im Erscheinen – und zwar sowohl als Kausalität der Freiheit in Form des Kategorischen Imperativs (Sollen), als auch als Kategorie der Naturnotwendigkeit im Erkennen (Wissen) –, geschieht durch freies Handeln. Wenn wir von Fichte zu seiner Rezeption bei Schelling kommen, sehen wir, daß von ihm dieses freie Handeln schlechthin identisch mit der Vernunft gesetzt wird, die wie schon bei Kant die allgemein geltende Struktur des menschlichen Geistes ist. Und nun sieht Schelling seine Aufgabe darin, zu beschreiben, wie die Vernunft überhaupt als Gesetzmäßigkeit eintritt. Als die Form der freien (Selbst-)Gesetzgebung der Vernunft wählt er ab 1800 die Konstruktion. Unter dieser Perspektive entspricht der Schellingsche Versuch noch vollkommen den Ansprüchen der Transzendentalphilosophie, nur seiner Ansicht nach von einem höheren genetischen Standpunkt als bisher gesehen. Schelling hätte sich also dieselben Aufgabe wie vorher Fichte gestellt, nach dem ersten genetischen Schritt Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969 ff., hier Band 1, 234. 3 So Fichte in der Bestimmung des Menschen, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.; hier Abt. I, Band 6 (1981), 212: »Das System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte tödtet und vernichtet mein Herz.« Im folgenden wird die Gesamtausgabe zitiert als »GA« mit Angabe der entsprechenden Band- und Seitenzahl.
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der Wissenschaftslehre einen weiteren zu machen, der darin bestünde, die Resultate des ersteren zu genetisieren.4 Schelling ist nämlich versucht, die Fichtesche Arbeit da fortzusetzen, wo seines Erachtens die Wissenschaftslehre aufhörte.5 Und in der Folge werden wir sehen, inwieweit die Identitätsphilosophie bemüht ist, gerade im Prinzip der Identität die von Fichte stillschweigend angenommene Prämisse für die Genesis der Bewußtseinsstruktur explizit zu machen, um zum wahren Standpunkt der Philosophie zu gelangen. In dieser Hinsicht ist Paul Ziches Hinweis auf die Schellingsche Auffassung des Absoluten als Mittel und Womit Deduktion, statt als Was der Konstruktion von höchster Bedeutung. Um allerdings zu verstehen, wie das Medium der Konstruktion im Sinne Schellings zu verstehen und mit dem Absoluten gleichzusetzen sei, muß man einen Schritt zurück zur Fichteschen Ableitung bzw. Konstruktion der Kategorien machen. Der springende Punkt für die Methode, die Fichte für die Lösung der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Vorstellung anwendet, besteht in seiner durchaus neuen Auffassung des Kraftbegriffs im Ver4
Daß auch Fichte diese Tatsache bewußt war, zeigt der Briefwechsel da hinreichend, wo Fichte selbst die Unvollkommenheit seines bisher geleisteten genetischen Verfahrens zugibt und Schelling immer wieder bittet, auf seine neue Darstellung zu warten, bevor er die eigene veröffentliche (Fichte an Schelling vom 31. 5. – 7. 8. 1801, in: GA III/5, 51–52). Daß er, auch aus guten Gründen, mit der Lösung Schellings nicht zufrieden sein konnte, ändert nichts an der Tatsache, daß ihm die systematische Form der Wissenschaftslehre, d. h. der Philosophie, als noch nicht vollständig erschien, auch nicht in der überarbeiteten Form der sog. nova methodo, wie das weitere Arbeiten an seinem System zeigt. Erst ab 1804 zeigt er sich mit der systematischen Darstellung seiner Philosophie zufrieden, seitdem er nämlich in der Vernunft- und Wahrheitslehre die Genesis bis zum Absoluten (und eben nicht nur bis zum absoluten Ich) vollzogen und rückwirkend die Konstruktion der Erscheinung, in der Phänomenologie bzw. Erscheinungs- und Scheinlehre, geleistet hat. Ab jetzt ändert sich das System doch nur in der Darstellungsart, und daß Fichte seine WL nicht mehr veröffentlicht hat, hängt eher mit seinem tiefen Zweifel an seiner Zeit und an seinen Zeitgenossen zusammen, als mit einem niedrigen Grad von Überzeugung der Gültigkeit und Haltbarkeit seines Systems (vgl. die Ankündigung der Vorlesungen vom 3. und 10. 1. 1804, in: GA I/8, 17, sowie Fichte an Jacobi vom 31. 3. 1804, in: GA III/5, 236). 5 Wenn die Konstruktion als die Kausalität der Freiheit gelten soll, wie sie von Kant in der Ethik zum ersten Mal vorausgesetzt und von Fichte in der Tathandlung umgesetzt wurde, dann scheint Schelling mit den Ferneren Darstellungen, wie wir schon dem Inhaltverzeichnis dieses Textes entnehmen können, immer noch konsistent mit dem Programm des Ältesten Systemfragments zu sein. Er geht nämlich von der Definition der Idee des Absoluten aus, setzt mit der Erklärung seines Begriffs der Konstruktion fort, die er für die Deduktion der Materie als unzertrennlich vom Raum und insofern Stoff des ganzen Universums annimmt, um endlich mit der Erklärung der Spekulativen Bedeutung der (Keplerschen) Gesetze des allgemeinen Weltbaus zu enden.
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gleich zum Kantschen. Darauf stützt sich nämlich die Möglichkeit seiner genetischen Reduktion der Reinholdschen Tatsache das Bewußtsein auf die Tathandlung. Schon in der Aenesidemus-Rezension stellte Fichte bekanntlich fest, daß eine Tatsache des Bewußtseins wie die Vorstellung in der Elementarphilosophie Reinholds nicht zum Prinzip eines kritischen Systems tauge und daß die Aufgabe einer Philosophie, die sich zur Wissenschaft erheben will, zunächst die Zurückführung von Tatsachen auf ihr authentisches Prinzip, die Tathandlung sei. Die Möglichkeit dieser Zurückführung hängt allerdings mit folgenden drei Prämissen zusammen, nämlich damit, daß 1) der Prozeß der Verwandlung der in der Tathandlung unmittelbar angeschauten Kraft in Bewußtseinsinhalte von einem festen, wenn auch unbewußten und in seinem Mechanismus sogar unbegreiflichen Gesetz geführt wird; 2) dieses durch die Einbildungskraft wirkende Gesetz für die Regularität der Konstitution der Erfahrung bürgt; 3) der oben genannte Prozeß einem weiteren stillschweigend anzunehmenden Prinzip untergeordnet wird, und zwar dem der Konservation eines Energiequantums. Dieses letzte Prinzip, eigentlich eine unausgesprochene Form des Erhaltungsprinzips, scheint nämlich dasjenige zu sein, das die Einbildungskraft während ihres weltkonstituierenden Projektionsprozesses ständig respektieren muß. Das Erhaltungsprinzip zwingt nämlich die Einbildungskraft, in das Nicht-Ich so viel Realität zu setzen, wie das Ich bei dem Gefühl seiner Beschränktheit in sich leidet. Und nur aufgrund dieses ersten dialektischen Wechsels zwischen Ich und Nicht-Ich können beide kategorialen Grundpaare Substanz/Akzidenz und Ursache/Wirkung auch entstehen. Daß aber von Fichte gerade auf das Erhaltungsprinzip der Energie statt des eher traditionellen Momentums gesetzt wird, ist ein Charakteristikum seines Verständnisses von Kraft im Unterschied zur Kantschen Auffassung der Physik. Denn gerade in der Frage, ob das, was man noch undifferenziert Kraft genannt hatte, als mv, Momentum, oder nach der Leibnizschen Dimensionalgleichung als mv2, forza viva, zu verstehen sei, distanzierte sich Fichte schon in den Eignen Meditationen entschieden von Kant und zwar darin, daß er die Leibnizsche Variante eindeutig bevorzugte.6 Dieser Aspekt ist von erheblicher Bedeutung im Aufbau der Fich6
Siehe Francesco Moiso: Natura e cultura nel primo Fichte. Milano 1979, insbes. Kap. III, »La concezione kantiana della forza«, 81–112.
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teschen Wissenschaftslehre und vor allem für das Verständnis seiner philosophischen Methode, nämlich der Genesis. Die Fichtesche Deduktion der Kausalität beruht also auf einer Uminterpretation des Kraftbegriffs, der zufolge die Kraft nicht mehr allein durch einen Kontakt zum Ausdruck kommt – wo sich nämlich auch allein das Momentum mv oder vis morta erhalten würde –, sondern sie die Funktion einer Größe annimmt, die sich in allen möglichen Transformationen eines (als isoliert betrachteten) Systems erhält und zwar der lebendigen Kraft, mv2. Die Kausalität definiert sich dementsprechend durch die Energie und insbesondere als Energieübertragung bzw. -austausch. Im nächsten Paragraphen werde ich mich der Überlegungen des Wissenschaftstheoretikers Stefan Amsterdamsky bedienen, um die Bedeutung dieser Tatsache für die Definition eines breiteren Begriffs der Kausalität zu zeigen, der uns in die Lage setzt, die Gesetzmäßigkeit sowohl der Freiheit, als auch der Naturnotwendigkeit auf einmal zu erklären.
3. Die ›hermeneutische‹ Interpretation der Kausalität laut Stefan Amsterdamsky. Ein allgemeines Paradigma für Kausalität der Freiheit und Naturnotwendigkeit In seinem Artikel über das Begriffpaar Ursache/Wirkung führt Stefan Amsterdamsky aus: »Es kann von Interesse sein, zu bemerken, daß alle Kausalverbindungen wie das Mitteilen einer Information betrachtet werden können, und daß der Begriff Information eine neue Verwirklichung des allgemeinen Begriffs der Wechselwirkung werden könnte, ohne welchen keine Kausalverbindung möglich ist.«7 Wenn er kurz darauf zu einem Beispiel für die Erklärung dieses paradigmatischen Wechsels in der Interpretation der Kausalität kommt, redet Amsterdamsky von der Wirkung einer roten Ampel auf das Verhalten einer Person. Also zieht er merkwürdigerweise kein Beispiel aus der Physik, sondern ein solches aus der Ethik heran. Ein Beispiel, das von der Deutungsfähigkeit eines Gliedes der Kausalreihe abhängt, d. h. von seiner Fähigkeit Bedeutungen zu fixieren. Laut seiner Definition von ›Deuten‹ kann das Subjekt einer Deutung ein beliebiges Glied eines Systems sein, das allein in der Lage ist, eine im System selbst stattfindende Energieveränderung wahrzunehmen, d. h. auf sie zu reagieren, wobei die Zeitlich7
845.
Stefan Amsterdamski: Art. Causa/effetto, in: Enciclopedia Einaudi 2 (1977), 823–
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und Örtlichkeit der wahrgenommenen Energievariation als Objekt charakterisiert wird. Dieser Definition zufolge wird das Zuschreiben einer Bedeutung vollkommen unabhängig von der Anwesenheit einer Intelligenz, denn – wie Amsterdamsky selbst erklärt: »Wenn man hier von der Bedeutung Energieübertragung redet, benutzt man diesen Terminus in einem ganz generellen Sinn, man beschränkt sich nämlich nicht auf das Verstandenwerden durch den Menschen; wir können genauso gut von der ›Bedeutung‹, die das Ampellicht für den Fußgänger, wie von der ›Bedeutung‹, die der pH für eine lebende Zelle, oder auch von der ›Bedeutung‹, die die Frequenz eines Signals für einen Computer hat, reden.«8 Die Reaktion des ›Subjekts‹ führt in all diesen Fälle zur Wiederherstellung des im System lokal gestörten Gleichgewichts: »Der Hauptpunkt«, so Amsterdamsky, »besteht darin, daß jede Informationsübertragung an eine Energieübertragung gebunden ist, und umgekehrt jede Energieübertragung als Informationsübertragung betrachtet werden kann, die für einen gewissen Empfänger bestimmt ist. Und es ist auch wohlbekannt, daß das Wichtigste, um die Kausalverbindung vieler Prozesse nicht in der Art oder Intensität der Energieübertragung, sondern in der Bedeutung, die sie für den Empfänger hat, steckt«.9 Diese allgemeinere Definition des Deutens, die uns ein im umfassenden Sinne des Wortes ›hermeneutisches‹ Verständnis des Kausalitätsbegriffs ermöglicht, bietet uns ein einziges Modell für die Erklärung der beiden von Kant vorgelegten entgegengesetzten Begriffe der Kausalität und zwar der Kausalität der Naturnotwendigkeit und derjenigen der Freiheit. Und das öffnet einen Raum im Bewußtsein für den Kampf zwischen den beiden Kausalitäten, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit dieser ›hermeneutischen‹ Beschreibung der Kausalität hängt allerdings von der weiteren Bedingung ab, nämlich daß die Kausalität im Rahmen einer physischen Beschreibung der Welt definiert wird, die nicht mehr die Kraft als ihre Grundinvariante annimmt, sondern die Energie, d. h. nicht mehr die vis, sondern die vis viva. Und das ist genau das, was Fichte in der Grundlage tat und worauf Schelling seinen Konstruktionsbegriff aufbauen kann. Es ist nun bemerkenswert, daß der Begriff der Kraft eine stark anthropomorphe Konnotation hat und eigentlich ohne eine sinnliche Interpretation – als Übertragung von dem körperlichen Gefühl der Kraft her – unverständlich ist. Der Begriff ›Kraft‹ bleibt nämlich unweigerlich 8 9
A. a. O., 823. Ebd.
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psychologisch behaftet. Ganz im Gegenteil kann der Energiebegriff, obwohl er auch in einer besonderen Form als Arbeit versinnlicht bzw. anthropomorphisiert werden kann, was die Gültigkeit und Verständlichkeit des Erhaltungsprinzips betrifft, vollkommen unabhängig von der menschlichen Existenz verstanden werden und dabei leitet es das gegenseitige Verhalten aller Naturwesen laut einem einzigen strengen Gesetz.
4. Konstruktion und Erhaltungsprinzip in der Identitätsphilosophie Schellings. Wenn wir nun das Wort Energieübertragung durch den eigentlich korrekteren Terminus ›Energie-‹ bzw. ›Potentialveränderung‹ ersetzen und die Beziehung zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich als ein lokales geschlossenes System innerhalb eines viel allgemeineren wiederum geschlossenen Systems namens Natur (oder Universum) betrachten, dann befinden wir uns quasi automatisch im Schellingschen Paradigma bzw. in der Welt der Identitätsphilosophie. Hier kann das Absolute tatsächlich die Rolle des allgemeinen Mediums spielen und zwar in der Form eines Prinzips der Identität, nämlich derjenigen absoluten Invarianz der lebendigen Kraft bzw. der Energiemenge, die in der sich ewig transformierenden Natur in aller Ewigkeit sich selbst gleich erhält. Demzufolge erlaubt die Anwendung dieses Erhaltungsprinzips, die von Schelling in Form der Identitätsphilosophie ausgeführt wird, eine Deduktion von einzelnen Gesetzen, Ereignissen oder sogar Wesen, die durch eine Konstruktion der Elemente als lokale Transformation oder In-Eins-Bildung des allgemeinen Mittels bzw. der Energie verfährt. Und schließlich kann diese Konstruktion/Deduktion auf zweierlei Art als Kausalität der Freiheit verstanden werden: 1) Es ist dasjenige Gesetz dem selbst die Vernunft in ihrem freien aussich heraus-fließen sich spontan unterordnet; 2) im Gegensatz zur mechanischen Kausalität, die nach dem ersten Zustand T1 nur den bestimmten zweiten Zustand T2 abzuleiten gestattet, erlaubt die lokale energetische Prämisse im Prinzip unendlich viele Transformationen, mit der einzigen Randbedingung, daß im System der Energieausgleich erhalten wird.
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5. Die Reflexion als Freiheitsakt. Die unabdingbare Bedingung einer freien Wahl Die von Amsterdamsky vorgeschlagene hermeneutische Darstellung der Kausalität, die m. E. als Folge einer Form von Identitätsphilosophie zu verstehen ist, die das Erhaltungsprinzip in seinem Kern hat, ist in der Lage, das Eingreifen eines freien Subjekts in die Naturnotwendigkeit zu erklären. Wir können nämlich in der Kette der unendlich vielen möglichen Transformationsreihen, die von T1 zu T2 führen, ein Glied einsetzen, das wiederum mit Freiheit den Lauf der Transformationen mitbestimmt. Indem er dies tut, gehorcht er laut Kantschem Verständnis einem zweiten Gesetz neben dem der Naturnotwendigkeit und zwar dem kategorischen Imperativ als Prinzip für die Auswahl der Maxime, die seine Handlungen in der Naturwelt bestimmt. Was allerdings dabei noch unerklärt bleibt ist, wie sich überhaupt dieses Kettenglied zur Formulierung des kategorischen Imperativs erheben kann als das Kriterium für seine Maximenwahl. Die Freiheitsfrage verschiebt sich nämlich weiter nach hinten und zwar von der Wahl zur Setzung des Kriteriums, dem zufolge die freie Wahl fallen kann. Diese Frage, die den Vollzug einer Reflexion voraussetzt, wodurch der Mensch sich als freies Kettenglied verstehen bzw. setzen kann, kann man im Kontext der Identitätsphilosophie nicht beantworten. Mit anderen Worten: Der kategorische Imperativ läßt sich nicht konstruieren. Diese Position hatte bereits Fichte in seinem System der Sittenlehre vertreten, wo er den Freiheitsakt, wodurch der Mensch sich zum kategorischen Imperativ erhebt, für ›schlechthin unbegreiflich‹ erklärt. Hier sagt er nämlich, daß der im Naturzustand sich befindende Mensch »über sich selbst in diesem Zustande reflectiren werde. Er erhebt sich dann über sich selbst, und tritt [dadurch] auf eine höhere Stufe.«10 Erst so kann ein Glied der Natur wie der Mensch zur Vorstellung des kategorischen Imperativs als Kriterium für die Wahl seiner Maxime gelangen. Es handelt sich hier um eine Wahl, die wiederum nur mit einem Eingriff der Freiheit in die Welt zusammenhängt, der sich seinerseits aus den bisher erklärten, rein physischen Prämissen nicht deduzieren läßt: »Das wie bleibt unerklärlich, d. i. es ist nur aus der Freiheit zu erklären«.11
10 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), in: GA I/5, 165. 11 A. a. O., 171.
Konstruktion als Paradigma für die Kausalität der Freiheit
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Das Verständnis des Absoluten als Medium der Konstruktion zusammen mit einer hermeneutischen Interpretation der Kausalität scheint also eine gewisse Naturalisierung des Freiheitsbegriffs plausibel zu machen, die erlauben würde, das Eingreifen des menschlichen Handelns in die Natur zu erklären. Die Konstruktion kann allerdings bis zur Erklärung der physischen Bedingungen einer möglichen Wahl reichen, ohne dabei aber die transzendentalen Bedingungen verständlich machen zu können. Diese letzten bestehen nämlich in der Möglichkeit, eine Reflexion zu vollziehen, die nur als ein absolut spontaner und demnach unbegreiflicher Akt zu beschreiben ist.
Jürgen Stolzenberg Der Streit ums Absolute. Fichte vs. Schelling1
1. In der Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus führt Schelling das Folgende zum Begriff des Wissens aus: »Alles Wissen beruht auf der Uebereinstimmung eines Objectiven mit einem Subjectiven. – Denn man weiß nur das Wahre; die Wahrheit aber wird allgemein in die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen gesetzt.«2 Schellings Erklärung des Begriffs des Wissens als Übereinstimmung eines Objektiven bzw. der Gegenstände mit einem Subjektiven bzw. den Vorstellungen macht offenkundig von dem traditionellen korrespondenztheoretischen Modell der adaequatio rei et intellectus Gebrauch. Wissen ist somit, hält man sich an Schellings Erklärung, als Bewußtsein des Wahren zu verstehen, das formal in der Übereinstimmung eines Subjektiven, der Vorstellungen, mit einem Objektiven, den Gegenständen, besteht. Dieser konventionellen Erklärung des Wissensbegriffs hat Schelling folgende Erläuterung hinzugefügt: »Im Wissen selbst – indem ich weiß – ist Objectives und Subjectives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und Eins.«3 Diese Erklärung bietet eine Explikation der im Begriff des Wissens enthaltenen Übereinstimmung eines Objektiven und Subjektiven. Sie soll als eine Einheit begriffen werden, in der die beiden Momente nicht in 1
Der vorliegende Beitrag bietet die um Nachweise ergänzte Fassung des Vortragstextes. 2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs u. Hermann Krings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Im folgenden zitiert als »Schelling, AA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier AA I/9,1, 29. 3 Ebd.
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einer logischen Abhängigkeit zueinander stehen: Man kann nicht sagen, »welchem von beiden die Priorität zukomme.« Hierfür steht der Begriff der Vereinigung. Schellings Explikation des Begriffs des Wissens trifft nicht zu. Es trifft nicht zu, daß man mit Bezug auf den Sachverhalt des Wissens nicht sagen kann, welchem der beiden Momente die Priorität zukomme. Geht man nämlich mit Schellings erster Erklärung davon aus, daß alles Wissen auf der Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven beruht, dann ist klar, daß diese Übereinstimmung nicht lediglich im Wissen irgendwie gegeben ist, sondern durch das Wissen hervorgebracht wird. Die im Wissen enthaltene Übereinstimmung verdankt sich somit einer Leistung des epistemischen Subjekts, das dieses Wissen unterhält. Ihm kommt daher die Priorität im Wissen zu. Greift man zur Erläuterung auf das einfache Verhältnis von Satz und Tatsache zurück, dann kann das Bestehen einer Tatsache unabhängig davon, daß ein Satz sich auf sie bezieht, gar nicht ausgesagt werden. Zwar ist ein wahrer Satz der Ausdruck eines Gedankens, der sich auf eine Tatsache bezieht; daß etwas eine Tatsache ist, kann aber nur durch einen Gedanken, der in einem wahren Satz ausgedrückt wird, ausgesagt und gewußt werden. Daher kommt dem Gedanken bzw. dem, was Schelling »das Subjektive« bzw. »die Intelligenz«4 nennt, durchaus die Priorität gegenüber einer Tatsache, dem Schellingschen Objektiven bzw. den Gegenständen des Wissens zu. Das also ist der erste Einwand. Er richtet sich gegen Schellings Beschreibung des Einheitssinns von Wissen: Statt von einer logischen Gleichursprünglichkeit ist von einer Priorität des Subjektiven gegenüber dem Objektiven auszugehen. Ein zweiter Punkt betrifft den epistemischen Status des Begriffs des Wissens. ›Indem ich weiß‹, wie Schelling sich ausdrückt – und gemeint ist klarerweise: ›indem ich etwas weiß‹ –, unterhalte ich auch ein Bewußtsein davon, daß meine Vorstellungen, das Subjektive, mit den Gegenständen, dem Objektiven, übereinstimmen. Daß dies der Fall ist, ist durch Gründe darzulegen, von denen ein Bewußtsein vorliegen muß. Andernfalls würde ich nicht über ein Wissen verfügen und könnte es nicht von einem Glauben, Vermuten oder Meinen unterscheiden. Da dieses Bewußtsein seinerseits etwas Subjektives ist, kann man die Tatsache der Übereinstimmung selber etwas Objektives nennen, das durch die übereinstimmenden Momente des Subjektiven und Objektiven charakterisiert ist. Diese im Begriff des Wissens enthaltene Reflexion des Subjekts auf die Form 4
Ebd.
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seines Wissens und die ihm entsprechende Doppelung der Begriffe des Subjektiven und Objektiven findet sich in Schellings Begriff des Wissens nicht. Das ist ein zweiter Einwand. Er bezieht sich auf die immanente Reflexivität des Wissens. Sie hat Schelling nicht zum Ausdruck gebracht.
2. In seinem Kommentar zu Schellings System des transzendentalen Idealismus, dem Manuskript ›Bei der Lectüre von Schellings tr. Idealismus‹, bemerkt Fichte das Folgende, das als Zusammenfassung und Bestätigung der soeben vorgetragenen Argumentation gelten kann: »schon durch die blosse Reflexion auf unser Wissen [wird man] zum Idealismus getrieben. –. Wenn wir nur wüßten (von den Objecten,) ohne dieses wieder zu wissen, daß wir wüßten, dann wäre der tr. Id. auch nicht einmal möglich. «5 Zu ergänzen ist, daß diese Reflexion im Begriff des Wissens enthalten ist, und daher hat eine Theorie, die vom Begriff des Wissens ihren Ausgang nimmt, diesem Umstand bereits in der Exposition ihres Grundprinzips Rechnung zu tragen. Eine solche Theorie ist der von Fichte vertretene transzendentale Idealismus. Die Tatsache, daß Fichte in seiner Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 den Begriff des Wissens als Ausdruck der allen konkreten Fällen des Wissens von etwas invariant zugrunde liegenden Form von Wissen unter dem Begriff des absoluten Wissens als oberstem Prinzip der Philosophie einführt und ihm neben anderen die Charaktere einer immanenten Reflexivität und ursprünglichen Konstitution von Objektivität zuschreibt, dürfte seinen Grund in der kritischen Profilierung gegenüber Schelling haben.6
5
Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jakob u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »Fichte, GA« mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier GA II/5, 413. Zur Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling im Briefwechsel vgl. Schelling-Fichte-Briefwechsel. Kommentiert und herausgegeben von Hartmut Traub. Neuried 2001 sowie die umfangreiche und instruktive Einleitung von Hartmut Traub. Im folgenden zitiert als »Schelling-Fichte-Briefwechsel« mit Angabe der Seitenzahl. Vgl. die zitatreiche Darstellung von Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre, Freiburg/München 1975. Zur Sache vgl. ferner: Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling Fichte 1794–1802. Hrsg. v. Jörg Jantzen, Thomas Kisser u. Hartmut Traub. Fichte-Studien 25. Amsterdam/Atlanta 2005. 6 In der Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 lautet die »Beschreibung der absoluten Form des Wissens« u. a. wie folgt: »Das Wissen ist ein für
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Aus den vorgestellten kritischen Überlegungen folgt mit Bezug auf Schellings Begriff der Philosophie, genauer des Verhältnisses von Transzendental– und Naturphilosophie, Entscheidendes. Schellings Programm, Transzendental– und Naturphilosophie als zwei inverse und zugleich komplementäre theoretische Diskurse auf der Basis des Begriffs des Wissens zu begründen, ist nicht haltbar. Wissen ist keine neutrale Instanz, von der aus, wie Schelling es vorschlägt, ein doppelter Analysegang begründet werden könnte, in dem die beiden Momente des Subjektiven und Objektiven in einer inversen Abhängigkeitsbeziehung zum Thema gemacht werden könnten, der zwei verschiedene komplementäre philosophische Programme entsprechen: die Naturphilosophie, in der, wie Schelling ausführt, »das Objektive zum Ersten gemacht, und gefragt [wird]: wie ein Subjektives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt«7, und die sogenannte Transzendentalphilosophie, in der »das Subjektive […] zum Ersten gemacht [wird] und die Aufgabe […] die [ist]: wie ein Objektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt«.8 Mit der Exposition des Begriffs des Wissens, so ist nun zu sagen, ist die Position einer Transzendentalphilosophie von vorneherein eingenommen, und die Begründung der Naturphilosophie als einer zur Transzendentalphilosophie komplementären zweiten ›Grundwissenschaft‹ ist in der von Schelling beabsichtigten Weise unmöglich. Darüber hinaus ist nicht einzusehen, wie aus dem bloßen Begriff des Wissens die Unterscheidung der Gegenstände bzw. Gegenstandsbereiche dieser beiden philosophischen Disziplinen begründet werden könnte. Der Umfang dessen, was Schelling in seiner einleitenden Erklärung des Begriffs des Wissens ›Gegenstände‹ bzw. ›das Objektive‹ nennt, umfaßt alles, auf das sich ein wahrer Gedanke beziehen kann. Das ist jedoch mehr als das, was Schelling ›Natur‹ nennt; auch die Tatsachen der Transzendentalphilosophie sind hierzu zu zählen, andernfalls würde die Transzendentalphilosophie weder Gegenstände, die als Tatsachen anzusprechen wären, noch wahre Aussagen über sie enthalten können, was Schelling schwerlich zuzugeben bereit wäre. Es trifft also nicht zu, was Schelling im direkten Anschluß an die eingangs zitierte Erklärung des Begriffs des Wissens hinsichtlich des Bereichs der Natur ausführt, daß
sich seyn, und in sich seyn […]. Dieses Fürsichseyn eben ist der lebendige Lichtzustand, und die Quelle aller Erscheinungen im Lichte, das absolute substantielle innere Sehen, schlechthin als solches.« (GA II/6, 149) 7 Schelling, AA 9,1, 30. 8 A. a. O., 31.
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der »Inbegriff alles bloß Objektiven in unserem Wissen Natur«9 zu nennen sei. 3. Fichtes Skizzen eines zu Schelling alternativen Entwurfs der Naturphilosophie, die sich in einer auffallenden Nähe zu Kants Philosophie der Natur in der Kritik der Urteilskraft halten, indem Fichte die Produktivität der Natur als ein »durch Denken hineingetragenes Analogon unserer Selbstbestimmung«10 zu deuten sucht, können hier nicht weiter verfolgt werden. Ich möchte mich vielmehr einem zweiten von Schelling in Vorschlag gebrachten methodischen Verfahren zuwenden, mit dem das Verhältnis von Natur- und Transzendentalphilosophie nun im Ausgang von dem Sachverhalt des Selbstbewußtseins begründet werden soll. Dieses Verfahren hat Schelling in dem umfangreichen und systematisch gehaltvollen Brief an Fichte vom 19. November 1800 skizziert.11 Mit diesem Brief suchte Schelling sich soweit wie möglich an Fichte anzunähern und auf diese Weise sein Programm der Komplementarität von theoretischer Philosophie und Naturphilosophie zu empfehlen, ohne die bestehenden Differenzen zu leugnen oder zu mindern. Das vorgeschlagene Verfahren ist ein Verfahren der Abstraktion. Es soll sich unter Voraussetzung der Definition des Wissens als einer SubjektObjekt-Einheit auf die subjektive Tätigkeit beziehen, die Bedingung des Selbstbewußtseins ist. Die Funktion dieser Tätigkeit des Subjekts sieht Schelling darin, daß das Subjekt die in der Definition des Begriffs des Wissens namhaft gemachte Subjekt-Objekt-Einheit auf sich selbst bezieht und mit sich identifiziert. Dadurch entsteht für Schelling der Gedanke ›Ich‹. Der Gedanke ›Ich‹ hat demnach eine komplexe Struktur, in der mindestens drei Momente zu unterscheiden sind. Ihm entspricht das Bewußtsein eines Subjekts, 1. daß es sich auf ein Objekt bezieht; 2. daß es in dieser Beziehung zugleich ein Bewußtsein davon hat, daß das Objekt, auf das es sich bezieht, eine Subjekt-Objekt-Einheit repräsentiert; schließlich 3. daß diese Einheit mit der von ihm als Subjekt geleisteten Beziehung auf sie formal identisch ist. Das meint Schellings Rede von einer »subjektiven, (anschauenden) Tätigkeit, welche das Subjekt-Objekt im Selbstbewußtsein als identisch mit sich setzt, durch welches identisch Setzen dieses eben 9 10 11
A. a. O., 29. Fichte, GA III/4, 404 f. Schelling-Fichte-Briefwechsel, 182 ff.
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erst – Ich wird«.12 Selbstbewußtsein, das ist offenbar die Pointe, konstituiert sich dadurch, daß ein Subjekt die im Begriff des Wissens enthaltene Form der Subjekt-Objekt-Einheit auf sich selbst bezieht und mit sich identifiziert. Ob dies eine zutreffende Beschreibung des Zustandekommens von Selbstbewußtsein ist, mag bezweifelt werden; im vorliegenden Zusammenhang ist indessen der folgende Schritt von Bedeutung. Von der soeben beschriebenen Identifikationsleistung, durch die Selbstbewußtsein entstehen soll, soll Schelling zufolge abstrahiert werden in der Absicht, zu dem Begriff einer bloß objektiven Subjekt-Objekt-Einheit zu gelangen, die das Prinzip der Naturphilosophie darstellen soll. Eine solche Abstraktion kann jedoch sinnvoll gar nicht vorgenommen werden. Sie wäre dann sinnvoll, wenn das, von dem abstrahiert wird, kein notwendiges Bestandstück des infrage stehenden Begriffs ist; andernfalls würde der ganze Begriff aufgehoben. Nun ist im Begriff des Selbstbewußtseins Schelling zufolge aber ein notwendiges Verhältnis zwischen dem Akt der Identifikation und jener Subjekt-Objekt-Einheit gedacht, denn nur aufgrund dieser Identifikation kommt in der Sicht Schellings Selbstbewußtsein zustande. Selbstbewußtsein, so ist daher genauer zu sagen, besteht allein im Akt einer solchen Identifikation. Wird daher dieser Akt aufgehoben, und genau das fordert Schelling mit dem Verfahren der Abstraktion, wird der Begriff des Selbstbewußtseins aufgehoben, auf den Schelling die Transzendentalphilosophie zu gründen sucht. Im Sonnenklaren Bericht bemerkt Fichte, offenkundig an die Adresse Schellings gerichtet, daß auf diese Weise »das absolut Untrennbare«13 getrennt werde. Genau deswegen ist die Abstraktion nicht zulässig. Unabhängig davon ist zu fragen, ob Schellings Begriff einer bloß objektiven Subjekt-Objekt-Einheit mit Bezug auf den immer noch leitenden Begriff des Wissens überhaupt ein sinnvoller Begriff ist. Auch hier muß die Antwort negativ ausfallen. Mit Bezug auf den Begriff des Wissens läßt sich gar nicht von einer solchen bloß objektiven Einheit eines Subjektiven und Objektiven sprechen. Dies ist deswegen nicht möglich, weil der Begriff des Wissens, wie gezeigt, notwendig das subjektive Moment impliziert, das für die Konstitution jener Einheit des Wissens verantwort-
12
A. a. O., 184. »[…] auch der gemeine Menschenverstand […] hat immer Bewußtseyn und Ding zusammen, und redet immer von der Vereinigung beider. Nur das philosophische System des Dualismus findet es anders, indem es das absolut untrennbare trennt, und recht scharf und gründlich zu denken glaubt, nachdem ihm alles Denken ausgegangen« (GA I/7, 251). 13
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lich ist. Daher kann von ihm gar nicht abstrahiert werden, wenn nicht der Begriff des Wissens selber aufgehoben werden soll. So führt das Verfahren der Abstraktion am Ende in eine widersprüchliche Situation, die mit dem Konstrukt einer objektiven Subjekt-Objekt-Einheit gegeben ist.
4. Wie eine Antwort auf diese Kritik erscheint es, wenn Schelling in der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 das Prinzip der Philosophie, das nun explizit als »das Absolute«14 bezeichnet wird, als eine unbedingte Einheit begreift, in der die Momente des Subjektiven und Objektiven auf eine unmittelbare, nicht reflektierte und analytisch nicht zu unterscheidende Weise verbunden sind. Diese Einheit nennt Schelling »absolute Vernunft oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.«15 Schellings neue Formel von der Indifferenz des Subjektiven und Objektiven sucht offenkundig die Transzendenz des Absoluten gegenüber allen Relationen zum Ausdruck zu bringen, die mit dem Begriff des Wissens und der Beziehung des Wissens auf Gegenstände verbunden sind, einschließlich der Reflexionsform des Selbstbewußtseins. Schellings absolute Vernunft meint daher nicht die Leistung eines epistemischen Subjekts, ein Subjektives, das als solches zum Gegenstand einer philosophischen Theorie und damit seinerseits zu einem Objektiven gemacht werden könnte. Der Begriff einer absoluten Vernunft meint das unhintergehbar letzte, unbedingte und nicht objektivierbare Prinzip allen Seins und Geltens, das allem, was ist und allem Geltungsansprüchen invariant zugrunde liegt. Von Interesse ist nun nicht nur die Art und Weise, in der Schelling den Status der so gefaßten absoluten Vernunft darstellt, besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, daß Schelling sich hierbei des Satzes der Identität bedient und damit die Assoziation an die Fichtesche Wissenschaftslehre und das Verhältnis des Satzes der Identität zum Satz Ich bin aufruft, und dies offenkundig in Fichte-kritischer Absicht. Dieser Provokation hat sich Fichte gestellt. In einem ebenso sachlichen wie scharfsinnigen Kommentar hat sich Fichte über Schellings neue Konzeption der Philosophie zu verständigen gesucht. Er ist seit der Veröffentlichung von Immanuel Hermann Fichte in Band 11 der ›Nachgelassenen 14 15
Schelling, AA 10, 117. A. a. O., 116.
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Werke‹ im Jahre 1835 bekannt, wenngleich in seinem argumentativen Gehalt nicht hinreichend erkannt.16 Hinzu kommt ein kurzes Nachlaßmanuskript Vorarbeiten gegen Schelling.17 In diesen Texten wird der Streit ums Absolute am intensivsten und gehaltvollsten ausgetragen. Versucht man, sich über die Position der Kontrahenten und insbesondere über Fichtes methodische Strategie, die seiner Analyse und Kritik der Position Schellings zugrunde liegt, zu verständigen, dann ist das Folgende zu sagen: Fichte sucht sich nicht nur über den Gehalt des Schellingschen Absoluten Klarheit zu verschaffen; er sucht auch über den argumentationslogischen Status und Zusammenhang der Schellingschen Thesen zur Klarheit zu kommen. Das Ergebnis dieser Analysen – ich beschränke mich auf Fichtes Kommentar zu den ersten 9 Paragraphen, die dem Zusammenhang von Vernunft und Identität gewidmet sind –, lautet: Die Existenz einer absoluten Vernunft, ihr Sein, ist von Schelling nicht bewiesen worden. Welche Gründe kann Fichte hierfür anführen? Es lassen sich mehrere Argumentationsgänge unterscheiden. Ein erster betrifft Schellings Exposition des Prinzips einer absoluten Vernunft. Die kritische These lautet hier, daß Schelling die absolute Vernunft in Wahrheit doch als etwas Objektives bzw. Objektiviertes in Ansatz bringt. Die zweite kritische These bezieht sich auf die Rolle und die Bedeutung, die Schelling dem Satz der Identität zuweist. Während Schelling ihn als ein ontologisches Prinzip versteht, durch das das Sein der Identität gesetzt werde, mißt Fichte ihm nur die Rolle eines formalen Gesetzes zu, und unter Schellings Rede von einem Sein der Identität kann in der Sicht Fichtes gar nichts anderes als die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes verstanden werden. Die dritte kritische These schließlich richtet sich gegen Schellings Anwendung des als Seinsprinzip verstandenen Satzes der Identität auf die absolute Vernunft, aus der das Sein der Vernunft gefolgert werden soll. Dem gegenüber kann Fichte zufolge nur gezeigt werden, daß die absolute Vernunft unter das Gesetz der Identität falle. Der entscheidende Satz Schellings, daß »das Sein […] ebenso zum Wesen der Vernunft als zu dem der absoluten Identität«18 gehöre, ist in Fichtes Sicht nicht nur erschlichen, sondern unsinnig. Ich möchte im folgenden zeigen, daß man Fichte in der Tat zustimmen muß.
16
Johann Gottlieb Fichte: Nachgelassene Werke. Band 11. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. Bonn 1835, 371 ff. 17 Fichte, GA II/5, 483 ff. 18 Schelling, AA 10, 120.
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5. Schellings Konzept einer absoluten Vernunft erhält seine Plausibilität durch eine Überlegung, die sich in Schellings Text mehr angedeutet als expliziert findet. Ausgehend von der auch hier noch in Geltung stehenden Grundrelation des Wissens als Verhältnis eines Subjektiven und Objektiven ist es Schellings Gedanke, daß es ein Prinzip geben muß, aus dem diese Relation begriffen werden kann und das daher von beiden Relaten unterschieden und insofern ihnen gegenüber indifferent sein muß. Es ist, so drückt es Schelling aus, das, »was sich in der Philosophie zwischen Subjektives und Objektives stellt, und was offenbar ein gegen beide indifferent sich Verhaltendes sein muß«.19 Die metaphorische Wendung einer ›Position zwischen Subjektivem und Objektivem‹ hat ihren rationalen Gehalt somit in dem Gedanken eines Ordnungsprinzips, das dem Zusammenhang der Relate des Subjektiven und Objektiven zugrunde liegt und daher selber nicht ein intern oder extern relationaler Sachverhalt sein kann. Mehr ist Schellings diesbezüglichen Erläuterungen nicht zu entnehmen. Genau dagegen wendet sich Fichtes erstes kritisches Argument. Es wendet sich präziser gegen Schellings Beschreibung des Zugangs zu jenem Vernunftprinzip. Es verdankt sich nämlich, so Schelling, einer »Reflexion auf das, was sich in der Philosophie zwischen Subjekt und Objekt stellt«.20 Es ist offenbar eine methodisch motivierte, aus dem Programm einer philosophischen Letztbegründung abzuleitende Reflexion, die zu dem, was Schelling »das Denken der Vernunft«21 nennt, führt. Auf diese Weise aber wird es doch, so Fichte, »ein Objektives« und »ein Bewusstes«22 für die Reflexion. Eine solche vorausgesetzte Reflexion, für die die Vernunft ein Objekt ist, widerspricht jedoch der im Begriff der Vernunft als Prinzip allen Wissens enthaltenen immanenten Reflexivität. Schellings Prinzip eines Monismus der Vernunft erscheint so als »Polyphem ohne Auge«,23 d. h. als eine Vernunft, die sich selbst nicht sieht. Dem stellt Fichte sein Konzept einer »wahren intellektuellen Anschauung« entgegen, in der in einem ursprünglichen Akt »Reflexion (Subjektives) u. Projection des Wissens unzertrennlich« sind. Daher kann sie als »in sich selbst immanentes
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A. a. O., 116. Ebd. Ebd. Fichte, GA II/5, 483. A. a. O., 484.
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Licht«24 beschrieben werden, eine Evidenz, die ihr Licht gleichsam nicht von außen empfängt, sondern in und aus sich selbst hat. Um die Darstellung und Klärung dieses Ansatzes hat Fichte sich noch einmal in dem Fragment gebliebenen Manuskript Zur neuen Bearbeitung der W.L. von 1800 und sodann im großen Stil in der erwähnten Wissenschaftslehre von 1801/02 unter dem Begriff des absoluten Wissens bemüht. Die Pointe dieser hier nicht auszubreitenden Analyse ist es, daß das absolute Wissen aufgrund seiner eigenen immanenten Reflexivität ein in sich nicht reflektiertes Sein, dessen Darstellung es ist, sich voraussetzt.25 Fichtes erstes kritisches Argument läßt sich somit dahingehend zusammenfassen, daß die Vernunft in ihrer Funktion als letztbegründendes Prinzip allen Seins und Geltens kein Objekt einer äußeren Reflexion sein kann. Die Vernunft ist vielmehr eine unbedingte, gleichsam performativ sich realisierende Aktivität, in der deren Wirklichkeit und das Wissen von dieser Wirklichkeit unmittelbar verbunden sind. Diesen ›Grundreflex‹, wie Fichte es ausdrückt, hat Schelling in der Sicht Fichtes nicht begriffen. Aus dem Monismus der Vernunft folgt ihre Einzigkeit, die Schelling als eine absolute, numerische und qualitative Identität beschreibt: »Die Vernunft ist Eine (nicht nur ad extra, sondern auch ad intra, oder) in sich selbst, d. h. sie ist sich selbst schlechthin gleich.«26 Diese Qualität drückt der Satz der Identität »A = A« aus.27 Entscheidend ist die Interpretation, die Schelling diesem Satz erteilt. Mit der an Fichte erinnernden Erklärung, daß mit dem Satz der Identität nicht die Existenz eines Gegenstandes, für den das Symbol A steht, behauptet wird, verbindet Schelling eine weitere These. Sie besagt, daß »das einzige Sein, was durch diesen Satz gesetzt wird, das [Sein] der Identität selbst, [ist], welche daher von dem A als Subjekt und von dem A als Prädikat völlig unabhängig gesetzt wird«.28 Diese These, so Schelling, folgt unmittelbar aus der ersten Erklärung; denn da nicht das Sein des Gegenstandes gesetzt werde, auf den
24
Ebd. Vgl. hierzu v. Verf.: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Seine Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986, 298 ff. sowie v. Verf.: Zum Theorem der Selbstvernichtung des absoluten Wissens in Fichtes Wissenschaftslehre von 1801, in: Die Spätphilosophie Fichtes. Fichte-Studien 17. Amsterdam/Atlanta 2000, 127–140. 26 Schelling, AA 10, 118. 27 Ebd. 28 A. a. O., 119. 25
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sich die Verbindung der beiden A’s bezieht, sei das Einzige, was eigentlich gesetzt werde, »die absolute Identität selbst«.29 Davon kann jedoch keine Rede sein. Der Satz der Identität drückt nichts anderes als eine notwendige formale Relation aus. Daraus kann nicht auf die Existenz eines Gegenstandes, genannt ›absolute Identität‹, geschlossen werden, wie Schelling es tut. Und genau das ist Fichtes zweites kritisches Argument: »Soll unter Sein der Identität weiter nichts verstanden werden, als die unbedingte Gültigkeit dieses Gesetzes […], so ist obiger Satz zuzugeben«.30 Dem Satz der Identität aber, wie Schelling es offenbar tut, »irgendwie ein Sein zuzuschreiben oder zu behaupten, die Identität existiere (objektiv doch wohl), […] hat […] gar kein Sinn: es sind logische Formen, die als solche zu objektiver Existenz zu erheben rein sinnlos ist«.31 Dem wird man nur zustimmen können. Der dritte Schritt betrifft Schellings Identifizierung von absoluter Vernunft mit der als Sein gedachten absoluten Identität: »Die Vernunft ist Eins mit der absoluten Identität.«32 Dieser Satz erhält seine Bedeutung aus seiner systematischen Funktion: Er soll die Existenz der absoluten Vernunft beweisen. Schellings Beweis geht von der Prämisse aus, daß der Satz der Identität Ausdruck des Wesens der Vernunft ist. Durch den Satz der Identität ist, wie Schelling weiter annimmt, das Sein der Identität selber gesetzt. Daraus folgt, daß es zum Wesen der absoluten Identität gehört zu sein. Da nun die Identität das Wesen der absoluten Vernunft ausmacht, die Identität selber aber als Sein bestimmt ist, muß die Vernunft nicht nur hinsichtlich ihres Wesens, sondern auch dem Sein nach mit der absoluten Identität identisch sein. Daher gehört »das Sein ebenso zum Wesen der Vernunft als zu dem der absoluten Identität«.33 Auch diese Argumentation geht fehl. Aus dem Umstand, daß die Vernunft mit sich identisch ist, folgt nicht das Sein der Vernunft. Die Vernunft steht hier offenbar für das A in dem Satz A = A; aus der bloßen Anwendung des Identitätssatzes auf den Begriff der Vernunft folgt aber nicht, daß die Vernunft selber als Gegenstand existiert. Genau das ist das Fazit, zu dem Fichte kommt: »das Sein [der Identität], wenn dieser Ausdruck überhaupt Sinn haben soll, kann daher nichts Anderes bedeuten, denn die Absolutheit, Unbedingtheit, Gemeingültigkeit jenes Gesetzes. Die ab-
29 30 31 32 33
Ebd. Fichte, GA II/5, 490. A. a. O., 495. Schelling, AA 10, 120. Ebd.
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solute Vernunft sei Eines mit dieser Identität kann abermals nur heißen: sie fällt unter dieses Gesetz, ist darunter zu subsumieren, wie jedes Existirende überhaupt.«34 Doch kann die Existenz der Vernunft auf diese Weise eben nicht bewiesen werden. Damit ist ein Fazit hinsichtlich der von Schelling bis hierher vorgelegten Argumentation zu ziehen: »Bis jetzt steht daher die Sache also: die absolute Vernunft geht auf in dem Gesetze der absoluten Identität, ein anderes Gesetz, eine andere Bestimmung paßt schlechthin nicht für sie, weil diese schon in die Differenz fallen würde. Nur so viel ist klar. Klar aber ist zugleich auch, daß der Verfasser implicite damit hat erschleichen wollen den Satz: Zum Wesen der absoluten Vernunft gehöre das Sein; der aber weder auf diese Weise erwiesen werden kann; noch kann überhaupt von irgend Etwas ausgesagt werden, daß sein Wesen (Begriff) schon das Sein involvire. «35 Schellings System der Philosophie quasi more geometrico demonstrata erweist sich somit schon in seinen ersten Schritten als eine Folge von Fehlschlüssen. So also steht die Sache zwischen Fichte und Schelling im Streit um das Absolute.
34 35
Fichte, GA II/5, 491. A. a. O., 491 f.
Thomas Kisser Unbestimmtheit und Unbedingtheit. Einige Anmerkungen zu Fichtes Kritik an Schelling um 1800 und der Entwicklung des Schellingschen Denkens 1. Unbestimmtheit und Unbedingtheit als Momente offener Systeme Man kann die Gegensätze und die argumentative Auseinandersetzung zwischen den Philosophien des nachkantischen idealistischen Denkens suchen, man kann aber auch die Gemeinsamkeiten und so etwas wie eine theoriegeschichtliche Situation suchen. Ist man auf letzteres aus, so wird man wohl mit der einheitlichen Frontstellung Schellings, Fichtes und Hegels gegenüber dem vorkantischen Denken und ihrem Streben nach einer Vertiefung der kantischen Position beginnen und die Frage stellen, wie weit diese Positionierungen den ja durchaus unterschiedlichen Denkweg der Protagonisten des nachkantischen Systemdenkens trägt und so vergleichbar macht. Im folgenden soll eine solche gemeinsame Problematik der nachkantischen Philosophie unter den Leitbegriffen ›Unbestimmtheit‹ und ›Unbedingtheit‹ skizziert werden. Dabei soll die Historisierung, die sich durch eine solche Fragestellung zwangsläufig ergibt, mit der Frage nach der Modernität dieser Denker verbunden werden. So könnte eine Aktualität des Deutschen Idealismus, die nicht mehr selbstverständlich angenommen werden kann, sichtbar werden. Der Maßstab der Unbedingtheit, der – eben absoluten – Rolle des Absoluten in den nachkantischen Systemphilosophien hat oft zu der Kritik Anlaß gegeben, man habe es hier mit abstrakten und geschlossenen Gedankengebäuden zu tun, die sich jenseits der konkreten Welt placierten und eher zur Mißachtung und zum Unheil des Konkreten führten, gar zum Totalitären tendierten. Doch geht es in diesen Systemen nicht gerade darum, das äußerliche Verhältnis von Konkretem und Denken zu vermeiden und das Denken selbst konkret, d. h. bestimmt werden zu lassen? Eine solche Konkretisierung und Formbildung bedeutet dabei immer eine Einbeziehung und einen Kontakt mit dem Unkonkreten und Formlosen und es ist dieser Kontakt, der Systeme zu offenen Systemen macht und die Theorien in der Modernität situiert. Lassen sich Fichtes wie Schellings Denken unter diesem Konzept fassen?
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2. Das nachkantische Denken und die Frage des offenen Systems Man kann die epochale Leistung Kants so charakterisieren, daß er dem Konzept der Existenz eine neue Bedeutung verleiht. Existenz ist nicht rückführbar auf das Denken, sondern ist allein der unmittelbaren Erfahrung in der Empfindung zugänglich. Das Konzept des Seins spaltet sich in Folge dessen auf in die Denkkategorie des Seins, die modal gesehen in die Möglichkeit fällt und nur noch hypothetisch gilt, und die Existenz, die faktisch erfahren werden muß und nicht erschlossen werden kann. Prominentes Opfer dieser Konzeption ist der Begriff Gottes, genauer gesagt, der Beweis seiner Existenz, Beginn und Ausgangspunkt des traditionellen Systemdenkens. Ein Text der leibnizianischen Tradition wie Wolffs Deutsche Metaphysik oder Erste Philosophie oder Ontologie1, in dem das Sein zum Ausgangspunkt der Philosophie gemacht wird und die Grundsätze des ausgeschlossenen Nicht-Widerspruchs, der Identität und des ausgeschlossenen Dritten sowie des zureichenden Grundes als analytische Momente des Seins als solchen in fragloser Gültigkeit entwickelt werden, und mit ihm eine ganze Tradition des Philosophierens, verliert damit seine Akzeptanz. Diese Erneuerung der Philosophie, vielleicht muß man sagen, der Rationalität überhaupt, wird in den Jenaer Texten Fichtes expliziert und als Abschied vom Sein propagiert, den auch alle bedeutenden Konkurrenten Fichtes mitmachen. Im Bruch mit der Tradition »abstrahiert« nun das Subjekt, wie Fichte sagt, in der philosophischen Untersuchung »selbst von allem Seyn«,2 denn, so Friedrich Schlegel, das »Denken geht immer über das Seyn hinaus«,3 das Subjekt ist also, so Schelling »nicht eine
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Vgl. Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie nach wissenschaftlicher Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind. Hrsg. v. Dirk Effertz. Hamburg 2005, §§ 1–78. 2 Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl; hier Abt. I, Band 4 (1970), 211. Der Satz bezieht sich auf das Beginnen der philosophischen Untersuchung, in dem das Sein eben nicht mehr zum Ausgangspunkt der Untersuchung genommen, sondern dispensiert wird. 3 Friedrich Schlegel: Zur Philosophie (1805), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Abt. II, Band 19. Hrsg. v. Ernst Behler. Wien u. a. 1971, 39–80, hier 50, Nr. 83.
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Art des Seyns«,4 und verliert daher, so Hegel, »das Prädikat alles realen Seins«.5 Ein radikaler Neuanfang des Philosophierens, wie ihn die Protagonisten der seinerzeit sogenannten neuesten Philosophie proklamieren, – und der schon insofern auf Unbedingtheit ausgeht –, bringt notwendig eine Unbestimmtheit ins Spiel, die einerseits als Implikation der Proklamation der Unabhängigkeit von dem Vorgegebenen auftritt, die aber andererseits auch als Ressource der Unbedingtheit, so die These der kurzen folgenden Ausführungen, in der Theorie ihren bleibenden Ort finden muß. Unbestimmtheit kann nicht nur, etwa im Sinne der Widerlegung der Skepsis, als Phase auftauchen, sondern muß als beständige Form konzipiert werden. Unbedingtheit bereits im Sinne stabiler Vollzüge eines Subjektes oder Systems zu denken, erfordert es notwendig, eine Unbestimmtheit im Sinne einer inneren Bedingtheit zu setzen, die einerseits eben diese Bedingtheit im Sinne einer Offenheit zuläßt, andererseits aber auch eine Annahme, ein strukturelles Verständnis dessen, was im Offenen zugelassen wird, des Anderen im Selbst, erlaubt. Damit erst läßt sich ein Verständnis von Kontingenz, Potentialität und Kreativität gewinnen, das die Moderne auszeichnet. Das klassische Denken des Seins, das immer schon die Bestimmung kennt, kann Potentialität letztlich nur als eine Art Verhindertheit oder Fehlen an Wirklichkeit denken. Demgegenüber ist die Potentialität für die Moderne eine wirkliche Offenheit, die subjektiv sicher auch mit einem Mangel zu tun hat, dessen Erfüllung aber nicht schon präfiguriert ist, sondern sich der Eigenlogik einer offenen Geschichtlichkeit überläßt. Will man in dieser Bewegung nicht in einen naiven Realismus fallen, muß die Offenheit dabei eine sozusagen innere Form annehmen, die in sich wiederum das Verhältnis von Form und Nicht-Form regelt. Unbestimmtheit gibt es nicht einfach in der Welt, sie ist das Ergebnis einer Selbstpositionierung des Subjektes oder, wo sich dieses reflektierend äußert, der Theorie. So versteht sich auch, jenseits jedes psychologischen Verständnisses dieser Worte, das Denken selbst als Tätigkeit dabei neu. 4
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus. Tübingen 1800, 28; ders.: System des transscendentalen Idealismus, in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. Hermann Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Im folgenden zitiert als »AA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier I/9,1 (2005), 46. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg v. Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont. Philosophische Bibliothek 414. Hamburg 1988, 387.
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Das klassische Denken formiert sich als Denken des Seins als Substanz. Mit der Selbst-Verständlichkeit des Seins im klassischen Denken sind auch seine Strukturmomente oder seine Axiomatik, der Satz der Identität, des Nicht-Widerspruches und des ausgeschlossenen Dritten gegeben. Das Prinzip des zureichenden Grundes bürgt wiederum dafür, daß diese Einheit der Prinzipien auch für das endliche Wesen gilt. Daher begreift sich das Denken selbst hier als Akzidens oder Wirkung des Seins und es geht demzufolge darauf aus, seine Medialität als bloße Zeichenform zu verstehen und sich in der Erreichung der Objektivität des Seins als eigenständige Bewegung unsichtbar zu machen. In diesem Sinne begreift sich etwa das Bewußtsein bei Leibniz nicht nur als inhaltlich völlig durchbestimmt im Sinne der notio completa, sondern die Form des Bewußtseins selbst ist nur in Funktion dieses durchbestimmten Inhaltes.6 Es gibt keine Überschüssigkeit des Bewußtseins als Form, keine prinzipielle und vorgängige Differenz von Subjekt und Welt, wie sie im Laufe des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen kulturellen und existentiellen Verhaltensweisen hervortritt und die anzeigen, daß das Subjekt nicht mehr inhaltlich gebunden werden kann, sondern sich gegenüber allen inhaltlichen und fixierten Bestimmungen als ein Überschuß oder Überragen zeigt. In dieser Formierung geht die Subjektivität über das Rationalitätskontinuum im Sinne einer inhaltlichen Durchbestimmtheit hinaus und wird nicht mehr nur oder gar nicht mehr primär durch die Rationalität bestimmt. Und bei aller Notwendigkeit historischer Differenzierungen wird man sagen können, daß die klassische Konzeption des Seins und das damit verbundene Rationalitätskontinuum, vor der Kantischen Theorie des Erkennens, des Handelns und der Zusprechung von Zweckmäßigkeit als synthetischen Operationen einerseits, und dem so genannten salto mortale Jacobis in das
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Signifikanterweise verbleibt die Erkenntnistheorie bei Leibniz ganz im Zeichen der eingeborenen Ideen, idées innées. (Vgl. dazu das erste Buch der Nouveaux Essais.) Zur Durchbestimmtheit des Bewußtseins und der Unabtrennbarkeit von Form und Materie im Sinne einer Gegebenheit vgl. u. a. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 1. Hrsg. v. Birgit Recki. Hamburg 1998, 315 ff. Zu einer transzendentalphilosophischen Kritik an Leibniz vgl. Klaus Kaehler: Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz. Hamburg 1979. Zur Kritik an Spinoza, dessen Modi ebenfalls ganz durchbestimmt sind und der auch in seiner Methode des mos geometricus das Rationalitätskontinuum voraussetzt, vgl. v. Verf.: Vom Sein der Idee zur Idee des Seins. Die Konzeption der Erkenntnis und der Versuch der Selbstbegründung der Metaphysik bei Spinoza, in: Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas. FS Manfred Walther. Hrsg. v. Michael Czelinski, Verf., Robert Schnepf u. a. Würzburg 2003, 18–31.
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Jenseits geschlossener Denksysteme andererseits, im deutschen Sprachraum nicht in systematischer Weise kritisiert wurde.7 In den nachkantischen Philosophien versteht sich das Denken so explizit nicht mehr als identifikatorischer Nachvollzug eines vorgegebenen Seins, sondern als Setzung und Konstruktion, in der die Eigenwertigkeit und Kreativität, die Dimension des Denkens als Vollzug überhaupt erst auftaucht. Nimmt man nun den Vollzug des Denkens oder Setzens selbst ernst, gewinnen die medialen Bedingungen des Seins, mit Kant gesprochen die Formen des Erscheinens, eine neue Bedeutung, bzw. werden in ihrer Bedeutung erst erkannt.8 Auf sie beziehen sich, so der Gedankengang der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, unsere Begriffe und allein in dieser Beziehung, die von einer – in sich widersprüchlichen – Beziehung auf Dinge an sich unterschieden werden muß, wird die Wahrheit unserer Begriffe denkbar. In diesen Formen muß nun der Gehalt der traditionellen Metaphysik neu gerahmt und angeeignet werden. Damit ergibt sich das Thema der Identität und die eigentliche Dramatik der Darstellung neu. Denn die Sache erscheint nur in der medialen Gebrochenheit, die Identität erscheint nur in der Differenz und dies gilt auch für die Subjektivität selbst, das Überragen zeigt sich auch im und als Selbstverhältnis. Das Bewußtsein ist also darauf verwiesen, nicht nur überhaupt, sondern auch sich selbst in der Differenz zu erkennen. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Einerseits muß das Subjekt als offene Form verstanden werden; Form ist daher nicht mehr, wie im klassischen Denken, ein Festes, das Materie prägt, sondern wird als Form des Subjektes, als Anschauungsform und als Begriffsform, Ort der Genese von Bestimmtheit aus Unbestimmtheit, das Werden eines individuellen Lebens. Andererseits steht aber die Konstruktion des Subjektes als offene Form selbst in der Spannung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Die Konstruktion, d. h. die Philosophie selbst, geht mit ihrem Gegenstand, dem Bewußtsein von sich selbst und Anderem als ihrem eigenen Anfang, einen unvermeidlichen Zirkel ein. Neben und über die einfache, sozusagen zweiwer7
Würde man diese Behauptung nicht auf den deutschen Sprachraum beschränken, müßte man zumindest Descartes und Rousseau in die Diskussion bringen, was hier aber nicht der Sinn der Untersuchung ist. 8 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt. Hamburg 1956, B 197: »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.«
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tige Beziehung zum Gegenstand von wahr oder nicht-wahr, tritt nun eine Konstruktion übergegensätzlicher Einheit, in der die Erscheinung in der Differenz akzeptiert wird und das Selbstbewußtsein sich selbst als Produktivität zu erkennen und zu situieren vermag. Als Konstruieren und Realisieren dieser Verhältnisse wird die Reflexion selbst offene Form, die sich nur mehr in sich selbst stützt. Es ergibt sich so, wie von allen Beteiligten auch bemerkt, eine Bodenlosigkeit des Denkens, die vor allem in der Problematisierung der Gottesbeweise und in der Iterationsproblematik des Selbstbewußtseins offen wird, und auf die die verschiedenen Theorien unterschiedlich antworten. Die unterschiedlichen Begründungen des Selbstbewußtseins müssen in der Folge dieses Problems über sich als Formen oder Tätigkeiten des Selbstbewußtseins hinausgehen und sehen sich dadurch erneut mit der Frage des Seins konfrontiert. Dabei nimmt das Sein den Charakter der Übergegensätzlichkeit oder aktualen Unendlichkeit an und bildet den eigentlichen Bezugspunkt der Reflexion. Die Formen des Erscheinens müssen nun als Formen des Erscheinens des Absoluten verstanden werden, dem gegenüber nur Spiegelung, Aufzuhebendes oder zu Vernichtendes ist, so ebenfalls die allen gemeinsame Rhetorik gegenüber dem Endlichen als solchem. Dabei taucht die Unendlichkeit aber auch als Entzug auf. Die Unendlichkeit bildet zwar die Voraussetzung jeder konkreten Form, entzieht sich aber als solche jedem Zugriff und bleibt so weiterhin Voraussetzung jedes Zugriffes. Die Welt selbst und als ganze zeigt sich nur noch als Nicht-Form, und nimmt als Hintergrund jeder bestimmenden Tätigkeit Horizontcharakter an. Hier schließt sich der Kreis ohne geschlossen zu werden. In der Unbestimmtheit von Welt und Wirklichkeit zeigt sich nun die Möglichkeit des jederzeitigen Anfangens, von der die Theorie selbst als Vollzug her lebt. In dieser Abschluß- und Nichtabschlußfigur zeigt sich die Differenz von Grund und Beginnen gewahrt, in der Unverfügbarkeit des Grundes und der damit verbundenen durchaus gebrochenen Form der Subjektivität als Anfangenkönnens zeigen sich die verschiedenen Systeme der klassischen deutschen Philosophie ihrer Intention nach als offene Systeme, und der Streit der Beteiligten geht im Grunde um die Formulierung und Einlösung dieses Anspruches. Hermeneutisch gesehen stellt sich nun die Aufgabe, diese Konzeption in den einzelnen Theorien wiederzufinden. Es ist nun offenkundig, daß der Begriff des Seins von neuem zum Kernpunkt der Auseinandersetzungen der Protagonisten des nachkantischen Denkens wird. Die Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling dreht sich um den Begriff des Seins oder des Absoluten. Dabei kritisiert Fichte an Schelling, sowohl im Briefwechsel mit diesem, wie in seinen
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Aufzeichnungen bei der Lektüre der Darstellung meines Systems und an zahlreichen Stellen der Wissenschaftslehren einen – an Spinoza orientierten – Rückfall in das vorkritische und dogmatische Denken. In der Folge dessen sieht er bei Schelling eine prekäre Systemökonomie am Werk, gemäß der der Anfang beim Absoluten, wie Schelling ihn versteht, in sich stecken bleibt und keine weitere Entwicklungsmöglichkeit gibt, oder wie Fichte immer wieder zu bedenken gibt, in eine quantitative Teilung des Absoluten mündet.9 Schelling wiederum sieht – gerade umgekehrt – bei Fichte einen falschen Anfang, nämlich beim Subjekt als einem Bedingten, der keinen wirklichen Aufstieg zum Absoluten erlaubt, sondern immer nur in der Reihe der Bedingtheit fortgeht. Es scheint mir unzweifelhaft, daß beide Denker von diesen Kritiken des anderen zumindest in dem Sinne gelernt haben, daß sie ihren eigenen Ansatz weniger korrigiert, als konsequenter ausformuliert haben.10 So wird Fichte in seinen Wissenschaftslehren tatsächlich einen Neubeginn suchen, der mit dem Absoluten selbst einsetzt, und das Endliche von dort her definiert, während Schelling zunehmend – spätestens seit den Weltalterspekulationen – die Notwendigkeit sieht, eine Art Mangel oder Differenz in den Anfang selbst zu implementieren, der aus sich heraus einen produktiven Fortgang des Systems im Sinne einer Realisierung fordert und ergibt.
9 Vgl. zum Problem des Anfanges als Indifferenz in Schellings Darstellung meines Systems, aus dem sich nichts weiter entwickeln kann als durch eine verdeckte Inanspruchnahme des Empirischen, die nachgelassenen Manuskripte Fichtes [Zu Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie] in: GA II/5, 475–508. 487–489. Fichte selbst reklamiert hier für sich, ebenfalls den Beginn bei der Einheit von Subjekt und Objekt zu nehmen, ohne allerdings die Differenz zu verdrängen. Man wird also Fichte nach seinem eigenen Selbstverständnis keinen Beginn beim Subjektiven bescheinigen können. Vgl. zum Vorwurf der quantitativen Aufteilung des Absoluten den Brief an Schelling vom Oktober 1801 (GA III/5, 90–93) und an Johann Baptist Schad vom 29. 12. 1801 (a. a. O., 100–102). Zum Vorwurf Schellings an Fichte, das Absolute zu verfehlen und im Endlichen zu verbleiben vgl. den Brief vom 3. 10. 1801 (a. a. O., 80–90, v. a. 86 f.), sowie die Eingangsbemerkung zur Darstellung meines Systems der Philosophie. in: Zeitschrift für spekulative Physik 2/2 (1801), III–IX. Im folgenden zitiert als »Darstellung meines Systems«, mit Angabe der Seitenzahl. Vgl. AA I/10, 109–112. 10 Zu Fichtes Entwicklung in diesem Sinne vgl. u. a. Hartmut Traubs Kommentar in: Schelling-Fichte-Briefwechsel. Hrsg v. Hartmut Traub. Neuried 2001.
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3. Die Aporien des Selbstbewußtseins bei Fichte und Schelling Man hat den Akt, die Unbestimmtheit an den Anfang des Philosophierens zu setzen, als die eigentliche Modernität der Philosophie des Deutschen Idealismus bezeichnet.11 Erst in der Gesetztheit durch das Bewußtsein gewinnen die Prinzipien ihre Gültigkeit. Kann nun das Bewußtsein die Konstruktion der Wirklichkeit leisten und was ist mit der Konstruktion erreicht? In der Tat bedarf das ganze Grundset der Wirklichkeit als einer prinzipiell zugänglichen Welt gewisser Prinzipien. In dieser Beziehung setzen Kant und seine Nachfolger bekanntlich hohe Ansprüche. Wenn, wie es spätestens seit den diversen Jenaer Schriften Fichtes nach 1794 und der darum herum entstehenden Denkatmosphäre, die ja auch etwa Friedrich Schlegel oder Novalis umgreift, klar ist, daß die traditionelle Logik des Seins nicht mehr einfach affirmiert werden kann, entstehen neue Herausforderungen an das konstruierende Denken. Denn dieses setzt nun einen Nullpunkt, von dem aus eine theoretische und praktische Wirklichkeit aufgebaut werden soll. Der Ausgangspunkt im Sinne einer Konstruktionsaufgabe ist also eben der, daß es eine Wirklichkeit geben soll, daß sie erkennbar sein und das Leben in ihr eine Sinnerfahrung ermöglichen soll. Die Konstruktion ist dabei offensichtlich in zweifacher Hinsicht selbstbezüglich. Denn einerseits, wie Fichte und Schelling meinen, handelt es sich hier nicht nur um eine Konstruktion im klassischen Stil etwa des mos geometricus, sondern um eine Selbstkonstruktion, der der philosophische Beobachter zusieht: Die Wirklichkeitstüchtigkeit erschafft und erprobt sich sukzessive selbst. Und zum zweiten konstruiert sich in dieser Selbstkonstruktion dasjenige, was schließlich den Beobachter selbst in seinen Möglichkeitsbedingungen ergeben wird. So soll der philosophische Beobachter in die Selbstkonstruktion aufgenommen werden und sich in ihr wiedererkennen, so daß sich der Kreis schließt und wir wirklich ein System vor uns haben, bzw. uns in einem bewegen. In dieser sicher sehr formellen und differenzierungsbedürftigen Charakterisierung des Ganges des Denkens sind sich Fichte, Schelling und der Jenaer Hegel einig. Die Konstruktion des Erkennens beginnt nun im Unbestimmten und zeigt sich als eine Überführung von Unbestimmtem in Bestimmtes. Dabei 11
Vgl. Gotthard Günther: Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion, in: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Band I, Hamburg 1976, 31–75, hier 16. (In den fotomechanischen Reproduktionen der Aufsätze dieses Bandes folgen die Seiten der einzelnen Aufsätze der Originalpaginierung.)
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ist diese Überführung nicht ein für alle mal geschehen, sondern in der kategorialen Verfassung der Welt wird diese Transformation von Unbestimmtheit in Bestimmtheit selbst wiedergefunden und kann so mit dem Anfang der Konstruktion vereinbart werden. Die Welt zeigt sich selbst als eine Offenheit. Bekanntlich ist es dieser – moderne – Begriff der Welt als eines offenen, niemals vollständig objektivierbaren Ortes, der auch den Übergang Kants von der vorkritischen zur kritischen Philosophie begleitet und anleitet. Nur in einer solchen Unbestimmtheit wird das Handeln als freie Entscheidung möglich. Fichte formuliert in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801 den Weltbegriff so: »Zum Ganzen, sage ich, wie ist es denn nun aber zu einem Ganzen geworden, was noch in diesem Augenblike ein nie zu vollendendes Unendliches war: und da wir ohne Zweifel nicht geneigt seyn dürften unser Wort zurückzunehmen, wie bleibt es denn doch, neben seiner Totalität auch Unendlichkeit (Abermals eine wichtige, kaum bemerkte, geschweige gelös’te Schwierigkeit) Antwort. Ganzes wurde es ja sichtbar dadurch, daß das einzelne Wissen sich eben als ein geschloßnes Einzelne auffaßte, welches, da es Resultat einer Bestimmung durch andere seyn soll, doch nur einer geschloßnen Summe Resultat seyn kann (Diese Schlußart gilt ›durch‹) Unendliches bleibt es dabei, wenn diese Bestimmtheit nicht selbst eine der Bestimmtheit, sondern eben der Bestimmbarkeit ist, wie wir es ja also gesezt haben, woraus denn in derselben Rüksicht wiederum die Unendlichkeit des Ganzen folgt. [Am Rande: Das wirkliche Universum ist (allen seinen Gangarten nach) immer geschlossen u. vollendet, denn sonst käme es zu keinem vollendeten Theile, u. zu keinem Wissen – es zerflösse in sich selbst: der innere Stoff aber des Universum ist die gesezte Freiheit, und diese ist unendlich. Das geschloßne u. vollendete Universum trägt daher ein unendliches noch an sich, u. nur darin eben ist es geschlossen, daß es die Unendlichkeit trägt u. hält.]«12 Für Fichte ist so der Bereich des Aposteriorischen zwar durch seine apriorischen Formen definiert, aber in seinem Gehalt schlechthin offen und nicht deduzierbar. Das betrifft nun den Inhalt der Welt, das sozusagen als Nicht-Konstruiertes Konstruierte. Aber der Bereich des Apriorischen, der logischen Axiomatik und der Formen des Erkennens, der konstruktiv gewonnen wird, kann letztlich auch nur im Sinne eines Akzeptierens oder, wie Fichte sagt, Glaubens, begründet werden, der über ein Wissen im engeren Sinne hinausgeht. Diese Dynamik findet ihren stringenten Ausdruck in der populären Schrift Die 12
Johann Gottlieb Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/1802). Hrsg. v. Reinhard Lauth. Philosophische Bibliothek 302. Hamburg 21997, 147.
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Bestimmung des Menschen von 1800 aus.13 Denn nachdem im ersten Buch die herkömmliche Metaphysik des Seins kritisiert wurde und im zweiten Teil die konstruktive Natur unserer Erkenntnis der Außenwelt deutlich geworden ist, wird die Problematik dieser Struktur erkennbar: Läßt sich mit den Mitteln der Theorie mehr sagen als daß, wenn es eine Wirklichkeit gibt, diese eben so beschaffen sein müsse, wie es unsere, sich zweifellos in notwendiger Abfolge ergebende, Konstruktion angibt? Anders gefragt, gibt es über unsere Konstruktion hinaus einen Ausweis echter Wirklichkeit, oder gibt nicht gerade der radikale Konstruktionsgedanke der Skepsis, ja dem Nihilismus, darin recht, daß es keinen Beweis irgendeiner Verbindlichkeit unseres von uns nun einmal so eingenommenen Weltverhältnisses gibt? Fichte beantwortet diese Frage mit aller Klarheit. In der Tat ist auch das Faktum unseres Selbstbewußtseins als einer Relation auf uns selbst bezweifelbar: »Es giebt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eignen. Es ist kein Seyn. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, – die Quelle alles Seyns, und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke – ist der Traum von jenem Traume.«14 Das Selbstbewußtsein ist also für Fichte keine letzte Gewißheit, sondern muß geglaubt und im Handeln bewährt werden. Sein Für-sich-Sein als solches kann völlig illusionär sein und hält der skeptischen Frage nach seiner Wirklichkeit nicht stand. Es sieht sich daher um seiner selbst gezwungen, seine Subjektivität zugleich zu erkennen und auf das Absolute hin zu übersteigen, das in uns als Forderung der Werthaftigkeit präsent ist. Nur von dieser aus kann eine zweifelsfreie Überzeugung über den Sinn unserer Existenz gewonnen werden und nur aus dieser Sinnannah13 14
Vgl. GA I/6, 145–311. A. a. O., 251.
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me – Annahme in jedem Sinne des Wortes – heraus können wir wiederum unser Wissen als solches affirmieren, das sich selbst theoretisch nie affirmieren kann. Dazu benötigte es einen Standpunkt, den es selbst eben nicht einnehmen kann, wenn auch die herkömmliche Metaphysik gerade in der vermeintlichen Einnahme dieses Standpunktes bestand. Fichte vertieft von 1794, der Abfassung der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, bis 1801, der Abfassung derjenigen Wissenschaftslehre, die das erstemal den Gedanken des Absoluten in Anspruch nimmt, diese Konzeption. Immer klarer wird dabei der Übergang von einer theoretischen, als solcher aber hypothetisch bleibenden Konzeption des Wissens von sich selbst, hin zur Ergreifung einer kategorischen Wirklichkeit im Anerkennen des Absoluten und der sittlichen Forderung der Freiheit formuliert. So nimmt das System seinen inneren Fortgang in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen unabschließbaren Offenheit sowohl im Sinne der praktischen Welthaftigkeit als auch der theoretischen Subjektkonstitution, die beide Aufgabencharakter annehmen und so die Differenz von Grund und Anfang bewahren. Auch Schelling geht in seiner Begründung über ein Wissen im engeren Sinne hinaus und bestimmt das Selbstbewußtsein als Erscheinung eines präreflexiven Cogito und, noch weiter zurückgehend, eines An-sich, in dem sich die Differenzen, die auch für eine transzendentale Reflexion in Paradoxien münden, ausgleichen. So kann sich das Subjekt im System des transscendentalen Idealismus nicht zugleich als Erkennendes und Handelndes fassen. In unserem Handeln sind wir frei, aber als Beziehung auf Realität begegnet das Handeln einer Notwendigkeit, die ihm nicht per se als sinnvoll einleuchten kann: »der bewußten, also jener freibestimmenden Tätigkeit, die wir früher abgeleitet haben, soll eine bewußtlose entgegenstehen, durch welche der uneingeschränkten Äußerung der Freiheit unerachtet etwas ganz unwillkürlich, und vielleicht selbst wider den Willen des Handelnden, entsteht, was er selbst durch sein Wollen nie hätte realisieren können.«15 Die Einheit von bewußtloser und bewußter Tätigkeit kann uns nun nie wirklich zum Bewußtsein kommen. Entweder ist also das Subjekt in der Konstruktion der Welt als gesollter und entscheidet und handelt, oder es ist in der Konstruktion der Welt als so seiender und erkennt. Theorie und Praxis fallen auseinander. Im System des transscendentalen Idealismus sucht Schelling die Lösung in der Kunst. Diese soll uns im Kunstwerk symbolisch und als Leitfaden ein Zugleich von gewolltem 15
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus. Tübingen 1800, 424. Vgl. AA I/9, 1, 293.
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und faktisch hervorgebrachten, von Bewußtem und Unbewußtem und damit von objektiver Realität zeigen. Doch wie kann die Kunst in ihrem eigensten Tun, das heißt als reine Selbstbezüglichkeit, dem Philosophen ein Wissen zur Verfügung stellen, das er eben brauchte, um dieses Wissen der Kunst und von der Kunst überhaupt erst aufnehmen zu können? Schelling formuliert die damit verbundene Aporie nie offen, doch tatsächlich behebt er sie. Es ist unübersehbar, daß die Relativierung der Kunst, wie sie im Identitätssystem erfolgt, und der Beginn beim Absoluten selbst, wie ihn Schelling seit der Darstellung meines Systems der Philosophie nimmt, auf diese Aporie einer Philosophie der Kunst, die den fundamentalen Begründungsgang der Subjektivität erbringen soll und doch nicht kann, reagiert. Denn der Anfang beim Absoluten verhindert in seinem schlußendlichen Zusich-Kommen jedes mögliche unvereinbare Differieren und realisiert eine absolute Identität von Handeln und Erkennen, wie sie im Würzburger System – ganz im Zeichen Spinozas – erscheint.16 Doch hier zeigt sich schon die weitere, im Identitätssystem zunächst implizit bleibende Notwendigkeit, den eigenen Fortgang des Systems im Sinne einer Realisierungsaufgabe zu formulieren. Der Anfang bleibt problematisch, gerade weil er so unproblematisch erscheint. Damit soll keine Strukturidentität von Schellings und Fichtes System behauptet werden. Vor allem bleibt der gravierende methodische Unterschied der Deduktion der Potenzen aus dem Absoluten bei Schelling, während für Fichte die Existenz des Individuellen unhintergehbare Voraussetzung der Theorie bleibt. Fichte nimmt also in einem gewissen Sinne die Struktur von Grenze immer schon an, während Schelling wie auch Hegel die Grenze selbst in ihrer Genese denken wollen.
4. Schelling und das Problem der Existenz Man muß daher sehen, wie Schelling diese Deduktion der Strukturen der Wirklichkeit betreibt und welches genau ihr Sinn ist. Von Existenz im Sinne einer faktischen Wirklichkeit ist in Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie, dem ersten Text der sogenannten Identitätsphilosophie erst ab dem § 50 die Rede ist. Dort wird als Erstes Existierendes,
16
Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1865–1861. Im folgenden zitiert als »SW«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl; hier Band 6, 553.
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primum existens, die Materie eingeführt. Dabei ist nicht Materie in einem konkreten Sinne gemeint, sondern Materie bezeichnet die »erste relative Totalität«.17 Die erste relative Totalität hat als solche die Möglichkeit der Differenz in sich: »Relative Identität und Duplizität sind in der relativen Totalität zwar nicht actu, aber doch potentia enthalten.«18 Man sieht, daß es hier gar nicht um Sein im Sinne von faktischem Existieren geht, sondern um die Möglichkeit der Existenz in der Differenz. Die Differenz ist aber nur in dem Maße möglich, als sie aus der Identität folgt und in dieser bleibt. Die Einheit von Identität und Totalität ist es, die als ständig verwandelnde Grundform die Potenzen als Bereiche und Stufen – in der abgebrochenen Darstellung meines Systems der Philosophie sind es die Potenzen der Natur – strukturiert. Man sieht, die Möglichkeit, jeden Vorstellungsgehalt, die Totalität aller Inhalte, auf eine Einheit, die Identität des ›Ich denke‹ zu beziehen, wie ihn Kant als Gegenstand des Beweises der transzendentalen Deduktion verstanden hatte, erweitert sich hier als Identität von Identität und Totalität in ein Strukturwissen von der Welt. Der Status dieses Strukturwissens ist aber eben dieses, Wissen von möglichen Strukturen zu sein. Es geht in der Darstellung meines Systems also nicht um eine reale Genese der Wirklichkeit, sondern um eine Logogenese19 der Strukturen der Welt: Wenn es eine Welt gibt, so muß sie so und so beschaffen sein. Ohne Zweifel besteht die Wirklichkeit nun, und sie besteht nur kraft des Absoluten, der absoluten Identität, die eben solchermaßen die Welt strukturiert. In den Texten der Identitätsphilosophie wird diese Weltstruktur in der Differenz beständig an die Identität des Absoluten gehalten und in tendenziell widersprechenden Formen aufeinander bezogen.20 Dabei ist die Methode der Konstruktion nicht aufgegeben, vielmehr wird die Selbstkonstruktion zur Aufgabe, den ewigen Begriff seiner selbst zur Wirklichkeit zu machen: »Ein göttliches Leben ist eben nur dadurch möglich, daß jener ewige Begriff unseres Wesens in Gott, d. h. dadurch, daß Gott selbst in unserem Leben, also auch die Seele als Erscheinung offen-
17
Darstellung meines Systems. Vgl. AA I/10, 365. Ebd. 19 Vgl. dazu Manfred Durner: Wissen und Geschichte bei Schelling. Eine Interpretation der 1. Erlanger Vorlesung. München 1977. 20 So wird man sicher fragen müssen, ob die Genese der Wirklichkeit aus dem Absoluten, wie sie etwa in Philosophie und Religion von 1804 abgehandelt wird, mit der Darstellung meines Systems von 1801 oder dem Würzburger System der gesammten Philosophie und insbesondere der Naturphilosophie von 1806 übereinstimmt. 18
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bar, das An-sich der Seele auch die wirkliche werde.«21 Das Subjekt muß sich also im Absoluten erkennen, um die Wirklichkeit zu erkennen, die immer die Wirklichkeit des Absoluten selbst ist. Demzufolge ereignet sich die Endlichkeit als solche nur als – sozusagen instantane – Umkehr von der Differenz zur Identität, was eigentlich nicht wirklich zu verstehen ist: »Dies ist das größte Geheimnis des Universums, daß das Endliche als Endliches dem Unendlichen gleich werden kann und soll; Gott gibt die Idee der Dinge, die in ihm sind, dahin in die Endlichkeit, damit sie als selbständige, als die, die ein Leben in sich haben, durch ewige Versöhnung ewig in Gott seyen. Die Endlichkeit im eignen Seyn der Dinge ist ein Abfall von Gott, aber ein Abfall, der unmittelbar zur Versöhnung wird.«22 So zeigt sich das Problem der Identitätsphilosophie, die beständig das Endliche und Differente an das Unendliche und Identische hält, der Differenz als solcher überhaupt einen Status und einen Sinn zu geben. Das Endliche als solches ist nicht und nichts, es ist allenfalls eine Aufforderung, sich von ihm abzuwenden. Doch wie und warum kommt es überhaupt zu diesem minimalen Moment der Subjektivität, der Perspektivität oder Vielheit, das doch andererseits auch die Theorie selbst erst ermöglicht? Diese Frage führt in die späteren Texte Schellings. Die nächste Etappe der Entwicklung des Schellingschen Denkens wird durch die sogenannte Freiheitsschrift und die Stuttgarter Privatvorlesungen markiert. Das Problem der Differenz beginnt Schelling nun offensichtlich so sehr zu irritieren, daß er eine neue Lösung sucht, in der er einerseits die Differenz bereits in das Absolute selbst, in die absolute Identität einträgt, und in der andererseits die Verbindung der Probleme der Existenz und der Differenz deutlicher wird. Die Freiheitsschrift, nach Schellings eigenem Verständnis in völliger Kontinuität mit dem Identitätssystem,23 sucht die Möglichkeit der faktischen Existenz als vollzogener Differenz in dem sogenannten Ungrund, der dem endlichen Wesen zur prekären Möglichkeit wird, auf seiner Endlichkeit zu bestehen und so erst die Wirklichkeit der Differenz verständlich zu machen. Diese Wirklichkeit als eine zu verwirklichende gibt erst dem nunmehr offen prozeßhaften Charakter der menschlichen Angelegenheiten ihren Sinn: »Der Ungrund teilt sich aber in die zwei gleich
21
SW 6, 562. SW 6, 566. 23 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hrsg. v. Thomas Buchheim. Hamburg 1997, 4 f. 22
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ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Liebe sei und persönliche Existenz.«24 Der Ungrund als Unbestimmtheit, als nie »aufgehender Rest« eines »anfänglich Regellosen«25 gibt also nun die Möglichkeit, die Unbedingtheit erst zu realisieren, denn erst in ihm findet sich die Bedingung, diese Realisierung als Freiheitsakt zu begreifen und zu vollziehen. Wir wollen über diese und auch die Texte der Weltalter springen und noch einen Blick auf die Urfassung der Philosophie der Offenbarung von 183126 werfen, um den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit in Schellings späterer Entwicklung zumindest anzudeuten. Denn hier findet, in Weiterführung der Konzeption des Grundes, die Methode, die Selbstkonstruktion zu beobachten, einen neuen Gegenstand. In der Urfassung der Philosophie der Offenbarung stellt sich die Aufgabe der Selbstkonstruktion für Gott, für den es nun tatsächlich notwendig wird, selbst von seinem Begriff zu seiner Wirklichkeit überzugehen. Damit wird der Übergang von der Unbestimmtheit des bloßen Begriffes, ein Zustand freischwebenden und unverbindlichen Seins Gottes in der Indifferenz, den schon die Weltalter gezeichnet hatten, zur Tat, zur Differenz, zum eigentlichen Drama des Seins.27 Hier wird nun auch eine Diskontinuität im Denken Schellings offenkundig, die etwas mit den Einwänden Fichtes zu tun hat. Denn Fichte hatte ja Schelling nicht nur eine unkritischen Begriff des Seins vorgeworfen, sondern auch eine aporetische Ökonomie des Systems. In der Tat wird, spätestens seit den Weltaltern, der Anfang nicht mehr als Vollkommenheit, sondern als Mangel – zumindest an Wirklichkeit – gedacht. Auch hier entsteht das eigentliche Ziel der Schöpfung, die Liebe, erst im Durchgang durch die Differenz. So wird die in der Darstellung meines Systems ohne Zweifel gedachte absolute Autarkie des Absoluten nun aufgegeben zugunsten eines Prozesses zum eigentlichen Absolutwerden. In dieser Phase seines Denkens aktualisiert Schelling gewisse transzendentale Momente seiner früheren Philosophie und erneuert mit ihnen sowohl seine Methodik, als auch die innere Organisation des Gegenstandes.
24
A. a. O., 79. A. a. O., 32. 26 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hrsg. v. Walter E. Ehrhardt. Hamburg 1992. Im folgenden zitiert als »Urfassung«, mit Angabe der Seitenzahl. 27 Vgl. dazu das erste Kapitel von Slavoj Zizek: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Wien 1996. 25
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»Unser wissenschaftliches Bestreben ist ein Konflikt mit dem Sein; wir können nichts vermögen über das Sein, wenn wir ihm nicht zuvorkommen.«28 Aber dabei kann das Absolute nicht mehr als – dem Sein vorhergehende – reine Notwendigkeit gedacht werden, die sich – eben notwendig – exprimiert, und dabei tatsächlich nicht nur alle Freiheit verliert, sondern offensichtlich nie eine hatte. Wenn man, in der Abwehr einer bloßen Metaphysik der Notwendigkeit, etwas vor das Sein selbst setzt, so genügt es nicht, hier nur eine Allmacht als Prinzip zu setzen. Vielmehr bedarf der Begriff der Macht der Differenzierung. »Die wahre, eigentliche Freiheit, besteht überhaupt nicht im Sein, sondern vielmehr im nicht Sein, im nicht sich äußern Können, wie man den besonnenen Menschen an dem erkennt, was er nicht tut, und den unbesonnen an dem, was er tut.«29 Das Wort Können ist hier als positive Fähigkeit des An-sichHaltens verstanden, die ein Selbstverhältnis der Besonnenheit begründet. Würde man dieses Selbstverhältnis, diese Potentialität nicht setzen, so würde man nur das effektive Sein ohne eine freie Ursache, das Resultat einer Art Selbstverschlingung, die Schelling etwa Spinozas Gott vorwirft, finden. So rekonstruiert die Philosophie der Offenbarung eine Unbestimmtheit, die vor aller Bestimmung als Möglichkeit der Unbedingtheit liegt. Der Gott teilt sich in eine Gottheit, eine allgemeine Bestimmung, wie ihn die Theisten denken, und ein wirkliches Gottwerden, in dem eine Veräußerung und Rückkehr des Anderen in sich selbst stattfindet und sich eine Geschichte, die Geschichte des christlichen Gottes manifestiert: »In diesem Prozeß kehrt Gott das heraus, was seiner Absicht nach hineingekehrt sein sollte. Er will nur die Einheit, aber damit diese als frei erscheint, muß er das Gegenteil, die Nicht=Einheit setzen.«30 Man sieht wie sich das Motiv der Freiheit als Übergang von Unbestimmtheit zu Unbedingtheit konkretisiert. In diesem Gefüge findet auch die Philosophie selbst ihre Aufgabe: »Die Philosophie als Wissenschaft, die das Sein von vorneherein erklären will, kann sich ursprünglich keines Ausgangspunktes innerhalb des wirklichen Seins bedienen; denn über dieses will sie eben hinausgehen. Nur dadurch, daß sie sich über dieses Sein hinaussetzt, und das Unbestimmte setzt, nur indem sie sich alles Sein als Zukünftiges setzt, setzt sie sich in ein freies Verhältnis zum künftigen Sein. Was sein wird, ist an sich ein Unbestimmtes. Die erste Aufgabe der Philosophie ist also, dieses Unbestimmte als das, was sein wird, festzuhalten – es als ein Bleibendes 28 29 30
Urfassung, 28. A. a. O., 29. A. a. O., 136.
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zu begreifen und es vor dem blinden Übergang ins Sein zu bewahren.«31 So wird auch für Schelling die Differenz von bewußtem Begriff und offener Wirklichkeit, von Potentialität und Realität zum Kern der Freiheit. Man wird eine gewisse Strukturgleichheit nicht übersehen können. Wo Fichte die Selbstkonstruktion des Subjektes beobachtet und diese Konstruktion im Namen des sittlichen Wertes in Kraft setzt, beobachtet nun Schelling die Zukunft des Seins aus der Unbestimmtheit, in der sich das höchste Wesen selbst vorfindet und die es nun im Namen der Liebe aussetzt, um die eigene Unbedingtheit als Gemeinschaft mit der Menschheit zu erhalten. Die Philosophie erhält ihre letzte Bestimmung aus diesem Wesen der Freiheit. Transzendentalphilosophie und mythopoetische Spekulation könnten also, wenn auch nicht in der Darstellung, so doch »wohl in Absicht der Sachen auf dasselbe hinauskommen.«32
31 32
A. a. O., 57. Fichte an Schelling am 31. 5. (7. 8.) 1801, in: AA III/5, 45.
III. HEGELS KRITIK DER REFLEXIONSPHILOSOPHIE
Markus Gabriel Absolute Identität und Reflexion. Kant, Hegel, McDowell
Im Ausgang von Sellars’ normativer Theorie der Intentionalität ist es v. a. in den USA ansatzweise zu einer von Kontinentaleuropäern begrüßten Hegelrenaissance gekommen, deren Protagonisten bekanntlich Robert Pippin, John McDowell und Robert Brandom sind. Den systematischen Ausgangspunkt dieser Bewegung bildet eine vielzitierte Stelle in Sellars’ Essay Empiricism and the Philosophy of Mind. Sellars schreibt dort: »Der springende Punkt liegt darin, daß wir keine empirische Beschreibung dieser Episode oder dieses Zustandes liefern, wenn wir eine Episode oder einen Zustand als ein Wissen bezeichnen. Wir stellen sie vielmehr in den logischen Raum der Gründe, der Rechtfertigung und der Fähigkeit zur Rechtfertigung des Gesagten.«1 Mit verschiedener Akzentuierung sind sich Pippin, McDowell und Brandom darin einig, daß epistemische Intentionalität, d. h. jede auf Wahrheit und Objektivität gerichtete Einstellung zu Gegenständen und Sachverhalten, eine normative und mithin soziale Grundlage haben muß. Diese könne der Intentionalität nicht äußerlich hinzuaddiert werden, als ob unser auf Gegenstände gerichtetes Denken zunächst in einem solipsistischen Sinnesdatentheater eingeschlossen wäre, um sich erst nachträglich und nur gelegentlich in eine soziale Welt einzufinden. Qua Bezugnahme auf Bestimmtes, d. h. qua Denken mit irgendeinem minimal distinkten Gehalt, ist Denken immer schon auf Rechtfertigung bezogen und damit
1
Wilfried Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes. Übers., hrsg. und eingeleitet von Thomas Blume. Paderborn 1999, 66. Original: ders.: Empiricism and the Philosophy of Mind. Cambridge (MA) 1997, hier 76: »In characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.«
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in historisch variable justifikatorische Praktiken eingebunden. Etwas als Etwas im Urteil zu bestimmen, setzt voraus, daß man am Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen partizipiert. Genau deswegen untersteht jede auf Gegenstände gerichtete Intentionalität immer auch schon sozialen Betriebsbedingungen. Die Normen, die Intentionalität konstituieren, sind Bedeutungsregeln, die es uns erlauben, Gegenstände über ihre anschaulichen Abschattungen sowie allgemein unter den Bedingungen ihrer raum-zeitlichen Variation zu re-identifizieren. Wenn ich annehme, daß beispielsweise der Nebensatz »Wenn ich annehme« nichts anderes bedeutet als »Wenn ich annehme«, d. h. wenn ich imstande bin, zwischen Type und Token, geäußertem Satz und ausgedrückter Proposition usw. zu unterscheiden, sind schon Bedeutungsregeln im Spiel, denen ich folgen soll. Folgte ich ihnen nicht, wüchse sich mein deviantes Verhalten an irgendeinem Punkt auf der Skala der Idiosynkrasie zu semantischem Wahnsinn aus.2 Meine Worte bedeuteten nichts mehr und wären genau besehen nicht einmal mehr Worte. Diese semantische Lektion ziehen alle nach-Sellarsschen Hegelianer aus Wittgensteins Privatsprachenargument, das gezeigt hat, daß Intentionalität nicht logisch privat sein kann. Selbst das Selbstgespräch des Denkens ist demnach immer schon ein Gespräch mit Anderen, wenn es denn auch nur sich selbst überhaupt etwas bedeuten können soll.3 Nun sind sich Pippin, McDowell und Brandom darüber hinaus darin einig, daß bereits Kants berühmte Identifikation von Denken und Urteilen eine Identifikation von Urteilen und Regelfolgen impliziert, was sich in der Tat als Kant-Exegese plausibel machen läßt.4 Schwieriger wird es, 2
Vgl. dazu etwa auch Kants Bemerkung in der Kritik der reinen Vernunft (1781) [in: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1902 ff. Im folgenden zitiert als »AA«, mit der entsprechenden Bandund Seitenangabe; hier Abt. I, Band 4 (1903)], 101: »[W]ürde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Ding beigeleget, oder auch eben dasselbe Ding bald so bald anders benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden.« 3 Zur Drohung des semantischen Nihilismus, die Kant als erster deutlich formuliert hat, sowie zur Verschärfung seit ›Kripkenstein‹ vgl. meine Ausführungen in An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus. Freiburg i. B./München 2008. Im folgenden zitiert als »Verf., An den Grenzen der Erkenntnistheorie«, mit Angabe der Seitenzahl. 4 Vgl. insbesondere Robert Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfactions of SelfConsciousness. Cambridge 1989; ders.: The Persistence of Subjectivity. On the Kantian Aftermath. Cambridge 2005; Robert Brandom: Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality. Cambridge (MA)/London 2002. Im folgen-
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und damit nähere ich mich langsam meinem kritischen Einspruch, wenn Kants transzendentale Synthesis der Apperzeption nicht nur in die Fähigkeit umgemünzt wird, am Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen teilzunehmen, sondern wenn das Urteilsgeschehen bereits als vollgültige Selbstbestimmung, d. h. als Freiheit im Sinne von Autonomie aufgefaßt wird. Für Brandom reicht ›Verpflichtung (commitment)‹ zur Begriffsbestimmung von Autonomie in einem angeblich Kantischen Sinne bereits hin.5 Deshalb ist man für Brandom als amerikanischer Staatsbürger (bzw. als ›legal alien‹ oder sonstiger Steuerzahler) auch schon dann frei, wenn man als jemand anerkannt wird, der bei einer Bank eine Hypothek, also mortgage, abbezahlen soll.6 Dieser Konzeption von Autonomie ist durch den jüngsten Einbruch einer weltweiten Wirtschaftskrise im Geiste amerikanischer Hypotheken-Autonomie durch die Weltgeschichte selbst widersprochen worden. Im folgenden möchte ich anhand von McDowells Version der alten, in Europa eigentlich längst als zu simpel erkannten ›von Kant zu Hegel‹These zeigen, daß Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie in Glauben und Wissen auf eine eminent praktische Dimension verweist, die den Normativitäts-Hegelianern insgesamt entgeht. McDowell stellt Hegels partielle Anknüpfung an Kant und sein Lob des spekulativen Ertrags des Begriffs der Apperzeption ins Zentrum seiner Deutung. Dabei nimmt er an, Hegels Idealismus erschöpfe sich in der These, »der zufolge die Idee der Objektivität selbst im Sinne freier, sich selbst bestimmender Vollzüge einer selbstbewußten Intelligenz verstanden werden muß (according to which the
den zitiert als »Brandom, Tales of the Mighty Dead«, mit Angabe der Seitenzahl; John McDowell: Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars. Cambridge (MA)/London 2009. Im folgenden zitiert als »McDowell, Having the World in View«, mit Angabe der Seitenzahl;. Zur Kritik des damit einhergehenden Deflationismus der ›Normativitäts-Hegelianer‹ vgl. v. Verf., An den Grenzen der Erkenntnistheorie, §§ 11, 15; Mythology, Madness, and Laughter. Subjectivity in German Idealismus. Hrsg. v. Verf. u. Slavoj Žižek. New York/London 2009. 5 Vgl. dazu insbesondere Brandoms jüngste Ausführungen in der ersten Woodbridge Lecture Norms, Selves, and Concepts sowie in Between Saying and Doing. Towards an Analytic Pragmatism. New York 2008, bes. 186 ff. 6 Wie so oft in der Philosophie sind die Beispiele eines Autors auch im Falle Brandoms verdächtig. So lesen wir als Beispiel für den Übergang von Infanten zu Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft: »For this is a change that can take place largely outside the individual – as scratching a signature onto a piece of paper can either have no legal significance or be the undertaking of a contractual obligation to pay the bank a certain sum of money every month for thirty years« (Brandom, Tales of the Mighty Dead, 31).
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very idea of objectivity is to be understood in terms of the freely self-determining operations of a self-conscious intelligence).«7 Im ersten Teil (1.) meines Beitrags werde ich in gebotener Kürze McDowells Deutungsangebot vorstellen, das er v. a. in seinem Aufsatz Hegel’s Idealism as Radicalization of Kant vorgetragen hat. Im zweiten Teil (2.) möchte ich zeigen, daß Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie nicht bloß eine epistemologische Konzeption, sondern insgesamt den Zeitgeist einer Verabsolutierung der Endlichkeit kritisiert. In diesem Rahmen reagiert er auf den Einspruch der Systemkritik mit dem Hinweis auf dessen sich selbst opake Endlichkeit. Er wendet sich explizit gegen eine bestimmte »Beziehung des Beherrschens«8 zwischen Unendlichem und Endlichem. Das Unendliche werde zugunsten eines »Berechnens alles und eines jeden für die Einzelheit und das Setzen aller Idee unter die Endlichkeit«9 in ein unerkennbares Jenseits verwiesen. Daraus resultiert Hegel zufolge, »die Beherrschung des als reell und endlich Erscheinenden, worunter zugleich alles Schöne und Sittliche gehört, unter den Begriff«10. Diese politische Dimension von Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie wird metaphysisch durch den Begriff einer absoluten Identität untermauert, die Hegel gegen die Reflexionsphilosophie ins Feld führt. Damit ist Hegels Ansatz im Spannungsfeld von System und Systemkritik leicht zu verorten: Er wendet sich mit seinem Anspruch auf Systematizität gegen einen selbst erzeugten blinden Fleck der sich als endlich verstehen wollenden Reflexion und tritt den Nachweis an, daß dieser blinde Fleck auch im Hinblick auf seine politischen Konsequenzen thematisiert werden muß. Mir wird es im folgenden freilich darum gehen, Hegels Gedanken nicht bloß de dicto, sondern bis zu einem gewissen Punkt auch de re zu verteidigen. Dabei gehe ich davon aus, daß sein Anspruch auf Systematizität nicht in der Weise überzogen ist, wie ihn die übliche HegelKarikatur darstellt. Vielmehr geht es mir darum, mehr Hegel in unsere eigene Zeit zu übersetzen, als dies unter Normativitäts-Hegelianischen Prämissen zulässig ist, die sich übrigens teilweise aus einer implizit bleibenden Systemkritik speisen.
7
McDowell, Having the World in View, 72. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel. Frankfurt a. M. 1969–1971. Diese Ausgabe wird im folgenden zitiert als »TWA« [= Theorie-Werk-Ausgabe] mit Angabe des entsprechenden Bandes und der Seitenzahl; hier Band 2, (1970), 293. 9 A. a. O., 294. 10 Ebd. 8
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1. McDowell von Kant zu Hegel McDowell rekonstruiert Hegels Idealismus insgesamt als Radikalisierung der Kantischen Methode, die alle Ansprüche auf Objektivität aus konstitutiven Handlungen der Subjektivität ableitet. Dabei knüpft McDowell an die Kantische Identifikation von Denken und Urteilen an, die Kant so formuliert, daß Urteilen zugleich als Regelfolgen durchsichtig wird. Kant zufolge heißt Denken nämlich »Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen. […] Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urteil. Also ist Denken soviel, als Urteilen, oder Vorstellungen auf Urteile überhaupt beziehen. […] Urteile, sofern sie bloß als die Bedingung der Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein betrachtet werden, sind Regeln. Diese Regeln, sofern sie die Vereinigung als notwendig vorstellen, sind Regeln a priori.«11 McDowell hebt bereits an diesem grundlegenden Punkt darauf ab, daß Urteilen qua Regelfolgen schon auf Freiheit bezogen sei, weshalb er die Spontaneität des Denkens von vornherein im Hinblick auf unsere Verantwortung, unsere ›answerability‹ gegenüber der Welt hin interpretiert. Er schreibt: »Urteilen steht im Zentrum der Behandlung von objektiver Ausrichtung im allgemeinen. Und Urteilen besteht darin, sich im Hinblick auf eine Sache Gedanken zu machen. Sich im Hinblick auf eine Sache Gedanken zu machen, ist eine Aktivität, die man ausübt, etwas, wofür man verantwortlich ist. Zu Urteilen heißt, sich auf freie kognitive Aktivität einzulassen im Unterschied dazu, daß einem etwas im Leben einfach so zustößt, außerhalb unseres Zugriffs.«12 Diejenige, im Hinblick auf empirische Individualität noch anonyme und deshalb allgemeine Dimension, in der uns überhaupt etwas begegnen kann, ist nach Kant die transzendentale Synthesis der Apperzeption. Das ist diejenige Tätigkeit, die etwas mit etwas zusammenstellt. Die Energie 11
Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: AA I/4, §§ 22 f. 12 McDowell, Having the World in View, 71: »Judging is at the centre of the treatment of objective purport in general. And judging is making up one’s mind about something. Making up one’s mind is one’s own doing, something for which one is responsible. To judge is to engage in free cognitive activity, as opposed to having something merely happen in one’s life, outside one’s control.«
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dieser Zusammenstellung stellt die Wiederholbarkeit, weil Identifizierbarkeit von Zeichen allererst her, worauf Fichte zu Beginn seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 hingewiesen hat: Damit A = A sein kann, muß zuvor Ich = Ich sein, d. h. die Identifizierbarkeit von irgendetwas ist nur vor dem bereits stabilen Hintergrund unserer Bezugnahme auf Gegenstände verständlich.13 Nun lassen sich bereits Kant zufolge die Bedingungen unserer Bezugnahme auf Gegenstände prinzipiell nicht hintergehen, ohne daß wir dadurch aufhörten, uns auf irgendetwas zu beziehen. Kant drückt sich im Grundsatz-Kapitel der ersten Kritik deshalb so aus, daß »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt […] zugleich Bedingungen der Möglichkeiten der Gegenstände der Erfahrung«14 seien. McDowell wirft Kant nun vor, gegen diesen Grundsatz letztlich verstoßen zu haben. Dabei wehrt er zuvor einen naheliegenden Einwand ab, um sodann eine qualifizierte Version des Einwandes selbst zu vertreten. 1) Der naheliegende Einwand besagt, daß Kant mit seiner Zwei-StämmeLehre einen inkonsistenten Form-Inhalt-Dualismus vertrete. Diesem Einwand zufolge investiert Kant malgré lui bereits Energien der Synthesis, und d. h. Spontaneität, in die Charakterisierung der nur vermeintlich rein sinnlichen Formen der Anschauung, Raum und Zeit. In der Tat wendet Kant Bestimmungen von Einheit und Verschiedenheit, von Koordination vs. Subordination usw. bereits auf Raum und Zeit an. Wäre dies nicht zulässig, könnte er nicht einmal dafür argumentieren, daß Raum und Zeit Anschauungen und keine Begriffe sind, zumal ›Anschauung‹ natürlich bereits ein Begriff ist, weshalb Kant selbst vom ›Begriff des Raumes‹ bzw. vom ›Begriff der Zeit‹ spricht.15 Da Anschauung und Begriff nur begrifflich unterschieden werden können, gibt es keinen Zugriff auf die bloß analytisch, im Medium transzendentaler Reflexion zu bestimmenden reinen Anschauungsformen, der nicht schon eine synthetische Einheit voraussetzte. 13
Zu einer grundlegend semantischen Lesart Kants, die weit über McDowells und Brandoms Reaktualisierungsversuche hinausgeht, vgl. bereits Wolfram Hogrebe: Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik. Freiburg i. B./München 1974 sowie ders.: Archäologische Bedeutungspostulate. Freiburg i. B./München 1977. 14 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787), in: AA I/3. Im folgenden zitiert als »KrV B«; hier KrV B 197. 15 Vgl. etwa KrV B 37 ff. Besonders deutlich heißt es in KrV A 85/B 118: »Wir haben jetzt schon zweierlei Begriffe von ganz verschiedener Art, die doch darin mit einander übereinkommen, daß sie beiderseits völlig a priori sich auf Gegenstände beziehen, nämlich, die Begriffe des Raumes und der Zeit, als Formen der Sinnlichkeit, und die Kategorien, als Begriffe des Verstandes.«
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In meiner persönlichen Lieblingsfußnote in § 16 der ersten Kritik fängt Kant genau diesen Punkt mit seiner These ein, daß jede »analytische Einheit des Bewußtseins« bereits auf eine synthetische Einheit und in letzter Instanz auf »die synthetische Einheit der Apperzeption«16 bezogen sei. Nimmt man dies ernst, kann man Kant nicht mehr ohne weiteres die Annahme unterstellen, die Kategorien würden im Sinne einer äußeren Reflexion einfach auf Raum-Zeit-Abschnitte oder ähnliche sensorische Episoden angewendet. Diese Variante von ›subjective imposition‹, wie das die angelsächsische Forschung nennt, läßt sich unter Kantischen Bedingungen ausschließen. Der naheliegende Einwand gegen den Kantischen Form-Inhalt-Dualismus greift demnach zu kurz. 2) Doch dies genügt McDowell noch nicht. Mit Hegel wendet er ein, daß Kant dennoch einen bloß »subjektiven Idealismus«17 vertrete. Diesen sieht er in Kants transzendentalem Idealismus, d. h. insbesondere in der These, daß Raum und Zeit der nicht schon synthetisierten Mannigfaltigkeit, was auch immer diese eigentlich sein mag, möglicherweise nicht zukommen.18 McDowell moniert mithin erstens die Faktizität, den ›brute-fact-character‹ der Formen der Sinnlichkeit bei Kant, und zweitens die daraus folgende Kontingenz unserer Anschauungsformen im (inhaltlich unbestimmten) Hinblick auf andere mögliche Anschauungsformen. Raum und Zeit seien bei Kant lediglich »eine bloße Spiegelung einer uns betreffenden Tatsache (a mere reflection of a fact about us)«19. Genau genommen kritisiert McDowell nicht nur, daß Raum und Zeit bei Kant faktisch und kontingent sind, sondern darüber hinaus insbesondere, daß diese Annahme unter genuin Kantischen Bedingungen letztlich un-
16
KrV B 134, Anm. McDowell, Having the World in View, 74 ff. 18 Kant selbst geht freilich noch weiter, wenn er eindeutig behauptet, »daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können.« (KrV B 59) Damit verstößt er gar gegen seine eigene Erkenntnisrestriktion, was bekanntlich bereits Adolf Trendelenburg unterstrichen hat: ders.: Über eine Lücke in Kants Beweis von der ausschließlichen Subjectivität des Raumes und der Zeit, in: ders.: Historische Beiträge zur Philosophie. Band 3. Berlin 1867, 215–276. 19 McDowell, Having the World in View, 78. 17
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zulässig sei.20 Denn sie verstoße gegen Kants eigenen Begriff der Objektivität als Resultat konstitutiver Leistungen von Subjektivität. Wenn alle Objektivität nur unter der Bedingung zustande kommen kann, daß identifizierbare, analytische Einheiten Resultat einer Synthesis im Urteil sind, dann kann man nicht mehr davon ausgehen, daß es irgendetwas, zum Beispiel unerkennbare Gegenstände oder unerkennbare Aspekte an Gegenständen gibt, das sich unseren sensorischen Registraturen aufgrund ihrer Form nicht darstellen. An diesem Punkt beerbt McDowell zweifelsohne Hegels Kant-Kritik in Glauben und Wissen. Hegel moniert ganz im Sinne McDowells, daß das Ding an sich in seiner Funktion, ein noch nicht identisches Außerhalb zu bezeichnen, das Kant aus verschiedenen Gründen, u. a. für seine praktische Philosophie, benötigt, nicht mehr als ein »formloser Klumpen«21 sei. Hegel drückt dies polemisch so aus: »Aber weil doch Objektivität und Halt überhaupt nur von den Kategorien herkommt, dies Reich aber ohne Kategorien und doch für sich und für die Reflexion ist, so kann man sich dasselbe nicht anders vorstellen als wie den ehernen König im Märchen, den ein menschliches Selbstbewußtsein mit den Adern der Objektivität durchzieht, daß er als aufgerichtete Gestalt steht, welche Adern der formale transzendentale Idealismus ihr ausleckt, so daß sie zusammensinkt und ein Mittelding zwischen Form und Klumpen ist, widerwärtig anzusehen, – und für die Erkenntnis der Natur und ohne die von dem Selbstbewußtsein ihr eingespritzten Adern bleibt nichts als die Empfindung. Auf diese Weise wird also die Objektivität der Kategorien in der Erfahrung und die Notwendigkeit dieser Verhältnisse selbst wieder etwas Zufälliges und ein Subjektives.«22 Hegels Einwand läßt sich systematisch auch dahingehend auf den Punkt bringen, daß die Entgegensetzung einer »Einheit des Selbstbewußtseins« gegen eine »empirische Mannigfaltigkeit«23 eine theorie-konstituierende
20
»Von der Eigentümlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« (KrV B 145 f.) 21 TWA 2, 312. 22 A. a. O., 312 f. 23 A. a. O., 328.
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Entscheidung und keine Darstellung eines von der Theorie unabhängig bestehenden Sachverhaltes ist. Überdies wittert Hegel in der damit bloß formalen Theorie der Synthesis einen krassen Widerspruch. Wenn die Synthesis nämlich gegebenes Material synthetisieren soll, wie ist dies dann noch in Einklang zu bringen mit Kants revolutionärer Beobachtung, daß analytische Einheiten nur als Abstraktionen, d. h. als Momente der Synthesis zu rekonstruieren sind? Hegel wendet mithin ein, daß Kant einem Mythos des Gegebenen verpflichtet ist und analytische Einheiten postuliert, die noch nicht nachträgliche Abstraktionen im Medium synthetischer Einheit sind. Hegel zufolge bricht Kants Theoriegebäude unter dem Druck dieses Widerspruchs zusammen, »der darin liegt, daß diese Unendlichkeit, die schlechthin bedingt ist durch die Abstraktion von einem Entgegengesetzten und schlechthin nichts ist außer diesem Gegensatz, doch zugleich als die absolute Spontaneität und Autonomie behauptet wird, – als Freiheit soll sie sein absolut, da [doch] das Wesen dieser Freiheit darin besteht, nur durch ein Entgegengesetztes zu sein.«24 Damit geht Hegels Kritik in einem alles entscheidenden Punkt über McDowells Rekonstruktion hinaus. Hegel kritisiert nämlich nicht bloß, daß das Ding an sich, das Mannigfaltige der Anschauung oder was auch immer bei Kant außerhalb der Reichweite der Synthesis bleiben mag, für sich betrachtet die unermüdlich durchexerzierten Inkonsistenzen des Form-Inhalt-Dualismus generiert. Denn Hegel kritisiert darüber hinaus v. a., daß Kants Konzeption, an die sich McDowell anschließt, und die Raum für ›absolute Spontaneität und Autonomie‹ schaffen soll, die bezweckte Autonomie in Heteronomie umschlagen läßt. Wird doch die spontane Synthesis selbst zum Relatum einer Relation dadurch, daß sie gegen irgendetwas, zum Beispiel gegen das Gegebene, bestimmt wird. Der für die Kantische Begründung von Autonomie konstitutive Gegensatz von Spontaneität und Rezeptivität, wie umsichtig er auch immer letzten Endes zurückgenommen werden mag, affiziert die Spontaneität demnach immer schon und läßt sie von der Rezeptivität abhängen. Die Unendlichkeit, d. h. die Unbestimmtheit der Autonomie wird nolens volens endlich, d. h. in der Entgegensetzung bestimmt. Dies bedeutet aber, daß es Kant nicht gelingt, diejenige allgemeine Dimension zu begreifen, in der Bestimmtheit, d. h. letztlich Besonderheit und Einzelheit, allererst möglich ist. 24
A. a. O., 318.
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Das transzendentale Denken selbst unterliegt der Form des Urteilens, da es das Denken als noch nicht anschauliches erfülltes Subjekt vom Subjekt des Urteils aus denkt. Vor diesem Hintergrund hat Hegel in seiner Begriffslogik das Allgemeine auch nicht gegen das Besondere und Einzelne bestimmt, als ob es unabhängig vom Besonderen und Einzelnen bestimmt sein könnte, sondern das Allgemeine vielmehr als internen Gegensatz, d. h. als Binnendifferenzierung allgemeinheitsfähiger Verhältnisse gedacht.
2. Absolute Identität vs. Reflexion Was Hegel an Kants transzendentaler Synthesis der Apperzeption lobt, ist nicht so sehr die konstitutive Leistung der autonomen Subjektivität im Medium des Urteils, wie McDowell im Ausgang von Pippin annimmt. Ganz im Gegenteil rügt Hegel in Glauben und Wissen Kants Ansatz beim Urteil, das, so Hegel, »nur die überwiegende Erscheinung der Differenz«25 ausmacht. Der logischen Form des Urteils, d. h. dem Verstand im durchaus Kantischen Sinne, stellt sich nach Hegel der Gesamtbereich der Intelligibilität, die Totalität, als Katalog binärer Oppositionen, »als Geist und Welt, als Seele und Leib, als Ich und Natur usw.«26 dar. Die Dimension des Erkennbaren und in diesem Sinne Intelligiblen, die Hegel später kurzum als ›das Allgemeine‹ anspricht, bleibt im Urteil verborgen unterstellt. Hegel zufolge ist das Urteil dennoch eine Darstellung der ›absoluten Identität‹, so zwar, daß diese nicht als solches thematisch wird, sondern, wie er schreibt, »ein Bewußtloses«27 bleibt: »die absolute Identität als Mittelbegriff stellt sich […] im Urteil nicht, sondern im Schluß dar […]. Das Vernünftige ist hier [d. h. im Urteil, M. G.] für das Erkennen ebenso in den Gegensatz versenkt wie für das Bewußtsein überhaupt die Identität in der Anschauung. […] was zum Vorschein kommt und im Bewußtsein ist, ist nur das Produkt als Glieder des Gegensatzes: Subjekt und Prädikat, und nur sie sind in der Form des Urteils, nicht ihr Einssein als Gegenstand des Denkens gesetzt.«28 Denken als Urteilen unterscheidet nicht zufällig Dinge und Eigenschaften nach dem Subjekt-Prädikat-Modell und gerät in die von Hegel u. a. im 25 26 27 28
A. a. O., 307 A. a. O., 302 A. a. O., 307 Ebd.
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»Wahrnehmungs«-Kapitel der Phänomenologie ausbuchstabierten Schwierigkeiten, die Einheit des Dinges mit der Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften zusammenzudenken. Denken als Urteilen produziert Hegel zufolge eine Auffassung der Totalität, der zufolge die Totalität in Geist und Welt zerfällt, was s. E. die neuzeitlichen Formen des epistemologischen Skeptizismus hervorgetrieben hat.29 Deswegen empfiehlt Hegel den Rekurs auf die Form des Schlusses, da der Schluss in Hegels Deutung die Aktivität des Denkens anzeigt, die als allgemeinheitsfähige Dimension schlechthin auch noch das Auseinandertreten von Subjekt und Prädikat wahrheitsfähig zusammenhält. Wer mit Wahrheitsanspruch urteilt, d. h. behauptet, daß Wien größer als Siegburg ist, behauptet damit scheinbar nichts über die Aktivität des Denkens, sondern eben über Wien und Siegburg. Die Objektivität des Urteils enthält prima facie keinen Hinweis auf die Objektivität-konstituierende Subjektivität. Anders stellt sich dies im Fall von Schlüssen dar, die ausdrücklich Zusammenhänge allein durch das Denken, sprich: im Medium logischer Wahrheit, herstellen. Erschlossene Zusammenhänge kommen nur durch einen Prozeß des Denkens zum Vorschein, durch eine Vermittlung, die die Form des Schließens als solche bereits anzeigt. Die Identität, die das Urteil zusammenhält, indem sie über einen bestimmten Zeitraum hinweg eine Identität des Subjekts und des Prädikats, etwa in der Form von Bedeutungsregeln, in Anspruch nimmt, muß nachträglich expliziert werden, was Kant als »transzendentale Reflexion«30 bezeichnet. »In dem Urteil zieht sich die Identität als Allgemeines zugleich aus ihrem Versenktsein in die Differenz, die auf diese Weise als Besonderes erscheint, heraus und tritt diesem Versenktsein gegenüber; aber die vernünftige Identität der Identität als des Allgemeinen und des Besonderen ist das Bewußtlose im Urteil und das Urteil selbst nur die Erscheinung desselben.«31 Den eigentlich spekulativen Beitrag Kants zur Überwindung der Urteils-Differenz sieht Hegel in der Tat in der »ursprünglichen synthetischen Einheit«32. Denn diese sei die »absolute, ursprüngliche Identität 29
Vgl. dazu meine Ausführungen in Die metaphysische Wahrheit des Skeptizismus bei Schelling und Hegel, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 126–156. 30 KrV A 263/B 319. 31 TWA 2, 307. 32 A. a. O., 305.
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Entgegengesetzter«33. Diese Lesart muß man nicht als Rückfall in eine krude neuplatonische Metaphysik des Einen mißverstehen, wovor Pippin und McDowell zu Recht warnen, was übrigens keinem nachkantischen Idealisten, auch etwa Schelling nicht, eingefallen ist. Die absolute Identität ist nämlich in Hegels Deutung gar nichts anderes als diejenige allgemeinheitsfähige Dimension, in der Unterschiede überhaupt getroffen werden können.34 Sie ist mit anderen Worten der Unterscheidungs- und Beziehungsgrund von Sinnlichkeit und Verstand, von Subjekt und Prädikat, Geist und Welt usw. Sie übernimmt eine Einheitsfunktion, die Subjekt und Prädikat so zusammenhält und unterscheidet, daß der Bereich der Wahrheitswertdifferenz eröffnet wird. Objektivität gibt es nur dort, wo fallible Wahrheitsansprüche erhoben werden. Damit diese erhoben werden können, muß das Bestehen des logischen Raums bereits vorausgesetzt worden sein. Dieses Bestehen des logischen Raums bezeichnet Hegel als ›absolute Identität‹. Absolut ist diese Identität deswegen, weil sie die Dimension markiert, in der sich einiges von anderem unterscheiden kann, ohne daß diese Dimension ihrerseits deshalb selbst unterschieden werden könnte. Sie ist mit anderen Worten selbst nichts Distinktes, d. h. keine analytische Einheit, sondern – mit Wolfram Hogrebe gesagt – die ›Distinktionsdimension‹35 bzw. die synthetische Einheit. Hegel wendet gegen die Reflexionskultur insgesamt ein, daß sie nicht imstande sei, die Konstitution der Konstitution zu denken. Zwar liege Kant
33
Ebd. I. ü. kann man auch Plotin davon freisprechen, eine hypostasierende Metaphysik des Einen zu betreiben. Das Eine bei Plotin gibt es nicht, es ist kein in irgendeiner Form existierender oder präexistierender mysteriöser Gegenstand oder Geheimagent, der im Rücken unserer Urteilspraxis alles Seiende immer schon bestimmt. Dies habe ich versucht darzulegen in Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Frankfurt a. M. 2009, §§ 8–11. 35 Vgl. Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens. Berlin 2006, 317–330, hier 317 f.: Hogrebe nennt den »Raum, den jede Unterscheidung, die wir treffen, spaltet« den »Raum für mögliche Unterscheidungen, und den können wir auch als Distinktionsdimension bezeichnen. Jede Einführung von basalen Unterscheidungen nimmt diese Distinktionsdimension in Anspruch. Sie läßt sich daher von anderen Räumen nicht mehr unterscheiden, ja kann überhaupt nicht positiv gekennzeichnet werden, und doch brauchen wir sie, weil wir sonst kein Universum durch unsere Unterscheidungen erzeugen könnten. Sie ist der semantisch völlig diaphane Hintergrund aller semantischen Kontraste, transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit.« Vgl. dazu ausführlicher auch meine eigenen Ausführungen in Notwendigkeit oder Kontingenz? Der modale Status des logischen Raums bei Hegel und Schelling, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 3 (2009) (i. Ersch.). 34
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durchaus richtig, wenn er Objektivität als Resultat konstitutiver Leistungen anerkenne. Die spekulative Dimension der Reflexion, d. h. Hegels eigentliche Überbietung Kants besteht demgegenüber in einem Schritt zurück: Hegel thematisiert die konstitutiven Bedingungen einer Theorie der Konstitution von Objektivität. Dabei stellt sich heraus, daß Kant unter den Bedingungen eines angeblich bereits etablierten, vorliegenden Unterschiedes zwischen Gegebenem und Gedachtem operiert, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Materie und Form. Wie Dieter Sturma zu Recht anmerkt, argumentiert Kant »mit der Differenz von Gegebenem und Gedachtem, nicht für sie«.36 Genau dagegen wendet Hegel ein, daß die Differenz von Gegebenem und Gedachtem selbst gedacht ist, was ihm erlaubt vom Medium der Reflexion auf eine Reflexion der Reflexion umzustellen. 3. Endlichkeit und Herrschaft Hegels Wende zum spekulativen System versteht sich ausdrücklich als kritische Standortbestimmung der Moderne. In diesem Zuge wendet sich Hegel gegen das »Heiligen der Endlichkeit«37 und die entsprechende »Absolutheit des Subjekts«38, in der er »eine Kultur des gemeinen Menschenverstandes«39 sieht. Trotz seiner in Oxforder Lokal-Kontexten vielleicht bahnbrechenden Erinnerung an Hegelsche Motive bleibt McDowell genau in einer solchen Common-sense-Kultur stecken. Das Problem der Berufung auf den Common Sense, den McDowell ausgerechnet mit Hegel gegen Kants transzendentalen Idealismus verteidigen will, ist ihr nur minimal kaschierter Herrschaftsanspruch. Wer einerseits behauptet, daß Objektivität Resultat eines immer schon auf eine Gemeinschaft verweisendes Regelfolgen ist und andererseits erklärt, auf der Seite des Common Sense, d. h. auf der Seite der Gemeinschaft zu stehen – der beansprucht damit in der Tat eine Herrschaft des Endlichen über das Unendliche. Was mit dieser Geste aus dem Blick gerät, ist das eigentlich kritische Potential Kants und Hegels und damit die eminent praktische Dimension von Kants Kritik und Hegels Metakritik der Reflexionsphilosophie. Der kategorische Imperativ etwa kann sich nur deshalb an jederfrau und je-
36
Dieter Sturma: Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins. Hannover 1984, 52. 37 TWA 2, 299 f. 38 A. a. O., 298. 39 Ebd.
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dermann richten, weil er noch nicht in eine empirische Gemeinschaft eingebunden und von dieser auch nicht konstituiert ist.40 Dasselbe gilt letztlich für die absolute Identität als diejenige Dimension, in der Ansprüche irgendeiner Art überhaupt angemeldet werden können. Es ist v. a. Hegel daran gelegen, unsere epistemische Endlichkeit im Hinblick auf die Einsicht zu überwinden, daß das ›wahrhaft Unendliche‹, wie dies später bei Hegel heißt, die Bestimmung der Endlichkeit gegen das Unendliche ist. Das wahrhaft Unendliche ist kein Relatum einer Relation, sondern diejenige Dimension, die den Hintergrund von Relationalität abgibt und deshalb niemals als Moment fixiert werden kann. Kant und Hegel zeigen einen Weg auf, unter Rekurs auf eine ursprüngliche Synthesis, die allgemeinheitsfähige Verhältnisse ermöglicht, in konstituierten, empirischen Gemeinschaften aber gerade nicht aufgeht, Herrschaftsansprüche in Frage zu stellen. Der Kantisch-FichtescheSchillersche Heros der Pflicht, der den Tod der Unredlichkeit vorzieht, ist unter Bedingungen des Common Sense gar nicht mehr verständlich zu machen. Ebensowenig geht die absolute Idee Hegels in einer empirischen Gemeinschaft auf, wenn Hegel auch im Rahmen seiner Theorie des objektiven Geistes bekanntlich die Grundlagen eines historistischen Begriffs von Vernunft gelegt hat. Die gesamte Dimension des Erhabenen, die Hegel durch Kants »mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft«41 bedroht sieht, gerät bei den Normativitäts-Hegelianern völlig aus dem Blick. Die Vernachlässigung des kritischen Aspekts des Kantisch-nachkantischen Idealismus zugunsten eines harmlosen Therapieprogramms, das der spekulativen Philosophie ihren Zahn ziehen soll, verfällt Hegels Verdikt gegen die Reflexionsphilosophie. Dessen starker Einwand liegt in der Entdeckung der Dialektik der Aufklärung: Die vermeintliche Etablierung von Autonomie schlägt in eine Heteronomie der Sinnlichkeit um. Ohne dies hier ausführen zu können, gelingt es den Normativitäts-Hegelianern aus den skizzierten Gründen auch nicht, den Dualismus von Natur und 40
Für eine zeitgemäße Ontologie des Politischen bedeutet dies übrigens, daß wir einen Weg finden müssen, die radikal demokratische These anzuerkennen, daß alle Gesetze Gesetztes und mithin von uns gemacht sind, und dennoch zugleich anzuerkennen, daß es zu den Bedingungen der radikal demokratischen Einsicht gehört, daß stabile, nicht ersetzbare Bedingungen der Demokratie dem Setzen von Gesetzen vorausgesetzt werden müssen. Die Bedingungen der radikal demokratischen Einsicht dürfen nicht ihrerseits zum Gegenstand demokratischer Verfahren werden, da sie ansonsten ihre eigene Aufhebung zuließen. Hegel kann sich in diesem Zusammenhang noch auf die Geschichte und den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit verlassen, was uns nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verwehrt ist. 41 TWA 2, 299.
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Norm zu überwinden. Normen gibt es bei ihnen deswegen nicht »all the way down«42, weil an irgendeinem Punkt doch wieder die Natur einspringen muß, um den Regelregreß anzuhalten, der entstünde, wenn alles Verhalten regelgeleitet wäre. Polemisch gesagt, ist das Problem also nicht so sehr, daß der Spaten sich zurück biegt, wie Wittgenstein dies ausdrückt43, d. h. daß Reflexion eintritt, sondern daß die Reflexion als Spaten aufgefaßt wird. Hegels Begriff einer ›absoluten Identität‹ bzw. das Nachfolgerkonzept ›absolute Idee‹ erlaubt es, Natur und Geist, also erste und zweite Natur, als verschiedene Darstellungsmedien von Bestimmtheit aufzufassen.44 Damit vertritt Hegel eine urteilskritisch begründete ontologische Option, die imstande ist, diejenigen natürlichen, noch nicht-propositionalen Verhältnisse zu thematisieren, die immer nur nachträglich epistemischdiskursiv und damit im Pittsburgher Sinne normativ vermittelt sind. Zu dieser Dimension gehört bei Hegel letztlich die Sittlichkeit, deren »Autorität«45 seines Erachtens »unendlich höher«46, man könnte auch sagen unendlich tiefer reicht als alle explizierbaren Regeln, die in Normenkatalogen verhandelt werden können. Propositionale oder gar inferentielle Explikation geschieht immer nur nachträglich und kann gar nicht vollständig gelingen, wie übrigens auch und v. a. Wittgenstein, etwa in Über Gewißheit, dargelegt hat. Hegel gelingt es, Dimensionen der natürlichen Seele und ihrer Disziplinierung im Hinblick auf soziale ›Einrichtungen‹, sprich im Hinblick auf Institutionen zu thematisieren, die unter Normativitäts-Hegelianischen Prämissen nicht einholbar sind. Der Raum des Politischen ist Hegel zufolge nicht bloß als Urteil aufzufassen und damit als substanzontologisch zu denkende Entgegensetzung von Individuen, die in einer ausschließlich durch Hochrechnung ihrer Egoismen konstituierten Allgemeinheit ihre Souveränität aus Selbsterhaltungsinteresse dem Leviathan überschreiben. Die bürgerliche Gesellschaft verweist vielmehr notwendig auf eine Dimension des Allgemeinen, die uns so nah wie unser Selbstgefühl und
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Robert Brandom: Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge (MA)/London 1998, 20. 43 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 2001, § 219. 44 Vgl. die darstellungsphilosophisch untermauerte Studie von Thomas Sören Hoffmann: Philosophische Physiologie. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. 45 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. TWA 7, § 146, Zusatz. 46 Ebd.
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unsere diskursive Allgemeinheit konstituierenden Praktiken und Institutionen steht. Diese Dimension läßt sich gar nicht umstandslos propositional und/oder inferentiell explizieren, ohne dadurch verloren zu gehen. Genau dies wendet Hegel gegen die Reflexionsphilosophie und ihren Begriff des Glaubens ein.
Thomas Auinger Kritik und Verteidigung der Normativitäts-Hegelianer. Anmerkungen zu Markus Gabriel Die zentrale Frage, die bei Markus Gabriel richtigerweise besonders hervorgehoben wird,1 betrifft die Relevanz des Urteils bzw. des Urteilens. Diesbezüglich besteht ein großer Unterschied der Auffassungen, wenn wir die Position Hegels auf der einen Seite und jene von Brandom, McDowell usf. auf der anderen Seite vergleichen. Brandom etwa mißt der Urteilsfunktion im Sinne des Vorrangs des Propositionalen einen äußerst hohen Stellenwert bei, und diesbezüglich gibt es viele Philosophen, die hierin mit ihm einer Meinung sind. Das steht jedoch in vehementem Kontrast zu Hegel, der – so können wir salopp sagen – glaubt, daß sich mit dem Urteil nur äußerst wenig ausrichten läßt. Vielleicht noch, wenn wir an den spekulativen Satz denken, aber hier fehlt es an operativer Dimension. Demgegenüber kann nur der Schluß eine gehaltvolle Mission erfüllen, aber freilich auch nicht in den Vertracktheiten der Syllogistik. Letztlich werden alle vereinzelbaren Komponenten abgewertet gegenüber dem Gesamtzusammenhang des Systems, obwohl wir hier äußerst vorsichtig sein müssen, diesem sogenannten System nicht zu viel zuzumuten. Die McDowell-Stelle, wo das Urteilen ins »Zentrum der Behandlung von objektiver Ausrichtung«2 gerückt wird, manifestiert nun eben diesen anti-hegelianischen Zug, obwohl die Absicht durchaus eine gegenteilige ist. Wenn McDowell sagt, daß zu urteilen hieße, »sich auf freie kognitive Aktivität einzulassen im Unterschied dazu, daß einem etwas im Leben einfach so zustößt, außerhalb unseres Zugriffs«,3 so sollten wir dies nicht mit Hegelschem Gedankengut parallelisieren, obwohl sich das oberfläch-
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Meine Ausführungen beziehen sich auf den Vortrag von Markus Gabriel mit dem Titel ›Absolute Identität und Reflexion (Kant, Hegel, McDowell)‹, gehalten am 04. 04. 2009 im Rahmen des Symposiums ›System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus. System und Systemkritik um 1800‹, Wien (vgl. den Beitrag von Markus Gabriel im vorliegenden Band). 2 Vgl. John McDowell: Having the World in View. Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2009, 71, übersetzt von Markus Gabriel (siehe vorliegender Band). Im folgenden zitiert als »McDowell, Having the World in View«, mit Angabe der Seitenzahl. 3 Ebd.
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lich mit dem Lob des gediegenen Einsatzes des Denkvermögens erwachsener Partizipienten am Staatsgefüge rechtfertigen ließe. Doch wenn wir genauer hinsehen, sollte sich uns eröffnen, daß für Hegel – und das ist eine meiner interpretatorischen Lieblingsthesen – eben jenes reine ›Geschehen-lassen‹, von welchem bei McDowell nur in pejorativer Konnotation die Rede sein kann, ganz im Gegenteil gerade jener Vollzug wäre, der spekulativ begrifflich das Adäquateste darstellt. Nur verbietet es sich für Hegel, dies als Handlungsempfehlung aufzustellen, denn Handeln ist für ihn »Trennen der Einfachheit des Begriffs und die Rückkehr aus dieser Trennung.«4 Das Moment des Rückkehrens würde dabei selbst die bewußteste Tat – wenn man das so superlativisch ausdrücken kann – wieder zu bloßem Geschehen degradieren, aber das erfüllt sich eben nur im Trennungsakt, der – soll er als Handlung gelten – die Bewegung des Zusammenschließens nicht im Vorblick haben kann. Im Hegelschen Handlungsbegriff ist das Urteil wesentlich als aufgehobenes Urteil – phänomenologisch in der Dimension der Verzeihung – inkorporiert. Diese Doppeldynamik zieht das einfache Urteilen in das Handeln hinein und das explizite Urteilen erhält umgekehrt die Aufhebungsstruktur des Handelns. Das ist für mich einer der wichtigsten Gesichtspunkte für ein nachmetaphysisches Verständnis dessen, was bei Hegel absolutes Wissen heißt.5 Für unseren Zusammenhang bedeutet es nur, daß sich schon aus dieser handlungstheoretischen Perspektive die Charakterisierung McDowells als unhegelianisch erweist. Obwohl nun Gabriel darauf richtig verweist, daß für Kant – und etwas modifiziert auch für Fichte – die energetische Bindungskraft der transzendentalen Synthesis der Apperzeption unser Urteilsvermögen allererst belebt, ist dies für mich schon einer jener Gründe, welcher uns dazu veranlassen sollte, Hegel möglichst wenig durch kantianische oder fichteanische Brillen zu lesen, obwohl dies für manche ein lieb gewordenes Steckenpferd darstellt, was – in Bezug auf Kant – ja auch für McDowell zutrifft. Das unterscheidet ihn jedoch von seinem Pittsburgher Kollegen Brandom.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden. Band 3. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 21989, 578. Im folgenden wird diese Hegel-Ausgabe zitiert als »Werke in 20 Bänden«, mit Band- und Seitenangabe. 5 Vgl. dazu v. Verf.: Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2003.
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McDowell selbst bemerkt,6 daß Brandom von Kant dezidiert abweicht, und zwar genau bezüglich jenes Punkts, wo sich Hegel ganz besonders von Kant inspiriert sieht, nämlich in der Würdigung des Stellenwerts der synthetischen Einheit der Apperzeption. Hierin zeigt sich aber meines Erachtens nur McDowells Mißinterpretation eben dieser Hegelschen Anknüpfung an Kant, die wir nicht so verstehen dürfen, als würde Hegel damit auch die mit diesem Konzept verknüpften Konsequenzen bzw. die Konsequenzen, die Kant daraus zieht, mittragen. Das ist nämlich – unter anderem in Bezug auf den Status der Urteilsfunktion als solcher – überhaupt nicht der Fall. Diese Lektion lernen wir ja insbesondere aus Glauben und Wissen, und darauf wurde im Gabriel-Vortrag ganz genau hingewiesen. Sosehr also in den Ausführungen zur kantischen Philosophie (in Glauben und Wissen) der spekulative Gehalt der ursprünglich synthetischen Einheit mit Wohlwollen anerkannt wird, so sehr wird auch das Festhalten am Urteil mißbilligend hervorgehoben, denn die kantische »Philosophie geht vom Urteil nicht bis zum apriorischen Schluß, vom Anerkennen, daß es Erscheinung des Ansich ist, nicht zum Erkennen des Ansich fort.«7 Dennoch ist mir die Manier der Argumentation in Glauben und Wissen suspekt, weil à la Schelling immer noch in positiver Weise von Potenz und Indifferenz, vom Verstand der Natur usf. die Rede ist, und für meine Begriffe auch allzu sehr auf die absolute Identität gepocht wird, was nur zeigt, welch Bruch zwischen dieser Schrift und der Phänomenologie des Geistes vorliegt, wo über die sogenannte Reflexionsphilosophie auf ganz andere Weise hinausgegangen wird. Überdies stimme ich mit der Interpretation der absoluten Identität nicht überein, weil die von Gabriel beschriebene Voraussetzungslogik – das immer schon Vorausgesetzte – typisch transzendentalphilosophischen Charakter besitzt, der meines Erachtens spätestens mit der Wissenschaft der Logik völlig überwunden ist, aber auch für Glauben und Wissen kaum mehr gilt. In der Diskussion zu seinem Vortrag hat Gabriel seine Auslegung der absoluten Identität weiter präzisiert, und sie als eine Struktur gekennzeichnet, die einen ›stabilen Hintergrund‹ abgeben würde, vor welchem erst bestimmte Identitäten aussagbar werden. Die absolute Identität dürfe
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Vgl. McDowell, Having the World in View, 72, Fußnote 8. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Band 2, 309. 7
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somit nicht in einer Sphäre der Bestimmtheit situiert werden, und weil sie selbst kein Bestimmtes sei, müsse man sagen, daß sie auch kein Identisches sei. Das ist ein transzendentalphilosophisch inspiriertes Identitätsverständnis, das abwegig und fast absurd ist, wenn wir an Hegels intensive Bemühungen zur logischen Klärung eben dieser Paradekategorie denken. Ich möchte auf diesen Punkt aufgrund seiner Wichtigkeit etwas genauer eingehen. Es stellt eine formallogisch richtige, aber spekulativ unrichtige Konklusion dar, wenn man meint, von der Aussage, die Identität sei ›an ihr selbst absolute Nichtidentität‹, ableiten zu können, daß diese Bestimmung dadurch das Identitätsmoment eingebüßt hätte. Es verhält sich aber – entgegen der Verstandeslogik – genau umgekehrt. Über das Setzen des Nichtidentischen, d. h. durch diese Setzungsbewegung selbst, wird ebensosehr das Rückkehren zu sich induziert, wodurch die Identität das Ganze und das Moment ihrer selbst ist. Sie bleibt aber zunächst innere Reflexion, die keine Seiten erzeugt, so daß das Nichtidentische kein Gegenüber darstellt, es wird in der Binnenstruktur logisch zeitlos ständig hervorgetrieben und ständig hinweggearbeitet. Insofern bleibt die Identität Identität und Nichtidentität. In der transzendentalen Voraussetzungslogik à la Gabriel wird jedoch die Identität in einer bedingenden Sphäre so fixiert, daß die Reflexion nicht mehr die Reflexion der Identität in sich sein kann. Sie wird nämlich vielmehr aus sich heraus in die Beziehung zur bedingten Sphäre versetzt, wodurch nur eine äußerliche Äußerlichkeit entsteht, die der eigenen Veräußerungsbewegung der Identität nicht entspricht. Das Sprengen des Insichseins der Identität wird nicht erwartet, es wird nur von vornherein von einer Splittung der Identität in Arten von Identitäten ausgegangen, die keine immanente logische Bewegung zuläßt. Zu Theoriezwecken werden Unterschiede eingeführt, die aufzeigen sollen, daß unsere gewöhnlichen Verrichtungen in einer Welt der Bestimmtheiten von tieferliegenden Strukturen abhängig seien, die alles, wozu wir imstande sind, allererst ermöglichen und fundieren. Die hierdurch eröffnete Apriorität entstammt jedoch der Unfähigkeit, die oberflächlichen Bestimmtheiten in ihrer Logizität zu erfassen. Wir benutzen die Hintergrunddimension als eine Krücke, die künstlich Zusatzbestimmungen kreiert, um die statisch nebeneinander gehaltenen Bestimmungen erklären zu können. Dieses Erklären ist jedoch nur ein hinweisendes Tun, das Verweisungszusammenhänge etabliert, wo eine Bestimmung nicht als solche auf ihre Aufhebung weist. Es werden eigentlich nur Zu-
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sammenstellungen vorgenommen, in welcher eines als Erklärendes und etwas anderes als Erklärtes behauptet wird. Demgegenüber können wir sagen, daß wir in der Hegelschen Logik immer in Oberflächlichkeiten verbleiben, das Logische ist reine Oberfläche, es gibt weder ursprünglicheren noch abgeleiteten Hintergrund, keine Metaebenen und keine Logik der Logik. Nur so entsteht absolute Konfrontation, nur so werden wir gezwungen, das Widersprüchliche der Denkbestimmungen so widersprüchlich zu belassen, daß es zu Selbstauflösung führt. Transzendentalität hingegen ist Symptom der Zuflucht, ein schönes Erklärungsmodell, das es erklärlich macht, wie unsere oberflächliche Welt eine nichtoberflächliche Stütze braucht. Und die Transzendentalphilosophie ist der gediegene Ausfluß der Arbeit an diesem Unterbau, der immer aufs Neue ausgestaltet, aber nie mehr hinweggearbeitet wird. Wenn man nichtsdestoweniger die transzendentalphilosophische Herangehensweise aufrecht erhalten will, müßte man zumindest auch die anderen Reflexionsbestimmungen (Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch) in ihrer Absolutheit zu Bedingungen der Möglichkeit ihres nichtabsoluten Vorkommens in der Sphäre der Bestimmtheit stilisieren. Dann hätten wir nicht nur das Paar ›absolute Identität – bestimmte Identität‹, sondern etwa auch ›absolute Verschiedenheit – bestimmte Verschiedenheit‹ usf. Wenn das Absolutheitsmoment aber – wie bei der Identität – mit Unbestimmtheit8 einhergehen soll, müßte es somit auch eine unbestimmte Verschiedenheit geben, die diesseits oder jenseits der bestimmten Verschiedenheiten läge. Eine ›unbestimmte Verschiedenheit‹ ist jedoch ein Unding, weil gerade die Verschiedenheit in ihren Momenten der Gleichheit und Ungleichheit dezidiert die bestimmte Vergleichungshinsicht im Gegeneinanderhalten von Bestimmtheiten darstellt. Sie ist nicht nur gegen die anderen Reflexionsbestimmungen bestimmt,9 sie ist entwikkelte Bestimmtheit in sich. Das stellt man sich unspekulativ nur so vor,
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Genau genommen ist die Identität nicht Unbestimmtheit, sondern ›Bestimmungslosigkeit‹. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II, in: Werke in 20 Bänden, Band 6, 36. 9 Überhaupt gilt: Die »Reflexionsbestimmungen […] sind […] bestimmte gegeneinander; sie sind also durch ihre Form der Reflexion, dem Übergehen und dem Widerspruche nicht entnommen.« (A. a. O., 38) Bei einer transzendentalphilosophischen Interpretation hingegen, wo noch dazu, wie bei Gabriel, die Stabilität betont wird, verbleibt die Reflexionsbestimmung in ihrer äußerlich behaupteten Fixierung, sie wird im Sinne des immer schon Vorausgesetzten als prinzipiell dem Übergang entzogen gedacht.
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als wäre die Kategorie der Verschiedenheit jener Behälter, in welchem die verschiedenartig gesetzten Bestimmtheiten herumpurzeln. Die Verschiedenheit ist dann bloß als das Zusammenfassende gedacht, das von den Beziehungen der Zusammengefaßten untereinander nicht tangiert wird. In Wahrheit ist sie aber durch diese Beziehungen im Gleich- und Ungleichsetzen selbst gesetzt. Im Vergleichen wird die Verschiedenheit selbst ein Verglichenes, nur steht sie nicht auf der Seite der Gleichheit oder der Ungleichheit, sie vergleicht sich mit beiden Momenten, wodurch sie sich gegen deren Gesetztsein setzt. Das ergibt logisch den Schritt zum Gegensatz. – Ist jedoch die Produktivität der Bestimmtheit gehemmt, weil eine künstliche Unbestimmtheit (die keine immanent logische Unbestimmtheit ist) perpetuiert wird, kommt es nur zu entleerter und damit abstrakter Identität. Im Auseinandernehmen von ›absoluter Identität versus bestimmter Identität‹ oder ›absoluter Verschiedenheit versus bestimmter Verschiedenheit‹ wird das eine Glied dieser Relation als Identisches festgehalten, das Unterschiedene aber nur daneben gesetzt, sodaß das Behaupten des Absolutheitsmoments zum reinen Behaupten abstrakter Identität verkommt. Die absolute Verschiedenheit (oder was auch immer in dieser Manier verabsolutiert wird), ist auch nichts anderes als die gegen sogenannte konkrete Identität hypostasierte absolute Identität, aber absolut abstrakte Identität, deren eigener Abstraktionsprozeß in subjektivistischer Reflexion versenkt bleibt, ohne Ansichsein und damit ohne Entwicklung. Die skizzierte Kritik an McDowell kann ich jedoch weitgehend nachvollziehen und ergänze noch zwei weitere Punkte. Erstens: McDowell glaubt, daß aus Hegelscher Sicht die kantische Deduktion geglückt wäre, wenn Kant die fälschliche Rückbindung an die Externalität unserer raum-zeitlich disponierten Sinnlichkeit unterlassen hätte.10 Das ist meines Erachtens ebenfalls unrichtig, weil Hegel das Vindikationsprogramm – wie subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben – nicht als eine verfolgenswerte Strategie erachtet. Da ist es dann irrelevant, ob die Sinnlichkeitsdimension in anderer Fassung das ganze Unternehmen besser aussehen lassen würde. Zweitens: In Abhebung zu Pippin behauptet McDowell, daß die Erfahrung gewöhnlicher Gegenstände in der Phänomenologie des Geistes gar kein Thema sei. Die in der Phänomenologie vollzogene Erfahrung wäre nur eine Sache philosophischer Reflexion.11 Diese Ansicht ist äußerst frag10 11
Vgl. McDowell, Having the World in View, 85. Vgl. a. a. O., 89, Fußnote 24.
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würdig, denn sie degradiert die Erfahrungsschritte des Bewußteins zu einer bloßen philosophischen Angelegenheit, die abgehoben wäre von gewöhnlicher Erfahrung in Bezug auf gewöhnliche Dinge und Ereignisse. Hegel selbst kennzeichnet den für die Phänomenologie relevanten Erfahrungsbegriff zwar in Abhebung zu einem landläufigen Verständnis, aber diese Differenzierung verläuft nicht anhand der Abgrenzung zwischen empirischen Objekten und Objekten der philosophischen Reflexion. Dennoch wird von McDowell richtigerweise darauf hingewiesen, daß wir uns mit Hegel in einem Kosmos des Begrifflichen bewegen, worin es keiner gesonderten Abgrenzung eines rein kategorialen Reichs gegenüber sonstigen Begriffen bedarf. Zu glauben, daß dies extra zu leisten wäre, ist viel eher etwas, das man Kant vorwerfen sollte.12 Das darf man aber freilich nicht mit der Unterscheidung von logischen und empirischen Begriffen verwechseln. Das logische Vokabular ist – im Sinne Brandoms – durch seine expressive Kraft ausgezeichnet, es erfüllt einfach andere Aufgaben. So kommen wir nun noch auf Brandom zu sprechen. Hier muß gesagt werden, daß im Vortrag eine falsche Einschätzung präsentiert wurde, weil oberflächlicherweise alle sogenannten ›Normativitäts-Hegelianer‹ in einen Topf geworfen werden. Es ist nun durchaus richtig, daß Brandom mit einer mit dem Vorrang der Propositionalität ausgestatteten Brille liest und schreibt, wodurch auch sein Blick auf Hegel etwas unter künstlich erzeugter Sehschwäche leidet, aber das muß man sehr genau von seinem eigenen philosophischen Projekt und seiner ganz eigenständigen Strategie unterscheiden, die man keinesfalls auf umgekehrte Weise durch eine streng aufgesetzte Hegelbrille mißdeuten sollte. Das ist leider eine Krankheit, die sich bei vielen einstellt, die im Deutschen Idealismus bewandert sind, und die sich durch allzu einseitige Exegese die Augen verdorben haben. Aber abgesehen von dieser Polemik, die ja auf die in diesem Band versammelten Autoren und Autorinnen nicht zutrifft, greife ich dennoch einen äußerst wichtigen Punkt heraus, der im Referat völlig verfehlt thematisiert wurde, für Brandom aber von entscheidender Bedeutung ist.
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Genau heißt es: »Hegelian talk of ›the Notion‹ does not allude to special nonempirical concepts about which an issue would arise about how they relate to ordinary empirical concepts. That is just what goes wrong in Kant’s treatment of the idea of the categorial; it is because Kant sees things like this that he needs to appeal to something external to apperception in the second part of the B Deduction and the Schematism.« (McDowell, Having the World in View, 86).
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Gabriel behauptet nämlich, daß es den Normativitäts-Hegelianern nicht gelänge, ›den Dualismus von Natur und Norm zu überwinden. Normen gibt es bei ihnen deswegen nicht all the way down, weil an irgendeinem Punkt doch wieder die Natur einspringen muß, um den Regelregreß anzuhalten, der entstünde, wenn alles Verhalten regelgeleitet wäre.‹ Das ist nicht nur unrichtig, es ist sogar schlichtweg das Gegenteil von Brandoms diesbezüglicher Position. Brandom vertritt nämlich geradezu die Ansicht, daß wir von Normen bis auf den Grund ausgehen sollten, weil wir allein dadurch vor den naturalistischen Reduktionsversuchen gefeit sind, die daran kranken, für gewisse Bereiche des Normativen doch wieder Deskription vor Präskription zu setzen. – Die Verwirrung ist jedoch entstanden, weil Brandom die Formulierung ›all the way down‹ für mehrere Termini verwendet. Es muß hier präzise unterschieden werden zwischen: – »norms all the way down«13 – »rules all the way down«14 und – »stances all the way down«15 Die letztgenannte Variante wird von Brandom verwendet, um die Position von Dennett zu kennzeichnen, der die Einstellungen des Zuschreibens und Beschreibens so behandelt, als hätten sie nichts mit der Frage zu tun, ob unsere Repräsentationen mit dem, was repräsentiert wird, übereinstimmen. Das ist ganz definitiv nicht Brandoms Auffassung, der zwar davon ausgeht, daß die Gehaltetablierung immer über Einstellungen läuft, die Objektivitätsdimension aber nur über Einstellungstranszendenz eröffnet wird:16 »It must be shown how on inferentialist grounds it is possible to fund objective proprieties of inferring and judging – to make intelligible the way in which what it is correct to conclude or to say depends on how the objects referred to, talked about, or represented actually are. Even if, to begin with, attention is restricted to inferential proprieties, it is clear that
13
Robert B. Brandom: Making It Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment. Cambridge (Mass.) 1994, 44. Im folgenden zitiert als »Brandom, Making It Explicit«, mit Angabe der Seitenzahl. 14 A. a. O., 20. 15 A. a. O., 58–59. 16 Vgl. dazu v. Verf.: Praxis und Objektivität. Anmerkungen zu Robert B. Brandoms postanalytischer Hegel-Interpretation, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 3: Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Hrsg. von Karl Ameriks u. Jürgen Stolzenberg, Berlin/New York 2005, 162–178.
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not just any notion of correctness of inference will do as a rendering of the sort of content we take our claims and beliefs to have. A semantically adequate notion of correct inference must generate an acceptable notion of conceptual content. But such a notion must fund the idea of objective truth conditions and so of objectively correct inferences. Such proprieties of judgment and inference outrun actual attitudes of taking or treating judgments and inferences as correct. They are determined by how things actually are, independently of how they are taken to be. Our cognitive attitudes must ultimately answer to these attitude-transcendent facts.«17 Auf dem Weg zu diesem Ziel einer Einstellungstranszendenz, die nichtsdestoweniger aus einer bestimmten Konvergenz unserer normativen Einstellungen hervorgeht, müssen wir uns entschieden vor einem falschen Regelverständnis hüten, das die ganze Unternehmung im Brandomschen Sinne zu Fall bringen würde. In diese Regelfalle tappen wir dann, wenn wir leichtfertig dem Slogan ›rules all the way down‹ frönen. Hier kommt der Regelregreß ins Spiel, der dann zum Problem wird, wenn man durchgängige Geregeltheit im Sinne expliziter Regeln annimmt. Derartiges wird von Brandom unter dem Titel ›Regulismus‹ gebrandmarkt und er setzt sich mit Wittgenstein eindeutig davon ab. Denn schon Wittgenstein macht darauf aufmerksam, daß die durchgängige Geregeltheit aufgrund der erforderlichen Regelanwendung in einen Regreß bzw. Progreß18 mündet, der nur gestoppt werden kann, wenn es eine praktische Normenumsetzung gibt, die keinen expliziten Charakter mehr besitzt. Vollkommene Regeldurchdringung bleibt so eine bloße Abstraktion, die sich nur aufrecht erhalten läßt, wenn nicht auf das tatsächliche Regelfolgen geachtet wird.19 Tun wir das sehr wohl, dann mündet dies in einen
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Brandom, Making It Explicit, 136 f. Jede Regel enthält die Möglichkeit, sie so anzuwenden, daß eine bestimmte Performanz als verboten oder auch als erlaubt erscheint. Die Beurteilungen dessen, ob eine Regel richtig angewendet wurde, bedarf dann wiederum einer Regel usf. 19 Das Regelregressargument findet sich in Bezug auf Metasprachen auch bei Sellars. Vgl. Wilfrid Sellars: Some Reflections on Language Games, in: Science, Perception, and Reality. London 1963, 321. Überdies ist Sellars, ebenso wie Wittgenstein, auf der Suche nach einem pragmatistischen Verständnis von Normen: »We saw that a rule, properly speaking, isn’t a rule unless it lives in behavior, rule-regulated behavior, even rule-violating behavior. Linguistically we always operate within a framework of living rules. (The snake which sheds one skin lives within another.) In attempting to grasp rules as rules from without, we are trying to have our cake and eat it. To describe rules is to describe the skeletons of rules. A rule is lived, not described.« Wilfrid Sellars: Language, Rules, Behavior, in: Pure Pragmatics and Possible Worlds, Atascadero 1980, 155. 18
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Normenpragmatismus, der keinen Platz mehr läßt für eine intellektualistische Regelauffassung im Sinne des Regulismus.20 Überdies wendet sich Brandom auch gegen den sogenannten ›Regularismus‹, der auf der Vermutung basiert, daß Regeln vielleicht nur als Beschreibungen von Regelmäßigkeiten bedeutsam sind. Der Regularismus geht so über den Regulismus hinaus, weil er den Regreß der expliziten Normen vermeidet. Es wird jedoch das Verstehen (mit spezifischer Auswirkung auf das Befolgen) nicht vorausgesetzt, weil es nur um regelmäßiges Verhalten geht, aber nicht um ein durch Regeln gesetztes Verhalten (vgl. die Kantische Unterscheidung zwischen pflichtgemäßem Handeln und Handeln aus Pflicht). Für die Praxisteilnehmer würde dann gar kein explizites Wissen um die Regeln erforderlich sein. Daraus ergibt sich aber der Standpunkt eines Dritten, der die Übereinstimmungen mit den Regeln beurteilen muß.21 So verliert sich bald der Kontrast zwischen normativer Beurteilung und einer quasi-physikalischen Beschreibung von irgendwelchen Verhaltens-Gesetzmäßigkeiten. Doch auch eine regularistische Sichtweise muß unterscheiden zwischen dem, was getan wird und dem, was getan werden sollte. Es muß die Möglichkeit eines fehlerhaften Regelfolgens geben können. Im einfachen Regularismus kann der Maßstab für die Richtigkeit oder Falschheit einer Performanz nur in deren Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit liegen. Dieser einfache Regularismus ist dann nichts anderes als eine Regelmäßigkeitstheorie der Richtigkeiten der Praxis. Darin bleibt jene Normativität, auf die es uns eigentlich ankäme, für immer verborgen. Das kann also dem Vorhaben Brandoms in keinster Weise entsprechen. Worauf sich Brandom aber sehr wohl festlegt, ist die Ansicht, daß in unserer Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen stets interdependente Normen implizit enthalten sind. Unsere Praxis und Sprachpraxis ist durch und durch eine normative Angelegenheit, deren wir uns gar nicht entziehen können, weil all unsere Äußerungen in einem Beziehungsgeflecht verortet sind, in welchem sie mit unserem eigenen Festlegungs- und Berechtigungshaushalt sowie mit jenem unserer Kommunikationspartner so konfrontiert werden, daß es 20
»Rule-based proprieties of performance depend on practice-based ones. The regulist, platonist, intellectualist conception of norms must be supplemented by that of the pragmatist.« Brandom, Making It Explicit, 22. 21 Diese Konstellation, wonach Praktiken nur als Verhaltensregelmäßigkeiten aufzufassen seien, bezeichnet Brandom als einfachen Regularismus [simple regularity theory]. Es gibt auch noch ausgeklügeltere Formen, die aber allesamt am Gerrymandering-Problem scheitern. Das kann hier nicht ausgeführt werden.
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keine Möglichkeit gibt, einen Standpunkt zu etablieren, der diese normative Dimension durch bloße Deskription ersetzen könnte. Die Sollensgeladenheit,22 die schon Sellars ganz besonders betonte, ist keine Sache, die nur mit moralischen Fragestellungen zu tun hätte. Sie betrifft schon die basalen Formen unseres Weltbezugs und erstreckt sich auf den gesamten ›space of reasons‹ wie auch auf den ›space of nature‹. Letztlich unterliegen all unsere Ansichten über die Natur und über unsere Zweite Natur bestimmten Richtigkeitsbeurteilungen, die normativ bedeutsam sind. Es gibt keinen wertfreien reinen Deskriptionsstandpunkt. In diesem Sinne kann von ›Normen bis auf den Grund‹ gesprochen werden, aber das sind eben nicht ›Regeln bis auf den Grund‹, die in regulistischer Manier den Praxisvollzug äußerlich bestimmen und dirigieren. Das dirigierende Moment ergibt sich nicht so sehr aus der Dynamik des Regelfolgens selbst, es leitet sich vielmehr von den Einstellungen her, in deren Exekution allererst propositionaler Gehalt etabliert wird. Wir tauchen hiermit in eine tieferliegende Schicht, die normativ konstitutiv wirkt, aber nicht selbst schon durch explizite Regeln strukturiert ist. In der exzessiven und detailgenauen Ausarbeitung dieser Einsicht bewahrt uns Brandom geradezu vor einer falschen Normativitätsgläubigkeit, wir sollten sie ihm daher nicht auf unreflektierte Weise zum Vorwurf machen.
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Sollensgeladen: ›fraught with ought‹.
Jakub Kloc-Konkołowicz Ist der Primat des Praktischen nur ›eine hohle Deklamation‹? Hegelsche Kritik an Fichte in Glauben und Wissen Hegels Schrift Glauben und Wissen stellt bekanntlich eine breit angelegte Kritik der sogenannten ›Reflexionsphilosophie‹ dar. Mit Reflexionsphilosophie meint Hegel die philosophischen Konzepte Kants, Fichtes und Jacobis. Im weiteren blende ich die Hegelsche Kritik an Kant und Jacobi aus und konzentriere mich ausschließlich auf seine Polemik gegen Fichte. Mein Vorhaben ist es vor allem, zu versuchen, diese Polemik im Lichte der heutigen Debatten zu sehen und zu überlegen, welche philosophische Relevanz den dort angewandten Argumenten heute zuzuschreiben ist. Dabei möchte ich den innovativen Charakter der Fichteschen Philosophie hervorheben, der im Gegenteil zu dem florierenden Interesse an Hegel in den aktuellen Diskussionen, wie es mir scheint, meistens unterschätzt wird. Zunächst werde ich also die Hegelsche Kritik an Fichtes Philosophie kurz in ihren Hauptzügen rekonstruieren. Dann versuche ich diese Kritik zuzuspitzen, indem ich mich auf das Konzept des begrifflichen Holismus berufe, wie es heute vor allem in den Schriften Robert Brandoms zu finden ist. Ich gehe dabei davon aus, daß das philosophische Konzept, das in Glauben und Wissen von Hegel kritisiert wird, diese Kritik zu Recht erntet. Davon unterschieden ist jedoch die Frage, ob sich dieses Konzept tatsächlich mit dem Fichteschen identifizieren läßt. Ohne eine endgültige Antwort auf diese wichtige Frage zu liefern, deute ich im folgenden eher auf einige Missverständnisse hin, die sich in Hegels Fichte-Deutung eingeschlichen haben.
1. Die Hegelsche Kritik an Fichtes Philosophie In dem der Philosophie Fichtes gewidmeten Teil seiner Abhandlung beschreibt Hegel den Rezeptionskontext dieser Philosophie fast wie eine Fabel: »[…] es ist zu seiner Zeit erzählt worden, daß Menschen über dem Beginnen, den reinen Willensact und die intellectuelle Anschauung zu produciren, in Wahnsinn verfallen seyen; beydes ist ohne Zweifel
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durch den Nahmen der Sache veranlaßt worden […]. Irgend ein Ding, etwas dem reinen Bewußtseyn, oder Ich, […] fremdartiges anschauen, ist empirische Anschauung, aber von allem Fremdartigen im Bewußtseyn abstrahiren und sich selbst denken, ist intellectuelle Anschauung. […] diese Abstraction ist doch leicht zu machen […]. […] indem ja doch jeder weiß, daß er weiß; solcher empirischen Wahrheit wird der Vorzug von der absoluten Wahrheit der Totalität gegeben.«1 Ich denke, in dieser Passage verbirgt sich das Hauptargument Hegels gegen den Fichteschen Idealismus. Dieses Argument, das wir im folgenden zu rekonstruieren haben, bildet einen Teil der allgemeinen Argumentationsstrategie von Glauben und Wissen, die den Kantisch-Fichteschen Idealismus entweder als eine Stütze für den reinen Empirismus und Eudämonismus oder sogar direkt als eine verdeckte Ausgabe des Empirismus zu entlarven sucht. Damit wird der Philosophie Fichtes die Eigenschaft des Spekulativen abgesprochen; Hegel will offensichtlich sagen: Die Philosophie Fichtes schmückt sich nur mit dem spekulativen Kleid, sie ist jedoch in Wirklichkeit eine Konzeption, welche auf einer empirischen Wahrheit des Faktums des Selbstbewußtseins alles andere aufzubauen versucht. Weit davon entfernt spekulativ zu sein ist sie in ihrem Wesen nichts als »das System des gemeinen Menschenverstands«.2 In der Kritik Hegels an Fichte geht es vor allem um die richtige Methode des Erkennens, wobei als Maßstab gilt, daß das ›wahre‹ Erkennen, oder wie wir es heute eher formulieren würden, daß eine gute Theorie, das Ganze der Subjekt-Objekt-Relationen, die Totalität, rekonstruieren soll. Warum ist nach Hegels Überzeugung die Fichtesche Philosophie nicht imstande, die Totalität, das Ganze des zu Erkennenden, begrifflich auszuschöpfen? Die Antwort hierauf fällt folgendermaßen aus: Weil sie vor allem von einer einzelnen, und zwar empirischen, Wahrheit des Sichselbst-Wissens des Wissenden ausgeht. Damit nimmt sie einen Teil des Ganzen nicht nur als den Ausgangspunkt, sondern als einen absoluten Stützpunkt für die begriffliche Rekonstruktion des Ganzen. Sie beginnt also mit einer Abstraktion, die zwei folgenschwere Konsequenzen hat: Auf der einen Seite produziert sie die rein formale Tautologie der Sich1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 4. Hrsg. v. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler. Hamburg 1968, 390–391. Im folgenden zitiert als »Hegel, Glauben und Wissen«, mit der Angabe der Seitenzahl. 2 A. a.O., 397.
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selbst-Gleichheit des Ich; dieses Ich oder das reine Selbstbewußtsein wird verabsolutiert, es bleibt aber leer und ohne allen Inhalt, weil es nur die Form der von allem Inhalt absehenden Selbstbeziehung ist. Alle Inhalte werden dagegen durch diesen Abstraktionsakt auf der anderen Seite der Subjekt-Objekt-Trennung überlassen und mit dem, wie es Hegel nennt, ›Minus-Zeichen‹ versehen. Sie bleiben einerseits aus der Absolutheit des reinen Ich ausgeschlossen, andererseits ist der Bezug auf sie unumgänglich, sobald über die formale Selbstgleichheit hinausgegangen werden soll. Daß sich die Kantische und Fichtesche Philosophie »wohl zum Begriff, aber nicht zur Idee erhoben« hat,3 soll bedeuten, daß das höchste in diesen Philosophien – ob ›leere Vorstellung‹ der transzendentalen Einheit der Apperzeption, des ›Ich denke‹, oder das reine Wissen des ›Ich=Ich‹ – nur ein entleerter empirischer Begriff ist, nicht aber die Idee, die das Empirische erst begreifbar machen würde. Als entleerter empirischer Begriff bleibt das Kantisch-Fichtesche Ich auf den entfernten empirischen Inhalt angewiesen. »So sind diese Philosophieen, indem sie das Empirische bekämpfen, unmittelbar in seiner Sphäre geblieben.«4 Warum diese Philosophien das Empirische bekämpfen und wie dieser Kampf von Hegel gedeutet wird, wird sich im folgenden noch zeigen. Zunächst wollen wir den entscheidenden Punkt der Hegelschen Kritik an Fichte festhalten, nämlich daß die Fichtesche Philosophie, die selber bei einer empirischen Wahrheit ansetze, durch denselben Abstraktionsakt, durch welchen sie sich über das Empirische erhebe, dem Empirischen eine absolute Bedeutung als der einzig möglichen Quelle der Inhalte zuweise. Darauf bezieht sich eben Hegels Metaphorik, wenn er von der »Siegerin Vernunft« spricht, die der Gefahr ausgeliefert sei, »dem Geiste nach […] dem Ueberwundnen zu erliegen«.5 Indem Fichte das Subjektive einseitig verabsolutiere, dies aber nur durch die Ausschließung des Objektiven erlangen könne, verabsolutiere er parallel dazu das Objektive, welches sich von nun an, als begrifflich undurchdringbar, dem Begrifflichen direkt entgegensetze. Deswegen nennt Hegel den Fichteschen Idealismus auch »Idealismus des Endlichen«, der darin bestehe, daß, sobald »das Endliche in die ideelle Form aufgenommen« werde, auch dem »realen Endlichen« eine solche Unendlichkeit gegenübergestellt werde, die keine wahre Unendlichkeit, sondern nur »endliche Idealität, d. h. reiner Begriff« sei.6
3 4 5 6
A. a.O., 321. Ebd.. A. a.O., 315. A. a.O., 322.
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Was sehr leicht mißverstanden werden kann, ist die Tatsache, daß für Hegel nicht das Hinausgehen des Idealismus über das Empirische als solches zum Problem wird, sondern die Art und Weise, auf welche dieses Hinausgehen geschieht. Nicht im geringsten über das angebliche ›Vernichten des Empirischen‹ im Fichteschen Idealismus besorgt, verweist Hegel eher darauf, daß dieser Idealismus gar nicht imstande ist, die wahre Negativität des Begriffes aufzufassen und damit auch die wahre Aufhebung aller Gegenständlichkeit durchzuführen. So ist für Hegel der berühmte Nihilismus-Vorwurf Jacobis an Fichte eine völlig verfehlte Interpretation: Hegel gibt zwar gerne zu, daß »das erste« der Philosophie »das absolute Nichts zu erkennen« sein soll;7 er hält aber die Philosophie Fichtes zu einem auf solche Weise definierten ›Nihilismus‹ gar nicht fähig. Fichtes Philosophie wird nicht wegen ihrer angeblichen Negativität, die ihr laut Hegel völlig fehlt, sondern wegen ihrer Abstraktheit kritisiert, welche den Dualismus des Ich und des Sinnlichen verewige und gleichzeitig das angeblich absolute und reine Ich nur im negativen Bezug auf die ausgeschlossene Sinnlichkeit aufrecht erhalten könne. Das Empirische werde keineswegs vernichtet: es bleibe viel eher übrig, mit dem Minus-Zeichen versehen, und solle (aber könne nicht) im unendlichen Kampf vernichtet werden. Mit dem Begriff des Kampfes meint Hegel vor allem die Moralphilosophie Kants und Fichtes, wo die Seite der Begierden, Neigungen etc., insgesamt: des Sinnlichen, als ›Heteronomie‹ abgewertet, dem freien moralischen Willen radikal entgegengesetzt und als sein Haupthindernis begriffen wird. Der defizitäre Zustand des ›Mangels‹ an Inhalten werde in der Wissenschaftslehre zwar zugegeben; dieser von dem theoretischen Ich gefühlte Mangel müsse jedoch befriedigt werden. Zu diesem Zweck konstituiere sich das Ich als ›reiner Wille‹, der das ausgeschlossene Sinnliche wieder aneignen solle. Diese Konstitution des reinen Willens sei laut Hegel eine »hohle Declamation«8 des erbaulichen Idealismus, die man unter die »Popularitäten« rechnen solle, wie Hegel solche Begriffe, wie »absolute Freyheit«, »Absolutheit der practischen Vernunft«, etc. beschreibt.9 So wird das für Fichte zentrale, von Kant übernommene, Konzept des ›Primats der praktischen Vernunft‹ als leere, inhaltslose Formel entlarvt, die ihrerseits auch einen aneignenden Bezug auf die zunächst ausgeschlossene Sinnlichkeit benötigt, um etwas Wirkliches zu werden. Wie kann sich also 7 8 9
A. a.O., 398. A. a.O., 403. A. a.O., 401.
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das reine Ich überhaupt zu einem in der Sinnlichkeit Agierenden um-konstituieren und wie kann es in Berührung mit dem Wirklichen kommen? Darauf gibt Hegel eine klare Antwort: Die Erfüllung des reinen Ich mit den Inhalten nimmt die Gestalt einer ›Deduktion‹ an. Diese Deduktion besteht aber laut Hegel darin, die bisher mit dem Minuszeichen versehene Sinnlichkeit ab jetzt mit dem Pluszeichen zu versehen und sie als ›Bedingung‹ des Selbstbewußtseins wieder zu entdecken. »Die Deduction der Sphäre für die Freyheit besteht also darin, daß es [das Objektive] mit einem plus, als seyend gesetzt wird; so wie ein leerer Geldbeutel ein Beutel ist, in Beziehung auf welchen das Geld allerdings schon, aber mit dem Zeichen minus gesetzt ist und das Geld aus demselben unmittelbar deducirt werden kann, weil es in seinem Mangel unmittelbar gesetzt ist.«10 Wenn sich zu diesen Zwecken das Ich als ›reiner Wille‹ konstituiert, so wiederholt sich auch auf praktischer Ebene dieselbe Lage. Für Hegel hat die theoretische Gestalt der so genannten ›Reflexionsphilosophie‹ mit ihrer praktischen Form eine gemeinsame Struktur, in welcher der tautologischen Identität des Denkens (bzw. des Willens) eine undurchdringbare Fülle des Sinnlichen entgegengesetzt wird. Entweder bleibt der reine Wille nur »hohle Declamation«, oder aber, sobald er wirklich werden will, muß er seine Inhalte »empirisch aufnehmen«.11 Wenn er diese empirischen Inhalte in die Form des kategorischen Imperatives, des Sollens, der Pflicht hinein gießt, so ergibt sich daraus nach Hegel ein »totalitätsloser Widerstreit dieses Inhalts«.12 Dieser letzte Zustand bedeutet m. E. die von Hegel im Sinne einer Situationsethik beklagte unumgängliche Zertretung einiger Pflichten, die mit dem Einhalten anderer in einer gegeben Situation einhergeht. Der tiefere Grund dieser Pflichtenkollision ist die ›unendliche‹ begriffliche Bestimmbarkeit jeder Situation, in der die moralische Pflicht erfüllt werden soll. Die Verabsolutierung der moralischen Pflicht ist lediglich um den Preis der abstrakten, einseitigen Auffassung der Wirklichkeit zu erreichen. Es ist offensichtlich, daß in der praktischen Sphäre, welche, wie das Hegel interpretiert, als Sphäre des Bekämpfens der Sinnlichkeit durch die triumphierende Vernunft konzipiert wird, die Wiederherstellung der Totalität völlig unmöglich ist. Aber auch die Auffassung der Natur als der Ganzheit der ›Bedingungen des Selbstbewußtseins‹ (das also, was von Hegel als Fichtes kreative Buchhalterei des Zeichenwechsels kritisiert 10 11 12
A. a.O., 392. A. a.O., 403. Ebd.
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wird) ist nicht wirklich imstande, die einst verlorene Totalität aufs Neue zu beleben. Der Bezug auf den ausgeschlossenen Teil des Ganzen (die Natur) kann durch einen verabsolutierten, aber ebenfalls aus der Totalität ausgeschlossenen Ich-Teil nicht wiederhergestellt werden. Wenn die komplexe Durchdringung der Idee, des Begriffes und des Empirischen, welche die Totalität ausmacht, zunächst durch einen Abstraktionsgriff auseinandergerissen wird, ist diese Trennung nicht mehr zu überwinden. So gelangt Fichte, wie es laut Hegel typisch für den Idealismus Kantischer Prägung ist, zu einer völligen ›Ungleichheit‹ des Subjektiven und Objektiven, zu einem unüberwindbaren und perennierenden Dualismus. Im Rahmen dieser Erkenntnistheorie erinnert – wie es eine vortreffliche Metapher Hegels veranschaulicht – die Identität zwischen Subjekt und Objekt diejenige zwischen Sonne und Stein, welche identisch sind »in Ansehung der Wärme, wenn die Sonne den Stein wärmt«.13 Die fixierte erkennende Subjektivität kann nicht aus ihrem Umkreis herausgehen. Ihre versuchte ›Rekonstruktion‹ der Totalität bildet in Wirklichkeit nur eine Mißdeutung des Ganzen als einer subjektiven Projektion aller Erkenntnisgegenstände. Subjekt und Objekt sind hier nur in Ansehung der Wärme identisch, mit welcher das Licht der Erkenntnisakte des Ich die Gegenstände seiner Erkenntnis wärmt. Sowohl die beherrschende Wiederaneignung des Sinnlichen durch die moralisch-praktische Tat, wie auch die theoretische Umwandlung des Sinnlichen in Möglichkeitsbedingungen des Selbstbewußtseins sind nur zwei Seiten derselben Medaille – nämlich der in den Streit mit der Natur verwickelten Egoität. Zu den Vorwürfen des leeren Formalismus und des Dualismus kommt also noch der Vorwurf der ›Totalitätslosigkeit‹, also des Fehlens des wahren ›spekulativen‹ Moments in der Fichteschen Philosophie. Damit haben wir den Umkreis unserer kurzen Rekonstruktion der Hegelschen Kritik an Fichte geschlossen.
2. Hegel, Brandom und der begriffliche Holismus Einige in polemischer Einstellung formulierte Argumente Hegels, aber auch die Argumente Fichtes, die wir zu einer Art Verteidigungsrede stilisieren könnten, behalten ihren Wert auch für die heutigen Debatten. Das Bindeglied bildet hier ein Begriff, der für die oben rekonstruierte Argumentation eine Schlüsselrolle spielt: der Begriff der Totalität. Für 13
A. a.O., 331.
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einige Strömungen der zeitgenössischen analytischen Philosophie, vor allem für den Pragmatismus, ist Hegel gerade dank dieses Begriffs ins Visier gerückt. Die heutigen Pragmatisten meinen, mit seinem Totalitätsbegriff führe Hegel den begrifflichen Holismus in die moderne Philosophie ein. Was den heutigen pragmatistischen Holismus vor allem auszeichnet, ist die Methode der rationalen Rekonstruktion, die im Gegensatz zum Empirismus nicht bei den unmittelbaren Eindrücken und ihnen entsprechenden einfachen empirischen Begriffen ansetzt, sondern die sich von ›oben‹ nach ›unten‹ bewegt, von den Konstellationen der Urteile und Begriffsanwendungen in Richtung einzelner Begriffe oder auch Eigennamen (der sogenannte »top-down approach«14). Jedes sinnvolle Urteil macht einen Unterschied in dem ›Spiel des Gebens und Empfangens von Gründen‹: es ändert die Liste derjenigen Urteile, zu welchem der Sprecher verpflichtet ist und zu welchen die anderen berechtigt sind; es ändert auch die Menge der Begründungen, die eventuell anzuführen sind. Da jedes Urteil inferenziell mit anderen verbunden ist, kann nicht ein einzelner Begriff völlig unabhängig von den anderen verstanden und definiert werden. Diese Behauptung hat sehr wichtige Konsequenzen, unter anderem diese, daß ein Bezug auf einen konkreten empirischen Gegenstand nie völlig begriffslos erfolgen kann und nicht ohne die Möglichkeit anderer Gegenstandsreferenzen durchzuführen wäre. Der repräsentationsbezogene Inhalt der Begriffe ergibt sich also aus den inferenziellen Konsequenzen ihrer Anwendung. Was wir über die Objekte sagen, dient letztendlich unserer Kommunikation: dem Sortieren der kommunikativen Verpflichtungen zwischen den Kommunizierenden. Die Dimension der Repräsentation wird also von der Seite der sozialen und sprachlichen Relationen her entfaltet. Ohne auf die Einzelheiten des Brandomschen Inferenzialismus näher eingehen zu können, möchte ich vor allem auf solche Elemente hinweisen, die in unserem Zusammenhang wichtig erscheinen. Der inferenzialistische Gedanke, daß wir immer in Begriffskonstellationen denken und nur dadurch zum Auffassen einzelner Begriffe und zu einzelnen Referenzen fähig sind, rehabilitiert in der angelsächsischen Philosophie nicht nur das Hegelsche Konzept der Totalität, sondern auch dasjenige der Dialektik. Brandom schreibt: »[…] one cannot have any concepts unless one has many concepts. For the content of each concept is articulated by 14 Robert B. Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge/London 2000, 13. Im folgenden zitiert als »Brandom, Articulating Reasons«, mit der Angabe der Seitenzahl.
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its inferential relations to other concepts. Concepts, then, must come in packages.«15 Folglich nehmen die Begriffe für die Konstitution des Bewußtseins eine viel wichtigere Stellung als die empirischen Stimuli ein; oder, präziser gesagt: Das Bewußtsein der empirischen Stimuli setzt schon das Beherrschen einiger begrifflicher Strukturen voraus. »One must already have concepts to be aware in this sense«.16 Bewußtsein läßt sich also auf die Humesche Weise – lediglich durch den Bezug auf die Perzeptionen und die Kraft der Gewohnheit – nicht rekonstruieren. Das Bewußtsein kann nicht naturalisiert werden; es ist auf unreduzierbare Weise immer auch ein begriffliches und dadurch auch kulturelles Phänomen. Was aus solcher Perspektive als wichtigster Vorwurf Hegels an Fichte erscheint, ist die Klage gegen das Konzept des selbstbezogenen, rein formalen Subjekts, welches eine hoffnungslose Zersetzung der Totalität impliziert. Für den begrifflichen Holismus kann es überhaupt keine absolut privilegierten Begriffe oder eine absolut privilegierte Referenz geben, die allen anderen zugrunde liegen würde. Gerade eine solche Referenz wird aber bei Fichte, laut Hegel, behauptet: die absolut privilegierte Referenz bildet hier die Selbstreferenz. Somit wird ein herausgerissener Teil der Totalität der Referenzen isoliert und zum Grund der anderen Referenzen gemacht. Das völlig von den Gegenständen abgesonderte Ich wird zu einer Art ›Behälter‹ für die Begriffe oder Funktionen, was aus der Perspektive des Pragmatismus und Inferenzialismus als eine unnötige Substanzialisierung des Ich erscheinen muß. In dem Sinne ließe sich sagen, daß Fichte immer noch in die Cartesische Vorstellung des Subjekts als Substanz und auch in die Cartesische Trennung des denkenden Subjekts von der bewußt- und begriffslosen Natur (der ›res extensa‹) verwickelt bleibt, was er selbst vehement bestreitet. Und tatsächlich kritisiert ihn Hegel genau auf diese Weise, wenn er bemerkt, daß die formale Struktur des Ich bei Fichte, in welcher zwei Tätigkeiten (die des Setzens und die des Entgegensetzens) vereinigt sind, nichts anderes als die traditionelle Vorstellung des Subjekts als der »einfachen Substanz der Seele« ist, welche den »gemeinschaftlichen Behälter« für »vielerlei entgegengesetzte Thätigkeiten« bildet.17 Gleichzeitig erfolgt bei Fichte eine radikale Entleerung der objektiven Seite von der Begrifflichkeit. Damit wird die objektive begriffliche Strukturierung der Weltinhalte ausgeblendet und als eine individuelle Leistung 15 16 17
A. a.O., 15–16. A. a.O., 26. Hegel, Glauben und Wissen, 397.
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des isolierten Subjekts mißdeutet. Anstatt das Subjekt in der Konstellation der vorgefundenen, überindividuellen, sozial und sprachlich bedingten Strukturierung der Weltinhalte zu sehen, konstruiert Fichte das Subjekt zu einer Art metaphysischem Zentrum, von dem aus in der Form einer vergegenständlichenden Projektion die Objekte gleichsam monologisch konstituiert werden. Letztendlich gleicht dieses idealistische Modell demjenigen des Empirismus, wo ebenfalls die Begrifflichkeit auf die rein physikalisch definierte Sinnlichkeit extern durch das erkennende Subjekt aufgetragen wird. Und tatsächlich, wie wir gesehen haben, setzt Hegel die letzten Konsequenzen des Fichteschen Idealismus mit den Konsequenzen des Empirismus weitgehend gleich: er stellt überraschende Übereinstimmungen zwischen diesen Konzepten fest, vor allem was die (direkte oder indirekte) Verabsolutierung des Empirischen betrifft. Wenn also Hegels Urteil, durch die heutige holistisch-pragmatistische Argumentation unterstützt, richtig ist, dann bildet die Philosophie Fichtes eine Form der sogenannten Bewußtseinsphilosophie, in der das Subjekt zu einer Quelle verschiedener, psychologisch aufgefasster Geistesakte stilisiert wird. Die dadurch notwendig entstehende metaphysische Kluft zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven kann mit Mitteln solcher Subjektphilosophie niemals überwunden werden.
3. Einige Missverständnisse in der Hegelschen Deutung der Fichteschen Philosophie M. E. wird eine solche Abstempelung der Fichteschen Philosophie als einer subjektiven Bewußtseinsmetaphysik der Intention und dem Inhalt seines Projekts gar nicht gerecht. Es läßt sich die Tendenz feststellen, daß die moderne Philosophie des englischsprachigen Raums, indem sie schon längst Kant und letztlich auch Hegel für sich entdeckt hat, auch zugleich dabei ist, Fichtes Wissenschaftslehre lediglich als eine Sackgasse im Übergang zwischen Kant und Hegel, also in der großen »transition«,18 wie das Brandom nennt, abwertend mißzudeuten. Ich möchte lediglich auf drei Punkte bei Fichte hinweisen, die mir in diesem Kontext sehr wichtig erscheinen: auf den Status der intellektuellen Anschauung, auf den intersubjektiven Vorgang der Ich-Konstitution und auf den inferenziellen Charakter der Deduktion der sinnlichen Gegenständlichkeit. Dabei beziehe ich mich bewußt nicht auf die klassische Formulierung der Wis18
Brandom, Articulating Reasons, 32.
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senschaftslehre, sondern auf die Wissenschaftslehre nova methodo, wo die Gegenüberstellung der theoretischen und der praktischen Seite der Philosophie weitgehend überwunden ist. Was die ›intellektuelle Anschauung‹ angeht, so wird meistens von den Kritikern Fichtes, Hegel mit eingeschlossen, übersehen, daß Fichte nicht von einer ›Setzung‹, sondern von zwei Setzungen spricht. »Es giebt also ein ursprüngliches Sezen des Ich und der Welt, und ein Setzen des schon Gesetzten, das erste macht das Bewustsein erst möglich, und kann daher darinn nicht vorkommen; das zweite aber ist das Bewustsein selbst.«19 Diese Doppelstruktur der Setzung des Bewußtseins macht es notwendig, zwischen der ›ursprünglichen Thesis‹ und der ›Analyse‹ dieser Thesis zu unterscheiden. »Die gesammte Erfahrung ist nun bloße Analysis dieser ursprünglichen Synthesis.«20 Schon an dieser Unterscheidung zeigt sich, daß die Hegelsche Herabstufung der intellektuellen Anschauung bei Fichte zu einer empirischen Tatsache eher fraglich ist. Der Akt des reflektierenden Selbstbezugs, der in der Abstraktion von den Inhalten des Bewußtseins besteht, verweist, wie es Fichte nie müde wird zu wiederholen, auf eine Thesis – auf ursprüngliche Tätigkeit, die das Bewußtsein und seine Inhalte überhaupt erst möglich macht. Insofern ist die Selbstreflexion nur ein Bild der ursprünglichen Setzung des Bewußtseins. Fichte bestreitet dabei ausdrücklich, daß Bewußtsein wie ein Ding oder eine Substanz aufgefaßt werden dürfte: »Das Ich ist nicht Seele, die Substanz ist.«21 Ebenso ist es kein »Zustand des Gemüths«.22 Es findet hier weder eine Substantialisierung des selbstbewußten Ich statt, noch wird das Bewußtsein als Reihe verschiedener Dispositionen begriffen. Weit davon entfernt, Bewußtseinsphilosophie zu sein, will Fichtes Wissenschaftslehre eher die notwendige Substanzialisierung des Bewußtseins in den empirischen Erfahrungsprozessen kritisch beleuchten. Es läßt sich sogar behaupten, daß eine der stark motivierenden Intentionen der Philosophie Fichtes insgesamt der Kampf mit dem Konzept des ›passiv vorstellenden‹ Bewußtseins ist. Die Wissenschaftslehre geht von einer radikal anti-naturalistischen Deutung des Bewußtseins aus: Statt in dem Bewußtsein einen passiven ›Behälter‹ für Eindrücke der äußeren Gegen-
19
Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. v. Erich Fuchs, Hamburg 1994, 9–10. Im folgenden zitiert als »Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo«, mit der Angabe der Seitenzahl. 20 A. a.O., 10. 21 A. a.O., 29. 22 A. a.O., 30.
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stände zu sehen, deduziert sie die Notwendigkeit der Objekte ausgehend von den durch das Bewußtsein projizierten Bildern. »Das Ich der WißenschaftsLehre ist kein Spiegel, es ist ein Auge. […] das Wesen des Auges ist: ein Bild für sich sein, und ein Bild für sich sein ist das Wesen der Intelligenz. […] Aber ein Bild bezieht sich auf ein Object; wo ein Bild ist, muß etwas sein, das abgebildet wird.«23 Repräsentation ist nicht nur, wie bei Brandom, kein dominierender Begriff mehr; bei Fichte ist sogar schon der inferenzialistische Weg von den Relationen zwischen den Urteilen und Begriffsanwendungen in Richtung der Objektreferenz vorgezeichnet. Schon aus diesen kurzen Bemerkungen sieht man deutlich, daß die Denunzierung der Wissenschaftslehre als Bewußtseinsphilosophie auf Mißdeutungen basiert. Dasselbe betrifft die angebliche Isoliertheit des Ich. Fichte zeigt in der Wissenschaftslehre nova methodo, daß das Individuum immer nur ein durch sich selbst »herausgegriffener Theil« aus »den Vernunftwesen« ist.24 Die Selbstkonstituierung des Ich als eines vernünftigen Wesens kann ohne die Anerkennung seitens anderer vernünftiger Wesen gar nicht zustande kommen. Die Konstitution als einzelnes Wesen und die Zuschreibung der Rationalität ist nur im Bezug auf die Konstitution und Rationalität anderer Wesen möglich: »[S]ollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein.«25 Die Vernünftigkeit des Einzelnen kann gar nicht isoliert und monologisch sein, da sie sich nur der gegenseitigen Zuschreibung, der kontinuierlichen ›Anmutung‹ der Rationalität durch alle vernünftige Wesen untereinander ergibt. So wie Vernünftigkeit in den Relationen mit anderen Vernunftwesen besteht, so muß sie auch als mit einem Leib vereinigt gedacht werden: »Ein gewißer Leib und der Begriff eines vernünftigen Wesens sind in mir unzertrennlich vereinigt«.26 Wer also Fichte zu einem Formalisten und Rationalisten cartesischer Prägung stilisieren will, muß seine innovativen Überlegungen zu Intersubjektivität und seine Deduktion der Leiblichkeit und der triebhaften Natur des Menschen völlig ausblenden. Der dritte Punkt betrifft den Vorgang der von Hegel kritisierten Deduktion der sinnlichen Gegenständlichkeit aus der Perspektive des Ich. Einerseits weist Fichte die Vorstellung ab, die Wissenschaftslehre wäre
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A. a.O., 54. A. a.O., 177. 25 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, 39. 26 Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, 234. 24
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eine ›Analyse‹ des Ich: er weiß sehr wohl, – ohne hier von Hegel belehrt werden zu müssen –, daß dies eine »leere Philosophie«27 ergeben würde. Es geht eher um die Darstellung der ›Konstruktion der Welt‹ durch das Ich »nach seinen eignen Gesetzen«.28 Dieses Ich, das hier gemeint ist, ist aber selbstverständlich kein empirisches; somit kann es nicht eine Synthese im empirischen Sinne sein. Wie faßt also Fichte diesen synthetischen Vorgang auf? Um dies zu erläutern, muß man die Behauptung Fichtes ernst nehmen, daß seine Wissenschaftslehre nur einen einzigen Akt der ursprünglichen Setzung immer genauer darstellt, indem sie ihn »zergliedert«.29 Diesen Vorgang sollten wir uns also nicht so vorstellen, wie es uns Hegel suggeriert, als ein praktischer Akt der Wiederaneignung der zunächst ausgeschlossenen Inhalte. Fichte beschreibt seine Wissenschaftslehre auf folgende Weise: »Die WißenschaftsLehre fordert jeden auf, zu überlegen, was er thut, in dem er sagt: Ich«.30 Da die Synthese, die hier analysiert wird, schon längst ›hinter dem Rücken‹ des philosophierenden Ich geschehen ist, kann der synthetische Vorgang nur in der fortgehenden Konstatierung der praktischen und theoretischen Implikationen der ursprünglichen Ich-Setzung bestehen. Fichte scheint es also genau um dieselbe Frage zu gehen, die das Brandomsche Projekt leitet: »[…] what else one would be comitting oneself to by applying the concept«?31 Dementsprechend lautet Fichtes Frage: Wozu sonst bin ich praktisch und begrifflich verpflichtet, indem ich den Begriff ›Ich‹ in selbstreferentieller Funktion anwende? Die Logik der Konstitution der Objekte ist folglich durch das ›Explizit-Machen‹ des Impliziten bedingt. Fichte scheint also hier gar nicht so weit von dem Brandomschen inferenzialistischen Konzept entfernt zu sein, nach dem die de-re-Deskriptionen unserer Sprache als das ›making explicit‹ der impliziten Inferenzen unserer Begriffsanwendung zu verstehen sind. Die Konstitution der Gegenständlichkeit ist die explizite Darstellung dessen, was wir implizit akzeptiert haben müssen, indem jeder von uns Ich sagt. Zwischen dem Ich und der Gegenständlichkeit besteht ein logischer Zusammenhang, der aber gleichzeitig insofern auch als praktisch zu verstehen ist, als die Implikationen der ersten Ich-Setzung immer bestimmte, notwendige Handlungen sind. Die Setzung der Gegenständlichkeit ist also
27 28 29 30 31
A. a.O., 28. Ebd. A. a.O., 9. A. a.O., 7. Brandom, Articulating Reasons, 11.
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keine willkürliche Handlung des empirischen Ich, sondern eine Reihe der notwendigen Konstitutionshandlungen, die die inferenziellen Konsequenzen der ersten Ich-Setzung explizit machen. Es ist also damit keine ›Übertragung‹ der inneren Zustände des Ich in die sinnliche Realität gemeint. Ich denke, eine der besten Methoden, den Sinn der Fichteschen Konzeption der Wissenschaftslehre plausibel zu machen, ist die Beschreibung, die Brandom als Zusammenfassung seines eigenen Entwurfes angibt: »[…] an expressive transcendental deduction of the necessity of objects«.32 Der Primat der praktischen Vernunft ist bei Fichte keine ›hohle Deklamation‹, auf welche der übliche Empirismus, mit seiner rein passiven Aufnahme der Wahrnehmungen folgen würde. Ganz im Gegenteil sollte man versuchen, das philosophische Programm Fichtes plausibel zu machen, welches darin bestehen soll, daß »die Aufforderung eines Sollens« »als Wahrnehmung erscheinen« muß.33 Indem Fichte das Wissen rekonstruiert, findet er darin, lange vor Brandom, aber auch vor Hegel, die fundamentale normative Dimension, die mit der ›Teilnahme‹ an der Rationalität mehrerer vernünftiger, aus verschiedener Perspektive erkennender Subjekte zusammenhängt. Und die ›objektive Erscheinung‹, oder wie man heute sagen würde, die Objektreferenz, soll ausgehend von den normativen Verpflichtungen deduziert werden, die sich der Teilnahme an der von allen geteilten Vernünftigkeit ergeben. Nur so ist die verblüffende Erklärung Fichtes zu verstehen, nach der der kategorische Imperativ »zur Erklärung des Bewustseins überhaupt« gebraucht werden soll.34 Wir sind hier wirklich nicht weit von der inferenzialistischen Interpretation der Objektreferenz entfernt, die als Folge der Notwendigkeit des Sortierens der kommunikativen Verpflichtungen gedeutet wird. Schon diese sparsamen Bemerkungen machen klar, daß derjenige Denker, der von Hegel im dritten Teil von Glauben und Wissen kritisiert wird, diese Kritik zwar zu Recht – als ein Metaphysiker und Subjektivist – erntet, daß er aber dennoch nicht wirklich mit dem historischen Johann Gottlieb Fichte zu identifizieren ist. Vieles von dem, was heute als Errungenschaft Hegels gepriesen wird, ist bei Fichte schon vorweggenommen. Wenn man die beiden Denker als polemische Fortsetzer der von Kant angefangenen antinaturalistischen Kopernikanischen Revolution in der 32 33 34
A. a.O., 41. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, 230. A. a.O., 143.
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Auffassung der Relationen zwischen dem Erkennenden und seinen Objekten ansieht, dann liegen sie gar nicht so weit auseinander, wie es der harsche Ton in Glauben und Wissen suggerieren mag. Im Lichte der heutigen Debatten zeigt sich so ihre Nähe recht deutlich.
Lars-Thade Ulrichs Ein leerer Geldbeutel? Hegels Fichtekritik in Glauben und Wissen und die Revision der Wissenschaftslehre in der Wissenschaftslehre nova methodo In dem nachstehenden Aufsatz soll geprüft werden, ob und inwiefern die Kritik des frühen Hegel an der praktischen Philosophie Fichtes, die er in seinen Beiträgen zu dem gemeinsam mit Schelling veranstalteten Kritischen Journal der Philosophie, insbesondere in Glauben und Wissen von 1802 formuliert hat und die sich vor allem auf die Wissenschaftslehre von 1794 sowie auf Die Bestimmung des Menschen bezieht, in Rückgriff auf die Wissenschaftslehre nova methodo entkräftet werden kann, wie sie Fichte von 1796 bis 1799 in Jena lehrte.1 Dabei geht es im folgenden jedoch nur um einen einzigen – freilich zentralen – Punkt: um die Frage nach der Möglichkeit einer Sicherung der Realität der objektiven Welt innerhalb der praktischen Philosophie. Diese Frage hatte sowohl für Fichte als auch für Hegel eine für die Begründung ihres jeweiligen Systems entscheidende Bedeutung, insofern ihnen eine solche Realitätssicherung innerhalb der theoretischen Philosophie als zunehmend schwierig, wenn nicht aussichtslos erschien. 1. Laut Hegel hat Fichte dadurch, daß er in der theoretischen Philosophie die Objektivität aus dem Prinzip des Ideellen, dem reinen Ich ableitet, das An-und-für-sich-Sein des Objektiven aufgehoben. Die Realität der objektiven Welt bleibe damit jedoch unerklärt – und zwar unabhängig davon, ob diese als eine Mannigfaltigkeit der Dinge oder der Empfindungen bestimmt wird. Aufgrund dessen werde es bei Fichte nun Aufgabe der praktischen Philosophie, das An-sich-Sein der Dinge »aus dem, wie wir sie machen sollen«, zu deduzieren. Damit aber stelle sich Fichte letztlich nur auf den »empirische[n] Standpunkt eines jeden Einzelnen«, und die Mannigfaltigkeit der Realität erscheint bloß »als eine unbegreif1 Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Hegel die Wissenschaftslehre nova methodo zur Kenntnis genommen hätte. Daher kann auch nicht behauptet werden, er habe sie in seiner Kritik bewußt ignoriert.
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liche, ursprüngliche Bestimmtheit und empirische Notwendigkeit«. Das Verhältnis von Ich und Welt bleibt, so Hegel, auf diese Weise jedenfalls unbegreiflich.2 Was in der Argumentation Fichtes geschieht, ist für Hegel also ein illegitimer Doppelschritt: zunächst die Vernichtung der Sinnenwelt durch Ableitung aus dem Ich im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre (im Rahmen eines, wie Schelling und Hegel ihn genannt haben, bloß ›subjektiven Idealismus‹) und sodann die Realitätssicherung dieser Sinnenwelt durch den absoluten Willensakt im praktischen Teil der Wissenschaftslehre.3 Der erste Schritt ist Hegel zufolge unerlaubt aufgrund der Leerheit und Unvollständigkeit des reinen Ich, das als Deduktionsprinzip gänzlich untauglich sei.4 Das aus dieser Leerheit entstehende Bedürfnis des reinen Ich nach einem selbständigen Anderen, auf das es sich in seinen verschiedenen Weltverhältnissen beziehen kann, vermag, zweitens, nicht durch die praktische Intentionalität des Ich befriedigt zu werden, da eine solche Deduktion bezogen auf die objektive Welt eine bloße »Verwandlung der Zeichen, des minus in plus«, d. h. des durch und durch vom Ich Bestimmten in ein nunmehr vorgeblich Selbständiges darstelle. Dies entbehre, so Hegel, jeder rationalen Grundlage. Hegel erhebt also gegen Fichte den Vorwurf 1. des Formalismus und 2. des Dualismus: Es stünden sich in der theoretischen Philosophie das bloß formale Ich mit seinem »leeren Denken« auf der einen und die »Masse gemeiner empirischer Realität« bzw. eine »einheitslose Empirie« auf der anderen Seite gegenüber5, die jedoch beide »nur im und fürs Wis2
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Jenaer kritische Schriften. Band 3. Hrsg. v. Hans Brockard u. Hartmut Buchner. Hamburg 1986, 100 f. Im folgenden zitiert als »Hegel, GW«, mit Angabe der Seitenzahl. 3 Vgl. Hegel, GW, 102. Am deutlichsten wird dies in der Bestimmung des Menschen, wo die praktische Intentionalität (»mein Denken und Entwerfen eines Zweckbegriffes«) bezeichnet wird als »der Punkt, an welchen das Bewußtsein aller Realität sich anknüpft« (Johann Gottlieb Fichte: Bestimmung des Menschen, in: Werke. Auswahl in 6 Bänden. Hrsg. v. Fritz Medicus. Leipzig 1910–1912, hier Band 3, 346 f.; im folgenden wird diese Schrift zitiert als »Fichte, BdM«, mit Angabe der Seitenzahl. Die Werke werden im folgenden zitiert als »FW«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl). Vgl. auch Fichte, BdM, 359: »[D]er notwendige Glaube an unsere Freiheit und Kraft, an unser wirkliches Handeln, und an bestimmte Gesetze des menschlichen Handelns ist es, welcher alles Bewußtsein einer außer uns vorhandenen Realität begründet – ein Bewußtsein, das selbst nur ein Glaube ist.« 4 Vgl. Hegel, GW, 103. 5 Vgl. a. a. O., 106 f. 109.
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sen gesetzt« seien.6 Gerade daraus aber entstehe die Notwendigkeit einer Realitätssicherung für die objektive Welt, der die praktische Philosophie genügen soll, aber laut Hegel nimmermehr genügen kann. Hegel fordert stattdessen, daß die Setzung von Ich und Nicht-Ich nicht, wie in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 in drei im Grunde isolierten, die Antinomie nicht aufhebenden Grundsätzen bzw. Akten, sondern dialektisch aus einer absoluten Einheit entfaltet werden müßten.7 Bei Fichte habe die objektive Welt, so pointiert Hegel seine Kritik, keinen positiven Charakter, da sie nur durch das Ich bestimmt werde; ihren negativen Charakter, »ein Anderes, d. h. ein Entgegengesetztes überhaupt zu sein«, könne hingegen weder das theoretische noch das praktische Ich aufheben – entsprechend bleibe es vom Nicht-Ich qua Anstoß abhängig.8 Dies sei der eigentliche Grund dafür, daß Fichtes »Verweis« auf das »praktische Vermögen« zu einem unendlichen Streben bzw. Sollen führt, durch das das Nicht-Ich jedoch bloß »aufgehoben« bzw. »vernichtet« werde.9 Trifft diese Kritik Hegels auch noch die Wissenschaftslehre nova methodo? Zunächst ist zu sagen, daß Fichte hier den Versuch unternimmt, den – wie Hegel ihn nannte – »leeren« und »formalen« Ichbegriff zu überschreiten: Das Ich findet sich nun in seiner auf sich zurücklaufenden Tätigkeit als wollend.10 Unklar bleibt jedoch, in welcher Weise das praktische Selbstbewußtsein ein unmittelbares Selbstbewußtsein bereits voraussetzt.11 Viele 6
A. a. O., 115. Setzen wie Entgegensetzen sind laut Hegels Fichte-Deutung Handlungen des Ich, und bereits ein solcher Ausgang von einem Gegensatz ist für Hegel »ein vorläufiges, problematisches Philosophieren«. Ihre Vereinigung im 3. Grundsatz stellt jedoch keine wahre Synthese dar, da sie beide nur durch das Kausalitätsverhältnis verbinde. Im Grunde handle es sich bloß um das »System des gemeinen Menschenverstands«. (Vgl. a. a. O., 111 f.) 7 Vgl. a. a. O., 104. Der Ausgang des subjektiven Idealismus Fichtes, das Selbstbewußtsein, ist für Hegel bemerkenswerterweise eine bloße »empirische Gewißheit« – »indem ja doch jeder weiß, daß er weiß« – und insofern ein ganz und gar falscher Ausgangspunkt. Vielmehr sei der Anfang zu machen von der Totalität als dem in intellektueller Anschauung erfassten Absoluten – dieses jedoch manifestiere sich im objektiven Subjekt-Objekt, der Natur, genauso wie im subjektiven, dem Ich. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt a. M. 1969–1971, hier Band 2, 63. Im folgenden wird diese Schrift zitiert als »Hegel, Differenz«, mit Angabe der Seitenzahl. Die Werke werden zitiert als »HW«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 9 Vgl. a. a. O., 68 f. 10 Dabei sind Wollen und Denken resp. Vorstellen gleichermaßen Formen der absoluten »Selbsttätigkeit« des Ich. Vgl. dazu Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: FW 2, 478. Im folgenden zitiert als »Fichte, SdS«, mit Angabe der Seitenzahl. 11 Vgl. a. a. O., 1. Lehrsatz.
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Formulierungen in der Wissenschaftslehre nova methodo legen die Annahme nahe, daß das in intellektueller Anschauung erfaßte Wollen das schlechthin Erste, der primäre Inhalt des Selbstbewußtseins sei – und zwar als reiner Wille, der zum »Erklärungsgrund des Bewußtseins« (WL-NM, 152) bzw. dessen »Anfangspunct« (WL-NM, 179) erhoben wird. In der intellektuellen Anschauung des reinen Wollens erkenne ich mich »als mich selbst bestimmend« stets außerhalb der Zeit, da ein solches Wollen »durch nichts bedingt« sei.12 Entsprechend ist Fichte das Ich »das durch sich selbst thätige und durch diese Thätigkeit auf sich wollende« bzw. das Wollen »sein ursprünglich nicht weiter abzuleitendes sondern für alle Erklärung voraus zusetzendes Wesen«.13 Dieser Wille ›versinnlicht‹ sich objektiv als Leib: Der Leib ist das Wollen selbst, objektiv angeschaut; Wille und Leib sind identisch, nur angesehen »in doppelter Rücksicht«.14
2. Eine Sicherung der Realität der objektiven Welt durch das Ich kann aber, so Hegel gegen Fichte, auch nicht durch den absoluten Willensakt erfolgen, da dadurch ebensowenig die wahre Identität von Ich und Nicht-Ich erreicht werde.15 Vielmehr entstehe hier nur ein »unendlicher Progreß« der Vermittlung zwischen Ich qua (reiner) Wille und objektiver Welt qua bloßer Sphäre seiner Wirksamkeit.16 Zudem muß, soll durch das Han-
12
Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. v. Erich Fuchs. Hamburg 1982, 136 (§ 13). Im folgenden zitiert als »Fichte, WL-NM«, mit Angabe der Seitenzahl. Es handelt sich also um kein empirisches Wollen, keine Willkür im Sinne eines Übergangs von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit (wobei der Leib laut Fichte die »Summe der Bestimmbarkeit« sei, sich zeigend sinnlich als Individualität, übersinnlich als Sittengesetz). 13 A. a. O., 213; vgl. dazu Fichte, BdM, 350. So auch in der Sittenlehre, wo die absolute Tätigkeit = Freiheit als das »eine, schlechthin und unmittelbar mir zukommende Prädikat« bezeichnet wird (Fichte, SdS, 403). Deshalb auch ist die »Trägheit«, der »Schlendrian« für Fichte das »radikale Übel« im Menschen (vgl. Fichte, SdS, 594 ff.). Allerdings ist, wenn Fichte das »sich bestimmen« als den »absolute[n] Anfang alles Lebens und Bewußtsein[s]« (Fichte, WL-NM, 208) bezeichnet, zu berücksichtigen, daß die Selbstbestimmung für Fichte auch bereits das theoretische Ich charakterisiert. 14 Vgl. dazu Fichte, WL-NM, 160. 163 f. sowie Fichte, SdS, 405 und natürlich Schopenhauer. Zugleich ist der Leib für Fichte ein organisiertes und sich organisierendes Naturprodukt; siehe dazu Abschnitt 4 dieses Aufsatzes. 15 Sie wird folglich bei Fichte zu einer Sache des »Glaubens«. 16 Hegel, GW, 117 sowie Hegel, Differenz, 70. In der Sittenlehre heißt es: »[W]ir finden uns als ursprünglich begrenzt nicht dadurch, daß unsere Begrenztheit sich
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deln des reinen Willens die objektive Realität gesichert werden, diese Realität laut Hegel zuvor im Willen »ideell vorhanden sein, als Absicht und Zweck des Subjekts«. Wie aber im reinen Willen ein derartiger Realitätsgehalt enthalten sein soll, sei nicht einsichtig, denn der reine Wille sei bloß »reine Identität ohne allen Inhalt«. Dieser Inhalt muß vielmehr empirisch aufgenommen werden. Der reine Wille ist für Hegel deswegen nichts weiter als »eine hohle Deklamation«.17 In der Wissenschaftslehre nova methodo sind jedoch, so ließe sich mit Fichte entgegnen, ideeller Zweckbegriff und reelles Objekt, auf das gehandelt wird, nur zwei Seiten desselben Sachverhalts; sie sind eigentlich identisch. Das Ding sei nichts als die Summe der Handlungsmöglichkeiten, des Bestimmbaren. Insofern bekommt der Wille seinen ganzen Inhalt nicht aus dem Empirischen, sondern er liegt bereits in ihm – und zwar in Form der kategorischen Forderung des reinen Wollens, »das die Erkenntniß des Objects nicht voraussezt, sondern schon bei sich führet«.18 Der reine Wille ist demnach etwas Intelligibles, das sich »durch ein Gefühl des Sollens äußert«.19 In Widerspruch dazu steht freilich Fichtes Überlegung, daß erst durch freie, selbstbezogene Reflexion aus dem reinen ein empirischer, zeitlicher Wille werde, der reine Wille hingegen außerhalb der Zeit und Mannigfaltigkeit liege, keine Objekte habe, nur eins sei und nur sich wolle.20 Die aus der freien Reflexion entstehenden mannigfaltieinengte […] [i. e. durch die Wirkungen des Nicht-Ich], sondern dadurch, daß wir unsere Grenzen erweitern […] als überwindend den Widerstand.« (Fichte, SdS, 486) Vgl. auch Ludwig Siep: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804. Freiburg 1970, 41: Für Hegel, so führt Siep aus, ist das Sollen bzw. Streben Fichtes »nichts anderes als das Perennieren des schon im Anfang gelegenen Widerspruches«, ohne daß die Identität von Ich und Nicht-Ich je erreicht würde – mit dem Resultat einer »schlechten Unendlichkeit« 17 Vgl. Hegel, GW, 118 f. An dieser Stelle wird für Hegel deutlich, daß die Befreiung des Ich von der Bestimmtheit durch das Nicht-Ich durch den Nachweis von dessen ideeller Abhängigkeit, wie sie Fichte im 2. Abschnitt der Bestimmung des Menschen intendiert, bloß scheinbar ist – dies zeige sich auch an dem sich an diese Befreiung anschließenden, eigentlich inkonsequenten »Härmen« über die Verflüchtigung aller Realität zu einem Nichts – ein Härmen, das laut Hegel umso erstaunlicher ist, da bereits die hier doch überwundene naturalistische Sicht (des 1. Abschnitts) in einem gleichen Entsetzen geendet hatte (vgl. Hegel, GW, 108 f.). 18 Fichte, WL-NM, 143. Man könnte in diesem Zusammenhang davon sprechen, daß sich theoretische und praktische Intentionalität wechselseitig voraussetzen. 19 A. a. O., 152 20 Vgl. a. a. O., 157 ff. 167. Sehr deutlich heißt es in der Sittenlehre: »Alles wirkliche Wollen ist empirisch. Ein reiner Wille ist kein wirklicher Wille, sondern eine bloße Idee; ein Absolutes aus der intelligiblen Welt, das nur als Erklärungsgrund eines Empirischen gedacht wird.« (Fichte, SdS, 542) Erst im empirischen Wollen werden Be-
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gen Zwecke und Objekte21 eröffnen danach dem Willen den Spielraum für sein Handeln: Er gelangt nun erst in die Wahlsituation und wird zur Willkür. Allem empirischen Wollen liegt der reine (»wirkliche«) Wille also immer schon voraus.22 Für Fichte hat der reine Wille damit eine wesentliche Funktion in der voluntativen Selbstbestimmung als letzter Bezugspunkt; er gibt dem Handelnden die grundlegende, von aller empirischen Selbst- und Weltkenntnis unabhängige Orientierung und konstituiert wesentlich seine Identität. Mit dem reinen Willen treten, so Fichte, Freiheit und unabhängige Objektivität als untrennbare Aspekte desselben Sachverhalts ins Bewußtsein.23 schränktheit und Freiheit unter dem Einfluß der Reflexion synthetisiert (vgl. Fichte, WL-NM, 163). Wenn es allerdings in der Wissenschaftslehre nova methodo heißt, daß »der ursprüngliche reine Wille« selbst sich »durch Zweckbegriffe« äußere (a. a. O., 171), so steht dies dazu in einem offenbaren Widerspruch – zumal wenn man jene Stelle hinzunimmt, wo Fichte die Auffassung vertritt, daß »Wollen, Zweckbegriff und Wahrnehmung eines Objects« erst »in der Erfahrung« getrennt würden (a. a. O., 186). Vollends verwirrend wird es, sobald man berücksichtigt, daß Fichte das Verhältnis von reinem Willen und intentionalem Objekt später als eines der praktischen Intentionalität beschreibt, wonach der Zweckbegriff die Beschaffenheit des Objekts kausal begründe (vgl. a. a. O., 195), und schließlich behauptet, die »Gestalt« des Dings sei »nur die verworrene Darstellung aller Handlungsmöglichkeiten, die in dem Dinge ausgedrückt sind, alles was ich daraus machen könnte« (a. a. O., 225). All das scheint alles Andere als klar gedacht zu sein; man kommt daher nicht umhin, Fichte in diesem Zusammenhang mangelnde analytische Schärfe vorzuhalten. 21 Vgl. a. a. O., 183: »Das Denken eines Zwecks und das eines Objects sind eigentlich daßelbe, nur sind sie es von verschiedenen Seiten angesehen.« 22 Vgl. a. a. O., 175. Offen bleibt in diesem Zusammenhang allerdings, in welchem Verhältnis diese Ausführungen, wonach im Wollen »mein ganzes Sein und Wesen bestimmt für einmal auf alle Ewigkeit« liege (a. a. O., 154), zur Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Willen steht. 23 Vgl. Christian Klotz: Selbstbewußtsein und praktische Identität. Eine Untersuchung über Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo. Frankfurt a. M. 2002, 149 f. Fichtes Begriff vom reinen Willen bzw. vom über wechselseitige Aufforderung zu realisierenden Vernunftzweck ist Hegels späterem Begriff vom Willen bzw. praktischen objektiven Geist durchaus ähnlich – heißt es doch in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, daß die wahre Freiheit als Sittlichkeit darin bestehe, daß der Wille »allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat« (vgl. HW 10, 288) bzw. »seinen Begriff, die Freiheit selber, zu seinem Inhalte oder Zwecke macht« (a. a. O., 289). Dies gilt auch für die Ausführungen in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wonach der Wille in sich das Besondere und das Allgemeine (zum Einzelnen) zusammenschließe bzw. der »wahrhafte Wille« ein »freier Wille [sei], der sich zum Gegenstande hat – seine Freiheit – nur sie will« (vgl. HW 7, 54 ff. § 7). Für Fichte wie für Hegel besteht danach die wahre Freiheit des Willens nicht in der Willkür bzw. Wahlfreiheit, sondern in der Realisierung des allgemeinen Vernunftzwecks der Sittlichkeit (vgl. etwa a. a. O., 66 f.). Vgl. auch Hegels Begriff vom an und für sich seienden Willen, der die allgemeine Sittlichkeit zu seinem Gegenstand hat, in dem aber das Partikulare und Besondere (durch
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3. Laut Hegel ist die Auffassung von der Realitätssicherung im und durch das Handeln jedoch überhaupt nicht verständlich zu machen, denn das Handeln geht immer auf etwas bereits Reales, das in ihm nur verändert wird. Bei Fichte liegt die Realität hingegen im sich selbstbestimmenden Ich, und nur in ihm. Sie wird bloß auf die Welt außer ihm (das Nicht-Ich) übertragen; dadurch wird sie erst zur dinghaften Sinnenwelt. Allerdings geschieht diese »Ableitung des Weltbegriffs« nicht aus dem reinen Willen, der dazu »nicht brauchbar [ist], weil er eben rein ist«, sondern unter Anwendung der freien Reflexion auf ebendiesen reinen Willen.24 Dabei stellt sich sowohl bei Fichte als auch bei Hegels Kritik die Frage, was für ein Begriff von Realität eigentlich in Ansatz gebracht wird: Die objektive Welt hat bei Fichte insofern bereits Realität, als sie als Anstoß wirksam ist; diese auch das Ich bestimmende Selbstständigkeit des Nicht-Ich ist es gerade, was im praktischen Streben überwunden werden soll, um dadurch die absolute Autonomie des Ich zu sichern. Zugleich trägt aber diese Realität den Charakter bloßer Negativität; vollständige, positive Realität kann ihr nur durch das (wollende) Ich gesichert werden – das jedoch ist es gerade, was Hegel in Glauben und Wissen kritisiert. Man müßte demnach zwei Realitätsbegriffe unterscheiden – einen rudimentären, bloß die Negativität beschreibenden, der überwunden werden soll, und den vollständigen Begriff einer selbständigen, positiven Realität im eigentlichen Sinne, der für Fichte nur durch die Leistung des Ich konstituiert wird und von dem Hegel, Schelling folgend, von vornherein und unabhängig vom Ich ausgehen möchte. Diese Frage nach dem Realitätsbegriff stellt sich umso dringlicher, als das genaue Verhältnis von Dingwelt und Welt anderer Intelligenzen resp. Vernunftwelt – die beiden Sphären, in die sich bei Fichte die Sinnenwelt teilt – letztlich unklar bleibt: Gibt es bezüglich des Realitätsgehalts eine Priorität der (vorbildlichen) Vernunft- vor der (nachgebildeten) Dingwelt?25 Und welchen vernünftigen Sinn können wir mit der Rede von der durch das Ich gesetzten Realität in bezug auf die durch andere Intelligenzen repräsentierte Vernunftwelt verbinden?
die Tätigkeit des Denkens) aufgehoben ist (a. a. O., S. 72), sowie den »abstrakte[n] Begriff der Idee des Willens« als des »freie[n] Wille[ns], der den freien Willen will«, was sich wiederum im Recht äußere (a. a. O., S. 79). 24 Vgl. Fichte, WL-NM, 153 25 Vgl. a. a. O., 156.
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Hier wird deutlich, wie schwierig das Verhältnis der Überlegungen Fichtes zur Realität der objektiven Welt zum Anerkennungstheorem bzw. zum Problem der Intersubjektivität ist, das sich bezüglich der Vernunftwelt stellt. Laut Fichte ergeht von den anderen vernünftigen Wesen die Aufforderung zum freien Handeln; erst ihnen gegenüber und durch diese Aufforderung wird das Ich zum Individuum, zur Person, gewinnt es seine praktisch-voluntative Identität und Grundorientierung26: Als Individuum entstehe ich, so Fichte, dadurch, »daß ich mich aus dem Vernunftreiche herausgreife«.27 Dabei kann die Begründung der Individualität der Person durchaus als anderer Ausdruck für die Begründung der Realität der objektiven Welt angesehen werden, insofern als sich im Anerkennungsverhältnis die Intelligenzen ihre jeweilige Realität als (leibliche) Individuen wechselseitig sichern.28 Erst durch die Aufforderung wird aber der reine zum empirischen Willen, indem erst sie ihm die Bildung konkreter Zwecke abverlangt, die sich wiederum stets auf andere Intelligenzen beziehen. Damit ist für Fichte gesichert, daß das Ich qua Wille selbstbestimmt bleibt und nicht fremdbestimmt wird von einem Nicht-Ich, denn die Aufforderung geht immer von gleichfalls vernünftigen und autonomen Wesen aus: Es handelt sich um eine »Begrenzung durch Freiheit«.29 Der Wille als »ein absolut Selbstthätiges« könne, so Fichte, nämlich »nur durch sich selbst beschränkt werden«, und zwar durch ein (begrifflich verfaßtes) »Gesetz des Wollens« qua »Sittengesetz«, »das ich selbst mir mache«.30 Im gleichen Zuge fordere auch ich andere Vernunftwesen zum freien Handeln auf. Es geht in dieser wechselseitigen Anerkennung autonomer Wesen zwar in letzter Instanz um das Projekt
26
Vgl. a. a. O., 177 f. A. a. O., 220; ausführlicher 228–234. Dabei ist das Verhältnis des Ich zu anderen Intelligenzen laut Fichte durch zwei unterschiedliche Richtungen bestimmt: 1. Das Ich selbst geht von der Freiheit aus und zur Handlung über; 2. in meinen Begegnungen mit anderen Intelligenzen gehe ich hingegen von der (beobachteten) Handlung aus und suche für sie die Ursache in der Freiheit des Anderen – auf dessen Vernunft wird also nur geschlossen. Vermittelt wird all dies jedoch, so Fichte, über die Erkenntnis des Leibes – meines eigenen wie desjenigen des Anderen. 28 Mit anderen Worten, die Frage nach der Realitätssicherung stellt sich innerhalb der Sphäre der Vernunftwelt in der Form der Konstitution der personalen Individualität. 29 Fichte, WL-NM, 170; vgl. dazu auch Fichte, BdM, 395 ff. 30 Vgl. Fichte, WL-NM, 169. Alle Beschränktheit sei demnach nur als »Selbstbeschränkung« denkbar. In der Sittenlehre wird der Begriff der Sittlichkeit gar als »die einzige mögliche Weise unsere Freiheit zu denken« bezeichnet; er wird entsprechend als Selbstgesetzgebung resp. Autonomie definiert (vgl. Fichte, SdS, 458). 27
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einer Realisierung des allgemeinen Vernunftzwecks, zugleich aber um die Sicherung der sich in intersubjektiven Konstellationen realisierenden Individualität vernünftiger Wesen.31 Inwiefern es sich hierbei bloß um einen – so die Kritik Hegels am Anerkennungstheorem in der Differenzschrift – sozialen Mechanismus handeln soll, ist nicht einsichtig – vielmehr handelt es sich um ein dynamisches Verhältnis der Wechselbestimmung: Ausdrücklich betont Fichte, daß es sich bei der Aufforderung nicht um Kausalität, sondern um »Dependenz« handle.32 Uneinsichtig ist bei Fichte hingegen, warum Aufforderung = Sittengebot sein soll. Auffordern können wir uns gegenseitig zu allerlei, nicht allein zu sittlichem Handeln, und wir tun dies auch fortwährend. So fordern wir uns etwa, mit Brandom, gegenseitig zum Geben und Nehmen von Gründen, zur Rechtfertigung unserer Überzeugungen auf – ein Prozeß, der, insofern er uns allererst als rationale Wesen ausweist, weit über die sittliche Sphäre hinausgeht.33 Und auch das Rechtsverhältnis als Anerkennungsstruktur ist nicht dem Verhältnis der Sittlichkeit gleichzusetzen; vielmehr geht es hier um die Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens qua Bedürfnisgemeinschaft und damit letztlich um die Sicherung von Eigeninteressen.34 Intersubjektivität ist daher weder über das Rechts- noch über das sittliche Verhältnis allein ableitbar – dessen war sich Hegel zweifellos in stärkerem Maße bewußt als Fichte. Weitaus schwerer wiegt jedoch die Kritik, daß m. E. die internen Begründungsverhältnisse der verschiedenen Versuche Fichtes, die Realität der objek-
31
Vgl. dazu auch Fichte, BdM, 408. Vgl. Fichte, WL-NM, 179 f. 33 Vgl. Robert B. Brandom: Making it Explicit. Cambridge (Mas.) 1994; ders.: Pragmatische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), 355–381 sowie ders.: Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt a. M. 2001. Daß es freilich auch Brandom, unter Rückgriff vor allem auf Hegel, um die Begründung von Normativität geht, kann an dieser Stelle ebensowenig behandelt werden, wie die Tatsache, daß auch Fichte von diesem allgemeineren Begründungskontext offenbar eine Ahnung hatte (vgl. dazu: Jürgen Stolzenberg: Identität, Individualität und Intersubjektivität. Robert B. Brandom und Fichte. Vortrag auf der Tagung Geschichte und Identität. Die moderne Identität im Kontext der philosophischen Tradition und des klassischen Idealismus. Budapest 9. – 10. 11. 2007. [Unveröffentlichtes Manuskript]). 34 Dies wird hier mit Bezug auf die Position der klassischen deutschen Philosophie formuliert, daß allen rechtlichen und staatlichen Verhältnissen in letzter Instanz der wohlverstandene, systematisch gewordene Egoismus aller zugrunde liegt – eine Position, die am prägnantesten Schopenhauer formuliert haben dürfte. 32
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tiven Welt bzw. die Individualität der Person zu sichern – über 1. das Konzept des reinen Willens, 2. das Anerkennungstheorem, 3. die allgemeine Vernunftwelt, 4. das Sittengesetz und/oder 5. die lebendige Leiblichkeit – von Fichte selbst nicht einsichtig dargestellt werden. Es entsteht der Eindruck einer bloßen Addition immer erneuter Lösungsversuche, deren logische Struktur von Fichte letztlich nicht hinreichend deutlich gemacht wird. 4. Was allerdings für Hegel am schwersten wiegt, ist das, was er Fichtes »Wahnsinn des Dünkels« nennt: Dieser besteht darin, daß Fichte die Natur nur in höchstem Maße reduktionistisch als etwas Entgegengesetztes auffasse, von dem das Ich entweder in selbstentfremdender Weise abhängig sei oder das dieses Ich dadurch von sich abhängig mache, daß es die Natur zu einem bloßen Material sittlichen Handelns degradiere. Ein Drittes, so Hegel, gebe es für Fichte nicht. Die objektive Sinnenwelt werde zu einem bloßen ›Spielraum‹ des Willens, besitze aber keinen eigenständigen Wert – es sei nur »ein zu Vernichtendes, an dem der Vernunftzweck ewig erst zu realisieren ist«.35 Auch die eigene leibliche Natur stehe bei Fichte allein im »Verhältnis der Botmäßigkeit«36 zu dem sie bestimmenden Ich. Dies zeigt sich für Hegel u. a. darin, daß im 1. Abschnitt der Bestimmung des Menschen die jedem Willensakt vorausliegende Erkenntnis der Welt als eines Realen dem Ich »entsetzlich« ist. In diesem – zumindest dem jungen – Hegel gänzlich unbegreiflichen »Entsetzen« vor der Einsicht in das Einssein von Ich und Universum verschließe sich das wollende Ich der Erkenntnis, daß »die ewige Natur in ihm handle«.37 Fichte vermöge dieses Verhältnis nur als eine Abhängigkeit des Subjekts von etwas Objektivem und damit als Selbstentfremdung bzw. als Autonomieverlust zu verstehen – eine für Hegel in Glauben und Wissen gänzlich unnachvollziehbare Interpretation.
35
Hegel, GW, 127. Näher beschreibt Hegel dieses Dilemma wie folgt: Wird das Wesen des Ich als reines Handeln bestimmt, so findet sich in einer solchen Setzung keinerlei Sein. Die objektive Welt hat hingegen ein Sein. Will das Ich nun ein solches Sein für sich erlangen und dennoch zugleich seine Selbständigkeit bewahren, so kann es dies nur durch Vernichtung der objektiven Sinnenwelt erreichen. Erkennt sich das Ich hingegen als Sein, dann erkennt es sich als abhängig von der Welt und verliert darüber sein Handeln und damit sein selbständiges Wesen. (Vgl. a. a. O., 120) 36 Hegel, Differenz, 75. 37 Hegel, GW, 121; vgl. dazu Fichte, BdM, 289.
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Obwohl auf diese Weise die sinnliche Natur – auch die eigene qua Leiblichkeit – zum bloßen Material für die Zwecksetzungen des Willens absinke, sind doch für Hegel die Zweckbegriffe des reinen Willens völlig leer und indifferent. Seine Inhalte erhalte der Wille, so Hegel, auch bei Fichte am Ende doch nur durch das Besondere der Individualität und damit aus der sinnlichen Natur. Dies ist für Hegel nicht nur ein offenbarer Widerspruch, sondern führt darüber hinaus dazu, daß damit niemals eine Einheit in sittlicher Totalität erreichbar wird: Staat, Rechtsverfassung und moralische Pflichten erscheinen sämtlich als etwas dem Individuum Entgegengesetztes, mit dem es sich niemals zu identifizieren vermag. In den Worten des späteren Hegel: Der »objektive Geist« als die Sphäre, in der Individuum und Institution miteinander vermittelt werden, wird bei Fichte gar nicht erst erreicht. Zudem könne das Individuum auch seine Freiheit auf diese Weise nicht sichern, da sie stets an die Beschränkung durch Andere gebunden sei. In Orientierung an Schellings Naturphilosophie entwirft Hegel dem gegenüber 1. einen Begriff von Natur als einem sich selbst produzierenden Organismus, einem objektiven Subjekt-Objekt, dem gegenüber dem wollenden Ich Autonomie zukommt, und 2. einen Begriff von Geist als der ideellen Reflexion bzw. höchsten Manifestation der Natur selbst, durch den ein Konzept von Geist als sittlicher Natur ermöglicht werde, in welcher Sittlichkeit und Individuum eins sind.38 Diese Hegelkritik39 geht an Fichtes Naturbegriff in der Wissenschaftslehre nova methodo jedoch weitgehend vorbei. Fichte behauptet dort nur, daß die Eigenständigkeit der Natur – als produzierter und sich selbst produzierender, organisierter und sich selbst organisierender – Ergebnis einer Übertragung sei, und zwar vom sich selbst bestimmenden, tätigen Ich, das sich als Wille findet, auf das äußere Nicht-Ich, das dadurch erst autonom, organisiert und dinghaft wird.40 Auf diese Weise sind Ich und Nicht-Ich unzertrennlich bzw. »gegenseitig durch einander bedingt«.41 Dies gelte von jedem einzelnen Naturprodukt, für den eigenen Leib ge-
38
Vgl. Hegel, GW, 127. Zu berücksichtigen ist, daß es sich hier eigentlich um Einwände Schellings handelt, die dieser aber erst in der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806) systematisch darlegte. 40 Vgl. Fichte, WL-NM, 222: Das Ich mache jedoch nicht die Materie, diese sei vielmehr selbständig, aber »ich trage auf daßelbe die Selbständigkeit nothwendig über, dadurch daß ich es denke; es wird ein Sein an und für sich, für sich bestehend«; in diesem Sinne sei das Ding ein »Noumen«, ein »Product meines ganzen Geistes«. Zu Fichtes Naturbegriff vgl. auch Fichte, SdS, 508–517. 41 Fichte, WL-NM, 226 39
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nauso wie für andere Vernunftwesen, aber auch für das Universum als ganzes, das »allmählig zusammengesezt« werde. Die Sinnenwelt erhält dadurch laut Fichte »ein Analogon der Freiheit«.42 Es geht hier also nur um das logische Primat der Transzendental- vor der Naturphilosophie, d. h. um den Gang der Deduktion, nicht um den deduzierten Naturbegriff; diesen übernimmt Fichte vielmehr – zumindest in der Wissenschaftslehre nova methodo – aus der Naturphilosophie Schellings.43 Allerdings ist Hegel zuzugestehen, daß gerade die ›populärwissenschaftlichen‹ Schriften Fichtes diesen Punkt nicht klar herausarbeiten. Was hinwieder den Begriff von Sittlichkeit, Recht und Staat in der Wissenschaftslehre nova methodo anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, daß alle Inhalte, auch und gerade die sittlichen, zwar letztlich im reinen Willen selbst liegen, daß sie sich aber ausschließlich realisieren innerhalb der Anerkennungsgemeinschaft sich wechselseitig zum freien Handeln auffordernder Vernunft- und Willenswesen, die zusammen an der Realisierung des allgemeinen Vernunftzwecks arbeiten. Es geht also auch bei Fichte sehr wohl um die Schaffung sittlicher Totalität, in der Sittlichkeit und Individuum eins sind. Freilich ist zuzugeben, daß diese sittliche Totalität bei Fichte die empirische Fülle nicht hat, die sie beim späteren Hegel erhält.44 Daß aber, wie Hegel will, die gesamte praktische Philosophie Fichtes nur das Geld aus dem leeren Geldbeutel deduziere, ging im Jahre 1802 denn doch um ein Beträchtliches zu weit – zumal bezweifelt werden darf, daß Hegels Taschen selbst um 1800 bereits prall gefüllt waren. Vielmehr übte er seine – zum Teil durchaus berechtigte – Kritik an Fichtes System vor dem Hintergrund eines Systems, das er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht besaß. Und er kritisierte zudem ein System, das Fichte 1802 gar nicht mehr vertrat. Inwieweit diese Kritik aber auf der Grundlage seines späteren Systems gerechtfertigt ist, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. 42
A. a. O., 223. 238. Das ist grundsätzlich der Ansatz Schopenhauers – nur dort präzise von der Leibeserfahrung ausgehend. 43 Vgl. dazu insbes. a. a. O., 235–239. 44 Zu erwähnen ist zuletzt, daß die Wissenschaftslehre nova methodo mit einem Ausblick auf die Ästhetik endet, die, wie schon im § 31 der Sittenlehre, zwischen dem »transzendentalen« und der »gemeinen« Standpunkt in der Mitte schwebe: »Auf dem gemeinen Gesichtspunct erscheint die Welt als gegeben, auf dem transcend[entalen]. gemacht, […] auf dem aesthetischen erscheint sie als gegeben so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden.« (a. a. O., 244) Daß Fichte den ästhetischen Geist für die unabdingbare Voraussetzung aller Philosophie hält, eröffnet eine unabsehbare Aussicht auf die Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich sowie von praktischer und theoretischer Philosophie.
Walter Jaeschke Resumtion im Geist. Zur Charakteristik der frühen Systemkonzeption Hegels Das Problem der rastlosen wechselseitigen Überbietung der zeitgenössischen Systeme ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinlänglich bekannt gewesen – glücklicher Weise aber auch das dagegen wirksame Remedium. Jean Paul hat es in seinen Politischen Fastenpredigten bekannt gemacht und implizit zu seinem wirksamen Gebrauch angeleitet: Der junge Kantianer, dem der Buchhändler ständig neue Bücherballen mit den Systemen Fichtes und Schellings liefert und so das Studium sauer werden läßt, beschließt endlich, jeweils sechs bis acht solcher Systeme zusammenkommen zu lassen, das widerlegende früher als die widerlegten zu lesen und sich durch dieses Rückwärtslesen so glücklich zu entzaubern, wie sich die Hexen durch das Rückwärtsbeten des Vaterunser bezaubern lassen.1 Die Wissenschaft harrt noch der Klärung, ob Hegel bereits zu Beginn seiner Lehrtätigkeit von diesem Vorschlag erfahren hat, also lange bevor er der philosophischen Öffentlichkeit nahegelegt worden ist, oder ob er aus eigenem Antrieb die spekulative Notlage seiner Zeit nicht noch verschärfen wollte: Sicher ist jedenfalls, daß Hegel aus ihr den einen Schluß gezogen hat: die Zahl der kursierenden Systeme nicht erneut um »sechs bis acht solcher Systeme« zu vermehren, sondern nur noch um eines – um sein eigenes. Diese Zurückhaltung wird allerdings bis zum heutigen Tage nicht allerorts honoriert; manch einem erscheint schon dieses einzige als mehrere zuviel. 1. Diese numerische Singularität der Systemkonzeption Hegels ist fraglos ein Beleg ebensowenig für wie gegen den Geltungsanspruch, den sie allein durch ihr Vorhandensein erhebt. Und auch, daß Hegel seine ursprüngliche Konzeption über genau drei Jahrzehnte hinweg mit einer stupenden Beharrlichkeit, Intensität und Gelehrsamkeit kontinuierlich ausgearbeitet hat, berechtigt allenfalls zu der Erwartung, daß die hierfür aufgewandte Akribie im Resultat sichtbar und faßbar sein werde. Daß über den Erfolg 1
286.
Jean Paul: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Eduard Berend. Abt. I, Band 14. Berlin 1939,
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die Absichten geteilt sind, ist bekannt; kein Dissens dürfte hingegen darüber bestehen, daß die Form der Entwicklungsdynamik des Hegelschen Systems sich deutlich von der Dynamik der Entwicklungsform der Philosophien etwa Fichtes und Schellings unterscheidet. Und auch darüber sollte zumindest jetzt kein Dissens mehr bestehen, daß die früheste uns bekannte Gestalt der Systemkonzeption Hegels durch eine eigentümliche Spannung und interne Unangemessenheit gekennzeichnet ist: durch eine dramatische Diskrepanz einerseits zwischen der Kühnheit und der nahezu naiven, fast schlafwandlerischen Sicherheit, mit der sie vorgetragen ist, und der Dürftigkeit der zu ihrer Realisierung zunächst aufgebotenen begrifflichen Mittel andererseits. Und Einvernehmen sollte ferner darüber bestehen, daß dieses Systemkonzept – trotz seiner Verwobenheit mit den Diskussionen der nachkantischen Philosophie! – einen eigenständigen Ansatz und keinen spekulativen Wurmfortsatz damals prominenter Konzeptionen bildet. Lange Zeit ist die Einsicht auch nur in den weiteren Umkreis der Entstehung des Hegelschen Systemgedankens verdeckt worden, sowohl durch die bekannte historische Konstellation – Hegels enge Zusammenarbeit mit Schelling in seinen ersten Jenaer Jahren – als auch durch die Ungunst der Überlieferung, nämlich durch den – mehr als ein Jahrhundert dauernden – Verlust der frühesten Texte, die man als Hegels »Darstellung meines Systems der Philosophie« bezeichnen könnte. In dieser Zeit ist es üblich geworden, die Entwicklung des Hegelschen Systems wenn schon nicht im Ausgang von den Frankfurter Schriften, so doch im Ausgang von der Differenzschrift darzustellen – aber kein Text ist hierfür weniger geeignet als sie. Man sollte sie als das lesen, was sie – ausweislich ihres Titelblattes – zu sein beansprucht: als eine Darstellung der Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie – und zwar als eine Darstellung, geleitet von dem ›philosophiepolitischen‹ Interesse, die zwischen Fichte und Schelling eingetretene scharfe »Differenz« aus der Privatheit ihres Briefwechsels in die Öffentlichkeit zu tragen, um auch dort »Fichtes und Schellings Sache immer mehr zu trennen«2 – mit Billigung und wohl auch mit stillschweigender Unterstützung Schellings.3
2
Brief von Hegel an Gottlob Ernst August Mehmel, vor Mitte August 1801, in: Briefe von und an Hegel, Band 4, Teil 2. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin. Hamburg 1981, 6. 3 Dies gilt trotz der Versicherung Schellings, daß er an diesem Buch »keinen Antheil habe, das ich aber auch auf keine Weise verhindern konnte«; so Schelling im Brief an Fichte, Jena, 3. 10. 1801, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807), in: Philosophisch–literarische Streitsachen.
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Ein eigenes Systemkonzept läßt die Differenzschrift hingegen nicht erkennen – und in der Darstellung der Philosophie Schellings bleibt sie zudem ganz an dessen System des transzendentalen Idealismus orientiert. Im Juli 1801 hat Hegel das Vorwort zur Differenzschrift unterzeichnet; Anfang Oktober ist sie erschienen, und im gleichen Monat hat Hegel, nach seiner etwas überstürzten Habilitation, seine Vorlesungen »Introductio in philosophiam« und »Logica et Metaphysica« begonnen. Die Manuskripte hierzu sind zwar nur sehr fragmentarisch erhalten; dennoch lassen sie eines erkennen: Hegel verfügt nun über eine eigenständige, von den Entwürfen Fichtes und Schellings spezifisch unterschiedene Systemkonzeption. Die Genese dieses Systemgedankens liegt im Dunkeln. Aus den späten Frankfurter Texten Hegels läßt er sich nicht herleiten, auch nicht aus dem sogenannten Systemfragment (1800) und, wie gesagt, ebensowenig aus der Differenzschrift, auch wenn Hegel wahrscheinlich im Zuge ihrer Ausarbeitung, beim Vergleich der Systemkonzepte Fichtes und Schellings, zu seinem eigenen Entwurf gelangt ist. Der Hegel eigentümliche Systemgedanke ist, kurz, der Gedanke der Einheit des Begriffs des Absoluten und des Systems der Philosophie: Das Absolute ist nichts anderes als das Ganze der prozessual gedachten, in der Selbsterkenntnis des Geistes kulminierenden Wirklichkeit, oder besser umgekehrt: Das System als Ganzes ist nichts als die Selbstexplikation des Absoluten. Das Absolute ist nicht als etwas zu denken, das von seiner Manifestation zu unterscheiden wäre, ihr gegenüberstünde, sondern es ist nichts anderes als das Ganze seiner im System erfaßten Manifestation. Mit diesem Entwurf legt Hegel sogleich zu Beginn seiner akademischen Tätigkeit eine Alternative zu derjenigen Form der »Identitätsphilosophie« vor, die Schelling programmatisch in der Darstellung meines Systems der Philosophie vorgetragen hat. 2. Ich möchte nun, in einem zweiten Teil, die wichtigsten programmatischen Passagen aus diesen Fragmenten zunächst hier einführen und dann, im dritten Teil, die von ihnen präsentierte Systemkonzeption erörtern. – In seiner Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie, im Fragment Die Idee des absoluten Wesens, gibt Hegel in zwei Partien Vorblicke auf seinen Systemgedanken: »Wie das absolute Wesen selbst in der Idee sein Bild gleichsam Hrsg. v. Verf. Hamburg 1990 ff. Im folgenden zitiert als »PLS«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier Band 2/1 (1993), 222.
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entwirft, sich in der Natur realisirt, oder in ihr sich seinen entfalteten Leib erschafft, und dann als Geist sich resumirt, in sich zurükkehrt und sich selbst erkennt, und als diese Bewegung das absolute Wesen ist«, so müsse auch das Erkennen diesen Gang nehmen: zunächst »die Idee als solche« darstellen, und zwar für die Erkenntnis entfalten, somit also in die Differenz auseinandergehen, aber ihre Entfaltung darstellen, ohne die anfängliche Einheit zu verlieren, und »endlich ihre ganze Breite – also: die Breite der Erkenntnis – in ihre Tiefe zusammennehmen, und die ganze Entfaltung der sittlichen und geistigen Natur in der Einen Idee zusammenfassen, oder vielmehr nur die Reflexion am Ende noch darauf machen, daß sie immer in die Eine Idee zusammengefaßt geblieben ist.«4 Im Anschluß daran konkretisiert Hegel den Zusammenhang dieses Gedankens des Absoluten mit der Struktur des Systems der Philosophie: »Die ausgedehnte Wissenschafft der Idee als solche wird der Idealismus oder die Logik seyn, welche zugleich in sich begreifft, wie die Bestimmtheiten der Form, die die Idee in sich schließt, sich zu absoluten zu constituiren versuchen; d. i. sie wird, wie [sie] als Wissenschafft der Idee selbst Metaphysik ist, die falsche Metaphysik der Beschränkten philosophischen Systeme vernichten; alsdann wird die Wissenschafft übergehen in die Wissenschafft der Realität der Idee, und zwar zuerst den realen Leib der Idee darstellen;« – und ich verknappe das Folgende auf einige Stichworte: das »System des Himmels« sowie das Mechanische und das Chemische als die ideellen Momente des Begriffs des Organischen und schließlich die Idee des Organischen im mineralischen, vegetabilischen und animalischen System der Erde –; und weiter: »aus der Natur wird sie [sc. die Idee] als Geist sich emporreissen und als absolute Sittlichkeit sich organisiren; und die Philosophie der Natur wird in die Philosophie des Geistes übergehen; die Idee wird ihre | idealen Momente, das Vorstellen und die Begierde […] in sich zusammenfassen, und das Reich des Bedürfnisses und des Rechts sich unterwerfend sich als freyes Volk real seyn, welches endlich im 4ten Theil in der Philosophie der Religion und Kunst zur reinen Idee zurükkehrt, und die Anschauung Gottes organisirt.«5 4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten 1801/02. Introductio in philosophiam. Fragment »Die Idee des absoluten Wesens …«, in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburg 1968 ff. Im folgenden weren die Gesammelten Werke zitiert als »GW«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier Band 5 (1998), 262. Das Fragment wird im folgenden zitiert als »Hegel, Introductio«, mit Angabe der Seitenzahl. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten 1801/02, in: GW 5, 264 f.
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3. Diese Ankündigungen sind fraglos recht vage gehalten; zum Teil sind es ja mehr Andeutungen als präzise Aussagen – und zu diesem frühen Zeitpunkt, im Moment des Beginns der Lehrtätigkeit Hegels, sind es zudem ungedeckte Absichtserklärungen; aber sie geben dennoch einen sehr anschaulichen und eindrucksvollen Überblick über Hegels weitgespannten Entwurf. Sie stecken nicht allein den enzyklopädischen Rahmen ab, innerhalb dessen sein System sich in den folgenden drei Jahrzehnten kontinuierlich entfaltet, sondern auch seine interne Struktur zeichnet sich wenigstens schon im Umriß ab; und ebenso lassen sich die philosophiegeschichtlichen Affinitäten und Frontstellungen erkennen, die hinter diesem Entwurf stehen. Zum einen hat Hegels Konzept eine klar erkennbare Spitze gegen eine duale Systemstruktur. Er spricht von »der Wissenschaft« – und diese Wissenschaft wird zunächst die eine und dann eine andere und auch eine dritte Gestalt annehmen; sie wird vom Himmel auf die Erde herabsteigen, aber sie wird doch stets die eine Wissenschaft bleiben. Hegels Option für einen kontinuierlich-linearen Aufbau des Systems der Philosophie ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling um den »Gegensatz der Transscendentalphilosophie und der NaturPhilosophie« zu sehen. Im Versuch, die zwischen beiden bestehende »Differenz« einzukreisen, spricht Fichte diesen Gegensatz im Briefwechsel mit Schelling an, und Schelling bestätigt ihm: »Der Gegensatz zwischen Transscendentalphilosophie und Naturphilosophie ist der Hauptpunkt.« Und er bleibt ein Hauptpunkt, auch wenn Schelling im gleichen Brief – vom 19. November 1800 – Fichte gegenüber versichert, er sehe nun »Natur- und Transscendentalphilosophie nicht mehr [wie noch in der Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus] als entgegengesetzte Wissenschaften, sondern nur als entgegengesetzte Theile eines und desselben Ganzen, nämlich des Systems der Philosophie, die sich ebenso entgegengesetzt sind, wie bisher theoretische und practische Philosophie«.6 Aber auch diese abgeschwächte Formulierung bleibt noch erheblich hinter dem Vermittlungsgedanken zurück, dem Hegel in der Differenzschrift breiten Raum gibt – zwar im Rahmen seiner Darstellung von Schellings System, aber dennoch wohl mit einer darüber hinaus weisenden Absicht. Hegel betont ja nicht allein, daß »die Wissenschaft der 6
Brief von Fichte an Schelling, Berlin, 15. 11. 1800, bzw. Brief von Schelling an Fichte, Jena, 19. 11. 1800, in: PLS 2/1, 188 bzw. 189 und 191.
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Natur, überhaupt der theoretische Theil,« und die »Wissenschaft der Intelligenz« als »der praktische Theil der Philosophie« jeweils »wieder für sich einen eigenen theoretischen und praktischen Theil hat«; er betont ebensosehr, daß beide Wissenschaften »in Einer Kontinuität, als Eine zusammenhängende Wissenschaft betrachtet werden« müssen. Und als Grund für diese Forderung könnte man den Satz ausmachen, den Hegel bereits kurz zuvor gegen eine dualistische Fassung der Wissenschaften der Natur und der Intelligenz ins Feld führt: »Das Absolute ist kein Nebeneinander.«7 Es liegt in der Konsequenz dieser sehr nachdrücklichen Akzentuierung des Gedankens der inneren Kontinuität der Wissenschaft, daß wenige Monate später in Hegels eigenem Systemkonzept alles getilgt ist, was an die Schellingsche Dualität im Aufbau der Philosophie erinnert: Von theoretischer und praktischer Philosophie ist hier nicht mehr die Rede, ebensowenig wie von einem »Gegensatz zwischen Transscendentalphilosophie und Naturphilosophie« – und nicht einmal mehr von einem »System des transzendentalen Idealismus«. Nicht weniger aber weicht Hegels Systemskizze von der Lösung ab, mit der Schelling alle früheren dualen Momente ebenfalls abstößt und hinter sich läßt: von der Konzeption des Identitätssystems. Obgleich Schellings Darstellung meines Systems bereits im Mai 1801 erschienen ist, greift Hegel im Oktober nicht auf sie zurück – und hierzu mögen auch die uns nicht im einzelnen bekannten Probleme beigetragen haben, die Schelling daran gehindert haben, die Fichte angekündigte Fortsetzung der Darstellung meines Systems im nächsten Heft seiner Zeitschrift für spekulative Physik zu veröffentlichen und darin »mit vollkommner Evidenz« darzulegen, wie »sich aus dieser Darstellung das Bewußtseyn, oder das Ich, gleichsam als der Mittagspunkt der existirenden absoluten Identität, entwickele«.8 Ebensowenig wie von der früheren Dualität ist deshalb in Hegels Systemskizze von dieser »existirenden absoluten Identität« oder vom »Indifferenzpunkt« oder vom »A = A« die Rede – und hierbei handelt es sich nicht nur um terminologische Kosmetik oder um eine überanstrengte Prätention systematischer Eigenständigkeit, sondern um einen – trotz der engen Zusammenarbeit Hegels und Schellings! – von Anfang an fundamentalen Dissens zwischen ihnen in der Frage, wie der Begriff des Absoluten, des Wahren zu denken sei.
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801), in: GW 4, 73 f. 68. 8 Brief von Schelling an Fichte, ohne Ort, 24. 5. 1801, in: PLS 2/1, 198.
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Dies ist in der Tat die entscheidende – und allein entscheidende! – Frage. Die Antwort, die Hegel im Oktober 1801 darauf gegeben hat, ist für viele damals fraglos unerwartet und auch heute für viele unverständlich, zumindest nicht nachvollziehbar gewesen. Ich habe sie vorhin schon zitiert: Das absolute Wesen ist dasjenige, das »in der Idee sein Bild gleichsam entwirft, sich in der Natur realisirt, in sich zurückkehrt und sich selbst erkennt, und als diese Bewegung eben das absolute Wesen ist«. Entscheidend ist der resumierende Schluß dieses – hier verkürzten – langen Satzes: Eben als diese Bewegung ist das Absolute das Absolute. Es geht ihr nicht voraus, und es folgt ihr auch nicht nach, sondern es ist – nochmals – eben diese Bewegung in ihrer Einheit. Fünf Jahre später, in der Phänomenologie des Geistes, hat Hegel den gleichen Gedanken kürzer und eleganter – und auch bekannter – so ausgedrückt: »Das Wahre ist das Ganze.« Doch die beiden dort anschließenden Sätze wiederholen und bekräftigen implizit die Auskunft des frühen Fragments: »Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist.«9 Und es ist erst am Ende das, was es in Wahrheit ist, weil es erst die Bewegung in die »Differenz« und durch die »Differenz« hindurch durchlaufen muß und somit auch erst am Ende das »Aussereinander« in seiner ganzen »Breite« und »Tiefe« im Begriff des Absoluten mitgedacht werden kann. Ein Absolutes hingegen, dem dieses »Aussereinander« fremd wäre, dem es entgegenstünde, wäre – zumindest für Hegel – ein vielleicht sehr prätentiöses, aber doch bloß vorgestelltes, nominelles Absolutes, und in Wahrheit ein Abstraktes und ein ebenso Endliches wie das »Aussereinander«, von dem es sich fernhält. Im Blick auf die Entwicklung der Klassischen Deutschen Philosophie ist es wichtig festzuhalten, daß Hegel sich nicht erst in der Phänomenologie zu dieser Einsicht durchringt, sondern daß er sie bereits in dem ersten Text formuliert, mit dem seine Lehrtätigkeit und zugleich die Ausarbeitung seines Systems beginnt, ja noch mehr: daß diese Einsicht das Prinzip der Systementwicklung Hegels ist. Sie beginnt mit dieser Einsicht, und diese prägt die Gestalt des Systems. Das System der Philosophie ist ja selber durch eine Bewegung des Erkennens getragen, und diese Bewegung des Erkennens legitimiert sich allein dadurch, daß sie eben die im Gedanken gefaßte Bewegung des Absoluten selber ist. Die Explikation des Absoluten vollzieht sich gleichsam auf zwei Ebenen oder in zwei Prozes9
19.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Phänomenologie des Geistes (1807), in: GW 9,
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sen, die man zunächst als Ebene der Selbstexplikation des Absoluten und als Ebene der Erkenntnis unterscheiden könnte. Verklammert sind beide Prozesse jedoch durch Hegels Formel ›Wie das absolute Wesen – so auch das Erkennen‹. Und es ist nicht verwunderlich, daß diese Formel derselben Logik der Inversion unterliegt wie ihr bekannteres Vorbild: »wie im Himmel, also auch auf Erden«. Formell gesehen folgt die Explikation des Absoluten im System der Philosophie erst dessen Selbstexplikation – aber gerade weil das Erkennen diese Bewegung der Selbstexplikation wiederholt, muß sie nicht allein ebenfalls als eine Form seiner Selbstexplikation gedacht werden, sondern es ist letztlich auch gar nicht fraglich, daß beide Prozesse zwar zu unterscheiden sind, jedoch – für uns – insofern zusammenfallen, als außerhalb des Erkennens bekanntlich nichts erkannt werden kann. Auch wenn die Bewegung des Absoluten als die causa essendi der philosophischen Reflexion bezeichnet werden mag, so ist doch diese die causa cognoscendi der Bewegung des Absoluten, und von dieser wissen wir nur, was die philosophische Erkenntnis uns sagt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man diesen Gedanken der in sich differenzierten Einheit des Absoluten und der mit ihm notwendig verknüpften Systemform in Zusammenhang mit der Forderung der Differenzschrift bringt, daß das »Princip« einer Philosophie mit der Form ihrer systematischen Explikation übereinstimmen müsse – eine Forderung, die Hegel dort zwar nicht in Fichtes Philosophie, wohl aber in Schellings System des transzendentalen Idealismus erfüllt sieht. Daß er sie jedoch in Schellings Identitätssystem nicht erfüllt gesehen hat, darf man daraus erschließen, daß Hegels Begriff des Absoluten und die diesem Begriff entsprechende Systemform dem Ansatz des Identitätssystems strikt zuwiderlaufen. Ein Absolutes, das nicht gewillt ist, in bewegungsloser Starre und fleckenloser Reinheit in sich zu verharren, muß, so Hegel, in den »Gegensatz« auseinandergehen und ihn zurücknehmen. »Erscheinen und sich entzweyen ist Eins« notiert er bereits in der Differenzschrift,10 und am Ende des Fragments die Idee des absoluten Wesens heißt es damit übereinstimmend: »Ohne Gehen in den Gegensatz ist seine Aufhebung nicht möglich. Ihn aufzuheben, nicht ihn zu ignorieren nicht von ihm zu abstrahiren ist das absolute Erkennen«11 – und diesen Satz dürfte Hegel nun an die Adresse des Identitätssystems gerichtet haben. Und er hätte noch einen Satz
10
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW 4, 71. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten 1801/02, in: GW 5, 265.
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hinzufügen können: »daß die absolute Identität durch sich selbst in ihrer Absolutheit oder Unendlichkeit zugleich endlich sei, darin liegt kein Widerspruch: Absolutheit ist eben die reine Selbstbestimmung.« Dann allerdings hätte Hegel sich eines Plagiats schuldig gemacht – denn diesen Einwand hat damals bereits Fichte gegen das Identitätssystem erhoben.12 Eine derartige Konzeption des Absoluten und seiner Selbstdarstellung und Selbsterfassung im System weist – bei allem, was an ihr einsichtig erscheint – fraglos eine Reihe neuralgischer Punkte auf, und von ihnen möchte ich hier wenigstens zwei herausgreifen. Zunächst zum Problem des Anfangs des Systems. Schon dieses läßt sich nicht zweifelsfrei lösen, allerdings auf Grund der fragmentarischen Überlieferung. Zu Beginn des überlieferten Fragments sagt Hegel, das dort – uns unbekannte – Vorausgegangene »sollte nur voraus den Inhalt der Philosophie Ein unbestimmteres Bild, ihres Organischen Ganzen darlegen«, und das zunächst für die Anschauung nur schnell Ausgeführte solle nun »in seinem Auseinanderhalten erkannt werden«. Es scheint aber keine systematische Korrespondenz zwischen den zwei »Bildern« zu geben, die hier im unmittelbaren Zusammenhang genannt sind – zwischen dem »Bild«, das das absolute Wesen von sich entwirft, und dem anderen, dem System der Philosophie für die Anschauung vorausgeschickten »Bild«. Der Präsentation des ›unbestimmteren Bildes‹ für die »Anschauung« setzt Hegel aber nun die »Erkenntniß« entgegen, und mit ihr beginnt erst die »Philosophie selbst«: Die Philosophie müsse »diese Idee [des absoluten Wesens] nunmehr für die Erkenntniß entfalten«, indem sie nämlich in die Differenz gehe – denn von Erkenntnis kann nur dort die Rede sein, wo Differenzen entfaltet werden. Bestimmtheit ist ja Negation, und deshalb gibt es, wo keine Negation ist, auch weder Bestimmtheit noch Erkenntnis. Das Erkennen, so Hegel, müsse »zuerst, die Idee als solche darstellen«, sie »für die Erkenntniß entfalten« und in die Differenz auseinandergehen. Dies mag sich noch etwas rätselhaft anhören, doch die Fortsetzung stellt klar: Die »ausgedehnte Wissenschaft der Idee als solche wird der Idealismus oder die Logik seyn« – und die Metaphysik, füge ich hinzu, ohne auf das nicht völlig geklärte Verhältnis beider hier eingehen zu wollen. Für den Einstieg in diese Wissenschaft, in das System der Philosophie, ist jedenfalls nicht ein Sprung in eine höhere Sphäre vorausgesetzt; Hegel betont vielmehr , daß das Philosophieren »im allgemeinen von endlichen Anfängen ausgeht« – und er setzt dem nun nicht etwa den Ausgang vom 12
Johann Gottlieb Fichte: Zur Darstellung von Schelling’s Identitätssysteme, in: PLS 2/1, 203.
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Unendlichen als den wahrhaft gebotenen Einstieg entgegen, sondern er versichert vielmehr, daß er auf eben dieses Ausgehen vom Endlichen »propädevtische Rüksicht nehmen« wolle. Zwar sei die Philosophie »unendliches Erkennen« – aber eben nur dadurch, daß es durch die Endlichkeit hindurchgeht und sie dadurch überwindet. Wie es zur geforderten Vernichtung der Entgegensetzungen kommt, beschreibt Hegel hier, mangels eines entwickelten Begriffs von Dialektik, zunächst noch etwas metaphorisch: Von der Logik kündigt er an, daß sie der Verstandesreflexion »immer das Bild des Absoluten vorhält, und damit vertraut macht«, oder daß der Verstand »insgeheim von der Vernunft getrieben« werde13 – nämlich dazu getrieben werde, die Entgegensetzungen so zuzuspitzen, daß sie von der Vernunft überwunden werden können. Und aus dem gleichen Grunde sei auch der Weg über Logik und Metaphysik hinaus »schlechthin unter der Herrschaft und nach der Nothwendigkeit der Idee selbst« zu machen, damit wir »die Einheit nicht verlieren«.14 Nach diesem Blick auf den Anfang möchte ich – als den zweiten neuralgischen Punkt – das Problem des Systemabschlusses ansprechen, das ich ja auch im Titel des Vortrags schon angedeutet habe. Auch hierzu haben wir nicht mehr als eine fragmentarische Skizze – doch erlaubt sie es, sowohl die Spezifik dieses Systemabschlusses gegenüber anderen Entwürfen als auch ihre Identität mit Hegels späterer Systemkonzeption zu erkennen. Wie »das absolute Wesen« in der logischen Idee sein Bild wirft, in der Natur sich realisiert »und dann als Geist sich resumirt«, so folgt im System der Philosophie auf Logik und Metaphysik zunächst die Philosophie der Natur als des ›realen Leibes der Idee‹, und wie die Idee aus der Natur »als Geist sich emporreissen und als absolute Sittlichkeit sich organisiren« wird, so werde auch »die Philosophie der Natur […] in die Philosophie des Geistes übergehen;« die Idee wird sich schließlich »als freyes Volk real seyn, welches endlich […] in der Philosophie der Religion und Kunst zur reinen Idee zurückkehrt, und die Anschauung Gottes organisirt.«15 Insbesondere in diesem Vorausblick Hegels sind die beiden zunächst getrennt eingeführten und begrifflich ja auch zu unterscheidenden Ebenen des Tuns der Idee und des Tuns der Philosophie in einander verwo-
13
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten 1801/02. Logica et Metaphysica, in: GW 5, 271–273. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten 1801/02. Introductio in philosophiam, in: GW 5, 262. 15 A. a. O., 262–264.
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ben. Das Spezifikum dieses Entwurfs aber liegt in einem Gedoppelten: zunächst darin, daß Hegel bereits hier den Begriff des Geistes als höchsten, abschließenden und in diesem Sinne zentralen Begriff in die – mit der Ausnahme Jacobis: geistvergessene – Philosophie seiner Zeit einführt. Deshalb aber ist eine »Philosophie des Geistes« damals etwas weitgehend Unverständliches.16 Der Begriff des Geistes mußte ja erst noch zu einem philosophischen Begriff geprägt werden – und die spezifische Prägung, die er durch Hegel erfahren hat und die uns seitdem selbstverständlich geworden ist, veranlaßt wiederum Umstrukturierungen im System der Philosophie. Um hierfür nur zwei Beispiele anzudeuten: Die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie erhält einen neuen systematischen Ort innerhalb der Philosophie des Geistes, und die Philosophie der Kunst läßt sich nicht mehr dem »Gegensatz zwischen Transscendentalphilosophie und Naturphilosophie« überordnen, sondern sie bildet eben selber einen integralen Bestandteil der Philosophie des Geistes. Wichtiger aber noch ist ein Zweites: daß Hegel den Geist nicht als einen bloß weiteren Gegenstand der Philosophie – nach dem Logischen und der Natur – einführt, sondern daß er den Geist zugleich als die Instanz der Rückkehr und der Resumtion in Eins anspricht. »Der Geist [ist] höher als die Natur:«17 Hegel spricht dieses mehrfach zitierte Wort zwar erst ein Jahr später, in seinem Naturrechtsaufsatz (1802), so aus, doch liegt diese Einschätzung bereits der ersten Systemskizze zugrunde – und sie geht sogar noch darüber hinaus: Der Geist ist ja nicht nur – komparativisch – ein Stückchen »höher« als die Natur, sondern er ist ihr dadurch schlechthin überlegen, daß er das gesamte System der Philosophie – also auch die Logik und die Naturphilosophie – in sich begreift. Die Natur ist ja immer eine gewußte Natur, und das Wissen von der Natur ist immer auch ein Wissen des Geistes von sich. Und weil der Geist sowohl vom Anderen als auch von sich weiß, so wäre es schlechterdings widersinnig, ein Wissen annehmen zu wollen, das dieses Wissen des Geistes von sich noch überstiege. In diesem weiten Sinne ist Hegels ›System der Philosophie‹ eine ›Philosophie des Geistes‹ – und dies nicht erst – wie man gelegent-
16
Diesen Aspekt der Neuheit des Geistbegriffs habe ich weiter ausgeführt in meinem Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart 2003, 161 f., sowie in meinem Vortrag Der Geist und seine Wissenschaften, Hegel-Kongreß Leuven 2008 (erscheint im Hegel-Jahrbuch). 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (1802/03), in: GW 4, 464.
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lich liest – vom Ende oder von der Mitte der Jenaer Jahre, sondern von seiner ersten Systemskizze an und bis in die letzten kleinen Modifikationen der Systemkonzeption. Und wie der späte Hegel, obwohl ihm am Begriff des Absoluten und insbesondere an Definitionen des Absoluten nur wenig gelegen war, einmal einräumt, die höchste Definition des Absoluten sei: »Das Absolute ist der Geist,«18 so hätte auch schon in seiner ersten Systemskizze dieses Wort stehen können: »Das absolute Wesen ist der Geist« – vielleicht hat es ja sogar in einer verlorenen Partie des Textes gestanden. Und in diesem Fall ist es nicht unwahrscheinlich, daß Hegel noch hinzugefügt hat, es sei verlorene Liebesmüh’, ein anderes Absolutes suchen und in einem System der Philosophie explizieren zu wollen.
18
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). § 384, in: GW 20, 382.
ˇ Jindrich Karásek Berner und Frankfurter Ansätze zum Systemgedanken Hegels1 Der Beitrag von Walter Jaeschke beschäftigt sich mit einer der wichtigsten, aber auch der schwierigsten Fragen der Hegelforschung, die aber in der letzten Zeit eher vernachlässigt als untersucht worden ist. Es ist dies die Frage nach dem Ursprung des Hegelschen Systems der Philosophie im ganzen, das zugleich eine Theorie des Absoluten in seiner Gesamtentwicklung sein will. Bereits diese einfache Diagnose setzt eine in der vorkantischen neuzeitlichen Metaphysik alles andere als selbstverständliche These voraus. Diese These besagt, daß das Absolute als etwas aufgefaßt werden muß, das einer Entwicklung unterliegt, die offenbar als etwas gedacht werden muß, das allein im Absoluten ihren Ausgang, Bedingungen und Telos hat, soll es sich um eine Entwicklung des Absoluten handeln. Nun hat Hegel bekanntlich das Absolute als Geist aufgefaßt. Bereits dies impliziert zweierlei: Erstens muß das Absolute als eine lebendige Einheit verstanden werden, insofern der Begriff des Geistes Begriff von einer solchen Entität bedeutet, die von allen als Dinge zu bezeichnenden Entitäten grundsätzlich, d. h. in ihrer ontologischen Grundverfassung verschieden ist. Zweitens müssen alle Prozesse, denen das Absolute unterliegt nicht nur als solche, die das Absolute aus sich selbst heraus spontan und autonom entwickelt, sondern auch als solche gedacht werden, die von dem Absoluten gewußt werden oder zumindest gewußt werden können. Hiermit ist eine klare Distanz und grundlegende Differenz des Hegelschen Absoluten von demjenigen markiert, das in der neuzeitlichen Metaphysik vor Kant entwickelt wurde. Diese Differenz gegenüber der vorkantischen Metaphysik, die Hegels, Schellings aber auch Fichtes Theorien des Absoluten gemein haben, läßt sich als Einwand formulieren, daß die vorkantische Metaphysik das Absolute als ein totes und anonymes Ding aufgefaßt hatte. In dieser Hinsicht ist zu sagen, daß Kants Metaphysikkritik in der Tat zu einer neuen Gestalt der Metaphysik entscheidend beigetragen hat, abgesehen davon, daß diese Gestalt allein in der Philosophie des Deutschen Idealismus entfaltet und nach Hegels Tod ziemlich schnell und absichtlich vergessen wurde.
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Koreferat zum Referat von Walter Jaeschke im Rahmen der Tagung ›System der
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Hierzu kommt noch die Frage, die Jaeschke explizit behandelt, wie nämlich das System der Philosophie im Zusammenhang mit der Entwicklung des absoluten Geistes zu denken ist. In diesem Kontext formulierte Hegel eine These, die später irritierte und auch heute noch oder gar noch mehr als früher Irritation nach sich zieht, worauf Jaeschke selber hinweist. Es geht um die These, die Hegel bereits in Fichtes Begriffschrift hätte finden können, daß das System der Philosophie eine Darstellung des ursprünglichen Systems des Geistes ist und zwar für den frühen Fichte noch des menschlichen Geistes, für Hegel jedoch von Anfang an des absoluten Geistes, dessen Verhältnis zu dem menschlichen Geist, wie Hegel wußte, geklärt werden muß. In diesem Zusammenhang formuliert Hegel seine bekannte These von dem bloßen Zusehen des Philosophen dabei, wie der Geist sich selbst entwickelt. Ähnlich sagt Fichte in der Begriffschrift, dass der Philosoph bloß ein Geschichtsschreiber des menschlichen Geistes sei. Man kann ohne Probleme Jaeschkes Vorschlag folgen, der das System der Philosophie als causa cognoscendi des ursprünglichen Systems des absoluten Geistes interpretiert, in diesem jedoch seine causa essendi hat. Die Bewegung der philosophischen Reflexion ist eine Erkenntnisweise derjenigen Bewegung, die der absolute Geist selber vollzieht, und ohne diese zweite Bewegung gäbe es auch die erste nicht. Oder wie Jaeschke dies noch ausdrückt: Die Explikation des absoluten Geistes im System der Philosophie setzt seine eigene Selbstexplikation voraus. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie diese Referenzialität der philosophischen Reflexion garantiert werden kann. Während sich Fichte in dieser Frage einfach darauf hätte berufen können, daß der menschliche Geist den menschlichen Geist expliziert, denn der menschliche Geist des Philosophen wendet seine philosophische Reflexionskraft auf sich selbst an, hat sich Hegel mit seiner Auffassung des philosophischen Systems als Darstellung des absoluten Geistes, und dasselbe gilt auch für Schelling, ein Problem eingehandelt, denn er müßte eigentlich folgendes sagen: Indem der menschliche Geist die philosophische Reflexion auf sich anwendet, wendet er sie zugleich auf den absoluten Geist an. Das kommt u. a. nicht ohne die Annahme aus, daß der absolute Geist auf irgendeine Weise in dem menschlichen Geist vorhanden oder dem menschlichen Geist präsent ist, wie auch immer dies gedacht werden mag. Während Schelling sich in diesem Kontext einer Reinterpretation des Fichteschen Begriffs der intellektuellen Anschauung bedient, scheint Hegels Antwort in die Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus. System und Systemkritik um 1800‹ von 3. 4. – 4. 4. 2009 an der Universität Wien.
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Richtung einer ursprünglichen Einheit des Geistes als solcher zu laufen, in der der absolute Geist bei uns sein und von uns erkannt werden will.2 Das Hauptanliegen von Jaeschkes Beitrag besteht darin, die Frage zu entscheiden, zu welchem Zeitpunkt der Entfaltung des Hegelschen Denkens die Idee des philosophischen Systems und damit die Idee des absoluten Geistes in seiner Entwicklung, unter denen ein notwendiger Zusammenhang bestehen soll, als ein voll entfalteter Gedanke konstatiert werden kann. Ich möchte auf die Bedeutung der frühen Berner und Frankfurter Manuskripte für das Zustandekommen der Hegelschen Konzeption des absoluten Geistes und damit auch seines philosophischen Systems aufmerksam machen. Jaeschkes These besagt, daß erst in dem Manuskript Introductio in philosophiam vom October 1801 Hegel über eine eigenständige Systemkonzeption verfüge, die sich in ihrer Grundform folgendermaßen beschreiben lasse: Der absolute Geist ist dasjenige, das »in der Idee sein Bild gleichsam entwirft, sich in der Natur realisiert, in sich zurückkehrt und sich selbst erkennt, und als diese Bewegung eben das absolute Wesen ist.« (Hvh. v. Verf.). Es besteht kein Zweifel, daß diese Worte Hegels tatsächlich eine angemessene Beschreibung seines Systemsgedankens darstellen. Und weil, wie Jaeschke ausgeführt, Hegel zufolge ein notwendiger Zusammenhang der Übereinstimmung des Systems der Philosophie mit dem System des absoluten Geistes besteht, so handelt es sich auch um eine angemessene Beschreibung der grundlegenden Momente der Entwicklung des absoluten Geistes innerhalb des Hegelschen Systems. Durch das Zitat ist es nun prima faciae nahegelegt, daß es sich um folgende vier Momente handelt: (i) (ii) (iii) (iv)
Entwerfen des eigenen Bildes in sich Realisierung seiner selbst in der Natur In sich Zurückkehren Sich selbst erkennen
Es ist jedoch anzunehmen, daß die mit (iii) und (iv) angegebenen Akte zusammengedacht werden müssen, denn der Akt des In-sich-zurückkehren muß zugleich der Akt des Sich-selbst-Erkennens sein, und zwar deshalb, weil diesen beiden Akten der Akt der Realisierung des in sich selbst entworfenen Bildes in der Natur vorangeht. Wenn daher der Geist aus der Natur zu sich selbst zurückkehrt, die Natur aber als seine eigene Entäußerung zu verstehen ist, in der sich der Geist als solcher gerade 2
Vgl. Hans Friedrich Fulda: Hegel. München 2003, 183–184.
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noch nicht erkennt, dann impliziert der Akt des In-sich-Zurückkehrens den Akt des Selbsterkennens, denn das In-sich-Zurückkehren muß als Aufhebung der Entäußerung und damit als Aufhebung des Mangels an Selbsterkenntnis angesehen werden. Nach der in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes formulierten These, das Wahre sei nur das Ganze, das Ganze aber nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen,3 hält Hegel bereits hier daran fest, daß der Geist als absoluter Geist nur als das Ganze des beschriebenen Prozesses gefaßt werden kann. Und an einer anderen Stelle, die der zitierten Stelle vorangeht, beschreibt Hegel diesen Prozeß als »das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«.4 Die durch das Zitat nahegelegte Struktur muß also gedacht werden als bestehend aus drei Momenten. Sie sind durch die Ausdrücke: ›Anfang‹, ›Ausführung‹, ›Ende‹ nahegelegt, wobei ihr Zusammenhang die Form des Kreises hat und deswegen der Anfang und das Ende auf einmal vorhanden sind. Der Kreis ist dann als die realisierende Vermittlung des Anfangs zu denken. Diese Vermittlung faßte Hegel als eine kumulative Struktur auf, in der nichts verloren geht, sondern alles in aufgehobener Form erhalten bleibt, so daß der Geist am Ende in sich alles enthält, was ihm auf seinem Weg begegnete. Was besonders irritierte, war nun Hegels These, daß das Alles ausschließlich alles ist und daher es am Ende gar nichts gibt, das außerhalb des Geistes vorkäme. Der diesem Umstande entsprechende Begriff ist bekanntlich der der Idee. Die erwähnten drei Momente sind nun folgende: (i)
Moment, in dem der Geist in sich selbst ein Bild von sich selbst entwirft, also in einem Akt einer als rein immanent zu bezeichnenden Reflexion sich selbst erfaßt. Dieses Moment ist das des Bestehens des Geistes in sich selbst. (ii) Moment der Realisierung dieses Bildes, kraft dessen die Natur entsteht. Dieses Moment ist das des Herausgehens des Geistes aus sich selbst, also das Moment der Selbstentäußerung. (iii) Moment des Zurückkehrens in sich selbst, und zwar als Aufhebung der Selbstentäußerung und damit als Vollendung des Geistes in sich selbst, der damit zu einem absoluten Geist wird. 3
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969 ff. Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert als »TWA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier Band 3, 24. 4 Vgl. a. a. O., 23.
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Diesen drei Momenten entspricht auch die Einteilung der Berliner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, also der eigentlichen Ausführung des Hegelschen Systems der Philosophie im ganzen. Im § 18 dieser Schrift erläutert Hegel ihre Einteilung auf eine Weise, die keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß er dabei das soeben rekonstruierte Model als Leitfaden der Einteilung verwendet. Es ist also nicht nur zu fragen, wann dieses Model als festes Resultat festzustellen ist, sondern auch, wie dieses Model allmählich zustande kam und wo sein Anfang liegt. Dieser Frage möchte ich mich jetzt zuwenden. Ich möchte nun in einer Reihe von Texthinweisen darauf aufmerksam machen, daß Hegel das kurz vorgestellte Model anhand seiner Kritik der christlichen Religion bereits in Berner und Frankfurter Manuskripten in Ansätzen und zunächst im theologischen Kontext vor Augen hatte und entwickelte. Ich gehe von einem Hinweis Martin Bondelis aus. Er besteht in dem Vorschlag zur Interpretation des Zusammenhangs der Berner und Frankfurter Manuskripten und besagt, mit dem Übergang zur Frankfurter Zeit sei eine »greifbare Veränderung« verbunden, die darin besteht, daß Hegel »metaphysische Vereinigungsideen zu vertreten beginnt«.5 Bondeli sieht diese Veränderungen als ein Ergebnis des in den Berner Manuskripten allmählich entwickelten Moralitätskonzeptes. Dieses Ergebnis besteht darin, daß der absolute Geist nun als »eine ins Metaphysische gewendete, dynamisch gedachte moralische Totalität« verstanden wird.6 Zunächst zu den Hinweisen aus den Berner Fragmenten. Im Fragment 7 heißt es: »Die transzendente Idee von Gott als dem allerrealsten Wesen […] würde doch für uns schlechterdings nicht erkannt, aus sich allein seinen Eigenschaften nach bestimmt werden können, wenn nicht Naturbetrachtung und der Begriff von einem Endzweck der Welt zu Hilfe genommen werden.«7 Soll der vollständige Begriff von Gott, den Hegel später außerhalb des religiösen Kontextes durch den Begriff des absoluten Geistes ersetzte, gebildet werden können, so reicht es nicht, wie es in der theologia naturalis der Fall war, die Implikationen des a priori definierten Gottesbegriffes in einer Reihe von Syllogismen zu entfalten, sondern es wird verlangt, die Naturphilosophie und Weltteleologie zu konzipieren und 5
Vgl. Martin Bondeli: Zwischen radikaler Kritik und neuem Moralitätskonzept. Hegels Berner Denken, in: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Hrsg. v. Christoph Jamme u. Helmut Schneider. Frankfurt a. M. 1990, 182. 6 Vgl. ebd. Die ganze Auseinandersetzung Hegels mit Kants praktischer Philosophie, offenbar das Hauptthema Hegels in diesen Texten, soll hier unberücksichtigt bleiben. 7 TWA 1, 101–102. Hvh. v. Verf.
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zwar offensichtlich gerade mit Bezug auf einen zunächst rein konzipierten Geistes- bzw. Gottesbegriff. Denn durch die Entfaltung der Naturphilosophie und Weltteleologie wird dieser Begriff bereits erkannt, was bedeuten muß, daß er in allen seinen wesentlichen Merkmalen erfaßt wird. Bereits hier kommt also die Idee der Einteilung des gesamten Systems der Philosophie zum Vorschein, zwar natürlich noch nicht mit voller Klarheit, aber als eine Arbeitshypothese, so daß Hegel selber hier noch nicht vor Augen gestanden haben muß, daß solche Überlegungen zum Prinzip der Einteilung seines Systems der Philosophie verwendet werden können. Was jedoch Hegel eindeutig vor Augen stand, war eine intrinsische Verbindung des Geistesbegriffs mit der Naturphilosophie und dem Telosgedanken, der nicht Telos eines Einzeldinges meint. Das Ziel der Weltentwicklung faßt Hegel später als die Entwicklung des Geistes auf. So hat Hegel in der Philosophie der Geschichte den ›Endzweck der Welt‹ als das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit aufgefaßt. Die Weltgeschichte ist dabei jedoch als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zu verstehen. Das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit muß daher als Prozessualität gedacht werden.8 Die Weltgeschichte ist also als ein Geistesgeschehen anzusehen, in dem der Geist sich zu immer entwickelteren Gestalten des Bewußtseins seiner Freiheit emporarbeitet. Die Weltgeschichte muss nun offenbar auch als Entwicklung des endlichen Geistes verstanden werden können. Sein Verhältnis zu dem absoluten Geist auch nur anzudeuten, ist jedoch innerhalb dieses Beitrags nicht zu leisten. Hinzuweisen ist aber darauf, daß Hegel zur selben Zeit auch das von Jaeschke angesprochene Problem des Verhältnisses des Systems der Philosophie zu dem ursprünglichen System des absoluten Geistes thematisiert, zwar freilich noch nicht bewußt als dieses Problem, aber als theologisches Problem der Übereinstimmung der Lehre von Jesus mit dem Willen Gottes.9 Vom Glauben heißt es zu dieser Zeit, er sei »Mangel des Bewußtseins, daß die Vernunft absolut ist, in sich selbst vollendet, – daß ihre unendliche Idee nur von sich selbst, rein von fremder Beimischung geschaffen werden muß, – daß diese nur durch Entfernung eben dieses sich aufdringenden Fremden, nicht durch eine Anbildung desselben vollendet werden kann«.10 Soll die Philosophie diesen Mangel an dem Bewußtsein, daß die Vernunft, d. h. der Geist, absolut ist, beheben, so muß 8
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. v. Georg Lasson. Leipzig 31930, 40–41. 9 Vgl. TWA 1, 114. 10 Vgl. a. a. O., 196, Z. 1.
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sie das Bewußtsein der Absolutheit der Vernunft, d. h. genau dasjenige Bewußtsein entfalten, daß die Vernunft nur absolut und damit vollendet wird, wenn sie die Negation der Andersheit des ihm gegenüber stehenden Fremden ausführt. In der Philosophie der Religion wird es dann Hegel darum gehen, darzulegen, wie Religion in Begriffen aufgehoben werden kann. Es ist jetzt zu sagen, daß damit die Aufhebung der Religion, d. h. die Aufhebung des erwähnten Mangels an dem Bewußtseins der Absolutheit der Vernunft, erreicht werden soll. Wichtiger ist, daß Hegel hiermit ein Kriterium dafür einführt, den Geist als vollendet anzusehen. Was die Entfernungsthese auch immer bedeuten mag, es läßt sich zumindest davon ausgehen, daß bereits mit dem angesprochenen Akt des Entfernens Hegels reife Theorie der Negation und, mit dem Ausdruck des Fremden, Hegels späterer Ausdruck des Anderen angedeutet ist. Der Geist vollendete sich also durch den Akt der Negation des Anderen. Wenn man nun darauf reflektiert, daß Hegel bereits hier von dem absoluten Geist, spricht, so muß gesagt werden, daß das Fremde dasjenige Andere sein muß, das der Geist selbst allein aus sich selbst heraus entwickelte. Deswegen muß aber die Entfernung dieses Fremden als die Negation der Selbstnegation interpretiert werden, kraft deren erst das Fremde als solches hat entstehen können. Nun zu den Hinweisen aus der Frankfurter Zeit. Sie stammen aus dem Text, in dem Hegel eine Interpretation des Johannes-Evangeliums bietet. Es fällt dabei auf, daß das Thema der Selbstentäußerung des absoluten Geistes und der Rückkehr aus ihr zu sich selbst deutlich überboten ist durch das Thema der Übereinstimmung der Lehre mit dem absoluten Geist des Berner Fragments, das als Problem der Referenzialität des philosophischen Systems re-interpretiert werden kann, wobei Hegel jetzt beide Probleme in ihrem Zusammenhang betrachtet. So liest man: »Die Entgegensetzung des Anschauenden und des Angeschauten, daß sie Subjekt und Objekt sind, fällt in der Anschauung selbst weg; ihre Verschiedenheit ist nur eine Möglichkeit der Trennung. […] Der ganz in der Anschauung eines anderen Menschen lebte, wäre ganz dieser andere selbst, nur mit der Möglichkeit, ein anderer zu sein. – Was aber verloren ist, was sich entzweit hat, wird durch die Rückkehr zur Einigkeit.«11 Die Anschauung wird hier als derjenige mentale Akt angesprochen, in dem der starre Gegensatz des Subjekts, des Anschauenden, und des Objekts, des Angeschauten, verschwindet, oder genauer: gar nicht vorkommt. Es ist unschwer, in dieser These Hegels Bezug auf die Debatten der Zeit zu erkennen, und zwar ist es genauer Fichtes Begriff 11
Vgl. a. a. O., 386.
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der intellektuellen Anschauung und seine Modifikation bei Schelling, der Hegels Aufmerksamkeit hier auf sich zieht. Ein paar Seiten zuvor hat Hegel die Einheit des Subjekts und des Objekts in dem Akt der Anschauung als eine Harmonie angesprochen, welche zwangsläufig zwischen den Geistern besteht und sich als Gefühl anmeldet.12 Das bedeutet: Weil der Mensch in der Tiefe seines Wesens, das ihm in der Form der intellektuellen Anschauung unmittelbar präsent ist, Geist ist, so ist es ihm unter weiter angebbaren Bedingungen möglich, den absoluten Geist erkennend zu erfassen. »Der Berg und das Auge, das ihn sieht, sind Subjekt und Objekt, aber zwischen Mensch und Gott, zwischen Geist und Geist ist diese Kluft der Objektivität nicht. Einer ist dem andern nur einer und ein anderer darin, daß er ihn erkennt.« Es wird also folgendes angedeutet: Der Akt des Erkennens führt eine Differenz ein und stellt damit eine Aufhebung des Gefühls der Harmonie dar, das die absolute Einheit des Subjekts und Objekts dem Subjekt unmittelbar zugänglich macht. Es wäre zu vermuten, daß Hegel in der Phänomenologie des Geistes diese Struktur einer ursprünglichen, durch die Reflexion noch nicht in Subjekt und Objekt gebrochene Harmonie der elementarsten Gestalt des Bewußtseins, nämlich dem Bewußtsein der sinnlichen Gewißheit, zuschreibt. Dies wäre dann auch der Grund, warum das Bewußtsein auf dieser basalsten Stufe nichts anderes vermag, als nur das gemeinte Objekt in einem stummen Akt der Deixis zu zeigen. Denn auch die Sprache ist eine reflexive Subjekt-Objekt-Struktur, in der zwischen dem Zeichen, dem Akt des Zeichnens, der von dem Bezeichnenden vollzogen wird und dem Gezeichneten unterschieden wird. Es ist darauf hinzuweisen, daß Hegel bereits in Frankfurt eine der zentralen Thesen der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes formuliert, die besagt, daß das durch das Bewußtsein von dem Bewußtsein unterschiedene Objekt als davon unabhängig seiend gesetzt wird und daß es vom Bewußtsein gewußt wird und zwar mit Hilfe des Begriffs der Reflexion: »[…] die Reflexion supponiert das, dem sie die Form des Reflektierten gibt, zugleich als nicht reflektiert.«13 Es ist jedoch gerade mit Bezug auf die Terminologie der Phänomenologie des Geistes zu sagen, daß der Akt des Erkennens, d. h. der Akt der reflexiven Differenzierung auf das Subjekt qua Bewußtsein und das von dem Bewußtsein als unterschieden gesetzte Objekt, in der Unmittelbarkeit des Gefühls der Harmonie ihre epistemische Grundlage hat und dieser Akt nur deshalb erfolgt, um die mit diesem Gefühl verbundene Gewißheit in 12 13
Vgl. a. a. O., 382. Vgl. a. a. O., 374.
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Wahrheit zu verwandeln. Weil nun die Wahrheit allein in dem Gesamtzusammenhang des Differenzierungsprozesses besteht, dessen Ziel darin besteht, alle potentiellen Differenzen aufzuheben, so ist die Verwandlung der Gewißheit in Wahrheit als das Sich-selbst-Erfassen des Geistes als eines Ganzen seiner eigenen Entwicklung zu verstehen, kraft dessen alle Differenzen aufgehoben werden, damit in die Immanenz des Geistes übergehen und deswegen Differenzen nur innerhalb der Identität des Geistes sind.
IV. KRITIK DES SYSTEMS
Andreas Arndt Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff »Ein Regiment Soldaten en parade ist nach der Denkart mancher Philosophen ein System.«1
»Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«2 Auch, wer von Schlegel sonst kaum etwas weiß, hat dieses AthenaeumFragment wohl schon einmal gehört, das Schlegel in seinen philosophischen Notizheften auch wie folgt variiert hat: »Wer ein System hat, ist so gut geistig verloren, als wer keins hat. Man muß eben beides verbinden.«3 Manfred Frank – und nicht nur er – hat darin die Begründung gesehen, daß Philosophie bei Schlegel »den Gang in die Dichtung« antrete und »das Fragmentarische […] sich ex negativo zum Repräsentanten des systematisch nicht Leistbaren« mache.4 Er schließt daraus, daß Schlegels Anliegen philosophisch scheitere und nur ästhetisch gelinge.5 Dieses Scheitern ist freilich nicht ein Scheitern an der Philosophie, sondern mit der Philosophie. Es ist insofern philosophisch, als die philosophischen Mittel nicht hinreichen, das zu leisten, was philosophisch gefordert ist: »Fragmente sind Bruchstücke eines (verfehlten) Ganzen; insofern ist ihre Kohärenz nur durch Ausblick auf ein systematisches Ganzes zu gewährleisten. Andererseits können sie dieses Ganze nicht darstellen. Und dies Fehl – als das Undarstellbare – stellen sie indirekt dadurch dar, daß sie sich gegenseitig – ironisch – negieren […]. So versteht man Schlegels Paradox, es sei gleich unmöglich, ein System zu haben (denn das System setzt ein 1
Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn u. a. 1958 ff., Band 2, 172, Nr. 46. Im folgenden zitiert als »KFSA«, mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 2 KFSA 2, 173, Nr. 53. 3 KFSA 19, 76 f., Nr. 346. 4 Manfred Frank: Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992, 102. 5 A. a. O., 103.
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Prinzip voraus, das undarstellbar bleibt) und keins zu haben (denn ohne Ausrichtung auf ein solches wären die Äußerungen, zu denen wir hinsichtlich seiner gelangen, keine Fragmente und könnten sich dann auch nicht mehr wechselseitig aufheben).«6 In eine vergleichbare Richtung argumentiert Rüdiger Bubner, wenn er das dialektische Ironiekonzept Schlegels mit dem konstruktiven, aus einem Prinzip entwickelten Systemgedanken Fichtes konfrontiert: »In dieser völlig unsystematischen Vorstellung von Philosophie hat die Ironie eine genau umrissene Aufgabe. Sie ist alles andere als ein beliebig beiherspielendes Ornament, sie ist die Form des steten Weiterverweisens auf das Ganze, das im Unendlichen liegt, jedenfalls jenseits aller überhaupt einzunehmenden endlichen Standpunkte.«7 Durch die Ironie werde die Reflexion davor bewahrt, in Skeptizismus oder Beliebigkeit abzugleiten, weil in ihr das Ganze präsent gehalten werde, »als die letzte verpflichtende und jeden Reflexionsakt und Standpunkt überbietende Aufgabe«; hierdurch wollte Schlegel, so Bubner, »den Bezug auf eine systematisch noch unerfüllte Philosophie mit literarischen Mitteln wachhalten«.8 Frank wie Bubner kommen darin überein, die systematische Seite der Schlegelschen Philosophie als eher schwach zu veranschlagen: Sie erscheint als ein poetisch wachgehaltenes Ideal transzendentaler Sehnsucht, während das Unsystematische als vorherrschend erscheint. Beide kommen ferner darin überein, den philosophischen Verzicht auf das System als Folge eines fehlenden Prinzips bzw. der Ablehnung eines Prinzips zu deuten. Bei Frank ist dies aus der zitierten Formulierung ersichtlich (»das System setzt ein Prinzip voraus, das undarstellbar bleibt«), bei Bubner heißt es: »Der Verzicht auf den vorangehenden absoluten Grundsatz macht unterwegs einen Stellvertreter nötig; das ist die Ironie.«9 Im folgenden möchte ich zeigen, daß Schlegels Systembegriff mit diesen Annahmen kaum zureichend beschrieben werden kann. Schon die eingangs zitierte These, man müsse System und Systemlosigkeit verbinden, spricht dafür, Schlegel einen stärkeren Systembegriff zu unterstellen, der dem der Systemlosigkeit wenigstens die Waage hält. Und ebenso sind Zweifel angebracht, ob die Systemlosigkeit Folge eines fehlenden Prinzips ist, denn die Ablehnung eines auf einem Prinzip basierten Sy-
6
A. a. O., 102 f. Rüdiger Bubner: Zur dialektischen Bedeutung romantischer Ironie, in: ders.: Innovationen des Idealismus. Göttingen 1995, 157. 8 A. a. O., 161. 9 Ebd. 7
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stems ist ja nicht notwendig zugleich auch die Ablehnung eines Systems überhaupt. Was aber ist dann die Grundlage eines Systembegriffs bei Schlegel, der die paradoxe Konsequenz hat, das System – fast möchte man sagen: aus systematischen Gründen – zu negieren und gerade darin den Systembegriff wieder zu bestätigen? Es ist, kurz gesagt, die Verbindung von System und Historie, die Schlegel behauptet: » Alles System ist Historisch und umgekehrt.«10 Die Erläuterung dieser These verlangt zunächst einen Rückblick auf Kant, denn sie ist Konsequenz einer Auseinandersetzung mit Kants Systembegriff (1). In einem zweiten Schritt möchte ich dann zeigen, wie Schlegel seinen Systembegriff problematisiert und entwickelt (2), und schließlich möchte ich ihn auf seine dialektische Konzeption von Totalität beziehen und daran die genannte paradoxe Konsequenz deutlich machen. 1. 1793, zur Zeit seiner intensiven Auseinandersetzung mit Kant und vor seinem literarischen Auftreten, schrieb Friedrich Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm: »Was wir in Werken, Handlungen, und Kunstwerken Seele heißen (im Gedichte nenne ichs gern Herz) im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott, – lebendigster Zusammenhang – das ist in Begriffen System. Es giebt nur Ein wirkliches System – die große Verborgene, die ewige Natur, oder die Wahrheit. – Aber denke Dir alle menschliche Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein, daß die Wahrheit, die vollendete Einheit das nothwendige, obschon nie erreichbare Ziel alles Denkens ist.«11 Das System, so läßt sich diesen Ausführungen entnehmen, ist den Begriffen oder dem begrifflichen Denken nicht äußerlich, sondern ihre ›Seele‹, ihr innerer, lebendiger Zusammenhang. Gemeint sind aber offenbar nicht Begriffe als Kategorien im Sinne reiner Denkbestimmungen, sondern Begriffe im Sinne sachhaltiger Bestimmungen von Gegenständen. Der Systematik der Begriffe liegt ein gleichsam objektives System zugrunde, welches als Allheit gedacht wird, als – wie es mit Emphase heißt – ›Ein‹ System, das Gott, Natur oder Wahrheit genannt werden kann. Dieser Wahrheit gegenüber, so Schlegels Behauptung, erweist sich das menschliche Denken auch in seiner Gesamtheit immer schon als endlich. Insofern ist das System – die Wahrheit – zwar 10 11
KFSA 18, 85, Nr. 671. An A.W. Schlegel, 28.8.1793, KFSA 23, 129 f.
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inneres agens (›Seele‹) und notwendiges telos des begrifflichen Denkens, es wird in diesem Denken jedoch zugleich immer auch schon verfehlt. Schlegel bewegt sich im Rahmen der vorkantischen opinio communis, das System der Begriffe habe sich an der Systematizität der ›Welt‹ auszurichten und das systematische Denken sei nur die Annäherung an ein ihm äußerliches System und insofern äußerlich bestimmt.12 Kant hat diese Auffassung im Zuge seiner ›kopernikanischen Wende‹ radikal revolutioniert. Wenn sich, verkürzt gesprochen, die Begriffe nicht nach den Gegenständen der Erfahrung, sondern die Gegenstände der Erfahrung nach unseren Begriffen richten, dann bestimmt nicht die Systematizität der ›Welt‹ an sich von außen das System der Vernunft, sondern das System der Vernunft bestimmt die Systematizität der erscheinenden Wirklichkeit. Daß wir die ›Welt‹ systematisch ansehen, ist eine Leistung unserer Vernunft, und zwar eine Leistung, die mit der eigenen Verfaßtheit der Vernunft selbst zu tun hat. »Die menschliche Vernunft«, so schreibt Kant, »ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen.«13 An anderer Stelle heißt es in prägnanter Kürze: »Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems.«14 Die Idee eines in der Vernunft begründeten Systems steht jedoch unter dem Vorbehalt, daß von ihr kein objektiver, konstitutiver Gebrauch zu machen sei. Sie dient vielmehr dazu, »als bloß regulativer Grundsatz und Maxime den empirischen Gebrauch der Vernunft durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen, ohne dabei jemals den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im Mindesten zuwider zu sein.«15 Die Idee einer systematischen Einheit der Vernunft ist demnach vor allem methodisches Prinzip der Erweiterung und Systematisierung der Erfahrungserkenntnis. Dementsprechend gehört für Kant die Architektonik der reinen Vernunft selbst zur Methodenlehre, dem zweiten Hauptteil der ersten Kritik: »Ich 12
Vgl. Christian Strub: Art. System, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 824–856; Architektonik und System in der Philosophie Kants. Hrsg. v. Hans Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2001. 13 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974 u. ö. Im folgenden zitiert als »KrV«, mit Angabe der Auflage und der Seitenzahl. Hier KrV B 502. 14 A. a. O., 708. 15 Ebd.
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verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre.«16 Die problematische Idee eines Systems der Vernunft ist damit für Kant vor allem ein heuristisches Mittel auf dem Feld der Empirie. Warum sie problematisch bleibt und in der Selbstreflexion der Vernunft nicht durchgeführt werden kann, ergibt sich aus der transzendentalen Dialektik der reinen Vernunft. Die Einheit des Verstandes, Grundbedingung seiner Systematizität, kann Kant zufolge nur dadurch gesichert werden, daß er sich auf das Unbedingte richtet; allein hierdurch werde »ein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht«.17 Nun geschieht bei der äußersten Erweiterung des Verstandesgebrauchs, nämlich bei dem Versuch, die Totalität der Bedingungen des Denkens zu erfassen, genau das Gegenteil: Die Einheit und Übereinstimmung der Vernunft zerfällt dabei in sich, indem sie notwendig in dialektische Oppositionen gerät. Kants Auffassung, daß die Vernunft selbst systematisch sei und die systematische Anschauung der ›auf dieser Systematizität beruhe, wirft die Frage auf, weshalb die Vernunft sich nicht von vornherein in ihrer eigenen Systematik reflektiert und darstellt, sondern geschichtlich verschiedene Systeme und Systembegriffe hervorbringt. Kant selbst hat sich diese Frage gestellt und zum Ende der Kritik der reinen Vernunft, am Schluß der transzendentalen Methodenlehre, auf eine »Geschichte der reinen Vernunft« verwiesen; diese sei etwas, was »im System übrig bleibt und künftig ausgefüllt werden muß«.18 Kant selbst hat dies nicht getan, sondern nur eine Topologie philosophischer Positionen vom »Kindesalter der Philosophie« bis auf seine Gegenwart skizziert, in der allein der kritische Weg noch offen sei. Als notwendiger Bestandteil des Systems wäre eine solche Geschichte der reinen Vernunft selbst Explikation des Systems und müßte einen in der Vernunft selbst begründeten, notwendigen Gang aufweisen. Anders gesagt: Die Vernunft wäre an ihr selbst, in ihrer eigenen Systematizität, wesentlich historisch verfaßt. Der kurze Rückblick auf Kant macht deutlich, daß Schlegel sich, entgegen dem ersten Anschein, vielfach grundsätzlich in Kantischen Bahnen 16 17 18
A. a. O., 860. A. a. O., 380. A. a. O., 880.
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bewegt. Mit Kant geht er davon aus, daß das Streben nach dem System das Streben nach einem Unbedingten ist, das sich dem Versuch entzieht, es begrifflich zu bestimmen. Und ebenfalls mit Kant geht er davon aus, daß die Orientierung des begrifflichen Erkennens auf die systematische Einheit notwendig ist und die empirische Erkenntnis erst zu erweitern und in sich systematisch gerichtet zu organisieren vermag, auch wenn ein Abschluß des Systems nicht erreichbar ist und im Unendlichen liegt. Anders als Kant wird Schlegel allerdings die Dialektik zum Motor und Bestandteil dieses Prozesses machen und er wird in eins damit den Gedanken einer Geschichte der Vernunft radikalisieren.
2. In dem Aufsatz Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (1795/96), der zu Lebzeiten ungedruckt blieb, gewinnt Schlegels Konzept methodisch Kontur.19 Das wissenschaftliche Erkennen überhaupt sei die durchgängige Wechselwirkung zweier Gesetzmäßigkeiten: der Selbstgesetzgebung der Vernunft auf der einen Seite und der Gesetzlichkeit der Natur auf der anderen Seite. Es ist diese Wechselwirkung, die auch den Inhalt der Geschichte als Bildungsprozeß ausmacht: »Wenn die Freiheit und die Natur jede für sich Gesetzen unterworfen sind, wenn es eine Freiheit gibt […], wenn die Vorstellungen des Menschen überhaupt ein zusammenhängendes Ganzes – ein System sind, so muß auch die Wechselwirkung der Freiheit und Natur, die Geschichte notwendigen, unveränderlichen Gesetzen unterworfen sein: Gibt es überhaupt eine solche Wechselwirkung, gibt es Geschichte, so muß es auch ein System notwendiger Gesetze a priori für dieselbe geben.«20 Für Schlegel sind hier a priori zwei Modelle denkbar. Dem Autonomieanspruch der Vernunft entspreche »das System des Kreislaufes«;21 stelle man jedoch die Wechselwirkung in Rechnung, d. h. – wie Schlegel hier ausdrücklich betont –, daß die Natur nie von der Freiheit »vertilgt« werden könne, so entspreche dem »das System der unendlichen Fortschreitung.«22 Das ›System der Vernunft‹ bezieht sich hier nicht mehr in einem Abbildungsverhältnis auf das ›System der Natur‹, wie in dem zitierten
19 20 21 22
KFSA 1, 621–642. A. a. O., 630 f. A. a. O., 631. Ebd.
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Brief von 1793, (auch wenn das System als Natur immanente ›Seele‹ des begrifflichen Denkprozesses war), sondern beide repräsentieren unterschiedliche Systeme. Dies kommt dadurch zustande, daß Schlegel hier – in Anlehnung an die beiden ersten Kritiken Kants – Naturgesetzmäßigkeit einerseits und Freiheit andererseits gegenüberstellt, also den spinozistisch gefärbten Naturbegriff von 1793 verändert. Die Wissenschaft ist Eine, sofern sie der Selbstgesetzgebung der Vernunft im Streben nach einem vollständigen, in ihr selbst systematisch begründeten Wissen folgt. In dieser Hinsicht strebt sie Autonomie an. Die Aussicht auf eine solche prinzipielle Vollendung der Vernunft in sich ist für Schlegel durch Fichtes Wissenschaftslehre eröffnet worden. In der Realisierung dieses Endzwecks aber ist die Wissenschaft keineswegs autonom, sondern an Bedingungen des Vollzugs der Erkenntnis oder der Produktion des Wissens gebunden. Gleichwohl dürfe es »für die Wissenschaft keine andere Heteronomie als die des Werkzeuges, der Veranlassung, oder des Stoffes geben«.23 Erst im Zusammenwirken dieser Momente (des Werkzeugs, der Veranlassung seines Gebrauchs und des zu bearbeitenden Gegenstandes), d. h. im Gebrauch der Werkzeuge der Wissenschaft, realisiert sich das Erkennen und wird die Wissenschaft davor bewahrt, sich »in leere Formen und Systeme ohne Inhalt zu verirren«.24 Hiermit stimmt überein, was Schlegel 1796 in sein Notizheft schrieb: »System ist eine durchgängig gegliederte Allheit von wissenschaftlichem Stoff, in durchgehender Wechselwirkung und organischem Zusammenhang. – Allheit eine in sich selbst vollendete und vereinigte Vielheit.«25 Die ›Allheit‹ steht für das, was 1793 noch ›Seele‹, ›Gott‹ oder ›Natur‹ hieß, und wird hier als selbstbezüglich wohl mit dem Konzept der Autonomie oder dem zyklischen System in Verbindung gebracht. Dieses wäre das wahre System, das aber nur ein unerreichbares telos des Wissensprozesses darstellt. Von dorther ist das ›System des Kreislaufs‹ dem ›System der unendlichen Fortschreitung‹ zwar prinzipiell überlegen, hat jedoch immer den Charakter des problematischen Vorgriffs auf ein virtuelles Ziel des Prozesses und bedeutet ein Überspringen der weiteren Glieder im (unendlichen) Fortschreiten. Umgekehrt bringt es das unendliche Fortschreiten für sich genommen nur »zu zweckloser Vielwisserei«, da die Erfahrung »doch nur als ein Ganzes geordnet, den Namen Geschichte verdient, und erst dadurch in Stand gesetzt wird, sich mit der reinen 23 24 25
A. a. O., 622. Ebd. KFSA 18, 12, Nr. 84.
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Wissenschaft zu einem größern Ganzen zu vereinigen.«26 Im Prozeß des werdenden Wissens sind beide Systeme defizitär und müssen daher vereinigt werden. Die Vernunft kann sich nur geschichtlich realisieren, d. h. in der Heteronomie von Werkzeug, Veranlassung und Stoff, und das geschichtliche Fortschreiten – soll es nicht bloß eine leere Bewegung in der Zeit sein – bedarf eines Kontinuums, d. h. der Rückkehr des Prozesses, den wir als geschichtlichen ansprechen, in sich selbst. Die bei Schlegel vielfach variierte, paradoxe Formel für diese objektiv vermittelte Selbstreflexion von Geschichte lautet »unendlich zyklische Progressivität«. Der damit bezeichnete Prozeß steht im Mittelpunkt der seit 1797 skizzierten Philosophie der Philologie; 27 diese sei »Theorie der historischen Kritik«28 und die »ganze Philosophie der Historie« müsse aus ihr »postulirt und deducirt werden können.«29 Das philologische Verfahren wird näher als ein hermeneutisch-kritischer Prozeß vorgestellt, der beim historisch bedingten Einzelnen einsetzt und von ihm aus das geschichtliche Ganze erfaßt; er ist daher »wie eine Totalisazion von unten herauf«.30 Dieser Prozeß folgt einer Produktionslogik; im Rückgang auf das bereits Gebildete werden dessen innere Potentiale für ein sich daran anschließendes Fortbilden freigesetzt. Diese Figur betrifft nicht nur den kulturellen Überlieferungszusammenhang durch Rede oder Schrift, wie er traditionell Gegenstand der Hermeneutik ist, sondern sie hat paradigmatische Bedeutung für alle menschlichen ›Bildungen‹. Diese realisieren sich als progressive, »antithetische Synthesis« in einer fortgehenden »Kette der ungeheuersten Revoluzionen«.31 Dieser Prozeß ist zugleich der historische Konstitutionsprozeß des menschlichen Geistes und seiner Selbstreflexion. Er zielt auf die geschichtliche und im Werden begriffene Totalität der ›Welt‹ und damit auf den Gegenstand der transzendentalphilosophischen Dialektik. Die Beziehung auf die ›Welt‹ als die immer nur vorläufige, weil geschichtlich sich verändernde Totalität und damit auf das Bedingende unseres Erkennens
26
KFSA 1, 622. KFSA 16, 35–81 (Zur Philologie I und II); Friedrich Schlegel: Philosophie der Philologie. Hrsg. v. Joseph Körner, in: Logos 17 (1928), 1–72. Vgl. Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Verf.: ›Philosophie der Philologie‹, in: Editio 11 (1997), 1–19. 28 KFSA 16, 35, Nr. 9. 29 A. a. O., 47, Nr. 143. 30 A. a. O., 68, Nr. 84. 31 KFSA 18, 82 f., Nr. 637. 27
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und Handelns realisiert sich erst in der praktischen Unendlichkeit einer progressiven geschichtlichen Bildung. Dies ist gemeint, wenn Schlegel davon spricht, daß in der Philosophie das Transzendentale historisiert werden müsse.32 In dieser Figur ist unschwer das Projekt einer Geschichte der reinen Vernunft wiederzuerkennen; Schlegel radikalisiert den Gedanken einer historischen Konstitution der Vernunft in einer mit Hegels späterer Phänomenologie des Geistes vergleichbaren Weise, nur daß er dabei im Unterschied zu Hegel die Möglichkeit eines absoluten Wissens ausschließt. Im Blick auf den Systembegriff bedeutet dies, daß Schlegel, anders als Hegel, ein in ihr selbst begründetes und abgeschlossenes ›System der Vernunft‹ als kategoriales Netz reiner Denkbestimmungen zurückweist. Vermutlich würde er es als ›leere Form‹ und ›System ohne Inhalt‹ ablehnen, da für ihn der empirische Gehalt Bestandteil des Systems selbst ist. In diesem Sinne kann das System für ihn nicht abgeschlossen sein, solange die Empirie nicht ausgeschöpft ist, und dies kann prinzipiell nicht der Fall sein, solange die ›Welt‹ noch im Werden ist. Eine nicht mehr werdende und dadurch allererst im Ganzen verständliche ›Welt‹ wäre tot und damit kein lebendiges Ganzes mehr: »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?«33 Es ist schwer zu entscheiden, ob Schlegel damit dem vorkantischen Systembegriff verhaftet bleibt, denn bei ihm bezieht sich das begrifflich denkende Erfassen der Wirklichkeit nicht abbildlich auf ein vorgegebenes, objektives System, sondern steht in Wechselwirkung mit einer dynamischen ›Welt‹, mit der zusammen es ein System bildet, das Zyklizität, d. h. Selbstbezüglichkeit und Abgeschlossenheit in sich, mit Progressivität, d. h. unendlicher Fortschreitung, verbindet. ›System‹ ist daher bei Schlegel eine prozessierende Totalität, die weder in die denkende (und handelnde) Vernunft zurückgenommen noch ihr gegenüber objektiviert werden kann, und es liegt in dem Charakter dieser Totalität selbst als einer prozessierenden, daß ihr systematischer Zusammenhang – der ja nach Schlegel die Allheit des Empirischen in sich begreift34 – nicht abschließend fixiert werden kann und darf, da der Prozeß schon immer über
32
Vgl. a. a. O., 92, Nr. 756. Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit, in: KFSA 2, 370. 34 In diesem Sinne gebraucht Schlegel in seiner Transzendentalphilosophie-Vorlesung 1800/01 ›System‹ und ›Enzyklopädie‹ auch gleichbedeutend; vgl. KFSA 12, 94. 33
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den Punkt einer solchen Fixierung hinaustreibt. Anders gesagt: Das System selbst ist so beschaffen, daß es seine jeweiligen Zustände überschreitet und damit die jeweilige Systematizität aus sich selbst heraus negiert. Systemlosigkeit als Negation des Systems ist damit Prozeßmoment des Systems selbst, wie es auch die bekannte Rede von einem »System von Fragmenten«35 anzeigt. In diesem Sinne ist ›System‹ für Schlegel weder bloß eine regulative Idee, wie bei Kant, noch überhaupt nur ein Prinzip oder Grund(satz), das oder der vom begrifflichen Denken notwendig verfehlt wird, sondern eine Prozeßtotalität, die sich in sich ständig in neuen systematischen Zuständen organisiert. Dieses Konzept von Totalität verweist auf Schlegels Konzeption von ›Dialektik‹.
3. »System ist der Begriff, der den Prinzipien entgegengesetzt ist«.36 Schlegels Diktum aus der Transzendentalphilosophie-Vorlesung 1800/01 unterstreicht, daß seine Totalitätskonzeption auch Konsequenz seiner Ablehnung der Grundsatzphilosophie ist, wie sie bei Fichte im Ausgang der Wissenschaftslehre von einem obersten, schlechthin unbedingten Grundsatz zum Tragen kam. In der Rezension von Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar (1796) heißt es, es sei ein »von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie«.37 Dieses Theorem besagt vor allem, daß die Wechselwirkung des Bedingten in sich den Grund der Philosophie bildet und nicht ein Unbedingtes, das von dem Bedingten unterschieden wäre; vielmehr ist die Totalität der Wechselerweise von außen unbedingt und insofern selbst das Unbedingte. An die Stelle der Deduktion aus dem Unbedingten (bei Fichte: den Grundsätzen der Wissenschaftslehre) tritt dann so etwas wie ein rückläufiges Begründen des Unbedingten aus dem Bedingten. Das Theorem des Wechselerweises verweist auf Kants Auffassung, wonach die Totalität der Bedingungen selbst das Unbedingte ist, und damit auf die transzendentale Dialektik. Diese bildet für Schlegel
35
Fragment 77; KFSA 2, 176. KFSA 12, 100. 37 KFSA 2, 74. – Gegen Tendenzen, den Wechselerweis als Quasi-Prinzip von Schlegels Philosophie anzusehen, vgl. Bärbel Frischmann: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J.G. Fichte und Fr. Schlegel, Paderborn u. a. 2005, 149. 36
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das Zentrum der Kritik der reinen Vernunft38 und den Bezugspunkt seiner eigenen Konzeption von Dialektik, deren erste Formulierung aus dem Jahr 1796 überliefert ist.39 Schlegel begründet das affirmative Dialektik-Verständnis der nachkantischen Philosophie, indem er sie zum Organon des Findens und Mitteilens der Wahrheit macht. Sie ist Verfahrensweise des Wechselerweises, indem der »Übergang vom Irrthum zur Wahrheit« sich in der wechselseitigen Korrektur von Positionen vollzieht, wobei die Wahrheit als Produkt des Streites homogener Irrtümer immer relativ ist.40. Wahrheit ist die »Indifferenz […] zweyer sich entgegengesetzter Irrthümer«.41 Der dialektische Prozeß schreitet im Sinne der sokratisch-platonischen elenktikê technê, der Befreiung von Scheinwissen, fort; die Wahrheit tritt durch die fortgesetzte Vernichtung des Irrtums hervor. Fluchtpunkt des dialektischen Prozesses ist die Totalität oder das Absolute: »Es ist alles in einem, und eins ist alles«.42 Das Absolute als Totalität ist aber, und insofern folgt Schlegel Kant, in seiner Identität nicht abschließend zu bestimmen und entzieht sich damit jeder begrifflichen Fixierung: »Die Nichterkennbarkeit des Absoluten ist […] eine identische Trivialität.«43 Das notwendige Setzen des Absoluten oder der Totalität als etwas, das gleichwohl nicht begrifflich zu bestimmen ist, führt, analog zu den dialektischen Oppositionen Kants, zu einem »unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten«; dies nennt Schlegel Ironie.44 In 38
Vgl. KFSA 18, 67, Nr. 468: »Offenbar müßte (in der Diaskeuase) die Dialektik der Analytik vorangehn; so würde alles viel deutlicher werden.« 39 KFSA 18, 509, Nr. 50: »Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bey Plato Gorgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.« – Vgl. v. Verf.: Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796-1801, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), 257–273; ders.: Perspektiven frühromantischer Dialektik, in: Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie. Hrsg. v. Bärbel Frischmann und Elizabeth Millán-Zaibert, Paderborn u. a 2009, 53–64. 40 KFSA 12, 8 f.; vgl. 94 f. 41 A. a. O., 92. 42 A. a. O., 7. – Das Setzen des Absoluten ist nach Walter Benjamin eine Konstitution des Absoluten durch die Reflexion, die sich damit ein Medium schafft, um Kontinuitäten bzw. Identitäten zu reflektieren. Vgl. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1919). Frankfurt a. M 1973, 32; Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M 1987. 43 KFSA 18, 511, Nr. 64. 44 KFSA 2, 160, Nr. 108.
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der Ironie ist die Grenze des Erkennens als Grenze des Begriffs erreicht: »Eine Idee«, so heißt es im Athenaeum-Fragment 121, »ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stets sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.«45 Die antinomische Form der Idee ist als höchste Erkenntnis Erkenntnis der Grenze des Erkennens selbst, aber wir können sie – so betont Schlegel in Vorwegnahme eines später von Hegel gebrauchten Arguments – als Grenze nur erkennen, indem wir »auf irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend)« schon immer über sie hinaus sind.46 Dies geschieht, wie es im Abschluß des Lessing-Aufsatzes heißt, »durch Allegorie, durch Symbole«, durch welche »überall der Schein des Endlichen mit der Wahrheit des Ewigen in Beziehung gesetzt und eben dadurch in sie aufgelöst wird« und »an die Stelle der Täuschung die Bedeutung tritt«.47 Das ästhetische Moment, das hiermit ins Spiel kommt, ist aber nicht das letzte Wort nach der Philosophie: Das allegorisch-symbolische Überschreiten der Grenze verweist zurück auf die Erkenntnis der Grenze, d. h. sie gibt der Idee eine Bedeutung, denn das, was mit ›Idee‹ bezeichnet wird, ist »gleichsam unbegreiflich […] nämlich in Absicht des Ausdrucks. Z. B. Nichtich ist gleich Ich.«48 Anders gesagt: Der (dialektische) Widerspruch bekommt allegorisch-symbolisch einen Gehalt, so daß sein Resultat nicht einfach Null ist. Die Ironie bewahrt den dialektischen Prozeß davor, an den dialektischen Oppositionen nach dem Vorgang der Kantischen transzendentalen Dialektik ins Leere zu laufen und ins bedingte Denken des Verstandes zurückzufallen. Sie ist die Schlegelsche Form der Anerkennung des Widerspruchs als Form einer Wahrheit, die sich der begrifflich-logischen Form entzieht und daher dem Begriff allein unzugänglich bleibt.49 Das begriffliche Erfassen der Totalität als einer systematisch organisierten Einheit unterliegt genau dieser Dialektik. Von entscheidender Bedeutung dabei ist, daß diese Totalität (oder das Absolute bzw. Unbedingte) nicht als ein Jenseits vorgestellt wird, das man sich zum Endlichen hin45
A. a. O., 184. KFSA 18, 521, Nr. 23. 47 KFSA 2, 414. 48 KFSA 12, 5. 49 Auch hier ist Schlegel nahe an Hegels späteren Positionen: Er hat nicht die von Hegel kritisierte Zärtlichkeit für die ›Dinge‹, von ihnen den Widerspruch fernhalten zu wollen, aber er ist offenbar davon überzeugt, daß die Form des Widerspruchs auch dann, wenn sie einen reellen Inhalt hat, das Begreifen dieses Inhalts verhindert. 46
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zudenken müsse: »Jene Welt ist schon hier. So lange man noch sagt, diese und jene Welt, hat man noch gar keinen Sinn für die Welt. – Giebts wohl einen andren Namen für meine Ironie […]?«50 Der Widerstreit des Unbedingten und Bedingten ist damit als immanent aufzufassen; er ist wesentlich darin begründet, daß die Totalität historisch, als prozessierende Totalität, aufgefaßt wird. Dies bedeutet, wie gezeigt wurde, die ständige Überschreitung des jeweiligen Systemzustandes hin zu einem anderen. Die prozessierende Totalität vollzieht damit genau jene Bewegung, die Schlegel der Ironie zuschreibt, nämlich den »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«.51 Diese Bewegung gilt nach Schlegel allgemein, weil im letzten auch das Ganze als lebendiges Individuum aufzufassen sei: »Sind nicht alle Systeme Individuen, wie alle Individuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme? Ist nicht alle reale Einheit historisch?«52 Die Einheit von System und Geschichte realisiert sich als widersprüchliche Einheit von ›Selbstschöpfung‹ und ›Selbstvernichtung‹ jeweiliger Systemzustände. Von dorther läßt sich auch Schlegels Diktum verstehen, absolute Einheit als Form der Philosophie sei nicht etwa die »Einheit eines Systems; denn diese ist nicht absolut. Sobald etwas System ist, so ist es nicht absolut. Die absolute Einheit wäre etwa ein Chaos von Systemen.«53 Ein System ist deshalb nicht absolut, weil es sich ständig selbst negiert und damit einen endlichen Zustand beschreibt; das prozessierende Ganze hingegen als das Absolute erreicht nie einen die ganze Geschichte umgreifenden Zustand, in dem es sich als System beschreiben ließe; es ist aber systematisch gerichtet und immer System im Werden durch die ›Selbstschöpfung‹ und ›Selbstvernichtung‹ von Systemen hindurch. Die Einheit von System und Systemlosigkeit hat demnach selbst systematische Gründe. Man kann Schlegels Vorstellung von Philosophie daher keineswegs als unsystematisch bezeichnen. Vielmehr ist ernstzunehmen, daß er – wie wiederholt in der Transzendentalphilosophie-Vorlesung 1800/01 – mit großer Selbstverständlichkeit von seiner Philosophie als einem philo50
KFSA 18, 285, Nr. 1067. KFSA 2, 172, Nr. 51. 52 KFSA 2, 205, Nr. 242. 53 KFSA 12, 5. – Im Unterschied dazu legt das oben (Anm. 51) zitierte AthenaeumFragment 242 nahe, daß die absolute Einheit als prozessierende Totalität oder lebendiges Individuum selbst System sei; das Ganze wäre dann nicht als Chaos, sondern als System von Systemen zu beschreiben: »Gibt es nicht Individuen, die ganze Systeme von Individuen in sich enthalten?« (KFSA 2, 205, Nr. 242) 51
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sophischen System spricht. Dabei sollte aber auch die Ironie nicht überhört werden, die dabei mitschwingt. Daß eine Philosophie ein System ist, bedeutet eben auch, daß sie nicht absolut ist.
Jure Zovko Kritik versus System. Ein ironisches Spiel im Denken Friedrich Schlegels In der gegenwärtigen Forschung herrscht ein auffälliger Dissens darüber, ob die Denker der Jenenser Romantik Auswege aus dem sich emporarbeitenden Deutschen Idealismus suchten,1 oder eher kreative Wege des originellen Denkens im breiten Kontext des idealistischen Denkens erarbeiten wollten.2 Die von Arndt unternommene genetische Erklärung der Schlegelschen Gedankenentwicklung, in welcher das dialektisch komplementäre Verhältnis von System und Systemlosigkeit als eines der gravierenden Motive dargestellt wird, ist ein Beleg dafür, daß der bestehende Dissens unter den Experten wegen der Komplexität der Schlegelschen Gedanken nicht einfach auszuräumen ist. Schlegel versucht seinen philosophischen Weg zwischen der Szylla der fragmentarischen Originalität und der Charybdis der systematischen Notwendigkeit als ein ironisches Spiel zu finden. Die grundsätzliche Skepsis gegen jede Form der systematischen Vereinheitlichung der Philosophie, die er in Schlegels fragmentarischen Entwürfen und Aperçus wittert, deckt sich mit seinem Versuch, kritisch-ironisch gegen jegliche Form des verdinglichend-systematischen Denkens vorzugehen. Schlegel kennzeichnet als ein Konstrukt des unkritischen, von der Wirklichkeit abgeschotteten Dogmatismus sowohl ein in sich verschlossenes System der Vernunft, als auch das mit ihm konvergierende System der Natur und stigmatisiert somit beide als Prototypen des verdinglichenden, abstrakten Philosophierens, wie es später in den Kölner Vorlesungen ausdrücklich heißt. Die besondere Vorliebe für das kritische Refinement in der Form von Fragmenten wird im berühmten Lyceum-Fragment Nr. 42 expressis verbis artikuliert und als Motto der frühromantischen progressiven ›poetischen Reflexion‹ aufgestellt: »[Ü]berall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern.«3 1
Vgl. Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 2007; Karl Ameriks: Kant and the Historical Turn. Philosophy as Critical Interpretation. Oxford 2006. 2 Vgl. Frederick C. Beiser: German Idealism. The Struggle against Subjectivism 1781– 1801. Cambridge 2002. Bärbel Frischmann: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel. Paderborn 2005. 3 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn 1958 ff. Im
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Entgegen verbreiteten Deutungen, daß mit diesem eindeutigen Plädoyer für die Ironie auch der unumstößliche Bruch mit der Fichteschen Wissenschaftslehre und der Verfahrensart seines abstrakten Idealismus vollzogen wird,4 müßte man auf die Komplexität des durch die philosophische Ironie intendierten Explanandums verweisen. Mit Hilfe der Ironie sollte zur Sprache gebracht werden, was durch die abstrakte Reflexion nicht möglich ist, nämlich »den unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten« zu erörtern,5 wobei das Bedingte nicht schlechterdings aufgehoben, sondern in seinem dynamischen Darstellungsgefüge offen gelegt wird. Ironie allein »enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Nothwendigkeit einer vollständigen Mittheilung.«6 Schlegels äußerliche Distanzierung von der Methodologie der Wissenschaftslehre bedeutet in der kritischen Periode seines Denkens keineswegs die Preisgabe des aus dem Grundgedanken des ›sich selbst schlechthin setzenden Ich‹ hervorgegangenen Optimismus, daß nämlich die geschichtliche Welt unter Bedingungen der verbindlichen Vernunft zu bringen ist. Daß Schlegel in der ersten Phase seiner kritischen Epoche stark vom Standpunkt des diskursiven Optimismus argumentiert, läßt sich durch seine einflußreiche Woldemar-Rezension (1796) nachweisen, wo er sich stark dafür einsetzt, daß der von Jacobi propagierte ›Vernunfthaß‹ »keine allgemeine Epidemie« des Zeitalters werde.7 Das komplexe Verhältnis zu Fichtes Idealismus tritt besonders durch die bestehende Diskrepanz zwischen den veröffentlichten und nachgelassenen Fragmenten zutage. Das bekannte Athenaeum-Fragment (Nr. 216), in dem die Begeisterung über die drei größten Tendenzen des Zeitalters, Fichtes Wisfolgenden zitiert als »KFSA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; hier KFSA 2, 152, Nr. 42. 4 So beispielsweise Rüdiger Bubner: Innovationen des Idealismus. Göttingen 1995, 146: das Fragment erscheint »als darstellerisches Pendant zu Fichtes Wissenschaftslehre.« Vgl. Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997, 866 f. Im folgenden zitiert als »Frank, Unendliche Annäherung«, mit Angabe der Seitenzahl. Frank behauptet, daß »Schlegel Fichtes Einsatz mit dem alleinigen Grundsatz ›Das Ich setzt schlechthin sich selbst‹ nicht mitmacht; denn dieser Satz trägt sich nicht selbst«. 5 KFSA 2, 160, Fr. 108. 6 Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie. Hrsg. v. Andreas Arndt u. Verf. Hamburg 2007, 130; im folgenden zitiert als »Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie«, mit Angabe der Seitenzahl. Vgl. auch KFSA 2, 160, Nr. 108. 7 Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 59. Vgl. dazu v. Verf.: Glauben und Philosophie. Friedrich Schlegels und Hegels Jacobi-Kritik, in: Hegel-Jahrbuch 2005, 221– 227.
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senschaftslehre, Goethes Wilhelm Meister und die französische Revolution verkündet wird, enthält in der unveröffentlichten Version eindeutig kritisch akzentuierte Bedenken: »Aber alle drei sind doch nur Tendenzen ohne gründliche Ausführung.«8 Trotz allen kritischen Einwänden bleibt Fichte für die Jenenser Frühromantik offensichtlich ein Denker von inkommensurabler Bedeutung, vornehmlich deshalb, weil er mit seinem Postulat eines sich frei setzenden Denkens der kritischen Philosophie und der praktischen Tätigkeit des Geistes Tür und Tor geöffnet hat. Schlegel ist fest überzeugt, daß mit Fichtes tiefsinniger Konzeption der Wissenschaftslehre eine epochale »Annäherung der Philosophie zur Humanität im wahren und großen Sinne des Worts« erreicht wurde.9 In der Fichteschen Philosophie sieht Schlegel die Fortführung der von Lessing in die deutsche Kulturgeschichte inaugurierten kritischen Reflexion, die inzwischen zum signum temporis der modernen Philosophie und Literatur geworden ist.10 In dem für die Lessing-Ausgabe geschriebenen und Fichte gewidmeten Einleitungsessay Lessings Gedanken und Meinungen (1804) wird Schlegels Zuneigung zu der idealistischen Philosophie als philosophisches Bekenntnis zu der Moderne deklariert: »Diese bewundernswürdige Lehre des Idealismus der neuen Schule zeigt uns das Aeußerste, was der Mensch bloß durch sich selbst vermag, durch die Kraft und Kunst des freien Denkens allein, und durch den festen Muth und Willen dazu, in steter Befolgung der einmal erkannten Grundsätze.«11 Mit der lobenden Anerkennung des neuen Idealismus wird zugleich das Verlangen nach der emendierenden Vervollständigung desselben geäußert, weil ohne die gründliche Transformation des Fichteschen Konzepts der abstrakten Reflexion die Philosophie ihre endgültige Aufgabe nicht bewältigen kann: das Leben selbst in seiner Ursprünglichkeit, Kreativität und der vielfältigen Deutungsmöglichkeit auf den Begriff zu bringen. Mit der plausiblen Begründung, »daß der Mensch nur unter Menschen leben« und sich verständigen kann,12 macht Schlegel geltend, weshalb im Brennpunkt seines Interesses nicht das reine, absolute Ich als ›Tathandlung‹, sondern lediglich das endliche Ich qua Individuum mit seiner Geschichtlichkeit steht. 8
KFSA 18, 85, Nr. 662. Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 91. 10 So wird im ersten Band der Zeitschrift Europa »der Idealismus als die wesentliche Bedingung sine qua non, als Erhaltungsmittel und Grundlage unserer neuen Literatur« gemustert. (KFSA 3, 7). 11 Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 194. 12 A. a. O., 91. 9
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Daß es Schlegel in seiner kritischen Philosophie tatsächlich ernst um die ›Diaskeuase‹ der Fichteschen Wissenschaftslehre ging, leuchtet aus seinen programmatischen Äußerungen in den 1800/01 gehaltenen Vorlesungen Transcendentalphilosophie ein, wo eingangs bekräftigt wird, daß sein »System der Philosophie […] das gemeinschaftliche des Spinozistischen und Fichtischen seyn« soll.13 Der Romantiker visiert seine eigene Philosophie als eine Synthese der auf die ›substantia infinita‹ beharrenden Spekulation Spinozas und der im Selbstbewußtsein ›kreisenden‹ abstrakten Reflexion Fichtes an, wobei sein Anliegen und Endzweck ist, eine ›Historisierung‹ des Realismus und des Idealismus, der zwei dem Anschein nach gegensätzlichen, aber im inneren Kern jedoch komplementären Denkmodelle, durchzuführen. Es ist nämlich hermeneutisch inkorrekt, eine ex nihilo ansetzende und von der Geschichte des Denkens völlig abgekoppelte Philosophie anzustreben; für die Philosophie sei ergiebiger, wenn beide Konzepte einer radikalen Korrektur unterzogen werden. Am Beispiel Platons wird plausibel gemacht, wie sich die Philosophie »an andere anschließen« »und doch durchaus originell seyn« kann.14 Durch seinen Rekurs auf Fichte beabsichtigt Schlegel nachzuweisen, daß es in einem kritisch strukturierten Philosophieren unangebracht ist, von einem Grundsatz auszugehen, respektive alles auf ihn zurückzuführen. Gleichzeitig aber hebt er hervor, daß es möglich ist, den diskursiven Duktus seiner Philosophie beizubehalten. In der Woldemar-Rezension wird mit Vorsicht die Möglichkeit eines anderen Anfangs zur Philosophie, der sich von Fichtes und Reinholds Grundsatzphilosophie wesentlich unterscheiden sollte, erwogen: »Wie wenn nun aber ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie wäre?«15 Damit steht Schlegel einerseits in der nachkantischen Tradition der Suche nach einem Prinzip, aus dem die Gesamtheit der Wirklichkeit generiert und determiniert wird, aber anderseits versucht er die damals dominierende monistische Tendenz aufzuheben und für die kritische Philosophie des endlichen Geistes eine neue Perspektive mit vielfachen Entfaltungsmöglichkeiten offenzulegen. Viele Romantikexperten möchten seinen Wechselgrundsatz als eine Form des Kohärentismus kennzeichnen, in welcher auf eine Letztbegründung eindeutig verzichtet und die Wendung zum geschichtlichen Konstruieren der Wahrheit aufgefordert wird.16 Die Diskussion um die Rele13 14 15 16
KFSA 12, 32. A. a. O., 30. Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 47. Vgl. Frank, Unendliche Annäherung, 522–523; ders.: ›Wechselgrundsatz‹. Friedrich
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vanz des Kohärentismus hat namentlich Otto Neurath in der Auseinandersetzung mit Schlick und Carnap hinsichtlich der Möglichkeit der Synthetisierung von Protokollsätzen durch die schöne Schiffer-Metapher initiiert: »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals auf einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.«17 Neuraths primäre Intention ist es nachzuweisen, daß »[d]ie Wissenschaft als ein System von Aussagen« möglich ist. Im heuristischen Prozeß werden dabei Aussagen »mit Aussagen verglichen, nicht mit ›Erlebnissen‹, nicht mit einer Welt, noch mit sonst etwas. […] Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten, Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. Statt die neue Aussage abzulehnen, kann man auch, wozu man sich im allgemeinen schwer entschließt, das ganze bisherige Aussagensystem abändern, bis sich die neue Aussage eingliedern läßt.«18 Im Unterschied zu Neuraths aus dem logischen Raum derivierten Kohärentismus sieht Schlegel die kohärente Struktur des Denkens im hermeneutischen Zirkel des Verstehens fundiert, das in der hermeneutischen Praxis der Explikation und Interpretation von Texten und Kunstwerken appliziert wird. Wie immer ein Kohärentismus unterschiedlich aufgefaßt und gedeutet werden mag, bleibt seine primäre Intention, plausibel zu machen, daß die Frage nach der Rechtfertigung der philosophischen Sätze hauptsächlich von ihrem Zusammenhang, i. e. von deren Beziehung zu einem System der akzeptablen Sätze, und nicht bloß von einem, zumeist abstrakten Grundsatz abhängt. Die einzige Quasiunbedingtheit besteht aus den aufeinander verweisenden, sich gegenseitig stützenden, bedingten Sätzen. Dementsprechend laßt sich Schlegels Kritik an Fichtes singulärem Prinzip der Wissenschaft als Plädieren für ein Netzwerk der gerechtfertigten, sich als wahr erwiesenen Errungenschaften des Geistes,
Schlegels philosophischer Ausgangspunkt, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 26–50. 49 f. Birgit Rehme-Iffert, Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805. Würzburg: 2001, 59 f. 86 ff. Andrew Bowie vergleicht Schlegels erkenntnistheoretische Ansichten sogar mit der kohärentistischen Epistemologie von McDowell and D. Davidson, vgl. ders.: John McDowell’s ›Mind and World‹, and Early Romantic Epistemology, in: Revue Internationale de Philosophie 50 (1996), 515–554. 17 Otto Neurath: Protokollsätze, in: Erkenntnis 3 (1932), 204–214; hier 206. 18 Otto Neurath: Soziologie im Physikalismus, in: Erkenntnis 2 (1931), 393–431; hier 403.
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die zu einer pluralistischen Einheit integriert werden sollen: »In der Wissenschaftslehre giebt es einen Wechselerweis, weil das Ganze ein in sich vollendeter Kreislauf ist; in den abgeleiteten Wissenschaften Vielheit der Wechselerweise; und im System Allheit der Wechselerweise.«19 Das eigentliche punctum saliens der Schlegelschen Philosophie läßt sich m. E. nicht durch die Explanation eines Begriffs entschlüsseln, wie dies in letzten Jahren mit Hilfe des Philosophemens ›Wechselerweis‹ versucht wurde, was eindeutig zu einer simplifizierenden Reduktion seines kritischen Pluralismus führte. Schlegels progressiv konzipierte »Allheit der Wechselerweise«20 deckt sich mit seiner synthetischen »Totalisazion von unten herauf«21, wie sie in den nachgelassenen Schriften Zur Philologie konzipiert wurde. Diese ›Totalisazion‹ erweist sich freilich als eine systematisierende Vereinheitlichung der sich als wahr erweisenden Propositionen im Sinne einer »antithetische[n] Synthesis« und steht im engen Zusammenhang mit der Schlegelschen hermeneutischen Kritik, die als Kunst des ›symphilosophierenden‹ Gespräches mit dem Text bzw. der Erkundung der geschichtlichen Errungenschaften des menschlichen Geistes fungiert: »[D]as Leben des universellen Geistes«, so Schlegel im Athenaeum-Fragment Nr. 451, »ist eine ununterbrochene Kette innerer Revolutionen.« Daß im Hintergrund die Bildung als »antithetische Synthesis«, bzw. eine »Vollendung bis Ironie« steht, ist aus der nachgelassenen Notiz zur selben Zeit ersichtlich: »Bei einem Menschen, der eine gewisse Höhe und Universalität der Bildung erreicht hat, ist sein Innres, eine fortgehende Kette der ungeheuersten Revolutionen.«22 Jeder kreative Verfasser oder Denker tritt, so Schlegel, schon bei der Verfassung seines Werkes als der »synthetische Schriftsteller« mit seinem zukünftigen Leser »in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie«.23 Schlegels Behauptung, daß »Texte für das Studium oder die Symphilosophie da stehen«,24 deutet an, daß die Texte bzw. Kunstwerke nicht so sehr als Objekte potentieller wissenschaftlicher Analyse betrachtet werden, wie dies vornehmlich in der philologischen oder historischen Behandlung eines alten Textes der Fall ist, sondern sie erweisen sich in erster Linie als aktive Dialogpartner, mit denen man ins Gespräch kommt. Das Lesen stellt sich mithin als ein Prozeß der dynamischen Wechselwirkung heraus, in wel19 20 21 22 23 24
Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 54. KFSA 18, 505, Nr. 2. KFSA 16, 68, Nr. 84. KFSA 18, 82, Fr. 637. KFSA 2, 161, Nr. 112 (Lyceum-Fragment). A. a. O., 177, Nr. 82.
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chem der Interpret offen bleibt für das, was das Werk zu sagen hat, während das verstandene Werk seine Neugestaltung im Bewußtsein des Lesers erfährt. Wertvolle klassische Werke als anspruchsvolle Gesprächspartner bieten dem Symphilosophierenden immer wieder neue Möglichkeiten, in der kreativen Auseinandersetzung mit den Objektivationen des Geistes seinen eigenen Horizont zu erweitern, seine Kenntnisse zu bereichern und die eigene Urteilskraft zu schärfen und zu kultivieren. Die Kritik als Kunst des Verstehens kommt mit der transzendentalphilosophischen Dialektik überein, die als Organon der Philosophie fungiert, wie aus seinem 1797 geschriebenen, prägnanten Fragment aus dem Nachlaß ersichtlich ist: »Die kr[Kritik] ist nicht bloß absolut. Ohne sust[Systematik] gelangt sie nicht zur Charak[teristik]. Es ist eine Universaf[philosophische] Kunst. Es ist pragmatische Dialektik.«25 Schlegel ersetzt den Kantischen abstrakten Begriff der Kritik durch seinen der universal-philosophischen Kunst des Verstehens und setzt sich ferner für eine Historisierung des Transzendentalen ein und stellt sein Konzept der dialogischen Dialektik der Kantischen Auffassung der Dialektik als Logik des Scheins entgegen. Schlegels Konzept einer philosophischen ›Totalisazion von unten herauf‹ im Sinne einer ›antithetischen Synthesis‹, respektive einer ›Vollendung bis Ironie‹ wurde in der Woldemar-Rezension als eine Philosophie des ›logischen Enthusiasmus‹ charakterisiert, die more socratico die bestehenden Ansichten und Definitionen auf ihre Wahrheit prüft, während am Ende der Vorlesungen über die Transzendentalphilosophie festgestellt wird, daß die dialektische Philosophie wiederum werden soll, was sie seit ihren Anfängen war: »die Methode der Philosophie soll sokratisch seyn.« Die Philosophie könne sich zu ihrer Blüte nicht entfalten, bevor »die Kunst, ein wissenschaftliches Gespräch zu führen, wieder erfunden, und in die größte Tätigkeit versetzt wird«.26. Das nachgelassene Fragment 25
KFSA 18, 117, Nr. 1063. Eine ausführliche Explikation dieses Fragments findet man im Aufsatz von Andreas Arndt: ›Pragmatische Dialektik‹. Frühromantische Hermeneutik und Selbstreflexion der Moderne, in: Toleranz, Pluralismus, Lebenswelt. Hrsg. v. Erwin Hufnagel u. Verf. Berlin 2004, 51–68. 26 KFSA 12, 103. Platons Schriften sind für Schlegel paradigmatisch, weil eine Philosophie kompakt und konsistent sein kann, ohne ein geschlossenes System zu bilden: »Plato hatte nur eine Philosophie, aber kein System; und wie die Philosophie selbst mehr ein Streben nach Wissenschaft, als eine vollendete Wissenschaft ist, findet sich dieses auch bei ihm in einem vorzüglichen Grade. Er ist nie mit seinem Denken fertig geworden, immer beschäftigt, seine Ansichten zu berichtigen, zu ergänzen, zu vervollkommnen, und in diesem immer weiter strebenden Gang seines Geistes nach vollendetem Wissen und Erkennen, diesem ewigen Werden, Entwickeln und Bilden seiner Ideen, das er in Gesprächen künstlich darzustellen suchte, muß das Charakteristische
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aus dem Jahr 1796, in welchem die Dialektik zum ersten Mal in der postkantischen Philosophie positiv gewürdigt wurde, ist nicht nur eine Bestätigung der Schlegelschen eindeutigen Distanzierung von dem reduktionistischen Monismus der idealistischen Tendenz, sondern auch ein Zeichen des neuen philosophischen Neuansatzes der Dialektikkonzeption, die über den Deutschen Idealismus hinaus ihre Relevanz bewahren wird: »Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (So bey Plato Gorgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.«27 Die Dialektik als historisch-kritisches symphilosophierendes Erkunden der Tradition bedeutet auch eine sukzessive Dekonstruktion der irrtümlichen, unhaltbaren Ansichten, die zwecks der Konstituierung der Wahrheit unternommen wird. Wie dementsprechend die erfolgreichen Widerlegungen der falschen Meinungen stattfinden mögen/können, wird nach Schlegels Ansicht im Dialog Gorgias am deutlichsten gezeigt, wo die Suche nach der Wahrheit in korrigierenden, dialogischen Gedankengängen nachvollzogen wird, bis die Gesprächspartner zur Übereinstimmung (homologia) gelangen.28 Ob eine Aussage falsch oder wahr, fallibel oder widerlegungsresistent ist, läßt sich durch die beständige Prüfung ihrer Richtigkeit im Rahmen der Kohärenz nachweisen. Auf die im Deutschen Idealismus oft diskutierte Frage, womit in der Philosophie der Anfang gemacht werden kann, gibt Schlegel in der Lessing-Einleitung eine eindeutige Antwort im Sinne der in der WodemarRezension mitgeteilten Ansicht, nämlich mit einem Wechselerweis anzusetzen: »Ein Widerspruch gegen ein geltendes Vorurtheil, oder was irgend sonst die angebohrne Trägheit recht kräftig wecken kann, macht den Anfang; denn geht der Faden des Denkens in stetiger Verknüpfung unmerklich fort, bis der überraschte Zuschauer, nachdem jener Faden mit einemmale abreißt, oder sich in sich selbst auflöste, plötzlich vor einem Ziele sich findet, das er gar nicht erwartet hatte; vor sich eine gränzenlose weite seiner Philosophie gesucht werden, wenn man nicht in Gefahr gerathen will, ihren Geist ganz zu verkennen, und auf dem Wege einer irrigen Untersuchung zu ganz schiefen und falschen Resultaten zu gelangen.« Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 103. 27 A. a. O., 60. 28 Vgl. Gorg. 486 e5. Gorgias gehört zu der Gruppe der sogenannten Übergangsdialogen, in denen die elenchistische Methode des Widerlegens durch die der kritischen Konstituierung der Wahrheit ersetzt wird.
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Aussicht, und sieht er zurück auf die zurückgelegte Bahn, auf die deutlich vor ihm liegende Windung des Gesprächs, so wird er inne, daß es nur ein Bruchstück war aus einer unendlichen Laufbahn.«29 Der Sinn des Philosophierens besteht folglich in der symphilosophierenden Prüfung und der kritischen Integration der bestehenden Gedankenentwürfe in eine organische Ganzheit, was der progressiven Idee der romantischen Synthese entspricht, nämlich aus einer Vielzahl der kongruierenden Fragmente ein organisches Gefüge zu bilden: »Meine Philosophie ist ein System von Fragmenten und eine Progression von Projekten«,30 »Ich bin ein fragmentarischer Systematiker und romantischer Philosoph und systematischer Kritiker«.31 Im eindeutigen Unterschied zu Kant, der fest überzeugt blieb, daß der Philosoph seine Erkenntnisse nicht aus der Geschichte, sondern lediglich aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen vermag, und im Gegensatz zu Fichte, der behauptete, er wolle »lieber Erbsen zählen, als Geschichte studieren«,32 versucht Schlegel mit seinem Plädoyer für die Historisierung des Transzendentalen plausibel zu machen, daß jede nach der Einheit des Wissens fragende Wissenschaft nicht auf die Faktizität des Geschichtlichen und Vorfindlichen verzichten kann. Demzufolge bietet er anstelle des deduktiven Herabsteigens von abstrakten Prinzipien ein hermeneutisches Verfahren der progressiven ›Totalisazion von unten herauf‹, die der Hegelschen Konzeption der integrativen Wissenschaft entspricht und nach dem Motto ›das Wahre ist das Ganze‹ verfährt, ohne sich dabei durch die Idee des absoluten Wissens sich verzaubern zu lassen. Daß Schlegel in seinem Projekt ›Totalisazion von unten herauf‹ die ironische Offenheit, die im Sinne des Athenaeum-Fragments Nr. 53 zwischen dem System und Systemlosigkeit oszilliert,33 beibehalten möchte, ist aus einer nachgelassenen Frühnotiz ersichtlich, wonach die primäre Verpflichtung der Philosophen in der integrativen Tätigkeit des Denkens besteht: »Ein f[philosophisches] System hat mehr Aehnlichkeit mit einem p[poetischen] und Hist[orischen] System, als mit einem mathematischen, was man immer ausschließend für systematisch hielt.«34 Vor allem im Bereich der Erfahrung und Beurteilung der vorzüglichen Kunstwerke 29
Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 149. KFSA 18, 100, Nr. 857. 31 A. a. O., 97, Nr. 815. 32 Brief an Christian Gottfried Körner, 21. 9. 1796, in: KFSA 23, 333. 33 Vgl. KFSA 2, 173: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. ER wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.« 34 KFSA 18, 84, Fr. 650. 30
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bleibt der historische Zusammenhang unentbehrlich und jede Kunstphilosophie ist nach Schlegels Ansicht »das philosophische Resultat der Geschichte der Aesthetik.«35 Die Kernfrage nach der Bedingung der Möglichkeit des Verstehens läßt sich nach Schlegels Überzeugung nur in einer philosophischen Kritik aufarbeiten, die nach dem Grundsatz verfährt, daß das »Classische kritisirt« und »das Transcendentale aber historisirt« werden soll,36 wodurch auch die Grundfragen der praktischen Philosophie aus dem Bereich von Moral, Politik, Recht und Kultur, sowie ihre Thematisierung unter den historischen Bedingungen und hinsichtlich ihres Bezuges zur Praxis und wirklichem Leben einbezogen werden. Diese gedanklichen Ideen werden noch in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen von 1811 beibehalten: »Es sind vorzüglich drei Gegenstände, welche den Geist gebildeter Menschen an sich ziehen, […] die Philosophie des Lebens, der Genuß der schönen Künste und das Studium der Geschichte.«37 Aus der Idee der ›Totalisazion von unten herauf‹ hat Schlegel ein umfassendes enzyklopädisches Projekt der synthetisierenden Wissenschaften zu entfalten beabsichtigt, wobei zu beachten ist, daß sein Systematisierungspostulat im Widerspruch zu seiner Idee der Progression bzw. der Potenzierung steht: »Dieser Mittelpunct ist der Organismus aller Künste und Wissenschaften, das Gesetz und die Geschichte dieses Organismus. Diese Bildungslehre, diese Physik der Fantasie und der Kunst dürfte wohl eine eigne Wissenschaft sein, ich möchte sie Encyklopädie nennen.«38 In der Reihe der veröffentlichten Vorlesungen zu verschiedenen Gebieten der Geisteswissenschaften hat Schlegel dieses enzyklopädisches Projekt jedoch nur fragmentarisch verwirklicht.
35 36 37 38
KFSA 23, 188. KFSA 18, 92, Nr. 756. KFSA 7, 127. Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, 137.
Ulrich Barth Wissen – System – Gefühl. Die subjektivitätstheoretischen Grundlagen von Schleiermachers Erkenntnistheorie Es mag überraschen, auf einem Fachkongreß zum Thema Systembegriff im Deutschen Idealismus auch dem Namen Schleiermacher zu begegnen, gilt dieser Zeitgenosse Fichtes, Schellings und Hegels heute doch vorwiegend als Repräsentant der Theologie. Innerhalb der Philosophie blieben – von anderen Reminiszenzen abgesehen – vor allem seine berühmten Bestimmungen des Religionsbegriffs im Gedächtnis, sei es als ›Anschauung und Gefühl des Universums‹ oder ›Sinn und Geschmack fürs Unendliche‹ (Reden über die Religion, 1799), sei es als ›Unmittelbares Selbstbewußtsein‹ oder ›Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl‹ (Glaubenslehre, 21830/31). Hinter einem engagierten Gefühlstheoretiker wird man kaum einen Systemdenker vermuten. An der Genese jenes Eindrucks ist seine theologische Überhöhung zum ›Kirchenvater des 19. Jahrhunderts‹ sicherlich nicht unbeteiligt, obgleich diese Formel ursprünglich in eine entgegengesetzte Richtung zielte. Sie wollte zum Ausdruck bringen, daß kaum jemand das Bild des modernen Protestantismus so prägnant umrissen hat wie er, in dessen Biographie und Werkgeschichte sich Einflüsse von Pietismus, Aufklärung und Frühromantik auf produktive Weise verbanden. Die systematische Weite und Tiefe seiner neuen Christentumskonzeption war darüber hinaus das Resultat eines schon früh gefallenen Entschlusses, deren Grundlegung nicht allein der Theologie aufzubürden, sondern dafür zugleich sämtliche Theoriepotentiale der Philosophie auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang ist auch die kontinuierliche, wenngleich vielfach zwischen den Zeilen geführte Auseinandersetzung mit den idealistischen Zeitgenossen zu sehen. Bereits den Studenten, Examinierten, Hauslehrer und Hilfspfarrer finden wir überwiegend mit philosophischen Studien befaßt, insbesondere zu Kant, Platon, Aristoteles und Spinoza. Theologische Materien tauchen so gut wie gar nicht auf. Auf der ersten Professur in Halle halten sich theologische und philosophische Vorlesungen in etwa die Waage. Die Berufung nach Berlin bedeutete diesbezüglich keinen Bruch. Die Möglichkeit für solches Doppelwirken boten dortige institutionelle Besonderheiten. Als Gründungsdekan und Professor der Theologischen Fakultät oblagen Schleiermacher ausschließlich die theologischen Fächer. Als Mit-
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glied der königlichen Akademie hingegen war er satzungsmäßig befugt, auch philosophische Vorlesungen zu halten. Er nutzte diesen Spielraum reichlich. Nahezu alle Teildisziplinen wurden von ihm abgedeckt: Dialektik, Ethik, Hermeneutik, Psychologie, Ästhetik, Pädagogik, Politik und Geschichte der Philosophie. Jedes Kolleg wurde mehrfach wiederholt, über zwei Jahrzehnte hindurch in unterschiedlichen Abständen. Keine dieser Vorlesungen wurde allerdings von ihm selbst zum Druck befördert. Erst Freunde und Schüler haben sie aus hinterlassenen Manuskripten und studentischen Nachschriften kompilatorisch zu Büchern gemacht und den Sämmtlichen Werken als eigene Sparte eingefügt. Die kritische Neuedition dieser – aus heutiger Sicht ganz unzulänglichen – Ausgaben ist vielversprechend begonnen, aber längst nicht abgeschlossen. Einen authentischeren, wenngleich wesentlich unvollständigeren Einblick in Schleiermachers Philosophie bieten die von ihm gehaltenen und publizierten Akademievorträge zu einzelnen Grundbegriffen und Themenbereichen. Die Quellenlage insgesamt ist einer der Hauptgründe dafür, daß Schleiermachers Philosophie nach wie vor eine Sache weniger Spezialisten darstellt.1 Unter den genannten Vorlesungen ragen – abgesehen von der inhaltlichen Relevanz jedes einzelnen Kollegs – zwei Disziplinen in systematischer Hinsicht hervor. Die eine ist die ›Philosophische Ethik‹.2 Sie enthält die materiale Systemgrundlegung und bildet damit zugleich den Rahmen aller übrigen philosophischen Fachdisziplinen. In Form einer handlungstheoretisch/vernunfttheoretisch angelegten ›Güterlehre‹ entwirft sie ein deskriptives System der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, das dem konkreten empirischen Wissen als spekulatives Begriffsnetz dient. Man hat sie zu Recht als Schleiermachers Kulturphilosophie bezeichnet. Sie gibt auch den Bezugspunkt ab für die ethischen Themenkreise im engeren Sinne, also ›Tugendlehre‹ und ›Pflichtenlehre‹. Die andere Leitdisziplin ist die ›Dialektik‹.3 Sie geht insofern der ›Ethik‹ noch voraus, als sie die Möglichkeit von Wissen überhaupt zum Inhalt hat. Als formale Grundlagendisziplin widmet sie sich im wesentlichen 1
Vgl. Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. München 2001, 75–97; Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 2001, 281–337. 2 Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bände. ND d. 3. Aufl. Münster 1984, hier: Band 4, 550–559; Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems. Berlin 1964, 36–50. 3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik. 2 Teilbände.
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den Fragen, die in der Tradition unter den Stichworten Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie verhandelt wurden. Sie ist als Letztbegründungsdenken angelegt und versteht sich darin als Variante und Alternative jenes Wegs, der von Kant über Fichte zum mittleren Schelling führte. Dies gelangt bereits terminologisch zum Ausdruck, indem ihr gesamter erster Hauptteil,4 die erkenntnistheoretische und metaphysische Erörterung, als die »transzendentale« Seite der Aufgabe bezeichnet wird (A I, 89 = J 37 f.).5 Vor allem hier werden die Bedingungen aufgewiesen, die die Begriffe Wissen und Gefühl systematisch miteinander verzahnen, so daß transzendentale Letztbegründung und philosophische Subjektstheorie als Teilsaspekte eines in sich einigen Begründungsgangs erscheinen.6 Ich werde im folgenden so vorgehen, daß ich in sieben sukzessiv angelegten Gedankenschritten die wichtigsten Stationen jenes Begründungsgangs zu erläutern suche.7
1. Das Theorieprogramm der ›Dialektik‹ Schleiermacher hat sein Verständnis von Transzendentalphilosophie – wie gerade erwähnt – vor allem im ersten Teil der Dialektik entfaltet. Aber auch deren Gesamtfunktion findet Eingang in seinen Begriff des Transzendentalen. Darum ist vorab das Theorieprogramm der ›Dialektik‹ insgesamt als systematischer Rahmen in Erinnerung zu rufen. Mindestens vier Ebenen lassen sich unterscheiden. Hrsg. v. Andreas Arndt, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Band 10/1–2 (2002). Im folgenden zitiert als »A I/II«, mit Angabe der Seitenzahl. Die Kritische Gesamtausgabe wird im folgenden als »KGA« mit Angabe der Seitenzahl zitiert; ders.; Dialektik. Hrsg. v. Ludwig Jonas, in: Sämmtliche Werke, Abt. III, Band 4/2, Berlin 1839. Im folgenden als »J«, mit Angabe der Seitenzahl zitiert. – Die von Rudolf Odebrecht veranstaltete Ausgabe (Leipzig 1942) genügt nicht mehr den heute üblichen Maßstäben textkritischer Edition; sie ist allenfalls noch ihres Begriffsregisters wegen von Interesse. 4 Vgl. Manuskript 1814/15 §§ 86–229 (A I, 90–154 = J 39–172). 5 Zu Kants transzendentalem Ansatz vgl. v. Verf.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 195–234 (Objektbewußtsein und Selbstbewußtsein. Kants erkenntnistheoretischer Zugang zum Ich-Gedanken). 6 Vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004, 433–530; ders.: Philosophie als Kunst. Das Theorieprogramm von Schleiermachers Dialektik, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Hrsg. v. Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener u. Arnulf von Scheliha. Frankfurt a. M. 2005, 113–130. Im folgenden zitiert als »Protestantismus«, mit Angabe der Seitenzahl. 7 Zu den neueren monographischen Behandlungen der ›Dialektik‹ vgl. meine Sam-
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1) Die ›Dialektik‹ ist Wissenschaftstheorie. Obwohl sich in ihr das Denken selber zum Thema macht, ist doch das Denken des Denkens nicht ihr eigentlicher Zweck. Vielmehr dient jene Selbstaufklärung in erster Linie der Begründung des positiven Wissens im Bereich der Fachwissenschaften, wobei allerdings die geisteswissenschaftlichen Disziplinen der sogenannten Realphilosophie im Vordergrund stehen. Mit dieser Zielbestimmung einer Verwissenschaftlichung des realen Wissens befindet sich Schleiermacher in der Tradition des Philosophiebegriffs der Hallischen Schule.8 2) Die ›Dialektik‹ ist Kunstlehre. Diese Bestimmung soll zum einen das Gewicht der Methodologie innerhalb der Philosophie erhöhen. Die Hypertrophierung philosophischer Systembildungen in der Neuzeit, insbesondere in der eigenen Gegenwart, ist für Schleiermacher vor allem das Resultat des Auseinanderfallens von Metaphysik und Logik.9 Beide gilt es wieder stärker miteinander zu verschränken, was am ehesten durch eine philosophische Methodenlehre geleistet werden kann. Zum andern soll jene Bestimmung einem elitären Philosophieideal entgegentreten, welches die Trennung von gemeinem Bewußtsein und höherem Standpunkt zur Voraussetzung wahrer Spekulation erhebt. Dabei hat Schleiermacher insbesondere den frühen Fichte und dessen System der intellektuellen Anschauung vor Augen.10 Sein eigener Begriff einer Kunstlehre des Denkens ist demgegenüber von der Annahme geleitet, daß sowohl das alltägliche wie das empirisch-szientifische Bewußtsein durch ein ursprüngli-
melrezension: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Theologische Rundschau 66 (2001), 408–461; hier: 446–448. Außerdem sind zu nennen: Christian Seysen: Studien zu Schleiermachers Dialektik, Diss. Theol., Jena 2002; Wilhelm Gräb: Religion als Praxis der Lebensdeutung. Zu Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, Religion und Lebensdeutung, in: Protestantismus, 147– 161. 8 So urteilt Christian Wolff über seine Neukonzeption der Metaphysik: »Ich habe mir angelegen seyn lassen die Philosophie so einzurichten, daß man sie in höheren Facultäten und im menschlichen Leben gebrauchen kan.« »Ich erinnere also auch hier einmahl für allemahl, daß meine Philosophie ganz pragmatisch ist, das ist, dergestalt in allem eingerichtet, daß sie sowohl in Wissenschafften und den sogennanten höheren Facultäten, als auch im menschlichen Leben, sich gebrauchen lässet« (Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil . Frankfurt a. M. 41740, Vorrede zur 1. Auflage (1724) und § 35. 9 Vgl. Manuskript 1814/15, §§ 21. 22. 51a. (A I, 77. 82 = J 10. 21). 10 Vgl. Manuskript 1814/15, §§ 57–62. 69 (A I, 83–86 = J 24–27. 30).
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ches Wissenwollen motiviert sind11 und bei dessen Realisation immer schon mehr oder weniger kunstmäßig verfahren. Die Philosophie hat darum lediglich die Aufgabe, jene vorreflektierte Wissenpraxis auf den Begriff zu bringen, daraus Regeln zu entwickeln und ihr so zu einem sicheren Gang zu verhelfen. 3) Die ›Dialektik‹ ist Erkenntnistheorie. Alle formale Methodologie würde nach Schleiermacher gleichsam in der Luft hängen, wenn ihre Denkregeln nicht rückbezogen und gestützt wären auf die epistemische Grundstruktur des realen Wissens. Diese wird weitgehend im Anschluß an Kants Zweistämmelehre entfaltet: Wissen erzeugt sich in der Duplizität und Kooperation von intellektueller und organischer Funktion. Durch letztere treten wir in Kontakt mit der äußeren Realität in Form von Organeindrücken und sinnlichen Bildern, ersterer obliegt deren Überführung in gedankliche Bestimmtheit. Beide Funktionen werden von Schleiermacher allerdings in einem weiteren Sinne genommen als die analogen Begriffe bei Kant. 4) Die ›Dialektik‹ ist Kommunikationswissenschaft. Wissen bildet sich immer in konkreten Wahrnehmungssituationen aus und ist gebunden an die historisch gewachsene Sprachgemeinschaft, worin sich das jeweilige Denken artikuliert. Zugleich wohnt dem Wissen aber eine intersubjektive Geltungsintention inne, die zu jener doppelten Kontingenz gleichsam quersteht. Darum bedarf es dialogischer Prozesse, um jenen Allgemeinheitsanspruch einzulösen. Hierfür wiederum sind Regeln erforderlich, wenn der Kommunikationsvorgang in geordneten Bahnen und mit Aussicht auf Erfolg verlaufen soll. Zur Idee einer solchen Kunstlehre der Gesprächsführung wurde Schleiermacher bekanntlich durch Platons Dialogdenken inspiriert, das für ihn schon seit der Arbeitsgemeinschaft mit Friedrich Schlegel12 eine Art Gegengewicht zum Einfluß frühidealistischen Systemdenkens bildete. Das besagt, daß es für Schleiermacher neben jenen anderen Funktionen auch zur Aufgabe der Philosophie gehört, eine Theorie humaner Verständigungspraxis zu entfalten. 11
Schleiermachers Begriff des Wissenwollens ist die kritizistische Umformung des ästhetischen Angezogenseins seitens der Ideen im Sinne von Platons Symposion. 12 Vgl. Andreas Arndt: Historische Einführung, KGA II. 10/1, VII–LVII; ders.: Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums. Hrsg. v. Günter Meckenstock. Berlin/New York 1991, 313–333; ders.: Gefühl und Reflexion. Schleiermachers Stellung zur Transzendentalphilosophie im Kontext der zeitgenössischen Kritik an Kant und Fichte, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1797–1807). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1993, 105–126.
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Die angegebenen vier Momente bieten natürlich keine erschöpfende Beschreibung von Schleiermachers Auffassung der ›Dialektik‹. Insbesondere wäre es erforderlich, deren Zusammenhang untereinander zu erläutern – was hier freilich nicht geleistet werden kann. Immerhin ermöglichen sie es, Schleiermachers Verständnis von Transzendentalphilosophie näher einzugrenzen. Den Einstieg liefert das vierte Moment. Wie schon die Programmformel einer Kunstlehre der Gesprächsführung erkennen läßt, geht Schleiermacher davon aus, daß das gegenseitige Einvernehmen der Dialogpartner keineswegs die vorherrschende Situation alltäglicher oder wissenschaftlicher Kommunikation darstellt. Analog zur Situation der ›Hermeneutik‹, daß das Nichtverstehen den Ausgangspunkt aller Interpretationsbemühungen bildet, muß vielmehr auch die ›Dialektik‹ dem Umstand Rechnung tragen, daß im Normalfall die Dinge zunächst strittig sind. Diesen Zustand des Dissenses auf methodisch kontrollierte Weise zu überwinden, ist gerade das Ziel der von ihr aufzustellenden Verständigungsregeln. Denn Strittigkeit und Wissen im vollen Sinne des Wortes schließen einander aus. Dies ist die konsenstheoretische Präsupposition möglichen Wissens. Schleiermacher weist nun darauf hin, daß Kontroversen über die Verfaßtheit der Dinge ihrerseits nicht möglich wären, wenn die beteiligten Diskurspartner nicht für sich in Anspruch nähmen und sich wechselseitig unterstellten, mit ein und derselben Realität befaßt zu sein. Denn sonst könnte man noch nicht einmal sinnvoll miteinander streiten, sondern würde nur schlicht aneinander vorbeireden. Und für das erstrebte Einvernehmen gilt Ähnliches, nun allerdings im erfüllten Sinne. Das aber besagt: Die gemeinsame Bezogenheit auf Sein bildet die notwendige Bedingung intersubjektiver sprachlicher Weltauslegung. Dies ist die zweite Prämisse kognitiver Streit- und Verständigungsprozesse, die adäquationstheoretische Präsupposition möglichen Wissens. Bei der genaueren Analyse solcher Kommunikationssituationen zeigt sich allerdings, daß im Regelfall gar nicht jener Seinsbezug als ganzer infrage steht, sondern nur einzelne Ausschnitte desselben und deren alternative Näherbestimmung. Es sind unterschiedliche Referenzparadigmen und Begriffsapparate, die zu kontroversen Einschätzungen führen. Schleiermacher ist der Meinung, daß dieser Aspekt kognitiven Strittigseins letztlich nur dann überwunden werden kann, wenn sich alle potentiellen Diskurspartner auf ein virtuelles Ganzes sprachlicher Weltauslegung verpflichten, worin gleichsam alle möglichen Erfahrungsdaten zur Geltung gelangen und alle Prädikatensysteme und Aussagengefüge miteinander vernetzt sind. Diese Idee einer Totalität von Erkenntnis ist die dritte, die kohärenztheoretische
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Präsupposition möglichen Wissens. Stellt man die beiden letztgenannten Prämissen in Rechnung, die adäquationstheoretische und die kohärenztheoretische, dann wird erkennbar, daß das Gelingen kognitiver Verständigungsbemühungen an höchst vorraussetzungsreiche Strukturanforderungen im Wissensbegriff geknüpft ist. Konsensbildung im Bereich sprachlicher Weltauslegung ist weit mehr als die pragmatische Anerkennung gemeinsamer Konventionen und Prima-facie-Evidenzen, jedenfalls dann, wenn jene nicht auf kollektive Akzeptanzerlebnisse reduziert wird. Bezieht man das gerade Ausgeführte zurück auf die große Tradition des erkenntnistheoretischen Wahrheitsbegriffs,13 dann zeigt sich, daß deren Hauptfragen alle auch bei Schleiermacher vorkommen, das Kohärenz-, das Konsens- und das Adäquationsproblem. Sie gehören im Sinne der ›Dialektik‹ ins Zentrum einer Theorie sprachlicher Weltauslegung. Zugleich ist Schleiermacher aber der Meinung, daß jene drei Probleme sich im Rahmen einer Wahrheitstheorie letztlich nicht klären lassen, sondern nur im Horizont einer Theorie des Wissens. Selbst der durch die Unterscheidung von Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriteriologie eröffnete Spielraum erscheint ihm noch als zu eng, um der Fülle der tatsächlich anstehenden Vernetzungsoperationen methodisch Rechnung tragen zu können. Deshalb wird die Kohärenz-, Konsens- und Adäquationsproblematik von der ›Dialektik‹ nicht wahrheitstheoretisch, sondern wissenstheoretisch abgearbeitet. Schleiermacher war sich mit Hegel darin einig, daß die für Verifikationsfragen jeglicher Art erforderlichen Vermittlungsschritte so komplex sind, daß sie nur in einem holistischen Wissensbegriff miteinander abgeglichen werden können. Anders als Hegel beharrte er bezüglich der Aufbaumomente eines solchen Gesamtmodells von Wissen indes auf der von Kant eingeführten Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien, die er allerdings in eigenständiger Weise zur Geltung bringt. Der vollendete Konsens und das vollendete System bleiben für ihn immer Abschlußideen oder theoretische Zielbegriffe.14 Doch wie wird die Konstitutions13
Vgl. Roderich Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege. Tübingen 2004. Im folgenden zitiert als »Barth, Absolute Wahrheit«, mit Angabe der Seitenzahl. 14 Die Bildung einer uneingeschränkten Sprechergemeinschaft und eines realen Wissensganzen scheitert nach Schleiermacher nicht zuletzt an der irrationalen Wechselbeziehung der verschiedenen Sprachen, von denen jene ihren Ausgang nehmen und aus denen sie sich auch durch die gemeinschaftliche Konstruktion einer univer-
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problematik innerhalb des Aufbaus von Wissen reformuliert und einer Lösung zugeführt?
2. Der Ansatz des transzendentalen Gedankens Den Ausgangspunkt bildet die Überlegung, daß auch ein konstruktivistisch angelegtes Wissensmodell Prämissen impliziert, die jedweder Konstruktion vorausliegen. Damit ist mehr gemeint als dessen Angewiesenheit auf kontingente Wahrnehmungsprozesse oder die Kontingenz des Gelingens oder Mißlingens intersubjektiver Verständigungsprozesse. Die nichtkonstruierbare Prämisse, auf die es Schleiermacher hier ankommt, betrifft vielmehr das bereits angesprochene Adäquationsproblem, bezogen auf die Möglichkeit von Wissen überhaupt. Wir hatten im Zusammenhang der Erörterung der strukturellen Implikationen von Strittigkeit und Einverständnis gesehen, daß die gemeinsame Bezogenheit auf Sein eine notwendige Bedingung sprachlicher Weltauslegung bildet. Das transzendentale Problem, das sich einer Theorie des Wissens stellt, erblickt Schleiermacher darin, daß alles Denken, sofern es einem wirklichen Wissenwollen entspringt, zugleich die Möglichkeit seiner eigenen Erfüllung impliziert bzw. umgekehrt die Erschlossenheit der Welt für die eigene Symbolisierungstätigkeit voraussetzt. Schleiermachers gesamte Überlegungen zum Begriff des Transzendentalen kreisen um die aller Konstruktion vorausliegende Ermöglichungsbedingung jener Korrespondenzrelation zwischen sprachlichem Denken und realer Welt. Dieser generelle Sachverhalt wird auch im Wissensprozeß selber konkret. Schleiermacher verdeutlicht es an zwei Beispielen. Das erste betrifft die logisch-grammatische Seite des Wissens. Alle deskriptiven Formelemente der Sprache – im Vordergrund stehen für ihn Begriff und Urteil – verleihen der von ihnen bezeichneten Realität je auf ihre Weise Bestimmtheit. Das besagt: Sie führen schon als bloße Denkformen ihre eigene Ontologie mit sich. Der Erfolg der Wissensproduktion hängt davon ab, daß die mit ihrer Hilfe unternommenen Beschreibungen sich letztlich als unterschiedliche Aspekte ein und desselben Seins erweisen. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die beiden elementaren Erkenntnisoperationen. Durch die intellektuelle Funktion wird das Sein gedanklich vorgestellt, durch die organische Funktion hingegen auf bildsalen Kunstsprache nie vollständig lösen können; vgl. Manuskript 1814/15, § 125 (A I, 98 = J 68 f.).
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liche Weise. Auch hierbei ist durchgängig vorausgesetzt, erstens, daß Bild und Begriff überhaupt ein Sein repräsentieren, und zweitens, daß sie, wenn sie zur Konvergenz gelangen, ein und dasselbe Sein repräsentieren.15 Schleiermachers Einstieg in das transzendentale Problem läßt sich somit in der These zusammenfassen, daß die vom Denken intendierte und im Wissen realisierte Entsprechung von Begriff und Gegenstand sich einer »ursprünglichen Identität von beiden« (A I, 105 = J 87) verdankt. Diese nichtkonstruierbare »Voraussezung« (ebd.) aller gedanklichen Konstruktion von Wirklichkeit bezeichnet Schleiermacher als den transzendentalen und zugleich transzendenten Grund des Wissens. Dieser letzte Grund wird transzendental genannt, weil er eine apriorische Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt darstellt. Er wird zugleich als transzendent charakterisiert, sofern er nur als Grenzbegriff gedacht werden kann.16 Er ist im strengen Sinne kein Seiendes mehr, weil er dann den Begriff seiner selbst noch außer sich hätte. Umgekehrt steht er als Grenzbegriff auch oberhalb eines höchsten Begriffs im Sinne des letzten Exponenten einer Begriffsreihe, weil er dann noch ein externes Seinskorrelat besäße. Darum faßt ihn Schleiermacher als letzten Einheitsgedanken, nämlich als die »Idee« dessen, worin »der Gegensaz von Gedanke und Gegenstand aufgehoben ist« (A I, 105 = J 86). Die Möglichkeit von Wissen verdankt sich einer »rein transzendentalen Identität des idealen und realen« (A I, 142 = J 150).17 Den begriffsgeschichtlichen Hintergrund dieser Einheits- oder Identitätsformel bilden offensichtlich Platons Epekeina-Gedanke und Schellings Indifferenz-Gedanke.18 Der Sache nach handelt es sich um den philosophischen Begriff des Absoluten. Mit dem Postulat eines transzendenten Grundes als Erfüllungs15
Vgl. Manuskript 1814/15, § 129 (A I, 99 = J 74). Zu Schleiermachers Gleichsetzung von »transcendental« und »transcendent« vgl. A II, 731. 17 Unter dem Begriff des Realen versteht Schleiermacher die »Gesamtheit des auf das Denken beziehbaren Seins«, unter dem Begriff des Idealen »die Gesamtheit des auf das Sein beziehbaren Denkens« (A I, 294 = J 461). 18 Vgl. Schleiermachers Anspielung auf Platons Sonnengleichnis in den Notizen zur Dialektik 1811 (A I, 8). Zu dieser Stelle vgl. v. Verf.: Gott – die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher, in: Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Hrsg. v. Joachim Ringleben. Berlin/New York 1991, 98–157; hier: 130 f. Im folgenden zitiert als »Verf., Gott – die Wahrheit?«, mit Angabe der Seitenzahl – Was das Verhältnis zu Schelling anbelangt, so knüpfen fast alle ›Dialektik‹-Entwürfe mehr oder weniger an dessen Identitätssystem an. Dies gilt nicht nur für den Begriff einer ursprünglichen Identität, sondern auch für die Unterscheidung von ideellem und reellem Sein; vgl. dazu auch Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909. 16
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bedingung von Wissen erweitert sich Schleiermachers transzendentale Argumentation zum philosophischen Letztbegründungsdenken. Die methodischen Grenzen eines logisch-regressiven Verfahrens bleiben dabei stets gewahrt. Darin dürfte der gravierendste Unterschied zum mittleren Schelling bestehen.19 »Die Gottheit ist eben so gewiß unbegreiflich als ihre Erkentniß die Basis aller Erkentniß ist« – in dieser paradoxen These20 fassen die frühesten Aufzeichnungen zur ›Dialektik‹ deren Letztbegründungsprogramm zusammen. Das Absolute muß zugleich als Grund und Grenze des Wissens gedacht werden. Die ›Dialektik‹ entfaltet keine deduktive Metaphysik des Absoluten, sondern eine reduktive Theorie der Transzendenzbeziehung des menschlichen Geistes. Sucht man nach einem unmittelbaren Vorbild für Schleiermachers Art der Problemexposition, so wird man – obwohl der Name selbst in diesem Zusammenhang nicht fällt21 – am ehesten an Kant zu denken haben, und zwar an dessen Lehre vom höchsten Gut im zweiten Hauptteil der Kritik der praktischen Vernunft. Wie Kant um der Moralität willen einen Übereinstimmungsgaranten für die Konformität zwischen Sittengesetz und Naturordnung postuliert, so reklamiert Schleiermacher mit der Idee eines absoluten Einheitsgrunds des Wissens einen Übereinstimmungsgaranten für die Konformität von Denken und Realität bzw. von Sprache und Welt. Dieser transzendente Übereinstimmungsgarant ist für Schleiermacher im Unterschied zu Kant aber nicht nur Gehalt einer praktischen Gewißheit – und noch viel weniger ein bloßer Abschlußgedanke im Sinne der ersten Kritik–, sondern besitzt alle Merkmale eines konstitutiven Prinzips im transzendentalphilosophischen Sinne.
3. Problemverschiebungen Wir hatten gesehen, daß Schleiermacher die transzendentale Frage auf das Problem einer letzten Korrespondenzbasis22 für das Wissen zuspitzt. Man sollte erwarten, daß er im Anschluß an die Exposition dieses Be19
Dieses Urteil bedarf hinsichtlich der Manuskriptaufzeichnungen zum Kolleg von 1811 allerdings einer gewissen Einschränkung. 20 A I, 37 = J 322. – Zu dieser Stelle vgl. H.-W. Schütte: Das getröstete Denken. Zu Schleiermachers Dialektik, in: Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe, Philosoph, Pädagoge. Hrsg. v. Dietz Lange. Göttingen 1985, 72–84. Im folgenden zitiert als »Schleiermacher«, mit Angabe der Seitenzahl. 21 Vgl. aber A I, 142 = J 151; A I, 265 = J 428; A II, 561–563. 22 Vgl. A I, 44 = J 329 f.
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weiszieles dessen erkenntnistheoretische Einlösung in Angriff nimmt. Das ist aber nicht der Fall. Ursache dafür ist zunächst die Entdeckung, daß schon die begriffliche Bestimmung jenes letzten Grundes an den logischen und ontologischen Grenzen sprachlichen Denkens scheitert. Deshalb erfolgt eine völlig überraschende Veränderung der Begründungsstrategie. Sie schlägt sich in einer ganzen Reihe von Problemverschiebungen nieder.23 Mindestens drei sind hier zu nennen. 1) Die Erweiterung des transzendentalen Problems: Schleiermacher legt dar, daß die Lösung der transzendentalen Aufgabe ebenso die ethische Seite der Vernunft miteinzubeziehen hätte. Denn auch hier wird eine Übereinstimmung von Denken und Sein beansprucht, und zwar hinsichtlich des Denkens als Wollen. Mit Bezug auf unsere Volitionen stellt sich das Problem der Möglichkeit ihres Realitätsbezugs in ähnlicher Form wie beim Wissen. Schleiermacher hat drei Aspekte vor Augen. Erstens, Wollen ist kein bloßes Wünschen, sondern enthält eine ihm unveräußerliche Realisierungsabsicht. Schon auf der intentionalen Ebene verweist das praktische Bewußtsein über sich hinaus. Wenn dieser Ausgriff keine bloße Illusion sein soll, dann muß ihm, zweitens, eine Formbarkeit des äußeren Seins entsprechen, sonst bliebe jene praktische Intentionalität ohne einen ihr gemäßen Erfüllungsmodus. Solche Erfüllung besagt aber mehr als die bloße Empfänglichkeit für kausale Veränderungsimpulse, denn sie schließt, drittens, ein, daß die vorhandene Wirklichkeit die Zwecksetzungen des Wollens in sich aufzunehmen vermag. Jedes Handeln ist insoweit eine Objektivation der praktischen Vernunft. Das zur Handlung werdende Wollen setzt also wie das Wissen werdende Denken die Möglichkeit einer Einung von Ideellem und Reellem voraus. Damit ergibt sich aber zugleich eine strukturelle Komplikation im Außenbezug des Subjekts. Denn im einen Fall, in der kognitiven Einstellung, tritt das äußere Sein gewissermaßen als das Bestimmende auf und der menschliche Organismus als das Bestimmbare, im andern Fall hingegen, in der praktischen Einstellung, ist der menschliche Organismus das Bestimmende und das äußere Sein das Bestimmbare. Beides hat auch eine Auswirkung auf das Selbstverständnis der menschlichen Intelligenz. Schleiermacher folgert daraus, daß zumindest die transzendentale
23
Vgl. Manuskript 1814/15, § 214 (A I, 141 f. = J 150 f.); Manuskript 1822, §§ XLVII–L (A I, 262–265 = J 424–428); Manuskript 1828, §§ 47–49 (A I, 304 f. = J 473 f.); Manuskript 1831, §§ 46–49 (A I, 332–335 = J 520–525). Vgl. dazu auch die entsprechenden Aussagen der Vorlesungsnachschriften 1818 und 1822 (A II, 234 ff. 556 ff.).
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Bedingung der beiden gegenläufigen Übereinstimmungsrelationen im Wissen und Handeln dieselbe sein muß, weil andernfalls die Einheit des Realitätsbezugs des Subjekts verloren ginge. 2) Die Subjektivierung des transzendentalen Problems: Schleiermacher weist darauf hin, daß die im Falle des Wollens gegenüber dem Denken sich ereignende Vertauschung von bestimmender und bestimmbarer Instanz nicht nur auf den Außenbezug des menschlichen Organismus zutrifft, sondern bereits innerhalb des Trägersubjekts beider Funktionen stattfindet. Denn die kognitive Kraft des Denkens bezieht sich nicht direkt auf die äußere Realität, sondern auf die von dieser ausgehenden subjektiven Sinneseindrücke, die es zu verarbeiten gilt. Umgekehrt wirkt die präskriptive Kraft des Wollens nicht direkt auf die Welt ein, sondern in der Weise, daß eigene Körperbewegungen ausgelöst werden, die in den allgemeinen Naturzusammenhang eingreifen. Das bedeutet, daß die kognitive Funktion des Geistes der organischen Rezeptivität des Leibes angepaßt sein muß, ebenso wie die organische Wirksamkeit des Leibes der präskriptiven Funktion des Geistes. Man kann also bereits auf der subjektiven Ebene des Geist/ Leib-Verhältnisses von einer zwiefachen, in sich gegenläufigen Einung von Ideellem und Reellem sprechen. Der Ermöglichungsgrund beider inversen Entsprechungsverhältnisse kann wiederum kein verschiedener sein, weil sonst die Einheit der in beiden Vollzugsformen agierenden Person suspendiert wäre. 3) Die Innenverlagerung des transzendentalen Problems: Schleiermacher treibt die transzendentale Fragestellung noch weiter, indem er darauf hinweist, daß das entfaltete anthropologische Dilemma bereits in der Bewußtseinsstruktur des Menschen angelegt ist. Denn Denken und Wollen sind – ganz abgesehen von ihrem Außenbezug und Realisierungsmodus – auch in sich intentional gegenläufig verfaßt.24 Ihrer grundlegendsten Form nach muß die Frage darum lauten: Wodurch ist gewährleistet, daß durch den strukturellen Gegensatz von Denken und Wollen nicht die Einheit des mentalen Lebens aufgehoben wird? Die Innenverlagerung der transzendentalen Fragestellung ist offensichtlich die weitreichendste der drei genannten Problemverschiebungen. Genau sie bezeichnet nun aber auch die Stelle, an der Schleiermacher den Gefühlsbegriff einführt.
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»Allein das abbildliche Denken und das vorbildliche bleiben als unsere Thatsachen immer auseinander« (A I, 334 = J 523 f.).
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Das neue Beweisziel, das sich aus jenen Problemverschiebungen ergibt und den gesamten weiteren Fortgang der ›Dialektik‹ bestimmt, besteht in einem Doppelten. Zunächst muß gezeigt werden, daß das Gefühl tatsächlich die mentale Einheit des Subjekts sicherzustellen vermag. Schleiermacher löst diese Aufgabe in Form einer Vertiefung des traditionellen Identitätsmodells und einer damit einhergehenden Kritik des KantischFichteschen Verständnisses von Selbstbewußtsein. Sodann muß gezeigt werden, daß das Gefühl in und mit seiner mentalen Einheitsstiftung zugleich die Konstitutionsleistung des transzendenten Grundes für den Realitätsbezug von Denken und Wollen zur Geltung bringt. Die Einlösung dieses Argumentationsziels zerfällt ihrerseits in zwei Teilaufgaben. Die erste wird erfüllt, indem Schleiermacher den Nachweis zu erbringen sucht, daß das Gefühl als Einheitsvorkommnis von Bewußtsein zugleich eine Repräsentation jenes transzendenten Einheitsgrundes darstellt. Die zweite Teilaufgabe wird erfüllt, indem Schleiermacher darlegt, daß durch die Art und Weise, in der das Gefühl für das Denken und Wollen subjektsintern relevant wird, zugleich auch seine Beziehung zum Absoluten konstitutionstheoretisch wirksam wird. Die psychologische Frage mündet damit wieder ein in den Gang des Letztbegründungsdenkens. Die Funktion des Gefühls besteht sonach in einem Dreifachen: Es soll zunächst den Bezugs- und Vereinigungspunkt von Denken und Wollen bereitstellen, es soll sodann die subjektive Präsenz des Absoluten gewährleisten, und es soll mit beidem zusammen schließlich dessen transzendentale Funktion für den Aufbau des menschlichen Geistes im Ganzen sicherstellen. Die systematische Pointe der Gefühlstheorie der ›Dialektik‹ besteht in der These, daß sich das Problem der Einheit der Subjektivität und das Problem ihrer Letztbegründung nur im Verbund miteinander lösen lassen.25
25
Zur breiten Debatte um Schleiermachers Gefühlsbegriff vgl. v. Verf.: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhangs von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983, 7–50. Im folgenden zitiert als »Christentum und Selbstbewusstsein« mit Angabe der Seitenzahl. – Die meisten Forschungsbeiträge kranken allerdings daran, daß sie zwischen dem methodischen Status des Gefühlsbegriffs der Glaubenslehre und dem der Dialektik nicht zureichend differenzieren. Diesen Unterschied gilt es aber gerade dann im Auge zu behalten, wenn man die Explikationsebene der Glaubenslehre unter letztbegründungstheoretischem Aspekt für unzulänglich erachtet.
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4. Identität und Gefühl Schleiermachers Ausführungen zur Funktion des Gefühlsbegriffs setzen nicht mit ihn selbst betreffenden transzendentalen Überlegungen ein, sondern bereiten diese durch die Klärung allgemeiner subjektivitätstheoretischer Fragen vor. Insbesondere handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit dem klassischen Identitätsmodell der Aufklärungsphilosophie. Dieses Modell zeichnet sich nach Schleiermacher dadurch aus, daß es am Paradigma des Gegenstandsbewußtseins orientiert ist. Man legt eine Sequenz von Kognitionszuständen zugrunde und fragt dann nach derjenigen Größe, die als durchgängige Bezugsinstanz derselben fungieren könnte und die ihrer internen Verfaßtheit nach befähigt wäre, jene fluktuierenden Kognitionszustände zur Einheit des Bewußtseins zu bringen. Seit Descartes kommt diese Rolle dem epistemischen Selbstbewußtsein zu. Der Einwand Schleiermachers besagt nun, daß mit einem solchen Modell der Kern des Identitätsproblems und die eigentliche Schwierigkeit seiner Auflösung noch gar nicht berührt sind. Denn solange es nur um die Vereinigung epistemischer Zustände geht, vollzieht sich die Identitätsstiftung noch in einer strukturell homogenen Sphäre. Die Verbindungsinstanz, das Selbstbewußtsein, und dasjenige, was von ihr vereinigt werden soll, die wechselnden Bewußtseinszustände, bewegen sich beide in demselben Medium, nämlich im Bereich kognitiver Vorstellungen. Die Höherstufigkeit der Vereinigungsinstanz im Vergleich zu deren Material bedeutet keine prinzipielle, sondern nur eine graduelle Differenz. Ganz anders aber liegen die Dinge dort, wo nicht nur Kognitionen zur Synthese gebracht werden müssen, sondern solche mit Volitionen wechseln. Genau dies aber – so Schleiermacher – ist im realen Bewußtsein der Normalfall.26 Der Verlauf des bewußten Lebens weist nicht nur inhaltliche Brüche auf, sondern er ist auch strukturell inhomogen verfaßt. Denken und Wollen lösen unaufhörlich einander ab. Beide sind – wie bereits angedeutet – nicht strukturisomorph verfaßt. Denken als mentaler Akt ist eine nachbildende Tätigkeit, Wollen eine vorbildende. Im einen Fall befinden wir uns in einer deskriptiven Einstellung zur
26
»Des Cartes. Cogito, ergo sum. Der Sinn des Sazes ist, daß das Subject in der einen Richtung auf das Denken und also in allem Wechsel der einzelnen Denkmomente identisch sei. Das ist aber im Grunde eine ganz leere Behauptung. Denn so lange nicht eine andre Form der Thätigkeit eintritt, ist auch kein Grund, diese Momente als verschiedene zu denken, und also die Identität des Subjectes zu behaupten« (A II, 771 = J 529).
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Welt, im andern Fall in einer präskriptiven. Dementsprechend sind auch deren Erfüllungsmodi konträr verfaßt.27 Der inhomogene Gesamtverlauf des bewußten Lebens wirft somit das strukturelle Problem eines diesem Wechsel noch vorausliegenden Beziehungs-, Vermittlungs- und Einheitsgrundes auf. Welcher mentalen Instanz fällt die so verstandene Identitätsstiftung zu? Das epistemische Selbstbewußtsein cartesianischer Bauart scheidet – wie gesagt – infolge seiner strukturellen Begrenztheit aus. Aber auch der andere, im Gefolge Christian Wolffs begangene Weg, der Rückgriff auf eine allen besonderen Gemütsvermögen vorausliegende Grundkraft, bietet keine Lösung. Denn es geht ja darum, die Möglichkeit von Identität nicht etwa wesensontologisch, sondern unter den Bedingungen des zeitlichen Wechselverlaufs des Lebens, im Hinblick auf das »Leben als Reihe« (A I, 266 = J 428) verständlich zu machen. Das eigentliche Identitätsproblem lautet für Schleiermacher darum: Worin ist die Identität des mentalen Lebens eines Subjekts begründet, angesichts des für sein reales Dasein signifikanten Umschlags von Zuständen des Denkens in solche des Wollens und umgekehrt? Genau dieses Problem, nicht die herkömmliche Fassung der Identitätsthematik, hält Schleiermacher für die subjektivitätstheoretische Meisterfrage. An dieser Stelle wird nun der Begriff des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewußtseins ins Spiel gebracht. Es geht noch nicht um seine transzendentale Begründungsleistung, sondern zunächst nur um seine subjektivitätstheoretische Rolle. Die Stärke dieses Begriffs besteht für Schleiermacher darin, daß er sich sowohl erlebnismäßig wie strukturell als Gestalt von Identitätserfahrung (im genannten Sinne) explizieren läßt. Das Gefühl bildet sowohl der kognitiven wie der praktischen Welteinstellung gegenüber eine eigenständige Größe und steht auch als Selbstverhältnis noch diesseits der Differenz von kognitivem und praktischem Selbstbewußtsein. Zugleich ist es insofern auf jene beiden anderen Funk27
Schleiermacher räumt zwar ein, daß jener Wechsel von Denken und Wollen in gewisser Weise unproblematisch ist, denn der reale Lebensverlauf vollzieht sich vielfach als partielles Ineinander beider Tätigkeitsformen. Wollen ist kein blinder Trieb nach unbewußten Zielen, sondern wird auf mehreren Ebenen durch reflektierte Zweckbegriffe gedanklich gegliedert. Und umgekehrt, Denken ist kein planloses Verarbeiten von Begriffen und Sinneseindrücken, sondern wird von Fragestellungen und Erkenntnisabsichten geleitet, die den Wissensprozeß zielhaft steuern. In beiden Fällen sind somit kognitive und volitive Komponenten unterschiedlich miteinander verschränkt. Insofern handelt es sich bei jenem Wechsel auch um keinen Sprung. Aber dies ändert nichts daran, daß Denken und Wollen ihrer Bewußtseinsform nach konträr verfaßt sind. Darum bleibt das Einheitsproblem ungeachtet jener Interaktionsweisen strukturell bestehen.
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tionen bezogen, als es diejenige Bewußtseinsform verkörpert, worin sich ein Subjekt seines Zustands im Wechsel zwischen Denken und Wollen inne wird. Eben deshalb vermag es umgekehrt zwischen jenen konträren Formen mentaler Tätigkeit zu vermitteln. Das Gefühl verknüpft Denken und Wollen, indem es den Übergang zwischen ihnen stiftet. Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen: Die Bestimmung der subjektivitätstheoretischen Funktion des Gefühls steht und fällt mit der Plausibilität dieses Übergangstheorems. Letzteres beinhaltet für Schleiermacher ein Doppeltes: Das Gefühl fungiert einerseits als strukturelle Bedingung, andererseits als realer Ort des Übergangs zwischen Denken und Wollen.28 Kraft dieser doppelten Vermittlungsleistung verkörpert es die basale Identitätsbedingung bewußten Lebens. Das Übergangstheorem der ›Dialektik‹ bildet gleichsam den theoretischen Kern von Schleiermachers Neufassung des Modells personaler Identität.29 Die systematische Vertiefung gegenüber seiner herkömmlichen Fassung besteht darin, daß Schleiermacher das Problem der Möglichkeit von Identität erweitert zur Frage nach den Bedingungen der Einheit der Subjektivität.30 Schleiermachers Erläuterung des Übergangstheorems gilt zunächst dem einen Aspekt: Gefühl als Ort des Übergangs. Dies geschieht in einer doppelten Beschreibung: Die erste erfolgt in der Form einer Grenzwertanalyse, die andere trägt den Charakter einer empirisch-psychologischen Betrachtung. Was die erste anbelangt, so wird im Sinne einer Limesbildung der Umschlag zwischen beiden Tätigkeitsformen herauspräpariert. Schleiermacher bezeichnet ihn als »Nullpunkt« (A I, 266 = J 429), d. h. als Wendepunkt des Aufhörens der einen und des Beginns der anderen Tätigkeit. Da eine solche Grenzbetrachtung aber eine künstliche Abstraktion darstellt, wird ihr die psychologische Beschreibung zur Seite gestellt, die auf ein Kontinuum führt. Ihr zufolge ist jener Nullpunkt als solcher nie rein verwirklicht. Vielmehr finden in jenem Wechsel immer zugleich
28
Im Duktus der einschlägigen Textpassagen der ›Dialektik‹ treten die unterschiedlichen Argumentationsstränge allerdings zumeist in Verknüpfung auf, weshalb beide Aspekte in der Sekundärliteratur nicht immer in der gebührenden Weise auseinandergehalten wurden. 29 Auf die zentrale Stellung jenes Theorems in Schleiermachers theologisch-philosophischem Werk erstmals hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der Untersuchung von Marlin E. Miller: Der Übergang. Schleiermachers Theologie des Reiches Gottes im Zusammenhang seines Gesamtdenkens. Gütersloh 1970. 30 Zum problemgeschichtlichen Hintergrund Wolff – Crusius – Kant vgl. Dieter Henrich: Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3 (1955), 28–69.
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jene beide Tätigkeiten als mentale Zustände ihren Niederschlag, sei es als Abschattung der im Vergehen begriffenen oder als Antizipation der gerade anhebenden. Das aber besagt, daß die Einheit von Denken und Wollen im Gefühl aufgrund der internen Prozessualität des Übergangs niemals als absolute Indifferenz erlebt wird, sondern immer nur als »relative Identität, dem einen näher als dem andern« (A I, 143 = J 151). Inwiefern trifft es aber dann noch zu, das Gefühl in einem strikten Sinne als Identitätsbedingung bzw. als Einheitsbasis von Subjektivität zu bezeichnen? Diese Frage führt auf den anderen Aspekt: Gefühl als strukturelle Bedingung des Übergangs von Denken und Wollen. Lassen wir zunächst die entscheidende Passage des Vorlesungsmanuskripts von 1822 zu Wort kommen: »Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. […] Aber unser Sein ist das sezende und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl« (A I, 266 = J 429). In diesem Sinne bezeichnet die zugehörige Vorlesungsnachschrift das unmittelbare Selbstbewußtsein bzw. Gefühl als »die Form des sich-selbst-habens« (A II, 567). Jene Passage birgt indes eine ganze Reihe von Interpretationsschwierigkeiten in sich, die für das genauere Verständnis des Gefühlsbegriffs höchst folgenreich sind. Ich kann hier nur die drei wichtigsten Interpretationskonzepte aus der Sekundärliteratur diskutieren. Falk Wagner entnimmt der zitierten Stelle, daß das Gefühl hier als ein Sich-Setzen bzw. als Selbstsetzung charakterisiert würde, und betrachtet es damit als Fall der von Dieter Henrich mit Bezug auf Fichte behaupteten Reflexionsaporie des Selbstbewußtseins.31 Aber von einer reflexiven Tätigkeit ist an besagter Stelle überhaupt nicht die Rede. Schleiermacher spricht lediglich von einem Setzen bzw. davon, daß im Gefühl unser Sein als »das sezende« zutage trete. Und der Nachsatz präzisiert den Ausdruck Setzen mit der Wendung »sezend in der Indifferenz beider Formen« (A I, 266 = J 429). An der entsprechenden Stelle im Manuskript von 1831 heißt es: »Jedes abbildliche Denken ist Bewußtsein von etwas[,] jedes vorbildliche auch. Der Uebergang als solcher ist also Bewußtsein von Null« (A I, 334 = J 524). Jenes bloße Setzen, das im Gefühl zutage tritt, meint offensichtlich eine Bewußtseinsaktivität, die noch jeglicher intentionalen Hinwendung auf etwas und allen Differenzierungen dersel31
Vgl. Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation. Gütersloh 1974, 141–146.
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ben in unterschiedliche Intentionalitätsarten vorausliegt. Es handelt sich gleichsam um mentale Agilität überhaupt32 diesseits der Spezifikation in Denken und Wollen, welch letztere für Schleiermacher bereits Formen von Objektbewußtsein darstellen. Der Gefühlsbegriff der ›Dialektik‹ bezeichnet seiner Grundbedeutung nach das Zustandsbewußtsein eigener unbestimmter Bewußtseinsagilität oder – anders gesagt – das Innesein mentaler Lebendigkeit überhaupt. Die Theorien des späten 19. Jahrhunderts hätten hier von psycho-physischem Vitalitätserleben gesprochen. Auch die Vorlesungsnachschrift Erbkam zum ›Dialektik‹-Kolleg 1831 kennzeichnet jenes basale Innesein als »Bewußtsein des Lebens« (A II, 771). Gemeint ist dasselbe wie an der ersten Stelle: Im Gefühl innerer mentaler Lebendigkeit entdecken wir uns auf vorreflexive Weise als ein Selbst und bringen uns inmitten des intentionalen Wechselverlaufs unseres mundanen Bewußtseins als solches zum Ausdruck. In genau diesem Sinne bezeichnet Schleiermacher das Gefühl als die »Form des sichselbst-habens«. Ein ganz anderer Deutungsversuch findet sich in den Arbeiten von Manfred Frank.33 Er steht im Horizont von dessen eigener systematischer Problemstellung, der Frage nach dem Verhältnis von Selbstgefühl und Seinsgefühl, die ihrerseits dem Ziel dienen soll, die Erfahrung der Abhängigkeit vom Sein als ein notwendiges Moment von Selbstbewußtsein zu erweisen. Ausgehend von dieser Prämisse gelangt Frank mit Bezug auf obige Textstelle und deren – von uns erst unten diskutierten – Fortsetzung zu dem Ergebnis, daß bei Schleiermacher zwischen den Begriffen Gefühl und unmittelbarem Selbstbewußtsein strikt zu differenzieren sei, zwar nicht der mentalen Struktur nach, wohl aber im Hinblick auf deren funktionalen Aspekt. Das unmittelbare Selbstbewußtsein bestehe in der »Fähigkeit« des Sich-selbst-Habens im Übergang. Dabei entdekke es allerdings unweigerlich »seinen Mangel an Sein«.34 In der Differenz von unmittelbarem Selbstbewußtsein und Gefühl artikuliere sich somit die Einsicht, »dass Selbstbewusstsein für sein eigenes Sein nicht aufkommt, sondern vom Sein ›schlechthin abhängt‹«.35 Ich denke, auch diese Interpretation verfehlt Schleiermachers Intention. Auf das grundsätzliche Verhältnis beider Grundbegriffe kann hier nicht eingegangen
32
Vgl. A I, 13. 24. Ich greife zurück auf Franks neueste Veröffentlichung zum Thema; vgl. Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002. 34 A. a. O., 195. 35 A. a. O., 190. 33
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werden, da seine Bestimmung – wie allgemein bekannt – einen Durchgang durch Schleiermachers Gesamtwerk erforderlich machen würde. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß das gerade zitierte Manuskript der Vorlesung von 1822, auf die sich Frank vorzugsweise stützt, beide Begriffe identifiziert. Entscheidend ist vielmehr, daß die ontologische Aufladung der ganzen Passage keinerlei Anhaltspunkt im Text hat. Schleiermachers Feststellung, im »unmittelbare[n] Selbstbewußtsein = Gefühl« stelle sich »unser Sein« als »das sezende« dar (A I, 266 = J 429), zielt nicht auf irgendeine Seinsbestimmtheit des Selbst, sondern auf dessen Verfaßtheit als unbestimmte mentale Agilität. Von deren angeblichem Mangel an Sein ist dabei nirgends die Rede. Umgekehrt darf dasjenige, wovon sich dann das Abhängigkeitsgefühl seinerseits intern bestimmt weiß, nicht gleichgesetzt werden mit ›Sein‹. Der transzendente Grund ist für Schleiermacher im strengen Sinne kein Seinsbegriff, sondern – wie an anderer Stelle auch Frank einräumt – eine absolute Einheitsidee. Franks ontologische Interpretation hat mit dem Argumentationsgang Schleiermachers kaum etwas zu tun, sondern ist das Resultat einer von Heidegger und dem späten Schelling inspirierten Überblendung der Texte.36 An dritter Stelle sind die Ausführungen von Andreas Arndt zu erwähnen. Gestützt auf einige Texte aus Schleiermachers Ethik und im Lichte der einschlägigen Sachkritik Hegels entnimmt er der Gleichsetzung von Gefühl und unmittelbarem Selbstbewußtsein, daß hier nicht vom allgemeinen, sondern vom individuellen Selbstbewußtsein die Rede sei.37 Auch dieser Vorschlag führt im Hinblick auf die ›Dialektik‹ in die Irre. Denn hier geht es Schleiermacher nicht um Fragen einer Theorie der Individualität, sondern um Formbedingungen des Wissens, die schon rein als solche Allgemeinheitscharakter besitzen müssen. Besonders prägnant äußern sich dazu die Nachschriften zum Kolleg von 1822. Hier lesen wir: »Das Selbstbewußtsein ist […] keineswegs das Subjective.« (A II, 567) »Das Persönliche liegt nicht im Gefühl, denn die Identität des Denkens und Wollens ist in Allen ein und dieselbe und ebenso der
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Hinzu kommt eine unverkennbare Vorliebe für die Odebrechtsche Dialektik-Ausgabe, die aber – wie bereits erwähnt – in keiner Weise mehr den kritischen Standards moderner Quellenedition genügt. 37 Arndts Interpretationsrichtung kündigt sich bereits in seinem frühen Berliner Kongreßvortrag an; vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit als Reflexion. Voraussetzungen der Dialektik Friedrich Schleiermachers, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hrsg. v. Kurt-Victor Selge. Berlin/New York 1985, 469–484. – Inzwischen hat Arndt durch mehrere Beiträge seine Sicht zu erhärten versucht; vgl. vor allem die beiden in Anm. 12 genannten Aufsätze.
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Uebergang.« (A II, 566) Der Gefühlsbegriff der ›Dialektik‹ liegt auf der methodischen Ebene einer Strukturtheorie. Oder anders gesagt: Subjektivität ist nichts Subjektives.38 Deshalb legt Schleiermacher an dieser Stelle großen Wert darauf, die Begriffe Gefühl bzw. unmittelbares Selbstbewußtsein von jeder Konnotation mit dem Empfindungsbegriff fernzuhalten. »Empfindung und Gefühl unterscheide ich auf das allerbestimmteste.« (ebd.) Diese Unterscheidung ist auch für die Art des Erlebens jenes bloßen Setzens relevant. Im Gegensatz zur Empfindung handelt es sich beim inneren Gewahren mentaler Agilität um »keine subjective Passivität« (ebd.). Die Kategorie der Passivität scheidet für Schleiermacher im Fall des Selbstverhältnisses des Gefühls deshalb aus, weil der »Gegensatz des Subjektiven und des Objektiven hier nicht anwendbar ist« (ebd.). Der Selbstbezug des Gefühls enthält wohl Unterscheidung und Beziehung, aber keine Vergegenständlichung des Unterschiedenen und Bezogenen.39 In dieser ungegenständlichen Reflexivität40 besteht seine Unmittelbarkeit. Zu den hier vorwiegend aus der Vorlesung vom Sommersemester 1822 herangezogenen Zitaten insgesamt ist zu bemerken, daß es auffällt, wie ausführlich sich Schleiermacher darin über die Struktur des Gefühls äußert. Das kommt nicht von ungefähr. Wenige Wochen zuvor war Hegels ›Vorwort‹ zu Hinrichs Religionsphilosophie mit der berühmt-berüchtigten Persiflage des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls erschienen.41 Schleiermacher hielt es offenbar für angebracht, Hegels »ausnehmend törichte[n] Satz«42 wenigstens im Rahmen der Vorlesung43 durch eine weitere Präzisierung seines Gefühlsbegriffs zu entkräften.
38
Aus diesem Grund habe ich in Christentum und Selbstbewußtsein durchweg von der »transzendentalen Struktur Subjektivität« gesprochen. 39 Vgl. Verf., Gott – die Wahrheit?, 126–128. 40 Es ist für das Verständnis von Schleiermachers Gefühlsbegriff unerläßlich, zwischen Reflexivität als allgemeiner relationslogischer Struktur und Reflexion als spezifischer Selbstbezüglichkeit des Denkens zu unterscheiden. 41 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorwort zu H. F. W. Hinrichs ›Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft‹, Heidelberg 1822, XVIII f. (Jubiläumsausgabe der Werke Hegels, Band 20, 19 f.). 42 Konrad Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: Schleiermacher, 129–162; hier 159. 43 Vgl. dazu Schleiermachers briefliche Äußerung in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Hrsg. v. Ludwig Jonas u. Wilhelm Dilthey. 4 Bände. Berlin 1858–63; ND Berlin 1974. Im folgenden zitiert als »Aus Schleiermachers Leben«, mit Angabe der Bandund Seitenzahl; hier: Band 4, 306.
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5. Gefühl und Ich Die kritische Stoßrichtung von Schleiermachers Gefühlstheorie erschöpft sich keineswegs in der gerade dargestellten Revision des Identitätsproblems, sondern bezieht auch das Kantisch-Fichtesche Ich- oder Selbstbewußtseinsmodell mit ein. Kant hatte den Begriff des Selbstbewußtseins anhand der Verstandesvorstellung »Ich denke« exponiert. Sie fungierte in der B-Auflage des Deduktionskapitels der ersten Kritik als Meinigkeitsund Synthesisbedingung von kognitiven Vorstellungen innerhalb des kategorialen Aufbaus von Erfahrung. Fichte kritisierte bekanntlich diese methodische Dominanz der theoretischen Einstellung bezüglich des Aufbaus des Ich-Gedankens. Die Sittenlehre von 1798 stellte in konsequenter Weiterführung des Primats der praktischen Vernunft darum ein anderes Prinzip an ihre Spitze: »Das Ich findet sich ursprünglich wollend.« Schleiermacher hält beide Auskünfte für unzutreffend, weil sie seiner Auffassung nach dasjenige, was ein Selbst zu einem Selbst macht und den Gehalt von Selbstbewußtsein bildet, nicht in seiner Ursprünglichkeit in den Blick bekommen, sondern nur in dessen alterierter Form. Im Hintergrund dieses Einwandes steht die Einsicht, daß Denken und Wollen vor allem realen Gegenstandsbezug bereits als intentionale Strukturen den Charakter von Objektbewußtsein aufweisen. Denken ist immer ein Denken von etwas, und Wollen immer ein Wollen von etwas – auch wenn dieses »etwas« noch nicht inhaltlich spezifiziert sein mag, sondern lediglich den Status einer Leerstelle besitzt. Wenn dies zutrifft, dann ist davon auch die Reflexion auf beide Funktionen betroffen. Der Satz: Ich bin mir meiner als eines Denkenden bewußt, kann dann nur bedeuten: Ich bin mir meiner bewußt im Denken von etwas. Und der andere Satz: Ich bin mir meiner als eines Wollenden bewußt, kann nur besagen: Ich bin mir meiner bewußt im Wollen von etwas. Daraus aber folgt, daß weder das Bewußtsein des eigenen Denkens noch das Bewußtsein des eigenen Wollens im strengen Sinn des Wortes als Selbstbewußtsein bezeichnet werden können. Das Kantische ›Ich denke‹ und das Fichtesche ›Ich finde mich ursprünglich wollend‹ verkörpern für Schleiermacher vielmehr bereits hochkomplexe Synthesen von Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein. Der Einwand reicht sogar noch weiter: Kognitives und praktisches Selbstbewußtsein verstellen je auf ihre Weise den Grundsinn von Selbstbewußtsein. Sie verhindern aus strukturellen Gründen den Zugang zu dem, was den eigentlichen Charakter des Selbst ausmacht. Die Gegenthese lautet: Allein im Gefühl gelangt »unser reines Sein« als solches zur Darstellung; »in den beiden andern Funktionen ist
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es schon mit dem Sein der Dinge vermischt« (A II, 569). Deshalb wird das Gefühl von Schleiermacher auch als »reines Selbstbewußtsein« (A II, 565) tituliert. Durch den Zusatz »rein« erhält der Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins eine weitere Pointe, die sich an das oben Gesagte nahtlos anschließt. Als reines Selbstbewußtsein kann nur diejenige Art von Beziehung auf sich gelten, worin mentale Lebendigkeit lediglich als solche, d. h. diesseits ihrer intentionalen Ausformung und intentionalen Spezifizierung, zu Bewußtsein gelangt. Das Gefühl ist für Schleiermacher die einzige Erlebnisform, worin ein Selbst unabhängig von Einflüssen des Objektbewußtseins sich rein als ein Selbst zu erfassen vermag. Von hier aus fällt dann auch Licht auf Schleiermachers Behauptung, daß das Gefühl nicht nur für sich im Übergang existiert, sondern auch das Denken und Wollen auf zeitliche Weise begleiten kann.44 Die Figur des ›Begleitens‹ ist offensichtlich Kant entlehnt. Sie hat im Kontext der ›Dialektik‹ aber eine andere Funktion. Während für Kant das Begleitetsein durch das Ich-denke eine apriorische Meinigkeitsbedingung von Vorstellungen bildet, vollzieht sich das Begleiten des Gefühls für Schleiermacher auf der empirischen Ebene seines zeitlichen Auftretens und betrifft die reale Kontinuierung von Selbstbewußtsein unter der Bedingung von Denk- und Willensakten. Beide Formen mentaler Tätigkeit würden nicht als Zustände unseres Selbst erlebt, wenn sie nicht diejenige Form von Innesein mit sich führten, worin Selbstheit als solche erlebt wird. Auch die Reflexionsformen des kognitiven und des praktischen Bewußtseins können streng genommen nur dann als Gestalten von Selbstbewußtsein angesprochen werden, wenn sie im Verbund mit dem Gefühl auftreten. Die Begleitungsfunktion des Gefühls besteht somit in der Verstetigung von Selbsterfahrung unter den Bedingungen des einfachen oder reflektierten Objektbewußtseins. Von diesem Ansatz her zieht Schleiermacher dann auch kritische Konsequenzen hinsichtlich der subjektivitätstheoretischen Reichweite oder Leistungskraft des durch den Ausdruck ›Ich‹ bezeichneten Selbstverhältnisses. Die Ich-Vorstellung – insoweit folgt er Kant – ist eine reflektierte Vorstellung und hat den Status eines Gedankens. Daraus wird aber – im Gegenzug zu Kant – gefolgert, daß ihr eben deshalb gerade keine primordiale Stellung gebührt. Denn als Reflexionsprodukt hat sie teil am Vermittlungscharakter aller Reflexion. Schleiermacher macht am Ich-Gedanken im wesentlichen drei Reflexionsdimensionen geltend. Die IchVorstellung ist, erstens, das Resultat einer »Abstraction« (A II, 567). Denn 44
Vgl. A I, 266 = J 429.
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sie nimmt, sei es als denkendes Ich oder als wollendes Ich, ihren Ausgang von der Sphäre des Objektbewußtseins und entsteht durch Isolierung von dessen subjektivem Pol. Wenn wir ›Ich‹ sagen, identifizieren wir uns lediglich in der Trägerfunktion eines möglichen realen Prädikats. Die Ich-Vorstellung umfaßt darin also lediglich »das sich selbst Bewußte und nicht das Selbstbewußtseyn« als ganzes (A II, 566). Zweitens, der Ich-Gedanke als generelle Bezeichnung des subjektiven Pols in allen Aktionen des Objektbewußtseins beruht auf dem »Zusammenfassen der Momente« (A I, 266 = J 429), mit Bezug worauf ein Subjekt sich als Selbstzuschreibungsinstanz erklärt. Der allgemeine Ich-Gedanke ist also keineswegs ein letzter Ermöglichungsgrund von Synthesis oder synthetischer Einheit des Bewußtseins, sondern stellt seinerseits bereits das Resultat einer übergeordneten Synthesisleistung dar. Eine ähnliche, aber noch höherstufige Synthesisleistung muß, drittens, auch für den Aufbau der Einheit des theoretischen und praktischen Ich veranschlagt werden, wenn nämlich Denken und Wollen – wie bereits dargelegt – ihrer Form nach heterogene Reihen bilden, die ihrerseits nur vermöge eines strukturellen Umschlags (Übergang) zueinander in Beziehung treten können. Die Einheit des theoretischen und praktischen Ich beruht dann auf der »Identität des Subjects im vorigen und folgenden« (A I, 334 = J 524). Die hier vorliegende Reflexionskomponente besteht somit in der »Übertragung […] des Ich […] von einer Reihe zur andern« (A I, 335 = J 524 f.). Alle drei Reflexionsdimensionen zusammen veranlassen Schleiermacher, den Ich-Gedanken generell unter den Begriff des reflektierten Selbstbewußtseins zu subsumieren und dieses vom eigentlichen Selbstbewußtsein, dem Gefühl oder unmittelbaren Selbstbewußtsein, strikt abzugrenzen. Die zuletzt genannte Vermittlungsleistung, die Synthesis der Übertragung, wirft noch einmal ein bezeichnendes Licht auf Schleiermachers Konzeption des Übergangs als basaler Prämisse für den Aufbau personaler Identität in dem von ihm gemeinten Sinne. Denn unter Einbeziehung des gerade Dargelegten wird es nun unumgänglich, zwischen einer rezeptiven und einer spontanen Seite der Übergangsstruktur zu unterscheiden. Jene erste, im unmittelbaren Selbstbewußtsein erlebte Einheit des mentalen Lebens steht für einen »Uebergang unter der Form der Passivität«, die in der Reflexion sich aufbauende Einheit von theoretischem und praktischem Ich hingegen verkörpert einen Übergang »unter der [Form] der Activität« (A II, 767 = J 524). Jene bildet nach Schleiermacher die Voraussetzung für diese. Doch was ist mit der Aussage gemeint, daß für erstere die Form der Passivität kennzeich-
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nend sei? Die hier ins Spiel gebrachte Unterscheidung von Passivität und Aktivität betrifft offenbar die Frage der Konstitution von Einheit. Die Einheit des vermittelten Selbstbewußtseins verdankt sich – wie gerade gezeigt – einer aktiven Synthesis des Subjekts. Die Einheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins hingegen liegt solcher Synthesisleistung voraus. Damit verweist sie – so Schleiermacher – auf denjenigen Sinn von Einheit, der sich bereits im Kontext der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des Wissens als konstitutionstheoretisch entscheidend herausgestellt hatte. Deshalb muß die psychologische oder subjektivitätstheoretische Frage nach den Bedingungen der Identität und Einheit des Selbst in den Gesamtzusammenhang der Letztbegründungsthematik reintegriert werden. Damit kehren wir zurück zur eigentlichen transzendentalen Fragestellung.
6. Die transzendentale Funktion des Gefühls Wir hatten zunächst dargelegt, daß die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Wissen auf eine oberste Hypothesis bzw. auf die »Voraussezung einer ursprünglichen Identität« (A I, 105 = J 87) führt, die als Erfüllungsbedingung des Denkens oder Erschlossenheitsbedingung von Welt fungiert. Wir hatten sodann darauf hingewiesen, daß die begriffliche Explikation jener Identität von Denken und Sein sich den kategorialen Möglichkeiten der Sprache entzieht und diese Idee darum nur als Grenzbegriff veranschlagt werden kann. Und wir hatten schließlich gesehen, daß ein solcher transzendenter Grund nicht nur für das abbildende, sondern auch für das vorbildende Denken vorausgesetzt werden muß, der aber in beiden Fällen – ganz abgesehen von dem Ungedanken eines zwiefachen Absoluten – schon allein deswegen kein verschiedener sein kann, weil sonst die Einheit des subjektiven Weltbezugs und die innere Einheit des Subjekts aufgehoben würden. Es sind nun vor allem die beiden letztgenannten Punkte, die den Gefühlsbegriff in eine transzendentale Begründungsperspektive rücken. Denn jener Grenzbegriffscharakter der Idee des Absoluten läßt immer noch die Möglichkeit von dessen vorprädikativer Präsenz offen. Zugleich machte die Verlagerung der transzendentalen Fundierung des Denkens und Wollens in deren Konvergenzbereich, das Gefühl als passive Einheit des Sich-selbst-Habens im wechselseitigen Übergang beider, deutlich, daß die Frage der Einheit der Subjektivität keineswegs nur aus psychologischen, sondern auch aus transzendentalen Gründen einer Auflösung bedarf. Schleiermachers These lautet nun: Ein
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und dieselbe Eigenschaft, die das Gefühl zum Einheitsprinzip der Subjektivität qualifiziert, qualifiziert es auch zur Manifestationsgestalt des allem Wissen vorausliegendem transzendenten Grundes. Die transzendentale Funktion des Gefühls verdankt sich somit dem Zusammenspiel seiner psychologischen Einheitsleistung und seiner Rolle als endlicher Erscheinung des Absoluten. Gegenüber dem reflektierten Selbstbewußtsein der epistemischen und praktischen Einstellung zeichnet sich das Gefühl durch eine ungegenständliche Selbstbezüglichkeit doppelter Art aus: Zum einen vergegenwärtigt es die mentale Lebendigkeit eines Subjekts noch diesseits ihrer möglichen Objektbeziehung und deren intentionaler Ausdifferenzierung; darin besteht seine Reinheit. Zum andern bringt es diese innere Lebendigkeit auf ungegenständliche Weise zur Darstellung; darin besteht seine Unmittelbarkeit. Beide Eigenschaften vorreflexiven Inneseins zusammen machen das Gefühl zu einer Gestalt interner Einheitserschlossenheit. »Im Gefühl ist die im Denken und Wollen bloß vorausgesezte absolute Einheit des idealen und realen wirklich vollzogen, da ist sie unmittelbares Bewußtsein, ursprünglich.« (J 152)45 Gefühlszustände sind – um einen Ausdruck Anthony Quintons aufzugreifen – selbstbekundend. Das Gefühl verkörpert und manifestiert zugleich Einheit im vorreflexiven, ungegenständlichen Sinne. In dieser »Identität des unmittelbaren Selbstbewußtseins in uns […] muß sich also auch der transcendentale Grund für Denken und Wollen finden« (A II, 571). Es ist genau dieser spezifische Einheitscharakter des Gefühls, seine interne Entsprechung von ideellem und reellem Sein, der es nach Schleiermacher zu einer Erscheinung oder »Abspiegelung« (A II, 572) des transzendenten Einheitsgrundes macht. Damit ist nicht gemeint, daß das Gefühl als solches jene absolute Einheit zum Bewußtseinsinhalt hätte. Das Gefühl bleibt vielmehr auch in seiner transzendentalen Funktion das, was es von Hause aus ist, nämlich ein Zustandsbewußtsein. Zu einer Manifestation des transzendenten Einheitsgrundes wird es nicht durch das, was es thematisch vorstellt, sondern durch das, was es auf unthematische Weise ist, also durch seinen Charakter als spezifisches Einheitsvorkommnis. Die Beziehung des Gefühls zum Absoluten ist kein Verhältnis intentionaler Art, sondern das einer ontisch-strukturellen Repräsentation des Absoluten. Als bloße Form des Sich-selbstHabens ist das Gefühl ein Bild der übergegenständlichen Einheit des 45
Die in KGA zugrunde gelegte Nachschrift der Vorlesung von 1818 weicht hier von Jonas leicht ab (vgl. A II, 239).
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Absoluten. Bezogen auf die vorausgegangenen Argumentationsschritte kann somit gesagt werden: Das Gefühl rückt für Schleiermacher deshalb ins Zentrum der psychologischen Identitätsproblematik, weil es als mentales Einheitsvorkommnis zugleich einen Zugang zum höchsten Punkt des Letztbegründungsdenkens, dem absoluten Einheitsgrund, eröffnet. Es bildet gleichsam die Nahtstelle zum Absoluten. Beide Argumentationsstränge, der subjektivitätstheoretische und der transzendentale, gehören zusammen. Das Gefühl als Vereinigungsprinzip von Denken und Wollen bringt in seiner vorgegenständlichen Einheit zugleich den absoluten Einheitsgrund der Seinserschlossenheit beider zur Darstellung. Schleiermachers Gedanke einer ontisch-strukturellen Repräsentationsbeziehung zwischen Gefühl und Absolutem und die transzendentale Explikation dieses Manifestationsverhältnisses ähneln in vielerlei Hinsicht der spekulativen Erscheinungsrelation, die Fichte ins Zentrum seiner späten Wissenschaftslehre gestellt hat.46 Wie bei Fichte, so wird auch bei Schleiermacher jenes fundamentale Manifestationsverhältnis sofort überlagert durch ein gleichermaßen fundamentales Brechungsgesetz. Letzteres resultiert für Schleiermacher allerdings nicht aus der Absolutheitsbeziehung des Gefühls als solcher, sondern allein aus dessen struktureller Eingebundenheit in die anderen Funktionen des Geistes, an deren Vermittlungsdefiziten es seine transzendentale Synthesisleistung erbringt. Das Gefühl als reales Bewußtseinsvorkommnis verkörpert die Einheit von ideellem und reellem Sein nie in reiner Form, sondern immer nur entweder als Identität im Übergang zwischen Denken und Wollen oder als diese begleitend. Darum vermag es die ihm aus seiner Erscheinungsrelation zum Absoluten zukommende Einheitsfunktion hinsichtlich jener Funktionen immer nur als »aufhebende Verknüpfung der relativen Gegensäze« zur Geltung zu bringen. Für seine Beziehung zum Absoluten besagt dies, daß die als Einheitsstiftung unter Differentem sich vollbringende Einheit des Gefühls nur eine »Analogie mit dem transzendenten Grunde« (A I, 266 = J 429) darstellt. Das Analogiemoment liegt in der Strukturisomorphie der Einung von Ideellem und Reellem. Das Differenzmoment besteht darin, daß die vom Gefühl gewirkte Einung zugleich den Bedingungen unterliegt, an denen sie sich vollbringt, somit immer nur als relative Überwindung von Differenz wirksam wird. Um mit einem traditionellen Begriffspaar 46
Vgl. Björn Pecina: Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2007; Barth: Absolute Wahrheit, Kap. 5, Abschnitt 3–5.
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zu sprechen: Das Absolute ist die archetypische Einheit, das Gefühl die ektypische Einheit von Ideellem und Reellem. Beide Merkmale der Beziehung von Gefühl und Absolutem, ihr Charakter als Erscheinungsrelation und deren Gebrochenheit zur Analogizität, vereinigt Schleiermacher im Begriff des Mitgesetztseins des Absoluten. Mit diesem Begriff ist zugleich der gedankliche Höhepunkt des Letztbegründungsgangs der ›Dialektik‹ erreicht, was deren transzendentalen Teil betrifft. Ich gebe das einschlägige Zitat aus der Vorlesung von 1831 darum im vollen Wortlaut wieder. Das Mitgesetztsein des Absoluten im Gefühl ist »die Art und Weise, wie wir in unserm Selbstbewußtsein die Identität unseres Seins in dem Uebergang von der einen Operation zur andern, den transcendenten Grund des Seins haben, und zwar in der Gleichheit der Beziehung auf das vorbildliche Denken und sein Verhältniß zum Sein, und auf das abbildliche Denken und sein Verhältniß zum Sein« (A II, 769 = J 527). Daß das Absolute im Gefühl mitgesetzt ist, besagt ein Doppeltes: Erstens, das Absolute wird nicht thematisch intendiert, sondern ist lediglich als Relat der Erscheinungsrelation gegeben, in der das Gefühl als endliches Einheitsvorkommnis zu ihm steht. Zweitens, es kommt auch als implizit in Anspruch genommene Voraussetzung nur dort zum Tragen, wo das Gefühl in der Sphäre des relativen Gegensatzes als dessen Aufhebung wirksam wird. Statt jenes Mitgesetztseins kann Schleiermacher auch von einem zeitlosen Begleiten des transzendenten Grundes sprechen. Indem das Gefühl auf zeitliche Weise das Denken und Wollen begleitet, werden diese auf zeitlose Weise von dem in ihm repräsentierten Einheitsgrund begleitet, wodurch deren Erfülltheit sichergestellt ist. Das Gefühl fungiert gleichsam als deren Erfüllungsmedium. Damit hat Schleiermacher diejenige Bestimmung des transzendenten Grundes gewonnen, auf welche die eingangs skizzierte Problemverschiebung und Funktionserweiterung hinzielte. Indem der absolute Einheitsgrund durch seine Manifestation im Gefühl dieses zu seiner transzendentalen Funktion als Erfüllungsmedium befähigt, erweist er sich als »das die Wahrheit des Denkens und die Realität des Wollens bedingende« (A I, 305 = J 475). Umgekehrt besitzt das Gefühl aber nur insoweit die Eigenschaft der Abspiegelung des Absoluten, »inwiefern die Gegensätze von Denken und Wollen darin aufgehoben sind« (A II, 572). Der funktionale Charakter des Absoluten und der funktionale Charakter des Gefühls bedingen sich somit wechselseitig. Daß jene übergegensätzliche Einheit nur in der Form des Mitgesetztseins oder zeitlosen Begleitens zur Geltung gelangt, soll darüber hin-
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aus dartun, daß zwischen ihr und dem endlichen Wissen und Handeln zwar eine Fundierungsbeziehung besteht, aber kein Ableitungsverhältnis. Jeder Versuch einer gedanklichen Ableitung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil der erforderliche erste Schritt, nämlich die UrTeilung jener höchsten Einheit von Ideellem und Reellem in deren endliche Zweiheit, sich dem Denken entzieht. Oder um Schleiermachers – offenkundig gegen Schellings Identitätsphilosophie gerichteten – Worte zu zitieren: Möglich ist allein die »Scheidung beider Glieder in ihren Producten[,] aber der Gegensaz selbst bleibt dabei immer hinter dem Vorhang. […] Jede Erklärung[,] die mehr leisten wollte[,] würde poetisch sein« (A I, 101 = J 76). Der Überschritt von Indifferenz zu Identität entzieht sich den Möglichkeiten begrifflicher Deduktion. Der Gedanke des bloßen Mitgesetztseins oder zeitlosen Begleitens des Absoluten ist somit die innere Konsequenz eines strikt reduktiv angelegten Letztbegründungsmodells. Doch worin besteht nun die reale Konstitutionsleistung des mitgesetzten bzw. zeitlos begleitenden transzendenten Grundes? Wir können die Frage hier nicht mehr in extenso behandeln, sondern müssen uns auf wenige Andeutungen zur systemtheoretischen Seite des Problems beschränken. Sie wird innerhalb der ›Dialektik‹ mehrfach gestreift.47 Ihre genauere Durchführung erfolgt jedoch in der Philosophischen Ethik,48 und zwar in deren allgemeinen Einleitungspartien.49 Nach ihnen stellt sich jener Begründungszusammenhang folgendermaßen dar: Der transzendente Einheitsgrund, hier bezeichnet als Einheit von höchstem Sein und höchstem Wissen, steht über allen Gegensätzen, die dem endlichen Sein und Wissen Bestimmtheit verleihen. Daß jener Einheitsgrund kraft seines Mitgesetztseins im Gefühl alles endliche Bewußtsein auf zeitlose Weise begleitet, besagt für Schleiermacher nun zweierlei. Die erste Folgerung ist methodischer Art: Obwohl jene Einheit im realen Wissen niemals als bestimmter Gedanke erscheint, kann dieses gleichwohl zu deren »Bild« werden, nämlich dann, wenn es sämtliche konträren Bestimmungen als wechselseitig verschränkte in sich vereint.50 Die Maxime der Durchdringung und Aufhebung der Gegensätze bildet darum
47
So etwa A II, 568. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: Werke. Auswahl in vier Bänden, Band 2. Hrsg. v. Otto Braun, Leipzig 21927, ND Aalen 1967. Im folgenden zitiert als »PhE«, mit Angabe der Seitenzahl. 49 Vgl. PhE, 245–262. 423–429. 487–511. 517–557. 561–570. 50 PhE, 493. 48
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die methodische Grundregel von Schleiermachers Theorie des realen Wissens. Und die kritische Wechselbeziehung von Spekulation und Empirie verkörpert die systemtheoretische Anwendung dieses Prinzips. In materialer Hinsicht hingegen folgt, daß Ideales und Reales immer nur in der Weise zum Gegenstand des Wissens werden können, daß sie zugleich in ihrem Auseinander und Ineinander erscheinen. Die beiden höchsten Potenzen endlicher Realität, Vernunft und Natur, bilden keinen ausschließenden Gegensatz, sondern durchdringen sich wechselseitig nach Maßgabe des variierenden Übergewichts des Idealen oder Realen.51 Physik und Ethik, die beiden Basisdisziplinen des realen Wissens, dienen sich deshalb gegenseitig zur Probe der sachlichen Angemessenheit ihrer durchgängigen Perspektivendifferenz. Das Prinzip der Gegensatzbindung, sei es in methodischer oder inhaltlicher Hinsicht, könnte man somit als die operationalisierte Fassung des zeitlosen Begleitens des im Gefühl mitgesetzten Einheitsgrundes bezeichnen.
7. Letztbegründung und Religion Schleiermachers Transzendentalphilosophie ist – wie wir sahen – bereits von der Problemexposition her mit der Annahme verschränkt, daß der Weltbezug des menschlichen Geistes einer nichtempirischen Grundlage bedarf. Diese wird über die Erweiterung und Innenverlagerung der Fragestellung schließlich in der Erscheinungsrelation zwischen Gefühl und Absolutem und deren Konstitutionspotential gefunden. Zugleich steht der Gefühlsbegriff aber auch im Zentrum von Schleiermachers Theorie des religiösen Bewußtseins. Deshalb ist abschließend das Verhältnis von philosophischem Letztbegründungsdenken und theologischer Dogmatik zu behandeln. Diese Frage wird dadurch besonders virulent, daß die ›Dialektik‹ am Ende des transzendentalen Teils selber auf die Rolle der Religion zu sprechen kommt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wolle Schleiermacher die Religion gleichsam als krönenden Schlußstein in den transzendentalen Begründungsgang einbauen. Das Verständnis ihrer Funktion innerhalb der ›Dialektik‹ ist jedenfalls alles andere als leicht zu bestimmen. Das wird bereits beim Versuch einer thematischen Bestimmung der einschlägigen Textpartien deutlich. Die Ausführungen von §§ 216–227
51
Vgl. PhE, 495.
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sind den Ideen Gott und Welt gewidmet.52 So könnte man meinen, daß der gesamte Abschnitt das Thema Religion zum Inhalt hat. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß jene Paragraphen sich keineswegs als Explikation des religiösen Standpunkts verstehen, sondern besagte Ideen in erster Linie als Grundbegriffe der Metaphysik aufgreifen. Primärer Gegenstand der Darlegungen ist nicht deren Frömmigkeitsbedeutung – diese wird nur der Abgrenzung wegen angesprochen –, sondern ihre Prinzipienfunktion für das Wissen. Schleiermacher hält es förmlich für eine methodische Entgleisung, wenn beide Ebenen miteinander verwechselt werden. Schon die Aufzeichnungen von 1811 äußern sich dazu besonders drastisch, wenngleich Schleiermacher in dieser Frage damals noch nicht ganz ins Reine gelangt war. So ist dort zu lesen: »Anders als daß die Gottheit als transcendentes Sein das Princip alles Seins und als transcendente Idee das formale Princip alles Wissens ist, ist auf dem Gebiet des Wissens nichts von ihr zu sagen. Alles andere ist nur Bombast oder Einmischung des religiösen, welches als hieher nicht gehörig hier doch verderblich wirken muß.« (A I, 43 = J 328) Die prägnanteste Bestimmung der wissenstheoretischen Prinzipienfunktion beider spekulativen Einheitsideen findet sich in der Vorlesung von 1822. Hier heißt es in lapidarer Kürze: »Gott = Einheit mit Ausschluß aller Gegensäze; Welt = Einheit mit Einschluß aller Gegensäze« (A I, 269 = J 433). Der Gottesgedanke verkörpert das Einheitsfundament des Wissens, der Weltbegriff hingegen – vereinfachend ausgedrückt – dessen regulative Totalitätsidee. Mit dieser Doppelformel nimmt Schleiermacher einerseits Abstand von der in den Reden vollzogenen Verschmelzung beider Ideen im Begriff des Universums.53 Er ist nun zu der Auffassung gelangt, daß der Universumsbegriff einheitstheoretisch nicht zu halten ist. Andererseits will er aber das spinozistische Motiv, das ihn einst zu jener Synthese bewog, auch nicht einfach zum Verschwinden bringen, nämlich die Überzeugung, daß es jenseits unseres Weltbezugs kein Verhältnis zum Absoluten geben kann. Darum bestimmt die ›Dialektik‹ die fragliche Beziehung folgendermaßen: Begrifflich und wissensfunktional müssen die reine Einheit Gottes und die Totalitätseinheit der Welt unterschieden werden, dem Geltungsbereich nach kongruieren sie jedoch. Das vorrangige Argumentationsziel von §§ 216–227 besteht demzufolge darin, den wechselseitigen Verweis beider Ideen aufeinander zu begründen, um eine Trennung 52 53
Vgl. A I, 143–152 = J 154–171. Vgl. Verf., Gott – die Wahrheit?, 139–143.
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von Gottesbeziehung und Weltzugehörigkeit strukturell auszuschließen. Auch die neu gefundene Unterscheidung und Verschränkung beider Einheitsideen führt deshalb kritische Verwahrungen gegenüber der kirchlichen Schöpfungslehre mit sich. Ein Pendant finden diese Ausführungen im § 46 der Glaubenslehre,54 wo gezeigt wird, daß der Gedanke der göttlichen Welterhaltung notwendig impliziert, daß das Bedingtsein durch den allgemeinen Naturzusammenhang und das Gegründetsein in Gott extensional äquivalente Größen sind. Stellt man die vorwiegend metaphysische Ausrichtung jener ›Dialektik‹-Paragraphen in Rechnung, dann ergibt sich, daß als die eigentliche Schaltstelle von Wissenstheorie und Religionstheorie lediglich § 215 zu gelten hat,55 dem in der Vorlesung von 1822 dann die Vorträge LI–LII entsprechen.56 Ihnen wollen wir uns abschließend zuwenden. Beginnen wir mit dem entscheidenden Passus des Manuskripts von 1822. Hier ist die Rede vom Gefühl als analoger Manifestation des Absoluten und seiner darin begründeten Befähigung zur Aufhebung relativer Gegensätze. Schleiermacher fährt nun folgendermaßen fort: »Diese Aufhebung der Gegensäze könnte aber nicht unser Bewußtsein sein, wenn wir uns selbst darin nicht ein bedingtes und bestimmtes wären oder würden. […] Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl« (A I, 266 f. = J 429 f.; Hvh. i. O.). Dem Zitat ist Folgendes zu entnehmen: Die religiöse Wendung des Gefühls vollzieht sich zunächst so, daß die in der Erscheinungsrelation zum Absoluten begründete Einheitsverfassung und Einheitsstiftung des Gefühls in einen Für-Bezug eingeholt und hinsichtlich ihres Darstellungscharakters bewußt werden. Die Erscheinungsrelation zwischen dem Absoluten und dem Gefühl verbleibt nicht auf der distanzierten Ebene methodischer Letztbegründung, sondern gelangt
54
Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31). Hrsg. v. Martin Redeker, 2 Bände, Berlin 1960. Im folgenden zitiert als »CG2«, mit Angabe der Paragraphen- bzw. der Band- und Seitenzahl; hier: Band 1, 224–234. Diesem Paragraphen entspricht in der Erstauflage § 59 f.; vgl. ders.: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1820/21), mit den handschriftlichen Marginalien [= Marg.] und einem Textanhang. Hrsg. v. Hermann Peiter u. Verf., in: KGA, Abt. I, Bd. 7/1–3, Berlin/New York 1980–83. Im folgenden zitiert als »CG1«, mit Angabe der Paragraphen- bzw. der Band- und Seitenzahl; hier Band 1, 168–176. 55 Vgl. A I, 142 f. = J 151 f. 56 Vgl. A I, 266–268 = J 428–431.
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am Ort des Repräsentierenden selbst zu Bewußtsein.57 Der erste Schritt vom Gefühl in seiner transzendentalen Funktion zum religiösen Gefühl als Erlebnisphänomen besteht somit in einem Aneignungs- und Selbstidentifikationsakt. Indem das Gefühl selber sich als Erscheinung des Absoluten versteht, entdeckt es sich nun zugleich als ein bestimmtes und bedingtes. Es wird dessen gewahr, daß es seine spezifische Verfaßtheit nicht sich selbst verdankt, sondern einem ihm vorausliegenden Ermöglichungs- und Bestimmungsgrund. Dieser kann wiederum nicht in der endlichen Sphäre liegen, weil ein der Sphäre des Gegensatzes verhafteter Bestimmungsgrund nicht gegensatzaufhebend wirken und das von ihm Bestimmte nicht zu dessen einigender Kraft qualifizieren könnte. Demnach kommt allein ein transzendenter Bestimmungsgrund seines Soseins infrage – wobei Transzendenz allerdings nicht mit Externalität im räumlichen Sinn verwechselt werden darf.58 Alle drei Momente zusammen besagen, daß allererst die »religiöse Seite« (A I, 267 = J 430) des Gefühls dessen transzendente Bestimmtheit ihm zu Bewußtsein bringt. Erst hier wird der transzendente Grund des Subjekts diesem selbst thematisch. Jene ontisch-strukturelle Repräsentation wird damit zur mentalen Repräsentation59 – im Sinne des Innewerdens eines vorgängigen Ursprungs der eigenen Einheitsbestimmtheit und Vereinigungsfähigkeit. Ausdrücklich gesetzt wird das Absolute aber auch hier nicht in der Form eines abstrakten An-sich-Seins, sondern als dasjenige Relat, bezüglich dessen sich das Gefühl selber als bedingt erfährt. Das Bewußtsein eigenen Bedingtseins durch jenen Grund impliziert im Hinblick auf das Trägersubjekt dieses Bewußtseins schließlich die Negation seiner Freiheit. Diese Freiheitsnegation betrifft nicht die innerpsychischen Operationen oder Funktionsweisen des unmittelbaren Selbstbewußtseins als solche, sondern allein deren Verhältnis zu dessen innerem Grund. Das Gefühl artikuliert sich nach der Seite seines Fundiertseins im transzendenten Grund als »allgemeines Abhängigkeitsgefühl« (A I, 267 = J 430).60 Damit ist der Begriff von Religion erreicht, den – auf ganz
57
Durch die religiöse Wendung des Gefühls wird der transzendente Urgrund alles Endlichen »in uns gesezt« (A I, 267 = J 430). 58 Wir haben es vielmehr mit einer Variante von Spinozas causa immanens zu tun. Auf die zentrale Bedeutung dieses Begriffs für den frühen Schleiermacher verweist die Hallenser theologische Dissertation von Ch. Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. 59 Vgl. A I, 266 f. 60 Der Begriff allgemeine Abhängigkeit besagt im Kontext der ›Dialektik‹, daß der
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anderem, nämlich eher phänomenologischem Weg – die Glaubenslehre gewonnen hat und ihrem Christentumsverständnis zugrunde legt.61 Hinsichtlich der ›Dialektik‹ wird man festhalten können: Die Wende zur Religion ist das Resultat einer selbstexplikativ verfahrenden Bedeutungsanreicherung des Gefühls, worin die ihm eigentümliche Grundbeziehung für es selbst zu mentaler Präsenz gelangt.62 Fragen wir, was mit der Überleitung zur religiösen Dimension des Gefühls für den wissenstheoretischen Gedankengang argumentativ gewonnen ist, dann drängt sich eine eher negative Antwort auf. Der transzendentale Gedankengang wird durch sie weder bereichert noch gestützt. Die Prinzipienreflexion findet im Aufweis der Erscheinungsrelation zwischen Gefühl und Absolutem und mit der Hypothese des Mitgesetztseins des Absoluten in der Vereinigungsfunktion des Gefühls ihre obere Grenze und wird durch die religiöse Selbstinterpretation dieses Gefühls nicht darüber hinausgeführt.63
letzte Grund aller endlichen Korrespondenzverhältnisse zwischen Ideellem und Reellem »außer unserer Selbstthätigkeit gesezt ist« (A I, 305 = J 475). 61 Der in CG2 § 4 exponierte Begriff des absoluten Grundes als Woher schlechthinniger Abhängigkeit wird nicht einheitstheoretisch gewonnen und enthält nur implizit das Merkmal absoluter Einheit. Letzteres wird aber bereits in der Entfaltung des Monotheismus als höchster Stufe der Religion CG2 § 8 als Kriterium wahrer Absolutheit positiv in Anspruch genommen. Insofern zehren diese Ausführungen unausgesprochen von den einheitstheoretischen Ergebnissen des philosophischen Letztbegründungsdenkens der Dialektik. 62 Die Artikulation der religiösen Seite des Gefühls am Orte dieses Gefühls selbst wird man somit nicht ohne die Voraussetzung von Deutungsoperationen erklären können. Damit ergäbe sich für die ›Dialektik‹ ein ganz ähnlicher Befund wie in der Glaubenslehre. Auch dort veranschlagt Schleiermacher schon im religiösen Gefühl selbst gewisse Deutungsleistungen, die über dessen Rezeptivität weit hinausgehen. Ich denke hierbei nicht an die sekundäre Überführung des Wohers schlechthinniger Abhängigkeit in die Gottesvorstellung durch den Eintritt der Reflexion auf den ursprünglichen Gefühlsgehalt oder seine Versprachlichung (vgl. CG1 § 9 Zus.; Marg. 77. 121; CG2 § 4.4), sondern an diejenige Operation, die Schleiermacher dem Gefühl selbst zurechnet. Er subsumiert sie unter den epistemologisch nicht näher erläuterten Begriff »zurückschieben« (CG2 I, 24. 30; vgl. auch 32) bzw. »Zurükschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursache« (CG1 I, 31). Dieses Zurückschieben kann dem Gefühl schwerlich in seiner Eigenschaft als Zustandsbewußtsein eignen. Das aber würde besagen, daß die mentale Struktur des religiösen Gefühls selber bereits unter der Polarität von Erleben und Deuten steht (vgl. v. Verf.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 456 ff.). Für die ›Dialektik‹ würde dementsprechend folgen: Im Übergang vom psychologischen und transzendentalen zum religiösen Gefühl vollzieht sich eine Selbstdeutung des Gefühls. 63 Besonders treffend hat Schleiermacher diesen Punkt in der Vorlesung 1818/19 erläutert: Der Spekulative »wird durch die Religion an und für sich gar nicht weiter
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Dieses Ergebnis ist in gewisser Weise nicht überraschend. Es entspricht ganz der berühmten Selbstcharakteristik, die Schleiermacher im großen Jacobi-Brief gegeben hat, wo er seine Sicht des Verhältnisses von Verstand und Gefühl mit den polaren Elektroden einer galvanischen Säule verglich.64 Beeindruckend freilich ist, daß er jene Arbeitsteilung bis in den innersten Bezirk der transzendentalen Gefühlstheorie konsequent durchhielt, also bis dorthin, wo sich jene beiden Instanzen am engsten berühren. Der Auftritt des religiösen Gefühls hat für den Letztbegründungsgang der ›Dialektik‹ keine Begründungsfunktion. Das Umgekehrte gilt freilich auch. Letztbegründung kann Frömmigkeit nicht ersetzen und sie auch nicht auf den Weg bringen. Transzendentalphilosophie und Religion verkörpern viel zu unterschiedliche Geistesformen, als daß sie sich unmittelbar füreinander instrumentalisieren ließen. Indirekt können sie freilich einander stabilisieren. Schleiermachers Zuordnung von Transzendentalphilosophie und Religion verkörpert sowohl in der Gesamtanlage wie im Detail ein echtes Kompatibilitätsmodell. Eine dritte Position, die nicht die Verlängerung der einen oder anderen wäre, gibt es nicht. Die ›Dialektik‹ begnügt sich aus guten Gründen mit dem, was man heute wechselseitige Anschlußrationalität nennt. Aufgeklärter Protestantismus zielt nicht auf eine Globalfunktion von Religion, sondern auf deren partikulare Verortung, aber eine solche, die sich nach allen Dimensionen der Kultur als theoretisch und praktisch anschlußfähig erweist. Der Erweis der Vernunft der Religion hat nichts zu tun mit theologischer Heteronomisierung von Philosophie und Wissenschaft.
befördert in seiner Philosophie. Er braucht die Religion als Mensch; für seine Zwecke als Philosoph braucht er nichts weiter, als die Voraussetzung des höchsten Wesens. Er kann zeigen, daß diese Voraussetzung nothwendig ist zum Wissen, […] das Bewußtsein Gottes im Selbstbewußtsein bringt ihn im Geschäft der Speculation nicht ein Haar breit weiter« (A II, 242). – Diese säuberliche Trennung von Philosophie und Religion setzt freilich ein kulturelles Milieu voraus, das noch dafür aufnahmewillig ist, daß der Gottesgedanke zu den selbstverständlichen Themen der Philosophie gehört. Nur unter einer solchen wissenssoziologischen Prämisse wird auch umgekehrt nachvollziehbar, daß Schleiermacher den »ursprünglichen Gottesgedanken« ganz aus der religiösen Dogmatik verbannt wissen will und ihn dem »Gebiet der Spekulation« zuweist (Sendschreiben an Lücke. Hrsg. v. Hermann Mulert. Gießen 1908, 64). 64 Vgl. Aus Schleiermachers Leben, Band 2, 345.
Peter Grove System und Subjektivität nach Schleiermachers Dialektik Das Folgende sucht Ulrich Barths ebenso tiefschürfende wie aufschlußreiche Rekonstruktion der Dialektik Schleiermachers1 in zwei Hinsichten zu ergänzen. Der erste Teil bezieht Schleiermachers dialektische Inanspruchnahme des Systemgedankens, der von Barth im Sinne einer regulativen Idee als Zielbegriff der Wissenstheorie der Dialektik identifiziert wird, auf die Zeit um 1800 zurück. Dieser Teil greift den vielleicht befremdlich anmutenden Gedanken der spezifischen ›Neigung der Philosophie zum System‹ aus Schleiermachers Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 auf, um dieses Motiv vom Ansatz der 1811–33 vorgelegten Dialektik her zu verfolgen. Der zweite Teil handelt von etwas, das als eine entfernte Voraussetzung dieser Neigung betrachtet werden kann und zugleich auch von demjenigen, das das Innovative in Barths Beitrag zur Dialektik ausmacht: nämlich sein Vorschlag zur Interpretation ihres Begriffs des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewußtseins als Bewußtsein unbestimmter mentaler Agilität.
1. Die ›Neigung der Philosophie zum System‹ In den Reden überwiegt ein kritischer Umgang mit dem Systembegriff. Vor allem im Hinblick auf die Religion grenzt sich Schleiermacher wiederholt von der »Systemsucht« und vom »Princip des Systemwesens« ab.2 Auch mit Bezug auf die Philosophie hebt er die nur sekundäre Stellung des Systemgedankens hervor. So führt der Redner in der ersten Rede mit Berufung auf das philosophische Interesse seiner Zuhörer aus: »Würdet Ihr nicht dem, welcher die Verfertiger dieser großen Körper von Philoso1
Ulrich Barth: Wissen – System – Gefühl. Die subjektivitätstheoretischen Grundlagen von Schleiermachers Erkenntnistheorie, in diesem Band. Im folgenden zitiert als »Barth, Wissen«, mit Angabe der Seitenzahl. 2 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Hans-Joachim Birkner u. a. Berlin/New York 1980 ff. Im folgenden zitiert als »KGA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. I, Band 2 (1984), 185–326, hier 217. 301.
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phie für die Philosophen selbst hielt, und in ihnen den Geist der Wißenschaft finden wollte, belehrend zurufen: Nicht also guter Freund!«3 Daß das Philosophieren zugleich eine wesentliche Beziehung zum Systemgedanken hat, und daß sich Schleiermacher nicht nur ablehnend zu diesem verhält, kommt bei ihm aber auch zum Ausdruck. Er, der wie auch von Barth erwähnt, bis zu dieser Zeit selbst die Philosophie als sein Hauptinteresse ansah, behauptet nämlich weiter, daß die Religion »sich ihrem ganzen Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Philosophie sich von Natur dazu hinneigt«.4 Schon hier zeichnet sich also ab, daß man Schleiermacher nicht einfach nur als Kritiker des Systemgedankens darstellen kann. In seinen auf die Reden folgenden Schriften wird noch deutlicher, daß er mit der Philosophie von Kant bis Hegel darin durchaus einig ist, daß es »eine unnachläßliche Foderung an jede Philosophie« ist, »ein System aller Erkenntnisse und ihres Zusammenhanges« aufzustellen.5 Wie Schleiermacher selbst versucht, die Forderung einzulösen, ist vor allem seinen Entwürfen zur Philosophischen Ethik zu entnehmen.6 Im folgenden sollen einige Aspekte seiner Fassung des Systemgedankens untersucht werden, mit denen Schleiermacher deutlich von der Hauptlinie des nachkantischen Idealismus abweicht. Die Untersuchung knüpft an jenen Satz über die Philosophie in den Reden an. Beim poetisch-rhetorischen Stil der Reden erscheint die Wendung, daß die Philosophie sich zum Systematischen hinneigt, vielleicht zufällig und ohne besondere Bedeutung. Der Eindruck von philosophischer Unschuld, den die Reden auf einige Leser machen, täuscht jedoch, und – betrachtet man die Wendung in ihrem Kontext – so erscheint es als wahrscheinlich, daß die ›Neigung der Philosophie zum System‹ eine spezifisch metaphilosophische Figur darstellt und somit geeignet ist, Schleiermachers Stellung zum Systemgedanken zu beleuchten. Das könnte von der frühromantischen Philosophie her, insbesondere 3
KGA I/2, 200 f. A. a. O., 201. Die Reden definieren ein System durch »Totalität« und »Einheit in der Vielheit« (a. a. O., 245) und – wiederum kritischer – durch ›vollendete Beschränkung‹: »den Begriff von etwas Unendlichem seid Ihr nicht gewohnt mit dem Ausdruk System zu verbinden, sondern den von etwas Beschränktem und in seiner Beschränkung Vollendetem« (a. a. O., 215). 5 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Rezension von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: ›Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‹. Tübingen 1803, in: KGA I/4 (2002), 461–484, hier 464 f. 6 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: ders.: Werke. Auswahl in vier Bänden. Hrsg. v. Otto Braun u. Johannes Bauer. Leipzig 21927–28, hier Band 2 (1928). 4
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derjenigen Friedrich Schlegels, untermauert werden, in der Parallelen zu allen im folgenden erörterten Gedanken nachgewiesen werden können.7 In dem vorliegenden Aufsatz soll es um denjenigen Kontext innerhalb des Schleiermacherschen Werkes gehen, den seine eigenen Entwürfe zur Dialektik darstellen.8 Von hier aus soll entfaltet werden, was der betreffende Gedanke vom Systemdrang der Philosophie impliziert. Dafür daß sich im Diktum aus der ersten Rede tatsächlich eine These über die Philosophie versteckt, spricht schon eine Aussage aus der zweiten Rede. Im Zusammenhang einer Polemik gegen solche, die die Religion »mit Philosophie überschwemmen und sie in die Feßeln eines Systems schlagen wollen«, wird die Philosophie auf eine Weise gekennzeichnet, die dem erwähnten Diktum nahe kommt: »Die Philosophie wohl strebt diejenigen, welche wißen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wißen zu bringen.«9 Zugleich scheint dies dem Ansatz der Dialektik vorzugreifen. Jedenfalls werden ähnliche Begriffe von der Philosophie als Streben und ›Wissenwollen‹ dort dann ganz bewußt und betont verwendet. Schleiermacher, der Dialektik als »Principien der Kunst zu philosophiren« definiert,10 führt in der Einleitung in diese Disziplin den Begriff der Philosophie ein – und mit ihm das Projekt der Dialektik überhaupt –, indem er die Abhängigkeit allen Wissens von der Philosophie behauptet: Jede einzelne Erkenntnis, ob selbst entdeckt oder traditionell erworben, ist als solche oberflächlich und zusammenhangslos: »Alles was ohne Philosophie von einem Gegenstande gewußt wird, ist auf eine äußerliche Weise entstanden; das ist das Verworrene, was bleiben muß da, wohin die Philosophie nicht kommt, daß das Wesen eines Gegenstandes und seine Relation zu andern [Gegenständen]« – genauer: »die Totalität aller seiner Relationen zu den übrigen Gegenständen« – »nicht Eins und dasselbe ist.«11 Dementsprechend kann Schleiermacher das Philosophieren als Suchen nach einem allgemeinen Zusammenhang oder nach einem System bestimmen.12 Wie wir sehen werden, kommt darin deutlicher als 7
Siehe v. Verf.: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion. Berlin/New York 2004, 157–248. 436–456. Im folgenden zitiert als »Verf., Deutungen«, mit Angabe der Seitenzahl. 8 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, in: KGA II/10. 1–2 (2002); ders.: Dialektik, in: ders.: Sämmtliche Werke. Berlin 1834 ff. Im folgenden zitiert als »SW«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. III, Band 4.2 (1839). 9 KGA I/2, 217. 10 KGA II/10. 1, 77 § 17. 11 KGA II/10. 2, 103 f.; vgl. KGA II/10.1, 75 f. §§ 3 ff. 12 Vgl. KGA II/10. 1, 75 § 4; II/10. 2, 107 mit a. a. O., 105.
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in den Reden zum Ausdruck, wie er dem Systemgedanken beipflichtet, und zugleich, wie er diesen Gedanken ohne ›die metaphysische Anmaßung‹ der neueren Philosophie einsetzen will.13 Auf jene Leistung der Philosophie für das Wissen zielt die Hervorhebung der Prinzipien des Wissens in der Dialektikdefinition. Diese werden von Schleiermacher als Grund des Zusammenhangs zwischen Denken und Sein und als Regeln der Verknüpfung des Denkens spezifiziert.14 Dialektik ist Kunst als Einbilden dieser Prinzipien in die realen Denkakte,15 als regelgeleitete Hervorbringung des Wissens. Daß Dialektik Kunstlehre ist, heißt, daß sie Anweisungen zur gemeinsamen Produktion von realem Wissen ermittelt. Dem entspricht, daß ihr zunächst eine gewisse Offenheit in bezug auf ihren Ausgangspunkt zueigen ist: Die Dialektik hat keinen unvermittelten Anfang, sondern setzt eine Art Wissen von ihrem Thema voraus, sie knüpft an ein vordialektisches Denken an und ist nur eine Weiterentwicklung desselben. Auf den Begriff der Dialektik als Kunst bezogen bedeutet dies: Die kunstmäßige Hervorbringung von Wissen setzt kunstlos entstandenes Wissen voraus,16 und die Regeln, nach denen in beiden Fällen verfahren wird, fallen ihrem Gehalt nach letztlich zusammen: »Was wir als Kunstregel suchen muß auch Naturgesez sein.«17 Dies wird mithilfe von Begriffen artikuliert, die als Pendants zu jenen Begriffen der Neigung und des Strebens in den Reden betrachtet werden können. Schleiermacher behauptet, daß die Prinzipien des Wissens schon im gemeinen Wissen wirksam sind. Sie sind dies als eine Kraft »unter der Form der Thätigkeit«, als »ein bewußtloses agens«, das sich seiner bewußt werden kann,18 was durch die philosophische Reflexion der Dialektik erfolgt. Zur Bestätigung dieser These weist Schleiermacher auf die »Neigung zum Raisonniren« hin als »allgemein menschliche Tendenz«, als Anlage zur Philosophie.19 Ähnliche Tendenzen oder Triebe werden andernorts in der Einleitung aufgegriffen. Das ist der Fall bei der Darstellung der Philosophie als einer Suche nach dem allgemeinen Zusammenhang. Ein weiteres Beispiel ist der »Trieb zu wissen« oder »der philosophische Trieb« als der Trieb, »ein System des höhern Wissens hervorzubringen«.20 13 14 15 16 17 18 19 20
KGA II/10. 1, 224. A. a. O., 76 § 13. A. a. O., 78 § 24. A. a. O., 83 § 55. SW III/4. 2, 24 Anm. KGA II/10. 2, 10; II/10. 1, 86 § 64. KGA II/10. 1, 86 § 67; II/10. 2, 133. SW III/4. 2, 12 Anm. *; KGA II/10. 2, 113.
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Zu diesen Begriffen kommt noch ein Begriff, der ebenso den Zusammenhang zwischen allgemeinmenschlichem und philosophischem Denken erhellt: der Begriff des ›Wissenwollens‹, der wohl auch schon in der letztzitierten Stelle aus den Reden anklingt. Das Wissenwollen wird in der Dialektik als »Richtung auf das Wissen« eingeführt und ist also mit dem Suchen nach dem allgemeinen Zusammenhang oder mit dem philosophischen Trieb identisch.21 Als Ausdruck dessen, »daß schon immer in der Richtung auf das Wissen ist gedacht worden«,22 wird das Wissenwollen zur Voraussetzung des dialektischen Denkens gemacht. Einen entsprechenden Anfang der Philosophie nimmt Friedrich Schlegel an, der dafür neben Ausdrücken wie ›unendlicher Wissenstrieb‹ und ›logischer Enthusiasmus‹ die Wendung ›wissen wollen‹ und oft auch ›alles wissen wollen‹ gebraucht.23 Dialektik als Kunstlehre des Wissens ist nicht die einzig mögliche Form des Philosophierens. Die andere Form, die Schleiermacher in Betracht zieht, ist die Philosophie als Wissenschaft, als Wissen des Wissens oder als System.24 Daß seine Dialektik nicht beansprucht, Wissen des Wissens zu sein, heißt nicht, wie schon deutlich wurde, daß sie keinen reflexiven Bezug auf das Wissen darstellt. Dagegen ist gemeint, daß Dialektik kein eigentliches Wissen des Wissens ist. Die Wendung ist nämlich von Schleiermachers Wissensdefinition her zu verstehen, welche er zwar erst am Anfang des transzendentalen Teils der Dialektik vorlegt, welcher jedoch 21
KGA II/10. 1, 395, vgl. KGA II/10. 2, 728. 730. KGA II/10. 1, 400. 23 Mit der wichtigen zweiten Beilage der Philosophischen Lehrjahre Schlegels: »Bei der Untersuchung, was vorausgesetzt werden darf, darf ich gar nichts voraussetzen als das Denken selbst. – ›Ich will alles wissen wo möglich; wo nicht, so viel ich kann und auch warum ich nicht mehr wissen kann – ;‹ – das ist der Punkt, von dem jeder ausgeht. Schon daraus läßt sich die Folgerung ziehen, daß ich nicht von einem besondern gegebenen Gegenstande ausgehen darf, wie bei allen besondern Wissenschaften auch den praktischen. Jeder Gegenstand ist ein besonderer. Dieß würde aber nur eine besondere Wissenschaft geben, nicht Wissenschaftslehre. Der unbestimmte Wissenstrieb – um seiner selbst willen – ist also der Grund und elastische Punkt der Wissenschaftslehre. Nur reden viele mit ohne Geist, ohne jenen göttlichen Trieb. Diesen muß man zeigen, daß sie nicht wissen, was sie wollen, und unternehmen was sie nicht können. Andre brauchen die Wissenschaft nur als Mittel; diesen muß man zeigen, daß sie nicht wollen, was sie (durch die That) vorgeben« (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Paderborn/Zürich 1958 ff.; Band 18, 517–521, hier 519 Nr. 19). Wie Naschert gezeigt hat, geht es bei diesem praktischen Moment als Anfang der Philosophie um eine Transformation der Fichteschen Tathandlung (Guido Naschert: Friedrich Schlegel über Wechselerweis und Ironie (Teil 1), in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 6 (1996), 47–90, hier 63–71). 24 KGA II/10. 1, 77 f. §§ 18 ff.; KGA II/10. 2, 111–118; II/10. 1, 372 f. 22
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schon in der Einleitung vorgegriffen wird.25 Nach dieser Definition ist Wissen ein Denken, das durch Identität der Produktion und durch Setzung der Übereinstimmung mit dem Sein gekennzeichnet ist.26 Durch die Konzeption der Philosophie als Dialektik weicht Schleiermacher also dem Versuch aus, die Philosophie »allgemein geltend« zu machen. Damit distanziert er sich von der zuerst von Reinhold formulierten Ambition einer allen Streit beendenden Philosophie, ebenso wie er die monistische Grundsatzphilosophie als eine Variante der Konzeption der Philosophie als Wissenschaft kritisiert.27 Schleiermacher beruft sich darauf, daß die Konzeption der Philosophie als Kunstlehre anders als die als Wissenschaft dem Faktum der Mannigfaltigkeit von Systemen Rechnung zu tragen vermag.28 Dies beinhaltet die ausdrückliche Anerkennung der Individualität jedes philosophischen Systems. Weiter grenzt sich Schleiermacher mit Fichte als Hauptadressat von denjenigen ab, welche behaupten, »es gebe kein Werden des Wissens«, und »eine fertige Metaphysik als System vortragen«. Er verweist gegenüber diesen darauf, daß es »kein vollkomenes Wissen« gebe.29 So schließt die Konzeption der Philosophie als Dialektik den Gedanken einer unendlichen Annäherung an das vollendete System oder an die Philosophie als Wissenschaft ein.30 Mit Barths Worten bleibt das vollendete System eine Abschlußidee oder ein theoretischer Zielbegriff.31 Dies ist nun ebenso im Motiv des Philosophierens als eines Suchens nach dem allgemeinen Zusammenhang enthalten. Zugleich liegt darin und im Annäherungsgedanken beschlossen, daß die Beziehung zwischen Dialektik und Wissenschaft, Kunst und System nicht als ein sich ausschließender Gegensatz verstanden wird. 2. Das Bewußtsein mentaler Agilität Wie schon angedeutet bin ich mit Ulrich Barths Rekonstruktion der Dialektik weitgehend einverstanden. Das betrifft die Bestimmung sowohl ihrer Stellung als auch ihrer Lösung des transzendentalen Problems einschließlich der Bestimmung der Funktion des Gefühls oder des unmit25 26 27 28 29 30 31
Vgl. KGA II/10. 1, 77 § 21; II/10. 2, 115 f. KGA II/10. 1, 90 § 87. A. a. O., 400 f. 416–418, hier 401. A. a. O., 77–79 §§ 21 ff. §§ 28 ff.; 82 f. § 54. A. a. O., 281 f. A. a. O., 78 §§ 28. 30. Barth, Wissen, 317.
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telbaren Selbstbewußtseins als Ort und Bedingung des Überganges zwischen Denken und Wollen und als Analogie mit dem Absoluten. Meine Zustimmung gilt ebenso Barths Hinweisen zur Struktur der Subjektivität, auf welcher jene Funktionen des Gefühls beruhen. Diese Hinweise, die sich auf die für den transzendentalen Begründungsgang entscheidende Argumentation gegen Ende des ersten Hauptteils der Dialektik beziehen, sollen im folgenden kommentiert werden. Die Subjektivität als Selbstbewußtsein und Gefühl wird von Schleiermacher an vielen Stellen seines Werkes behandelt. Neben der Dialektik sind unter seinen philosophischen und theologischen Disziplinen die Philosophische Ethik und vor allem die Einleitung in die Glaubenslehre hervorzuheben.32 Es ist zu bemerken, dass der Begriff der Subjektivität jedoch oft sehr knapp und in den jeweiligen Haupttexten auf unterschiedliche Weise erörtert wird, obgleich der Wortlaut ganz ähnlich sein kann. Daraus ergeben sich zwei elementare methodische Forderungen: Man muß jede Argumentation von ihrem engeren systematischen Kontext her erschließen und sollte dann zum Beispiel die Dialektik nicht von der Glaubenslehre her interpretieren. Sodann muß das so Gewonnene mit dem Befund der anderen Disziplinen zusammengebracht werden. Barth, der beide Forderungen anerkennt, bemüht sich natürlich darum, die erste zu erfüllen. Ich möchte nun vor allem den Aspekt der zweiten Forderung ergänzen. Völlig zu Recht sieht Barth Schleiermachers subjektivitätstheoretische Hauptthese darin, daß Gefühl und Selbstbewußtsein33 nicht in Orientierung »am Paradigma des Gegenstandsbewußtseins« verstanden werden können,34 eine These, deren Kritik nach Barth nicht nur Descartes und Kant, sondern auch Fichte trifft; letzteres wäre meines Erachtens allerdings näher zu erörtern.35 32
Besonders Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. (21830/31), in: KGA I/13. 1 (2003), 19–53 §§ 3–5. 33 Mit Schleiermachers Notizen zur Dialektik 1822 unterscheidet Barth diese nicht. So weit ich sehe, entspricht Barths Unterscheidung von struktureller Bedingung und realem Ort des Übergangs der in den Nachschriften von 1822 gemachten Unterscheidung zwischen dem Selbstbewußtsein als zeitlos und dem Gefühl als zeitlich bestimmt (KGA II/10. 2, 565. 569). 34 Barth, Wissen, 324. 35 Die Behauptung: »Das Ich findet sich ursprünglich wollend«, und damit die praktische Variante des objektiven Bewußtseins stehen, so weit ich sehe, nicht als Prinzip an der Spitze der Sittenlehre und der Philosophie Fichtes (so Barth, Wissen, 331). Die Behauptung setzt ein unmittelbares Selbstbewußtsein voraus; siehe dazu
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Die konzeptionelle Abgrenzung der Subjektivität vom Gegenstandsbewußtsein betrifft zuerst die sogenannte ›Unmittelbarkeit des Gefühls‹. Das Interpretationsproblem, das diese darstellt, war in der Forschung lange sehr umstritten. Es kann jedoch als vor zwanzig Jahren von keinem anderen als von Barth selbst gelöst betrachtet werden:36 Die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins besteht in einer ungegenständlichen Weise des Bewußtseins, genauer in einem Selbstbezug, der »Unterscheidung und Beziehung, aber keine Vergegenständlichung des Unterschiedenen und Bezogenen« enthält und der somit eine ›ungegenständliche Reflexivität‹ ausmacht.37 Entscheidend neu ist nun das, was Barth zur Rede von ›unserem Sein als setzend‹ sagt, welche sich in Schleiermachers Notizen von 1822 und nur dort findet. Um die entscheidende Passage zu wiederholen: »Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. […] Aber unser Sein ist das sezende und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl«.38 Es ist unhaltbar, mit Falk Wagners Beitrag – der überhaupt wichtigsten Arbeit zur Dialektik vor der von Ulrich Barth – ›unser Sein als setzend‹ auf einer Linie mit dem Gedanken des Sich-Setzens des Ichs bei Fichte zu rekonstruieren.39 Schleiermachers Notiz spricht zuerst von einem nach außen gerichteten Setzen theoretischer und praktischer Art. Im folgenden Satz wird zwar von der Beziehung auf die Objekte abgesehen, dadurch wird aber aus dem Setzen kein Sich-Setzen. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff des praktischen Selbstbewußtseins, in: Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen. Hrsg. v. Wolfram Hogrebe. Frankfurt a. M. 1995, 71–95. – Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern schließt auch nach Barth nicht aus, daß Schleiermacher Gedankenfiguren von diesen modifizierend weiterführt, wie beim Gedanken vom Gefühl als die Momente des Denkens und Wollens »begleitend« (KGA II/10. 1, 266) in bezug auf Kant ersichtlich wird (siehe Barth, Wissen, 332). Meines Erachtens findet wahrscheinlich ebenso bei Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins eine modifizierende Anknüpfung an Fichte statt; siehe Verf., Deutungen, 480–485. 526–528. 36 Ulrich Barth: Gott – Die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher, in: Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs. Hrsg. v. Joachim Ringleben. Berlin/New York 1991, 98–157, hier 126–128, vgl. Verf., Deutungen, 514–521. 37 Barth, Wissen, 330. 38 KGA II/10. 1, 266. Die Nachschriften gebrauchen statt der betreffenden Wendung den Ausdruck »das wirkliche Sein«, »unser reines Sein« (KGA II/10. 2, 568 f.). 39 Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation. Gütersloh 1974, besonders 141–146.
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Barths Alternativinterpretation läuft darauf hinaus, daß der Gefühlsbegriff der Dialektik »das Zustandsbewußtsein eigener unbestimmter Bewußtseinsagilität, also das Innesein mentaler Lebendigkeit überhaupt« bezeichnet.40 Hierzu soll erstens bemerkt werden, wie das bloße Setzen von Barth interpretiert wird, nämlich sehr treffend als eine »Bewußtseinsaktivität, die noch jeglicher Hinwendung auf etwas und aller Differenzierung solcher Intentionalität vorausliegt«.41 Zu den Aussagen, auf die Barth für die betreffende Agilität verweist, könnten weitere hinzugefügt werden, die alle am Anfang des zweiten, technischen oder formalen Hauptteils der Dialektik ihren Ort haben.42 Daß sie gerade hier stehen, erscheint insbesondere in bezug auf die Dialektik von 1822 sinnvoll: Schleiermacher greift hier mit dem Begriff der Agilität nämlich ein gegen Ende des ersten Teils erreichtes Ergebnis auf: den Gedanken von unserem reinen Sein und Setzen. Dies ist zugleich auch in anderer Hinsicht interessant: Der zweite Teil der Dialektik soll ja das Werden des Wissens analysieren. Dazu nimmt er aus der Einleitung das philosophische Streben oder Wissenwollen oder mit anderen Worten »die Idee des Wissens als treibende Kraft«43 wieder auf und zwar so, daß das Wissenwollen auf die unbestimmte Agilität des Bewußtseins und damit sachlich auch auf das bloße Setzen zurückbezogen wird.44 In diesem Zusammenhang ist auch eine Aussage aus den subjektivitätstheoretischen Bestimmungen der Glaubenslehre relevant, die Barth aus methodischen Gründen unerwähnt läßt. Wenn wir uns »das Zusammensein mit anderem« wegdenken, heißt es hier, könnte unser Selbstbewußtsein »nur Selbstthätigkeit aussagen, welche aber auch, auf keinen Gegenstand bezogen, nur ein Hervortretenwollen, eine unbestimmte Agilität ohne Gestalt und Farbe wäre«.45 Der zweite zu bemerkende Punkt in Barths Interpretationsvorschlag ist etwas kontroverser: Das bloße Setzen ist nämlich nach Barth auch das, worauf sich das Selbstbewußtsein als solches bezieht. Dies ist also unge-
40
Barth, Wissen, 328. 327 f. 42 KGA II/10. 1, 154 f. 273. 339; II/10. 2, 259–261. 587 f. 747. 43 KGA II/10. 1, 155 § 1. 44 Schleiermacher scheint das Wissenwollen etc. und die reine Agilität gleichzustellen (siehe besonders KGA II/10. 2, 260), die Vorlesung von 1822 akzentuiert jedoch mit dem Begriff des ›Denkenwollens‹, der von den Voraussetzungen der Dialektik her auf etwas Elementareres gehen muß, anders: »Das Denkenwollen ist eine permanente, aber unbestimmte Agilität des Geistes« (a. a. O., 588). 45 KGA I/13. 1, 34. 41
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genständliches Bewußtsein eigener mentaler Lebendigkeit diesseits jeder Objektbeziehung. Zwar ist diesbezüglich der Text bei Schleiermacher nicht eindeutig. Dennoch scheint mir aber auch diese Interpretation Barths überzeugend zu sein. Es wäre jedoch zu fragen, da die Textbasis hier nicht eindeutig und zudem auch sehr schmal ist, ob die Interpretation in irgendeiner Weise durch Texte außerhalb der Dialektik bestätigt werden könnte. Auf den ersten Blick scheinen die Glaubenslehre und die Philosophische Ethik dazu nicht viel herzugeben; dies wäre jedoch näher zu untersuchen. Relevant für eine solche Untersuchung könnte sich zum Beispiel der Begriff des Freiheitsgefühls in der Glaubenslehre erweisen.46 Für unseren Zusammenhang sollen jedoch einige Ausführungen Schleiermachers zur Ästhetik von 1832–33 herangezogen werden. Schleiermachers Ästhetik verdient meines Erachtens in psychologisch-subjektivitätstheoretischer Hinsicht überhaupt mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher die Forschung zuteil werden ließ. Die entsprechende Textgrundlage der Ästhetik beruht leider nur auf einer Kompilation von Nachschriften, die zumindest aber fragmentarische Entsprechungen in Schleiermachers eigenen Notizen hat.47 Ich sehe im folgenden von dem ästhetischen Kontext ab und hebe allein solche Begriffe hervor, die uns aus der Dialektik bekannt sind, die in der Ästhetik aber anders akzentuiert werden und funktionieren.48 Beide Disziplinen auf solche Weise zusammenzustellen, hat eine gewisse Vorlage bei Schleiermacher selbst, insofern dieser – vor allem in den Dialektiktexten, die gleichzeitig mit der einbezogenen Ästhetikvorlesung entstanden sind – zwischen derjenigen Tätigkeit, auf die sich die Dialektik bezieht, und der freien Tätigkeit des künstlerischen Denkens nicht nur unterscheidet, sondern auch Analogien und Zusammenhänge zwischen beiden feststellt.49
46
Siehe besonders a. a. O., 32–38. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Aesthetik, in: SW III/7 (1842), 66–86, vgl. ders.: Ästhetik. Hrsg. v. Rudolf Odebrecht. Berlin/Leipzig 1931, 289 f. Im folgenden zitiert als »Schleiermacher, Ästhetik«, mit Angabe der Seitenzahl. 48 Vgl. Schleiermacher, Ästhetik, 289: »Gegensaz des Universellen und Individuellen. Man kann nicht Dialektik und Aesthetik hierin verwechseln. Kunstsinn individuell.« Zum methodischen Status des im betreffenden Abschnitt Entwickelten siehe SW III/7, 81: Es geht um Sätze »aus der Psychologie; aber nur als klare und bestimmte Aufstellungen aus dem Gebiete der Erfahrung, und nicht also in streitigen Punkten dieser Wissenschaft beharrend«. Dem der Psychologie Entlehnten gehen Sätze aus der philosophischen Ethik voraus, durch die eine Verortung der Kunsttätigkeit im Zusammenhang der menschlichen Tätigkeit als ganzer erfolgt (a. a. O., 47–66). 49 KGA II/10. 1, 367 f. 380 f. 420 f. 423; vgl. v. Verf.: Philosophie als Kunst. Das Theorieprogramm von Schleiermachers Dialektik, in: Protestantismus zwischen Aufklärung 47
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Die entscheidenden Begriffe sind vor allem der des unmittelbaren Selbstbewußtseins, – hier jedoch im Gegensatz zur Dialektik als individuell gefaßt –, und der der inneren Tätigkeit als ›reiner Produktivität‹, die nicht durch das äußere Sein bestimmt ist.50 Der Ansatz der Ästhetik bei dieser reinen Produktivität wird ebenso in der Dialektik skizziert, wobei der Begriff des Setzens wieder verwendet wird: Das künstlerische Denken verhält sich »als eine Negation des Gegenstandsezens« und kündigt »nie ein anderes als die vorstellende Thätigkeit selbst« an.51 Diese Tätigkeit wird in der Ästhetik auch als »die Agilität des einzelnen Lebens« bezeichnet.52 Wenn wir nach Schleiermacher aus der Perspektive der ästhetischen Problemstellung fragen, »was […] wir wohl in uns [finden], wovon wir […] sagen können, daß es eine immanente Thätigkeit ist, die aber rein der Ausdrukk unseres individuellen einzelnen Daseins ist«, so werden wir Schleiermacher zufolge »gleich auf einen Punkt kommen, den Jeder zugeben muß, nämlich auf das, was wir das unmittelbare Selbstbewußtsein nennen«.53 Es wird hier von Schleiermacher jedoch sofort hinzugefügt, daß es nicht ganz angemessen sei, so von einem Finden und von einem Gegebenen zu reden, weil das betreffende Selbstbewußtsein dann bloße Passivität wäre.54 Jeder werde aber zugeben, daß es beim Selbstbewußtsein um etwas Geistiges gehe, und damit auch die Tätigkeit zugeben, denn der Geist ist »durchaus lebendig und thätig«.55 Eine weitere Erwägung ist in bezug auf unsere Fragestellung besonders einschlägig: Als rein geistig ist die Tätigkeit »ein ununterbrochener Fortschritt« ohne unmittelbares Selbstbewußtsein. Aber die Tätigkeit wird aufgehalten, gehemmt, und so erhalten wir »ein Bewußtsein dieser Thätigkeit in ihrer Hemmung, aber immer nur der Thätigkeit. Auf der anderen Seite müssen wir es selbst hemmen, um zum Bewußtsein darüber zu kommen.«56
und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth. Hrsg. v. Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener und Arnulf von Scheliha. Frankfurt a. M. 2005, 113–130. 50 Schleiermacher, Ästhetik, 289, vgl. SW III/7, 77. 85. 51 KGA II/10. 1, 419. 52 SW III/7, 71. 53 A. a. O., 66 f. 54 A. a. O., 68 f. 55 A. a. O., 67. 56 A. a. O., 73. Im Anschluß hieran behandelt Schleiermacher das religiöse »sich über allen Gegensaz erhebende geistige Selbstbewußtsein, worin das Absolute enthalten ist« (a. a. O., 74), das mit »dem Höchsten« konvergiert, »welches wir voraussezen müssen in der spekulativen Richtung des Denkens« (a. a. O., 76), die bei Schleiermacher in der Dialektik entfaltet wird. Im ästhetischen Zusammenhang ist es die urbildende Besinnung, die die Hemmung leistet (vgl. a. a. O., 60 f.; Friedrich Daniel Ernst Schleier-
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Damit ist etwas angesprochen, das sich auf aufschlußreiche Weise mit der betreffenden Denkfigur aus Schleiermachers erkenntnistheoretischem Hauptwerk vergleichen läßt. Ohne die Ähnlichkeiten im einzelnen überzuinterpretieren, kann man hier in einem ganz anderen Sachzusammenhang eine strukturelle Parallele zum strittigen Punkt in der Dialektik feststellen. Somit lässt sich von der Ästhetik und von ihrem Gedanken des unmittelbaren Selbstbewußtseins als Bewußtsein der reinen Tätigkeit des Selbst her Barths Interpretation weiter untermauern.
macher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hrsg. v. Thomas Lehnerer. Hamburg 1984, 11. 163). Zum Hintergrund von Schleiermachers Begriff der Hemmung oder Selbsthemmung gehören Gedanken bei Fichte und bei Johann August Eberhard und anderen Psychologen der Spätaufklärung.
Violetta L. Waibel »Das oberste Princip – ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes«. Anmerkungen zu Hardenbergs Systemkritik Die Systemkritik der Frühromantik in der Gestalt Hardenbergs, bekanntlich auch ›Novalis‹ genannt, des ausgezeichneten Kenners der Kantischen Kritik, besonders der Kritik der reinen Vernunft, und der Fichteschen frühen Wissenschaftslehre mit ihren verschiedenen Schriften, ist nicht als eine radikale Ablehnung des Systemgedankens in der Philosophie zu verstehen, spricht er doch einem System der Systemlosigkeit das Wort, wie folgende Stelle aus der Fichte-Studie 648 zeigt: »Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht, seyn. Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und weder der Ungerechtigkeit, noch der Anarchie bezogen [bezichtigt] werden.«1 Die paradoxe Formel von der »Systemlosigkeit, in ein System gebracht«, hat offenkundig vor allem zum Ziel, »Fehler des Systems vermeiden« zu wollen. So ist zu fragen, was die Fehler sind, die es zu vermeiden gilt. Denn die gänzliche Systementhaltung scheint nicht zu sein, was Hardenberg anstrebt. Sie würde nach der obigen Textstelle des Juristen Hardenberg, der er durch sein Studium war, Ungerechtigkeit und Anarchie nach sich ziehen. Nicht nur hat Hardenberg eine Reihe von faszinierenden Systemmetaphern in den Fichte-Studien artikuliert und zum Teil auch reflektiert, den Entwurf auf ein Ganzes oder auf ein System hin thematisiert er viele Male
1
Friedrich von Hardenberg (Novalis): Fichte-Studien (1795/96), in: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Zweite nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, 6 in 7 Bänden, Stuttgart/Berlin/Köln 1960–1999, hier Band 2 (Text der Fichte-Studien 104–296, Einleitung von Hans Joachim Mähl, 29–103, Lesarten, 693–724, Anmerkungen 724–727). Die Fichte-Studien werden im folgenden zitiert als »FS«, mit Angabe der Nummer und der Seitenzahl; die Werke werden zitiert als »NS«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Hier Hardenberg, NS 2, FS 648, 288–289.
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in den Fichte-Studien.2 Wenige Jahre später wird er mit dem Allgemeinen Brouillon von 1798/99 ein Enzyklopädie-Projekt auf den Weg bringen, das ebensosehr Fragment bleibt, wie es ein Dokument umfassender und ambitionierter Pläne der Verschriftlichung von Philosophie und Wissenschaft nach Maßgabe einer enzyklopädischen Ganzheitlichkeit ist. Eine eigene Systemskizze und der Anfang zu einer Ausführung ist in der Fichte-Studie 11 zu finden, von einem eigentlichen und durchgeführten System von Hardenberg kann freilich nicht gesprochen werden. Seine Systemkonzeption und die damit einhergehende Systemkritik orientiert sich offenkundig sehr deutlich an Kants Kritik der reinen Vernunft, vermutlich auch an der Kritik der Urteilskraft, und an Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, sowie der Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Hardenbergs Kritik zielt auf eine Pluralität von Systemen ab und entschärft mit bemerkenswerten Überlegungen die Ansprüche der Konkurrenten auf die beste aller Philosophien. Der vorliegende Beitrag gliedert sich folgendermaßen: 1.) Ein erster Abschnitt thematisiert den systemtheoretischen Ausgang vom Subjekt. Hardenberg affirmiert zunächst den von Kant und Fichte vollzogenen Ausgang des Systems der Philosophie vom reinen Selbst, fragt aber nach der Tragweite des Ausgangs vom Ich. 2.) Sein, Natur, Ich oder Gott sind in ausgezeichneter Weise Instanzen für ein erstes Prinzip der Philosophie. Für Hardenberg kann eine Philosophie der Systeme ebensogut von der Natur, vom Ich oder von Gott ausgehen, es sind nur Hinsichten und Fragehorizonte, nicht aber letztgültige, unwiderrufliche Entscheidungen, mit welchem Prinzip man einen Anfang macht. 3.) Alles läßt sich zum bestimmenden Punkt erheben und alles kann systemgenerierend wirken, wenn damit eine zentrale Frage der Selbstverständigung philosophierender, religiöser, oder dichterischer Subjektivität auf den Weg gebracht ist. 4.) Die analytische und die synthetische Methode sind für Hardenberg eng verknüpft und fungieren als Wechselbestimmung, treten also in der Regel nicht einzeln als Methode auf. Sofern Philosophieren ein 2
Vgl. v. Verf.: Systematize Systemlessness. On the »Hieroglyphistic Power« of Subjectivity in Friedrich von Hardenberg’s ›Fichte-Studies‹. In: System and Context: Early romantic and Early Idealistic Constellations. Hrsg. v. Rolf Ahlers. New Athenaeum 7 (2004), 375–419. Ferner dies., »Filosofiren muß eine eigne Art von Denken seyn«. Zu Hardenbergs ›Fichte-Studien‹, in: System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen. Würzburg 2006, 59–90.
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Gang hinauf zum Prinzip oder hinab von ihm ist, geht damit Synthese und Analyse einher. Durch diese wechselseitige Bedingtheit wird die von Reinholds und Fichtes Kritikern gestellte Frage, ob die Analyse oder die Synthese ein besseres oder ein schlechteres Philosophieren sei, überflüssig. 5.) Bestimmungen sind immer auch Fixierungen, mit denen Einseitigkeiten verbunden sind. Ein Konzept, eine Bestimmung ist so notwendig für ein Handeln und für die Orientierung des Menschen, wie mit ihr zugleich Fixierungen und Einseitigkeiten generiert werden. Daher gilt es, einen steten Wechsel von Bestimmung und Nicht-Bestimmung, von Fixierung und Öffnung in den Blick zu bringen. 6.) Philosophieren ist ein Tun der Freiheit und der Kreativität. Ein tragfähiges System muß von der Freiheit ausgehen, Freiheit, Kreativität, Offenheit durch seine Binnenstruktur maximal zulassen können, um so stets ein Weg zur Freiheit zu sein und immer wieder zu werden.
1. Systemtheoretischer Ausgang vom Subjekt Hardenberg affirmiert zunächst die von Kant vorgenommene und von Fichte radikalisierte subjektivitätstheoretische Wende und den Ausgang von Philosophie und Erkenntnistheorie vom reinen Selbstbewußtsein als der Instanz aller Selbstzuschreibungen des Bewußtseins. Kants Konzeption vom Ich oder dem reinen Selbstbewußtsein als Instanz der Einheitsfunktion des Bewußtseins und als Idee findet manchen Widerhall in den Fichte-Studien. In der Fichte-Studie 75 legt Hardenberg fest: »Das Ich schlechthin ist eine Idee. Das analytische Ich ein Begriff, das synthetische Ich ein Gefühl.«3 Das Ich tritt hier in mehreren Instanzen auf, nämlich als Idee, als Gefühl und als Begriff. Das Ich, das Idee genannt zu werden verdient, ist das reine Ich, das auch als Ich schlechthin oder, mit Fichte, als absolutes Ich bezeichnet werden darf. Wie sich allerdings Thesis, Synthesis und Antithesis auf die Ich-Instanzen verteilen, darin scheint Hardenberg nicht ganz sicher gewesen zu sein. In der Fichte-Studie 161 ist nämlich zu lesen: »Synthese ist stets Idee. These ist Gefühl – Antithese, Reflexion. Idee kann nie Etwas – ein Wirckliches seyn – es ist ein Nothwendiges. Antith[ese] ist
3
FS 75, in: NS 2, 144.
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das Mögliche. Gefühl das Wirckliche. «4 Man könnte widersprüchliche Begriffsfestlegungen vermuten, wenn in der Fichte-Studie 75 das Ich als Gefühl eine Synthesis ist, während sich in der Fichte-Studie 161 das Ich als Idee als Synthesis wiederfindet und das Gefühl nun als Thesis bezeichnet wird. Doch es liegt in den beiden Fichte-Studien nicht zwingend ein Widerspruch vor, denn das Ich als Idee läßt sich in einem anderen Sinne als synthetisch verstehen als das Ich als Gefühl. Hardenberg ordnet ihnen verschiedene Modalitäten zu. Nur das Ich als Gefühl ist wirklich, nie aber das Ich als Idee, das als notwendiges gilt, weil es, wie hinzugefügt werden muß, Prinzip ist. Das Gefühl ist wirklich, weil mit seinem Auftritt das sich selbst Begreifen des Ich in Gang kommen kann oder auch nicht. Es macht jedenfalls die Urhandlung des Bewußtwerdens möglich. Das Ich, das Gefühl ist, muß sich nicht notwendig, aber es kann sich selbst begreifen wollen. Der Begriff des Ich ist deshalb ein bloß möglicher Begriff. Daß sowohl das Ich als Gefühl als auch das Ich als Idee in sachlich anderen Hinsichten jeweils eine synthetische Komplexität ausdrücken, ist leicht einzusehen. Freilich ist damit nicht gesagt, wie die Synthesis jeweils zustande kommt. So ist das Gefühl in dem Sinne thetisch, daß es eine Primärform darstellt, die im Bewußtsein auftritt und sich in ihm als Wirklichkeit zeigt. Folgt nun eine Reflexion, die dieses Gefühl näher zu bestimmen und zu untersuchen trachtet, so erweist sich das Gefühl als Erscheinung eines komplexen, analysierbaren Zusammenhangs, das im nachhinein synthetisch genannt werden darf. In dem Sinne ist denn auch das Ich, das begriffen ist, oder das Begriff ist, ein analytisches Ich, wie es sich in der Fichte-Studie 75 festgelegt findet. Freilich könnte hiergegen mit Kant kritisch eingewendet werden, daß jeder (oder nahezu jeder) Begriff eine Synthesis der in ihm begriffenen Mannigfaltigkeit von Vorstellungen darstellt, und nur für das Urteil, in dem der Begriff seine Verwendung findet, gelten kann, daß es ein analytisches, weil logisches, oder ein synthetisches, weil auf Erfahrungszuwachs beruhendes Urteil ist. Der jeweils von Hardenberg angegebene Kontext gibt Anhalte, wie die oft ungenaue und unreflektierte Bedeutung von ›thetisch‹, ›antithetisch‹, ›synthetisch‹ und ›analytisch‹ im einzelnen und kontextabhängig zu verstehen ist.5
4
FS 161, in: NS 2, 160. Hardenberg reflektiert gelegentlich selbst auf den unterschiedlichen Gebrauch begrifflicher Zuordnungen. So ist in der Fichte-Studie 39 zu lesen: »Das war ein falscher Begriff, daß du die Form zur Antithese, den Stoff zur These machtest. […] /Synthetisches Verfahren ist nach der Weise des reinen Ich – analytisches Verfahren nach der Weise der 5
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Das Subjekt, das Idee ist, ist zwar Synthesis, aber nicht eine Synthesis seiner konkreten wirklichen Individualität. Vielmehr nennt es Hardenberg in der Fichte-Studie 219 ein Residuum,6 im Sinne eines Rückstands oder Bodensatzes, das seinen eigentlichen Inhalt als Subjekt erst durch empirische Erfahrung gewinnt. Seine notwendigen Bestimmungen sind ohne Leben, ohne erfahrungsgesättigte Wirklichkeit, ganz gleich, ob es sich mit Kant um das Ich als an sich leere Entität handelt, das regulative Idee ist, oder um Fichtes absolutes Ich, dem auch dann noch das eigentliche Leben fehlt, wenn es Idee der Vernunft ist. So notiert sich Hardenberg in der Fichte-Studie 559 deutlich an Kant und Fichte orientiert: »Alle Realität, von der wir reden können muß eine denkbare seyn. Folglich ist das Princip aller Realität, der Garant derselben, der Grund des Denkens – SUM. Die Filosofie ist streng auf die bestimmte Modification – des Bewußtseyns – eingeschränkt. Sie ist bescheiden – Sie bleibt in ihren Gränzen. Sie begreift, was in ihr, oder unter ihr ist. Die Freyheit der Reflexion führt auf eine Freyheit des handelnden Ich.«7 In derselben Diktion bekennt Hardenberg in der Fichte-Studie 567: »Was handelt zunächst für mich – woher entlehn ich meine Begriffe? – nothwendig ich – nothwendig von mir. Ich bin für mich der Grund alles Denkens, der absolute Grund, dessen ich mir nur d[urch] Handlungen bewußt werde – Grund aller Gründe für mich, Princip meiner Filosofie ist mein Ich.«8 Er fährt dann mit seinen Überlegungen in einer Weise fort, die offenkundig einen eigenen Denkweg einschlagen und nicht der Methodologie Fichtes geschuldet sind, wenn er behauptet: »Dieses Ich kann ich nur negativerweise zum Grund alles meines Filosofirens machen – indem ich so viel zu erkennen /zu handeln/ und dies so genau zu verknüpfen suche, als möglich; /Lezteres durch Reflexion/.«9 Das Ich als negativer Grund alles Erkennens unterscheidet sich insofern von Fichtes Ich-Konzeption, als Hardenberg offenbar eine positive Erkenntnis des Ich nur indirekt und durch empirische Erfahrung bestimmt sieht, während das
bloßen Form/Giebt es ein reines Ich, oder sind synthetische Urtheile a priori möglich! ist Eine Frage.« FS 39, in: NS 2, 129–130. 129. 6 Vgl. FS 219, in: NS 2, 168–169. 7 FS 559, in: NS 2, 268. 8 FS 567, in: NS 2, 271–272. 271. 9 Ebd.
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reine Selbstbewußtsein außer seinem Tätigsein keinen Gehalt im eigentlichen Sinne hat. Hardenberg fragt sich schon in der Fichte-Studie 5 kritisch: »Hat Fichte nicht zu willkührlich alles ins Ich hineingelegt? mit welchem Befugniß?«10 Diese Frage betrifft offenkundig den Geltungsumfang des absoluten Ichs als einem absoluten, ersten Prinzip. Dies impliziert ferner die Frage, was gerechtfertigter Weise aus dem Ich deduziert werden kann und welche Bedeutung es für das von ihm abhängende System hat. Ich verstehe Hardenberg so, daß er die ausdrücklich gestellte Frage nach der Willkürlichkeit des von Fichte dem Ich zugeschriebenen Umfangs nicht mit ja oder nein beantworten wird. Vielmehr leitet ihn diese Reflexion nach meinem Verständnis zu der Frage, welche ersten Prinzipien überhaupt für die Philosophie in Frage kommen. Das Ich bleibt ihm jedoch eine ausgezeichnete Instanz der Wissensweisen des Menschen. Mit Fichte ist sich Hardenberg jedoch in folgendem Punkt einig: »Je unmittelbarer, directer ich etwas vom Ich ableiten kann, je erkannter, begründeter ist es mir.«11 Was vom Ich direkt abgeleitet werden kann, wird von Hardenberg hier nicht näher thematisiert. Der Romantiker Hardenberg macht zwar im Gegensatz zu Fichte die empirische Erfahrung als Bedingung von Selbsterkenntnis geltend, doch so, daß diese auf der Fichteschen Philosophie aufruht. Er ist sich mit Fichte über den eminenten Stellenwert der Selbsttätigkeit des Ich einig, so daß er in der Fichte-Studie 567 in einer Klammerbemerkung festhält: »(Die Fichtische Filosofie ist eine Aufforderung zur Selbstthätigkeit – ich kann keinem etwas erklären von Grund aus, als daß ich ihn auf sich selbst verweise, daß ich ihn dieselbe Handlung zu thun heiße, durch die ich mir etwas erklärt habe. Filosofiren kann ich jemand lehren, indem ich ihn lehre, es eben so zu machen, wie ich – Indem er thut, was ich thue, ist er das, was ich bin, da, wo ich bin.)«12 Daß also das Ich ein gutes und in besonderer Weise ausgezeichnetes Prinzip der Philosophie ist, ist für Hardenberg unbestritten. Was er entkräftet ist, daß es das einzige Prinzip ist, von dem die Philosophie nach Kant und Fichte noch ausgehen kann, wie nun gezeigt werden soll.
10 11 12
FS 5, in: NS 2, 107. FS 567, in: NS 2, 271–272. 271. Ebd.
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2. Sein, Natur, Ich oder Gott als erstes Prinzip Die Fichte unterstellte Willkür, alles ins Ich gelegt zu haben, läßt zum einen fragen, was dem Ich zu Recht zugeschrieben werden darf und was nicht. Zum anderen ist zu fragen, welche alternativen Prinzipien überhaupt als systemgenerierend anzusehen sind. Drei Typen stehen Hardenberg in der Fichte-Studie 151, aber auch in anderen Studien immer wieder vor Augen: »Spinotza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott.«13 Die Reihung ist nicht nur eine Aufzählung, sondern sie ist offenkundig eine sich steigernde Überbietung des einen Systems durch das nächste. Ausführlich argumentiert schon Fichte im Anschluß an die Darstellung des ersten Grundsatzes der Grundlage, aus welchen Gründen die Wissenschaftslehre als eine Überbietung von Spinozas Konzeption im Ausgang vom Sein oder der Substanz anzusehen ist. Dabei benutzt Fichte unreflektiert die von Friedrich Heinrich Jacobi vorgenommene Identifizierung der Spinozanischen Substanz mit dem Sein, um den Ausgang der Philosophie von einem subjektiven Wissensprinzip gegen den Ausgang vom Gegenstandsbereich und der Welthaltigkeit des Wissens oder dem Sein zu profilieren. Fichtes Profilierung (mit Jacobi) gegen Spinoza ist sachlich ebenso falsch, wie sie Geschichte gemacht hat. Falsch ist sie deshalb, weil Spinozas Substanz zwei gleichwertige Substanzhinsichten oder Attribute umfaßt, die res extensa und die res cogitans, die Fichte in seiner Spinoza-Kritik unberücksichtigt läßt.14 Gleichwohl scheint sich Hardenberg dieser Profilierung gegen Spinoza mit der Modifikation anzuschließen, daß er nicht vom Sein, sondern von der Natur spricht, die sich bei Spinoza in die natura naturans und die natura naturata teilt. Mit Fichte affirmiert er in der obigen FichteStudie die These, daß der Ausgang vom Sein oder der Natur überboten wird durch den höheren Ausgang vom Ich. Noch höher aber steigt man, wenn man von Gott ausgeht, wie Hardenberg auszuführen beabsichtigt, ohne es freilich zu tun. Die Geschichte der Systemtheorien wäre insgesamt als ein
13
FS 151, in: NS 2, 157. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftlsehre, in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden wird die »Grundlage« als »GWL« mit Angabe der Seitenzahl, die Gesamtausgabe als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl zitiert. Soweit möglich werden Seitenangaben auch aus »SW« = Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. 8 Bände. Berlin 1845/46, hinzugesetzt.). Hier GWL, in: GA I/2, 263–264; SW 1, 100–101. 14
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Weg zu immer treffenderen Theorien anzusehen. So verstehen und profilieren sich bekanntlich zahlreiche Autoren gegenüber ihren Vorgängern. Zu wissen, daß aber nicht erst der Romantiker Hardenberg den Ausgang in der Philosophie von Gott sucht, setzt keine tiefschürfenden philosophischen Kenntnisse voraus. So notiert sich Hardenberg denn auch bald in der Fichte-Studie 159: »Dreyeiniger Gott / Spinotzischer Gott / Persönlicher Gott. «15 Offenkundig ist auch diese Reihung als eine Aufstufung zu lesen. Der dreieinige Gott des traditionellen Christentums wird von dem pantheistischen Gotteskonzept Spinozas in der Lesart Lessings, öffentlich gemacht durch Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in einer Reihe von Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785,1789), und Lessings und Spinozas neue Anhänger abgelöst. Jacobi aber postuliert gegen diese pantheistischen Neuerer den persönlichen Gott in seiner berühmten Beilage VII in den Briefen Über die Lehre des Spinoza.16 Für die 1795/96 entstehenden Fichte-Studien und ihre Gottes-Konzeption ist Hardenbergs Eintrag in Friedrich Immanuel Niethammers Stammbuch von hohem Interesse, der vom 16. April 1791 datiert, also der Zeit des Studiums Hardenbergs in Jena. Der Eintrag ist identisch mit einer Passage aus der Vorrede zu Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn in der Fassung von 1789. Die Passage lautet: »Freude ist jeder Genuß des Daseyns, so wie alles, was das Daseyn anficht, Schmerz und Traurigkeit zuwege bringt. Ihre Quelle ist die Quelle des Lebens und aller Thätigkeit. Bezieht sich aber ihr Affekt nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich – Seele des Thiers. Ist sein Gegenstand das Unvergängliche und Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst und seine Beute Unsterblichkeit. Jacobi.«17 Har15
FS 159, in: NS 2, 159–160. 160. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in einer Reihe von Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1789, 398–434. 427. Im folgenden zitiert als »Jacobi, Spinoza«, mit Angabe der Seitenzahl. 17 Friedrich von Hardenberg: Eintrag in Friedrich Immanuel Niethammers Stammbuch vom 16. 4. 1791, in: NS 4, 85 mit 761–762; vgl. Jacobi, Spinoza, XLVII–XLVIII. Hardenberg hat bei der Abschrift eine kleine Syntaxänderung vorgenommen. In Jacobis Text steht »Bezieht aber ihr Affekt sich nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich: Seele des Thiers.« Es ist dies der letzte Passus (mit der Ziffer LII. versehen) von Jacobis in die Vorrede eingearbeiteter Abhandlung Ueber die Freyheit des Menschen, in deren ersten Abteilung die Negation der Freiheit (›Der Mensch hat keine Freyheit‹; IXXIII), in deren zweiter Abteilung die Position derselben behauptet wird (›Der Mensch hat Freyheit‹ XXIV–LII). Ob Hardenberg dies aus einem eigenen Exemplar abschreibt, – denn es muß sich um eine Abschrift handeln –, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist, daß die Titel von Jacobis Schriften in keiner der überlieferten Bücher- und Literaturlisten Hardenbergs aufgeführt werden. 16
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denberg favorisiert das Konzept des Aufstiegs zu Gott in einigen seiner Fichte-Studien vom Herbst und Winter 1795, ohne dies wirklich zur Ausführung zu bringen. Die vielerlei konkurrierenden Stufungen, die in den Fichte-Studien angeführt und gedanklich durchgespielt werden, führen schließlich zum radikalen Abbruch der Frage nach dem besten aller Prinzipien. Es folgt für Hardenberg offenkundig, daß der Streit um das schlechthin gültige erste Prinzip nichtig ist, weil Spinozas Natur, ebenso wie das reine Selbstbewußtsein oder Ich zwar gute Instanzen für ein erstes Prinzip sind, das eine für eine von einem göttlichen Prinzip durchwirkte alleinige Naturkonzeption, wie sie 1798/99 in Hardenbergs Lehrlingen zu Saïs dichterischen Ausdruck finden wird, das andere für eine Theorie der Erkenntnis nach Maßgabe der Kantischen Kritik, oder einer Theorie menschlichen Wissens, wie sie in Fichtes Wissenschaftslehre zu finden ist, die Hardenberg bei aller Kritik durchaus sehr schätzte.
Ob, und wenn ja, wann Hardenberg den Pantheismusstreit und Jacobis Spinoza-Darstellungen wahrgenommen hat, läßt sich nur durch indirekte Zeugnisse ermitteln. In den Fichte-Studien werden Jacobis Romane Allwill und Woldemar, nicht aber die theoretischen Schriften genannt. Jean Paul (Richter) berichtet anläßlich des offenen Sendschreibens von Jacobi an Fichte in einem Brief vom 27. 1. 1800 an Friedrich Heinrich Jacobi von einer exzessiven Jacobi-Lektüre Hardenbergs. Bedauerlicherweise datiert er diese Lektüre nicht einmal andeutungsweise. Er schreibt: »Die Fichtianer trugen schon deinen ungedrukten Brief freudig, zumal über dein Lob, herum. H. v. Hardenberg – ein Fichtianer, es ist der Novalis im Athenäum – war entzükt über ihn. Dieser erzählte mir vor einem Jahr in Leipzig, wie es mit Fr. Schlegel, dessen Freund er ist, gegangen sei. ›Er habe (verzeih mir einige unheilige Worte) alle deine Werke auf einmal studiert, verschlungen, gepriesen, gesagt, er werde in seinem Leben keine solche Zeile machen können; darauf sich immer tiefer hineingearbeitet und endlich sei ihm Licht über den Woldem[arschen] Egoismus aufgegangen etc.‹ Der Spitzbube ist dir gut, wie mir, ob er mich gleich zu skalpieren versucht.« (Jean Paul Richter an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. 1. 1800, in: NS 4, 653) Diese gemeinsame Jacobi-Lektüre muß zur Zeit des gemeinsamen Studiums in Leipzig erfolgt sein. Hardenberg studierte in Leipzig von Michaelis 1791 bis 8. 3. 1793, Schlegel von 1791–1794 (vgl. NS 5, 371 und 908). Nun läßt sich Schlegels Jacobi-Lektüre tatsächlich bis in das Jahr 1792 zurückverfolgen. Friedrich Schlegel bekundet nämlich seinem Bruder August am 4. 7. 1792 seine Hochachtung für den Autor von Allwills Briefsammlung. Überdies schreibt er in den Philosophischen Lehrjahren Jacobi eine gewichtige Rolle, nämlich die des »empirische[n] Mystiker[s]« zu. (Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre. Erste Epoche I, Fragment [3]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler u.a., Paderborn/München/Wien/Zürich 1958 ff. Hier Band 18, 3 mit Band 19, 371). Läßt sich Friedrich Schlegels Beschäftigung mit Jacobi in das Jahr 1792 zurückverfolgen, in eine Zeit also, als Hardenberg und Schlegel gemeinsam in Leipzig studierten und ihre Freundschaft begründeten, darf dieses Datum mit großer Wahrscheinlichkeit auch für Hardenbergs durch Jean Paul bezeugte Jacobi-Lektüre angenommen werden.
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Gerade in der Phase der Wiederbeschäftigung mit Fichtes Wissenschaftslehre in der Fünften Handschriftengruppe der Fichte-Studien vom Sommer 1796 und der Sechsten Handschriftengruppe vom Sommer und Herbst 1796,18 folgt für Hardenberg schließlich, daß es neben dem Fichteschen oder Kantischen Anfang mit dem reinen Ich auch viele andere Anfänge in der Philosophie geben muß. Sein, Natur, Ich und Gott sind zentrale Prinzipien für eine Philosophie, die jedoch je nach Hinsicht und dem Horizont der philosophischen Fragestellungen an erster, oder an einer nachfolgenden Stelle stehen. Bei allem Experimentieren mit verschiedenen Prinzipien kommt Hardenberg doch immer wieder auf das Ich zurück, das verständlicherweise einen eminenten Stellenwert in der Philosophie der Neuzeit behaupten kann. Der Subjektivität kommt daher in jedem Fall ein hoher, wenn auch nicht notwendig stets (wie in Fichtes Frühphilosophie) der höchste Rang zu, weil sie das Prinzip darstellt, von dem das Wissen von der Welt seinen Ausgang nimmt, und mit der Rationalität von Denken, Wissen und Erkenntnis das dominante Paradigma der Neuzeit umrissen ist. Es darf davon ausgegangen werden, daß Hardenbergs methodologische Denkanstrengungen dazu führen, daß er die wechselseitige Abhängigkeit von Synthese und Analyse, die Fichte dem Deduktionsgang in der Wissenschaftslehre im Ausgang vom Ich zu seinen bewußtseinstheoretischen Bestandteilen zugrundelegt, übernimmt. Das führt im weiteren dazu, daß er die übliche Kritik am Deduzieren aus einem ersten Prinzip im Gefolge von Reinhold und Fichte nicht teilt, wie unter Punkt vier gezeigt werden soll. Nun gilt es, sich mit Hardenberg der Frage nach den überzeugendsten Prinzipen der Philosophie zuzuwenden.
3. Alles läßt sich zum bestimmenden Punkt erheben Trotz der Favorisierung einer Subjektphilosophie gelangt Hardenberg in der Fichte-Studie 647 zu dem ziemlich radikalen Schluß, man könne auch aus einer Nußschale machen, was man aus Gott machen könne: »Jedes läßt sich zum bestimmenden Puncte erheben, wenn man von ihm nach allen Seiten ausgeht und alles auf ihn reducirt. Es läßt sich aus einer Nußschale machen, was sich aus Gott machen läßt. Jede Fixirung Eines Objects etc. ist so richtig, aber auch so ungerecht, wie eine 18 Die Fünfte Handschriftengruppe wird mit den Worten »Bemerkungen zur Wissenschaftslehre« eingeleitet, bald darauf notiert sich Hardenberg: »Merckwürdige Stellen und Bemerkungen bey der Lectüre der Wissenschaftslehre«, NS 2, 265 und 268.
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alleinseligmachende Religion – der Mensch nimmt sich mehr damit heraus, als ihm seine Menschheit erlaubt – ohnerachtet er damit alles machen kann, was er will.«19 Die Begründung, die Hardenberg für die These anführt, daß Systeme aus jeder beliebigen Entität entwickelt werden können, hängt zum einen an der für ihn zentralen Beobachtung, daß die Fokussierung auf ein Prinzip ebensosehr legitimiert werden kann, wie sie zugleich zu Einseitigkeiten zwingt, die aufgefangen werden müssen, um Ungerechtigkeit nicht auf Dauer zu stellen. Nun ist es eine offenkundige Provokation, eine Nußschale gewissermaßen mit Gott gleichzusetzen. Nicht einmal ist es der Kern, das Saatgut, sondern die Schale, aus der eine Welt hervorgehen könne, die mit der Welt verglichen werden darf, die systemtheoretisch aus Gott herauszusetzen ist. Nimmt man Hardenbergs Gedankenexperiment ernst, so könnte das Argument auch umgedreht werden. Denn das Stück Natur der Nuß oder auch bloß ihre Schale kann ein wirkliches Zeugnis des Schöpfers der Welt genannt werden, ein Faktum der Natur, das unmittelbarer von Gott zeugt, als die Erfindung des begriffenen Gottes, den sich die Menschen bald in dieser, bald in jener Religion erzeugen und zurechtlegen. Nicht zufällig bemerkt Hardenberg, daß sich der Mensch mit einer »alleinseligmachende[n] Religion« mehr herausnehme, »als ihm seine Menschheit erlaubt«. Hier und andernorts in den Fichte-Studien betont Hardenberg, daß es der Mensch ist, der sich seinen Gott schafft nach dem Bedürfnis, das ihn treibt, ein Gottesbild zu entwerfen, »ohnerachtet er damit alles machen kann, was er will.« Wenn der Ausgangspunkt der Philosophie auf beliebige und geradezu zufällige Dinge übertragbar ist, so kann dies offenbar nicht mehr der Metaphysiker und Erkenntnistheoretiker Hardenberg sagen, sondern der Dichter Novalis, wohl auch der Philosoph, der mehrfach über die Religion als einem Teil der Philosophie nachdenkt, und in der Fichte-Studie 648 gar einer »Neue[n] Religion«20 das Wort spricht. Für den Dichter wie für den Religionstheoretiker ist es möglich, beliebige Gegenstände durch Poetisierung und Ritualisierung zu erhöhen und so aus ihnen eine ganze Welt herauszusetzen. In der Fichte-Studie 649 reflektiert Hardenberg über die in unendlicher Zahl möglichen Systeme:
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FS 647, in: NS 2, 287–288. 287. FS 648, in: NS 2, 288–289. 288.
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»Über Fantasiesysteme, deren sind unendliche möglich – Es bleiben aber immer materiale Systeme, mithin nur ästethische Compositionen – dies muß aber reine Filosofie nicht seyn – Sie enthält nur Gesetze des Orientirens und gar keinen Inhalt oder dessen Form, im gewöhnlichen Sinne – Sie ist weder formal noch material.«21 Die unendliche Zahl möglicher »Fantasiesysteme« unterscheidet sich, wie Hardenberg klar herausstellt, von einer reinen Philosophie. Hier gibt es die Vielzahl der materialen Systeme, dort die reine Philosophie. Das Merkmal der reinen Philosophie ist es, Gesetze des Orientierens aufzustellen, aber keine Inhalte im eigentlichen Sinne anbieten zu können. So besehen stehen aber die Fantasiesysteme offenkundig gar nicht in Konkurrenz zu den Systemen einer Ersten Philosophie oder Metaphysik. Das aber scheint zu bedeuten, daß mit der Forderung nach unendlich vielen »Fantasiesysteme[n]« in Wahrheit gar keine fundamentale Kritik an traditionellen metaphysischen Systemen ausgesprochen ist, da die materialen Systeme nicht in Konkurrenz zu den reinen Systemen der Philosophie treten können, von denen es am Ende doch sehr wenige zu geben scheint, nämlich diejenigen, die das Sein, die Natur, das Ich oder Gott zum Ausgangspunkt erheben. Worauf bezieht sich also Hardenbergs systemtheoretische Kritik? Hardenberg sucht offenkundig, den Systembegriff neu zu bestimmen. Das heißt für ihn, den Begriff des Systems aus den Debatten um Reinhold und Fichte herauszulösen, die ein Ganzes der Welterklärung von einem oder mehreren Grundsätzen ausgehend zu deduzieren suchten, wie auch immer dies deduzieren genauer zu verstehen wäre. Es ist offenkundig, daß der Philosoph und der Dichter Hardenberg das System als ein Ganzes, und ferner als ein Werkganzes zu bestimmen sucht. Daß es eine Vielzahl von Werkganzheitlichkeiten oder Systemen gibt und nicht bloß eines oder wenige, ist selbstredend. Hardenbergs System- und Ganzheitlichkeitsbegriff rückt so unversehens in die systematische Nähe zu dem, was Johann Heinrich Lambert als Systematologie oder genauer als Fragment einer Systematologie zurückgelassen hat und das von dem Astronomen Johann Bernoulli 1787 im zweiten Band der Logischen und philosophischen Abhandlungen Lamberts postum veröffentlicht
21
FS 649, in: NS 2, 289–290. 290.
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wurde.22 Diese Systematologie ist als erste allgemeine Systemtheorie in der Geschichte der Philosophie bekannt.23 Ich kann nicht dokumentieren, daß Hardenberg, der 1798/99 eifrigst Lamberts Neues Organon studierte,24 diese Systematologie gekannt haben müsse und auf sie zurückgegriffen hätte, als er in den Fichte-Studien so ausführlich über Systeme und Systemkritik nachdachte. Aber es darf mit Grund angenommen werden, daß sich Kant bei der Ausarbeitung seiner Organismustheorie im teleologischen Teil der Kritik der Urteilskraft an Lamberts allgemeiner Systemtheorie orientiert haben muß.25 Daher ist ein kurzer Blick in Lamberts Systematologie auch dann sehr hilfreich, wenn Hardenbergs Kenntnis des Fragments nicht definitiv ausgewiesen werden kann. Als System bezeichnet Lambert in seinem Fragment jedes Ganze, das nicht »ein Chaos, ein Gemisch, einen Haufen, einen Klumpen, eine Verwirrung, eine Zerrüttung« darstellt.26 Nachdrücklich betont er, daß daher unter einem Sy22
Vgl. Johann Heinrich Lambert: Fragment einer Systematologie, in: Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis. Hrsg. v. Geo Siegwart, Hamburg 1988, 125–144. Im folgenden zitiert als »Lambert, Fragment einer Systematologie«, mit Angabe des Paragraphen und der Seitenzahl. Die Einleitung des Bandes wird im folgenden zitiert als »Siegwart, Einleitung«, mit Angabe der Seitenzahl. 23 Geo Siegwart kritisiert nachdrücklich diejenige Rezeptionstradition, in der Lamberts Fragment einer Systematologie zu Unrecht isoliert gelesen worden sei, und plädiert stattdessen für eine umfassendere Interpretation des Fragments im Zusammenhang der philosophischen Werke Lamberts, also des Neuen Organons der Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, 2 Bände, Leipzig 1764 (Reprint: Philosophische Schriften. 10 Bände. Hildesheim 1965 ff., Band 1 u. 2) und besonders der Anlage zur Architectoni, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, 2 Bände, Riga 1771 (Reprint: Philosophische Schriften. 10 Bände. Hildesheim 1965 ff., Band. 3 u. 4) (vgl. Siegwart, Einleitung, besonders XLVII–LVII). Er zeigt ferner, daß Lamberts Systematologie eine auffallende Ähnlichkeit mit der modernen, mathematisch orientierten Allgemeinen Systemtheorie zeigt und als eine bemerkenswerte Vorläuferstufe derselben angesehen werden darf, auch wenn sie deren Allgemeinheitsanspruch und methodisch reiferen Möglichkeiten nicht genügen kann (vgl. a. a. O., LXXIV–LXXXVII). Das Fragment umfaßt 47 Paragraphen in drei Hauptstücken. Deren Überschriften lauten: ›Das System überhaupt betrachtet‹, ›Die Verschiedenheit der Systeme‹ und ›Die Absicht bei Systemen‹. Insbesondere der letzte Punkt ist dasjenige, was ein entscheidend neues Kriterium gegenüber den Ausführungen in der Anlage zur Architectonic darstellt. 24 Vgl. NS 3, 130–134 (Hardenbergs Exzerpt aus Johann Heinrich Lamberts Neuem Organon). 25 Vgl. v. Verf.: Natur als »Aggregat« und als »System«. Kants implizite Auseinandersetzung mit Wolff und Lambert in der ›Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft‹. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant Kongresses. 5 Bände. Hrsg. v. Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann u. Ralph Schumacher. Berlin/ New York 2001, hier Band 4, 667–675. 26 Lambert, Fragment einer Systematologie, § 2, 125–126.
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stem nicht bloß ein Lehrgebäude gemeint sei. Vielmehr bezeichnet der Begriff ›System‹ reale Zusammenhänge in der gegebenen Welt ebenso, wie damit Intellektualzusammenhänge gemeint sein können, sofern sich in ihnen eine erkennbare Ordnung und eine Absicht manifestiert. Genau darauf zielt Hardenberg mit seiner Unendlichkeit von Systemen ab. Ein System besteht für Lambert ferner aus Teilen, die sich zu einer, wenn auch mannigfach bestimmbaren, Einheit fügen. Somit ergeben sich für Lambert vier unabdingbare Kriterien, um ein System darzustellen: Es besteht erstens aus Teilen, unter denen zweitens verbindende Kräfte wirksam sind, ferner gibt es drittens ein gemeinsames Band, das die Teile zu einer Ganzheit fügt, und schließlich müssen viertens eine oder mehrere Absichten (oder Zwecke) des Ganzen erkennbar sein. Somit läßt sich jede absichtliche oder zweckmäßige Ordnung als ein System interpretieren, in dem nach der materialen Menge seiner Teile und den verbindenden Kräften zu fragen ist. Die verbindenden Kräfte können mechanische Kräfte der Natur ebenso darstellen, wie geistige Kräfte des Verstandes oder des Willens. Lambert betont den qualitativen Unterschied von Systemen der Kräfte des Verstandes, des Willens und der mechanischen Kräfte.27 Diese Kräfte können gemeinsam in einem System präsent sein. Ferner ist nach der Art des gemeinsamen Band zu fragen, das die Teile zu einem Ganzen verknüpft, und wovon Lambert die Absichten (Zwecke) eines Ganzen, sei es nun eine oder mehrere, unterschieden wissen will.28 Geordnete oder gar vollkommene Ganzheiten sollen systematisch nach ihren materialen und formalen Strukturen, nach ihren Elementen und bindenden Kräften untersucht und begrifflich gefaßt werden. Lamberts Systematologie dient jedoch nicht nur als methodologisch differenzierte Interpretationshilfe zur Bestimmung von Ganzheiten und Systemen, sondern ebenso zur Errichtung und Einrichtung von Systemzusammenhängen, seien diese nun einzeln vorkommend oder als hierarchisches Gefüge angelegt. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist für Lambert das des Gleichgewichtszustandes von Systemen. Mit diesem Kriterium ist näherhin die Frage nach der relativen Geschlossenheit in eher beharrenden Systemen und der Offenheit in den von Veränderungen dominierten Systemen aufgeworfen. In einem Zustand des Gleichgewichts oder der Ruhe sieht Lambert insbesondere Werke und Einrichtungen, die, einmal aufgestellt, zu langfristiger Funktion und Gültigkeit bestimmt sind. »Von dieser Art sind die meisten Systeme der Kunst, Gebäude, Instrumente, Maschinen. Und von eben der Art sollten die Lehrgebäude 27 28
Vgl. a. a. O., § 11, 131. Vgl. a. a. O., § 6, 127–128.
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sein, sofern sie nur fernere Zusätze und Erweiterungen, aber keine Veränderungen in Absicht auf ihre Wahrheit und Wichtigkeit leiden sollen.«29 Dem stehen nun diejenigen Systeme entgegen, die durch eine Vielzahl von Veränderungen entweder in ihrem inneren Bau oder in ihrem Wechselverhältnis nach außen bestimmt sind. »Es gibt aber auch eine Menge von Systemen, und besonders die so von den Kräften des Willens oder der Natur oder von beiden abhängen, wo wegen des entweder nie ganz vorhandenen oder nie lange dauernden Gleichgewichts der Kräfte, beständig Veränderungen vorgehen.«30 Im folgenden Paragraphen nennt Lambert Gesellschaften und Staaten auf der einen, Systeme der Erkenntnis, der Fertigkeiten und Vermögen auf der anderen Seite als prägnante Beispiele für Systeme, die sich immer nur in einem vorübergehenden Gleichgewichtszustand befinden, und wo mit einschneidenden Veränderungen zu rechnen ist. Dennoch hält er es für angemessen, den Systembegriff auch auf Systeme mit labilem Gleichgewichtszustand anzuwenden, solange die Explikationskraft des Systembegriffs das Maß der Veränderungen überwiegt, oder die Veränderungen selbst systemisch und systematisch mitbedacht und erfaßt werden können. Die nähere Betrachtung derartiger Systeme verschiebt Lambert bis auf weiteres und muß es schließlich der Nachwelt schuldig bleiben.31 Den ›Absichten bei Systemen‹ widmet Lambert nun noch ein eigenes Kapitel. Das Nützliche der Theorie der Absichten, Lamberts Begriff für das, was Kant Idee oder Zweck nennen, liegt nach Lambert in folgenden zwei Aufgaben: »1) Wenn ein System, oder auch nur der Stoff und die Kräfte zu einem Systeme gegeben, die Absichten zu bestimmen, wozu es entweder überhaupt oder in vorgegebenen Umständen dienen kann. 2) Wenn eine Absicht vorgegeben, das dazu überhaupt, oder in vorgegeben Umständen dienlichste System zu finden.«32 Kants Teleologie der objektiven Zwecke in der Welt, den lebendigen Organismen, die als Ganze nur durch Finalursachen beurteilt und begriffen, wenn auch nicht erkannt werden können, ist nicht nur in direkter Folge von Lamberts Systemtheorie zu verstehen. Sie wird von zwei prominenten Dichtern sehr zu Recht zu einer Werktheorie umgedeutet,
29
A. a. O., § 28, 137. A. a. O., § 29, 138. 31 Geo Siegwart stellt Mutmaßungen über den möglichen Fortgang des fragmentarischen Werkes an, die offenkundig nicht an den letzten Paragraphen des ersten (wie er fälschlicherweise schreibt), sondern des zweiten Hauptstücks, also an § 31 anschließen (vgl. Siegwart, Einleitung, LXV–LXVI). 32 Lambert, Fragment einer Systematologie, § 34, 140. 30
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von Hölderlin in der um 1800 ausgearbeiteten Poetologie (die hier nicht näher betrachtet werden kann) und von Hardenberg. Die systematische Nähe von Hardenbergs systemkritischem Universalsystem der vielerlei Systeme mit Lamberts allgemeiner Systemtheorie und mit Kants Teleologie ist verblüffend. Hardenberg dürfte ein guter Kenner von Kants Kritik der Urteilskraft und ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit im ästhetischen und teleologischen Teil der Schrift gewesen sein, auch wenn seine Lektüre von Kants Dritter Kritik nicht ausdrücklich belegt werden kann. Beide Teile sind nach meinem Verständnis für die Theorie eines ästhetischen Werkganzen wichtig. Der erste Teil bietet die Explikation des Schönen. Der zweite Teil bietet mit dem Organisationsmodell den Ansatz zu einem Werkbegriff, der sich der Frage zuwendet, was es heißt, Ein Werk, Ein Ganzes mit seinen vielfältigen Aspekten zu konzipieren. Die Zweckmäßigkeit ist bekanntlich Kants Prinzip, das Verhältnis von Ganzem und seinen Teilen zu bestimmen, das nicht erkannt, sondern bloß gedacht und beurteilt werden kann. Die Zweckmäßigkeit ist deswegen keine Kategorie, wohl aber ein transzendentales Prinzip von bloß regulativer Gültigkeit. Die Zweckmäßigkeit folgt Regeln, die dem Ding nicht an sich zugeschrieben werden können. Daß wir Gegenstände als schön empfinden, daß wir schönes als förderlich für unsere Sittlichkeit empfinden, daß wir andere Gegenstände als widerwärtig, roh, brutal, wider unsere Sittlichkeit empfinden mögen, liegt zwar an einer bestimmten Verfaßtheit der Dinge und ihrer inneren Ordnung, aber die Dinge haben keine Eigenschaften, die von sich aus einen Wert darstellen. Es ist das Subjekt, das eine bestimmte Ordnung und Teil-Ganze-Relation der Dinge, also seine innere Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit, wertend auf das subjektive Empfinden bezieht und beurteilt. So ist also die Teil-Ganze-Relation, in der das Ganze die Teile und die Teile das Ganze zu bestimmen scheinen, ohne daß das eine das andere tatsächlich und ursächlich hervorbringt, zwar eine subjektive, aber doch keine willkürliche, sondern im Objekt begründete Relation. Es ist die Weise, wie Subjekte sich wertend zu den Ordnungen der Objektwelt verhalten, obwohl die Objektwelt nicht an sich Teil der Welt der Normen ist. Kants ästhetische Urteilskraft begründet sich in dem als schön erfahrenen Gegenstand durch ein Gefühl der Lust. Beim Erblicken bestimmter Gegenstände, nämlich den Gegenständen, die wir schön nennen, stellt sich eine innere Gestimmtheit und Harmonie ein, weil das Ganze und seine Teile als stimmig erfahren werden. Kein Begriff, keine Vorstellung von Vollkommenheit, sondern ein gänzlich unbegriffliches bloßes Spiel der
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Vermögen ist es, das dieses Gefühl der Lust erzeugt. Näherhin nennt Kant dieses Spiel bekanntlich das Spiel von Einbildungskraft und Verstand, das dann zustande kommt, wenn die Zweckmäßigkeit in der Ordnung des Gegenstandes mit der Harmoniefähigkeit der geistigen Vermögen zusammentrifft. Dies tritt genau dann ein, wenn die Einbildungskraft eine Mannigfaltigkeit von Teilen auffaßt, die vom Verstand noch vor jeder begrifflichen Beurteilung als eine Verhältnismäßigkeit von den Teilen untereinander und zum Ganzem synthetisiert wird, die als eine stimmige Gefügtheit erlebt wird und ein Lustgefühl der Harmonie, der Empfindung des Schönen auslöst. Wenn der Dichter nun eine Mannigfaltigkeit von Teilen durchläuft, die er zu einem Ganzen im Werk konzipiert, so ist es offenkundig nicht bloß die ästhetische, sondern zugleich auch die teleologische Urteilsform der Zweckmäßigkeit, die beide aktiv sind, um die Teile und das Ganze eines Werkes in seinen vielfältigen intrinsischen Relationen zu gestalten. Kants objektiv begriffliche Zweckmäßigkeit, mit der die Gegenstände der Natur, die wir als Lebewesen erkennen und sie als organisierte in sich geschlossene Ganzheiten auffassen, ist auf eine Idee als focus imaginarius gerichtet, die geeignet ist, auch den Werkbegriff näher zu explizieren. Sofern Lebewesen als Ganzheiten aufgefaßt werden, werden diese Kant zufolge auf eine Idee hin bezogen, die ihr Organisiertsein zum Ausdruck bringt, ohne daß die Idee dieser Organisation benannt werden könnte. Sie bestimmen sich durch nichts anderes als durch ihre Teil-Ganze-Relation, in der das Ganze für die Teile und die Teile für das Ganze da sind. Diese teleologische Urteilsform der reflektierenden Urteilskraft wird offenkundig nicht bloß zur Beurteilung von lebendigen Wesen gebraucht, sondern sie ist auch dann tätig, wenn künstlerische Prozesse einer lebendigen Gestaltung im Gang sind. Mit Bezug auf Hardenbergs Fichte-Studien darf daher von einer Poiesislehre aus dreierlei Gründen gesprochen werden. Zum ersten birgt sich in den Fichte-Studien eine Spontaneitäts- und Freiheitskonzeption, die weitgehender ist, als diejenigen von Kant und Fichte, denen der Text der Fichte-Studien insgesamt verpflichtet ist. Zum zweiten findet sich darin eine sehr breit angelegte Reflexion auf das Verhältnis von Gefühl und Denken, durch die Prozesse untersucht werden, die außer dem Bewußtsein ablaufen, dann im Gefühl zum Vorschein kommen und schließlich durch das begreifende und reflektierende Bewußtsein aufgefaßt werden. Diese Untersuchungsgänge sind für die Zeit erstaunlich, können aber hier nicht näher betrachtet werden. Zum dritten hängt die Poiesislehre der Fichte-Studien eng mit der Reflexion auf die Ganzheitlichkeit der Sy-
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steme zusammen, weil ein allgemeines System ebenso wie ein Werkganzes nach den Kriterien der Organsiation eines hochkomplexen Ganzen gebaut werden.. »Fantasiesysteme« sind solche Werkganzheiten, die den Gesetzen der Systeme ebenso gehorchen, wie diejenigen Werkgebilde, die von den Metaphysikern zu Systemen erhoben werden. Diese von Hardenberg vorgenommene Generalisierung des Systembegriffs ist in meinen Augen eine sehr wichtige, kritische Aufbrechung der oft allzu dogmatisch geführten Streitigkeiten der Philosophen für und wider das einzig wahre System. Als Überbau für die Vielheit der Systeme läßt Hardenberg in der FichteStudie 649 schließlich ein Universalsystem zu, das sehr offen bestimmt ist und dem folgende Aufgabe zufällt: »Das Universalsystem der Filosofie muß, wie die Zeit seyn, Ein Faden, an dem man durch unendliche Bestimmungen laufen kann – Es muß ein System der mannichfachsten Einheit, der unendlichen Erweiterung, Compass der Freyheit seyn – weder formales, noch materiales System – /Wir müssen die Dichotomie überall aufsuchen./«33 In dieser ziemlich am Ende der Fichte-Studien stehenden Überlegung bestimmt sich das Universalsystem seinem Gehalt nach als »Compass der Freyheit«. Kompaß läßt sich als Anzeige einer Methodologie verstehen, die nicht selbst schon Form ist, Freiheit als ein Inhalt, der an sich noch keiner ist, weil er bloß eine Richtung, einen Rahmen bestimmt. Die methodologischen Überlegungen Hardenbergs sollen im folgenden Punkt untersucht werden, Hardenbergs Begriff der Freiheit widmet sich der letzte Teil dieses Beitrags.
4. Die analytische und die synthetische Methode als Wechselbestimmung Hat man ein stimmiges Prinzip für die Philosophie gefunden, so gilt es, eine geeignete Methodologie zu entwerfen. Im Gefolge der Debatten um die Systeme von Kant, Reinhold und Fichte war es eine zentrale Frage, ob die Philosophie von einem Grundsatz oder einem Prinzip ihren Ausgang nehmen soll, um von dort den intrinsischen Zusammenhang der Gehalte zu entfalten (Reinhold, Fichte), oder ob es nicht angemessener ist, zu den Prinzipien hinzuführen. Kants Architektonik läßt sich so lesen, als 33
FS 649, in: NS 2, 289–290.
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führte er in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft schließlich zu dem untilgbaren Bedürfnis der Vernunft hin, letzte Einheit in der Mannigfaltigkeit der erkennbaren Welt einzufordern und mithin neben den Erkenntnisprinzipien noch regulative Ideen als letztbegründende Prinzipien zu postulieren, die das Bedürfnis der Vernunft nach letzter Einheit zur Beruhigung bringen, sei dies auch nur eine vorläufige Beruhigung.34 So stellt sich auch für Hardenberg die Frage, ob man besser zum Prinzip aufsteigt, oder ob man sich zu einem letzten Grund hin bewegt. Dazu verhält sich invers, was aus dem Prinzip entwickelt wird. Lapidar läßt sich sagen, daß der Prozeß des Suchens nach einem letzten Grund der Weg hin zum Prinzip ist. Dies ist Hardenbergs erklärter, aber nicht im Detail vorgeführter Ansatz in der zentralen Fichte-Studie 566. Im Gegensatz dazu dokumentieren weder Kant noch Fichte den Weg des Aufsuchens ihrer Prinzipien, da für sie allein die philosophischen Argumente und Geltungsnachweise zählen. Die Kritik der reinen Vernunft bietet nur metaphysische Argumente, aber keinen Findungsweg auf, die den Leser von den Erkenntnisprinzipien Raum, Zeit und den Kategorien in den Metaphysischen Erörterungen und Deduktionen überzeugen wollen, Fichte nimmt in der einen oder anderen Weise in der Grundlage und in der Wissenschaftslehre nova methodo den Leser an der Hand, um ihm zu bedeuten, was er denken darf und was nicht, wenn er ein absolutes Ich denken will. Aber weder Kant noch Fichte dokumentieren den Weg des Aufsuchens, sondern sie stellen die Prinzipien des Erkennens und Wissens vor und beginnen mit ihnen, für deren Durchschlagskraft sie argumentieren. Hardenberg erkennt schließlich bei seinem tastenden Suchen nach der richtigen Methode, daß der Gang hinauf, und der Gang hinab, Synthese und Analyse unabdingbar aufeinander verwiesene Wechselbestimmungen sind, die sich gar nicht gegenseitig ausschließen. So ist in der FichteStudie 272 zu lesen: »Jede Wissenschaft kann von unten hinauf und v[on] oben hinunter gehn – Erstes – synthetisch – lezteres analytisch. Alle Filosofie kann als Wissenschaft diese beyden Wege gehn. Fichte ist den analytischen Gang nach einem synthetischen Princip gegangen. Ich gehe den synthetischen und analytischen Weg zugleich – Ich betrachte jeden Schritt vor und rückwärts – Nur muß ich mir die synthetischen Kategorieen noch reiner 34 Dies ist die Interpretation, die Manfred Frank favorisiert. Vgl. ders.: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997, 2. Vorlesung, 48–66.
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entwickeln – dann kann ich jeden allgemeinen Begriff gewißer und präciser theilen – die Ausdrücke, Namen, leihe ich von der Analyse – von der Empirie«.35 Das hier von Hardenberg in Ansatz gebrachte Wechselverhältnis von Synthese und Analyse hat zwei prominente Vorlagen. Die eine ist in der so genannten Metaphysischen Deduktion der Kategorien in Kants Kritik der reinen Vernunft zu finden, wo Kant schreibt: »Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein, und es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen. Die Synthesis eines Mannigfaltigen aber (es sei empirisch oder a priori gegeben), bringt zuerst eine Erkenntnis hervor, die zwar anfänglich noch roh und verworren sein kann, und also der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.«36 Daß Hardenberg in der Fichte-Studie 272 auch von den »synthetischen Kategorieen« spricht, die er der Analyse, sei es auch ganz unkantisch der empirischen Analyse, gegenüberstellt, deutet darauf hin, daß er dieses Wechselverhältnis aus einem genaueren Studium der Metaphyischen Deduktion der Kategorien gewinnt, auf die er sich auch in zahlreichen anderen Kontexten bezieht. Die andere Fundstelle ist mit Fichtes methodologischen Überlegungen des theoretischen Teils der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre gegeben. Fichte macht deutlich, daß der insgesamt auf eine Synthese angelegte Gang der Wissenschaftslehre immer auch mit einer Analyse Hand in Hand geht. Solange die Wissenschaftslehre nicht an ihr Ende gelangt ist, finden sich widerstreitende Momente in den gefundenen Sätzen, die es zu analysieren gilt, um zu einer erweiternden Synthese der entwickelbaren Momente zu gelangen.37 Sehr zutreffend formuliert Hardenberg daher: »Fichte ist den analytischen Gang nach einem synthetischen Princip gegangen.« 35
FS 272, in: NS 2, 192. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Nach der ersten (A) und zweiten (B) Originalausgabe. Hrsg v. Jens Timmermann. Hamburg 1998. Im folgenden zitiert als »KrV«, mit Angabe der Auflage und der Seitenzahl. Hier KrV A 77, B 103. 37 Vgl. GWL, in: GA I/2, 283–285; SW 1, 123–125. Vgl. ferner zu Fichtes analytischsynthetischer Methode v. Verf.: Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95), in: Kant und der Frühidealismus. System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus 2. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg u. a. Hamburg 2007, 103–128, besonders 110–115. 36
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Daß das Analysieren und Synthetisieren von Vorstellungen, Begriffen, Ideen und Gefühlen eine grundlegende Gedankenfigur in den Fichte-Studien darstellt, läßt sich an der Analogie der philosophischen Begriffsarbeit zum Tun der Chemiker, die Hardenberg in der Fichte-Studien 219 reflektiert, gut nachvollziehen. Er schreibt dort: »Bisher suchte man eine absolut einfache These zu finden – jezt sucht man eine absolute Synthese /bey d[en] Chymikern jenes einfacher, dieses zusammengesezter Stoff./ These ist das Residuum des Handelnden – die einfache Basis. Absolute Synthese – absolute These – Jene ist die Einbild[ungs]Kr[aft] qua solche – diese, sie selbst im Gegensatze ihres Produkts – oder in Beziehung aufs Produkt. Das Subject ist also nur eine Idee – es ist nur das Entgegengesezte der Vorstellung oder Anschauung, schlechterdings nichts weiter. Dem Subject muß aber nothwendig die Caussalitaet fehlen – denn es ist ja nur Residuum. Inwiefern wird das Subject, also das Produkt auf sich beziehen können? Im Grunde niemals. Wie kann man von Freyheit sprechen? oder wie kann sich doch das Subj[ect] Caussalitaet zuschreiben?«38 Die absolut einfache These des Chemikers ist das einfache irreduzible Element, das er sucht, indem er die synthetisch gegebenen Stoffe auf ihre Bestandteile hin analysiert. Überträgt man dies auf das Suchen der Philosophie nach dem entscheidenden Anfangsprinzip der Philosophie, so ist nicht eindeutig klar, ob dieses Anfangsprinzip ein absolut thetisches oder ein absolut synthetisches Prinzip ist. Als erste Ursache, als Prinzip der Kausalität der Freiheit ist es thetisch, weil unbedingt, nicht abhängig von einer es selbst verursachenden Instanz. Es ist andererseits synthetisch, weil es die Bedingung einer unendlichen, unbestimmten Vielheit von Möglichkeiten ist. Indem Hardenberg nun in der Fichte-Studie 649 von dem am Faden der Zeit fortzuspinnenden Universalsystem der Philosophie spricht, betont er auch: »/Wir müssen die Dichotomie überall aufsuchen./«39 Diese beiden Momente, das Fortspinnen am Faden der Zeit und das Aufsuchen von Dichotomien, dürfen in den Zusammenhang mit seiner Bemerkung gebracht werden, mit der er behauptet: »Ich betrachte jeden Schritt vor und rückwärts«, also synthetisch und analytisch. Hier nimmt Hardenberg für seine Synthese und Analyse eine horizontale Bewegung in Anspruch, während in anderen Kontexten häufig die Vertikale ins Bild gesetzt wird. 38 39
FS 219, in: NS 2, 168–169. FS 649, in: NS 2, 289–290.
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Die entscheidende Kritik Hardenbergs besteht also nicht in der Frage, ob die Methode im ganzen einer Analyse oder einer Synthese folgt. Die Frage nach der Methode entscheidet sich vielmehr durch den Gegenstand, ob nämlich ein Universalsystem gesponnen werden soll im Gang einer Synthese, oder ob das Prinzip des Absoluten aufgesucht werden soll, wie es die Fichte-Studie 566 vorsieht: »Filosofiren muß eine eigne Art von Denken seyn. Was thu ich, indem ich filosofire? ich denke über einen Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne – sondern innre Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen.«40 Nach dieser Überlegung beginnt man nicht mit einem Prinzip der Philosophie, wie es etwa Fichtes Grundlage vorsieht, sondern man endigt bei einem absoluten Grund, dessen Auffindung die Folge eines dem Philosophieren ganz eigenen Streben ist, und der zugleich »innre Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen« zu garantieren hat. Sowohl nach der inneren Beschaffenheit zu sehen, als auch den Zusammenhang mit dem Ganzen im Blick zu halten, läßt sich offenkundig als Fall der Anwendung von Hardenbergs schrittweiser Vorwärts- und Rückwärtsbetrachtung interpretieren. Das Vorwärtsgehen ist mit dem Blick auf das Ganze verknüpft, der Schritt rückwärts sieht nach der inneren Beschaffenheit. Eine Vielzahl solcher Doppelschritte zusammengenommen bildet die Suche nach dem Absoluten in der Philosophie, von der Hardenberg in der Fichte-Studie 566 schreibt: »Alles Suchen nach Einem Princip wär also wie ein Versuch die Quadratur des Zirkels zu finden. /Perpetuum mobile. Stein der Weisen./ (Negative Erkenntniß/ (Die Vernunft wäre das Vermögen einen solchen absoluten Gegenstand zu setzen und festzuhalten./ (Der durch die Einbildungskraft ausgedehnte Verstand/ Streben nach Freyheit wär also jenes Streben zu filosofiren, der Trieb nach der Erkenntniß des Grundes. Filosofie, Resultat des Filosofirens, entsteht demnach durch Unterbrechung des Triebes nach Erkenntniß des Grundes – durch Stillstehn bey dem Gliede, wo man ist – Abstraction von dem absoluten Grunde, und Geltendmachung des eigentlichen absoluten Grundes der
40
FS 566, in: NS 2, 269–271. 269.
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Freyheit durch Verknüpfung (Verganzung) des Zu Erklärenden / zu einem Ganzen.«41 Es ist für Hardenberg offenkundig kein sinnvoller Ansatz, den analytischen Gang gegen den synthetischen oder den synthetischen Gang gegen den analytischen auszuspielen. Aus den hier zusammengetragenen verstreuten Überlegungen in den Fichte-Studien darf abgeleitet werden, daß Hardenberg zufolge die zu behandelnde philosophische Frage und die Problemstellung vorgibt und mitbestimmt, welche Methode man wählt und wie sie mit der jeweils inversen Form der Analyse oder Synthese zusammenhängt und ob zum Prinzip hinaufgegangen, oder von ihm der Ausgang genommen wird. Auch in dem Punkt zeigen sich Hardenbergs Ambitionen ganz deutlich am Werk, die dogmatischen Streitigkeiten des Systembauens um die Methode der Analyse oder der Synthese, sowie des Gangs hinunter vom Prinzip oder hinauf zum Prinzip zugunsten einer Beurteilung aufzubrechen, die die Methode am Gegenstand prüft. Der lebendige Organismus ist ein Ganzes, in dem sich die Teile und die Idee des Ganzen wechselseitig bedingen, sich wechselseitig Ursache und Wirkung sind. Von der Idee des Ganzen her muß sich entscheiden, ob das lebendige Ganze des geistigen Systems auf begreifliche und nachvollziehbare Weise in die Diskursivität der Sprache auseinandergelegt ist, oder ob dieses Ziel verfehlt wird. 5. Bestimmungen sind einseitige Fixierungen Mit dem Bau von Systemen werden Bestimmungen getroffene und damit Fixierungen vorgenommen, die die Offenheit der Freiheit einschränken, ihr oft geradezu widersprechen. Es gilt, ein solches System als möglich zu denken, das Freiheit in einem maximal Maß zur Realität verhilft. Fixierungen sind so nötig, um Orientierung und Bestimmung möglich zu machen, wie sie zugleich Geltungsräume festschreiben, die genau zu beobachten und zu rechter Zeit aufzubrechen sind, damit die einseitigen Geltungen nicht auf Dauer zu Ungerechtigkeit führen. Denn, wie schon oben in der Fichte-Studie 647 zu lesen war: »Jede Fixirung Eines Objects etc. ist so richtig, aber auch so ungerecht, wie eine alleinseligmachende Religion«.42 Mannigfach beklagt Hardenberg die Fixierungen, die so not-
41 42
FS 566, in: NS 2, 269–271. 270. FS 647, in: NS 2, 287–288. 287.
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wendig sind für den Vollzug des Lebens, wie sie der Freiheit, der Hardenberg das Wort redet, widersprechen. Der Bau eines Systems, eines Lehrgebäudes, ja auch eines Staatsgebildes, einer Rechtsordnung will Ordnung im Denken schaffen, Regeln aufstellen, die allgemein gelten sollen. Der Systembau einer Philosophie, einer Wissenschaft, eines Rechtskodex verführt jedoch zu einer inneren Haltung seiner Autoren wie seiner Nutzer, die geschaffenen Ordnungen als ewige Ordnungen anzusehen, starr zu sein im Umgang mit ihnen, auf individuelle Fälle, auf lebendige Prozesse nicht antworten zu können. So hat Hardenberg in dieser Haltung zum System in Philosophie, Wissenschaft, Staat oder Recht eine gefährliche Bequemlichkeit gesehen, die er wiederholte Male thematisiert. Gegen starre Fixierungen mahnt er Lebendigkeit und Offenheit ein. Dies ist der offenkundige Grund dafür, daß Hardenberg auf provozierende Weise einen ersten Grundsatz des Systemdenkens fordert, der allem widerspricht, was ein Systemtheoretiker der traditionellen Metaphysik von Platon bis Hegel auch nur zu denken in den Sinn käme. In der Fichte-Studie 234 schreibt Hardenberg: »/Eine Art von Wechselbestimmungssatz, ein reines Associationsgesetz scheint mir der oberste Grundsatz seyn zu müssen – ein hypothetischer Satz./ Allgemeingültige Filosofie würde die Fixirung der sogenannten Subjectivitaet, also ein freyes Factum, oder die Annahme eines hypothetischen, freyen Satzes, voraussetzen. Man kann so gewiß seine Filosofie wahr nennen – so gewiß man etwas schön nennt.«43 Ein oberster Grundsatz als Assoziationsgesetz, als freies, weil nicht fixiertes Faktum, als hypothetische Annahme, die trotzdem allgemeingültig sein will? Sofern dies ein ernstzunehmendes System möglich machen kann, so ist sein höchstes, deutlich erkennbares Anliegen Lebendigkeit und Freiheit. Hardenbergs Begriff der Lebendigkeit und Freiheit gilt es daher abschließend zu skizzieren.
6. Philosophieren als Freiheit und Kreativität Ein wahres System der Freiheit, ist ein System, das bereit ist zum Aufbruch, ist Tun, ist Philosophieren, fordert eine Kreativität, die immer auf dem Weg ist und daher immer auf die Verganzung aus ist, die sie nie ist, 43
FS 234, in: NS 2, 176–182. 177.
»Das oberste Princip – ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes … «
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sondern immer wird. Hardenberg behauptet daher in der Fichte-Studie 568: »/Das oberste Princip muß schlechterdings Nichts Gegebenes, sondern ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes, seyn, um ein allgemeines metaphysisches System zu begründen, das von Freyheit anfängt und zu Freyheit geht. /Alles Filosofiren zweckt auf Emancipation ab./«44 Offenkundig bejaht Hardenberg auch hier die Systemkonzeptionen der Metaphysik, sofern die Freiheit darin genügend Spielraum findet und offen ist für Neuerungen. Hardenberg vertritt eine entschiedene künstlerisch offene Freiheitskonzeption, die über die Grenzen hinaus gehen will, die mit der Spontaneität des Erkennens und der Freiheit des Kantischen oder Fichteschen Sittengesetzes gesetzt sind. Der Prozeßgedanke, das aktive Handeln ist für Hardenberg weit über Kant und Fichte hinaus so zentral, daß er es schließlich vorzieht, von einer »Verganzung« zum System, statt von dem Ganzen eines Systems zu sprechen: »Abstraction von dem absoluten Grunde, und Geltendmachung des eigentlichen absoluten Grundes der Freyheit durch Verknüpfung (Verganzung) des Zu Erklärenden / zu einem Ganzen. Je mannichfaltiger die Glieder dieses Ganzen sind desto lebhafter wird die absolute Freyheit empfunden – je verknüpfter, je Ganzer es ist, je wircksamer, anschaulicher, erklärter, ist der absolute Grund alles Begründens, die Freyheit, darinn.«45 Ein System soll Orientierung geben, um Zusammenhänge aus dem Ganzen heraus begreiflich zu machen. Zugleich aber soll es den Horizont für Neuerungen offen halten, um neue Verknüpfungen und Verganzungen denken, beurteilen und zur Lebensmaxime machen zu können. Abschließend sei betont, daß Hardenbergs Systemkritik und seine Systemkonzeption nur Bestand hat im Dialog mit den Systemen, auf die er sich kritisch bezieht, da er selbst weder das Philosophieren im Horizont von Systemkonzeptionen gänzlich zertrümmern will, noch selbst ein eigenes System anzubieten hat. Seine skizzenhaft entworfene Konzeption ist wesentlich getragen von dem Bedürfnis, vorhandene oder voraussehbare Systemfehler zu umgehen und zu meiden. Die kritisierten Fehler sind dogmatische Streitigkeiten um den höchsten Rang des einen oder des anderen Systems, Vorschriften der Methode, wo nichts vorgeschrieben werden kann, das be44 45
FS 568, in: NS 2, 272–274. 275. FS 566, in: NS 2, 269–271. 270.
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queme und schnell unlebendig werdende Verharren im einmal Errichteten. Statt dessen plädiert er für offene, revidierbare Systeme. So wird auch die in Paradoxien und markante Provokationen verliebte Sprache verständlich, die mit einem ironischen Überschwang einen spielerischen Impuls dichterischer Lebendigkeit in das trockene Geschäft des philosophierenden Begreifens von Systemen hineinzutragen sich bemüht, nicht um Kant, Fichte, Schelling oder Hegel vom Thron zu heben, sondern um den Gedanken wach zu halten, daß alle Philosophie von »Freyheit anfängt und zu Freyheit geht. /Alles Filosofiren zweckt auf Emancipation ab.«46 Und daher muß das »Universalsystem der Filosofie […] wie die Zeit seyn, Ein Faden, an dem man durch unendliche Bestimmungen laufen kann – Es muß ein System der mannichfachsten Einheit, der unendlichen Erweiterung, Compass der Freyheit seyn – weder formales, noch materiales System«.47
46 47
FS 568, in: NS 2, 272–274. 275. FS 649, in: NS 2, 289–290.
Andreas Kubik Welches System – welche Systemkritik? Zu Hardenbergs Systemgedanken und zu Violetta Waibels Hardenberg-Interpretation Während der Systembegriff in den Wissenschaften scheinbar weitgehend unbefangen verwendet werden kann – von ›sozialen Systemen‹ ist beispielsweise ebenso die Rede wie von ›biologischen Systemen‹ –, ist es in der Philosophie um ihn eher still geworden. Aus einer Vielzahl von Gründen hat das 20. Jahrhundert eine starke Reserve, ja teilweise Aversion gegen den philosophischen Systemgedanken entwickelt.1 Und doch könnte es ja sein, daß – um mit einem von der Philosophie allzu vernachlässigten Beitrag zur Systemdebatte zu sprechen – wirklich »das System nicht nur Ziel, sondern auch Ausgangspunkt alles Erkennens ist«.2 Noch diesseits aller Konnotationen von ›Erstarrung‹, ›Fixierung‹ oder ›Verkrustung‹ könnte das System ja auch als eine eigentliche Unruhe im Denken gedacht werden, als ein treibendes »Begehren […], die Einheit alles Einzelnen zu schauen.«3 Das System wäre dann also kein Ausdruck von Leblosigkeit, sondern – wie Tillich im expliziten Anschluß an Johann Gottlieb Fichte sagt4 – 1
Vgl. Christian Strub: Art. System II. System und Systemkritik in der Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), 825–856. Ausnahmen wie etwa das voluminöse Werk von Hermann Schmitz: System der Philosophie. 5 Bände. Bonn 1964 ff., bestätigen die Regel. 2 Paul Tillich: Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: ders.: Gesammelte Werke. Band 1. Hrsg. v. Renate Albrecht. Stuttgart 1959, 109–293, hier 111. Im folgenden zitiert als »Tillich, System«, mit Angabe der Seitenzahl. Tillichs Schrift ist von Emanuel Hirsch als »eine der reifsten Leistungen neuerer deutscher systematischer Philosophie« (Emanuel Hirsch: Rez. Paul Tillich: Religionsphilosophie, in: Theologische Literaturzeitung 52 (1926), 97–103, hier 97) bezeichnet worden. 3 A. a. O., 114. 4 Tillich wird immer wieder zu Unrecht als reiner Schellingianer angesehen. Zu seinen philosophischen Lehrern gehörte aber der Fichte-Forscher Fritz Medicus, der Tillich zu einer großen Vertrautheit mit Fichte führte (vgl. auch Paul Tillich: Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium (1906), in: ders.: Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken. Band 9. Hrsg. v. Gert Hummel u. Doris Lax. Berlin/New York 1998, 4–19). Während des Ersten Weltkriegs kommt eine intensive Beschäftigung mit der zeitgenössischen Wertphilosophie hinzu (Scheler, Rickert, Lask u. a.).Vgl. ausführlich zu Tillichs philosophischem Einflußfeld bis 1918: Ulrich Barth: Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: ders.: Religion in der Moderne. Tübingen 2003, 89–123.
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»eine Selbstanschauung des lebendigen Wissens«.5 Insofern nun unter nachkantischen Bedingungen ein System des Wissens wegen der unauflöslichen Verflochtenheit von Subjekt und Objekt im Wissen immer zugleich auch »Ausdruck des Systems der Geistesfunktionen«6 wäre, würde das System und die Suche nach ihm zugleich auch zur Selbsterforschung des philosophierenden Subjekts. Dann könnte ja eine weiterführende Frage mit Bezug auf den Gedanken sein: Was möchte ich philosophisch überhaupt von einem System, wie wäre es zu entwerfen, und was sagt ein System über die systematisierende Subjektivität aus? In Richtung dieser Fragen hat jüngst Violetta Waibel die Überlegungen Friedrich von Hardenbergs – besser bekannt unter seinem späteren Pseudonym ›Novalis‹ – zum Systemgedanken in dessen Fichte-Studien gedeutet.7 Fichte habe seine Philosophie ganz selbstverständlich als System verstanden, seinen Systembegriff auch expliziert,8 aber keinerlei MetaReflexionen über den Systemgedanken selbst, seine Leistungsfähigkeit – und seine Gefahren – sowie über die verschiedenen möglichen Ausgestaltungen eines philosophischen Systems angestellt. Genau dies aber tue Hardenberg und sei deshalb eher als Fichte in der Lage, die mit dem Systemgedanken immanent verbundenen Schwierigkeiten kontrolliert zu handhaben. Aufgrund seiner sich daraus ergebenden Einsichten habe er unserer philosophischen Gegenwart durchaus einiges anzubieten.9 Ich möchte meine Anmerkungen zu dieser These in drei Teile gliedern: Zunächst ist die Hardenberg-Deutung Violetta Waibels in der neueren Novalis-Forschung zu verorten. In einem zweiten Teil möchte ich ihre eigentliche Interpretation zum Systemgedanken kritisch erwägen. In einem kürzeren dritten Teil möchte ich eigene Überlegungen zu Hardenbergs System zumindest andeuten.
5
Tillich, System, 120 (Hervorh. v. Verf.). A. a. O., 115. 7 Vgl. dazu neben ihrem Beitrag Das oberste Princip – ein Frey Gemachtes, ein Erdichtetes, Erdachtes. Anmerkungen zu Hardenbergs Systemkritik in diesem Band (im folgenden zitiert als »Waibel, Princip«, mit Angabe der Seitenzahl) auch dies.: »Filosofiren muss eine eigne Art von Denken seyn«. Zu Hardenbergs Fichte-Studien, in: System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen. Würzburg 2006, 59–90, hier v. a. 77–81. Im folgenden zitiert als »Waibel, Filosofieren«, mit Angabe der Seitenzahl. Zu verweisen ist auch auf ihre Habilitationsschrift [derzeit im Druck]. 8 Vgl. Violetta Waibel: Philosophie als System. Vergleichende Überlegungen zu Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1794/95 und zur Wissenschaftslehre nova methodo, in: Revue Internationale de Philosophie 206 (1998), 557–585. 9 Vgl. die applizierenden Äußerung bei Waibel, Filosofiren, 89 f. 6
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1. Violetta Waibels Stellung in der neueren Hardenberg-Forschung Betrachtet man die schiere Fülle an Literatur, die zu Hardenberg bzw. Novalis auch nur unter philosophischen Gesichtspunkten erschienen ist, so muß nüchtern konstatiert werden, daß gleichwohl noch immer keine Einigkeit darüber hergestellt worden ist, wofür Hardenberg philosophisch eigentlich steht. Von einer gewissen Zählebigkeit sind inzwischen veraltete, aber immer noch tradierte Ansätze, welche im Denkweg Hardenbergs einen schleichenden Abschied von der Philosophie sehen. Was die idealistische Philosophie wollte, ließe sich danach nur in der romantischen Dichtung erfüllen. Novalis habe deshalb der Philosophie sein Valet gegeben und sei zum Dichter geworden.10 Eine ganz andere Deutung liest Hardenberg als Vertreter eines ›analogen Denkens‹, welches den Verkarstungen der in binären – ›digitalen‹ – Logiken operierenden Moderne die Stirn biete.11 Am gewichtigsten aber ist diejenige Interpretation, welche Hardenberg als kompetenten Teilnehmer am Grundsatzdiskurs der 1790er Jahre liest und ihm innerhalb dieser Debatten eine Fichte-kritische Haltung zuerkennt, die bestimmte Einseitigkeiten der Fichteschen Philosophie – insbesondere im Hinblick auf die sogenannte Aporie der Selbstvoraussetzung des Selbstbewußtseins – mit bis heute erwägenswerten Gründen korrigiere und überwinde. Dieser Ansatz ist durch Schüler Dieter Henrichs etabliert worden; neben Stefan Summerer12 ist hier vor allem an die Arbeiten Manfred Franks zu denken.13 Dessen Hardenberg-Deu10
Vgl. als gewichtigste Deutung in dieser Richtung Manfred Dick: Die Entwicklung des Gedankens der Poesie in den Fragmenten des Novalis. Bonn 1967. 11 Vgl. aus neuerer Zeit Ralf Liedtke: Das romantische Paradigma der Chemie. Paderborn 2003. Vgl. zur gänzlichen Untauglichkeit von Programm und Durchführung meine ausführliche Besprechung, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 9 (2005), 349–357. Forschungsgeschichtlich bedeutsamer ist die Arbeit von Ulrich Gaier: Krumme Regel. Novalis’ Konstruktionslehre des schaffenden Geistes und ihre Tradition. Tübingen 1970. 12 Vgl. Stefan Summerer: Wirkliche Sittlichkeit und ästhetische Illusion. Die Fichterezeption in den Fragmenten und Aufzeichnungen Friedrich Schlegels und Hardenbergs. Bonn 1974. 13 Aus der Fülle der Veröffentlichungen sind für unseren Zusammenhang die wichtigsten: Zur Grundlegung der Romantik-Interpretation und der Fichte-Deutung vgl. Manfred Frank: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. Paderborn 1972; ders./Gerhard Kurz: Ordo inversus, in: Geist und Zeichen. FS Arthur Henkel. Hrsg. v. Herbert Anton. Heidelberg 1977, 75–95. Zu Hardenbergs Stellung in der Philosophiegeschichte des späten 18. Jahrhunderts in Franks Deutung
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tung ist, da sich gewichtige Multiplikatoren ihr angeschlossen haben,14 inzwischen am stärksten verbreitet und von Frank immer weiter ausgebaut worden. Der junge Verwaltungsbeamte war demnach – als das eigentliche philosophische Schwergewicht der Frühromantik – im Grunde ein konsequenter Realist und Skeptiker,15 der Fichte nur noch mit Kopfschütteln gegenüber stand. Folgt man dieser – hier verkürzten – Überschau über neuere Hardenberg-Deutungen, so scheinen sich die Arbeiten Violetta Waibels umstandslos in die dritte Gruppe einzufügen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann aber doch eine ganze Reihe von gewichtigen Differenzen, welche diese Einordnung zumindest stark einschränken. Diese Differenzen beruhen nicht nur auf der Rezeption neuerer Arbeiten zu Novalis, welche bereits kritische Modifikationen an Franks Ansatz vornehmen,16 sondern dürften vor allem einer Neubewertung der Bedeutung von Fichtes Denken für Novalis geschuldet sein. Für Frank war und ist die Studie seines Lehrers Henrich über Fichtes ursprüngliche Einsicht17 stets der maßgebliche Bezugspunkt seines Fichte-Verständnisses. Seine FrühromantikerInterpretation, die sich in ihrer Fichte-Kritik mit jeder Veröffentlichung verschärfte, blieb vollständig abgekoppelt vom Gespräch mit der neueren Fichte-Forschung und konstruiert deswegen vom heutigen Forschungsstand aus schiefe Alternativen. Auf diese Entwicklung kann Violetta Waibel bereits zurückschauen, und das um so mehr, als sie selbst tatkräftig zu ihr beigetragen hat.18 Dreierlei wäre hier festzuhalten: vgl. ders.: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1998. Im folgenden zitiert als »Frank, Annäherung« mit Angabe der Seitenzahl; zur problemgeschichtlichen Verortung in der Philosophie der Neuzeit vgl. ders.: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt a. M. 2002; zu Franks Erkenntnisinteressen dabei vgl. ders.: Auswege aus dem deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 2007. 14 Vgl. den voluminösen Forschungsbericht von Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991; ferner den Kommentar zur gängigsten wissenschaftlichen Leseausgabe von Hans Jürgen Balmes: Novalis. Werke, Tagebücher und Brief Friedrich von Hardenbergs. Band 3. München 1978 (ND Darmstadt 1999); die Einleitung zur englischen Übersetzung der Fichte-Studien von Jane Kneller: Introduction, in: Novalis: Fichte-Studies. Cambridge 2003, ix–xxxiv. 15 Vgl. Manfred Frank: »Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch.« Motive der Grundsatz-Skepsis in der frühen Jenaer Romantik (1796), in: Revue Internationale de Philosophie 50 (1996), 403–436. 16 Vgl. Bernward Loheide: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs. Amsterdam 2000; Martin Götze, Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik, Paderborn 2001. 17 Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. 1967. 18 Bereits ihre erste Veröffentlichung zu Hardenberg läßt einen gegenüber Frank
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Erstens, Hardenberg gehört – wenn auch auf seine eigene Weise – in die Geschichte der Subjektsphilosophie mit hinein und nicht zu den Absetzbewegungen von ihr. Seine Philosophie ist als ›Ich-Philosophie‹ nicht unzutreffend gekennzeichnet; wenn man das bestreiten wollte, müßte man als erstes die spaltenlangen Registereinträge zum Begriff des ›Ich‹ in den kritischen Novalis-Ausgaben wegerklären. »D[ie] Sfäre des Ich muß für uns alles umschließen«19 – dieser Satz markiert so etwas wie eine idealistische Grundentscheidung. Zu diesem Themenkomplex gehört zweitens, daß seine Auseinandersetzung mit Fichte bis Mitte der 1790er Jahre keineswegs abgeschlossen ist,20 sondern zu seinem Lebensende hin fortdauert. Waibel ist hier in ihren Formulierungen eher vorsichtig, um den Frank-Adepten die Abkehr von deren irriger Perspektive leichter zu machen. Doch in der Sache hat sie Frank zu Recht vom Kopf auf die Füße gestellt. Denn ob Hardenberg je und je Fichte zustimmt oder sich von ihm abgrenzt, es ist ihm wie seinen frühromantischen Mitstreitern völlig unstrittig, daß Fichte (neben Kant) in philosophischen Dingen stets die erste Bezugsgröße ist. Drittens, Hardenberg gehört ebenso nicht in die Reihe der sogenannten frühromantischen Systemkritik – oder falls doch, dann nur in der differenzierten Weise, wie Waibel es ausgeführt hat. Frühere Interpreten wollten zum Beispiel das Fragment zum Kern und Stern frühromantischen Philosophierens machen. Doch wenn die Fichte-Studien nur irgendetwas mit Hardenbergs eigener Philosophie zu tun haben, so scheitert jene Deutung bereits daran, daß Hardenberg zum Zeitpunkt seiner Fichte-Studien die Form des Fragments überhaupt noch nicht bekannt war. Ja man kann geradezu sagen: Es gab das romantische Fragment zu jener Zeit noch gar nicht.21 Darüber hinaus ist der philosophische Sinn des Fragments bei den Frühromantikern komplett verkannt, wenn man es in eine simple eigenständigen Deutungsansatz erkennen; vgl. Violetta Waibel: »Innres, äußres Organ«. Das Problem der Gemeinschaft von Seele und Körper in den Fichte-Studien Friedrich von Hardenbergs, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 10 (2000), 159–181. 19 Friedrich von Hardenberg (Novalis), Fichte-Studien (1795/96), in: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Richard Samuel. Stuttgart/Berlin/ Köln 21960–1999. Die ›Werke‹ werden im folgenden zitiert als »Hardenberg, NS«, mit Band- und Seitenangabe. Die Fichtestudien darin werden zitiert als »Hardenberg, FS«, und zwar mit der Nummer, des Bandes der ›Werke‹ und der Seite. Hier Hardenberg, FS 1, in: NS 2, 104. 20 So nämlich Frank, Annäherung, 785. 21 Vgl. v. Verf.: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht. Tübingen 2006, 186–203. Im folgenden zitiert als »Verf., Symboltheorie«, mit Angabe der Seitenzahl.
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Opposition zum Gedanken des Systems bringt.22 Hardenberg hat – wie alle frühromantischen Fragmentisten – das Fragment als vorläufige Form des Übergangs angesehen und ist wie jene auch zu verschiedensten literarischen Großformen fortgeschritten. Diese drei Einsichten können m. E. bis zum Vorliegen wirklich guter Gründe als sichere Ausgangspunkte allen weiteren Untersuchens angesehen werden. Eine erste Nachfrage bezieht sich auf ein scheinbar sachlich randständiges – wenn auch ehrwürdiges – Problem, das aber bei näherem Hinsehen doch von großer Wichtigkeit ist: die Frage nach Hardenbergs philosophischen Quellen. Die Forschung nahm bis vor kurzem an, daß er zum Beginn der Fichte-Studien im Sommer 1795 das philosophische Tableau souverän übersah. Das läßt sich philologisch auf keinen Fall halten und widerspricht auch den Selbstzeugnissen.23 Waibel ermäßigt dies folgerichtig: Hauptquellen wären demnach die damals bekannten Schriften Fichtes, die drei Kritiken Kants und Jacobis Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. M. E. ist selbst diese Ermäßigung noch zu weit gehend. Eine wirklich eingehende Lektüre zumindest der ersten und zumal der dritten Kritik erscheint mir eher unwahrscheinlich; auch für seine philosophische Jacobi-Kenntnis gibt es nur einen marginalen Hinweis aus den Primärquellen.24 Die philologische Frage selbst muß hier nicht ausgeführt werden, wichtig für unseren Zusammenhang ist aber zweierlei: Zum einen, man muß stets mit einem völlig ungeschulten und sehr eigenwilligen Umgang mit philosophischer Terminologie in den Fichte-Studien rechnen. Zum zweiten macht es natürlich einen Unterschied, ob Hardenberg etwa Kants wichtigste Texte zum Systembegriff – also die Schlusspassagen der Kritik der reinen Vernunft und die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft – gekannt hat oder nicht. Während die Quellenforschung in bezug auf Das allgemeine Brouillon (1798/99) höchst verlässliche und differenzierte Ergebnisse erbracht hat, kann davon bislang mit Bezug auf die Fichte-Studien noch nicht von ferne die Rede sein. 22
So insbesondere Michael Esders: Begriffs-Gesten. Philosophie als kurze Prosa von Friedrich Schlegel bis Adorno. Frankfurt a. M. 2000. 23 Vgl. v. a. den Brief an den Finanzrat Julius Wilhelm von Oppel vom Ende Januar 1800: »In Jena kam ich in genaue Bekanntschaft mit ausgezeichneten Gelehrten und die Liebe zu den Musen gewann […]. Die Philosophie wurde mir interessant, ich war aber viel zu flüchtig um es weiter als zu einer Geläufigkeit in der philosophischen Sprache zu bringen« (Hardenberg, NS 4, 310). 24 Aus welchen Gründen Waibel die Fichte-Studien unter allen Umständen vor dem Hintergrund Jacobis meint lesen zu müssen (vgl. v. a. Waibel, Filosofiren, 60–64. 88 f.), ist mir nicht nachvollziehbar.
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2. Zur Violetta Waibels Interpretation von Hardenbergs Systemgedanken Die philologischen Fragen erweisen sich auch bei der Frage nach dem Systemgedanken als wichtig, nämlich hinsichtlich der Quellen für Novalis’ Überlegungen. Violetta Waibel erwägt neben Fichte auch die Systemphilosophien Kants und Johann Heinrich Lamberts. Dafür gibt es aber – zumindest zur Zeit der Fichte-Studien – keinen Beleg. Ich werde mich deshalb auf Fichte als den hauptsächlichen Gesprächspartner Hardenbergs konzentrieren, wie sich ja faktisch auch Waibel vor allem für Hardenbergs Position im Gegenüber zum Wissenschaftslehrer interessiert. Dabei gilt es die Argumente unter zweierlei Gesichtspunkten zu erwägen: zum einen hinsichtlich ihres Kritikpotenzials gegenüber Fichte, und zum anderen hinsichtlich ihrer philosophischen Tragfähigkeit überhaupt. Nach Waibel ist Hardenberg kein Kritiker des Systemgedankens als solchem, sondern: »Hardenbergs Kritik zielt auf eine Pluralität von Systemen ab.«25 Eine solche Pluralität impliziert, daß die Suche nach genau einem obersten Prinzip des Systems abgebrochen werden kann und eine Mehrzahl von verschiedenen Prinzipien möglich ist, die auch nicht als aufeinander rückführbar gedacht werden müssen. Das ›Ich‹ im Sinne des § 1 von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre kann durchaus als ein Prinzip der Philosophie angesehen werden, es lassen sich aber noch weitere Prinzipien denken und anwenden, welche ebenfalls für sich zur Grundlage plausibler Systeme gemacht werden können. Wenn Waibel also konzediert, daß für Hardenberg »das Ich ein gutes und in besonderer Weise ausgezeichnetes Prinzip der Philosophie ist«26, so stellt sich die Frage, was denn die Gütekriterien von Prinzipien der Philosophie sein sollen. Das heißt, in Frage steht der genaue Zusammenhang von Prinzip und System, oder – anders gesagt – das Problem, inwiefern das Prinzip denn auch konkret dasjenige prinzipiiert, was dann im System erfaßt wird. Fichte hat zu dieser Frage einige bemerkenswerte Reflexionen angestellt. Demnach muß ein Prinzip bzw. der das Prinzip ausdrückende Grundsatz zum einen ein reelles Wissen aussagen, zum anderen in sich selbst gewiß sein, um drittens diese Gewißheit auch den anderen Systeminhalten mitteilen zu können.27 Lediglich zur Kontrolle
25
Waibel, Princip, 358. A. a. O., 362. 27 Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft, in: J. G.. Fichte26
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der Gewißheit wird ein Wissensgebiet in systematischer Form dargestellt; diese ist aber an sich dem Wissen äußerlich. Das Gütekriterium eines Prinzips ist also, in sich gewiß zu sein und diese Gewißheit dem von ihm Prinzipiierten mitzuteilen.28 Hinsichtlich des Verhältnisses von System und Prinzip darf daran erinnert werden, daß bei Fichte keineswegs schlechtweg der erste Grundsatz als Ableitungsbasis fungiert, sondern daß vielmehr das Prinzipiengefüge aller drei Grundsätze erst jene produktive Unruhe erzeugt, welche dann zur Deduktion der Grundsätze der theoretischen und praktischen Philosophie führt. Über diese Zusammenhänge hat Hardenberg, wenn ich recht sehe, keine Reflexionen angestellt. Insbesondere das für Fichte zentrale Gewißheitsproblem fällt bei seinem jungen Leser vollständig unter den Tisch.29 Folglich ist noch einmal nachzufragen, was es philosophisch bedeutet, daß nach Waibels Hardenberg »Sein, Natur, Ich und Gott […] zentrale Prinzipien für eine Philosophie«30 sein können.31 Es dürfte ihrer Argumentation weniger darum gehen, wirklich genau diese vier Begriffe als mögliche Systemprinzipen zu erweisen. Denn inwiefern nun gerade diese – und in welcher Weise jeder einzelne von ihnen – als solche soll-
Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. Stuttgart/Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl; hier Abt. I, Band 2 (1969), 107–154, hier 112–126. Die §§ 1+2 dieser Schrift sind die Hauptquellen für Fichtes frühen Systembegriff, der § 8 ist – dies am Rande gesagt – das wahre ›Älteste Systemprogramm‹ des deutschen Idealismus. 28 Letztlich ist das starke Interesse an der Gewißheit seinerseits durch die Auseinandersetzung mit dem Determinismus motiviert, den es in den Augen Fichtes endgültig zu widerlegen gilt, um die moralische Freiheit nicht nur zu sichern, sondern als Kern allen bewussten Lebens aufzustellen. 29 Eine Ausnahme bildet Hardenberg, FS 554, in: NS 2, 265 f., wo er allerdings auf die »theoretische Vernunft« abzielt. In meinen Augen ist Hardenbergs Ringen mit dem Fichteschen Ich-Gedanken stärker durch dessen spekulativen Gehalt als durch dessen Funktion als Systemprinzip bedingt. Darauf ist weiter unten noch einzugehen. 30 Waibel, Princip, 366. 31 Waibel bezieht sich besonders auf Hardenberg, FS 151, in: NS 2, 157. Diese Aufzeichnung ist unbedingt in ihren größeren Kontext der Studien 139–170 einzustellen; ob man ihr dann noch viel Bedeutung beimessen will, wage ich zu bezweifeln. Da Hardenberg in diesen Passagen das ›Sein‹ nicht erwähnt, vermute ich in dessen Aufnahme durch Waibel eine Reminiszenz an Manfred Frank. Zur genaueren Bestimmung des Seins-Begriffs in den Fichte-Studien wären zumindest folgende Stellen im Hintergrund mitzulesen: »Folglich muß Seyn allen Thesen […] seyn« (Hardenberg, FS 3, in: NS 2, 107; gemeint ist: ›Sein‹ ist Eigenschaft der Thesis im Sinne Fichtes, wird also vom Ich gesetzt); »Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn« (Hardenberg, FS 555, in: NS 2, 266).
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ten fungieren können, wäre ja gar nicht gezeigt. Die eigentliche Pointe dürfte vielmehr in der Interpretationsthese bestehen, daß nach Hardenberg »Systeme aus jeder beliebigen Entität entwickelt werden können«.32 Diese sehr viel weiter reichende These gilt es nun zu erwägen. Zunächst ist festzuhalten, daß hier nicht mehr von einem ›Begründen‹, sondern lediglich noch von einem ›Entwickeln‹ die Rede ist. Dies könnte nahe legen, daß es gar nicht mehr um die Frage der Prinzipienfunktion im strengen Sinne geht, sondern vielmehr um die darstellungstechnische Frage nach dem »Ausgangspunkt der Philosophie«.33 In diesem Zusammenhang wäre nur darauf aufmerksam zu machen, daß auch für Fichte in dieser Hinsicht der Anfang vollkommen arbiträr ist: »Die Reflexion ist frei; und es kommt nicht darauf an, von welchem Punkte sie ausgeht.«34 Doch geht Waibels Argumentation nicht in dem darstellungstechnischen Hinweis auf. Tatsächlich behauptet sie weiter gehend einen Wechsel in Hardenbergs Systembegriff selbst. Ein ›System‹ ist demnach nicht nur – wie für Fichte – jenes zusammenhängende, durch strenge Folgerung verkettete und zu einem Ganzen vereinigte philosophische Gedankengebäude, sondern jede Form realer oder intellektualer Ganzheit, »sofern sich in ihnen eine erkennbare Ordnung und eine Absicht manifestiert.«35 Diesen veränderten Systembegriff habe sich Hardenberg höchstwahrscheinlich durch die Lektüre von Johann Heinrich Lamberts Systematologie und den zweiten Teil von Kants Kritik der Urteilskraft gebildet. Ferner sei er dem Willen des »Dichter[s] Novalis«36 geschuldet, auch ästhetische »Werkganzheitlichkeiten«37 unter den Systembegriff fassen zu können. In dieser »Generalisierung des Systembegriffs«38 liege eine bedeutende, weil die Systemdebatte entdogmatisierende Leistung Hardenbergs vor. Zunächst sei noch einmal kurz darauf hingewiesen, daß es für eine Lektüre Hardenbergs beider von Waibel genannten Werke – jedenfalls zur Zeit der Fichte-Studien – keinen Beleg, nicht einmal einen Hinweis gibt.39 32
Waibel, Princip, 367. Ihr Hauptbeleg ist Hardenberg, FS 647, in: NS 2, 287. Inwieweit dieser Text allerdings in den Zusammenhang der Systemfrage gehört, scheint mir mehr als fraglich. In meinen Augen ist der Kontext religionstheoretischer Natur und behandelt die Frage der Objektivität in der Religion. 33 Ebd. 34 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, in: GA I/2, 249–451, hier 256. 35 Waibel, Princip, 370. 36 A. a. O., 367. 37 A. a. O., 368. 38 A. a. O., 374. 39 Wenn Waibel schreibt, die Lektüre von Lambert könne »nicht definitiv ausgewie-
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Es wäre von daher wohl günstiger davon zu sprechen, daß Hardenbergs sehr rudimentäre Aufzeichnungen zur vermuteten Generalisierung des Systembegriffs unter Zuhilfenahme Lambertscher und Kantscher Überlegungen allererst auf den Begriff zu bringen wären. Ferner kann mit dem »Dichter Novalis« zur Zeit der Fichte-Studien noch nicht argumentiert werden, da Hardenberg sich erst ab dem Herbst 1797 wieder als Dichter definierte und sich alsbald jenes Pseudonym auswählte.40 Beides berührt indes noch nicht den Kern des Problems. Die Sachfrage, die sich stellt, ist, worin der begriffliche Gewinn bestehen könnte, jene Ganzheiten mit dem Ausdruck »System« zu bezeichnen. In eins damit fragt sich, inwiefern Prinzipien noch Prinzipien sind, wenn sie letztlich »nur Hinsichten und Fragehorizonte«41 abgeben.42 Diese Fragen führen uns auf das tiefste Anliegen, daß Waibels Hardenberg-Interpretation zugrunde liegt. Danach gehöre es zu Hardenbergs Grundeinsichten, daß das Systemphilosophieren im strengen Sinne zwar zu den Bedürfnissen des Geistes zählt, das System aber zugleich mit Notwendigkeit gewisse Ungerechtigkeiten zeitigt, die im Grunde dem freiheitlichen Impetus des Philosophierens zuwiderstreiten. Hardenberg gibt den Systembegriff also nicht auf, prägt ihn aber um, wie um diesem gedoppelten Umstand Rechnung zu tragen. Seine Philosophie – so darf man Waibel wohl ausschreiben – versteht sich insofern als Systemphilosophie, als sie eine Art Pfahl im Fleische des Systemdenkens sein will. Folglich »plädiert er für offene, revidierbare Systeme«,43 ohne freilich auszuführen, wie diese denkbar wären. Letztlich steht für Hardenbergs Systemkritik nach Waibel der Freiheitsgedanke also im Mittelpunkt, und in diesem Sinne kann sie sein Anliegen darin zusammenfassen, »ein System der Freiheit entwerfen zu wollen.« An dieser Stelle sei abschließend noch einmal ein Seitenblick auf Fichte geworfen. Waibel ist sich natürlich darüber im Klaren, daß auch Fichte den Anspruch hatte, ein System der Freiheit zu entwerfen44 und auszuführen. Doch während es Fichte um den Aufweis der moralischen Freiheit –
sen« (369) und die von Kant »nicht ausdrücklich belegt werden« (372), so heißt das die Beweislast nachgerade umzukehren. 40 Vgl. den Brief an Friedrich Schlegel vom 5. 9. 1797: Hardenberg, NS 4, 236. 41 Waibel, Princip, 358. 42 Diese Frage stellt sich umso schärfer, als Fichte selbstverständlich nicht bestritten hätte, daß den verschiedenen »Wissensweisen« (Waibel, Princip, 362) für sich genommen ebenso verschiedene Prinzipien zugrunde liegen. 43 Waibel, Princip, 382. 44 Vgl. Waibel. Filosofiren, 87.
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der Freiheit zum Guten – als Systemfundament geht, »streicht Hardenberg den Ausgang der Freiheit von der Unbestimmtheit, Offenheit und Negation heraus«.45 Das heißt, letztlich wäre demnach die Differenz zu Fichte in einem fundamental anderen Freiheitsverständnis begründet. Diese These gilt es nun abschließend zu beleuchten. Jene behauptete Abweichung hat ihre Schwierigkeiten nicht zuletzt darin, daß Hardenberg sich in seinen konkreten moralphilosophischen Ansichten durchgängig an Fichte anschließt, und zwar von den Fichte-Studien bis ins Spätwerk hinein.46 Zumindest in dieser, für beide Denker zentralen Hinsicht besteht eine Differenz mithin gar nicht. Das würde bedeuten, daß sich der ethische Freiheitsbegriff noch einmal von jenem vermeintlich höheren ableiten lassen müßte, der obendrein in seinem Sinn dem Kantisch-Fichteschen zumindest partiell entgegengesetzt zu sein scheint. Wie sich beide Freiheitsbegriffe zueinander verhielten, wäre allererst noch zu zeigen. Im Grunde – das dürften sowohl die obigen Einwände wie auch Waibels eigene einschränkende Hinweise gezeigt haben – sind die Notate der Fichte-Studien hinsichtlich des Systemgedankens so bruchstückhaft und vereinzelt, daß sie sich kaum oder zumindest nur unter Zuhilfenahme massiver Zusatzannahmen in ein kohärentes Theoriegebäude einfügen lassen. Es ist m. E. nicht recht einzusehen, warum Waibel sich in der Rekonstruktion ganz auf dieses Textkorpus beschränkt und die späteren Texte außen vor läßt. Aus diesem Grund werde ich in aller Kürze noch einen alternativen Entwurf einer Rekonstruktion von Hardenbergs Systemphilosophie skizzieren, der auch einen Blick auf das umfangreiche Spätwerk wirft.47
45
A. a. O., 89. Zur ersten Orientierung nur diese beiden Belege: »Die Moralität muß Kern unsers Daseyns seyn, wenn die uns seyn soll, was sie seyn will. […] Die höchste Filosofie ist Ethik. Darum fängt alle Filosofie vom Ich bin an.« (Hardenberg, FS 556, in: NS 2, 266 f.); sowie die spätere Lektürenotiz zu Fichtes Sittenlehre: »In Fichtens Moral sind die richtigsten Ansichten der Moral.« (Hardenberg, NS 3, 684). Vgl detaillierter Friedrich Strack: Novalis und Fichte. Zur bewußtseinstheoretischen und zur moralphilosophischen Rezeption Friedrich von Hardenbergs, in: Novalis und die Wissenschaften. Hrsg. von Herbert Uerlings. Tübingen 1997, 193–211. Stracks Rekonstruktionen sind hinsichtlich der Nähe Fichtes und Hardenbergs überzeugend, nicht aber hinsichtlich des gänzlichen Auseinanderreißens der ethischen Ansichten Kants und Fichtes. 47 Vgl. ergänzend Verf., Symboltheorie, 142–376. Dort wird zwar Hardenbergs Systemgedanke nicht erörtert, aber es werden die Materialien bereit gestellt, um folgende Skizze zu belegen. 46
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3. Skizze einer alternativen Rekonstruktion von Hardenbergs Systemgedanken »Man studirt fremde Systeme um sein eignes System zu finden.«48 Schon diese Notiz aus dem Spätherbst 1798, während dessen er eine Fülle ›fremder Systeme‹ studierte, belegt, daß für Hardenberg das Ringen mit dem Systemgedanken nach den Fichte-Studien noch längst nicht zum Abschluß gekommen ist. In der Tat finden sich in den späteren theoretischen Schriften noch eine ganze Reihe von Aufzeichnungen, die denen von 1795/96 erklärend und sie weiter führend an die Seite treten, wenn sie auch – ebenso wie diese – für sich genommen keine kontrollierte Rekonstruktion einer ›ersten Philosophie‹ erlauben. Daher bietet sich vielleicht einmal ein umgekehrter, eher induktiver Weg an, um der Idee von Hardenbergs System, die er zweifellos in sich getragen hat, auf die Spur zu kommen. Man kann nämlich danach fragen, was für ›Werkganzheiten‹ aus seiner Feder vorliegen und ob sich bei ihnen so etwas wie eine gemeinsame Struktur aufzeigen ließe, die möglicherweise sogar auf die Fichte-Studien rückbeziehbar wäre. Neben den vielen Studienheften, die Hardenberg zeitlebens geführt hat, ist an dreierlei zu denken: Zum ersten natürlich an die unvollendet gebliebenen Romane Heinrich von Ofterdingen und Die Lehrlinge zu Saïs sowie die großen Gedichtzyklen, also an das Gebiet der romantischen Ästhetik. Zum zweiten liegt von Hardenberg der Entwurf einer materialen Enzyklopädie vor, der unter dem Titel Das allgemeine Brouillon bekannt ist – das Gebiet der theoretischen Philosophie. Und zum dritten hat Hardenberg mit der berühmten Rede Die Christenheit oder Europa die Keimzelle einer groß angelegten Religions- und Christentumstheorie verfaßt. Diese drei Gebiete können als materiale Teile des Systems angesehen werden und unter Zuhilfenahme etwaiger flankierender Aufzeichnungen aus den Studienheften auch theoretisch rekonstruiert werden. Worin könnte nun eine gemeinsam Struktur liegen, welche möglicherweise auf ein identisches Systemfundament hinweise könnte? Heuristisch ist sie am ehesten im Ofterdingen greifbar. Der Held begibt sich aus einem naiven In-sich-Ruhen aufgrund unbestimmter Ahndungen hinaus auf die Reise und wird von den Widerfahrnissen und Begebenheiten in tiefe Fremdheitserfahrungen geführt, die im Bestandenwerden aber zu einem vertieften Bei-sich-Sein führen. Freilich hat der Held schon während der ›Reise‹ das Gefühl, ihm begegne auf geheimnisvolle Weise lauter Bekann48
Hardenberg, Das allgemeine Brouillon, in: NS 3, 278 Nr. 220. Die Aufzeichnung stammt von Herbst 1798.
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tes, als müsse er sich lediglich erinnern. Das Fremde, so zeigt es sich, erweist sich als das von ihm nur Ent-fremdete, ursprünglich aber Eigene: »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.«49 Diese Romanstruktur paßt nun aber genau zu bestimmten Gedankengängen aus den Fichte-Studien, zu welchem Textkorpus deshalb noch einmal kurz zurückgekehrt sei. Danach war es nicht falsch von Fichte, alle Realität ins Ich zu verlegen, aber er habe es »zu willkührlich« getan.50 Denn unser reflektierender Standpunkt ist doch stets in der Endlichkeit. Unser Denken ist ein Analysieren und in Beziehung setzen. Ich kann aber nur das analysieren, was ich als zuvor synthetisch vereinigt denke. Das absolute Ich muß infolgedessen als das »Absolut synthetische Ich«51 angesehen werden; wohl wissend, daß diese Bezeichnung dem absoluten Ich nicht an sich zukommt – denn zu dessen An-sich haben wir gar keinen Zugang –, sondern nur unsere Denkzutat ist. Das Wesen des Ich, so könnte man es zusammenfassen, ist nicht das bloße Setzen seiner selbst, sondern es ist Synthesis. Das bedeutet aber, daß das Ich, sofern es sich setzt, zugleich auch das Andere seiner selbst, das Nicht-Ich gesetzt hat. Das Nicht-Ich kann aber kein reales Anderwärtsher des Ich sein; das Ich erkennt im Nicht-Ich ursprünglich nur sein eigenes Sich-Fremdsetzen wieder. Das Nicht-Ich ist das durch eine »Alienation«52 des Ich fremdgesetzte Ich selbst. Ichheit kennen wir nur im Modus der gleichzeitigen Selbstentfremdung. Identität ist nur scheinbar ein einfacher Sachverhalt, in Wahrheit ist sie eine Synthesis zwischen mir und dem Bild, das ich mir von mir selbst mache. Dieses Bild fungiert mir aber, so sagt Novalis, als »Zeichen«53 für mich selbst. Identität als Synthesis fungiert als Zeichen für die dem endlichen Denken unerschwingliche einfache Identität selbst. Das absolut synthetische Ich muß nun zum einen transzendental als die Bedingung der Möglichkeit endlichen Synthetisierens begriffen werden und ist zugleich Zielbegriff menschlichen Vereinigungsstrebens. Exakt diese transzendentale Spekulation läßt sich aber nun auf die oben angedeutete Romanstruktur abbilden: Die absolute Synthese ist zugleich das ideale Woher wie das reale Wohin des Romans. 49
Hardenberg, Heinrich von Ofterdingen. Zweiter Teil: Die Erfüllung, in: NS 1, 325. Hardenberg, FS 5, in: NS 2, 107. So muß man wohl – anders als Waibel (Princip, 362) es tut – diese Aufzeichnung verstehen, wenn sie im Kontext der sie umgebenden Notate ihren Sinn behalten soll. 51 Hardenberg, FS 53, in: NS 2, 45. 52 Hardenberg, FS 3, in: NS 2, 11. 53 Hardenberg, FS 1, in: NS 2, 8. 50
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M. E. läßt sich jene ich-theoretische Grundlegung nun auch auf die anderen oben genannten materialen Systemteile beziehen. Das Ich kann hinsichtlich der Sphäre des Theoretischen auf dem Wege der materialen Enzyklopädie – der »Totalwissenschaft«54 – die ursprüngliche Einheit des Wissens konstruieren, die freilich nicht ontologisch an sich besteht, sondern sich der analogischen Kraft des synthetisierenden Ich verdankt. Und das Ich kann hinsichtlich der Religionstheorie den Endzustand des absoluten Ich virtuell antizipieren und in eigenen Handlungen und Vorstellungsräumen symbolisch zur Darstellung bringen, wobei es sich der Endlichkeit dieser Darstellungen vollkommen bewußt bleibt. Schließlich darf man zu den genannten drei Gebieten wohl auch noch das Feld der Ethik hinzuziehen, auf dem sich Hardenberg – wie oben bereits erwähnt – weitgehend Fichte angeschlossen hat: Das Ich kann sich durch praktische Betätigung das Vernunftlose vereigentümlichen und dadurch zu einer »Entwilderung der Natur«55 beitragen – das Programm einer prozessualen Kulturethik. Fassen wir zusammen: Nicht das endliche individuelle, wohl aber das überindividuelle Ich dechiffriert alles, auch das fremd Erscheinende, als letztlich zu ihm gehörig, sei es auf dem Weg der religiösen oder wissenschaftlichen Betrachtung, sei es auf dem Weg der ästhetischen oder ethischen Praxis. In der transzendentalen Spekulation über das absolut synthetische Ich liegt m. E. der Einheitspunkt – das Prinzip – des Systemplans von Hardenberg und zugleich auch die eigentliche Differenz zu Fichte. In formaler Hinsicht ist hier freilich fast alles Bruchstück geblieben, wie vor allem die Angabe eines Differenzpunktes, an dem das transzendentale Prinzip in die Vielzahl – oder Vierzahl56 – materialer Systemteile übergeht. In materialer Hinsicht erscheint aber das rekonstruierte Hardenbergsche System ungleich vielfältiger, reicher und zugleich liberaler als das des Wissenschaftslehrers.57 Insofern mag auch hier ein 54
Hardenberg, Hemsterhuis-Studien, in: NS 2, 368. Hardenberg, Die Lehrlinge zu Saïs, in: NS 1, 87. 56 Ob die genannten vier Bereiche das System erschöpfen oder nicht, darüber ist anhand der vorliegenden Materialien schwer zu urteilen. Ein wichtiger Problemfall ist sicherlich die Naturphilosophie. Ich würde aber rundweg bestreiten, daß dafür nach Hardenberg »Spinozas Natur […] für eine von einem göttlichen Prinzip durchwirkte alleinige Naturkonzeption, wie sie 1798/99 in Hardenbergs Lehrlingen zu Saïs dichterischen Ausdruck finden wird« (Waibel, Princip, 365), grundlegend ist. Auch sein Ansatz der Naturphilosophie ist von Fichteschen Prämissen bestimmt. Vgl. dazu Verf., Symboltheorie, 204–216. 57 Man würde über dies vielleicht anders urteilen, wenn von Fichte eine ausgeführte Ästhetik auf dem Boden der Jenenser Wissenschaftslehre vorläge. Vgl. zu die55
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Wort Paul Tillichs sein Recht behalten: »Die lebendige Kraft eines Systems ist sein Gehalt, sein schöpferischer Standpunkt, seine Ur-Intuition. […] Jedes letzte Prinzip aber ist der Ausdruck einer letzten Wirklichkeitsschau, einer grundlegenden Lebenshaltung.«58
sem Problemkreis v. Verf.: Auf dem Weg zu Fichtes früher Ästhetik. Die Rolle der Einbildungskraft in der Kritik der Urteilskraft, in: Kant und Fichte – Fichte und Kant. Hrsg. von Christoph Asmuth. Amsterdam/New York 2009, 7–15. Ebenfalls weiter ausgreifend ist der spätere Systementwurf, der mit dem berühmten Schema der ›Fünffachheit‹ avisiert ist; vgl. dazu Björn Pecina: Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins. Tübingen 2007, 208–223. 58 Tillich, System, 116.
PERSONENVERZEICHNIS
Aichele, Alexander 4, 137 d’Alfonso, Matteo Vincenzo 5 Amsterdamsky, Stefan 175 f., 178 Aristoteles 115, 117 f., 125, 308, 311 Arndt, Andreas 9, 10, 301, 329 Auinger, Thomas 7 Bardili, Christoph Gottlieb 15 Barth, Ulrich 10 f., 345 f., 350–354, 356 Bernoulli, Johann 368 f. Bondelis, Martin 281 Brandom, Robert 7, 211–213, 227– 229, 233–237, 239, 245–247, 249–251, 261 Bubner, Rüdiger 288 Carnap, Rudolf
305
Danz, Christian 3 Dennett, Daniel Clement 234 Descartes, René 246, 324, 351 Erbkam, Wilhelm Heinrich 328 Euklid 147 f., 163 Fichte, Immanuel Hermann 187 Fichte, Johann Gottlieb 1–37, 39–43, 45–81, 83–93, 96 f., 99, 103, 105 f., 108, 137, 145, 148, 154 f., 157, 171– 176, 178, 183, 185–194, 198–204, 207, 209, 216, 224, 228, 239–244, 246–267, 269, 270, 272 f., 277 f., 283, 288, 293, 296, 302–305, 309, 311, 313 f., 323, 327, 331, 336, 350 f., 357–359, 361–363, 365 f., 368, 373–376, 378, 381–387, 389–393, 395 f.
Frank, Manfred
12, 287, 328 f., 385 f.
Gabriel, Markus 7, 227–230, 234 Goethe, Johann Wolfgang von 160, 303 Grießer, Wilfried 3 Grove, Peter 11 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 2, 9, 11 f., 45–47, 138, 200, 357–382, 384 f., 387–397 Hartmann, Nicolai 141 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1–3, 5–9, 13–15, 45, 47, 99–109, 137–141, 144–147, 152 f., 155 f., 158 f., 163, 165, 193, 195, 200, 204, 213–215, 217–233, 239–257, 259, 261, 262–285, 295, 309, 311, 317, 330, 346, 382 Heidegger, Martin 329 Henrich, Dieter 126, 130, 327, 385 f. Herbart, Johann Friedrich 15 Hinrich, Herman Friedrich Wilhelm 330 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 14, 372 Hogrebe, Wolfram 222 Hume, David 157 Jaeschke, Walter 8, 277–279, 282 Jakobi, Friedrich Heinrich 1–3, 9, 13, 15, 45–51, 55–63, 67, 69–71, 79–81, 83, 84–87, 97, 99, 100, 103, 108, 157, 196, 239, 242, 275, 296, 363 f., 388 Kant, Immanuel 1, 4 f., 7, 9, 11, 13–16, 24, 32, 45, 48, 60, 64 f., 71, 84, 92 f., 100, 102, 105, 108, 125 f.,
400
Personenverzeichnis
132, 138 f., 152–155, 157, 161–163, 167, 169–1712, 174, 176, 178, 185, 194, 197, 200 f., 204, 212 f., 215–224, 228 f., 232 f., 239–242, 247, 251 f., 277, 289–293, 296–298, 307–309, 311, 313, 315, 317, 320, 323, 331 f., 346, 351, 357–362, 365 f., 369, 371–376, 381, 382, 387–389, 391–393 ˇ Karásek, Jindrich 8 Kisser, Thomas 6 Kloc-Konkołowicz, Jakub 7 Klopstock, Friedrich Gottlieb 17 Koch, Oliver 2 Kroner, Richard 145 Kubik, Andreas 12 Lambert, Johann Heinrich 11, 368– 372, 389, 391–392 Lang, Stefan 2 Leibniz, Gottfried Wilhelm 14, 66, 143, 174, 196 Lessing, Gotthold Ephraim 84, 303, 364 McDowell, John 7, 164, 211–220, 222 f., 227–229, 232 f. Nagel, Thomas 67 Napoléon Bonaparte 18 Neuhouser, Frederick 33 f. Neurath, Otto 305 Newton, Isaac 150 Niethammer, Friedrich Immanuel 364 Paul, Jean 2 f., 45, 49 f., 57, 69–81, 265 Pippin, Robert 211 f., 220, 222, 232 Platon 304, 308, 311, 315, 319 Posch, Thomas 5 Pütter, Johann Stephan 130 f.
Quinton, Anthony
335
Reinhold, Carl Leonhard 13–15, 69, 147, 174, 304, 350, 359, 366, 368, 374 Sandkaulen, Birgit 2 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1–6, 8, 10, 13–15, 21 f., 29, 33, 45, 47, 58 f., 62, 85 f., 92–97, 99, 105 f., 111–125, 132–168, 171–173, 176 f., 181–195, 198–200, 203–209, 222, 229, 253 f., 259, 263–267, 269 f., 272, 277 f., 284, 311, 313, 319 f., 329, 338, 382 Schiller, Friedrich 224 Schlegel, Friedrich 2, 9–10, 45 f., 194, 200, 287–300, 301–310, 315, 347, 349 Schleiermacher Friedrich Daniel Ernst 1, 9, 10–11, 85, 311–356 Schlick, Moritz 305 Schulze, Johann 15, 132 Sellar, Wilfried 164, 211, 237 Spinoza, Baruch de 2, 14, 45–48, 56, 147–149, 157, 199, 204, 208, 293, 304, 311, 340, 363–365 Stolzenberg, Jürgen 5 Sturma, Dieter 223 Summerer, Stefan 385 Tillich, Paul
383, 397
Ulrich, Lars-Thade
7 f.
Wagner, Falk 327, 352 Waibel, Violetta L. 11 f., 384, 386–393 Wittgenstein, Ludwig 225, 235 Wolff, Christian 14, 127, 128 f., 194, 325 Ziche, Paul 5, 173 Zöller, Günter 2, 33 Zovko, Jure 10