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German Pages 259 Year 2012
Ulrich Johannes Schneider Die Erfindung des allgemeinen Wissens
Ulrich Johannes Schneider
Die Erfindung des allgemeinen Wissens Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Stephan Butz, Berlin Einbandgestaltung: hauser lacour, Frankfurt/M. Druck: Concept, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005780-4 eISBN 978-3-05-006252-5
Inhalt
Prolog: Ein namenloses Wissen .......................................................................
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Erster Teil Sachlichkeit 1. Die Praxis des enzyklopädischen Schreibens ..............................................
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Sachwissen in der enzyklopädischen Tradition Europas .......................... Das aktuelle Wissen .................................................................................. Das verbürgte Wissen ................................................................................ Das anwendungsbereite Wissen ................................................................ Verallgemeinerung des enzyklopädischen Schreibens im 18. Jahrhundert.....................................................................................
23 28 31 34
2. Die Idee der enzyklopädischen Ordnung .....................................................
44
Ordnungsmodelle der frühen Buchkultur (Gessner, Zwinger, Alsted) ........................................................................ Ein englisches Ordnungsmodell (Chambers) ............................................ Ein französisches Ordnungsmodell (Diderot und D’Alembert)................ Ein deutsches Enzyklopädiemodell (Zedler) ............................................ Enzyklopädie und Universität ...................................................................
45 49 53 73 83
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Zweiter Teil Das allgemeine Wissen 3. Das Universal-Lexicon als Biographie ........................................................
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Die Enzyklopädie als Akademie ............................................................... 101 Die Enzyklopädie als Bühne ..................................................................... 107
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Inhalt
4. Die Aneignung der Welt im Universal-Lexicon ........................................... 112 Länder-Artikel: das Ferne so nah .............................................................. 115 Die Zeitung im Lexikon ............................................................................ 121 Städte-Artikel ............................................................................................ 123 5. „Russland“ in der enzyklopädischen Umschreibung ................................... 129 Russland-Darstellungen im Vergleich ....................................................... 131 Aktualität ................................................................................................... 140 Die kurze Dauer des enzyklopädischen Textes ......................................... 143 6. Das Sachwissen im Universal-Lexicon........................................................ 146 Wo sitzt die Aufklärung? ........................................................................... 149 Sachartikel statt Fachartikel ...................................................................... 154 Dritter Teil Enzyklopädie als Medizin 7. Wissen für Autodidakten .............................................................................. 163 8. „Geliebter Leser!“ ........................................................................................ 171 9. Text als Therapie .......................................................................................... 180 10. Therapie als Text ........................................................................................ 185 11. Die Nase in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts ...................................... 196 12. Merkur als Gott der Enzyklopädisten ........................................................ 207 Epilog: Der Enzyklopädist als Phantom der Aufklärung ................................. 217 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 221 A) Quellenwerke ....................................................................................... 221 B) Forschungsliteratur............................................................................... 238 Danksagung und Texthinweise ........................................................................ 259
Prolog: Ein namenloses Wissen
Enzyklopädien sind Nachschlagewerke, die man konsultiert, um Informationen zu erhalten oder Zusammenhänge zu verstehen. Niemand will Enzyklopädien wirklich lesen, außer vielleicht gelehrte Narren, über die man schon im 18. Jahrhundert lachte.1 Allgemeinbildende Nachschlagewerke sind seit dieser Zeit alphabetisch geordnet, wobei kaum ein Artikel mit dem vorherigen oder dem folgenden sachlich verbunden ist. Philosophen haben das bedauert, aber die Leser der letzten Jahrhunderte und die Nutzer von Online-Enzyklopädien heute kommen damit gut zurecht. Enzyklopädien bieten Text, in den man hineinspringen kann, um anschließend wieder heraus zu springen, zurück in die eigene Welt. Um das Hinein- und Herausspringen erfolgreich zu gestalten, müssen Enzyklopädien aktuell gehalten werden. Veraltete Informationen sind vielleicht historisch interessant, nützen aber nichts. Aktualität macht die Attraktivität von Enzyklopädien aus, auch weil die Fragen der Nutzer sich in ihrer eigenen Sprache hier und heute beantwortet finden. Aktualität im Wissen bedeutet also Sachlichkeit im Wissen und Verständlichkeit in der Auskunft darüber. Aktualität ist darum für die Enzyklopädisten ein Fluch. Alles an ihrer Tätigkeit wird davon berührt. Der Fluch bestimmt noch ihr Verschwinden in die unendlichen Weiten abgelegter Kenntnisse, von denen das Besserwissen jeder neuen Generation sich abhebt. Enzyklopädisten riskieren viel, und die Geschichte ihrer Werke weist zahllose Buchruinen auf, die niemanden mehr interessieren. Zu allen Zeiten gilt, dass die gewaltige Menge toter Wissensgebäude, in denen kein Leser mehr zu Hause ist, von einer großen Zahl neu errichteter Wissensgebäude überschattet wird, die links und rechts nützlich sein wollen. Enzyklopädien haben eine Geschichte: Es ist die von Kämpfen um die beste Textfassung des Wissens und um die größte Nähe zur Neugier der Leser. Noch immer ist die Welt aufgeteilt in diejenigen, die Wissen anbieten, und diejenigen, die Wissen suchen. Die einen nennen es bürgerliche Gesellschaft, die an1
Vgl. Kosenina (2003).
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Prolog
deren Aufklärung, was uns historisch in diese Arbeitsteilung zwingt. Wissenslücken sind unvermeidlich, trotz Schule und Wissenschaft; sie müssen auch außerhalb der Bildungsinstitutionen behoben werden. Das ist die Aufgabe des Enzyklopädisten, der die Lücken stopft, der ganze Bibliotheken abkürzt und zusammenfasst. Die Kommunikation des Wissens ist selber nicht Bildung und schon gar nicht Wissenschaft. Man wird durch das Studium einer Enzyklopädie nicht zum Gelehrten und kann den Status des Experten auf diesem Wege nicht erreichen. Daher der Spott, der solche Versuche immerdar begleitet: Man denke an die tragikomischen Figuren von Bouvard und Pécuchet Gustave Flauberts aus dem 19. Jahrhundert oder an die traurige Romangestalt des Autodidakten in Jean-Paul Sartres Der Ekel im 20. Jahrhundert.2 Enzyklopädien zerstückeln das Wissen zu sehr, um klug zu machen. Im Lächerlichen aber liegt die Wahrheit, auch hier: Es ist das unbedingte Bedürfnis nach artikelweise präsentiertem Sachwissen, das Enzyklopädien über Jahrhunderte hat erfolgreich werden lassen. Die Nutzer enzyklopädischer Werke suchen kein Wissen zur professionellen Fortbildung, sondern Definitionen, Informationen, Hintergrundwissen im Allgemeinen. Diese unspezifische und zugleich generelle Neugier existiert seit dem Zeitalter der Aufklärung. Und seit eben dieser Zeit gibt es das enzyklopädische Schreiben in moderner Form. Mit der allgemeinen Neugier, die Sachen und Wörter als etwas ansieht, das man wissen kann, erhält das enzyklopädische Schreiben seine eigentliche Herausforderung, Wissen aus den verschiedenen Expertensprachen herauszulösen. In der Aufbereitung des Wissens in Form von allgemeinverständlichen Texten gewinnt das enzyklopädische Schreiben zugleich seine spezifische Qualität: Es wird namenlos. In den Prozessen seiner Produktion und Distribution besitzen weder Autor noch Adressat individuelle Bedeutung. Das namenlose Sachwissen kennt keinen Urheber, nur die Sache. Was Experten ausführen, muss durch die Enzyklopädie in eine vermittelbare Auskunft übersetzt werden. Die Sprache des enzyklopädischen Schreibens wirkt daher neutral, orientiert an der Neugier der Leser und nicht an der Terminologie ursprünglicher Verfasser. Sie geht unspezifisch auf etwas, was man wissen kann, und zwar in unbestimmten Kontexten. Eine Enzyklopädie muss bereit sein, alle möglichen Fragen zu beantworten, und zwar in der gesamten Breite aller Wissensbereiche. Was die Leser des „Brockhaus“ oder „Meyer“, der „Encyclopaedia Britannica“ oder der „Wikipedia“ suchen, ist Sachwissen in einer redigierten Form, keine einzelne 2
Flaubert (1881); Sartre (1938).
Ein namenloses Wissen
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Meinung. Das moderne enzyklopädische Schreiben ist deshalb namenlos, weil es Autoren, Verleger und Redakteure nur als Agenten der Texterstellung einsetzt, für den unbekannten Leser. Was ein Enzyklopädieartikel sagt, stellt eine Antwort auf eine Frage dar. Das enzyklopädische Schreiben gestaltet insofern einen einseitig ausformulierten Dialog mit den Lesern. Den Einsatzpunkt dieses Schreibens markiert ein außergewöhnliches Werk, das Universal-Lexicon, publiziert in Leipzig von 1732 bis 1754. Diese damals umfangreichste Enzyklopädie umfasste 68 Folianten und enthielt etwa 284.000 Artikel, dazu noch etwa 276.000 Verweisungen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war es die größte abgeschlossene allgemeine Enzyklopädie überhaupt. Seine schiere Größe hat bis heute verhindert, dass es als das bedeutendste Monument des enzyklopädischen Schreibens im Zeitalter der Aufklärung gewürdigt werden konnte. Inzwischen ist das Universal-Lexicon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler im Internet recherchierbar (www.zedler-lexikon.de) – dennoch ist vieles daran unbekannt. Tatsächlich aber ist es das für die Wissensgeschichte der modernen europäischen Enzyklopädien zentrale Werk. Die französischsprachige Welt bewundert bis heute die Encyclopédie der großen Aufklärungsdenker Diderot und D’Alembert, deren wirkungsmächtiges Dictionnaire raisonné des Arts et des Sciences ab 1751 erschien. Die englischsprachige Welt schätzt den pragmatischen Sinn ihrer bis heute aufgelegten Encyclopaedia Britannica, die ab 1768 in Schottland herausgegeben wurde. In der deutschsprachigen Welt aber ist die größte und modernste Enzyklopädie der Neuzeit weitgehend unbekannt, obwohl sie in der Verlagsgeschichte Epoche machte und als fulminanter Anfang einer Enzyklopädiebewegung gelten kann, in der wir immer noch befangen sind.3 Im Unterschied zur Tradition des enzyklopädischen Schreibens vor dem 18. Jahrhundert ist das Universal-Lexicon das erste Werk, das ein Sachwissen auf allen Gebieten der Kenntnis ohne Autornennung präsentiert. Es ist das erste kollektiv erstellte enzyklopädische Druckwerk und zugleich das erste, das die Leser an der Texterstellung beteiligt. Als eines der denkwürdigsten Buchprojekte des Zeitalters der Aufklärung ist das Universal-Lexicon die erste bedeutende Enzyklopädie einer danach immer weiter ausgreifenden, wirklich öffentlichen Wissenskultur. Das Universal-Lexicon ist modern auch darin, dass es rasch veraltete, wie etwa die Herausgeber der Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste 3
Encyclopédie (1751); Encyclopaedia Britannica (1768); Zedler (1732), online unter www.zedler-lexikon.de.
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Prolog
1818 nachdrücklich feststellten.4 Wie es durch den Prozess der Redaktion eine ganze Reihe von früheren Fachenzyklopädien überflüssig machte, so erlag das Universal-Lexicon selbst der fortschreitenden Aktualisierung und Verarbeitung des Wissens. Wissen wurde hier – mitten im 18. Jahrhundert – so sehr in die Kommunikation mit dem allgemeinen Publikum investiert, dass es darin sowohl seine größte Wirkung wie auch eben die Vergänglichkeit erfuhr, die für die Gattung typisch ist. Das erste große Alphabet dessen, was gewusst werden konnte, wandelte sich nach seiner Vollendung sehr rasch zum Dokument einer nicht mehr aktuellen Wissensrepräsentation. Das Universal-Lexicon hat das Sachwissen in eine unübersehbar große – namenlose – Gestalt gegossen; Anlage, Durchführung und Vermarktung stellten alles in den Schatten, was im Buchgeschäft vorher üblich war.5 Der Fluch der Enzyklopädisten traf hier doppelt, denn es ist kein Archiv erhalten, keine Konzeption bekannt. Die Absicht auf Vollständigkeit war wohl durchaus ernst zu nehmen, denn man hatte rasch das Alphabet über die 12 zuerst geplanten Bände hinaus auf schließlich 64 (mit den Ergänzungsbänden insgesamt 68) strecken können. Im Durchschnitt wurden jedes Jahr 4.000 Folio-Seiten gedruckt bzw. vier Bände ausgeliefert. Bezeichnend für die Anlage war, dass neben wissenschaftlichen Artikeln (ca. 93.000) auch geographische (ca. 72.000) und biographische Artikel (ca. 120.000) prominent behandelt wurden. Diese Mischung war neu – vorausweisend auf das 19. Jahrhundert und den Erfolg der Konversationslexika in den europäischen Kulturen. Das Universal-Lexicon war nicht das Produkt einer Gruppe von Aufklärern, die außerhalb davon sich einen Namen machten, sondern es war ein Organ der Aufklärungsepoche, das ein namenloses Wissen exponierte, wie es zuvor nie exponiert wurde. Dieses Dokument des 18. Jahrhunderts ist ein Monument der Bemühung, Wissen als Einsicht, Kenntnis als Erkenntnis zu formulieren. Es ist das erste Werk des modernen enzyklopädischen Schreibens. Die Wissensgeschichte der Enzyklopädien lässt sich ausgehend vom UniversalLexicon neu schreiben. Man sieht klarer den Bruch mit der Tradition gelehrter Enzyklopädien, und man erkennt deutlicher den Unterschied zu meinungsbildenden Werken wie der französischen Encyclopédie. Noch in den Schwächen der Realisierung des Universal-Lexicon wird eine Arbeit am Wissen sichtbar, deren Voraussetzungen und Effekte auch unsere sind.
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Ersch/Gruber (1818), Bd. 1 (1818), S. 14; vgl. dazu Bahlcke (1997). Vgl. Kossmann (1969); Quedenbaum (1977).
Erster Teil Sachlichkeit
1. Die Praxis des enzyklopädischen Schreibens
Fragen wir heute nach der alten Wissenskultur der buchgestützten Kenntnisse zurück, überschreiten wir die Horizonte unserer eigenen Welt. Die „Sachen selbst“ scheinen ganz andere zu sein, wenn man im 16., 17. oder 18. Jahrhundert nach Enzyklopädien Ausschau hält. Das, was man wusste, wie man es wusste und wie man es darstellte, unterscheidet sich stark von unserer heutigen Wissenskultur. Wir begegnen einer lebendigen antiken Bildungswelt mit einer Fülle von Figuren aus der griechischen Mythologie. Wir begegnen auch der Welt des Alten Testaments und verschiedenen heidnischen Kulturen; wir finden eine intensive Auseinandersetzung mit der Natur (Pflanzen, Tiere, Steine), wobei Monster und andere Anomalien immer mitberücksichtigt werden. Auch symbolische Horizonte haben in der Frühen Neuzeit häufig reale Welten abgesteckt. Die Bereiche des Wissens waren anders voneinander getrennt als heute. Viele Zeugnisse über fremde und ferne Kulturen und Ereignisse kamen aus zweiter oder dritter Hand und wurden doch als quellenmäßig abgesicherte Kenntnisse rezipiert. Wörter und Dinge standen in einem intimen Verhältnis zueinander, das sich erst langsam auseinander entwickelte. Ein gutes Beispiel für die unterstellte Nähe von Wörtern und Sachen – im Versuch einer jeweils eigenen Behandlung – ist das 1694 veröffentlichte große Wörterbuch der französischen Akademie, in welchem die Bereiche des literarisch-historischen Wissens und des naturwissenschaftlichen Wissens getrennt dargestellt sind. Zwei vollständige Alphabete charakterisieren einmal Literatur und Sprache und zum anderen „Künste und Wissenschaften“. So wird die >Biene< (abeille) im ersten Alphabet als Symbol des Fleißes angesprochen und in ihren literarischen Erwähnungen dokumentiert. Im zweiten Alphabet erfährt sie ihre Definition als Insekt.6 Diese Trennung des überlieferten und des beobachteten Wissens besitzt in den Enzyklopädien bis ins 18. Jahrhundert hinein noch keine allgemeine Gültigkeit: Bücherwissen wird komplex repräsentiert, mit Einschluss auch sehr alter Informationen. Was wir heute etwa als naturwissenschaftliche Gegenstände ansehen, 6
Corneille (1694); dazu Ross (1981).
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Sachlichkeit
waren in der Frühen Neuzeit häufig mehrfach bedeutsame Dinge. So sind Pflanzen nicht vordringlich als Elemente des Naturreichs thematisiert, sondern als Heilmittel. Die Register der entsprechenden Werke listen nicht selten Krankheiten auf, weil für sie ein linderndes Kraut existiert: Botanik und Medizin werden nicht genau getrennt. In den Tierlexika überlebte lange Zeit das Einhorn, die Sirene oder der >MönchsfischChambers< (Bd. 9, S. 84–90) zitiert einen Mr. Airey mit diesen Angaben; vgl. Bradshaw (1981b), S. 123 f. 112 Shorr (1932); Bradshaw (1981b); vgl. neuerdings Loveland (2011), S. 60–62, S. 112 ff.
Die Idee der enzyklopädischen Ordnung
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jeder Disziplin eine. Während also das Diagramm eine Wissensordnung in der Bewegung von links nach rechts zeigt, vom Allgemeinen zum Besonderen, über Unterteilungen des Rationalen und des Sinnlichen, des Innerlichen und des Äußerlichen etc., ist die Enzyklopädie selbst nicht systematisch aufgebaut, sondern alphabetisch nach Stichwörtern. Ihr Text ergibt sich nicht aus dem Diagramm der Wissensdifferenzierung, kann darauf jedoch bezogen werden.113 Worauf die 47 Anmerkungsnummern des Diagramms verweisen, sind Gruppierungen zentraler disziplinenrelevanter Begriffe, d. h. topische Listen von Örtern. Wir werden etwa mit der Anmerkung Nr. 16 auf die Theologie geführt und finden einschlägige Begriffe von der „Ewigkeit Gottes“ über die „Märtyrer“ bis zum „Psalter“. Mit einer Begriffsliste von insgesamt etwa einer drittel Spalte Länge wird die Theologie als Einzelwissenschaft konzeptionell umrissen, zugleich werden entsprechende Artikel im Werk selbst angekündigt. So wenig aber ein gerader Weg vom Diagramm zu den topischen Begriffslisten führt, so wenig führen die Begriffslisten direkt zum Text des Lexikons, das ja keine Abteilung für Theologie oder irgendeine andere Disziplin besitzt. Im Gesamtwerk müssen sich die fachlichen Zusammenhänge verlieren, weil Stichwörter anderer Disziplinen und Gebiete gewissermaßen dazwischengeschoben werden. Die Topik begrifflichen Zusammenhangs löst sich im Alphabet gemischter Begrifflichkeiten völlig auf und kann nur durch strukturierte Verweisungen gerettet werden. Verweisungen in den Einträgen selber sind bei Chambers auf zwei Weisen möglich: Einmal durch einen Begriff direkt nach dem Stichwort, etwa >Neurographia, in anatomy< oder >Newel, in architectureNeuter, in grammar< auch >Neuter, a person indifferentNeurographia< am Anfang „See NERVE“ und am Ende „See SKIN“. Es gibt darüber hinaus naheliegende Verweisungen ohne Artikel wie von >New Style< auf >Style< und eher logische wie die Verweisungen für >New< auf >Ancient< und >ModernNeu< unter >Alt< etc. zu bringen sind. Diese Entscheidungen sind zugleich solche über das Vokabular, das die Artikel in ihrer Gesamtheit bilden, nicht über ein System. Das Diagramm zu Beginn der Cyclopaedia ist also Reminiszenz des Systems und nicht dessen Artikulation. Die Topik der Begriffslisten ist bei Chambers Beschwörung fachlichen Zusammenhangs und nicht dessen Festigung. Das Vorwort des Lexikographen beteuert zuerst den systematischen Zusammenhalt, dann einen topischen, aber es folgt erwartungsgemäß ein Alphabet, das alle fachlich verwandten Artikel in eine unvermeidlicher Weise unlogische Abfolge von Einträgen aus allen Wissensgebieten auseinander legt. Ein genauerer Blick in die Cyclopaedia vermag zu zeigen, dass auch innerhalb der Artikel weder Systematik noch Topik stringent durchgeführt sind. So fehlt ‚History‘ als Disziplin, ist aber mit Artikeln vertreten.114 Auch der Aufbau der Artikel zeigt nur geringen Einfluss von Systematik. So macht beispielsweise Chambers’ Eintrag zu >Newtonian Philosophy< das Kompilatorische sehr deutlich. Es werden zu Beginn des Artikels erste Verweisungen darauf gegeben, wo an anderer Stelle im selben Lexikon andere Stichwörter dieselbe Sache erläutern (>PhilosophyLaw of NatureExperimental< usw.). Der Inhalt der Wissenschaft Newtons wird meist aus zitierten Stellen bezeichnet, dann folgt in der Mitte eine längere Liste von Verweisungen auf Einträge, die genauere Auskunft geben sollen (>SunMoonPlanetCometEarthAir< usw.). Das Wissen wird immer weiter verzettelt: Genau darin besteht das Generierungsprinzip dieser Enzyklopädie. Es ist ein Buch der Bücher, fabriziert durch die Ausschreibung von Quellen und die Abteilung von Gemeinplätzen, welche verschiedene Gesichtspunkte konstituieren, aus denen dann wiederum verschiedene Lemmata werden, die den Rückhalt und den Rückverweis auf andere Lemmata brauchen. Chambers’ Cyclopaedia hat von der Technik der Komposition sehr viel mehr mit bibliographischen 114 Bradshaw (1981b), S. 133.
Die Idee der enzyklopädischen Ordnung
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Enzyklopädien früherer Jahrhundert gemein als mit solchen, die auf Fachbegriffe fixiert sind und von daher exklusiv ihren Inhalt nehmen. Im englischen Sprachraum sind in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Lexicon technicum von John Harris (zuerst 1704, zuletzt 1736)115 und in der zweiten Hälfte die Cyclopaedia von Abraham Ree (zuerst 1778, zuletzt 1820) weit bessere Beispiele für fachorientierte Enzyklopädien.116 Positiv formuliert: Chambers’ Cyclopaedia stellt eine weitgehend offene Struktur eines großen Bereichs an Sachwissen dar, die ohne Sicherheit eines systematischen Zugriffs konzipiert ist, und deren Texte durchaus Rücksicht auf historische Vielfalt und Quellenbelege nehmen. Ein Enzyklopädist wie Chambers wird zwar die Existenz des Systems, wie er es im Vorwort anspricht, immer wieder neu suggerieren, tatsächlich aber ist die Praxis des enzyklopädischen Schreibens in seinem Werk der Kompilation verwandt und gibt dem Verstand der Leser alphabetische Begriffsstützen, strukturiert ihn nicht um.
Ein französisches Ordnungsmodell (Diderot und D’Alembert) Als in Frankreich der Plan aufkam, Chambers’ Cyclopaedia, die vor 1750 zuletzt 1741 erschienen war117, ins Französische zu übersetzen, machte man sich in Paris bereits Gedanken, das systematische Gerüst zu verändern, auch wenn man es im Prinzip beibehalten wollte. So heißt es in einem 2005 erstmals publizierten Mémoire des damals noch als Herausgeber agierenden Gua de Malves aus dem Jahr 1745: „Wir werden uns vor den Ergänzungen der künstlichen Ordnung hüten, der Herr Chambers offensichtlich gefolgt ist, und wo er selbst davon abwich, werden wir ihn korrigieren.“118 Und Diderot schreibt im Prospekt zur Ankündigung der Encyclopédie 1750 in gleicher Weise über Chambers: „Wir finden, dass Plan und Anlage des Lexikons hervorragend sind, und – nur halb ausgeführt – den Fortschritt wahrer Wissenschaft stärker befördern als die Hälfte der schon bekannten Bücher. Wir sehen allerdings auch, wie weit Chambers selbst von diesem Vollkommen115 116 117 118
Harris (1704); dazu Bradshaw (1981a). Ree (1778); dazu Werner (1994). Chambers (1728). Théré/Charles (2005), dort als § IV: «On aura soin alors de ne point s´ecarter dans les additions de l´ordre synthetique qu´on appercevera facilement que Mr Chambers s´est proposé de suivre, & s´il s´en etoit lui-même ecarté on le corrigeroit la-dessus.»; vgl. ebenda, §§ II und X.
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Sachlichkeit
heitsgrad entfernt ist.“119 Diese Passage findet sich fast wörtlich auch in der Vorrede D’Alemberts von 1751120: Chambers ist ein gutes Vorbild, aber stark verbesserungswürdig in der systematischen Strukturierung. Die Idee einer nach dem Modell von Chambers gearbeiteten Enzyklopädie verdankt sich nicht zum geringsten Teil der Attraktivität des Eröffnungsdiagramms, das die Verkettung der Einzelkenntnisse über eine planmäßige Verzeichnung aller Wissenschaften zu leisten versprach. Für Diderot war die Angabe der Disziplin unmittelbar nach dem Stichwort, ganz wie bei Chambers, eine wichtige Orientierungshilfe. So heißt es beispielsweise in der Encyclopédie: >Marées, (Marine)Mars [...], en astronomie [...]< oder >Masculin (Astrol.)Encyclopédie< – sind es vier Faktoren der enzyklopädischen Produktion, die das publizierte Werk nicht dem ähnlich sein lassen, was die Herausgeber sich vorstellten.129 (1) Einmal ist die Encyclopédie, wie alle anderen Werke dieser Art, zum allergrößten Teil ab- und umgeschrieben. Nur ganz neu verfasste Texte hätten einem neuen Ideal Folge leisten können, diese sind aber selten. (2) Sodann ist die Verweisstruktur nicht streng durchgeführt und erfüllt das Ideal der systematischen Absicherung nicht. (3) Weiterhin hat das Wissenschaftssystem im Laufe der enzyklopädischen Arbeit eine Reihe von Veränderungen erfahren. (4) Schließlich wurde historisch-empirisches Wissen hinein geschmuggelt, das keine wissenschaftliche Systematisierung verträgt. 1) Zum ersten Faktor, dem Ab- oder Umschreiben: Ohne die Kenntnis von Vorläuferwerken wird eine Untersuchung von Aussagenkomplexen innerhalb einer Enzyklopädie nur literaturwissenschaftliche Ergebnisse erzielen können, die letztlich die Meinung eines Autors rekonstruieren, wie wenn er sich thematisch an einer von Zeitgenossen geführten Diskussion beteiligte.130 Der Charakter der enzyklopädischen Texte und ihre spezifische Orientierung auf ein thematisches Feld, über mehrere Lemmata hinweg, werden so nicht erfasst. Das gilt auch für die Encyclopédie. Jacques Proust, der eine pragmatische Auffassung des enzyklopädischen Schreibens teilt, hat früh damit angefangen, die Quellen einiger enzyklopädischer Einträge Diderots genau zu ermitteln – nicht zur intellektuellen Verkleinerung seines Helden, sondern zur besseren Beurteilung der schriftstellerischen Leistung.131 128 Schneiders (1985), bes. S. 257. 129 Cernuschi (2006). 130 Vgl. den Versuch von Bonnet (1976), der den von Jaucourt geschriebenen Artikeln nachgeht, dabei einerseits erklärt, kulturhistorische Aussagen ließen sich schlecht aus den vielen Textstücken extrahieren (897), es aber dann doch versucht, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, die entsprechenden Artikel mit Vorgängern etwa in den ökonomischen Enzyklopädien der Zeit zu vergleichen. 131 Proust (1962), S. 548–555; Proust hat im Übrigen sehr viele Diderot fälschlich zugeschriebene Einträge in früheren Werkausgaben kenntlich gemacht und die Qualität der philologischen Arbeit älterer Herausgeber kritisiert, vgl. S. 117 ff.
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Sachlichkeit
Diderot selbst nahm für die ca. 1.700 geographischen Artikel, die er vor allem für die ersten beiden Bände der Encyclopédie verfasste, ein französisches Taschenlexikon zur Hand, das er weitgehend abschrieb.132 Auch der meistbeitragende Autor der Encyclopédie, Louis de Jaucourt, hat aus Quellen wörtlich abgeschrieben133, ohne sie anzugeben. Es finden sich Importe von wörtlicher Übernahme bis zu abkürzender Redaktion.134 Dass eine allzu starke Redaktion von Quellen zu unnötigen und verzerrenden Ergebnissen führen kann, trifft selbst für die Encyclopédie zu.135 Es ist Jaucourt auch unterlaufen, eine polemische Quelle für seinen Artikel über Italien zu verwenden, was zu größter Kritik führte, besonders aus Sizilien, weil er das Werk eines protestantischen, anti-papistischen Reisenden benutzt hatte.136 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass es auch in der Encyclopédie Artikel gibt, die – ohne Quellenangaben – aus anderen und durchaus ideologisch fernliegenden Werken zusammengestellt sind, wie das beispielsweise für französische Ausgaben von Werken des englischen Gelehrten und Bischofs William Warburton zutrifft. Daraus sind 23 Artikel der Encyclopédie gefertigt worden, wobei in den Einträgen zu >Ame< (Seele) und >Société< (Gesellschaft) grundsätzliche Überlegungen der Enzyklopädisten formuliert werden, die letztlich Zitate aus den – unausgewiesenen – englischen Quellentexten darstellen.137 2) Was den zweiten, arbeitspraktischen Grund dafür angeht, dass in der Encyclopédie kaum ein System durchgehalten werden kann, so ist dieser einigermaßen belegbar erst durch die mit den elektronischen Volltextversionen verbundenen Recherchemöglichkeiten. Bislang etwa galten die Verweisungen im Sinne der Herausgeber als ein Mittel, sachliche Zuordnungen innerhalb der Encyclopédie zu festigen, was auch ohne jeden Zweifel oft geschah. D’Alembert schreibt in der Vorrede: „Die Verweisungen in diesem Lexikon sind darin besonders, dass sie vor allem die sachlichen Zusammenhänge anzeigen und nicht, wie in anderen Werken 132 Dörflinger (1976), S. 62, nennt als Quelle Vosgien (1749). Diderot selbst nennt dessen Quelle Eachard selbst (Vorwort zu Encyclopédie (1751), Bd. 3, S. XI). Weitere Quellen waren Martinière (1726) sowie Baudrand (1705), Moréri (1743), Corneille (1708). Zur Auswertung der Bände vgl. Broc (1974), S. 351. 133 Doolittle (1950), S. 389; vgl. eine sachlich gegliederte, aber bibliographisch nicht ausgeführte Liste der benutzten Titel bei Rapp (1965), S. 202–212. 134 Dörflinger (1976), S. 74 f. 135 Doolittle (1950), S. 390. 136 Broc (1974), S. 253. 137 Cherpack (1955).
Die Idee der enzyklopädischen Ordnung
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der Art, nur einen Artikel durch einen anderen erklären.“138 Und Diderot führt aus, wie das System der Verweisungen den sachlichen Zusammenhang der Disziplinen herstellen kann: So verweise die Grammatik auf die Dialektik, die Dialektik auf die Metaphysik, die Metaphysik auf die Theologie, die Theologie auf die Jurisprudenz, die Jurisprudenz auf die Geschichte, die Geschichte auf die Geographie und die Chronologie, und die Chronologie auf die Arithmetik etc.139 Das Versprechen Diderots, mit Hilfe der Verweisungen ein System sachlicher Zusammenhänge zu etablieren, kann nun mit Hilfe der volldigitalisierten Textversion überprüft werden und zeigt als Ergebnis, dass – eine Reihe von technischen Bedingungen beiseite – tatsächlich die Verweisungen gelegentlich dazu dienen, ein sachliches Feld an ein anderes anzuschließen.140 Unter den 61.700 Verweisungen und 23.000 Einträgen mit Verweisungen141 gibt es beispielsweise 61 Verweisungen von Geschichte auf Jurisprudenz, 65 von Theologie auf Geschichte etc. Dabei werden die Verweisungen abstrakt, d. h. nicht als Einzelhinweise genommen, sondern nur als Verweisung von Disziplin zu Disziplin – wobei freilich die allermeisten Verweisungen innerhalb der Disziplinen selbst verbleiben.142 Bei der automatisierten systematischen Analyse der Artikel auf Grundlage der digitalen Textform musste aus technischen Gründen eine wichtige Einschränkung gemacht werden: Die Kategorie der Grammatik (grammaire) wurde ausgelassen, weil diese Hauptkategorie der Encyclopédie den lexikalischen Wert der Begriffe, ihre Definition, betrifft.143 Damit wurde eine große Anzahl von Verweisungen nicht erfasst. Anders gesagt: Das gesamte Feld der Artikel macht nur sehr eingeschränkt seine systematische Struktur sichtbar. 138 Encyclopédie (1751), Bd. 1 (1751), S. 18 (Discours préliminaire): «car les renvois dans ce Dictionnaire ont cela de particulier, qu´ils servent principalement à indiquer la liaison des matieres; au lieu que dans les autres ouvrages de cette espece, ils ne sont destinés qu´à expliquer un article par un autre.» 139 Ebd., Bd. 5 (1755), S. 643 (>EncyclopédieBotanik< diese als Teil der Naturgeschichte vor, was die Separierung des Système figuré unterläuft. Im Supplementband (1777) wird eine wiederum andere Zuordnung gegeben, nämlich „Science de la nature“ und darunter „Science des végétaux“, die es im Système figuré gar nicht gibt. Beim Eintrag >Zoologie< der Encyclopédie gibt es eine andere Abweichung, denn sie wird nicht der speziellen Physik, sondern der „Physiq. génér.“, also der allgemeinen Physik zugeordnet, was einigermaßen unsinnig ist und auch dem Système figuré wiederspricht. Im Supplément gibt es keinen Eintrag zu Zoologie149, dort ist der ganze Ansatz in den Lebenswissenschaften verschoben.150 Diese hier nur an einem Beispiel angedeuteten Verschiebungen der Systemstellen reflektieren ernste wissenschaftliche Probleme, die durch den bloßen Willen zum System nicht behoben werden können. Dazu kommen sachliche Unschärfen wie die Abgrenzung zwischen Medizin und Botanik, die zum großen Teil Heilpflanzen betrifft, und terminologische Alternativen wie zwischen Jurisprudenz (im Système figuré und in Artikeln benutzt) und „Recht“ (Droit), was in einigen Einträgen genannt wird. Führt man sich nur die in D’Alemberts eigenen Artikeln gebrauchten Rückverweisungen auf das System vor Augen, findet man die folgenden Disziplinen: Algebre (Alg.) / Astronomie (Astronom., Astron., terme d’Astronomie, en Astronomie, Astr.) / Geog. / Geometrie (terme de Geometrie, Geom., Geomet.) / Gramm. (Gram.) / Hist. mod. / Mathem. / Mechanique (Mechaniq., terme de Mechanique, Mechan., Mech.) / Morale / Musique / Optique / Physique (Phys., Physiq., terme de Physique)151 Schaut man sich das Système figuré an, wird man alle diese Disziplinen finden, wenn auch nicht notwendigerweise auf derselben systematischen Ebene. Wertet man die in den meisten Einträgen gegebenen häufigsten Verweisungen aus, kommt man auf die folgende Liste von Kategorien: Géographie / Histoire / Histoire naturelle / Jurisprudence / Commerce / Mythologie / Médecine / Anatomie / Botanique / Théologie / Chimie152 149 Vgl. auch die Veränderungen im Système figuré zwischen Prospectus und Encyclopédie bei Schwab (1971), Bd. I, S. 125 f. 150 Rey (1992). 151 Blanchard/Olsen (2002), S. 52 f. 152 Ebd., S. 56.
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Für diese relativ geringe Menge an Hauptkategorien erscheint das Eingangsdiagramm (Système figuré) überdeterminiert bzw. weist eine alte, auf Vollständigkeit orientierte Systematik auf, die für die Encyclopédie nicht recht brauchbar ist.153 Viele Unterteilungen des Schemas machen das Schema selbst verständlicher, ohne jedoch die Zuordnungen zu erleichtern – was konkret dazu geführt hat, dass die meisten im Schema genannten Disziplinen von den Autoren nicht genutzt werden. Denn deren Zahl beläuft sich insgesamt auf 138. Diese hohe Zahl schließt umgekehrt nicht aus, dass Rückverweisungen auf Disziplinen getätigt werden, die gar nicht im Schema enthalten sind, wie „Calendrier“, „Draperie“, „Gouvernement“, „Sucrerie“, „Topographie“ etc.154 Von der Tatsache zu schweigen, dass die dem Herausgeber Diderot so wichtige Disziplin „Philosophiegeschichte“ im Schema „der menschlichen Kenntnisse“ gar nicht vorkommt – wenn sie nicht als Unterabteilung der genannten Historia litteraria (Histoire littéraire) verstanden werden soll. Warum aber fehlt sie? Das Schema des Système figuré und der Text der Encyclopédie sind im Grunde wenig kompatibel, keinesfalls deckungsgleich. 4) Der vierte Faktor berührt die systematische Absicht im Kern, denn diese kann sich nur behaupten, wenn sie exklusiv bleibt und den Inhalt der Encyclopédie auf das einschränkt, was für wissenschaftsrelevant im vorgegebenen Sinne gehalten wird. Der Inhalt der Encyclopédie ist aber keineswegs auf die durch das Eingangsdiagramm benannten Disziplinen begrenzt. Mit anderen Worten: Die Encyclopédie enthält weit mehr Text als sich aus dem vorangestellten System der menschlichen Kenntnisse ergibt. Damit sind nicht nur dort eventuell nicht ausgeschriebene Unterkategorien gemeint, sondern das ganze Feld des empirischen Wissens, das nicht oder nur oberflächlich systematisierbar ist. Es gibt beispielsweise eine Reihe von Einträgen im Bereich der ‚speziellen Geographie‘, die schon anfangs zur Aufweichung des Wissenschaftscharakters beitragen. Es mag die gelegentliche Unterdrückung der Verweisung auf diese (schwer untergliederbare und schwer abgrenzbare) Disziplin erklärbar sein dadurch, dass die Angaben ‚Stadt‘, ‚Berg‘ oder ‚Fluss‘ eine Zuordnung zur Geographie nahe legen. Allgemein gilt, dass bei Einträgen aus der Geographie, der Geschichte und der Biographie Disziplinangaben etwas Lächerliches bekommen. Es zeigt sich gerade in Hinblick auf diese Artikel in der Geschichte der Encyclopédie eine große Uneinheitlichkeit in der Durchführung. Schon bei den ersten Bänden gab es ein Problem im Bereich Geographie. Zwar waren die entsprechenden Artikel kurz (>China< bekam 27 Zeilen, während der 153 Leca-Tsiomis/Passeron (2006). 154 Schwab (1971), Bd. II, S. 12–15.
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spätere Eintrag zu >chinesische Philosophie< 6 Seiten erhielt, was die Interessen der französischen Enzyklopädisten um Diderot deutlich macht155), es gab gleichwohl Kritik daran, sie überhaupt aufgenommen zu haben. Die Qualität vieler Artikel ließ stark zu wünschen übrig, was sich auch in Doppeleinträgen zu unterschiedlich geschriebenen, aber identischen Lokalitäten zeigt: Das betrifft asiatische Königreich >Achem< bzw. >AsemAmour< bzw. >AmurBachara< bzw. >BockaraEcoleNavigateurTragédiePau< fast ganz dem König Heinrich IV. gewidmet ist, so ähnlich wie bei >Stratford< (Shakespeare) oder >Wolstrope< (Newton).172 Die spezielle Geographie wird ganz allgemein zum Einfallstor für zusätzliche Informationen historischer Art, die anders nicht unterzubringen waren. Man nutzte derart den Charakter der Geographie, die im 18. Jahrhundert eine relativ offene Wissensform darstellte. Sie speiste sich einerseits aus den vielen Quellen der Reisebeschreibungen und andererseits aus Arbeiten der Kartographen, was die Geographie im einen wie im andern Fall zu einer stark empirischen Kenntnisform machte, deren Grenzen unscharf blieben.173 Jean Haechler betont, dass diese Schreibstrategie Jaucourts nicht mit den Herausgebern abgesprochen war: „Über die Geographie führt er auf indirekte Weise in Form von Biographien, die offiziell ausgeschlossen sein sollten, die ge165 166 167 168 169 170
Schwab (1957); zuvor hatte Rapp (1965), S. 13, den Anteil mit 23,66 % bestimmt. Haechler (1995), S. 159 ff. Ebd., S. 509–525. Ebd., S. 559. Perla (1982). Encyclopédie (1751), Bd. 3, S. IV, zit. nach Dörflinger (1976), S. 69: «L’encyclopédie [...] est l’histoire de l’esprit humain, & non de la vanité des hommes.» 171 Dörflinger (1976), S. 69; vgl. auch Blom (2005), S. 388–391. 172 Dörflinger (1976), S. 70. 173 Vgl. dazu auch die Schlussfolgerungen von Broc (1974), S. 476.
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samte antike Welt in die Encyclopédie ein; so modifiziert er eines der ursprünglichen Vorhaben des Werks und macht es seiner Konzeption gefügig, direkt gegen Diderot und D’Alembert.“174 Dass trotz der Vorgaben von Diderot das Bedürfnis nach biographischen Informationen zur Veränderung der Encyclopédie führte, muss diejenigen nicht verwundern, die den großen Erfolg des weitgehend biographisch gefüllten Dictionnaire historique von Louis Moréri (zuerst 1674, zuletzt 1759) kennen oder das deutsche Universal-Lexicon mit seinen über 120.000 Personenartikel. Im Umfeld der französischen Encyclopédie zeigt ein 1768 im Anfangsstadium steckengebliebenes Mannheimer Unternehmen einer erweiterten Ausgabe des französischen Werks in dieselbe Richtung, weil man vor allem Ergänzungen im Bereich der Biographien bringen wollte.175 Auch die fünf Supplementbände zur Encyclopédie, die 1776 und 1777 herauskamen, bringen eine Reihe von biographischen Artikeln vor allem zu berühmten Herrschern, die mehrheitlich in die Quarto-Ausgabe von 1778/79 eingeordnet wurden und damit große Wirkung erlangten.176 Nicht zuletzt die sich als Verbesserung der Diderotschen Encyclopédie verstehende Encyclopédie d´Yverdon (1770–1780) hat konsequent biographische Artikel aufgenommen, um damit die verschiedenen Verlegenheitslösungen der Vorgängerausgabe zu beheben.177 Als Gegenbeispiel kann man auf die Deutsche Encyclopädie verweisen, die ab 1778 erschien und sich an der ursprünglichen Konzeption der französischen Encyclopédie orientierte. Folglich wurden Namen, auch geographische, ausgeschlossen.178 Nicht ausgeschlossen werden kann, dass damit die Attraktivität des Unternehmens beim allgemeinen Publikum gelitten hat, das sich in diversen Konversationslexika die entsprechenden Informationen leicht holen konnte. Die Deutsche Encyclopädie musste 1807 mit Band 23 (Buchstabe K) abgebrochen werden. Die Supplementbände zur Encyclopédie geben noch in anderer Hinsicht Auskunft über eine gewisse Aufweichung der Anfangskonzeption, weil sie offen174 Haechler (1995), S. 363 f.: «Grâce à la géographie, il va faire entrer tout le monde antique dans l´Encyclopédie par les biographies qu´il introduira indirectement bien qu´elles sont bannies du projet; ainsi modifie-t-il un des concepts originaux de l´ouvrage et impose-t-il, malgré Diderot et D’Alembert sa conception totalement opposée à la leur.» 175 Voss (1990), S. 152; vgl. auch Voss (1986), S. 188. 176 Vgl. über die „Herrscher-Artikel“ Weis (1956), S. 55–79; nicht alle Artikel aus den Supplementbänden wurden in die Quartoausgae integriert, siehe Hardesty (1994b), S. 125. 177 Félice (1770); Hardesty (1994a), S. 98 f. 178 Goetschel/Macleod/Snyder (1994), S. 271, 287 ff.
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bar stark heterogene Inhalte präsentieren, bis hin zu Widersprüchen der Artikel untereinander.179 Aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsgeschichte ist das ein Sachverhalt, der ein eigenes Thema darstellt.180 Aus dem Gesichtspunkt der Wissensgeschichte wäre hier die Frage zu stellen, ob ein enzyklopädisches Werk tatsächlich wie eine Monographie eines (potenziell einzigen) Autors angesehen werden muss, wie einige meinen181, oder ob die kompilatorische Natur des Werks auch mit der Artikulation differenter Positionen verträglich ist. So lassen sich in der Encyclopédie durchaus Wissensbezirke ausmachen, in denen zwischen verschiedenen Autoren soweit Einigkeit bestand, dass man so etwas wie eine ‚Lehre‘ der Enzyklopädisten herausziehen kann, wie das etwa in Bezug auf die Auffassungen zur Geschichte der Fall zu sein scheint182; deren gibt es aber nur wenige. Man kann nicht bis zu 200 verschiedene Autoren verpflichten und erwarten, dass diese sich inhaltlich überall einig sind. Im Übrigen kann man hier auf die späteren Ausgaben von Moréris Dictionnaire historique verweisen, wo die katholischen Tendenzen einiger Artikel, beispielsweise >Luther< und >Calvin< bzw. >Calvinisme< nicht getilgt sind. Wie ein genauerer Blick in die vorletzte große Ausgabe Amsterdam 1740 zeigt, hat man vielmehr in diesen Einträgen die protestantische bzw. reformierte Perspektive nachgetragen und so die Artikel zum Schauplatz einer Diskussion werden lassen, die so etwas wie den Ausgleich der Argumente oder zumindest das Gleichgewicht der religiösen Einstellungen vermittelt.183 In der Encyclopédie gibt es einen solchen redaktionellen Ausgleich nicht; es blieb bei den von den Autoren und den Herausgebern verantworteten und durch die 179 Vgl. Hardesty (1977), S. 127: „The Supplément is thus a compendium of Enlightenment themes, where contradictory viewpoints exist article by article, and, frequently, line by line.“ 180 Vgl. zur Verwandlung der Medizin in der Encyclopédie, im Supplément und in der Encyclopédie méthodique Rey (1992). 181 Hardesty (1977), S. 128: „[...] whether the Supplément completed and corrected the Encyclopédie, or was better or less well edited than its predecessor, or was more or less original, are questions that can obscure the issue, when the true concern is the history of ideas. These questions define works such as the Supplément too narrowly, in limiting their status to that of derivation. The meaning of the works in their own time and their implications for the future are overshadowed by their sources. However as we hope to have suggested here, the Supplément and other collective productions regain their autonomy when considered in the context of the whole intellectual life of their time, and they reveal a surprising amount of information when read as texts.“ 182 Vgl. Nelly Noémie Schargo, History in the Encyclopédie [1947], Nachdruck New York 1970. 183 Miller (1981), S. 40–44; Miller spricht von „a note of fairmindedness“.
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Zensur geschleusten Texten. Deren Erschließung sollte kein abstraktes systematisches Schema, sondern ein alphabetisches Register leisten, was zum Abschluss der Folioausgabe der Encyclopédie mit der zweibändigen Table analytique 1780 auch geschah, außerhalb der Verantwortung der Herausgeber und Autoren. Das Erscheinen dieses im Umfang ganz ungewöhnlich großen Registers bezeugt einerseits die weite Durchdringung des Werks in Leserschichten Frankreichs und der Schweiz, andererseits stellt es einen Beitrag zur alphabetischen Findeordnung dar, die dem Verlangen nach einer systematischen Übersichtlichkeit nur soweit nachgibt, wie das die Artikel selber tun: Auch im Register werden deren Zuordnungen zu den Disziplinen angegeben. Es gibt eine vom Erfolg der Encyclopédie selbst angestoßene Geschichte der Resystematisierung in einigen Nachfolgewerken, insbesondere in der Encyclopédie méthodique, die ab 1782 erschien. Hier zeigt sich erneut und gewissermaßen im Modus der Tragik, welche Last die Verbindung der systematischen Sachordnung mit der alphabetischen Findeordnung darstellt. Der Plan einer fachwissenschaftlichen Aufteilung der Encyclopédie184 war die Idee des Verlegers Panckoucke, der den Stoff der Encyclopédie zerlegen wollte, um ihn dann in Form von wiederum alphabetisch geordneten Fachlexika zu präsentieren.185 Dieser Plan, die Schwierigkeiten der Organisation und die groteske Wucherung dieses Unternehmens einer Encyclopédie méthodique schildert Robert Darnton anschaulich im Kapitel VIII (The ultimate Encyclopédie) und IX (Encyclopedism, Capitalism, and Revolution) seiner großen Studie zur zeitgenössischen Rezeption der Encyclopédie.186 Pläne zu einer Verbesserung der Encyclopédie gab es früh, und so stellt einen der Anknüpfungspunkte des Unternehmens die kritische Forderung von Diderot aus dem Jahre 1768 dar, eine neue, genauere Enzyklopädie in Angriff zu nehmen. Diderot zählte viele Disziplinen auf, mit deren Behandlung er unzufrieden war, und hat dabei wenig Wissensgebiete ausgenommen, etwa die Geschichte der Philosophie.187 Dagegen wollte er Mineralogie und Astronomie neu schreiben lassen, 184 Vgl. dazu Watts (1958). 185 Zum damit verbundenen ‚Ordre de lecture‘ vgl. Vidal (2006), S. 109–114. 186 Darnton (1979), S. 395–519; inhaltliche Anlysen der Encyclopédie méthodique auf über 800 Seiten in Blanckaert/Porret (2006). 187 Mémoire pour une [...] nouvelle édition de l´Encyclopédie en France [1768], zitiert nach Hardesty (1977), S. 3. Diderot selbst hatte die meisten Artikel zur Philosophiegeschichte verfasst und sich dabei stark auf Brucker (1742) gestützt; vgl. Proust (1962). Vielleicht lag es gerade an dieser Tatsache, dass er eine neue wissenschaftliche Quelle hatte, die er ausschlachten konnte, dass die Philosophiegeschichte seiner Selbstkritik entging.
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die Anatomie und Medizin erheblich verbessern. Auch Voltaire hatte – als eifriger Leser der Encyclopédie188 – 1768 in einem Brief an Panckoucke angemerkt, dass die Encyclopédie ihm noch nicht enzyklopädisch genug sei und zu viele Bemerkungen enthalte, die nur für wenige Auserwählte interessant seien, nicht für das allgemeine Publikum. Er fand im Übrigen an den Artikeln von Jaucourt nichts zu kürzen, riet dann zum Plan einer neuen Enzyklopädie das folgende: „Hüten Sie sich vor Privatideen und unterhaltsamen Episoden. Ein Lexikon wird für die Beurteilung des Wahren und Schönen errichtet und ist kein Warenhaus der Einbildungen.“189 Verleger Panckoucke konnte noch Argumente aus Voltaires Kritik in dessen Questions sur l´Encyclopédie190 zitieren – und hatte eine zusätzliche intellektuelle Motivation für sein durchaus aus finanziellen Erwartungen heraus konzipiertes Unternehmen fertig. Die Encyclopédie méthodique sollte zunächst 26 Teilenzyklopädien umfassen, die alphabetisch organisiert bleiben, allerdings mit einer analytischen Tafel vorweg den Lesern das jeweilige Wissensfeld im Zusammenhang vorführen sollten; dort sollten auch die wichtigen Artikel genannt werden. Der Abschlussband sollte das Vocabulaire universel bringen, eine Art Register des ganzen Unternehmens und damit eine Auflistung aller wissenschaftlich wichtigen französischen Begriffe.191 Der Werbeprospekt versprach „die vollständigste, interessanteste, die genaueste und bestens belegte Sammlung, die man sich wünschen kann.“192 Die Durchführung war schwierig, denn einige der Autoren haben angesichts der hohen Standards in Bezug auf wissenschaftliche Aktualität darauf verwiesen, dass manche Disziplinen so schnelle Fortschritte machten, dass ein Enzyklopädie-Artikel schnell veraltet. In anderen Bereichen, wie Politik und Geographie, waren die zeitgenössischen Veränderungen ebenfalls gewaltig und erforderten auch in anderen Wissenswerken Aktualisierungen. Der amerikanische Historiker Robert Darnton zeigt im Einzelnen, wie Herausgeber Panckoucke zugleich als spiritus rector des Unternehmens fungierte und seine Autoren, darunter angesehene Wissenschaftler, mit Vorschriften drang188 Voltaire (1770); dazu Albina (1989). 189 Voltaire an Charles Joseph Panckoucke, Oct./Nov. 1768, in: Voltaire (1974), S. 957: «Gardez vous des idées particulières et des paradoxes en fait de belles lettres. Un dictionnaire doit être un monument de vérité et de goût, et non pas un magasin des fantaisies.» 190 Voltaire (1770), zitiert nach Darnton (1979), S. 417 f. 191 Darnton (1979), S. 420. 192 Zitiert nach Darnton (1979), S. 421: «le recueil le plus riche, le plus vaste, le plus intéressant, le plus exact, le plus complet et le mieux suivi qu´on puisse désirer.»
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salierte. So hat er einen Autor sechs Jahre (1781–1787) gedrängt, ein Teillexikon über Bäume zu schreiben, ausgekoppelt aus dem Bereich Landwirtschaft. Dieser Band ist, von einem anderen Autor, erst 1821 erschienen.193 Das Gesamtwerk der Encyclopédie méthodique vergrößerte und verzögerte sich unentwegt, wie ein Plan von 1791 belegt, der für 39 Abteilungen 126 Bände vorsah, damit weit mehr als die den Subskribenten versprochenen 42 Bände. Das Werk kam tatsächlich erst 1832 zum Ende, dann mit einer Anzahl von Bänden, die je nach Zählweise zwischen 166 und 200 liegt.194 Vergleiche der drei Prospekte von 1781, 1789 und 1791 zeigen 42 Sachgruppen, die man in den Bänden tatsächlich auch nachweisen kann.195 Die Encyclopédie méthodique hatte die Klagen der Subskribenten, die sich um ihr Geld betrogen fühlten, ebenso überdauert wie die Französische Revolution 1789 und den Tod des Verlegers 1798. Die ca. 100.000 Artikel196 der Encyclopédie méthodique haben – wie aufgrund der langen Entstehungsgeschichte nicht anders zu erwarten – eine höchst unterschiedliche Qualität. Ein Werk über einen so langen Zeitraum zu strecken, macht aus dem Gesamtwerk eine Ansammlung von Texten, die stilistisch und inhaltlich kaum einheitlich verfasst sein können. Das schließt gute Einträge nicht aus, wie das bei der parallel erschienenen (fragmentarischen) Deutschen Enzyklopädie (24 Bände) oder bei dem bis weit ins 19. Jahrhundert laufenden Mammutwerk der Ökonomischen Enzyklopädie von Krünitz (242 Oktavbände) der Fall war.197 Das systematische Verlangen hat sich in diesen Werken gleichsam erschöpft und die Masse des vom Markt verlangten Wissens nur in Ausschnitten bedienen können. Auf dem Buchmarkt sind die systematisch angelegten Enzyklopädien noch im 18. Jahrhundert von den allgemeinbildenden Enzyklopädien abgelöst worden. Im 19. Jahrhundert sind dann Werke wie die Encyclopaedia Britannica typisch, die Wissenschaften nicht abzubilden versuchen, sondern über sie berichten. In der ersten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica hat man das System der Wissenschaften noch durch längere Abhandlungen ins Alphabet einzugliedern versucht, indem es zu den Disziplinen selbst (wie etwa >AgricultureMetaphysicsMidwiferyNavigationSurgeryCataract, in medicine and surgery< auf >Medicine< verwiesen wurden, bei einem Text von 111 Seiten Länge!199 Gleichwohl war schon in der ersten Ausgabe des in Edinburgh hergestellten Werks das System der Wissenschaften in den Text der Enzyklopädie integriert, nicht von diesem separiert dargestellt. Indem die enzyklopädischen Werke von Chambers und Diderot Systeme als Orientierungen außerhalb der Einträge fixieren und in der Form eines Diagramms zum ständigen Referenzpunkt aller Artikel machen, überfordern sie einerseits die Leistungsfähigkeit der Enzyklopädie als in Buchform hergestelltes Wissenswerk. Sie qualifizieren andererseits „Wissen“ dadurch, dass sie nicht Sachwissen allein, sondern eine Einsicht in den Zusammenhang der Wissensarten bieten. Diderot wollte seine Enzyklopädie nicht zu einem didaktischen oder wissenschaftspropädeutischen Werkzeug gestalten. Er war an einem Dialog mit dem Leser interessiert, der über das Hervorholen dessen, was man im Hintergrund weiß, hinausgeht. Artikel sollten auch in Enzyklopädien als literarisch-philosophische Essays überraschen können: Dieses Angebot wollte Diderot als Herausgeber und Autor machen, wie Jean Starobinski unterstreicht.200 Eine literarische Qualität hat die Encyclopédie tatsächlich wohl erreicht, wenigstens in einigen Artikeln ihrer berühmteren Autoren wie Rousseau, Voltaire, D’Alembert und Diderot selber. Ebenso hat das elaboriert geplante, aber unvollkommen umgesetzte System der Rückverweisungen beeindrucken können, weil es auf eine intellektuelle Struktur verwies, die außerhalb des Buches Realität besaß: das menschliche Erkenntnisvermögen. Die Encyclopédie Diderots war in diesem Sinne ein Experiment auf die tieferen Dimensionen der Verständlichkeit, in einer durchgehaltenen Spannung zwischen der Wortdefinition und dem Sachverstehen.201 Diderots Encyclopédie ist mehr als eine Enzyklopädie in der Tradition der Wissensbücher, sie kann als eine Überhöhung des Genres verstanden werden. Innerhalb der französischen Literatur- und Wissensgeschichte kann man sie über198 199 200 201
Kafker (1994b), S. 151; Loveland (2011), S. 140–145. Kafker (1994b), S. 152. Starobinski (1970). Mortier nennt es eine „heuristische Reflexion“, die Diderot in seinem gesamten Werk, besonders aber in der Encyclopédie vorantreibt; Mortier (1995), S. 129.
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dies als den Versuch verstehen, ein seit den Anfängen der Lexikographie existente Doppelstrategie des enzyklopädischen Schreibens zu vervollkommnen. Tatsächlich findet in allen Sprachlexika ein Überstieg auf die Sacherklärung statt, so wie Sachwissen nicht ohne Rekurs auf sprachliche Verwendungen erklärt werden kann.202 Diderots Benutzung der sachwissenorientierten Struktur der Enzyklopädie ist auch eine Fortbildung der französischen Sprache als Wissenschaftssprache auf literarischem Niveau. Ein paralleles Beispiel für die Verquickung von Literatur und Sachwissen aus dem französischen 18. Jahrhundert ist der Dictionnaire de Trévoux, der zuerst 1704 in drei Bänden und zuletzt 1771 in acht Bänden erschien. Hier wird das alphabetische, sprachlich orientierte Lexikon mit dem Sachwissen so verschwistert, dass die an lateinischen Lemmata hängenden französischen Erklärungen oft in Essays übergehen. Manche von diesen werden sogar polemisch und zeigen damit ihre Zugehörigkeit zu einem nicht mehr nur enzyklopädischen Schreiben an, wie beispielsweise der Artikel >Juden< (Juifs). Der Artikel über >AugustinNackt, Nackend, Nacket< (UL 23: 307–313), der mit der Beschreibung verschiedener Sitten der Bedeckung oder Nicht-Bedeckung des Körpers beginnt, der Kategorie „Bibelwissenschaft“ zugeordnet. Denn die Erläuterung des Wortes nackt in der Bibel nimmt hier sechsmal mehr Raum ein als die Beschreibung, mit der sie beginnt. Oder die Klassifikation geschah nach der Erstnennung: So wurde zum Beispiel >Waldmann, (Esaias)< (UL 52: 1372–1374) – „der Medicin und Philosophie Doctor“ – als „Mediziner“ und nicht als „Gelehrter“ klassifiziert. Das Problem einer nicht vollständig und sauber leistbaren Systematisierung und Klassifizierung drückt am besten der als Hilfe für die sachliche Suche erstellte alphabetische Stichwortindex (>Suchhilfe) aus, der Themenfelder in ihrer Zuordnung zu den einzelnen Kategorien benennt. Er kann auf diese (selbst lexikalische) Weise dem heutigen Benutzer Wege in das Wissensverständnis des 18. Jahrhunderts bahnen, wo beispielsweise >Kalifen< unter „Adel“ aufgeführt sind oder Stichworte wie >Feuerwerk< sowohl zur Kategorie „Krieg“ wie auch zu „Kunst, Literatur, Bildung“ führen können. Die Arbeit der retrospektiven sachlichen Erschließung hat in ihren Ergebnissen keine Wissenseinteilung im Universal-Lexicon aufgespürt, die als System anderen enzyklopädischen Systemen an die Seite gestellt werden kann, wie sie etwa in den zeitgenössischen akademischen und universitären Milieus zirkulierten und diskutiert wurden. Wohl aber wurde eine Wissensverteilung sichtbar gemacht, die über die im 18. Jahrhundert aktuellen Interessen wie über die durch verschiedene Traditionen geprägte Aufmerksamkeit für unterschiedlichste Sachverhalte informiert. Die Vorteile für die Forschung sind unübersehbar: So können über die Kategoriensuche beispielsweise gut 120.000 alphabetisch separierte Personeneinträge erfasst werden, die bislang nirgends sonst erfasst sind, etwa auch nicht im Deutschen Biographischen Archiv.231 In den anderen Sparten können die Teil- oder SpezialLexika, die im Universal-Lexicon enthalten sind, quantitativ wie qualitativ evaluiert werden. Wenn es bislang nicht möglich war, den Bereich medizinischer oder botanischer Artikel wissenshistorisch zu untersuchen, so sind jetzt, wo man weiß, welche 16.883 bzw. 3.207 Artikel jeweils dazu gehören, die Arbeitsvoraussetzungen gegeben. 231 WBIS (2008).
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a) Vollständig im Universal-Lexicon enthaltene Texte 1712 (Gleditsch) Reales Staats- Zeitungs- und Conversations-Lexicon 1715 Amaranthes Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon (Corvinus) 1716 Wolff Mathematisches Lexicon 1721 Jablonski Allgemeines Lexicon Der Künste und Wissenschafften 1721 Lemery Vollständiges Materialien-Lexicon 1724 Hederich Gründliches Lexicon Mythologicum 1726 Walch Philosophisches Lexicon 1728 Stössel Compendieuses und Nutzbares Haußhaltungs-Lexicon 1730 Minerophilus Neues und Curieuses Bergwercks-Lexicon 1732 Walther Musicalisches Lexicon Oder Musicalische Bibliothec 1738 Hayme Allgemeines Teutsches Juristisches Lexicon b) Teilweise im Universal-Lexicon enthaltene Texte 1661 Müller von Lexicon medico-Galeno-chymico-pharmaceuticum Löwenstein 1688 Witte Diarium Biographicum 1706 Nehring Joh. Christoph Nehrings Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon 1715 Hunger Biblisches Real-Lexicon 1716 Marperger Vollständiges Küch- und Keller-Dictionarium 1716 Franckenau Flora Francica Rediviva 1717– (Kanold) Sammlung Von Natur- und Medicin- [...], Kunst- und Literatur1726 Geschichten 1719 Schöttgen Curiöses Antiquitäten-Lexicon 1719 Fleming Der Vollkommene Teutsche Jäger 1719 Schmauß Ausführliches Heiligen-Lexicon 1722 Beier Allgemeines Handlungs-Kunst-Berg- und Handwercks-Lexicon 1726 Fleming Der vollkommene Teutsche Soldat 1731 Hering Compendieuses Kirchen- und Ketzer-Lexicon 1731 Hederich Reales Schul-Lexicon 1732 (Gleditsch) Curieuses und Reales Natur- Kunst- Berg- Gewerck- und Handlungs-Lexicon 1733 Zenner Compendieuses Staats-, Historisches Kriegs- und FriedensLexicon 1737 Meissner Philosophisches Lexicon aus Wolffs sämtlichen deutschen Schriften 1742 Tritchter Curiöses Reit-, Jagd-, Fecht-, Tantz- oder Ritter-ExercitienLexicon 1744 Zincke Allgemeines Oeconomisches Lexicon Tab. 2: Im Universal-Lexicon enthaltene Texte. Die hier aufgeführten Werke sind aus der Forschung akkumulierte Hinweise und repräsentieren keine abgeschlossene Liste.
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Eine wesentliche Erweiterung der Erschließung des Universal-Lexicon steht künftig durch die Identifizierung weitgehend unverändert abgeschriebener oder leicht redigierter Lexika zu erwarten. Damit werden für ganze Sachgruppen eindeutige Artikelmengen präzisiert. So sind Musikartikel aus Walther, Arzneiartikel aus Lemery und Mathematikartikel aus Wolff komplett in das Universal-Lexicon übernommen worden.232 Auch wenn einige der Quellenwerke jetzt schon bekannt sind (Tab. 2), die wörtlich oder teilweise in das Universal-Lexicon Eingang fanden, ist das Ausmaß und die Qualität der Übernahmen unbekannt. Neu geschriebene Artikel stehen neben übernommenen, manche sind klug redigiert, manche elaboriert aus einer Fülle von Quellen herausgearbeitet, andere sind eher schlecht umgeschrieben. Es gibt für die Erforschung des Universal-Lexicon nur den Weg der Rekonstruktion des Inhalts aus den Artikeln selber. Anders als bei Chambers, wo der Kompilator selber der Autor war, oder bei der französischen Encyclopédie, deren Autoren weitgehend bekannt sind, und die teilweise schon intensiv behandelt wurden, gibt es beim Universal-Lexicon, das eine gigantische anonyme Wissensmaschine darstellt, nur die Möglichkeit, die tatsächliche enzyklopädische Leistung aus den Texten und ihrer Zusammenstellung herauszulesen. Textanalyse ist ganz allgemein die neuerdings privilegierte Strategie einer immer komparatistischer werdenden Enzyklopädieforschung. Neben dem Interesse daran, welchen Stellenwert das enzyklopädische Wissen für die zeitgenössischen Autoren und Leser hat, entwickelt sich ein Forschungsinteresse an der Textgeschichte selber, an den Transformationsstufen des enzyklopädischen Schreibens. Die Auseinandersetzung mit dem Universal-Lexicon, bei dem jeder andere Analyseweg verbaut ist, konvergiert daher mit solchen Forschungen rund um die französische Encyclopédie, die sich – teilweise beflügelt durch die Möglichkeiten digitaler Textdatenbanken233 – immer stärker inhaltlich mit dem Werk beschäftigen. Jacques Proust forderte 1995, die große Aufgabe anzugeben, das „enzyklopädische Schreiben“ zu analysieren. Im Blick auf Diderot nennt er drei Qualifikationen dieses Schreibens: Es ist ein Umschreiben (réécriture), weil es sich Vorlagen nimmt und sie umwandelt, es ist ein Dialog (mit zeitgenössischen Autoren, aber auch mit der Quelle selber, die man ausschreibt) und ein Fragmentieren (écriture fragmentaire), weil Textpartien als Versatzstücke in unterschiedliche Kontexte – mit dann unterschiedlichen Bedeutungen – montiert werden.234 Im gleichen Jahr 1995 wurden 232 Walther (1732); Lemery (1721); Wolff (1716). 233 ARTFL (2008). 234 Proust (1962), 3. Auflage 1995, S. XIV (Préface à la troisième édition).
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Ideen entwickelt, die „enzyklopädische Schreibweise“ (écriture encyclopédique) deutlicher vom „Bücherschreiben“ (écriture livresque) zu unterscheiden, weil es sich bei der Encyclopédie Diderots eben um die Herstellung eines Ortes handele, wo sich Bücherwissen und individuelles Wissen treffen.235 Eine gewisse Tradition muss allerdings gebrochen werden, um in der Encyclopédie ein Produkt des enzyklopädischen Schreibens anzuerkennen und zu analysieren. Noch wird Diderots Encyclopédie als geistesgeschichtliches Modell und literarisches Vorbild gehandelt, von dem man sich nicht einfach verabschieden will.236 Wenn der langjährige Erforscher der Encyclopédie John Lough der ersten Nummer der Zeitschrift Recherches sur Diderot et sur l‘Encyclopédie schon 1986 ins Stammbuch schrieb, dass man unbedingt die Genese der Texte verfolgen solle, dann wollte er selbst damit keinen wissenschaftshistorischen Auftrag formulieren. Er selbst hielt diese Arbeit nämlich für minder wichtig, die sich nur lohne, wenn es um bedeutsame Einträge gehe.237 Auch der breiter interessierte und insgesamt unvoreingenommene erste Forscher, der den Inhalt der Encyclopédie genauestens protokolliert hatte, Richard Schwab, ging von der unbestrittenen literarisch-philosophischen Qualität der Encyclopédie aus, wenn er 1971 schrieb: „Die größte Quelle für Informationen über die Encyclopédie ist das Werk selbst, und wir müssen diese Quelle öffnen, um in der Enzyklopädieforschung weiter zu kommen.“238 Allerdings lässt sich diese Forderung nach innerer Öffnung der enzyklopädischen Werke heute ohne weiteres auch auf andere Werke übertragen: Man muss die Bewegung des Wissens verfolgen, indem man den Enzyklopädien das darin Gedruckte nicht als ein einmal Gesagtes, sondern als ein vielfach Redigiertes auffasst.
Enzyklopädie und Universität Zur Nachgeschichte des Universal-Lexicon und anderer Enzyklopädien gehört – wenigstens in Deutschland – die Geschichte der systematischen Benutzung der Enzyklopädistik im Kontext des Universitätsunterrichts. Es gibt einen bemerkens235 236 237 238
Benrekassa (1995), S. 159, 162. Vgl. aber Donato (1997), S. 540. Lough (1986), S. 25. Schwab (1971), Bd. I, S. 15: „The largest store of untapped information about the Encyclopédie is the Encyclopédie itself, and making that knowledge readily available remains a fundamental challenge of encyclopedic scholarship.“
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werten Erfolg der Enzyklopädien im akademischen Bereich, der deutschen Universitäten seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem Aufschwung verhilft und die Wissenschaftlichkeit im Studium betont. Das alles begann in der Mitte des 18. Jahrhunderts und zwar in Göttingen, wo ein stärkerer Einfluss der englischen und französischen Wissenskultur vorhanden war.239 Der Kurator der Universität Göttingen, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, erließ 1756 eine Anordnung, in allen Fakultäten enzyklopädische Vorlesungen zu halten. Für die verschiedenen Fakultäten übernahmen diese Aufgabe bereits im nächstfolgenden Wintersemester 1756/57: Georg Gottlob Richter (Medizin), Jakob Wilhelm Feuerlin (Theologie), Johann Stephan Pütter (Jurisprudenz). Die philosophische Fakultät wurde in beiden Wissenschaftszweigen, dem naturwissenschaftlichen und dem geisteswissenschaftlichen, durch Abraham Gotthelf Kästner (Mathematik und Physik) und Johann Matthias Gesner (Philologie, Geschichte und Philosophie) bedient.240 Ulrich Dierse gibt diese Angaben in seiner begriffsgeschichtlichen Abhandlung über Enzyklopädien und zitiert Gesner, der Enzyklopädie nicht mehr als Polymathia und „alles aus dem Bereich der Wissenschaften für alle“ („omnis omnino omnium doctrinarum orbis“) begreifen will, sondern als zusammenfassende Darstellung einer einzelnen Wissenschaft. Wir können bei Gesner an anderer Stelle nachlesen, dass für eine Enzyklopädie nicht Sammlung und Umfang des Wissens entscheidend sei, sondern Zusammenhang (cohaerentia) und innere Ordnung (institutio): „Enzyklopädie bedeutet daher, dass alle Wissenschaften untereinander zusammen hängen. Enzyklopädie ist die Ordnung in diesem Kreis.“ 241 Dieses Verständnis von Enzyklopädie als Fachkunde wird auch dann nicht wesentlich verändert, wenn etwa der Mathematiker Kästner für die wahrhaft Gelehrten mehr als einzelwissenschaftliche Kompetenz einfordert. Kästner sagte in einem Vortrag 1768: „Ein Gelehrter, der in einer einzigen Wissenschaft auch beträchtliche Verdienste haben kann, aber von keiner andern einige Begriffe hat, kömmt mir vor wie ein ehrlicher Bürger einer mittelmäßigen Stadt, der nie gereist, nie mit Fremden umgegangen ist. [...] Eine Encyclopädie aller gelehrten Wissenschaften, macht meiner Meinung nach noch lange keinen Polyhistor, 239 Bödeker/Büttgen/Espagne (2008). 240 Dierse (1977), S. 73 f. 241 Gesner (1774), S. 40 (Nr. 28): „Cyclopaedia itaque significat, omnem doctrinarum scientiam inter se cohaerere. Encyclopaedia est institutio in illo circulo.“
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sondern sie gehört für jeden Gelehrten, der durchgängige Achtung verdienen, und eben dadurch in seiner Hauptwissenschaft recht groß werden will, dass er weiss, was sich in ihr aus andern anwenden, oder wie sie sich in andern brauchen lässt.“242 Enzyklopädie bezieht sich auf Fächer, nicht auf Sachen; der Begriff wird methodisch definiert, weil nur das allein „Nutzen“ verspricht, wie auch der Magdeburger Professor Johann Christian Förster schreibt.243 Sein akademischer Kollege in Frankfurt an der Oder, Alexander Gottlieb Baumgarten, definiert innerhalb des enzyklopädischen Wissens ein besonderes und ein allgemeines, philosophisches, und nimmt sich vor, eine Skizze der philosophischen Enzyklopädie zu geben (sciagraphia encyclopaediae philosophicae).244 Christian Appel, der als Professor publicus für Enzyklopädie und allgemeine Methodologie an der Universität Mainz wirkte, spezifizierte 1784 die Aufgabe des Enzyklopädisten als analytischen und zusammenfassenden Grundriss (analytica et summaria delineatio) und sagt ganz kurz: „Enzyklopädie ist Grundriss“ („Encyclopaidia [...] delineatio est“).245 Der allgemeine Gebrauch des Wortes Enzyklopädie als Bezeichnung für eine umfassende Wissenssammlung ist hier in einen präzisen pädagogischen und fachwissenschaftlichen Begriff der Grundlegung eingetauscht. In den Worten des Gießeners Professors Christian Heinrich Schmid ist Enzyklopädie „ein kurzer und systematischer Begriff von allen Theilen der Erudition und der dahin gehörigen Disciplinen, welcher dazu dienen soll, dass man nicht nur die Natur und Absicht einer jeden Disciplin an sich daraus erkenne, sondern auch den Zusammenhang und die gemeinschaftliche Verbindung ihrer aller daraus abnehmen und übersehen könne“.246 242 Kästner (1768). 243 Vgl. Baumgarten (1749); vgl. in der Vorrede von Förster (unpag.) § 5 (Allectandi et inuitandi sunt per encyclopaediam tirones ad ipsius scientiae accuratiorem tractationem, Dum vero nemo quid gratis agere cupit, sed semper, quicquid agit, vtilitatis rationem habet, et ostendi debet ab encyclopaediae doctore, non frustra acturum esse scientiae cultorem, ipsum potius manere oppido magnam vtilitatem, quando modo potitus sit recta illius cognitione.) und § 9 (Hisce ita encyclopaediae virtutibus euictis, docendi nobis erit occasio, quodam pretium, quae perfectio huic cyclopaedico studio concedi debeat, quaeque contra cautelae sint observandae, ut ne omnis eruditio manca et exilis euadet.) 244 Ebd., § 2–§ 4. 245 Appel (1784), S. 8, § IV (Nobis itaque Encyclopaidia est eruditionis ceu totius spectatae analytica & summaria delineatio. Delineatio est.) 246 Schmid (1788), S. 380. Schmid zitiert die Definition von Lange und stimmt ihr zu.
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Schmid war es auch, der 1788 darauf hinwies, dass die Tradition der enzyklopädischen Vorlesung nicht erst in Göttingen begann, weil etwa die Universität Gießen schon früh im 18. Jahrhundert eine solche Einrichtung kannte, als der Logikprofessor Johann Christian Lange seit 1702 sechsmal die Woche zu zweieinhalb Stunden seine Studenten mit der theologischen Enzyklopädie traktierte – und das jeweils sechs Semester lang!247 In Göttingen werden enzyklopädische Vorlesungen nach 1756 kontinuierlich fortgesetzt, wie man den beiden Bänden von Stephan Pütters Versuch einer academischen Gelehrtengeschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen aus den Jahren 1765 und 1788 entnehmen kann.248 Diese Tradition setzt sich bis in das 19. Jahrhundert hinein fort. Enzyklopädische Vorlesungen werden ein Markenzeichen des deutschen Universitätsunterrichts und ein ideologischer Grundbaustein für das Selbstverständnis der lehrenden und zugleich forschenden Professoren. Sie werden jeweils zu Beginn der nach Fächern gegliederten deutschprachigen Vorlesungsverzeichnisse gedruckt.249 Die Studenten finden sich somit gleich anfangs mit der Aufgabe konfrontiert, ihre jeweilige Wissenschaft als ein abgrenzbares und aus sich selbst verständliches Fach zu begreifen. Vorlesungen zum akademischen Studium überhaupt, wie sie später von den Philosophen Hegel und Schelling überliefert sind, artikulieren die Idee, dass die Fachwissenschaften wiederum zusammenhängen und in der Einheit einer Fakultät oder eines noch größeren methodischen Wissenskreises – der später zur Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften führt – aufgehoben sind. Die universitäre Definition der Enzyklopädie ist an deutschen Universitäten also ebenso prominent gemacht worden, wie das in den Vorworten der englischen Cyclopaedia oder in der „Vorrede“ der französischen Encyclopédie geschah. Zwei Unterschiede: Akademische Enzyklopädien sind in der Regel gerade keine allgemeinen Wissenschaftslehren – mit der Ausnahme der philosophischen Enzyklopädien. Und die an Universitäten als Enzyklopädie gelehrten Kurse sind Einführungsveranstaltungen in einzelne Disziplinen mit einer starken Betonung 247 Ebd., S. 376 f. 248 Pütter (1765), Bd. 1, S. 296, § 183: „Eine philosophische Encyclopädie oder Einleitung in die ganze Philosophie wird gemeiniglich im Sommer vom Prof. Hollmann in öffentlichen Vorlesungen Mittwochs und Sonnabends um 9. vorgetragen.“ Vgl. den zweiten Band aus dem Jahr 1788, der keine philosophischen Vorlesungen zur Enzyklopädie mehr erwähnt, sondern nurmehr theologische (S. 317), juristische (S. 319) und medizinische (S. 333), dafür aber die neuen Vorlesungen der historischen Enzyklopädie von Gatterer (S. 340) und zur humanistischen Enzyklopädie von Heyne (S. 347) eingehender vorstellt. 249 Schneider (1999), S. 87–90.
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der Struktur des Wissens: Inhalte spielen hier keine zentrale Rolle. Die Professoren organisieren ihr Fach, sie präsentieren nicht das gesamte Fachwissen mit derselben Autorität. Dazu passt, dass die universitären „Enzyklopädisten“ ein starkes Bewusstsein der gelehrten Tradition besitzen und sich immer wieder in eine theoretisch bedenkliche Nähe zum alten, eher kompilatorischen Enzyklopädiebegriff bringen. Während ein Buchautor wie Chambers die Kompilation nicht explizit rühmt (auch wenn er selber eine bietet), und D’Alembert darauf nicht eingeht (wohl weil er sie kaum kennt250), sind die deutschen Professoren besorgt und um Abgrenzung bemüht. Sie wollen – aus verständlichen Gründen – den Studierenden nicht ein kumulatives Wissensideal zeichnen. Die Verwendung des Enzyklopädiebegriffs in den Universitäten ist daher oft von Debatten begleitet, so etwa, wenn der gelehrte Daniel Georg Morhof und das Ideal des „Polyhistors“ bei Christian Appel in die Kritik gerät, weil dieser – anders als Morhof – die Enzyklopädie von jeder Polymathie und Polyhistorie strikt unterscheiden will.251 Wenn die Göttinger „Enzyklopädisten“ sich gegen die Tradition der Universalgelehrsamkeit wenden, fallen gelegentlich die Namen von Joachim Ringelberg, Petrus Ramus und Johann Heinrich Alsted.252 Das waren be250 Vgl. aber D’Alemberts Artikel >Dictionnaire< im vierten Band von Encyclopédie (1751). 251 Vgl. Appel (1784), S. 9 (Anmerkung zu § IV, nach dem Schlußsatz „Istiusmodi eruditionis analysis & summa nostram Encyclopaidiam constituit.“): Datus conceptus differentiam inducit inter Encyclopaidiam & aliorum Polymathiam, quae iuxta Morhofium est aliquis scientiarum complexus, qui non universam utique aut totalem aliquam eruditionem descripto modo designet, sed scientias plures ab uno aliquo complete cultas perspectasque contineat. Ipsa vocabula jam discrimen innuunt, quamquam in una eademque significatione saepe sumpta sint. Differt & Pansophia, quae est complexus omnium scientiarum, quas quis complete colit. 252 Vgl. Dierse (1977), S. 77. Vgl. Gesner (1774), S. 40–42: (in einem langen Argument – jeder nummerierte Satzteil ist durch lange Anmerkungen unterbrochen – wird der Begriff der hier vorgestellten Gelehrsamkeit unterschieden. Es beginnt der Satz auf S. 35 mit Nr. 22 „Differt institutum hoc ab eorum consilio, qui [...]“ und geht mit Nr. 28 auf S. 40 weiter:) 28 et qui ab eo inde tempore systemata, cyclopaedias, encyclopaedias disciplinarum atque artium dedere, vt Ioach. Fortius Ringelbergius, vt Pe. Ramus, Io. Henr. Alstedius etc. [...] (in der dreiseitigen Anmerkung werden die Begriffe auseinandergenommen und kleine Anspielungen auf die Enzyklopädietradition untergebracht:) Cyclopaedia itaque significat, omnem doctrinarum scientiam inter se cohaerere. Encyclopaedia est institutio in illo circulo. (Am Schluß wird auf S. 42 auf Alsted, Le Mothe le Vayer und auf Cardano verwiesen, als Beispiele berühmter Behandlungen der „universam doctrinam“ – ohne Kommentar.)
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zeichnenderweise Didaktiker des Universitätsunterrichts, sowohl der Antwerpener Humanist Ringelberg wie der Hugenotte Ramus, aber auch der Calvinist Alsted, der im Übrigen die erste tatsächlich so genannte Encyclopaedia 1630 vorgelegt hatte. Was bei Alsted noch sieben Bücher und vier Folianten füllte, die Gliederung des gesamten Wissens zu seiner besseren Vermittlung, wird nun im späten 18. Jahrhundert auf nur wenigen Seiten skizziert. Das Ziel eines klaren und deutlichen Unterrichts motiviert ganz wesentlich die Forderung nach fachlicher Aufteilung des Wissens. So artikuliert die Göttinger Vorlesungsreform in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Konzeption des Wissens, dessen Maß die einzelwissenschaftliche Forschung ist. Dies wird für die deutschen Universitäten eine Tradition bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konstituieren253 – und hat nichts mehr mit der auf dem Buchmarkt verbreiteten Produktion allgemeiner Enzyklopädien zu tun, mit der sich die pädagogischen Anstrengungen höherer Bildung nur bedingt noch vergleichen lassen.
253 Vgl. Dierse (1977), S. 125 ff.
Zweiter Teil Das allgemeine Wissen
3. Das Universal-Lexicon als Biographie
Das Grosse vollständige Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler wurde von Ernst Herbert Lehmann in seiner abrisshaften Geschichte des Konversationslexikons 1934 als „stolzer Barockbau“ gelobt und damit nicht unbedingt als fortschrittliches Werk charakterisiert, denn Fortschritt im 18. Jahrhundert bedeutete für Lehmann wie wohl auch für uns heute: Aufklärung.254 In seinem Buch Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung versuchte Max Wundt 1945 den weltgewandten und nicht mehr schulfixierten geistigen Horizont der Handelsmetropole Leipzig zu kennzeichnen und rechnete dieser von ihm so genannten „Leipziger Luft“ auch Zedlers monumentales Unternehmen zu.255 Allerdings machte sich Wundt selbst den Einwand, dass die größten philosophischen Köpfe des unabhängigen Denkens, nämlich Wilhelm Gottfried Leibniz und Christian Thomasius, Leipzig verlassen hatten, so dass die „Ablehnung eines bloßen Schulwissens“ und das „Streben nach einer aus dem Leben entspringenden und im Leben sich bewährenden Bildung“ im Leipzig des 18. Jahrhunderts nur ungefähr zu lokalisieren waren. Wundt geht sogar so weit zu sagen, dass Leipzig „die Geburts- nicht die Pflegestätte des neuen Zeitgeistes“ gewesen sei.256 Solche vage Einschätzung hält sich gelegentlich bis heute, weil die „Zedler-Zeit“ der beiden Jahrzehnte vor der Mitte des Jahrhunderts im Hinblick auf das UniversalLexicon und seine Position in dieser Zeit unzureichend erforscht sind. Wenn Günther Mühlpfordt 1990 das Universal-Lexicon als „anerkannte Gipfelleistung der Leipziger Lexikographie“ bewertet und es ein „riesiges Gesamtinventar des empirisch fundierten Halle-Leipziger Aufklärungsrationalismus“ nennt257, ist das, in der Kürze der Benennung, nur ein weiteres Zeugnis für allgemein mangelnde Kenntnis. Zwar ist das verlegerische Unternehmen nach Seiten seiner juristischen Probleme 254 255 256 257
Lehmann (1934), S. 21 f. Wundt (1945), S. 4. Ebd., S. 3. Mühlpfordt (1990), S. 63, 91.
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Das allgemeine Wissen
und wirtschaftlichen Wechselfälle einigermaßen durchsichtig258, nicht aber als intellektuelle Konzeption oder als geistesgeschichtlich bedeutsame Anstrengung. Es fehlen die „Täter“ zu dieser Tat, deren Anonymität ihr gewissermaßen zur Last gelegt wird: das Universal-Lexicon scheint ein naturwüchsiges Produkt des Zeitgeistes zu sein, noch bevor dieser durch Aufklärung modernisiert wurde. Auch den Verleger umgibt ein Hauch von Anonymität: wenig ist von seinen Lebensumständen bekannt.259 Mit dem Universal-Lexicon wird er so sehr identifiziert, dass man heute einfach von „dem Zedler“ spricht, wenn man das Lexikon meint, obwohl der leibhaftige Zedler doch noch andere Produkte auf den Buchmarkt brachte, wie etwa eine Werkausgabe Luthers (1729–1740 in 22 Folio-Bänden, hg. v. Christian Friedrich Börner oder die Allgemeine Staats- Kriegs- Kirchen und Gelehrten-Chronik 1733–1754 in 20 Bänden). Der gebürtige Breslauer Johann Heinrich Zedler (1706–1751) wurde in seiner Heimatstadt und in Hamburg als Buchhändler ausgebildet und übersiedelte Anfang 1727 nach Leipzig – er war 21 Jahre alt, als er hier die ersten Bücher verlegte. Das Bild des Universal-Lexicon als reifer Summe des Wissensstandes um 1750 darf nicht verdecken, dass es das Produkt geradezu jugendlicher Ambition war: Der Verleger brachte den Prospekt dazu 1730 mit 24 Jahren heraus (als er die Lutherausgabe gerade begonnen hatte). 12 Bände waren avisiert, aber rasch und ohne sichtbare Umstellung wurde das Alphabet so gestreckt, dass die ersten Bände ihre Fortsetzung in extrem gesteigertem Umfang fanden. So entstand zwischen 1732 und 1750 das Riesenwerk in 64 Folianten. Zedler starb 1751 mit 45 Jahren, ein Jahr nach Abschluss des Universal-Lexicon (vier Supplementbände folgten 1751–1754). Angaben darüber, dass er erst 1763 starb260, erwiesen sich durch Belege aus Leichenbuch und Grabregister in Leipzig als falsch.261 Besser bekannt als der Verleger ist der Streit um die Einführung des UniversalLexicon. Durch diesen Streit wurde das Lexikon, dessen Ambition und damit auch der Verleger ein Teil der deutschen Buchgeschichte. Die Geschichte der verlegerischen Durchsetzung dieses größten europäischen Lexikon-Projekts des 18. Jahrhunderts ist, seitdem Albert Kirchhoff die Akten der Leipziger Bücherkommission ausgewertet hat, in der dazu vorliegenden Sekundärliteratur noch am ausführlichsten erzählt.262 Johann Heinrich Zedler hat sein Lexikon-Projekt gegen Klagen kon258 259 260 261 262
Juntke (1956); Kossmann (1969). Quedenbaum (1977). Juntke (1956), S. 17; Schnorr (1898). Quedenbaum (1977), S. 305 f. Kirchhoff (1891) und Kirchhoff (1892).
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kurrierender Leipziger Verleger zunächst nur mit Mühe durchsetzen können.263 Schließlich schaffte er es, mit Hilfe des Juristen, Historikers und Kanzlers der Universität Halle, Peter von Ludewig, ab 1731 mit preußischem Privileg in Halle drucken zu können, bis er 1738 mit Band 19 auch das sächsische Privileg erhielt. Kurz zuvor hatte Zedler allerdings Konsequenzen aus seiner schwierigen finanziellen Lage gezogen und seinen Verlag durch den Leipziger Geschäftsmann Johann Heinrich Wolf aufkaufen lassen, der das Lexikon unter Zedlers Namen und mit dem neuen Herausgeber, dem Leipziger Philosophieprofessor Carl Günther Ludovici, weiterführte.264 Mit dieser Geschichte des Kampfes um das Universal-Lexicon endet bereits die erzählbare Geschichte, und schon diese ist nicht restlos aufgeklärt. Es fehlen Nachlässe des Verlegers selbst und des Herausgebers Ludovici, es fehlen die Pränumerantenliste der abonnierten Leser und ein Inhaltsverzeichnis, die beide nach Abschluss der Textbände gedruckt werden sollten.265 Es fehlen substanzielle Hinweise auf die Planung der Einträge und die Organisation des Drucks (– die Archive Mitteldeutschlands liefern keine Hinweise266). Grund all dieser Informationslücken ist die Unbekanntheit der Verfasser der Einträge. „Was die Mitarbeiter an Zedlers Universallexikon betrifft, so ist die Frage nach den leitenden Redakteuren und Mitarbeitern nicht restlos geklärt.“ Diese 1978 getroffene Feststellung Dietrich Fuhrmanns267, dem wir eine der wenigen inhaltlichen Untersuchungen zum Universal-Lexicon verdanken, ist eine Untertreibung. Das Geringe, was über auch nur potenzielle Mitarbeiter bekannt ist, hat bislang nicht zur Zuordnung einzelner Artikel verholfen. Zedler selbst scheint auszuscheiden; seine sonstigen Geschäfte hätten inhaltliche Arbeit wohl nicht erlaubt. Namentlich bekannt ist der Historiker Jacob August Franckenstein (1689–1733) als erster Herausgeber, der aber bereits 1733 starb. Man kennt einen frühen Mitarbeiter, den Philologen Paul Daniel Longolius (1704–1779), der 1735 als Gymnasialprofessor nach Hof übersiedelte und dort wohl auch den Raubdruck zweier Bände des Universal-Lexicon durch den Buchdrucker Johann Ernst 263 Vgl. Quedenbaum (1977), S. 72–113. 264 Ebd., S. 193–230. 265 Im Vorbericht des Verlegers zu Bd. 19 heißt es, es „sollen in der Vorrede zu dem letzten Band alle diejenigen, die etwas hierzu beygetragen haben, nahmentlich angeführet [...] gleichwie [...] ein vollständiges Verzeichnis aller meiner Herren Pränumeranten erscheinen“. (UL 19: [8]) 266 Die Aussage bezieht sich auf schriftliche Anfragen aus dem Jahr 2004. 267 Fuhrmann (1978), S. 16.
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Schultze 1738 mitveranlasste. Peter von Ludewig, der den Start des Unternehmens entscheidend förderte, kennt man als Vorredner zum ersten Band. Der 1738 neu eingesetzte Herausgeber Carl Günther Ludovici bekennt sich in der Vorrede zum Bd. 19 zur „Direction dieses und der noch zu gewartenden Bände“, und man kann wohl annehmen, dass er als Autor einer Geschichte der Philosophie Christian Wolffs auch die entsprechenden Einträge zu Person (>Wolf, ChristianWolfische PhilosophieWinckler, Heinrich< (UL 57: 509–510) gegeben.270 Leider ist über den Leipziger Stadtarzt Winckler sonst nichts bekannt. Damit sind schon alle Informationen über potenzielle Mitarbeiter zusammen getragen und vier von rund 284.000271 Artikeln mit guten Gründen einem Autor zugeordnet.272 Der Hinweis auf Winckler weist den Weg künftiger Forschung: Vornehmlich durch eine Analyse der Einträge selbst und der darin gegebenen Verweise könnte das Geheimnis der Verfasserschaft des Universal-Lexicon gehoben werden. Die Anonymität war anfangs verlegerische Strategie: Die Geheimhaltung von Mitarbeitern bot aus naheliegenden Gründen dem Verleger Selbstschutz, denn ihm drohten Klagen auf geistigen Diebstahl (Raubdruck). Auch hatte er wohl Angst vor dem Bekanntwerden seiner Redaktionsstruktur, die das Lexikon zu einem großen Erfolg machen sollte und schließlich – alle Schwierigkeiten abgerechnet – auch machte. Das Problem einer so großen Enzyklopädie, die alle bisherigen in den Schatten stellen sollte, wurde von Peter von Ludewig in seiner Vorrede zum ersten 268 Ludovici (1738). 269 Meusel (1811), S. 447. 270 Der letzte Satz lautet in UL 57: 510: „Endlich ist auch nicht zu vergessen, dass er gleich vom Anfang dieses großen Universal Lexicons bis noch jetzo die meisten medizinischen Artickel darin verfertiget hat und noch verfertiget.“ 271 Laut Zählung der Artikel nach der Kategorienübersicht befinden sich auf den rund 68.000 Folioseiten des Universal-Lexicons 284.135 Artikel. 272 Horst Dreitzel will „aufgrund von Stil- und Inhaltsanalysen als Verfasser von wichtigen Beiträge zur Logik und Ethik mit großer Wahrscheinlichkeit“ den Leipziger Professor Friedrich August Müller (1684-1761) identifiziert haben, vgl. Dreitzel (1994), S. 122.
Das Universal-Lexicon als Biographie
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Band durchaus thematisiert. Er berührte das juristische Problem des Nachdrucks, aber auch das Problem der Wissensvermittlung überhaupt. Unter der Überschrift „Unschuld des Universal-Lexicons“, schreibt von Ludewig, der Verleger lasse „keine LEXICA, wie ihme fälschlich Schuld gegeben worden, zusammen schreiben und anderer Leute ihre Arbeit drucken. Er hält und besoldet seine neun Musen oder Mitarbeiter darauf: dass jeder selbsten in seiner Art oder metier sein Heil versuchen möge. Er will aber und kan denselben den Weg und Mittel nicht verwehren und verschliessen: dass Sie nicht hierzu dienliche Bücher brauchen und also die vorhero geschriebene LEXICA mit ansehen. [...] Der Verleger lässt seine, am Ende des Wercks zu benennende neun Musen sorgen, auf welchen Felsen Sie ihre Arbeit gründen.“ (UL 1: 15) Die Benennung der Musen fand nicht statt. Ob die Beiträger tatsächlich neun an der Zahl waren, ist höchst fraglich, denn schon mit dem Ziel, dass jeder eine Wissenschaft übernehme, ist schlechterdings unvereinbar, dass tatsächlich 22 Wissensgebiete bearbeitet werden sollten, wie in der Ankündigung Peter von Ludewigs 1731 benannt.273 Welchen Bildungsstand sie hatten, ob sie etablierte Wissenschaftler waren, wie der erste Herausgeber Franckenstein und der spätere Herausgeber Ludovici, oder Universitätsangehörige niederer Stufe (Magister, Dozenten), ob sie außerhalb der Universität berufstätig waren (Ärzte, Richter, Pfarrer, Lehrer) oder gar nicht (weil vermögend oder adelig), bleibt bislang unbekannt. Dass die Mitarbeiter in Ludewigs Vorrede als anonymisierte „Musen“ apostrophiert werden, musste spätestens dann, als das Unternehmen lief und jedes Jahr ein durchschnittlicher Ausstoß von 4.000 Folioseiten erreicht wurde, immer merkwürdiger erscheinen. Warum eigentlich sollten die Mitarbeiter unbekannt bleiben? Wollten Sie es? Diese Frage wurde bis dato nie gestellt, obwohl sie ins Herz der Gelehrtenkultur trifft. Die Encyclopédie Diderots und D’Alemberts war die erste, die signierte Artikel aufwies274, aber schon zuvor machte man nicht grundsätzlich aus den Verfassern ein Geheimnis: Meist wurden Fachenzyklopädien von einem einzelnen Autor verantwortet oder verfasst. Angesichts der großen Arbeit, die das 273 Ludewig (1731), zitiert nach Quedenbaum (1977), S. 58: „Man trifft darinnen ein 1) biblisches, 2) theologisches, 3) juristisches, 4) medicinisches, 5) philosophisches, 6) mathematisches, 7) Staats, 8) Zeitungs, 9) Kauf und Handels, 10) Handwercks, 11) Haushaltungs und Wirtschafts, 12) Alterthums, 13) der Gelehrten, 14) Berühmten, 15) Heiligen, 16) vornehmen Standes, 17) Geschichts und Historisches, 18) poetisches, 19) geographisches, 20) philologisches, 21) Kunst und, 22) Natur-Lexicon“; s. o. S. 77. 274 Vgl. dazu Perla (1971) und Perla (1977).
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Universal-Lexicon mit sich brachte, müsste man genauer untersuchen, warum es eventuell riskant oder irgendwie nachteilig erscheinen konnte, daran mitzuarbeiten. Oder war es selbstverständlich, eine gute Portion der Lebensarbeitskraft in den Dienst eines Verlegers zu stellen? Worin liegen die Besonderheiten des enzyklopädischen Schreibens, und warum insbesondere treffen beispielsweise die Thesen des Hallenser Juristen Nikolaus Hieronymus Gundling, der 1726 den wissenschaftlichen Autor als „Eigentümer“ seiner Gedanken verteidigte, hier nur bedingt zu?275 Ohne die Mitarbeiter namentlich oder wenigstens ihren vermutlichen sozialen Funktionen nach zu benennen, ohne die Empfänger (Pränumeranten) zu kennen, bleibt das Universal-Lexicon gewissermaßen ortlos in der Mitte des 18. Jahrhunderts stehen: Sein Platz in der Zeit bleibt ungenau bestimmt, wenn der Einsatz der Zeitgenossen für dieses Unternehmen nicht abgeschätzt werden kann. Seine Rolle im Spannungsfeld zwischen Gelehrsamkeit und Aufklärung bleibt unbegreiflich, wenn man nicht weiss, wer hier für wen tätig war. Eine schwache Spur weist in Richtung auf die Leipziger Universität. Dass zwei Universitätsprofessoren als Herausgeber fungierten (Franckenstein und Ludovici) und ein dritter Gelehrter (von Ludewig) die Vorrede schrieb, deutet zumindest auf akademische Unterstützung hin. Aber wieweit erstreckt sich diese? Und in welcher Hinsicht konnte das Unternehmen des Universal-Lexicon für eine universitäre Klientel interessant sein? Die in der Zedlerforschung implizite, manchmal auch explizite Abwertung des Universal-Lexicon verdankt sich einerseits dem Vergleich mit frühen und zeitgleich gedruckten Fachlexika, die Einträge zu ihrem jeweiligen Gegenstand abgegrenzt und präzise präsentieren, andererseits dem Hinblick auf die spätere Tradition der Konversationslexika, die seit dem 19. Jahrhundert keinen exklusiven Anspruch auf die Vermittlung von Sachwissen erheben, sondern allgemein interessierende Artikel bieten. Beide Perspektivierungen (oder auch Relativierungen) kommen darin überein, den Gegenstand des Universal-Lexicon eher mit Wissen als mit Wissenschaft zu identifizieren und es als Bestandteil einer Bewegung der Popularisierung von Wissen anzusehen, die im 18. Jahrhundert in ganz Europa ein aufnahmebereites Publikum fand.276 Es erscheint auf der Basis dieser groben Einschätzung insbesondere ein Vergleich mit der Encyclopédie gegen das Universal-Lexicon zu sprechen, da das französische Werk durch einige Intellektuelle zum Instrument gesellschaftlicher Reform wurde oder werden sollte, während im deutschen Werk die Repräsentation des Wissbaren Selbstzweck war oder zu sein schien: Das Universal275 Gundling (1726), S. 162, zit. nach Bosse (1981), S. 33. 276 Vgl. Burke (2001), S. 197–202.
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Lexicon ist monumental und die Encyclopédie fortschrittlich – auf diesen Nenner lässt sich das gängige Urteil bringen. Unter den wenigen Studien zum Universal-Lexicon haben allerdings bislang nur drei dieses Urteil durch genaue Textkenntnis stützen können. Philipp Shorr hat 1932 die naturwissenschaftlichen Einträge untersucht und eine Ambivalenz konstatiert, weil neuere wissenschaftliche Erkenntnisse unverbunden neben volkstümlichen Praktiken der Magie und Chiromantie stehen. Für Shorr nehmen Zedler und seine Mitarbeiter nicht entschieden genug die Seite der Wissenschaft ein.277 Die militärgeschichtliche Arbeit von Eckhart Kutsche und die politikgeschichtliche von Dietrich Fuhrmann kommen auf anderen Feldern ebenfalls zur Einschätzung, das Universal-Lexicon sei politisch eher konservativ und rückwärtsgewandt.278 Ob man aber aus Teilperspektiven auf das Ganze schließen kann, ist durchaus fraglich, denn zu den Prämissen der das Universal-Lexicon thematisierenden Untersuchungen gehört ja gerade die Abwesenheit eines das Ganze formenden Willens. Was man sich als „zusammengeschrieben“ denkt, kann schon aus methodischen Gründen keiner Erwartung von „Fortschrittlichkeit“ genügen. So drängt sich die Frage nach dem Inhalt des Universal-Lexicon auf. Was steht hier überhaupt im Alphabet nebeneinander und welche Wissensgebiete sind abgedeckt? Einen guten Überblick über die verschiedenen Artikelgruppen bieten Peter E. Carels und Dan Flory.279 Geographie und Geschichte sind die Stärken des Lexikons, stellen Carels und Flory fest, und meinen damit sowohl Umfang wie Qualität der Artikel. Ihre Einschätzung, dass das Universal-Lexicon noch heute ein wichtiges Nachschlagewerk sei280, reflektiert sich auch im gängigen Gebrauch, den die Historiker von Zedlers Lexikon machen: Sie konsultieren darin den zeitgenössischen Wissensstand. Vielleicht kann man sagen, im Universal-Lexicon sei aufgegriffenes Wissen zusammengestellt, und nicht: eingreifendes Wissen vorgestellt. Artikel wie „Intoleranz“ (>intoléranceégalité naturelleliberté de penserTolerare< (UL 44: 1118) als kurze Begriffsbestimmung, >Natur-Recht, Natürliche Rechtsgelertheit< (UL 27: 1192–1205) als theoretisches Referat, >Freyheit zu philosophiren< (UL 27: 277 278 279 280
Shorr (1932). Vgl. Kutsche (1974), S. 424–432; Fuhrmann (1978), S. 315–338. Carels/Flory (1981), bes. S.172–195. Ebd., S. 195.
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2126–2129) als Essay über die notwendigen Schranken der Freiheit gegenüber Religion und Staat. Auf Deutsch wird unter >Presse< (UL 29: 324 ff.) auch nicht wie auf Französisch die Meinungsfreiheit behandelt, sondern nur die diversen Geräte dieses Namens, und statt einer Kritik der „Schulphilosophie“ (>philosophie de l´écoleSchul-Leute< (UL 35: 1548–1557). Ein weiteres Beispiel kann den Unterschied verdeutlichen: Die von Diderot redigierten philosophischen Artikel der Encyclopédie sind 1764 noch einmal gesammelt als selbständige Publikation erschienen.281 Aus dem Universal-Lexicon hätte man einen solchen Auszug nicht machen können, und zwar nicht, weil das einen Autor verraten hätte, sondern weil der Umgang mit den Quellen – auf dem Gebiet der Philosophie vor allem mit dem Lexikon von Walch und der Philosophiegeschichte von Brucker282 – ganz anders war: Wo Diderot seine Abhandlungen über Zweifel (>doutearistotélismematièreWolf, ChristianUniversität< des Universal-Lexicon wird die Nähe von Unterricht und Buchdruck betont (UL 49: 1771–1818, bes. 1786, 1791f.), und es lässt sich fragen, ob nicht das Universal-Lexicon überhaupt in Teilen als eine Art „offene Universität“ bezeichnet werden sollte. Das Wissen des Universal-Lexicon könnte als Lehrstoff beschrieben werden können, der in einem weiten Sinne akademische Relevanz besitzt, wobei man nicht nur an die vier Fakultäten der klassischen Universitäten mit mittelalterlichen Wurzeln denken darf, sondern auch an die Ritterakademien und anderen Einrichtungen, an denen ökonomisches und politisches Wissen vermittelt wurde, bis hin zu den Fecht- und Tanzkünsten. Ludewig schreibt in seiner Vorrede zum ersten Band, des Lexikons Grenzen würden „viel weiter, als die Akademische Wissenschaften, so viel derer auch seyn mögen, reichen“. (UL 1: 6) Und diese 293 Kogan (1958), S. 14. 294 Zu den mitteldeutschen Gelehrtennetzwerken vgl. Döring/Nowak (2002).
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Perspektive könnte es erlauben, die monumentale Tat des Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert besser zu begreifen: als Tat einer Gruppe von Gelehrten, die sich über das Lexikon allererst konstituiert und zugleich damit als Wissensvermittler funktionalisiert. Die Gelehrtenrepublik findet in Zedlers Universal-Lexicon eine Karte, die für alle lesbar gemacht wird: eine Republik des Geistes, zu der man sich ohne Immatrikulation selbst zählen kann, die also ein gutes Stück weniger exklusiv ist (auch wenn man Geld brauchte, um an die Bände heranzukommen, beim Kauf sehr viel – für alle Bände fast 140 Reichstaler –, im Lesekabinett wohl weniger).295
Die Enzyklopädie als Bühne Das Universal-Lexicon wollte allerdings ersichtlich mehr sein als ein Verzeichnis der Gelehrten. Es ging dem Herausgeber Zedler und seinem Redakteur Ludovici um ein Verständnis von Zeitgenossenschaft, das sich über die eigenen Kreise der publizistisch Tätigen hinaus erstreckte. Es ist wahrscheinlich Zufall, dass Ludovici gerade dann die Leitung des Universal-Lexicon übertragen wurde, als seine eigene Neuerung, auch lebende Persönlichkeiten aufzunehmen, ihn selbst privilegierte. Der Buchstabe „L“, der anstand, als Ludovici seine Arbeit aufnahm, erlaubte es nämlich, sich selbst darzustellen (UL 18: 1005–1008), übrigens ohne dort seine Herausgebertätigkeit zu erwähnen. Der Einunddreißigjährige präsentiert sich als Universitätsgelehrter mit einer ausführlichen Liste von Schriften und macht noch das meiste Aufheben um seine Mitgliedschaft bei der Deutschen Gesellschaft. Aber Ludovici zielte weiter, wie seine Vorreden zu den Bänden 21 und 23 bezeugen. Dort werden die Leser direkt angesprochen und eingeladen, „da ein jeder wenigstens durch Einsendung seiner oder seiner Anverwandten Lebens-Läuffe, sicherer Nachrichten von seinem Geschlechte oder deren mit demselben erblich verknüpften Ehren-Aemtern seinen und seines Geschlechts Namen verewiget.“ (UL 21: [3]) Die direkte Einforderung von Beiträgen von Privatpersonen (wie zu Sozietäten und Stadtgeschichten) geschah letztmalig im Februar 1750 in den Halleschen Anzeigen, zugleich mit der Ankündigung von Supplementbänden: 295 Burke vermutet allgemein, die intellektuellen Revolutionen Europas ließen sich auf das „Lesbarwerden“ des Wissens zurückführen; vgl. Burke (2001), S. 24.
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„Endlich werden auch alle und jede um hoch- und geneigten Beytrag zu mehr gemeldeten Supplementen an Genealogischen und Geographischen Artickeln, Lebens Beschreibungen, lebenden und verstorbenen um den Staat und die Wissenschafften verdienten Persohnen, und anderen nützlichen Nachrichten, nochmals ergebendst ersuchet, und gebeten, solche an Herrn Carl Günther Ludovici, ordentlichen Professor der Philosophie zu Leipzig, und der Königl. Preussischen Academie der Wissenschaften zu Berlin Mitglied, als Verfertigern dieses Wercks, oder an Johann Heinrich Wolffs Handlung nach Leipzig in Zeiten einzusenden, dagegen man die gewisse Versicherung giebet, dass an accurater und vollständiger Ausarbeitung kein Fleiss gesparet werden solle.“296 Während das Geflecht von Namen, das die ca. 68.000 Seiten des Universal-Lexicon mit seinen rund 284.000 Einträgen durchzieht, in Bezug auf die Artikel zu Gelehrten eine Art Akademie bildet, mit dem Lexikon als eine Art Sekretariat, bildet es in Bezug auf die adligen Personen eine Art resümierter Zeitung oder kurzgefasster Zeitgeschichte, mit dem Lexikon als eine Art Bühne oder Plattform. Gänzlich neu im 18. Jahrhundert – und für die Geschichte des enzyklopädischen Schreibens innovativ – ist der Umgang der für das Universal-Lexicon Verantwortlichen mit dieser Plattform: Sie wurde zur Selbstdarstellung freigegeben, vielleicht sogar an die zahlungskräftige Leserschaft verkauft, jedenfalls dann, wenn etwa Familienstammbäume in Form von Stichen aufgenommen werden sollten. In der Vorrede zu Band 21 heißt es entsprechend: „Will auch ein hochangesehenes Adeliches Haus die Kupfferplatten ihrer Ahnen-Tafelen uns gnädigst mittheilen, und die wenigen Kosten zum Abdrucke nicht scheuen; so wird man ihm hierunter zu willfahren um so viel weniger entstehen, je mehr Zierde hierdurch dem Lexico selbst zuwächset.“ (UL 21: [4]) Nun habenAhnentafeln eine höchst politische Funktion, denn durch Verwandtschaftsverhältnisse werden Ansprüche auf Mitsprache bei wirtschaftlichen und finanziellen Entscheidungen, Beteiligungen an Regierungsämtern und vieles mehr begründet. Das Universal-Lexicon dient mit der Aufnahme solcher Tafeln also keineswegs nur der „Zierde“ der ansonsten eher öden, weil weitgehend ohne Abbildungen gestalteten Druckseiten.297 Es holt sich einen der enzyklopädischen 296 Zitiert nach Quedenbaum (1977), S. 298. 297 Vgl. Siegel (2006).
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Darstellung eher fremden Diskurs ins Lexikon, nämlich die politische Verteidigung von Partikularinteressen. Drei Beispiele können zeigen, wie es aussieht, wenn unredigierte Textteile aufgenommen werden. Zwei Einträge zu den adligen Geschlechtern Marschall und Nimptsch werden von Ludovici in der Vorrede zu Band 23 als Beispiele für die neue Redaktionspolitik erwähnt. Beim Eintrag >Nimptsch< (UL 24: 945–957) handelt es sich um einen weitgehend neutral formulierten Artikel mit Verweis auf einzelne Angehörige (Artikel zu Adelsgeschlechtern weisen üblicher Weise lange Listen von Namen auf); dazu kommt ein gestochener und nachträglich eingeklebter Stammbaum, der in der Seitenzählung nicht berücksichtig ist. Das gilt auch für die Ausklapptafeln zum Familieneintrag >Marschall< (UL 19: 1702–1715), eingefügt zwischen die Spalten 1708 und 1709. Der Eintrag ist platziert zwischen einem Eintrag zur gleichnamigen Adelsfamilie >Marschall< (UL 19: 1701–1702) aus England und >Marschall, Rahel SophiaMarschall< ist die deutliche Klarstellung, dass es sich um ein ursprünglich schottisches Geschlecht handelt, das nun vom preußischen König in Ehren gehalten wird. Dazu werden eine Reihe von Dokumenten abgedruckt, etwa ein Patent auf Latein (UL 19: 1707–1708) sowie weitere lateinische Urkunden (UL 19: 1709– 1713), einschließlich der Beglaubigungen durch preußische Hofräte und Archivare. Dazu kommt eine Deklaration des Königs in Preußen, Friedrich Wilhelm I. (UL 19: 1714–1715), datiert vom 11.08.1736. Das Ganze macht den Eindruck einer notariellen Unterlage im Streit um Rechtsansprüche, die selber nicht benannt sind. Das Universal-Lexicon hat in diesen Fällen seine Redaktionshoheit zugunsten der Selbstdarstellung von Zeitgenossen aufgegeben. Während bei >Nimptsch< im Text selber das enzyklopädische Schreiben imitiert wurde und nur der als Stich beigegebene Stammbaum dem aufmerksamen Leser signalisiert, dass hier Platz im Lexikon gekauft wurde, ist der Eintrag >Marschall< offenbar unbekümmert darum, nur feststehendes Wissen zu repräsentieren. Der Ton ist werbend bzw. angeberisch, die Form stellt mit dem Abdruck lateinischer juristischer Dokumente einen Bruch mit den Konventionen des enzyklopädischen Schreibens dar. Wie viele andere Beispiele für diese Brüche im enzyklopädischen Stil der durch Ludovici eröffneten Möglichkeit, eigene Texte einzusenden, zu verdanken sind, ist bislang nicht untersucht. Ein weiteres Beispiel kann hier allerdings gegeben werden. Nimmt man nämlich den Artikel über den Reichgrafen >Schmettau, Samuel< (UL 35: 347–361) in die Hand, findet man ein aussagekräftiges Dokument der Selbstbeweihräucherung in 28 Spalten. Der Artikel unterbricht den eindeutig lob-
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hudelnden Text nur für die Abschrift einer kaiserlichen Vollmacht auf Latein und ein französischsprachiges Empfehlungsschreiben, beide typographisch abgehoben (UL 35: 353, 354). Der Artikel endet mit der Wiedergabe des kaiserlichen Grafen„Diploms“, das in voller Länge auf Deutsch zitiert wird (UL 35: 356–361). Der Text ist normal gesetzt, jede Zeile trägt links außen zwei Anführungszeichen, um das Zitat anzuzeigen. Einleitend heißt es in einer Passage, die die Beförderung in den Reichsgrafenstand wie die Erfüllung aller nur denkbaren Wünsche beschreibt: „Ihro Kaiserliche Majestät [...] haben Höchst-Dieselben [...] dem Feldmarschalln Grafen von Schmettau eigenhändig das Diploma [...] nebst einem beygelegten kostbaren Geschencke von einem goldenen reich mit Brillanten besetzten Etui mit mathematischen Instrumenten übergeben, und Dero beständigen höchsten Gnade zu versichern geruhet.“ (UL 35: 356) Feldmarschall Samuel Schmettau hat 28 Schlachten und 32 Belagerungen mitgemacht, er wurde dank seiner militärischen Verdienste Abgesandter des Preußenkönigs Friedrich II. am Kaiserlichen Hof in Wien. Später wurde von Schmettau zum Kurator der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gemacht – das allerdings liegt zeitlich nach dem Redaktionsschluss dieses Bandes des Universal-Lexicon. Dass die Lexikonmacher die Selbstdarstellung von Personen zugelassen haben, bedeutet nicht nur, dass sie sich generell offen hielten für Vorstellungen ihrer Leser in Bezug auf die Charakterisierung von Individuen, sondern auch, dass ihnen der kommunikative Aspekt ihrer Arbeit näher lag als die literarische Qualität bzw. die redaktionell garantierte stilistische Einheitlichkeit. Das Universal-Lexicon war ein Experiment der Verschriftlichung von Sachwissen auf auch dem Gebiet der Biographie; aber gerade in den Personenartikel zeigt sich das Hypothetische der Erfassungsweise: Wie ein Leben lexikonförmig zu machen war, hatte im 18. Jahrhundert noch keine einheitliche Textgestalt, keine universale Form, keine implizite Gliederung. Die Tatsache, dass überhaupt so unglaublich viele Personenartikel aufgenommen wurden, ist – neben der ebenfalls ausgeprägten Präferenz für geographische Artikel – ein starkes Anzeichen dafür, dass prosopographisches gegen disziplinäres Wissen privilegiert wird. Sachwissen wurde auf diese Weise durch das Universal-Lexicon nachdrücklich als empirisch-historisches Wissen definiert, wie das in ungleich kleinerem Umfang auch bei den Zeitungslexika der Fall war. In der Geschichte des gemischten Wissens, das für alle von Interesse sein soll, der Geschichte des allgemeinen Wissens, das eine neue Öffentlichkeit bestimmt, ist das Universal-Lexicon ein massives Ausrufungszeichen: Es wird zur Bühne der Gesellschaft.
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Die deutsche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts findet im Universal-Lexicon ein Archiv, das nicht nur nebenbei, sondern hauptsächlich biographisch konstituiert ist: Es wird darin etwas über die politisch Tonangebenden und zugleich über die kulturell Wichtigen ausgesagt, eine Aristokratie repräsentiert und zugleich eine Republik des Geistes, zu der man sich ohne Immatrikulation selbst zählen kann.298 Die Leser haben das offenbar unterstützt und das Unternehmen durch ihre Subskription bis zum Ende mitgetragen. Nicht zuletzt die über biographische Artikel erlangten Einblicke in die eigene Zeit und Zeitgenossenschaft wird dem Universal-Lexicon dauerhaftes Interesse garantiert haben. Dabei machte es nichts oder war sogar willkommen, dass das Leben im Lexikon ganz unterschiedliche Textformen – vom Protokoll über die Liste bis zur Erzählung und Werbung – haben konnte. Das Universal-Lexicon bleibt im Prozess des Aufbaus dieser neuen enzyklopädischen Wissenskultur befangen und zeigt in seiner uneinheitlichen Redaktionspolitik ungeschützt die Offenheit der Unternehmung, eine Gesellschaft lexikographisch zu konstituieren, ohne deren Heterogenität zu leugnen.
298 Vgl. zum überschreitenden Charakter moderner Enzyklopädien Bertrand/Guyot (2011), bes. S. 35.
4. Die Aneignung der Welt im Universal-Lexicon
Im Artikel über >afrikanische Märkte< spricht das Universal-Lexicon 1751 von den „unmenschlichen Sklavenmärkten“ auf dem schwarzen Kontinent (UL S1: 696). Diese Bemerkung erfüllt bei aller Kürze unsere Erwartung an das geographische und kulturhistorische Wissen des 18. Jahrhunderts: Es wird ein Blick über Europas Grenzen geworfen und mit einem vernünftigen Urteil verbunden. War nicht das 18. Jahrhundert die Epoche weltweiter Reisen und ausführlicher Reiseberichte? Gab es damals nicht eine oft wiederholte und vielfach beschriebene Begegnung zwischen den „Zivilisierten und den Barbaren“? Europa übte sich in Horizonterweiterung und begründeter Beurteilung. Das scheint ein damals sehr nachgefragtes Wissen auszumachen, worin kulturelle und historische Kenntnis ebenso wie anthropologische Forschung enthalten ist, worin Geschichte und Vernunft eine produktive Verbindung eingehen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann man tatsächlich eine auf dem Buch- und Zeitungsmarkt vielfältig verwertete Informationsflut registrieren, die Europa selbst und den „Rest der Welt“ betrifft: eine erste Globalisierung des Wissens. Europäische Reisende haben ausgiebig über alle Ecken der Erde berichtet, das entsprechende Wissen wuchs quantitativ und qualitativ. Verleger und Lesekabinette besorgten die Verbreitung dieses Wissens. Wer damals las, bekam den Begriff einer Welt als eines umfassenden Systems der Kultur, nicht nur der Natur vermittelt. Geographie war ein geläufiger Titel für diese globale Perspektive, und das Interesse daran scheint groß gewesen zu sein, als die ersten Enzyklopädien veröffentlicht wurden, darunter auch Zedlers Universal-Lexicon. Historischgeographische Informationen bilden mit über 72.000 Artikeln einen großen Teil der gesamten Textmenge.299 Das Titelblatt erwähnt die entsprechenden Wissensgebiete gleich anfangs: „Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden 299 Vgl. Carels/Flory (1981). Für die Encyclopédie wird der Anteil der geographischen Artikel auf ca. 20% geschätzt, vgl. Dörflinger (1976), bes. S. 15–18.
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und verbessert worden, Darinnen so wohl die Geographisch-Politische Beschreibung des Erd-Creyses, nach allen Monarchien, Kayserthümern, Königreichen, Fürstenthümern, Republiquen, freyen Herrschafften, Ländern, Städten, See-Häfen, Vestungen, Schlössern, Flecken, Aemtern, Klöstern, Gebürgen, Pässen, Wäldern, Meeren, Seen, Inseln, Flüssen, und Canälen; samt der natürlichen Abhandlung von dem Reich der Natur, nach allen himmlischen, lufftigen, feurigen, wässerigen und irdischen Cörpern, und allen hierinnen befindlichen Gestirnen, Planeten, Thieren, Pflantzen, Metallen, Mineralien, Saltzen und Steinen etc. Als auch eine ausführliche Historisch-Genealogische Nachricht von [...] Schiffahrten, Jagden, Fischereyen, Berg-Wein-Acker-Bau und Viehzucht etc.“ Geographie ist eine Disziplin beinahe ohne Grenzen; sie beschäftigt, so heisst es im entsprechenden Artikel des Universal-Lexicon, Politiker, Historiker und Naturwissenschaftler (UL 10: 919). Geographie kann also in einem umfassenden Sinn das kulturhistorische Wissen bedeuten. Die Tatsache, dass es im UniversalLexicon einen großen Anteil an solchem „geographischen Wissen“ gab – auch wenn einige Artikel des Universal-Lexicon über Kontinente oder Länder eher kurz sind – kann als Anzeige eines Interesses daran gewertet werden: Es konstituiert sich hier jedenfalls eine neue Textsorte. Nur einige Zeitungs- und Handelslexika des 18. Jahrhunderts, die kurz vorher in Mode kamen300, können als Vorläufer für die durch das Universal-Lexicon offenbar umgesetzte Absicht gelten, für ein allgemeines Publikum geographisches Wissen zu bündeln. Das Universal-Lexicon ist ein Buch über Bücher: Neuere Forschungen, Entdeckungen und Neuigkeiten finden darin nur Aufnahme, wenn darüber an anderer Stelle publiziert wurde. Es wird hier keine Wissenschaft vorangetrieben, sondern über den Stand des Wissens berichtet. Die den Leipziger Lexikographen zur Verfügung stehenden Bibliotheken müssen umfangreich gewesen sein, wenn wir von den Artikelschlüssen her urteilen, die oft eine Fülle von Literaturverweisen geben. Es wurde 1738 auch eine vermutlich umfangreiche Handbibliothek nur für das Lexikon gestiftet.301 Zudem waren am Buchmesseort Leipzig viele Druckwerke leicht zugänglich, auch neuere, auch solche aus dem Ausland. Stichproben beleh300 Vgl. etwa Gleditsch (1704), zahlreiche weitere Ausgaben (die 15. Auflage erschien 1735); Gleditsch (1712), 10. Auflage 1755; Savary (1723). 301 Darauf wird in UL 19 im „Vorbericht“ und in UL 21 in der „Vorrede“ Bezug genommen.
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ren darüber, dass nicht überall im Universal-Lexicon die jüngste Literatur benutzt wurde. Da die Verfasser der Lexikoneinträge bis heute unbekannt geblieben sind, lässt sich schwer ermessen, ob gelegentlich einzelne Redakteure nachlässig arbeiteten, ja ob es überhaupt eine konsistente Redaktionsarbeit gegeben hat. Gewiss gab es Verabredungen, wer welche Artikel übernahm: Ob es Verabredungen bezüglich der Art und Weise der Redaktion gegeben hat, in denen Aufbau und Länge der Artikel, Zitierweise und Quellenbehandlung festgelegt wurden, wissen wir nicht. Die Archive sind stumm. Das Universal-Lexicon war Teil einer Welt des Lesens, die jenseits der Welt des Reisens eine immer stärkere Eigenbedeutung erlangte.302 Es gab spätestens im 18. Jahrhundert in Europa zweifellos so etwas wie ein allgemeines Wissensbegehren, das sich auf die entfernten Teile der Welt richtete, und dieses Begehren teilten nicht nur jene, die als Reisende oder Entdecker, Seeleute oder Geschäftsmänner, Missionare oder Soldaten gewissermaßen beruflich in der Fremde unterwegs waren, sondern auch Leser, die nicht selber in die Ferne schweiften, jedoch jene zu beobachten liebten, die es taten. Das Reisen im Lehnstuhl machte viele Verleger reich; eine durchschnittlich ausgestattete Privatbibliothek des 18. Jahrhunderts enthielt vermutlich etwa ein Viertel Reiseberichte.303 Reisebeschreibungen waren nicht nur eine eigene literarische Gattung, sie bildeten auch die Standardquelle für Fachlexika und Enzyklopädien, selbst wenn man um die diesbezüglichen Schwierigkeiten wusste, wie das Universal-Lexicon notiert: „Man weiß gar wohl, dass man denen Reise-Beschreibungen so schlechterdings nicht trauen darf.“ (UL 50: 369, aus dem Artikel >VolckVolck, ein freyes< (UL 50: 378). Was 302 Vgl. Blanke (1997), Bd. 2, S. 1– 20. 303 Es möge hier genügen, auf zwei neuere Überblicksdarstellungen der Reiseliteratur hinzuweisen: Speake (2003); Brown (2000).
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jedoch bedeutet das etwa für die Behandlung der amerikanischen Indianer, von denen selbst keine und über die nur wenige schriftlichen Quellen überliefert waren? Das Universal-Lexicon hatte diesbezüglich große Schwierigkeiten, ein Urteil zu formulieren. Da ist beispielsweise einmal die Angabe vom Autor des Artikels >AmerikaAmerikanische Massaker< (UL S1: 1337). Diese deutliche Kritik an den Europäern findet sich im ersten Supplementband (1751) und sticht ab von der beschönigenden Darstellung des indianischen Amerikas im ersten Band (1732). Innerhalb des Lexikons (und im Abstand von 20 Jahren) sind also Akzentverschiebungen möglich und alternative Ansichten können zu Wort kommen. Das geographische Wissen steht nicht nur deshalb nicht fest, weil die Literaturbasis oft unvollständig ist oder die Redaktionsarbeit unterschiedliche Quellen nutzt, sondern auch, weil der Blickwinkel schwankt: alles eine Frage der Perspektive.304
Länder-Artikel: das Ferne so nah Es herrscht keine geographische Gerechtigkeit im Universal-Lexicon, d. h. keine ausgeglichene Berücksichtigung des Nahen und des Fernen. Zwar kann man sagen, dass fernere Gegenden insgesamt unterrepräsentiert und Artikel über außereuropäische Länder tendenziell summarisch sind und höchstens 20 Spalten umfassen, wie im Fall von China (>SinaIapanFranckreich< (UL 9: 1727–1737), Italien (UL 14: 1425–1429) und die Niederlande (UL 24: 737–741) nur mit allgemeinen Informationen. Um eine ganze Region als Beispiel zu nehmen: Die nordischen Länder sind sämtlich meist kurz erfasst. Der Eintrag zu Grönland hat 4 Spalten (UL 11: 979–983), der zu Island 1,5 (UL 14: 1371–1372). Der Artikel zu Norwegen umfasst 3,5 Spalten (UL 24: 1352–1356), wobei 1 Spalte aus einer Königsliste besteht. Nimmt man 304 Vgl. Landwehr (2007); Paul (1995).
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die in den Länder-Artikeln zu Nordeuropa angegebenen Städtenamen und sucht entsprechende Einträge, so finden sich diese nur zum Teil. Umgekehrt finden sich Städte aufgenommen, die in den entsprechenden Länder-Artikeln nicht erwähnt werden. Ein Kriterium für die Aufnahme bzw. die Nicht-Aufnahme ist nicht zu erkennen. Man kann die Nase in viele virtuelle Weltgegenden des Universal-Lexicon stecken und wird doch nicht schlau aus seiner Geographie. Gibt es überhaupt eine? Was sagt uns der Eintrag unter >Arctica Terra< (UL 2: 1263) mit nur drei Zeilen? Ist der Artikel unter >Antarctica terra< (UL 2: 492) besser, weil er 13 Zeilen umfasst und festhält, dass noch nicht alle Länder dort entdeckt worden sind? Wir wissen heute, mit der Kenntnis vieler durchgearbeiteter und standardisierter Enzyklopädien, wie die Welt im Nachschlagewerk zu schrumpfen ist. Mit Sicherheit gab es diese feste Lupe und abgemessene Weltkenntnis zu Zeiten des Universal-Lexicon noch nicht. Es gab allerdings schon eine gewisse Struktur des geographischen Wissens, wie man beispielsweise an den drei Länder-Artikeln zu asiatischen Reichen in Japan, Indien und China ersehen kann, deren innere Gliederung eine mehr oder weniger planvolle Anlage verrät. Der Artikel >Iapan< (UL 14: 224–234) umfasst knapp 10 Spalten; seine implizite Gliederung betrifft zuerst die Lage des Landes und geographische Angaben (Einteilung des Landes, Königreiche, Städte), solche zur Wirtschaft (Klima, Pflanzen, Tiere, Wasserqualität) und zur Kultur (Esskultur, Häuser, Haartracht, Ehe, Kleidung, Verhalten, Erziehung, Sitten, Sprache und Schrift), woran sich Ausführungen zu Politik und Religion anschließen (Krieg und Waffen, Regierung und Historie, Religion, religiöse Gruppen, Handwerkskunst), bevor am Ende Literaturhinweise bzw. Quellenangaben stehen. Der Eintrag >India< (UL 14: 635–642) umfasst insgesamt ca. 6,5 Spalten. Der Artikel ist nicht durch Zwischenüberschriften gegliedert, der Text folgt aber einer gewissen Reihenfolge: Nach den Worterklärungen von „India“ folgt unmittelbar die Geographie im engeren Sinn (Lage des Landes mit geographischen Angaben, Einteilung Indiens in Teile und Königreiche, Kolonialbesitz) und im weiteren Verständnis als Kunde von den Bodenschätzen (Klima und Jahreszeiten, Nutzpflanzen, Beschreibung des Cacao-Baumes, Schätze und Reichtümer des Landes). Es folgen Angaben zu den Menschen und Sitten (Kleidung, Esskultur und Getränke, Kalender, Bestattungsriten, Gesellschaftsordnung) und Geschichte (Entstehung Indiens: Legenden und Historisches, Religion, darunter auch ein Abschnitt zum Christentum), bevor Literaturhinweise bzw. Quellenangaben den Artikel abschließen.
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Unter dem Stichwort >Sina< (UL 37: 1556–1574) umfasst der Artikel zum chinesischen Kaiserreich 18 Spalten, von denen am Ende 5 Spalten für eine Liste der Regenten verbraucht werden. Hier folgt – ohne Untergliederung – nach der Worterklärung von „Sina“ die Geographie im engeren Sinn (Lage des Landes, Einteilung in Provinzen, Angaben zu Städten, Landschaft, Boden) und im weiteren Sinn (Handel mit Holz, Landwirtschaft, Klima im Norden, Bodenschätze), wobei zwischen Landwirtschaft und Klima auch ein Abschnitt zu den Volksgruppen eingeschoben wird, bevor im Anschluss Menschen und Kultur eigens angesprochen werden (Einwohnerzahl, Gesetze, Häuser, Sitten, Künste und Wissenschaften, Schrift, Sprache, Schulen), um dann zu Politik und Geschichte überzugehen (Regierung, Kaiser, Könige und Königinnen, Bestattungsriten bei Herrschern), bevor zu Religion, Esskultur und Christentum einige nachträgliche Abschnitte eingefügt werden. Der Artikel hat am Schluss ebenfalls Literaturhinweise bzw. Quellenangaben. Man sieht an den inneren Gliederungen (die drucktechnisch nicht durch Absätze oder Überschriften markiert sind, sondern lediglich durch ein größeres Spatium im laufenden Text), dass eine Redaktion stattfand, ohne dass jedoch mehr als eine grobe Reihenfolge der Themen auszumachen ist. Eine Inhaltsanalyse müsste klären, woraus die Redakteure schöpften, denn oft sind die Literaturangaben am Ende Lesehinweise, keine Quellennachweise.305 Bei dem Arrangement der Abschnitte zu Klima, Politik, Sitten etc. fällt die offensichtliche Schwierigkeit auf, Ausführungen über den Volkscharakter unterzubringen. Im Artikel >India< gibt es einen einzigen Satz, der nach den ‚Bodenschätzen‘ und vor der ‚Kleidung‘ das folgende aussagt: „Die Indianer sind mehrentheils schwartzbraun von Gesichte, dabey starck und dicke, aber sehr faul und über alle Masse geil.“ (UL 14: 637). Hart werden auch die Chinesen beurteilt, über die es im Artikel >Sina< – nach einer Passage über ‚Gesetze‘ und vor einer über die ‚Wissenschaften‘ – heißt: „Die Manns-Personen sind höflich polit und arbeitsam, aber auch dabey über alle massen eifersüchtig und geitzig, so, dass sie kein Bedencken tragen, ihre eigene Kinder zu verkauffen, oder zu ersäuffen, wenn sie meynen, deren zuviel zu haben [...]“ (UL 37: 1561). Im Artikel >Iapan< gibt es eine längere Passage in der Mitte, nach ‚Kleidung‘ und ‚Medizin‘ und vor ‚Erziehung‘, die so beginnt: „Die Japaner sind ungemein ehrgeitzig und über den 305 So ist im Artikel über >Rußland< (UL 32: 1907–1974) die Zeitschrift Fama (1702) am Ende nicht angegeben, obwohl wörtliche Passagen aus deren Rußland-Berichterstattung ins Universal-Lexicon übernommen wurden.
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geringsten Schimpf sehr empfindlich, dabey aber höflich u. aufrichtig [...]“ (UL 14: 226). Am Ende heisst es in einer kürzeren Passage, nach dem ‚Handwerk‘ und vor den ‚Bestattungsriten‘: „Sonsten werden die Iapaneser gerühmt, dass sie verständig, vorsichtig, redlich, Liebhaber guter Sitten, artig in ihrem Thun, und beliebt im Umgange sind [...]“ (UL 14: 233) Hier fällt ins Auge, dass nicht einheitlich geregelt ist, ob es „Japaner“ oder „Iapaneser“ heisst, was vielleicht auch mit unterschiedlich herangezogenen Quellen zusammenhängen mag. Deren Redaktion war in diesem Fall offensichtlich nicht besonders gründlich, was bereits die zweimalige Thematisierung des Volkscharakters nahelegt. Dass es diese Thematisierung gab, zeigt die politische und historische Natur des geographischen Wissens, das in der Beschreibung nicht ethnologisch objektiv und moralisch vorsichtig bleibt, sondern geradezu überdeutlich die Suche nach bestimmter Distanzierung bezeugt. Der ausgestreckte Zeigefinger weist im UniversalLexicon gewissermaßen nicht nur in die Ferne, sondern stigmatisiert das Andere. Man holt sich die fremden Kulturen durch den Text selbst heran, wehrt sich aber durch abwertende oder zumindest grob verallgemeinernde Bewertungen gegen die damit suggerierte Nähe. Das Universal-Lexicon kombiniert in seinen geographischen Artikeln Information und Wertung.306 Die globalisierte Weltperspektive ist die einer Öffnung und einer Unterscheidung zugleich. Die redaktionellen Prozesse der Herstellung des Universal-Lexicon sind nicht bekannt, aber vermutlich hat es auch drucktechnische Zwänge gegeben – etwa durch parallele Bearbeitung mehrerer Bögen des gleichen Bandes –, die gelegentlich zur Textauffüllung oder -streichung nötigten, weil der nächste Bogen schon gesetzt war.307 Das hohe Tempo der Herstellung (pro Jahr durchschnittlich 4 Bände bzw. 4.000 Seiten bzw. 1.000 Bögen) stand gewiss einer ruhigen Planung der Gliederung längerer Artikel entgegen. Zugleich gab es wohl eine gemischte Erwartung der Leser, die keine allzu stark strukturierte Neugier war, sondern eine allgemeine Kuriosität, um es mit einem Wort der Zeit zu sagen: „Neugierigkeit, Curiosität, 306 Vgl. auch Winnerling (2009). Im Entstehen begriffene Forschungsarbeiten von Anja Timmermann über den Handel mit Indigo und von Tobias Winnerling über das Asienbild des Universal-Lexicon versprechen nähere Aufschlüsse über den Zusammenhang von Deskription und Präskription im Zusammenhang mit enzyklopädischen LänderArtikel. 307 Im Artikel >England oder Engelland< (UL 8: 1207–1234) finden sich mehrere Unregelmäßigkeiten im Satz, auch Zeilenabstandsänderungen und Schrifttypenwechsel, vgl. die Spaltenwechsel 1209–1210, 1213–1214, 1226–1227, 1230–1231. Auch im Artikel >Jerusalem< gibt es beim Bogenwechsel einen Sprung von 59 Zeilen auf 77 Zeilen pro Spalte (UL 14: 432 f.).
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ist eine Art der Wollust, da man nach neuen und ungewöhnlichen Sachen begierig ist, um sich dadurch zu belustigen, und die Zeit hinzubringen.“ (UL 24: 172, Art. >NeugierigkeitPortugallRusslandSchweden< (UL 36: 9–63). Wenn man die Zwischenüberschriften im Universal-Lexicon beim Artikel >Russland< einerseits mit einem zuvor veröffentlichen Buch von Philipp Johann Strahlenberg über Russland vergleicht309 und andererseits mit dem späteren Artikel aus dem von Carl Günther Ludovici anschließend an die Redaktion des UniversalLexicon herausgegebenen Kaufmannslexikon310, kann man den Anspruch deutlich erkennen: Es geht darum, in knappem Rahmen eine umfassende und sachübergreifende Information für beinahe alle Leserinteressen zu bieten. Der ideale LänderArtikel des Universal-Lexicon ist wie der >RusslandRusslandLappland< (UL 16: 759–823) oder >Schweden< (UL 36: 9–63) eingetreten ist. Das Universal-Lexicon ist ein Buch der Bücher auch in dieser Hinsicht: Es gibt die Weltkenntnis durch Auszüge aus Berichten, die bereits gedruckt vorliegen, und richtet sich in der Ausführlichkeit oft danach. Reisebeschreibungen in das Lexikonformat umzuschreiben bedeutet nicht selten eine gewisse Verfälschung von Tatsachen, wie Ulrike Hönsch im Fall Spaniens gezeigt hat. Gelegentliche Beobachtungen werden zu allgemeinen Annahmen, und wenn etwa die reisende Madame d’Aulnoy ihren Lesern davon berichtet, dass am Abend ihrer Ankunft die Frauen in den Straßen von Madrid eher schüchtern schienen, dann wird diese Schüchternheit für die Leser des Universal-Lexicon zu einem Hauptcharakteristikum der Madrider Frauen ganz allgemein. Am Beispiel des Artikels >Spanien< (UL 38: 1107–1164) hat Hönsch gezeigt, wie solche Einarbeitung funktioniert: Der Bericht wird für verschiedene Rubriken des Lexikons ausgeschlachtet, er wird wie eine anonyme Information behandelt und als Hauptquelle gewissermaßen unsichtbar gemacht, indem seine Beobachtungen ins Allgemeine gehoben werden.312 Wenn so das anekdotisch Erzählte zum Stereotyp verändert wird, findet eine Art Arbeit am nationalen Klischee statt. Reiseberichte bieten etwas, was Lexika brauchen und sonst kaum zu finden ist: Beschreibung verbunden mit Urteil, Ausführlichkeit im Dienste der Abkürzung, Detailfreude im Abstand von der Sache selbst. So werden Artikel durch Redaktion konstruiert und eine neue Textsorte entsteht: nicht zusammengesetzt, nicht neu geschrieben, aber gekürzt und umgeschrieben. Reisebeschreibungen zählen im 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Informationsquellen über fremde Länder und deren Bewohner; sie sind mit Sicherheit auch für das Universal-Lexicon in größerer Zahl ausgewertet oder dort eingearbeitet worden.
Die Zeitung im Lexikon Die Transformation der erzählenden Form in die enzyklopädische Textsorte der aneinandergereihten Hauptsätze, die Unterdrückung des Erzähler-Ichs und das ganze vordergründig Objektive des produzierten geographisch-kulturhistorischen Wissens mag man im Sinne der Völkerverständigung bedauern. Als Arbeit am Text sind diese Transformationen des Wissens konstitutiv für das Universal-Lexicon 312 Hönsch (2000); d’Aulnoy (1690); d’Aulnoy (1692).
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und für andere Enzyklopädien, deren Quellen auf Augenzeugenschaft zurückgehen, vor allem die Zeitung. Die lexikalische Wissensproduktion ist ganz ähnlich den Berichtsmedien des frühen 18. Jahrhunderts der variierten Reproduktion verpflichtet: Man schreibt ab und um, man überträgt und modifiziert, was in vielen Fällen auf nur wenige authentische Quellen zurückzuführen ist. Es gibt eine Multiplikation der Nachrichten vor allem unter dem Druck der Aktualität, der ganz unverbunden neben das Interesse an ausgewogener Berichterstattung und vorsichtiger Beschreibung tritt. So existiert auch im Universal-Lexicon weniger ein Interesse an gleichmäßiger Information über alle Länder, als vielmehr ein historisches Interesse an bestimmten Ländern, die wichtig erschienen, etwa Sibirien (>SiberienZeitung< (UL 61: 899–910) spricht das UniversalLexicon ein Dilemma an, das es eingestandener Maßen mit der Tagespresse teilt: „Was kan es doch dem gemeinen Handwercksmann in seinem Beruff für Vortheil bringen, wenn er einem den gantzen Tag zuhörete, der ihm von den heutigen Zeitungs=Fragen etwas vorsagen oder lesen wollte. Als zum Exempel, ob die Österreichischen Niederlande befugt einen neuen See=Handel in Ost- und West-Indien anzufangen [...]“ (UL 61: 906) Der Autor dieses Artikels hält die Diskrepanz zwischen der Welt der Realpolitik und der Welt der Berichterstattung für so groß, dass er „empfindlichen Schaden“ für das „gemeine Wesen“ befürchtet, wenn man Zeitungsnachrichten ungehemmt verbreitet. Das Universal-Lexicon könnte allerdings aus der Not, nicht wirklich aktuell berichten zu können, eine Tugend machen und seine Informationen gewichten. Eine explizite Reflexion darüber findet sich nicht, aber der Unterschied wird wahrgenommen. Denn anders als Enzyklopädien müssen Zeitungen dauernd berichten und das „Merkwürdige“ sozusagen ununterbrochen produzieren: „Da nun die Zeitungs-Blätter von einem mahl zum andern angefüllet seyn wollen: es mag nun etwas merckwürdiges vorgefallen seyn oder nicht: So müssen die Zeitungs-Schreiber freylich alles zusammen raffen, was ihnen in die Hände kommt.“ (UL 61: 901)
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Verfährt die Enzyklopädie anders? Ein Beispiel ist der am Ende durch Zeitungsberichte verlängerte Artikel über Russland, denn 1742, als dieser Artikel erschien, war die Inthronisation der Kaiserin Elisabeth I., einer Tochter Peters des Großen, gerade ein Jahr vergangen.313 Es gibt über das Ereignis im Universal-Lexicon zwei Versionen, wobei es ausdrücklich dem Publikum überlassen wird, eine Version zu wählen. Die erste Version der Ereignisse bringt einen konstitutionellen Willen ins Spiel, die Verfassung Russlands zu respektieren und in der personellen Besetzung eine alte Tradition wieder zu installieren. Elisabeth ist hier Gegenstand einer Beratung von Mächtigen, deren Beschluss sie annimmt und ausführt. Die zweite Version macht Elisabeth zur Putschistin, die klug und rasch die Macht ergreift. Was hat die Präsentation einer solchen Alternative in einer Enzyklopädie zu suchen? Wir fragen so, weil wir zu wissen glauben, was eine Enzyklopädie leisten soll: Abkürzung, Versachlichung, Entdramatisierung, Entmythologisierung. Das sind aufklärerische Tugenden und Projekte des gesunden Menschenverstands – nur leider auch Projektionen eines Erwartungshorizonts, der historisch enttäuscht werden muss. Denn der Enzyklopädie stand öfter die Zeitung näher, als man denkt, und damit auch die Kolportage.
Städte-Artikel Man stelle sich im 18. Jahrhundert einen enzyklopädischen Lesewettbewerb vor, bei dem jeder Leser ein Lexikon in der Hand hält und man gegenseitig die Anzahl der Einträge und ihre Länge vergleicht. Was kommt dabei heraus? Nehmen wir den ersten Band des Universal-Lexicon in die Hand, 1732 erschienen, und das ein Jahr zuvor überarbeitet aufgelegte historische Wörterbuch, den Dictionnaire Historique, von Louis Moréri, und lassen wir zwei Leser eine gewisse Strecke lesen, etwa die von Af bis Al, genauer vom Kontinent >Africa< bis zu >Alaire, Städtlein in Frankreich< (UL 1: 728–901).314 Weil das deutsche Lexikon weit mehr als nur geographische und historische Artikel enthält, muss der deutsche Leser dafür 86 Seiten im Folioformat umblättern, bzw. 173 Spalten, der französische nur 25 Seiten oder 50 Spalten. Fast 270 geographische Einträge gibt es im gewählten Ausschnitt des Universal-Lexicon: neben Flüssen, Bergen etc. vor allem Ortschaften. Es überwiegen Einträge mit höchstens fünf Zeilen. Wesentlich weniger Artikel umfassen 313 Vgl. Schneider (2004d), S. 85–89. 314 Moréri (1674), Ausgabe 1731, Bd. 1, S. 116–166.
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zwischen elf und dreißig Zeilen. Nur zwölf Artikel sind länger als eine halbe Seite. Eine Kontrollstrecke könnten die beiden Leser vom Fluss >Albi< bis zum Fluss >Aldescus< gehen und dabei immerhin 43 Seiten oder 85 Spalten auf Deutsch zurücklegen (UL 1: 1015–1100), 19 Seiten oder 38 Spalten auf Französisch.315 Das Ergebnis ist ähnlich: 88 von 123 Artikel sind 5 Zeilen lang oder kürzer, nur 3 füllen wenigstens eine halbe Spalte. Im Vergleich zum Dictionnaire Historique findet man auf den angeführten Seiten im Universal-Lexicon der Zahl nach mehr geographische Einträge, auch wenn Moréri manche zusätzlichen Städte und Burgen hat. Das scheint weniger mit geographischen Präferenzen zusammenzuhängen als vielmehr damit, dass beim Dictionnaire Historique mehr Personeneinträge und ganze Familien aufgeführt sind, deren Besitztümer an oder in Orten (beisp. als „bourg“) ebenfalls aufgeführt werden. Die Länge der Einträge im Dictionnaire Historique schwankt bei Ortschaften im Durchschnitt zwischen 3 und 20 Zeilen.316 Wenn man durch weitere Stichproben die geographische Verteilung der Ortschaften feststellen lassen wollte, müsste man sehr viele Leser-Olympiaden durchführen, um verlässliche Näherungswerte zu erhalten. Nicht nur geht die Zahl der Städte in die Tausende, die Schreibweisen variieren stark: Toledo heißt auch >Tolet< und Hermosello steht unter >Fermosello< – das sind nur europäische Beispiele. Die Zahl der im Universal-Lexicon enthaltenen außereuropäischen Ortschaften ist vermutlich klein, die entsprechenden Artikel sind vermutlich kurz. Schon ein Blick auf die wenigen leicht auffindbaren indische Städte von >Acadera< bis >Ora< zeigt, dass deren Zahl, selbst vereint mit den japanischen Orten von >Ava< bis Yunnan< und den persischen von >Araba< bis >YezdAbdera< bis >UticaLeipzig< hat mit 155 Spalten (UL 16: 1652–1807) einen sehr langen Stadteintrag, allerdings nicht den längsten, der auf 269 Spalten über >Wien< handelt (UL 56: 32–299). Merkwürdigerweise ist die Kleinstadt >Wurzen< (UL 60: 259–487) bei Leipzig mit 226 Spalten weit umfangreicher behandelt als die sächsische Handelsstadt selbst. Aber diese Riesenartikel scheinen die Ausnahme zu sein. >Paris< (UL 26: 874–931) wird mit 57 Spalten relativ ausführlich bedacht, >Amsterdam< (UL 1: 1810–1812) hat jedoch nur 3 Spalten. Eine Provinzstadt im unmittelbaren Einzugsgebiet des Universal-Lexicon wie >Waldheim< hat mit 2 Spalten (UL 25: 1364–1365) fast ebenso viel Text wie Hauptstädte entfernter Reiche, etwa >Peking< mit 3 Spalten (UL 27: 145–147) oder Delhi mit nur einer (UL 7: 459). Die eingebaute Perspektive des geographischen oder kulturellen Wissens gehorcht der Neugier des Lesers, die vom Näherliegenden ausgeht. Nach ersten Schätzungen sind mindestens 40.000 Artikel über Städte und Kleinstädte in das Universal-Lexicon aufgenommen (unterschiedlich benannt: Stadt, Städtlein, Städgen, Flecken, Dorf, Dorff), davon nicht viele außerhalb Deutschlands, wenige außerhalb Europas: 86 in Spanien, 29 in England, 13 in Schweden, 10 in Polen, 10 in Russland; 41 in Persien, 28 in Indien, 20 in Amerika, 14 in China, 5 in Japan.317 Sächsische Kleinstädte im frühen 18. Jahrhundert lassen sich heute mit Hilfe neuerer Forschungsliteratur auffinden318: so gab es damals knapp 100 Ortschaften, die zwischen 202 und 22.000 Einwohner aufwiesen. Der Blick zurück ins 18. Jahrhundert zeigt: Alle sind im Universal-Lexicon enthalten. Die Leipziger Redaktion hat also die Leserschaft in der unmittelbaren Nähe gut bedient, was man auch an der Behandlung der Quellen sieht. Bei den größeren Artikeln (etwa über Leipzig, Dresden, Wurzen oder Grimma) sind immer Literaturangaben vorhanden, aber auch die kleineren Artikel mit wenigen Zeilen sind nachweisbar aus vorliegenden Schriften extrapoliert. Manche Quellen des Universal-Lexicon sind extensiv ausgeschöpft, so etwa ein 1692 erschienenes Werk von Johann Conrad Knauth319, andere werden grundsätzlich nur modifiziert übernommen, die meisten werden erweitert. Das Universal-Lexicon hat häufig längere Einträge zu den sächsischen Städten als die (intensiv mitbenutzten) geläufigen geographischen Werke der Zeit wie „der Zeiller“ oder „der Goldschadt“, was auf die aktive Mitgestaltung 317 Diese Zahlen sind Ergebnisse einer Stichprobe und erlauben keine genaue Angabe nur der Ortschaften, weil auch Völker und Landschaften in derselben Rubrik erfasst wurden. 318 Vgl. Keller (2001). 319 Knauth (1692).
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der Redaktion hinweist.320 Im Falle der Stadt Leipzig ist der lange Artikel vermutlich ein Konglomerat mehrerer Vorlagen, aber hier kann natürlich auch von der in Leipzig ansässigen Redaktion manche zusätzliche Information eingearbeitet worden sein. Der extrem lange Artikel zu Wurzen (das mit ca. 2.000 Einwohnern entschieden kleiner war als die benachbarte Handelsstadt Leipzig mit knapp 22.000) verdankt sich vermutlich einem dort lebenden und vielleicht professionell geschulten Historiker. Es könnte sich um den aus Wurzen stammenden Historiker Christian Schöttgen handeln, der 1717 eine Geschichte der Stadt publiziert hatte.321 Aus dieser Stadtgeschichte von gut 1.000 Seiten im kleinen Duodezformat ist im Artikel des Universal-Lexicon (von 236 Spalten im Folioformat, was bei Umrechnung der Textmenge nur einen geringfügig geringeren Umfang bedeutet) vieles, wenn nicht alles übernommen worden. Die Gliederung ist sehr ähnlich, manchmal gleich, wie beispielsweise der Abschnitt über die Religion der Wurzener zeigt (UL 60: 273 ff.; bei Schöttgen S. 82 ff.), wo sich dem vergleichenden Blick auch lange Passagen identischen Texts bieten. Der Abschnitt aus der Stadtgeschichte über Johann von Schleinitz ist ebenfalls fast völlig identisch (UL 60: 268 f.; bei Schöttgen S. 66). Manche Übernahmen fallen direkt ins Auge, wie beispielsweise ein gezeichnetes Zeichen der ottonischen Herrschaft („Signum Domini Ottonis gloriosissime Regis“, UL 60: 263; bei Schöttgen S. 45), das auch vom gleichen Text umgeben ist. Der dazu gehörende Urkundentext wird bei Schöttgen auf Deutsch und im Anhang auf Latein gegeben. Das Universal-Lexicon bringt ihn nur auf Latein. Allerdings aktualisiert das Universal-Lexicon historische Informationen, wie beispielsweise die Liste der Domherren, die bis 1749 weitergeführt wird (UL 60: 331); bei Schöttgen endet sie (auf S. 204) mit dem Jahr 1704. Bei der Domherrenliste findet sich übrigens ein Vermerk des Schreibers, der darauf hinweist, dass der Text des Universal-Lexicon am 5. Februar 1749 niedergeschrieben sei, was die Vermutung verstärken könnte, hier handele es sich um einen importierten Text beispielsweise eines Stadtschreibers. Es könnte sich natürlich auch um eine aktualisierte Version von Schöttgen selber handeln, der damals Rektor des Dresdner Kreuzgymnasiums war. Der Artikelschreiber jedenfalls nutzt Schöttgens Buch von 1717 und weist das gelegentlich aus (UL 60: 379), zeigt aber auch neuere Literatur an.322 Der unbekannte Autor spricht an einer Stelle von „un320 Zeiller (1696); Goldschadt (1735). 321 Schöttgen (1717). 322 Ranft (1742).
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serer Stadt Wurzen“ (UL 60: 265) – vielleicht ein weiteres Zeichen dafür, dass ein Vertreter der Stadt selbst den Text beisteuerte. So lässt es sich nicht entscheiden, ob der Autor des Artikels >Wurzen< im Universal-Lexicon ein findiger Leipziger Redakteur war, der die in diesem Falle sehr gute Quellenlage ausgenutzt hat und viel Text abschreiben ließ, oder ob tatsächlich ein Historiker außerhalb der Redaktion auf das Angebot des Herausgebers Ludovici reagierte, Einsendungen zur Stadtgeschichte zu zu machen. Dieses Angebot erstreckte sich im Übrigen auch auf Artikel zu Bildungseinrichtungen wie Akademien und auf biographische Einträge. Was die Adressierung der Stadtoberen betrifft, so ist die Passage einschlägig, die Herausgeber Carl Günther Ludovici in seine „Vorrede“ zu Band 23 des Universal-Lexicon aufgenommen hat: „Sollten übrigens auch die weisen Väter dieser oder jener Stadt oder auch die Glieder dieses oder jenes angesehenen Collegii oder Societät das Andencken selbiger Stadt, Collegii oder Societät durch Einschickungen ausführlicher und richtiger Nachrichten von dem Ursprunge, Erbauung, Stifftung, Beschaffenheit, Einrichtung etc. mehr und mehr illustre machen wollen; so werde ich nicht entstehen, solchem diesem Wercke selbst vorteilhafften Verlangen ein vollkommenes Gnüge zu leisten und solchen gütigen Beytrag jedesmahl in der Vorrede öffentlich zu rühmen, daferne nicht um die Unterlassung solcher an sich unschuldigen Erkänntlichkeit ausdrücklich Ansuchung geschehen.“ (UL 23: [3]) Für jeden zeitgenössischen Leser war die Welt des Universal-Lexicon zum einen die aus Büchern und anderen Drucken reproduzierte Welt des allgemeinen Wissens einer umfassenden Bibliothek der Länder und Orte. Wie der zitierte Aufruf anzeigt, war die Welt des Universal-Lexicon aber zugleich die Welt der Leipziger Lexikographen im Gespräch mit den Lesern der Umgebung. Es gibt auf Seiten der Macher wie der Leser ein klares Bewusstsein des Hier und Jetzt und einen Willen, diese Beziehung zugunsten der Enzyklopädie zu nutzen. Die in den Artikeln versteckten Hinweise auf die Leserbindung des enzyklopädischen Schreibens sollten als Aufruf verstanden werden, das Universal-Lexicon von seinem Inhalt her zu analysieren, um die Schreibart der geographischen Artikel zu erkunden. Dabei geht es nicht um die Kontrolle des Sachwissens an objektiven Kriterien, sondern um die Interpretation der überall in den geographischen Artikeln – nicht anders als bei den biographischen – sichtbaren Perspektiven. Nun könnte man den Vergleich versuchen und neben das Universal-Lexicon die zeitgenössischen Handels- und Kaufmannslexika stellen. Ein Hinderungsgrund für
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den Erfolg dieser Untersuchung wird allerdings deren starke Funktionalisierung sein. Handels- und Kaufmannslexika kennen ihre Leser weit genauer und können deren Fragen besser antizipieren als eine allgemeine Enzyklopädie. Herausgeber Ludovici ist ein interessanter Fall in dieser Hinsicht, denn er hat sich offensichtlich durch seine 16-jährige Arbeit am Universal-Lexicon vom Philosophen zum Lexikographen gewandelt. In seiner anschließend herausgegebenen Akademie der Kaufleute (1767–1768) sind beispielsweise die historischen und geographischen Angaben etwa zu Amsterdam wesentlich kürzer als im Universal-Lexicon, während umgekehrt Angaben zur „Wechsel-Wirtschaft“ oder zu „Märkten“ bei allen Städten detailreich ausgeführt sind. Wenn ein Redakteur wie Ludovici von der Arbeit an einer allgemeinen Enzyklopädie zu einer Fachenzyklopädie wechselt und dabei geographische Informationen so gänzlich neu sortiert, was sagt uns das über das Interesse, welches Leser des Universal-Lexicon haben konnten? Gibt es überhaupt so etwas wie ein allgemeines Interesse an umfassender geographischer und kulturhistorischer Information über Kontinente, Länder und Städte, für das die entsprechenden Einträge des Universal-Lexicon eine befriedigende Auskunft darstellten? Darüber lässt sich nur spekulieren, auch weil wir die Liste der Subskribenten nicht besitzen und damit über den tatsächlichen Bezieherkreis keine Angaben haben. Auch ist das Universal-Lexicon in seinem Umfang so entscheidend viel größer als alle anderen vorherigen Lexika, dass man sich fragen muss, ob damit nicht von einem neuen Typ des Lesers ausgegangen werden muss, der mit diesem Werk zum ersten Male auftaucht und der geographische Informationen inmitten von wissenschaftlichen, juristischen, medizinischen und vor allem inmitten von biographischen Informationen sucht. Ist das Universal-Lexicon eine neue Form des Reisens im Lehnstuhl? Das Folioformat der Bände legt jedenfalls nahe, dass man die Enzyklopädie keineswegs auf eine Reise mitnahm.
5. „Russland“ in der enzyklopädischen Umschreibung
Der Artikel >Russland< (UL 32: 1907–1974) im Universal-Lexicon ist ein Länderartikel unter vielen, und zugleich ein gutes Beispiel für die Umwandlung von Wissen, das in Reiseberichten, Zeitungen und Zeitschriften verfügbar war, in eine enzyklopädische Gestalt. Der Textform nach ist der Artikel eine komplexe Redaktion, die auf sehr viele Quellen zurückgreift und dabei keine exklusiv ausschreibt. Der Artikel >Russland< repräsentiert damit das enzyklopädische Schreiben in weitgehend selbständiger Gestalt. Inhaltlich bedient er die bürgerliche Lesekultur des 18. Jahrhunderts, die an Russland ein gesteigertes Interesse haben konnte, weil mit der Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften durch Peter den Großen (1724) die Westorientierung des russischen Reichs auf wissenschaftlichem Gebiet eingeleitet war. Der Artikel >Russland< im Universal-Lexicon ist ein Teil der ersten Allgemein-Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, in der geographische Artikel zu eigenständigen Texten ausgebaut wurden. Sie geben politische und kulturhistorische Informationen über Länder und Völker und stellen es neben das Sachwissen über verschiedene Disziplinen und Handwerke und neben personenbezogene Einträge. Zuvor gab es bereits in Louis Moréris Grand Dictionnaire Historique Länderartikel, eingebettet allerdings unter verwandte Artikel geographischer und biographischer Natur.323 Auch ökonomische Enzyklopädien wie der Dictionnaire Universel de Commerce (1723) von Jacques Savary des Bruslons band länderspezifische Informationen in ein gleichförmiges Umfeld pragmatischer Kenntnis anderer Länder und Sitten ein.324 Erst im Universal-Lexicon wird historisches und länderkundliches Wissen mit einer Fülle andersartiger Kenntnisse gemischt präsentiert, wie das für Allgemein-Enzyklopädien bis ins 19. Jahrhundert hinein typisch werden wird. Die folgenden Überlegungen schließen an das an, was Eckhard Matthes 1981 in einer Studie über die russlandspezifischen Informationen im Universal-Lexicon 323 Moréri (1674). 324 Savary (1723).
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und dessen Quellen ausgeführt hat.325 Matthes bereits hat die Bedeutung der Redaktion unterstrichen. Lexika wie das Universal-Lexicon sind originell nicht im Inhalt, sondern in der Kompilation. Sie sind abhängig von Quellen und unterscheiden sich in deren Aufbereitung. Der historische Umstand, dass wir (mit geringen Ausnahmen) bis heute nicht wissen, wer die Artikel für das UniversalLexicon verfasst hat, verdankt sich auch dem Plan Zedlers, dieses Lexikon anonym und kollektiv herzustellen – das erste solche Großprojekt der Geschichte. In der Anonymisierung des Wissens ist zugunsten unparteiischer Berichterstattung die redaktionelle Entperspektivierung verschiedenartiger Quellenberichte angelegt, aber auch die Gefahr unbemerkter Entlehnung gegeben, also die nachlässige Montage vorliegender Textbausteine. Man kann am >RusslandRusslandEngland< (UL 8: 1207–1234). Das neue Schema lässt sich zuerst bei >Polen< (UL 28: 1104–1152) finden, und auch der alphabetisch spätere Artikel >Russland< hat 25 Zwischenüberschriften, ergänzt um ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
325 Matthes (1981). 326 Quedenbaum (1977), S. 62, S. 193 ff. 327 Vgl. Schneider (2004b).
„Russland“ in der enzyklopädischen Umschreibung
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Russland-Darstellungen im Vergleich Die Gliederung des >RusslandRussland< selbst Textpartien über „rußische Religion“ und „rußische Tartarey“ integriert (erstere sogar mit Zwischenüberschrift), während das einschlägige Sachwissen zu >Rußisches Recht< (UL 32: 1902–1906) und >Rußische Sprache< (UL 32: 1906–1907) eigene Artikel konstituiert. Die zahlreichen Verweisungen in dem früheren Band 21 (1739) unter „moscowitisch“ verraten zudem, dass man wohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht den drei Jahre später in Band 32 (1742) eingerückten Zentralartikel >Russland< geplant hatte, denn eine große Zahl von Verweisungen wie >Moscowitische Religion (siehe Rußische Religion)< weisen auf die spätere Stelle, werden erst dort aber an den zentralen Länderartikel weiterverwiesen: >Rußische Religion (siehe Rußland)RusslandMoscau< (21: 1816– 1819) völlig ohne Quellenangabe bleibt. Im Gegensatz dazu ist der Artikel über >Rußisches Recht< (32: 1902–1906) als reine Literaturdiskussion angelegt und versammelt die einschlägigen Texte nicht erst am Ende, sondern führt sie mitten im Text des Artikels an. Am Ende des >RusslandRusslandRusslandRusslandRußlandSt. Petersburg< (UL 27: 1039–1043) zu finden, wo ebenfalls Weber als einzige Quelle ausgeschrieben wurde, allerdings in synthetisierter Fassung. Was bei Weber auf mehreren Seiten steht, bringt das Universal-Lexicon in wenigen Zeilen, die offensichtlich exzerpiert sind.337 Die entsprechend verknappte Information führt beispielsweise zu dieser Passage: „Der Strohm [d.i. Neva] läuft überaus schnell: Die Breite des Strohms bey der Stadt ist abgewechselt von 7, 8, 9, 12 bis 1600 Schritten, und weil er zwischen den Inseln eine große Tiefe hat, so ist nicht wohl möglich eine Brücke zu bauen, ohngeachtet ein Künstler hierzu einen Vorschlag gethan, welchen aber der Czaar, als dem die Unmöglichkeit des Vorhabens bekannt, scherzweise bis zur andern Zeit vertröstet hat. Die Gegend ist wegen des vielen Wassers, Morastes, großen Brüche und Wildnissen kaltgründig und unfruchtbar, dannenhero Winters- und Sommers-Zeit durch, die Zufuhr an Lebensmitteln von vielen 100 Meilen geschehen muss, und die Victualien ungemein theuer sind. Von Baumfrüchten ist in dem ganzen Lande nicht das geringste; hingegen findet man eine Sorte von Erdschwämmen, so vor die delicateste Speise gehalten wird, aber sehr unverdaulich sind.“ (UL 27: 1041 f.) 336 Vgl. Weber (1721), Teil I, S. 22. 337 Vgl. ebd., Teil I, S. 468–472.
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Die Informationen über den Fluss, den Brückenbau, die Fruchtbarkeit der Gegend, den Handel und die Nahrung finden sich hier etwas sprunghaft verbunden, wobei der Wechsel des Themas stilistisch geglättet wird. Das Interesse an Straffung und rein sachlicher Information hat Matthes betont, der über die Russland-Darstellung im Universal-Lexicon abschließend urteilt: „Ein Vergleich mit den Vorlagen, auf denen die Darstellung im Lexikon beruhte, zeigt eine signifikante Veränderung in der Stoffverarbeitung und Aufbereitung für das Lesepublikum. Diese Veränderung gehört zu den hervorstechendsten Merkmalen der Wiedergabe Russlands im Universal-Lexikon Zedlers. Sie zielte auf eine Versachlichung der Russlanddarstellung, indem sich der vermittelte Stoff mehr an pragmatischer Faktenvermittlung als an der Reproduktion von Meinungselementen orientierte.“338 Es gibt aber noch andere Charakteristika der Wissenspräsentation in einer allgemeinen Enzyklopädie wie dem Universal-Lexicon, das durchaus noch keinen rein sachlichen Wissensbegriff artikuliert. Kaum nämlich wird man sagen können, dass die Tendenz des enzyklopädischen Schreibens ausschließlich dahin ging, Informationen zu konzentrieren und sie gewissermaßen kurz und griffig zu machen. Passagen wie die über die russischen Bäder bilden nämlich gerade in ihrer relativen Ausführlichkeit eine Ausnahme von der Regel sachlicher Knappheit und antworten eher dem Bedürfnis der Leser, in Sitten und Gebräuche plastisch eingeführt zu werden. Das geht gelegentlich so weit, dass man die aus direkter Beobachtung gewonnene Information durch Verschweigen der Quelle zu einer scheinbar objektiven Information werden lässt. Andererseits wird man den Leipziger Lexikographen auch nicht unterstellen dürfen, dass sie beliebige Informationen in ihr gigantisches Projekt häuften, gewissermaßen um Zeilen zu schinden. Denn viele Beispiele machen deutlich, dass neben der Zusammenfassung und vorsichtigen Abkürzung erzählerischer Quellentexte auch deren wörtliche Wiedergabe ein hauptsächliches Ziel bei der Erstellung der neuen Textsorte „geographische Artikel“ sein konnte. Dass es ein Schwanken gibt zwischen verknappten und erzählten Informationen, belegt beispielsweise der Eintrag über Peter II., über den an zwei verschiedenen Stellen geschrieben wird. Im Personenartikel unter >Peter< gibt es einen zusammenfassenden, historisch kurz protokollierenden Abriss des Lebens und der Geschäfte dieses Enkels von Peter dem Großen. Peter II. starb 1730 mit 15 Jahren, war aber in den Jahren zuvor schon in der großen Politik tätig, wie die folgende Passage für das Jahr 1727 zeigt: 338 Matthes (1981), S. 382.
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„Russland“ in der enzyklopädischen Umschreibung
„Im Junio gedachten Jahrs verlobte er sich mit Marien, einer Tochter des Fürsten Alexander Menczikofs, es kam aber diese Vermählung nicht zum Stande, indem dieser Fürst wenig Monate darauf in Ungnade verfiel, und nach Sibirien verwiesen ward. Im Jahr 1728 ließ er sich im Monat Mertz zu Moscau krönen, und bald darauf öffentlich kund thun, dass er nunmehro als ein souverainer Herr, die Regierung selbst führen wolte.“ (UL 27: 919 f.) Man vergleiche diese knappen Angaben mit der erzählenden Passage, die sich im Artikel >Russland< befindet und das gleiche Ereignis betrifft: „Den folgenden Morgen besuchte die Prinzeßin den Kayser nach ihrer Gewohnheit, um mit ihm den Coffe zu trincken. Bey dem Weggehen fragte er sie, ob das Geschencke, welches er ihr gestern zugesandt, ihr vielleicht nicht gefallen, weil sie ihm nicht einmahl deswegen danckte. Die Prinzeßin war hierüber bestürztet, und versicherte, dass sie nichts gesehen oder empfangen. Der Kayser ereiferte, und fragte den herzugeruffenen Cavalier im Zorn, was er mit denen ihm gestern anvertrauten Ducaten gemacht hätte. Dieser erzählte den wahren Verlauff der Sache, worauf der Kayser mit dem Fusse auf die Erde stieß, und befahl, den Menzikof kommen zu lassen. Als er kam, fand er den Kayser in einem hefftigen Eifer, und die Prinzeßin in Thränen. Auf die Frage nun, warum er den Cavalier verhindert, den ihm gegebenen Befehl zu vollstrecken, gab er zur Antwort: Er hätte Ihro Majestät schon öffters vorgestellet, dass sich ein grosser Geld-Mangel hervor thäte, und die Geld-Kammer erschöpffet wäre. Er hätte bey Abnehmung der Ducaten sich vorgesetzet, heute Ihro Majestät einen Vorschlag zu thun, wie solche Summe nützlich verwandt werden könnte. Er fügte hinzu, daß, wenn es dennoch Deroselben beliebete, davon zu disponiren, er nicht allein dieses Geld, sondern auch, wenn Sie es verlangeten, noch eine Million Rubel darüber Der Kayser fiel ihm hier in die Rede, und sagte: Gehe zum bin ich nicht Kayser, und kan ich nicht ohne deine Erlaubniß mit meinem Gelde thun, was ich will? Mit diesen Worten ließ er ihn stehen, und verfügete sich nach seinem eigenen Sommer-Pallast, woselbst er den Rath zusammen beruffen, und nach dessen Endigung dem Fürsten durch den General-Lieutenant Soltikof wissen ließ, dass er seiner Ehre und Würden, seines Ritter Ordens, und seiner Freyheit verlustig erkannt wäre. Zugleich wurde befohlen, hinführo keinen andern Verordnungen, als die von dem Kayser unterschrieben wären, Folge zu leisten.“ (UL 32: 1947) ✱✱✱
✱✱✱
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Die Erzählung bricht sich überall Bahn und der historische Bericht wird gerne zugunsten einer lebendigen Darstellung verlassen. Es gibt ganze Artikel, die aus Reisebeschreibungen zusammengesetzt sind, wie etwa Lappland (UL 16: 759–823) oder Spanien (UL 38: 1107–1164). Andere Artikel dagegen – selbst solche über Nachbarländer wie Frankreich (UL 9: 1727–1737) oder Italien (UL 14: 1425–1430) – sind, wohl eben weil keine Reiseberichte verarbeitet wurden, viel kürzer und trockener gehalten. Die Frage, ob es hier eine Politik der Herausgeber gegeben hat, muss man wohl verneinen, wenn man sich die heterogenen Ergebnisse der Repräsentation geographischen und kulturhistorischen Wissens im UniversalLexicon ansieht. Man wird es als eine ungelöste Spannung bezeichnen müssen, welche dazu führt, dass in einigen Fällen die Literatur der Zeit extrem ausführlich und in anderen nur ganz knapp berücksichtigt wurde.
Aktualität Das Interesse an Aktualität wurde sowohl vom Verleger Zedler wie vom Herausgeber Ludovici unterstrichen. Nachdem sie 1739 und 1740 gemeinsam ihre Leserschaft aufgefordert hatten, Artikel über Personen, Adelsgeschlechter und eventuell sogar Stammbäume einzuschicken, die (im Falle der Stammbäume nur bei Bezahlung) auch bereitwillig abgedruckt würden (UL 19: [4], UL 23: [3–4]), erfolgte kurz danach ein ähnlicher Aufruf an Städte, Kollegien und Akademien, die ebenfalls dazu eingeladen wurden, sich an der inhaltlichen Gestaltung des Lexikons zu beteiligen (UL 23: [3–4]). Es ist aufgrund des fehlenden Archivs unklar, ob diesen Aufrufen in größerem Umfang Folge geleistet wurde. Deutlich aber ist der Wunsch, mit dem Lesepublikum zu kommunizieren. Man holt sich die Texte dort ab, wo sie nach dem Druck konsumiert werden: Ein enger Kreislauf von Informationen über das historisch und geographisch Naheliegende ist gewissermaßen der Motor der lexikographischen Produktion, die nicht mehr oder nicht nur dem Gebot der Gelehrsamkeit gehorcht, Wissen mit unparteiischer literarhistorischer Aufmerksamkeit zu fördern. Die direkte Ansprache des Publikums geschieht aber nicht nur in Vorreden, sondern gelegentlich auch in den Artikeln selber. So ist im >RusslandRusslandRussland< gibt für dieses Dilemma selbst ein gutes Beispiel, denn er verweist genau dann auf den Artikel >Schweden< (UL 36: 9–62), um dort all das hinzuverweisen, was es über den damals laufenden russischschwedischen Krieg (1741–1743) zu berichten gäbe. Der Artikel >Schweden< 339 Gleditsch (1704); Gleditsch (1712).
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erfüllt dann zwar diese Erwartung (UL 36: 43–57), aber es ist dies deutlich der zufälligen Gunst der Stunde zu verdanken, dass dem in Abarbeitung befindlichen Alphabet ein solcher Aktualitätsbezug möglich war.
Die kurze Dauer des enzyklopädischen Textes Man wird das Universal-Lexicon aus inhaltlichen Gründen und wegen der spezifischen Herstellung in vielerlei Hinsicht als ein Zwischenprodukt qualifizieren müssen. Das allgemeine Wissen wurde aus den verfügbaren Quellen abgefragt und in die enzyklopädische Form gegossen, ohne dass man eine durchgängig ausgleichende oder planende Hand der Redaktion spüren kann. Immerhin aber sind im UniversalLexicon zum ersten Mal geographische und kulturhistorische Informationen parallel neben die Sachartikel zu bestimmten Gegenständen oder bestimmten Wissenschaften gerückt. Man kann in Bezug auf den Russland-Artikel diesen Charakter des Zwischenprodukts deutlich daran erkennen, dass die Informationen über Russland, wie sie im Zedler aufbereitet wurden, in der weiteren Beschäftigung des 18. Jahrhunderts mit Russland keine Rolle spielten. Das Universal-Lexicon war informationsmäßig gesehen eine Sackgasse, eine Endstation: Hier wurden Daten für das allgemeine Publikum aufbereitet, die so nicht weiter verwendet werden konnten und sollten. Wenn Christoph Meiners 1798 über Russland handelt, gibt er in der Einleitung die Literatur an, welche er zusammenfasst. Darunter findet sich für die Zeit seit 1740 die große Zahl von 35 Reiseberichten und 30 anderen „historischen, geographischen und statistischen Werken über Russland“.340 Meiners führt das UniversalLexicon nicht an. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die dort 1742 zusammengefassten Informationsquellen, wie etwa Reiseberichte, danach nicht versiegten und es also immer neue Informationen gab, die das enzyklopädische Schreiben über Russland in eine lexikonartige Form hätte bringen müssen. Die einmal fixierte Form im Artikel >Russland< war für den Forscher obsolet. Die von Meiners am Ende des 18. Jahrhunderts herangezogenen Texte sind im Übrigen Texte von individuellen Autoren, keine kollektiven Werke, wie sie das Universal-Lexicon darstellt. Auch das ist bezeichnend für den historischen Forscher, dass er sein Primärmaterial außerhalb der enzyklopädischen Welt sucht. Es ist gerade die für Enzyklopädien typische Anonymität des Sachwissens, die der Rezeption des 340 Meiners (1798), Bd. 1, S. 34–42, bes. S. 38.
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Universal-Lexicon nicht förderlich war, jedenfalls nicht als Interpretationsbeitrag. Die Encyclopédie von Diderot und D’Alembert, in welcher die meisten Artikel mit Namenskürzel gekennzeichnet sind, war in dieser methodischen Hinsicht traditioneller und dadurch leichter rezipierbar. So konnte der in Frankreich publizierte Artikel des Chevalier de Jaucourt über >RussieRussland< sich in der endgültigen Form etabliert hat.
6. Das Sachwissen im Universal-Lexicon
Das Universal-Lexicon, das ab 1732 von Johann Heinrich Zedler herausgegeben wurde und zum größten Lexikon des 18. Jahrhunderts anwuchs, ist eine Enzyklopädie ohne Programm. Das macht moderne Leser ratlos im Hinblick auf die verfolgten Ziele. Man sucht ergebnislos eine aufklärerische Botschaft wie bei der französischen Encyclopédie, ein Bekenntnis zum Wie und Warum, das im bürgerlichen 18. Jahrhundert ein Datum darstellte. Das Universal-Lexicon wirkt ohne philosophische Überhöhung schwach und scheint verteidigt werden zu müssen, wie ein Zedler-Forscher 1969 formulierte: „Das Universallexikon blieb allein ein alphabetisches Nachschlagewerk. Aber auch so wurde es dem Anspruch, der Wissenschaft zu dienen, gerecht.“344 Welcher Wissenschaft hat das Universal-Lexicon gedient? Und vor allem: wie eigentlich? Das sind bis heute offene Fragen. Der ab 1738 beschäftigte neue Herausgeber Carl Günther Ludovici hätte die Frage nach dem Programm des Universal-Lexicon beantworten können. Ludovici wurde in dem „Nöthigen Vorbericht“ des Verlegers Zedler zu Band 19 wie folgt vorgestellt: „Wer dessen so beliebte und mehr als einmahl wieder aufgelegte Schrifften gelesen hat, der ist aus selbigen von dieses geschickten und beynahe in allen Wissenschafften und Künsten bewanderten Mannes Fähigkeit der gelehrten Welt etwas grosses und ansehnliches vor Augen zu stellen, vollkommen überzeuget.“ (UL 19: [2]) Ludovicis Buchproduktion war bis dato ganz auf die Philosophie und vor allem auf die großen Systematiker Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff zentriert, und entsprechend rationalistisch nehmen sich auch die Versuche aus, seine Auffassung des Universal-Lexicon dem Publikum zu kommunizieren. In einer an den achtseitigen verlegerischen „Vorbericht“ anschließenden dreiseitigen „Vorrede“ lobt Ludovici zunächst die „demonstrativische Methode“, mit der man die Sachen aus der Erkenntnis ihres Funktionierens her erlerne (sein Beispiel ist eine Uhr), 344 Kossmann (1969), Sp. 1575.
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bedenkt dann die „Schul-Methode“ mit freundlichen Worten (sie sei besonders Anfängern zu empfehlen), um dann auf die „Unbequemlichkeit“ zu sprechen zu kommen, die darin bestehe, dass beide Methoden auf der Repetition von wichtigen Sätzen beharrten und zudem beim Leser gewisse Kenntnisse in den Disziplinen voraussetzten. Der Philosophieprofessor geht also immerhin so weit, gewisse Nachteile des akademischen Unterrichts einzuräumen. Was heißt das aber für das UniversalLexicon? Ludovici findet ersichtlich zu keiner Anerkennung des enzyklopädischen Schreibens, dem er mit einer schwachen Verbeugung lediglich eine lange Tradition zubilligt. Er verweist pauschal auf das, was der Historiker Ludewig eingangs des ersten Bandes des Universal-Lexicon zu den Vorteilen der Kompilation gesagt hatte, und produziert keine eigene Theorie. Ludovici gibt lediglich zu, dass „die alphabetische Methode“ die beste dafür sei, „dass man iede große Materie ohne grosse Mühe finden, und das, was davon zu sagen ist, beysammen lesen kan. Dieser Vortheil und die Abhelffung so vieler gedachter Beschwerlichkeiten mögen wohl die erste Gelegenheit zu denen sogenannten Real-Lexicis gegeben haben.“ (UL 19: [3]) Eine Begründung oder auch nur Bewerbung des enzyklopädischen Schreibens folgt auch nicht in einer weiteren Vorrede ein Jahr später zu Band 21, in der Ludovici ausführt, dass das Universal-Lexicon tatsächlich alle Wissenschaften behandele, darin einmalig sei und es diesem großen Werk lediglich an einer systematisch zusammenfassenden Darstellung mangele, die er am Ende zu geben verspreche: „Da nun also der Zusammenhang der Wahrheiten zur vollkommenen Erkenntniß einer Wissenschafft oder Kunst auch die Einsicht in die Verwandtschafft der Künste und Wissenschafften mit Recht fordert: so ist es Sonnen-klar, daß eine vollständige Encyclopaedie der menschlichen Erkenntniß und deren Wachsthum einen vortreflichen Vorschub tue.“ (UL 21: [2]) Etwas später schreibt er in derselben „Vorrede“, dass „gegenwärtigem grossen Universal-Lexico keine grössere Pracht gegeben werden, als wenn man den Beschluss desselben mit einer vollständigen und accuraten Encyclopädie machet, dass man demnach nicht nur die rechtmäßige Verknüpfung aller Künste und Wissenschafften, gleichsam als in einen Stammbaume, vorstelle, sondern auch aller dererselben hinreichende Systemata mittheilet.“ (UL 21: [3])
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Eine solche systematische Übersicht ist nie gedruckt worden – ebenso wenig wie eine Liste der Subskribenten, also der Bezieher des Lexikons. Das Geheimnis der Produktion und der Operation dieser größten Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts bleibt also bestehen. Ludovici endet seine Vorrede zu Band 21 übergangslos mit einem Aufruf an adlige Häuser, Texte zum Abdruck einzusenden. In einer weiteren „Vorrede“ zu Band 23 hat für ihn dieser Gesichtspunkt einer prominenten Behandlung der adligen Geschlechter alle systematischen Erwägungen vollständig verdrängt. Eine letzte Vorrede Ludovicis findet sich im ersten Supplementband 1751. Dort begründet er die Notwendigkeit der nachträglichen Ergänzung einmal – eher im Vorübergehen und ohne Beispiele – mit dem Fortschritt der Wissenschaften, der nach zwanzig Jahren manche Artikel überarbeitungsbedürftig erscheinen lasse. Konkreter liest sich sein Hinweis auf den Umstand, dass in den ersten 18 Bänden keine lebenden Personen aufgenommen wurden: „Hienächst sind die Lebensbeschreibungen der noch lebenden Potentaten, Staats- und Gelehrten Männer, ehe mir die Verfertigung des Universal-Lexicons anvertrauet worden, gänzlich übergangen worden.“ (UL S1: [2]) Ludovici räumt ein, „alle Schätze der Wissenschaften“ nicht erschöpfen zu können, verspricht darum als Nachtrag „allein die wichtigsten, und unter solchen die Genealogischen und Geographischen Artickel“ (UL S1: [2]) zu liefern: Auch diese Vorrede spielt nur mit der Idee einer wissenschaftlichen Vollständigkeit, privilegiert tatsächlich weit pragmatischer die Adressierung der Lücken im historischen Wissen. Nun darf man angesichts der fehlenden Programmatik nicht in eine fatalistische Haltung verfallen und denken, das Universal-Lexicon sei planlos entstanden. Das riesig ausgebreitete Alphabet der 284.000 Artikel verhindert bis dato eine pragmatische Einsicht in den sachlichen Gehalt des Universal-Lexicon. Dieses darum schon einem voraufklärerischen Inventartyp zuzuordnen345, ist sicher nicht nur deshalb voreilig, weil dieser Typ wiederum oft allein durch das Universal-Lexicon illustriert wird. Es gibt keine wirklich vergleichbaren Werke, denn alle anderen waren entweder zu gering an Umfang oder zu speziell im Thema, um zutreffend als ein vergleichbares Inventar bezeichnet zu werden.
345 Zischka (1959), S. XL.
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Auch wenn man inzwischen weiß, dass Inventare selbst ihre Ordnung haben, dass kein Sammeln planlos geschieht346, wurde das Universal-Lexicon nicht näher untersucht, wohl aus der Befürchtung heraus, das dort aufgehäufte Wissen nicht einmal soweit durchschauen zu können, dass die Frage nach der tatsächlich vorliegenden enzyklopädischen Schreibart präzisierbar wäre. Wenn man beispielsweise dem Monumentalwerk einen „Übergangscharakter“ zuspricht, weil sich darin einerseits barocker Sammeleifer manifestiere, der auf „das Besondere, das Merkwürdige und Kuriose“ abhebe, andererseits aber den Willen feststellt, „die Traditionen nicht mehr unbesehen zu übernehmen, sondern auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen“347, wird eine tiefsitzende Ambivalenz artikuliert, die im Text der Enzyklopädie selber lokalisiert werden müsste. In der Forschung herrscht große Unsicherheit, wenn von ansatzweise erforschten Teilbereichen aus eine Gesamtcharakterisierung versucht wird. Dabei ist die ideengeschichtliche Verortung bzw. die damit einhergehende Wertung hier keinesfalls hilfreich. Denn auch Autoren mit einem vagen Respekt für die Zedlersche Leistung bleiben notgedrungen bei einer oberflächlichen Einschätzung stehen und schreiben etwa, das Universal-Lexicon sei „ein Kind der den Wissensbereich weitenden, aus der theologischen Bindung sich lösenden, fortschrittsbewussten, auf Bildung einer nicht mehr kleinen, gesonderten Schicht ausgehenden Frühaufklärung.“348 Einer solchen Qualifizierung kann durch genauere Lektüre stellenweise widersprochen werden349, aber vermutlich charakterisiert die pauschale Ansicht die Lexikonbewegung des 18. Jahrhunderts überhaupt, nicht spezifisch das Universal-Lexicon, dessen Wissensbereich unzureichend abgesteckt und rekonstruiert ist. Welche Wissenschaften füllen die ca. 68.000 Seiten des Universal-Lexicon? Die bisherige Forschung ist schnell resümiert.
Wo sitzt die Aufklärung? Philip Shorr hat in seiner Arbeit über Wissenschaft und Aberglaube im 18. Jahrhundert sowohl Ephraim Chambers’ zweibändige Cyclopaedia von 1728 als auch Zedlers Universal-Lexicon behandelt und in letzterem ca. 80 Artikel näher 346 Vgl. Burke (2001), zu den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts insbesondere S. 197– 202; Schneider (2009). 347 Kutsche (1974), S. 57 f., 58 f. 348 Blühm (1962), S. 197. 349 Vgl. etwa Schäufele (2010) mit Hinweisen auf „fortschrittliche“ Artikel im Bereich der Theologie.
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untersucht, von Aberglaube und Astronomia bis Vacuum und Zauberey, wobei er durchweg Begriffe naturphilosophischer Lehren mit wissenschaftlichen und technischen Begriffen parallel behandelt, also Amuletum und Electuarium vital wie auch Experimentum und Scheide-Kunst.350 Shorr hebt in seiner Untersuchung die Unsicherheit des Universal-Lexicon in Bezug auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse hervor. Es gibt für ihn zu viel volkstümliches und zu viel theologisch bewertetes Wissen: „Trotz der ehrlichen Anstrengung, Fortschritt in den Wissenschaften anzuerkennen, löst sich das Universal-Lexicon nicht völlig von der mittelalterlichen Auffassung, dass alle Wissensbereiche der Theologie unterzuordnen sind.“351 Allerdings sucht Shorr nicht im zeitgenössischen Kontext nach Anhaltspunkten, vielmehr verteidigt er anachronistisch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft gegen, wie er sie nennt, „veraltete“ Positionen des Universal-Lexicon. Shorr urteilt über das Universal-Lexicon wie über eine wissenschaftliche Monographie und sucht nicht den historischen Vergleich mit verwandten zeitgenössischen Lexika, etwa von Bayle, Walch oder Brucker, die auch naturwissenschaftliches Wissen erfassen.352 Fritz Ihm schrieb 1959 eine medizinische Dissertation über Die volksmedizinische Zahnheilkunde bei Zedler und Colerus, die sehr dünn ausfällt und sich auf einige wenige Einträge bezieht.353 Dagegen bietet die Freiburger Dissertation von Eckart Kutsche über Kriegsbild, Wehrverfassung und Wehrwesen die breiteste thematische Untersuchung, die bislang vorliegt, in Auseinandersetzung mit ca. 300 einschlägigen Artikeln.354 Diese reichen von Stichworten unter „B“ wie etwa >BastionBataillebedeckter WegFeindseligkeit im KriegeFeld-ApotheceFeld-SchantzenFestungFeuerwercker350 Shorr (1932). 351 Ebd., S. 75: „Despite its sincere efforts to appreciate scientific progress, the Lexicon cannot wholly depart from the medieval notion that all branches of knowledge are really the handmaidens of theology.“ Eine weniger abwertende, aber ambivalente Einschätzung der naturwissenschaftlichen Artikel im Universal-Lexicon findet sich auch in Carels/Flory (1981), S. 177–181. 352 Bayle (1697), mehrere Auflagen; eine deutsche Übersetzung besorgte das Ehepaar Luise und Johann Christoph Gottsched in den Jahren 1741-1744. Walch (1726); Brucker (1731) und Brucker (1742). 353 Ihm (1959). 354 Kutsche (1974).
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Kunst bis zu denen unter „V“ wie >Vaubannische Manier zu fortificirenverbotene WaarenVergifftenVictualienVölcker-RechtVorwerckeRaison de guerre< vollständig aus Flemmings Vollkommenen Teutschen Soldaten (1726) abgeschrieben ist355, wobei Fremdwörter eingedeutscht wurden. Auch spätere Lexika vergleicht Kutsche mit dem Universal-Lexicon, so etwa dessen geographische Artikel mit denen in Achenwalls Staatsverfassungen der europäischen Reiche von 1752.356 Nicht nur durch die Fülle der berücksichtigten Einträge, sondern auch in der Anstrengung einer vergleichenden Perspektive ist die Arbeit von Kutsche beispielgebend. Auch hier aber bleibt der Blick ‚von hinten‘ bestimmend, eine Wertung aus der Perspektive einer durch die Französische Revolution geprägten Epoche: „Trotz der Kritik an den adligen Vorrechten wird die ständische Ordnung noch nicht in Frage gestellt. [... Es] finden sich selbst in Spezialartikeln wie ‚Adel‘, ‚Bauer‘, ‚Bürger‘ oder ‚Stand‘ keine sozialkritischen Ausführungen. Die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene politische und bürgerliche Stände ist unbestritten.“357 Dietrich Fuhrmanns Arbeit über Recht, Staat, Politik und Gesellschaft in Zedlers Lexicon bewegt sich in einem ähnlichen thematischen Gebiet wie Kutsche und behandelt über einhundert Artikel von >ArbeitBeruffBilligkeitCameralwesen< bis >SteuernStrafeTyrannUnterthanVermögenVölcker-RechtWirthschaftOde< oder von Nicola Kaminski zu >MusenNachahmung< und >Teutsche DichtkunstAffectusAllegorie< über >EchoEinbildungEinbildungskrafftElegieEnthusiastereyEpigrammErfindungErgötzen< bis zu >RedeRedekunstReimRomanenRomanenschreiberRondeaux< usw. Die methodisch sehr saubere Arbeit von Duesberg ergab im Übrigen auch, dass es auf diesem thematischen Feld viele abgeschriebene, einige ganz neubearbeitete, in der Mehrzahl aber „kombinierte“ Artikel gibt, in denen mehrere Vorlagen gemeinsam benutzt werden.362 Die weitaus beste Arbeit zu Anlage und Inhalt des Universal-Lexicon hat Bernhard Kossmann geliefert363, er hat auch die vergleichende Perspektive entwickelt. Seit dem 19. Jahrhundert ist bekannt, dass Benjamin Hederichs Gründliches Lexicon Mythologicum von 1724 im Universal-Lexicon abgeschrieben wurde.364 Kossmann gibt zusätzliche Hinweise auf frühere und verwandte Lexika und zeigt 359 Ebd., S. 327 f. 360 Krummacher (1995), S. 270 f.; Kaminski (2000). Kaminski berücksichtigt die folgenden Einträge: Musen, Nachahmung, Nachdruck derer Bücher, Poesie der Engelländer, Poesie der Frantzosen, Poetische Raserey, Privilegien (Bücher), Teutsche Dicht-Kunst, Wörter-Buch, Lexicon. 361 Duesberg (1978). 362 Ebd., S. 22 f. 363 Kossmann (1969). 364 Kämmel (1880).
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etwa, dass das Universal-Lexicon aus dem 1730 erschienenen Allgemeinen historischen Lexicon zahlreiche biographische Artikel übernommen hat, wobei meist die Literaturangaben im Universal-Lexicon ergänzt sind. Gleichwohl gilt weiterhin seine Feststellung von 1969: „Es fehlt eine Analyse des Inhalts und der Anlage dieses wichtigen Lexikons.“365 Kossmann hat das besondere Verdienst, als erster die Artikel insgesamt grob sortiert zu haben. Er findet im Wesentlichen drei Sachbereiche repräsentiert: (a) Geographie, (b) Genealogie und Biographie, (c) Philosophie und Wissenschaften.366 Es nehmen gut zwei Drittel des Universal-Lexicon geographische bzw. biographische Artikel ein. Die Gesamtzahl der geographischen Artikel beläuft sich auf über 72.000, die der biographischen Artikel auf über 120.000. Wie aber steht es um die ca. 93.000 Artikel, die weder geographisch noch biographisch sind? Man will wissen, wie das Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert zu verorten sei, ob inmitten, am Rande oder im Abseits von dem, wofür gemeinhin das ganze Jahrhundert steht: Aufklärung und kritisches Denken. Man lokalisiert beispielsweise eine zeitgenössische Meinung im Universal-Lexicon und beweist damit dessen Rückständigkeit, wie etwa die abwertenden Ausführungen zum >Zigeuner< (UL 64: 1749).367 Amerikanische Leser vermissen eine angemessene Darstellung der amerikanischen Kolonien und Länder und beklagen „Eurozentrismus“.368 Aufklärungsfreunde werden durch die Verteidigung der Monarchie befremdet.369 Man kann die Liste fortsetzen: Es sind im Einzelnen zutreffende Feststellungen, die das Universal-Lexicon insgesamt aus partikularer Einsicht beurteilen. Dass dem im Universal-Lexicon aufbereiteten Wissen derart anachronistisch begegnet wird, liegt nicht allein an dem anonymisierten Status der Einträge, also an der Unkenntnis über Mitarbeiter und Beiträger zum Universal-Lexicon. Es liegt auch daran, dass wir keinen Begriff für die Kumulation sachlichen Wissens haben, dass wir in der Kombination positiver Kenntnisse keinen Faktor der Wissensgeschichte erkennen können, sondern nur die in der Vergangenheit lastende Summe eines inzwischen Vergessenen. Die bisherigen Untersuchungen legen nahe, dass man an die ‚operative‘ Idee des Universal-Lexicon herankommen muss, um das Unternehmen zu begreifen. 365 366 367 368 369
Kossmann (1969), Sp. 1563 f. Ebd., Sp. 1577. Wigger (1998), S. 14–17. Carels/Flory (1981), S. 184. Vgl. Fuhrmann (1978), S. 323–327.
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So könnte man den Vorwurf von Shorr, in den naturwissenschaftlichen Artikeln spiegele sich eine Unentschiedenheit zwischen experimentalphysikalischen Einsichten und praktisch-traditionellen Kenntnissen, umwenden in die Frage, an welchen Stellen diese Koexistenz zweier Wissensarten einen tatsächlichen Konflikt kaschiert, und wo sie Ausdruck dafür ist, dass Paradigmenwechsel keine scharfe Grenze artikulieren. Gleiches könnte man für das im Universal-Lexicon zur Sprache kommende medizinische Wissen versuchen und das paradoxe Nebeneinander von Schulmedizin und therapeutischem Wissen (Salben und Pflaster) nicht als Widerspruch, sondern als lexikonspezifische Mischung verstehen. Für die juristischen Artikel, die in großer Zahl Eingang in das Deutsche Rechtswörterbuch gefunden haben370, kann dieselbe Vermutung gelten: theoretisch-naturrechtliches Wissen und praktisch-positives Gesetzeswissen finden sich als zwei durchaus gleichwertige Aspekte der Lebenswirklichkeit des 18. Jahrhunderts parallelisiert.
Sachartikel statt Fachartikel Durch die schiere Größe war das Universal-Lexicon von vornherein darauf angelegt, nicht nur abzuschreiben, sondern Informationen zu kombinieren. Eine bloße Repetition des woanders Geschriebenen hätte zu einer Vielzahl von Parallelartikeln geführt. Das Universal-Lexicon ist schon durch die weitläufige Anlage ein geordnetes oder gegliedertes Inventar. Das ‚Abschreiben‘ ist ein ‚Aneignen‘, es erfordert redaktionelle Fertigkeiten und eine Disposition. Duesberg hat insgesamt 15 Werke ausgemacht, die zum expliziten und impliziten Hintergrund der literaturtheoretischen Artikel des Universal-Lexicon gehören, darunter das Philosophische Lexicon von Walch, die Historie der heydnische Morale von Gottlieb Stolle (Jena 1714), Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, deren Uhrsprung, Fortgang und Lehrsätzen (Kiel 1682, zuletzt Lübeck 1718). Es folgen mit abnehmender Häufigkeit der Bezugnahme Gottscheds Critische Dichtkunst (1742), Johann Theodor Jablonskis Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschafften (Leipzig 1721, 2. Aufl. 1748), Gottlieb Stolles Anleitung zur Historie der Gelahrtheit: denen zum besten, so den Freyen Künsten und der Philosophie obliegen (3 Bände Jena 1718, 4. Aufl. 1736) und Hederichs Mythologisches Lexicon.371 Duesberg hat 370 DRW (2008). 371 Duesberg (1978), S. 24. Es gibt dazu noch eine Reihe von Werken, die nur einmal angeführt werden bzw. als Vorlage dienten; vgl. o. Tabelle 2 auf S. 81.
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sodann unterschieden, welche poesie- und literaturbezogenen Einträge (a) ohne Änderung übertragen, welche (b) mit Änderungen übernommen und welche (c) neu geschrieben wurden.372 Eine ähnliche Gruppierung wird in allen vorliegenden sachorientierten Untersuchungen entdeckt, ohne dass bislang daraus eine Strategie erkannt wurde. Ein Beispiel für die synthetische Leistung der Redaktionsarbeit am UniversalLexicon lässt sich geben, wenn man den Artikel >Vanille< zu Rate zieht (UL 46: 517–519). Er ist ganz und gar Nicolas Lemerys Vollständigem Materialien-Lexicon entnommen, das seit 1721 in deutscher Übersetzung vorlag.373 Mit geringfügigen Änderungen, darunter auch Verbesserungen von Druckfehlern, ist der Text in das Universal-Lexicon übertragen worden, allerdings vermehrt um vier Einschübe, die den Informationswert des Artikels erheblich steigern. Der erste Einschub bringt eine Reihe von Stellennachweisen aus der gelehrten Literatur, etwa aus der Historia plantarum generalis von Johannes Raius (London 1704) oder aus Gvlielmi Pisonis Mantissa Aromatica (1658), der zweite den Hinweis auf einen Reisebericht von 1702, der das Vorkommen der Vanille bezeugt, der dritte bringt Literaturhinweise auf Pflanzenbücher – etwa Antonio Colmenero de Ledesma, Chocolata Inda (Nürnberg 1644), Zacharias Brendel, Disputatio inauguralis de affectu hypochondriaco (Jena 1637), Emanuel König, Regnum vegetabile quadripartitum (Basel 1708) –, und der vierte Einschub liefert ein Rezept der Zubereitung von Schokolade unter Verwendung der Vanille. Woher diese Einschübe stammen, ob wiederum aus Lexika oder aus anderweitiger Literatur, ist noch nicht eruiert. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass das Universal-Lexicon Wissen in gänzlich veränderter Form präsentiert, nicht mehr als spezialisiertes Fachwissen, sondern als konzentriertes Sachwissen. Mit den Einschüben ist der Artikel >Vanille< aus dem kräuterlexikalischen Zusammenhang emanzipiert worden und findet sich nun als vielseitige Information über eine Pflanze, deren Beschreibung, Benennung, Entdeckung und Verwendung in einen größeren Kontext gestellt wird. Wo bei Lemery die >Vanille< zwischen dem baldrianähnlichen Kraut >Valerianella< und vor dem Eisenkraut (>VerbenaVaniasVanini< das Element einer enzyklopädischen Neugier, die Fachgrenzen überspringt und sich ‚im Einzelnen‘ informiert. 372 Duesberg (1978), S. 22–24. 373 Lemery (1721).
156 Der Artikel Vanille mit geringfügigen Änderungen aus Lemerys Lexikon [L]
[L: Volubilis oder Winde] 1. Einschub
weiter nach Lemery
2. Einschub weiter nach Lemery [L: Mescasu hil] [L: Sie führen viel Oel und flüchtig Salz]
3. Einschub
4. Einschub
weiter nach Lemery
(ohne Quellenangabe)
Das allgemeine Wissen Vanille, Banille, Vanilie, Lateinisch Vanilla, Vaynillas, Siliqua Vaniliae, Vainilia, Vainiglia, Bainilla, Benjanellis, gleichsam Benzionellis, weil sie wie Benzoes riechet. Frantzösisch Vanilla, ist eine Schote, die etwan eines halben Schuhes lang, und als wie eines Kindes kleiner Finger dicke ist, an beyden Enden zugespitzt, von Farbe dunckel, eines balsamischen und lieblichen Geruchs, ein wenig scharff, und enthält in sich sehr zarte, schwartze und gleissende Saamen. Diese Schote ist die Frucht von einer Art Winde, oder von einem Gewächse, das vierzehn bis funffzehen Fuß hoch, und von den Spaniern Campeche genennet wird. Lateinisch heisset es, Vainillus seu Banillus, Offic. Vainillus volubilis siliquosa mexicana, foliis Plantaginis, Raj. Hist. Tlilxochitl Mexicanis, Pison. Mant. Ar. Aracus aramaricus, Tlilxochitl Mexicanis, seu Flos niger Hermand. Tlilxochitl, berba volubilis, Worm. Mus. Tlilxochitl, Convonuli Indici Species, P. Amman. Mauud. Vainiglia major, Vaynilius. deutsch Vainille, Vaniglie. Das kriechet in die Höhe und schlinget sich um die nahe dabey stehenden Bäume, oder um die dazu gesteckten Pfähle, oder an den Mauren hin. Sein Stängel ist rund und knotig, wie das Zucker-Rohr, von Farbe grün. Die Blätter sehen als wie Wegebreit, sind aber um ein gut Theil länger und viel dicker. Die Blüthen sehen schwärtzlich aus, die Schoten anfangs grün, hernachmahls gelblicht, und werden darauf immer bräuner, je näher sie zu ihrer Zeitigung gelangen. Dieses Gewächse wächst in Mexico, in America, oder West-Indien, und häufig auf der Küste Boccatoro, Wilhelm Dampier, Reise um die Welt, Part. 1. c. 3. p. 56. Die Indianer nennen es Tlixochitl, und die Schote Mescosubil. Wann die Schote reif und abgenomen worden, so lassen sie dieselbe im Schatten trocknen, bestreichen sie auch aussenher mit etwas Oel, damit sie gelinde bleibe, und sich besser halten lasse, ingleichen nicht so leicht zerbrechen möge. Die Vanillen soll man nehmen, wann es feine lange Schoten sind, die ziemlich dicke und schwer, sein völlig, und von lieblichem Geruche und guten Geschmacke. Sie stärcken das Hertz, den Kopf und Magen, treiben die Winde, und eröffnen. Die schleimigen Feuchtigkeiten machen sie dünne, treiben den Harn und der Frauen Zeit. Sie werden unter die Chocolate genommen, und machen derselben einen lieblichen Geruch und Geschmack. Bes. Ol. Worm, Mus. Museor. Lib. II. c. 31. p. 215. Ant. Colmener. de Ledesma, Opusculum de Chocolata Indica, von Johann George Vollkamern, edit. Norimb. 1644. P. Zach. de Affect. hypoch. Lib. II. c. 15. p. 440. Eus. Niremberg Hist. nat. LXV. c. 2. p. 346. Eman. König. Regn. vegetab. quadripart. Sect. IV. p. 1073. Mich. Bernh. Valentin Mus. Museor. L. II. p. 286. Fr. Redi, Exper. Nat. p. 179. Wer davon eine kräfftige Chocolate bereiten will, kan nehmen der gerösteten Cacao Bohnen Zucker ein halb oder drey Viertelpfund Zimmet zwey Loth, und zwölff oder sechzehen Stück Vanillen, es nach der Kunst vermischen und eine Masse daraus machen. Wer sie in grösserer Menge bereiten will, kan nehmen 42 Pfund vom besten Cacao, 100 schöne frische Vanillen, 20 Loth vom besten Zimmet, und 18 Pfund guten Zucker. Dieses machet 30 Pfund Chocolate. Wann die Vanille zu lange stehen bleibet, und nicht abgenommen wird, so springet sie auf, und läuft ein wenig Feuchtigkeit heraus, die gar balsamisch, schwartz und wohlriechend ist; sie wird so dicke, als wie Balsam. Diese Feuchtigkeit fangen sie mit grossem Fleisse in darunter gesetzten irrdenen Geschirren auf. Allein von diesem Balsam bekommen wir hier zu Lande nichts zu sehen, entweder weil er sich nicht gar zu wohl verführen lässet, oder weil die Leute in dem Lande ihn für sich selbst behalten. Wann nichts mehr heraus laufft, so giebet es liederliche Leute, die sammlen diese Schoten, stopffen sie voll Spreu und andere kleine unnütze Dinge, leimen hernach die Oeffnung zu, lassen die Schoten trocken werden, und mischen sie unter die guten Vanillenschoten; allein diese Schoten sind weder gut, noch kräfftig. Die Wörter Vanilla und Vaynillas sind Spanische Nahmen, und bedeuten so viel, als eine kleine Scheide, und diese Nahmen sind der Vanille darunter gegeben worden, weil ihre Schote, als wie eine kleine Scheide siehet.
Tab. 5: Aufbau des Artikels >Vanille< im Universal-Lexicon (UL 46: 517–519).
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So wird die Klassifikation der Natur, die bei einem Pflanzenartikel im Grunde vorausgesetzt ist, im Rückgriff auf den individuellen Namen der Pflanze unterlaufen. Das gilt freilich schon für Lemery, der ebenfalls alphabetisch gliedert; im Universal-Lexicon ist jedoch die Abkehr von jedwedem Fachsystem gewissermaßen allgemeiner und zwingt dazu, das Wissen nicht auf Strukturen und Hierarchien zu gründen, sondern es in die einzelne Informationseinheit, wie sie etwa eine Pflanze darstellt, zu konzentrieren. Es liegt bisher eine Studie vor, die einen längeren Sachartikel und dessen komplexen Aufbau untersucht, nämlich den zu >Sprache< (UL 39: 399–417), woran sich zeigen lässt, dass der Artikeltext eine Kompilation aus Büchern von Pufendorf, Gottsched und Wolff darstellt, die zum größten Teil angeführt werden, ohne dass allerdings im Einzelnen die zitierten oder umformulierten Passagen kenntlich gemacht worden wären.374 Solche Untersuchungen müssen ausgeweitet werden, damit man die Vermutung, der Oberflächlichkeit der Montage verschiedener Versatzstücke liege eine Überforderung der Mitarbeiter zugrunde, gegen die andere Vermutung ausspielen kann, dass das Lexikon mehr als kombiniertes Wissen nicht bieten wollte. Die Erwartung, ein Eintrag im Universal-Lexicon könne die Qualität eines Fachbuchbeitrags haben, wie im 20. Jahrhundert üblich, geht offenbar an der Arbeit der Zedlerschen ‚Musen‘ vorbei, wie vermutlich jede Hoffnung auf Systematik sich zuerst dem vorliegenden Material stellen muss, bevor über ihre Enttäuschung entschieden werden kann. Es ist wahr: Der neue Herausgeber Ludovici versprach 1738 eine systematische Gliederung nachzuliefern, sobald das Alphabet abgeschlossen sei. Es ist dazu nicht gekommen, und man mag sich grämen, den konstruktiven Aufriss der Wissenschaftslandschaft, die sich im Universal-Lexicon entfaltet, nicht in Händen zu halten. Karl Göpfert schrieb 1970: „Wenn auch mancherlei über den Zedler schon geschrieben ist, so hat doch niemand versucht, ihn eingehend zu charakterisieren, etwa den Anteil der verschiedenen Wissenschaftszweige herauszuarbeiten oder die einzelnen Artikel an der Wissenschaftsvorstellung, wie sie Ludovici propagierte, zu messen.“375 Was die Konstruktion des allgemeinen Wissens angeht, wie sie im UniversalLexicon vorliegt, so kann ein Blick auf die Lexikonproduktion in Leipzig zwischen 1700 und 1730 helfen, den operativen Modus zu finden, dem das Lexikon gehorcht. Die in diesem Zeitraum gedruckten ca. 30 teilweise umfangreichen 374 Wichter (1996). 375 Göpfert (1977), S. 71.
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Nachschlagewerke stellen primäres Quellenmaterial für das Universal-Lexicon dar. Welches Bild lässt sich gewinnen? Eine ganze Reihe von Lexika bringt Artikel, die generell viel kürzer als die entsprechenden Einträge im Universal-Lexicon sind und als ‚Informanten‘ also nicht benutzt wurden. Das trifft zu für Christian Weises Curieuse Gedanken von den Nouvellen oder Zeitungen (1703) und Johann Franz Buddes Allgemeines Historisches Lexicon in vier Bänden (1709–1714, 2. Aufl. 1730–1740). Selbst in Hübners Curieusem und realem Natur-, Kunst-, Gewerckund Handlungs-Lexicon (1. Aufl. 1712, 6. Aufl. 1732), das sich in den Stichworten mit dem Universal-Lexicon weitgehend deckt, sind die Artikel weniger zahlreich und kürzer, wie beispielsweise derjenige über >VacuumWachtendonckWachsWachstuch< belegen kann. Andere Lexika werden im Universal-Lexicon abgeschrieben, wie die Küchenrezepte aus Sigmund Gottlieb Corvinus’ Nutzbarem, galantem und curiösem Frauenzimmer-Lexicon (1715), beispielsweise die >Tarte von KrebsenWachtel-Pfeiflein< oder >WagenmeisterVasen< und >Vaubannische Manier zu fortificirenVentil< bezeugt. Die Übernahmen aus Lemerys Materialien-Lexicon (1721), aus Walchs Philosophischem Lexicon (1726, 2. Aufl. 1733) und aus Hederichs Mythologischem Lexicon (1724), wie bereits erwähnt, gehören ebenfalls in die Rubrik der bearbeiteten Übernahmen. Das Universal-Lexicon hatte sicher sehr viel mehr Quellen als nur die Leipziger Lexika; Zedler schreibt in seinem Vorwort zur Übergabe der Herausgeberschaft an Ludovici 1738, dass der Kaufmann Johann Heinrich Wolf, der den finanziellen Zusammenbruch des Universal-Lexicon abwenden half, der Redaktion eine eigene Bibliothek gestiftet habe (vgl. UL 19: Vorrede). Erst die Rekonstruktion dieser Bibliothek ermöglichte ein Urteil über die eigentliche Arbeit der Lexikonmacher im Universal-Lexicon. Inzwischen gibt es Ansätze zur Würdigung des Universal-Lexicon jenseits seiner ideengeschichtlichen Einordnung. Nicola Kaminski hat ein poetologisches Enzyklopädiekonzept skizziert und das Spiel mit dem Artikel >Nachdruck derer Bücher< programmatisch interpretiert. Denn das Problem, ein so umfangreiches Lexikon ohne extensives Abschreiben zu füllen, war wohl allen Beteiligten von Anfang an ebenso klar wie den um ihre Vermarktungschancen fürchtenden konkurrierenden Leipziger Verlegern, die juristisch gegen Zedler vorzugehen versuchten. Schon die Vorrede Peter von Ludewigs, zeigt Kaminski, zieht die Problematik des Abschreibens vom Juristischen ins Poetische und fordert Kreativität und „Genie“ für das Neuschaffen informativer Texte. Dieses Programm, die konsistente Rede von den neun Musen, als die die (sicher erheblich zahlreicheren) Mitarbeiter tituliert wurden, sowie der Umstand, dass für den Eintrag >Nachdruck< im UniversalLexicon ein gegen eben dieses Lexikon geschriebenes Pamphlet abgeschrieben wurde, lässt Kaminski fragen, ob nicht das „universallexikographische Schreiben“ einen „poetologischen Sonderstatus“ habe, insofern der „entstehende Text zu universaler Selbstreferentialität regelrecht verpflichtet ist.“376 Es gibt ein Spiel des Verbergens, das in Bezug auf das enzyklopädische Vorhaben selbst ironisch 376 Kaminski (2000), S. 672.
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Das allgemeine Wissen
genannt werden kann und das in der Textproduktion eine Strategie darstellt, die erheblich genauer beschrieben werden muss. Die mit dem Zedlerschen Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert erstmals in großem Maßstab durchgeführte Konstruktion des allgemeinen Wissens kann aber nur wirklich beschrieben werden, wenn, wie 1992 in einem Diskussionsbericht als Forschungsdesiderat festgestellt, „die intertextuellen Relationen von Enzyklopädien, genauer gesagt, die in unterschiedlicher Form adaptierten Übernahmen von Textpassagen oder sogar von ganzen Artikeln aus früheren Werken“ analysiert werden.377
377 Bogner (1994), S. 304.
Dritter Teil Enzyklopädie als Medizin
7. Wissen für Autodidakten
Eine allgemeine Enzyklopädie ist kein Werk für die Ewigkeit. Sie steht als gedrucktes Werk mit ihren Lesern in engster Verbindung. Das gilt vor allem für das 18. Jahrhundert, als sich europaweit ein Lesepublikum formierte. Es gab Lexika, die dem einfachen Landmann die gehobene Sprache beibringen wollten wie beispielsweise ein unter dem Pseudonym Belemnon veröffentlichtes Curiöses BauernLexikon aus dem Jahre 1728, und es gab Enzyklopädien für den Adel mit praktischem Wissen etwa über das Reiten.378 Konversationslexika waren dagegen eher für ein städtisch-bürgerliches Publikum gedacht, das seit Beginn des 18. Jahrhunderts darin Erläuterungen zu Zeitungsberichten suchte und darüber hinaus ein umfassendes Informationsangebot erwartete. Das Universal-Lexicon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler besetzt mit Stichwörtern und Druckseiten diesen neu entstandenen bürgerlichen Raum einer unspezifischen Neugier. Das Mammutunternehmen, erstellt in denkbar kürzester Zeit zwischen 1732 und 1750, hat nicht nur das Alphabet der deutschen Sprache ausgelotet, sondern das Sachwissen insgesamt neu verortet. Das Universal-Lexicon stellt das erste Erzeugnis der Wissenskultur dar, das auf alle nur denkbaren Fragen zu antworten bereit war. Im Unterschied zu den eher akademischen Enzyklopädien der expandierenden Unterrichts- und Wissenschaftskultur behandelt das UniversalLexicon auch die Probleme des täglichen Lebens und gibt Hinweise zur praktischen Anwendung. Der Dialog mit den Lesern wird an der alphabetischen Kette der Wörter, Wendungen und Begriffe in einer Breite und Intensität geführt, die in der Geschichte des enzyklopädischen Schreibens Epoche gemacht haben. Eine der Größe des Universal-Lexicon geschuldete Schwierigkeit lag in der Genauigkeit, mit der die Sprache der Leser abgebildet werden kann: Hier kommen die Verweisungen ins Spiel, deren Operationen vielfach nutzerorientiert sind. Im Gegensatz zur Cyclopaedia (1728) von Chambers oder zur Encyclopédie (1751) von Diderot und D’Alembert haben die Verweisungen im Universal-Lexicon nicht die Aufgabe, wissenschaftliche Zusammenhänge zu explizieren. Es geht nicht um 378 Belemnon (1728); Trichter (1742).
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Enzyklopädie als Medizin
die nachträgliche Einführung systematischer Kohärenzen, sondern um eine möglichst breite Verständlichkeit. Herausgeber Ludovici bekennt in der Vorrede zum ersten Supplementband 1751, dass ihn die Herstellung der Verweisungen viel Zeit gekostet habe: „Ich kann mit Wahrheit sagen, daß das so vielfältige Aufschlagen der Lexicons-Bände, und die nachmals zu verfertigenden Siehe-Artickel mehr als ein Vierthel von der Zeit weggenommen, als ich ohne solches Aufsuchen sonst auf die Elaboration verwendet haben würde; und gleichwohl hätte ich beständig Ursache gehabt, noch mehrere Stellen nachzusehen, wenn es die Zeit verstattet hätte.“ (UL S1: [4]) Der sagenhafte dänische König Hiärno erhält einen Eintrag von 17 Zeilen in der latinisierten Form seines Namens als >Hiarnus< (UL 13: 3), worauf die andere Namensformen >Hiärno< verweist. Die elsässische Stadt >Dachstein< (UL 7: 18) hat eine Reihe von anderen Namen, die als Verweisungen fungieren: Dagstein, Dagoberstein, Dabichstein, Dagoberti Saxum, Dachsteinum, Dabichii Lapis – diese alle in der Nähe des tatsächlichen Eintrags – und „Tachstein“ sehr viel später (UL 41: 1335). Oft sind lateinische Namen angezeigt, die Artikel befinden sich aber unter den entsprechenden landessprachlichen Stichwörtern, wie unter >Chablais< (UL 5: 1925) und nicht unter „Caballicensis Ducatus“ (UL 5: 9). Stichwörter aus Band 5, die mit „China“ beginnen, finden einige Artikel in Band 15 (>Kina-kinaSinaLeben< (UL 16: 1261–1267) und von „Vita aeterna“ auf >Ewiges Leben< (UL 8: 2255) bzw. >Seligkeit< (UL 36: 1661–1662) zurückverwiesen wird. Es gibt darüber hinaus das Bemühen, anwendungsfähige Hinweise nicht in größeren Artikel gewissermaßen zu verstecken. So sind mehrere Hundert Rezepte für Salben in Band 33 nach dem einführenden Artikel >Salbe< in einem eigenen, untergeordneten Alphabet aufgelistet. Die 125 Spalten mit einzelnen Salben (UL 33: 690–817) geben einzelne Artikel mit genauen Rezepturen (etwa >Salbe, ButterMennig-SalbePhilosophie< auf die Artikel >Praktische Philosophie< und >Theoretische Philosophie< vorausverwiesen wird, unter diesen Stichwörtern aber nur wieder Rückverweise auf den Artikel >Philosophie, Philosophia< (UL 27: 2012–2023) stehen, dann ist das einerseits nicht wirklich pragmatisch, zum anderen offenbar Anzeichen eines Konzeptionsfehlers. Und schließlich gilt, dass auch in den Sachartikel selbst anwendungsfreundliche Hinweise enthalten sind, wenn beispielsweise bestimmte tierische Organe auch in Rücksicht auf ihre Zubereitung in der Küche behandelt werden (etwa >Magen< UL 19: 262–265), was für die 3.207 Artikel über Pflanzen und die 1.634 Artikel über Tiere fast durchweg zutrifft. Alles in allem bleibt die durchgängige Tendenz bemerkenswert, die Antworten auf denkbare Fragen so zu präsentieren, dass die Leser nicht erst auf Umwege geschickt werden. Die Präferenz, Lemmata durch Namen – Eigennamen von Sachen, Orten und Personen – anzuzeigen, drückt eine weitere lexikographische Entscheidung für Nutzerorientierung aus. Jean Leclerc hatte 1694 beim Redigieren und Verbessern einer Ausgabe des Dictionnaire Historique notiert: „Auch wenn es nicht sehr viele Bücher gibt, die an Nützlichkeit die Lexika übertreffen, so gibt es auch kaum Werke, die so geduldige und beständige Arbeit erfordern, wie eben diese Lexika.“380 Die hier gemeinte Anstrengung bezog sich auf ein „historisches“ Lexikon, d. h. auf ein Werk, das vor allem Namen enthielt: Namen von Personen, von Geschlechtern, von Ländern, Orten, Bergen und Flüssen. Entsprechende Lemmata sind auch im Universal-Lexicon weit in der Überzahl: Von den insgesamt rund 284.000 Artikeln sind 120.139 Personen gewidmet, 72.461 geographischen Gegebenheiten. Auch die epochale Anomalie des Universal-Lexicon, Texte von fremden Einsendern abzudrucken, funktioniert nur im Bereich desjenigen Wissens, das durch Namen markiert werden kann: Namen von Adelsgeschlechtern wie >MarschallSchmettau< oder von Städten wie >WurzenBrasilien-Pfeffer, Pfeffer aus Brasilien, oder aus Guinea, Indianischer Pfeffer, Calecutischer Pfeffer, runder indianischer Pfeffer, Spanischer Pfeffer, SchotenPfeffer, Teutscher-Pfeffer< (UL 4: 1102–1104). Von dieser Wunderpflanze heißt es, sie sei besser nicht roh zu essen, „maßen man sich den Gaumen und den Hals, wie mit Feuer, davon verbrennet“ (UL 4: 1104). Mit brennender Eile jedenfalls scheint der Autor dieses Eintrags geschrieben zu haben, vielleicht weil er wenig Zutrauen hatte, dass der Buchstabe P erreicht würde, und schon 1732 beim Stichwort >Brasilien-Pfeffer< das relevante Wissen über die feurige Schote loszuwerden trachtete. Das Lexikon aber gelangte 1741 tatsächlich zum Buchstaben P, und im Band 27 finden wir nochmals zehn Spalten über den >Pfeffer< (UL 27: 1308–1318), „eine kleine Frucht, von der es allerlei Sorten gibt, von welchen in den Apotheken vornehmlich drei angetroffen werden, als nämlich schwarzer, weißer und langer Pfeffer.“ (UL 27: 1308) Der Hinweis auf die Apotheken sagt bereits alles: Der Nutzergesichtspunkt sticht die botanische Fachinformation aus. Darüber belehrt besonders ein vergleichender Blick auf die Encyclopédie Diderots, die vier Seiten bzw. sieben Spalten auf den Pfeffer verwendet (>PoivreBrasilien-Pfeffer< aus Band 4 und dem Artikel >Pfeffer< aus Band 27 gibt es ca. 50 weitere Artikel über Pfefferpflanzen. Die Existenz dieser Artikel und der etwa 100 diesbezüglichen Verweisungen zeigt, dass das UniversalLexicon dem nach Hilfe suchenden Griff des Lesers an vielen Stellen entgegenkommen will. Die über Eigennamen regelbare Konsultation der Enzyklopädie ist durch Ausnutzung aller sprachlichen Einstiegspunkte optimal und effektiv. Das Universal-Lexicon ist aber nicht nur ein Sachwissen-Wörterbuch, sondern ganz allgemein ein Wörterbuch der deutschen Sprache; es bietet einen der größten Wortschätze des in Mitteldeutschland geschriebenen deutschen Idioms. Nun ist zu beobachten, dass auch die nicht über Nomina, sondern beispielsweise über Verben laufenden Leserfragen an die Enzyklopädie ebenfalls pragmatisch beantwortet werden, und nicht vorzugsweise linguistisch, wie wenig später Adelungs Deutsches Wörterbuch, der durchgehend die „eigentliche“ von der „figürlichen Bedeutung“ unterscheidet und danach die Lemmata innerlich gliedert.383 Im Universal-Lexicon erhalten dagegen gleichlautende Verben durchaus unterschiedliche Einträge, wenn sich die Bedeutungen unterscheiden. Die Redakteure gehen von der Sprache aus, behandeln aber jedes einzelne Wort je nach Verwendungszusammenhang und sichern so die sachliche Identität auch der Wörter. Als Beispiel mag das Verb ‚ablösen‘ dienen: „Ablösen, Einlösen [...] heißt in denen Rechten, wenn ich durch Bezahlung der Schuld ein zur Sicherheit dem Gläubiger gegebenes Pfand freimache. Ablösen heißt bei den Barbieren, wenn sie einem Menschen ein erstorbenes oder schadhaftes Glied abnehmen oder absondern. Ablösen heißt bei denen Handwerksleuten, wenn ein Arbeiter mit dem andern, der sich bereits müde gearbeitet hat, abgewechselt wird, damit die Arbeit desto hurtiger fortgesetzt werde. Ablösen heisst bei denen Jägern, wenn sie etwas von einem wilden Tiere abschneiden. Ablösen, Relever, wird bei der Miliz von denen Wachten gesagt, wann einer abgehet von der Post und ein ander an dessen Stelle hintritt.“ (UL 1: 149) Das Verfahren ist aus den geographischen und biographischen, ja ganz allgemein den historischen Lexika entlehnt, wo es ganz häufig Namensgleichheit von 383 Vgl. Adelung (1793), S. 70 f.
Wissen für Autodidakten
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Personen, Orten und Gegenden gibt, die nichts miteinander gemein haben und konsequent je eigene Einträge konstituieren. Wenn nun im Universal-Lexicon die Sprache selbst als ein historisches Ding behandelt wird, gehorcht das einer ähnlichen, pragmatischen Logik. Mit dieser Aufmerksamkeit auf die nutzerfreundliche Präsentation des Wissens sowohl von Sachen wie von Wörtern ist das Universal-Lexicon einzigartig. Indem es mehrere Verwendungsweisen nebeneinanderstellt, zeigt es an, dass Sprache ein Aussagezusammenhang ist, eine Konvention von Benennungen und von geläufigen Wendungen. Man geht davon aus, dass die Mehrdeutigkeit der Sprache einen unbewältigbaren Reichtum darstellt, den man nur beschreiben, nicht aber reglementieren kann. Dem Universal-Lexicon geht auch in linguistischer Hinsicht jeder didaktische oder normierende Charakter ab. Der Artikel über >Aequivocation< sagt es kurz und deutlich: Die Eigenschaft der Sprache, nicht als strenges Bezeichnungssystem zu taugen, kann sogar zur absichtlichen Verunklärung eingesetzt werden: „Die Jesuiten verteidigen die aequivocationes und geben dieselbe vor eine Klugheit aus. Nur andere halten dafür, dass die Zusage mich in einem solchen Verstande binde, als ich geglaubt, dass in solchem der andere, zu dem ich geredet, denselben gehabt hätte. Doch wer nicht Macht zu fragen (hat], dem bin ich nicht schuldig, öffentlich zu antworten.“ (UL 1: 673) Die doppelte Zunge kann also ein Trick sein oder eine hermeneutische Grunderfahrung. Deutlich wird im Universal-Lexicon anerkannt, dass Sprache täuscht und zum Täuschen benutzt werden kann. Der Lexikoneintrag fügt aber ganz am Schluss hinzu: Wer nicht fragt, bleibt der Betrogene. Wissen und Rationalität muss sich fragend bzw. problematisierend bewähren, da nur so die täuschende Natur der Wörter unschädlich wird. Wissen selbst in praktischer Bedeutung zu nehmen, war den Redakteuren des Universal-Lexicon sichtlich ein Anliegen, worauf auch der ganze Komplex von Artikeln zu Wissen und Wissenschaft am Ende des Alphabets verweist. Es gibt dort zwar einen Artikel >Wissenschafft< (UL 57: 1346–1359), der sich mit Wissen aus Gründen und durch Erkenntnis beschäftigt, d. h. mit der rationalen Überzeugung von der Wahrheit; allerdings ist diesem Text ein Artikel >Wissen< vorgeschaltet, der theologisch klärt, was die Bibel über das Wissen sagt (UL 57: 1336–1342). Dann folgt dem ersten Artikel >Wissenschafft< ein zweiter, 35 Spalten langer gleichnamiger Artikel (UL 57: 1359–1395), der ganz und gar praktisch orientiert ist, weil er juristisch das Wissen im Handeln (etwa als Vorsatz oder als Kenntnis
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Enzyklopädie als Medizin
eines Handlungsziels) erörtert. Darauf wiederum folgt ein fast 120 Spalten langer Artikel >Wissenschafften< (UL 57: 1399–1517) über die Disziplinen im akademischen und universitären Sinne. Die theologische und juristische Perspektive wird also neben die philosophische gerückt: Wissen wird in diesem komplizierten metalinguistischen Verfahren vom Wort zur Sache und damit als lebenspraktisches Phänomen thematisiert, nicht selbstverständlich allein im Bereich philosophischer Erkenntnistheorie lokalisiert. Das Universal-Lexicon favorisiert keine eindeutige Formulierung von Wahrheit, es definiert keine Lehre, unterscheidet nicht den eigentlichen vom uneigentlichen Gebrauch, es erzieht nicht – oder wenigstens doch nur selten – zur angemessenen Ausdrucksweise. Vielmehr beobachtet und protokolliert es Sprachverwendung im zeitgenössischen Zusammenhang. Es ist ganz und gar der Frage verpflichtet „Was heißt das genau?“ und bezieht diese Frage immer wieder neu auf einzelne Wörter, bis hin zu den Schlüsselbegriffen „Wissen“ und „Wissenschaft“. Das UniversalLexicon exerziert so die „Macht zu fragen“ und privilegiert damit die Perspektive der zeitgenössischen Leser, denen alles, was in Wissenschaft und Ökonomie, in Politik und Geschichte, in Religion und Jurisprudenz, in Medizin und Literatur an Begriffen und Wendungen etabliert und gewissermaßen festgeschrieben scheint, für das eigene Lernen vermittelt werden muss. Die Kultur der Enzyklopädien verbindet sich hier mit einer subversiven Tradition in der gelehrten Kultur, die darauf zielt, dass jeder sein eigenen Urteil bilden kann, allein mittels der Lektüre von Texten, wie es im Artikel >Autodidaktos< (UL 2: 2267–2268) des Universal-Lexicon unterstrichen wird.384 Mit dem derart in die Sprache der Leser eingesenkten enzyklopädischen Schreiben ist das Universal-Lexicon ein Vorläufer der „Wikipedia“, die ebenfalls ihre Leser als Autodidakten behandelt: Es geht hier wie da um die anwendungsbereite Vermittlung von Sachwissen aus potenziell unendlich vielen Bereichen, um die handhabbare Beschreibung von tatsächlichen Begriffsverwendungen und eingeübten Terminologien – nicht um Lehre, System oder Wahrheit. Aktualität im Wissen betrifft eben das, was im Sprechen der Menschen vorkommt und was sie deshalb selber lernen können.
384 Vgl. Velten (2002).
8. „Geliebter Leser!“
Im Jahre 1738 konnte der 32 Jahre alte Verleger Johann Heinrich Zedler den ein Jahr jüngeren Leipziger Philosophieprofessor Ludovici (1707–1778) als Redakteur seines Universal-Lexicon gewinnen. Dies geschah im Zuge der finanziellen und redaktionellen Neuordnung des Lexikon-Unternehmens. Ludovici war war der dritte Inhaber der in Leipzig 1725 geschaffenen Professur „für Philosophie“ (ohne weiteren Zusatz) und hatte gerade – erst kurz, dann lang – die Geschichte der Philosophie von Christian Wolff und gleich darauf die Geschichte der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz geschrieben.385 Leibniz und Wolff waren Philosophen mit aktueller Geltung, viel diskutierte Meisterdenker der Aufklärungszeit. Der 1716 gestorbene Leibniz hatte durch die postume Veröffentlichung seiner Monadologie (1720) ein neues Interesse für die Metaphysik geweckt. Der europaweit bekannt Wolff befand sich 1737 im hessischen Exil an der Universität Marburg, nachdem er von der Universität Halle, wo er 1721 eine Rede auf die (unchristlichen) Chinesen und ihre hohe Moral gehalten hatte, 1723 vertrieben worden war. Ludovici hatte sich durch seine beiden jeweils zweibändigen Würdigungen dieser aktuellen Denker selber einen Platz im zeitgenössischen philosophischen Diskurs verschafft und war wohl dabei, in Wolffs Fußstapfen zu treten; er kündigte jedenfalls eine „vollständige Historie der chinesischen Philosophie“ an, die er gleich nach seiner Darstellung der Philosophie von Leibniz beginnen wolle.386 Statt sich mit China zu beschäftigen, willigte Ludovici jedoch ein, die Leitung des Universal-Lexicon zu übernehmen, was einer starken Veränderung in seinem Leben entsprach. Ludovicis Herausgeberschaft war für Zedler ein Gewinn und sicherte das geordnete Erscheinen der restlichen fast 50 Bände bis zum Ende des Alphabets 1750 und darüber hinaus bis zum Ende der Supplementbände 1754. Was aber bedeutete die Herausgebertätigkeit für Ludovici? Was konnte einen philo385 Ludovici (1736); Ludovici (1737a); Ludovici (1737b); Ludovici (1737c); Ludovici (1738). 386 Ludovici (1737c), Bd. 1, letzte Seite des „Vorbericht“.
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Enzyklopädie als Medizin
sophischen Freund von Leibniz und Wolff an der Tätigkeit eines Lexikographen reizen? Die vorhandenen Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leipzig zeigen keine Abweichung in der thematischen Gestaltung der Lehrveranstaltungen Ludovicis vom engen Begriff der Philosophie387, aber die Redakteurstätigkeit hat sehr wahrscheinlich seine Zeit stark in Anspruch genommen: Philosophische Bücher produzierte er bald nicht mehr. Ludovici brachte 41 Bände des UniversalLexicon zum Druck, dazu vier Supplementbände. Jeder Band des UniversalLexicon enthielt ca. 4.000 Artikel, und im Durchschnitt erschienen vier Bände pro Jahr. Anders gesagt: Täglich waren etwa 30 bis 40 Artikel durchzusehen. Von den Neuerungen, die mit der Herausgeberschaft Ludovicis eingeführt werden, fällt in Band 19 eine sogleich ins Auge: Abbildungen bereichern den Text. Ganz offenbar will Ludovici die wachsende Bleiwüste des allgemeinen Wissens unterbrechen und den Lesern das Vergnügen eines optischen Verweilens auf der Buchseite geben. So kommen die Luftpumpe und ein Luftthermometer zur Darstellung, simple Stiche, die in den doppelspaltig gesetzten Text integriert werden. Eine solche Ausstattung der Bände war in der Tradition des Lexikonmachens eher selten, denn meist bevorzugte man für Abbildungen eingeheftete eigene Blätter. Es war technisch aufwendig und teuer, Abbildungen präzise dort zu platzieren, wo sie dem Text nach hingehörten, denn nach der Praxis der Zeit wurden die Bögen der Lexikonbände nicht strikt nacheinander gedruckt – vielmehr fing man an mehreren Stellen zugleich an, alphabetische Portionen herzustellen, die dann im Band vereint wurden. Wenn andererseits größere Strecken des Alphabets konsekutiv geschrieben, gesetzt und gedruckt wurden, hätten Bilder unmittelbar beim Druckprozess zur Verfügung stehen müssen, um auf dem entsprechenden Bogen eingebaut zu werden. Aus der Tatsache, dass nach dem Band 19 solche Abbildungen im Text entweder nicht mehr vorkommen oder nur billig und ohne Einsatz von Graphikern hergestellt (etwa die Sitzordnung beim Reichstag) bzw. vorab bezahlt und hergestellt wurden (wie das Wappen der Familie Nimptsch)388, lassen schließen, dass die Initiative des neuen Herausgebers zur Auflockerung der Lektüre wieder fallengelassen wurde. Seine Initiative lässt sich dennoch würdigen, denn sie läuft auf eine Verlebendigung des Vermittlungsverhältnisses hinaus, welches die Lexikonarbeit insgesamt prägte, eine Vermehrung der Anschaulichkeit, 387 Ludovici war von 1733–1761 Professor für Philosophie, ab 1761 für Aristotelische Logik; laut Vorlesungsverzeichnissen ist Ludovici bis zu seinem Tod 1778 mit regelmäßigen Veranstaltungen zur Logik vertreten. 388 Vgl. Siegel (2006).
„Geliebter Leser!“
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die den tatsächlich allgemeinen Charakter des Universal-Lexicon unterstreicht. Zum Vergleich: Zeitgenössische Enzyklopädien wie das Lexicon technicum von Harris (zuerst 1704) oder die Cyclopaedia von Chambers (1728) hatten durchweg Abbildungen integriert (bei Chambers 19 Stiche389); die französische Encyclopédie produzierte für die erste Auflage die unglaubliche Anzahl von fast 3.000 ganzseitigen Stichen, die getrennt von den Textbänden in 11 Bänden gedruckt wurden (1762–1777), wobei die Stiche mit einem elaborierten Buchstabensystem an die Artikel gekoppelt waren.390 Die erfolgreiche Quartausgabe der Encyclopédie aus den Jahren 1777–1779, die ihren eigentlichen Ruhm begründete, zählte immerhin noch 546 Stiche.391 Die zweite Neuerung, die der Herausgeber Ludovici einführte, und die er durchhalten konnte, war die Aufnahme von Personenartikeln zu noch lebenden Persönlichkeiten. Er selbst profitierte davon unmittelbar (UL 18: 1005–1008), da damals gerade der Buchstabe „L“ anstand, ebenso wie der Vorredner des Gesamtwerks, Johann Peter von Ludewig (UL 18: 954–960). Wäre diese Art der Berücksichtigung von Zeitgenossenschaft anschließend wieder aufgegeben worden, hätten wohl diejenigen recht, die hier eine gewisse Eitelkeit am Werke sehen. Aber das Unternehmen einer aktiven Spiegelung der Gesellschaft im Lexikon war allgemein angelegt: Unter den gut 120.000 Personenartikel im Universal-Lexicon betraf ein großer Teil damalige Zeitgenossen.392 389 Stewart (1992). 390 Eine frühe Arbeit hat sich bereits die Mühe gemacht, die Tafelbände der Encyclopédie genauer zu untersuchen, sie in die Geschichte der Technik und der Enzyklopädistik des 18. Jahrhunderts kenntnisreich einzuordnen; vgl. Gille (1952). Die Beschreibung der Qualität der Tafeln und ihre historische wie ‚phänomenologische‘ Einbettung ins Denken des 18. Jahrhunderts ist jedoch bislang noch unzureichend geleistet, vgl. Cartwright (1995) zu den Tafeln der Anatomie und Pannabecker (1998) zu denen des Handwerks. Schwab (1984) hat die bisher gründlichste Untersuchung vorgelegt und gefunden, dass etwas über 4.000 Einträge der Textbände auf 2.569 Tafeln (auf 2.929 Blätter) verweisen (2.784 Tafel inkl. Supplementbände, auf dann 3.168 Blätter) (S. 39). Schwab hat dabei viele ungenaue Verweisungen und insgesamt 18 Einträge mit Verweisungen auf Tafeln ausgemacht, die es nicht gibt (S. 367). Schwab resümiert (S. 6): „Thus, contrary to Diderot’s idealised vision, it is obvious to anyone who has tried to do research in the plates in conjunction with the articles that the coordination between the the two had broken down gravely; in fact the whole system had come close to disintegrating, and this had occurred for historical reasons that lay in part quite beyond Diderot’s control.“ 391 Birn (1988). 392 S. o. S. 101 ff.
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Die Enzyklopädie änderte damit ihren Charakter radikal, weil die Redaktion das aufbereitete Wissen quasi wie eine Zeitung auf dem aktuellen Stand zu halten versuchte. Das Universal-Lexicon wurde vom Präsentationsinstrument zu einem Vermittlungsorgan des Wissens und nahm den Charakter eines Verständigungsmediums an; es wurde zu einem wirklichen Teil der Leserschaft, die sich real darin wiederfinden konnte. Ein in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrter Brief Ludovicis an Gottsched bittet den großen Gelehrten um kritische Prüfung eines wohl für das Universal-Lexicon vorgesehenen Lebenslaufs (leider ohne Angabe des Namens): Der kleine Professor „für Philosophie“ benutzt seine Herausgebertätigkeit, um den bedeutenden Professor „für Logik und Metaphysik“ (vor 1734 „für Poesie und Beredsamkeit“) als Kollegen anzusprechen. Solche Briefe mag es viele gegeben haben. Der Redakteur inmitten der Leipziger Bücher- und Gelehrtenwelt brauchte sich nur leicht zu drehen, um neues Wissen zu finden und neue Kontakte zu knüpfen. Leider scheinen alle diesbezüglichen Zeugnisse und alle Korrespondenz verloren. Als Redakteur des Universal-Lexicon hat Ludovici gleich anfangs die Anrede des Publikums gepflegt und in den Vorreden zu den Bänden 19, 21 und 23 seine Leser dazu aufgefordert, durch Einsendung von Texten zu Städten, Personen und Sozietäten selber lexikographisch tätig zu werden. Die direkte Einforderung von Beiträgen von Privatpersonen erbat sich Ludovici letztmalig in der Vorrede zum ersten Supplementband 1751, in der er auch um die Rückmeldung kritischer Leser bat: „Also ersuche [ich] alle und jede, die [neue Artikel] des Durchlesens zu würdigen sich gefallen lassen, hierdurch aufs freundlichste, ihre Erinnerungen an mich einzuschicken, wo ich etwann geirret, oder in wie ferne ich bey meinen Absichten den rechten Zweck verfehlet habe. Liebreiche Erinnerungen sollen mir allemal eine Treibfeder seyn, es in Zukunft besser zu machen. Gleichergestalt werden diejenigen mich ihnen unendlich verpflichten, die vollständige Nachrichten entweder von sich selbsten, oder von andern erheblichen Sachen einzusenden belieben wollen.“ (UL S1: [3]) Der Redakteur Ludovici sah sich nicht allein in der Rolle eines Textverantwortlichen, er wollte das Universal-Lexicon zu einem dialogischen Instrument ausbauen. Dass er damit ein eher schwerfälliges Publikationsunternehmen in der Mitte des Alphabets neu ausrichtete und angesichts des damals schon erreichten Umfangs von fast 20 Bänden nicht hoffen konnte, die Uneinheitlichkeit in der Redaktionspolitik in absehbarer Zeit ausgleichen zu können, hat ihn offenbar nicht verhindert, es als
„Geliebter Leser!“
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eine ganz neue enzyklopädische Aufgabe zu definieren, die eigene Gesellschaft im Buch zu spiegeln und sie daran sogar aktiv zu beteiligen. Ganz offenbar hatte Ludovici damit den engeren Bereich der philosophischen Gelehrsamkeit verlassen und verhält sich als Publizist. Statt Philosophie in Artikelform zu gießen und hohe Vernunft zu predigen, holt er Sachwissen ein. Statt ein System der Erkenntnis zu skizzieren – das er selber noch in den Vorreden zu den Bänden 19 und 21 forderte –, kümmert er sich um die „Vollständigkeit“ der Kenntnisse, wie sie der Verleger Zedler auf dem Titelblatt des Universal-Lexicon versprach und der Vorredner des ersten Bandes, Ludewig, umschrieb, als er betonte, des Lexikons Grenzen seien „viel weiter, als die Akademische Wissenschaften, so viel derer auch seyn mögen, reichen“. (UL 1: 6) Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt jenseits der Funktionalität lexikographischer Autor-Leser-Bindung: Ludovici sehnte sich nach Publikum. Schon in der Vorrede zum zweiten Band seiner Geschichte der Philosophie von Leibniz hatte Ludovici intime Töne angeschlagen. Er überschrieb sein Vorwort mit „Geliebter Leser“, und er sprach ihn in der Du-Form an: „Halte mir, mein Freund, einmahl eine kleine menschliche Schwachheit zu gute, dass ich zuförderst meine Freude über die sogar gütige Aufnahme des ersten Theiles öffentlich bezeuge.“393 Die gemeinsame Freude des Autors und des Lesers wird aber nur kurz beschworen, denn es geht in der Folge der Vorrede darum, dem Leser zu gestehen, dass die Zeit zur Ausarbeitung der Notizen fehlte und daher der folgende Text nur als ein „dürres Gerippe eines Cörpers anzusehen, dem annoch Adern, Fleisch und Blut fehlen“.394 Hier sind zwei wesentliche Charakterzüge dieses Enzyklopädisten zu erkennen: Er liebt sein Publikum, und er hat keine Scheu, gelegentlich mit Knochen zu klappern, wo er Fleisch versprochen hat. Auch andere Vorreden Ludovicis richten sich an den „geneigten“ oder den „lieben“ Leser. Diese Formen vertraulicher Anrede – eine Mischung aus alter Gelehrtenhöflichkeit und empfindsamem Schreibstil – machen das Lesepublikum zum Dialogpartner nicht nur in Bezug auf das Wissen, sondern auch in Sachen der Philosophie. Das zeigt sich an der Behandlung von Christian Wolff im Universal-Lexicon. Auch wenn kein einziger Artikel des Universal-Lexicon präzise einem Autor zugeordnet werden kann, bestehen doch wenig Zweifel über Ludovicis Autorschaft, 393 Ludovici (1737c), Vorwort. 394 Ebd., Vorbericht.
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wenn es um den Philosophen Christian Wolff und dessen Philosophie geht, über den Ludovici zwei dicke Bände verfasst hatte. Entweder hat der Autor selbst oder ein Hilfsredakteur unter seiner Aufsicht die entsprechenden Artikel verfasst (>Wolf, ChristianWolfische PhilosophieWolfische Philosophie< umfasst noch einmal 350 Spalten. Und doch lesen sich beide Texte keineswegs langweilig. Das Einverständnis mit dem Leser wird offensiv gesucht, wenn „Herr Wolff“ später als „unser Herr Hofrat“ oder „unser Philosoph“ angesprochen wird. Dramaturgisch geschickt heißt es beispielsweise nicht, dass Wolff einen Vortrag hielt, sondern: „Sogleich müssen wir mit Herrn Wolffen auf das philosophische Katheder gehen [...]“, und ironisch werden die Gegner Wolffs für einen kurzfristigen Sieg scheinbar beglückwünscht: „Wir gönnen ihnen gerne ihr Vergnügen [...]“. Der Text gibt sogar einigen Zweifeln Raum, ob Wolffs Lobpreisung der chinesischen Moral wirklich angemessen gewesen sei, und widmet den Gegnern Wolffs nicht wenige Zeilen: „Wir hoffen dem Leser nicht verdrießlich zu fallen, wenn wir bey der Untersuchung dieses Hasses in etwas stehen bleiben.“ (alle Zitate aus UL 58: 570–576) Auch in den Ausführungen zur Philosophie Wolffs gibt es Passagen, die eine Berücksichtigung des Leserinteresses anzeigen, obwohl der Text im Wesentlichen eine kommentierte Bibliographie darstellt. Umständliche Sortierungen derjenigen Intellektuellen, die als Gegner Wolffs gelten können, und derjenigen, die „Wolffianer“ genannt werden dürfen, bezeugen beispielsweise ein Bemühen um geistesgeschichtliche Verständlichkeit auch für nicht philosophisch vorgebildete Leser (vgl. UL 58: 1219–1224). 395 Vgl. einen ähnlichen Hinweis in UL 58: 600.
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Mit Ludovici wird die zeitgenössische Philosophie ein bibliographisch-erzählerisches Unternehmen: Bücher und Aufsätze werden zu Ereignissen des Zeitgeistes und der Lebensweg von Wolff zu einer Legende aufrechter Gesinnung und wissenschaftlicher Prinzipientreue. Das Universal-Lexicon bringt das derart aufbereitete philosophische Wissen in literarischen Portionen an die Leserschaft, die es im Übrigen mit relativ wenig Philosophie belästigt. Schon in den 1740er Jahren hatte Ludovici dem Ansinnen des Leipziger Verlegers Johann Samuel Heinsius nachgegeben und sich darauf eingelassen, das Dictionnaire du Commerce von Savary (französisch 1726) ins Deutsche zu bringen. Nach eigenem Bekenntnis hat die gleichzeitige Arbeit am Universal-Lexicon allerdings dieses Vorhaben vereitelt: Er habe nur die Einrichtung des Lexikons veranstalten, nicht seine Produktion beaufsichtigen können. Es erschien 1741–1743 in fünf Folianten unter dem Titel Allgemeine Schatzkammer der Kaufmannschafft, ohne Angabe von Autoren. 1752 bringt Ludovici ein eigenes Werk heraus, die Eröffnete Akademie der Kaufleute, in 5 großen Oktavbänden, bei Breitkopf in Leipzig.396 Dort berichtet er in der Vorrede, er habe erst die Arbeit am UniversalLexicon weitgehend beenden müssen, um ein neues Werk zu beginnen. Ludovici schreibt nach der Aufnahme der Arbeit am Universal-Lexicon kein Wort über seinen tatsächlich vollzogenen Abschied von der Philosophie, auch nicht im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Akademie 1767. Wenn Ludovici diesen Wechsel seiner Interessen gewollt hat, fehlt also eine Rechtfertigung. Sollte er ihn nicht eigentlich gewollt haben, sondern – etwa zur Verbesserung seiner Einkünfte – diese Arbeit als Brotberuf ausgeübt haben, fehlt die sonst übliche Gelehrtenklage über die Arbeitsbelastung. Bleibt eine dritte Möglichkeit, dass Ludovici gar keinen Wechsel der Interessen kannte bzw. seine wechselnden Aktivitäten nicht als einen solchen wahrnahm. Vielleicht verhält es sich sogar so, dass es schon eine frühere Umorientierung Ludovicis gab, eine hin zur Philosophie. Dem ihm gewidmeten Artikel im UniversalLexicon kann man entnehmen, dass er als junger Mann die Jurisprudenz anstrebte, außerdem gerne predigte und noch ganz andere Interessen hatte, die ihn etwa als Mitglied der „Deutschen Gesellschaft“ dazu veranlassten, 1730 eine Arbeit über Die Sitten und Gebräuche der alten Deutschen in Liebes-Händeln drucken zu lassen. Der zum Lexikographen mutierte Philosophieprofessor namens Ludovici könnte ein intellektuelles Chamäleon gewesen sein, der als Buchproduzent hervortreten wollte und dafür jede Anstrengung in Kauf nahm. Er könnte als Popularphilosoph 396 Ludovici (1752).
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mit einem Hang zu erbaulichen Nachrichten aus der Welt des intellektuellen Fortschritts gelten, der in der Rezeptionsgeschichte der Leibniz-Wolffschen Philosophie eine Rolle als Vermittler einnehmen wollte, um den „geliebten Leser“ zu adressieren. Er hätte darum die Lexikonarbeit als philosophische Bemühung in verwandter Form betrachten können. Wie auch immer 1738 der Wechsel in der schriftstellerischen Produktion des Carl Günther Ludovici motiviert gewesen sein mag, er drückt nicht nur eine praktische Umorientierung von der Philosophie aufs anwendbare Wissen aus, es war ein gründlicher Wandel. Auf was man sich einlässt, wenn man in Lexika das Sachwissen fördert, verdeutlicht eine Passage aus der Vorrede von Heinsius zur Schatzkammer, das wahrscheinlich von Ludovici geschrieben ist. Zu Anfang des Absatzes, der die Schlussbemerkungen der Vorrede einleitet, zunächst die captatio benevolentiae: „Zwar sind wir wol nicht gesonnen, uns selbst, oder unser Vorhaben von allen und ieden Fehlern oder Mängeln loszusprechen.“ Danach der erste Ansatz einer Entschuldigung, insofern man sich, wenn überhaupt, „mit andern geirret, deren gelehrte Schrifften wir hierbey zu Rathe gezogen, und deren hinterlassene Nachrichten wir uns so gut, als möglich, zu Nutze gemacht“. Dann wird das Eingeständnis gelegentlicher Fehlbarkeit ausgedehnt zum Bekenntnis grundsätzlich mangelnder Originalität: „Wie wir uns denn gerne nicht anmassen können noch wollen, die darinnen [d. h. im Lexikon] befindlichen Artickel und Materien aus unserem eigenen Kopffe erfunden zu haben, sondern uns vielmehr hiermit ein vor allemal erkläret haben wollen, wie wir auch in dem sonst schon bekannt gemachten Avertissement gethan haben, dass unser gegenwärtiges Werck ebenfalls, wie alle andere Lexica, anders nichts, als eine vollständige Sammlung derer hieher gehörigen, und in denen besten von Handels-Sachen in verschiedenen Sprachen herausgekommenen Schrifften enthaltenen Materien sey.“397 Letztlich ist der Philosophiehistoriker Ludovici, der nie viel mehr als ein Bibliograph und Nacherzähler war, durch die Arbeit an den Fußnoten zum Lexikographen geworden. Unerschrocken steht er der Fülle der literarischen Nachrichten gegenüber 397 Savary (1723), dt. 1741, Vorrede.
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und hofft – so endet die hier zitierte Passage aus der Vorrede zur Schatzkammer – auf die Vergebung durch die Leser, die „uns hoffentlich auch um so viel eher Recht wiederfahren lassen, und die daran beschäfftigten Arbeiter mit dem verächtlichen Namen blosser Ab- und Ausschreiber verschonen wird“. Es war das Geschäft der Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert ganz offenbar nicht frei vom Stigma der Kolportage und anderer Formen weniger seriöser Informationsverarbeitung.398 So mag manchem die Leistung Ludovicis, der die meisten Artikel des Universal-Lexicon bestellt, redigiert und druckgelegt hat, kaum der historiographischen Leistung seiner Monographien über die Wolffsche und Leibnizsche Philosophie ebenbürtig erscheinen. Damit aber wäre das flüssige Hin- und Hergleiten Ludovicis zwischen Philosophie im engeren und weiteren Sinn – bis hin zur Abfassung von Handelslexika – nicht verstanden. Im 18. Jahrhundert konnte Ludovici Anerkennung mit mehr Gewissheit erhoffen, wie er schrieb: „Der günstige Leser wird mir hier eine Freyheit verstatten [...].“399
398 Zur Ehrenrettung vgl. Gierl (2001). 399 C. G. Ludovici, Vorrede zu Meissner (1737), § 5.
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Dem enzyklopädischen Schreiben werden leicht Motive unterstellt, als ob die Behandlung von Sachwissen eine selbstverständliche und nicht eine kulturell geprägte Praxis sei. Die Idee der Aufklärung und die Tradition der Enzyklopädien sind jedoch im Laufe der Geschichte immer anders und jedenfalls komplex liiert. Von Anfang an gab es in der europäischen Buchkultur divergierende Methoden, Wissen darzustellen, mit unterschiedlichen Effekten. So zeigen zu Beginn des Buchdruckzeitalters zwei Werke exemplarisch ganz entgegengesetzte Verfahren: Gregor Reisch erhebt in seiner Margarita Philosophica (1503) die Logik als Jägerin zum Symbol des humanistischen Geistes, der die Probleme vor allem in ihrer eigenen Bewegung erfassen und erledigen will.400 Ein berühmter Holzschnitt zur Illustration der „Logik“ zeigt, wie der Hase (das „Problem“) von zwei Hunden (namens „Wahrheit“ und „Falschheit“) gejagt wird und in der Gefahr steht, sich in das Gebüsch der unlösbaren Probleme (insolubilia) zu flüchten bzw. im Wald der feststehenden Meinungen (silva opinionum) unauffindbar zu werden. Der Anspruch des humanistischen Lehrers ist, das Problem schnell zu erledigen, es mit Hilfe der Logik zu erjagen, nicht unter Rückgriff auf alte Techniken der Einordnung zu erörtern. In diesem Bild drückt sich der frühneuzeitliche Anspruch der Wissenschaftler und Logiker auf problemorientiertes Denken anschaulich aus. Ganz anders als bei Nanus Mirabellus, der zu etwa der gleichen Zeit in seinem Lexikon Polyanthea (1507) eine alphabetische Begriffsliste gibt, die – nicht weniger erfolgreich als Reisch – in mehreren Auflagen Erweiterungen erfahren hat.401 Bei Mirabellus fungiert das Alphabet, nicht die humanistische Disziplinenordnung, als wissensproduzierend. So steht in seinem Buch beispielsweise die Tugend der Stärke (fortitudo) unmittelbar nach dem Ehebruch (fornicatio) und direkt vor 400 Reisch (1503); Drucker aus Straßburg und Basel verlegten dieses Buch im 16. Jahrhundert mehrmals, wobei die beigegebenen Holzschnitte ebenfalls nachgedruckt und nachgeschnitten wurden. 401 Mirabellius (1507); s. o. S. 14 f.
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dem Glück (fortuna). Die aufklärerische Wirkung liegt hier in der moralischen Unbetroffenheit, mit der von einem Begriff zum anderen das Thema gewechselt wird, unerschrocken und wissenschaftlich neutral. Die Sprache lenkt die Gedanken, auch in der atomisierten Form lexikalisch angeordneter Textstücke. Beide Enzyklopädien repräsentieren zwei auch später noch verfolgte Strategien, ein Publikum anzusprechen. Einmal geschieht das über die Reklamation höherer geistiger Fähigkeiten (wie der Logik), zum anderen durch Rückgriff auf begriffliche Elemente in der gesprochenen Sprache. Die Enzyklopädie als System kennt im Hintergrund den Experten als Fachgelehrten. Die Enzyklopädie als Lexikon dagegen ist weniger autoritär und bindet die Leser über den Sprachgebrauch an sich. Man kann die Jahrhunderte durchlaufen und findet für beide Verfahren immer wieder Beispiele. Heinrich Alsteds systematische Encyclopaedia (1630) gehört zur einen, Chambers’ Cyclopaedia von 1728 zur anderen Richtung. Bei Diderot und D’Alembert findet eine Verquickung der beiden genannten Typen statt. Denn Diderot und D’Alembert nutzen das Alphabet in systematischer Absicht und praktizieren in vielen Artikeln die absichtsvolle Belehrung des Publikums. Das philosophische Lexikon von Johann Georg Walch ist dagegen viel eher popularisierend angelegt und gibt keine versteckte Predigten, sondern so etwas wie nützliche Beschreibungen.402 Das gilt in weit größerem Ausmaße auch für die größte Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, das Universal-Lexicon. Sein weitgehend empirisches Verhältnis zu den Wortbedeutungen hat in allen „historisch“ genannten Enzyklopädien seine Tradition. Werke, die sich mit Personen und historischen Sachverhalten befassen, sind kaum systematischen Absichten beugbar. Das gilt für das Bilderlexikon berühmter Gelehrter von Nicolaus Reusner im 16. Jahrhundert403 wie für das biographische Dictionnaire Historique et Critique von Pierre Bayle vom Ende des 17. Jahrhunderts404, und auch für die im 18. Jahrhundert von Jean DuCastre d’Auvigny und Gabriel Louis Calabre Pérau herausgegebene zwanzigbändige (historisch erzählende) Enzyklopädie berümter Franzosen.405 Das Universal-Lexicon nimmt auch bei wissenschaftlichen Artikel eine Haltung der Beobachtung ein, der Berichterstattung und der Beschränkung auf das, was man weiß, eher als eine ambitionierte Gestaltung der Artikelinhalte im Sinne der „richtigen Wissenschaft“. Es mögen im Universal-Lexicon einige neuere wissenschaft402 403 404 405
Walch (1726). Vgl. dazu Wille (1998). Reusner (1587). Bayle (1697). Auvigny/Pérau (1739).
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liche Nachrichten fehlen, es mangeln gelegentlich vollständige Bibliographien; einige religiöse Artikel könnten es an Ausgewogenheit vermissen lassen. Das alles aber ist nichts Neues und hat sich im Grunde bis heute nicht verändert, denn alphabetische Enzyklopädien werden immer wieder überarbeitet, um aktualisiert bei der Leserschaft akzeptabel zu sein. Das Universal-Lexicon hatte ganz offensichtlich nicht den Anspruch, literarische Qualität zu liefern, war eher an der Vermittlung hilfreicher Kenntnisse orientiert. Dazu passt die Tatsache, das ein Leipziger Stadtarzt als vermutlicher Verfasser der meisten medizinischen Artikel identifiziert ist: kein Akademiker, kein spezialisierter Journalist, sondern ein mit alltäglichen Problemen vertrauter Praktiker, für den die Lexikonarbeit nebenberufliche Aufklärungsarbeit ist.406 Wie das Zedlersche Universal-Lexicon vor seinem Lesepublikum auftritt, lässt sich allgemein als eine Art ärztliches Verhalten kennzeichnen. Man gibt sich empirisch, interessiert sich für die Welt der Leser in allen Einzelheiten, gibt ihnen selber Gelegenheit, sich zu beschreiben und kündigt keine Diagnose an, die als wissenschaftliche Wahrheit die Welt der Rezipienten umkrempeln würde. Der Enzyklopädist ist kein Philosoph, der Ideale bestimmt und Begriffe nach rationalen Kriterien definiert, sondern ein Therapeut, der Wissen zusammenträgt, um es anwendbar zu machen. Den Leser hat man hier so sehr im Auge, dass er explizit angesprochen wird. Tatsächlich drückt sich die medizinische Haltung der Zedlerschen Enzyklopädie besonders deutlich in einigen der Medizin gewidmeten Artikeln aus, wo Anwendbarkeit unmittelbar impliziert ist. Im Artikel >Aderlass, Aderlässe, Blutlassung< (UL 1: 493–495) des Universal-Lexicon wird beispielsweise die weithin geübte Praxis der Reinigung des Blutes durch gezieltes Abzapfen geschildert, wobei die Geschichte des Aderlassens in zwei Phasen eingeteilt wird. Früher habe man geglaubt, gegen bestimmte Krankheiten und Beschwerden auch bestimmte Körperstellen auswählen zu müssen, an denen man zur Ader gelassen würde. Es gab im Mittelalter eine ganze Wissenschaft der Zuordnung von Körperstellen und Krankheitssymptomen, die das ärztliche Handeln und die Erwartung der Patienten regierte. Seit der Entdeckung des Blutkreislaufes 1628 durch William Harvey (1578–1657) wisse man aber, dass es immer dasselbe Blut sei, das man abzapfe, egal wo. (vgl. UL 1: 494) Der Artikelautor hebt nun jedoch nicht die wissenschaftliche Erkenntnis als letztgültige Wahrheit heraus, und schreibt auch nicht, dass mit Harveys Entdeckung 406 Artikel >Winckler, HeinrichWund-Artzeney-Kunst< (UL 59: 1442–1474) endet mit dem Hinweis, dass „gutes Vertrauen dem Wundarzte nicht nur zur Ehre gereichet, sondern auch selbst viel zu glücklicher Genesung des Patienten beyträget.“ (UL 59: 1474). So sieht der therapeutische Gesichtspunkt aus, der die Praxis der Anwendung im Blick hat und keine abstrakte wissenschaftliche Regel formuliert.407 Auch die mit dem Stichwort „Pulver“ auffindbaren Rezepte, etwa gegen Nierensteine (UL 29: 1350) oder die als „Salbe“ suchbare >Nervensalbe< (UL 23: 1888–1891) sind in ihrer Präzision (allerdings – wie wohl üblich – ohne genaue Mengenangaben) für die Zubereitung zu Hause bzw. mindestens für die Kontrolle der Zubereitung durch den Apotheker formuliert. Die medizinischen Texte dieses Lexikons haben eine ähnliche Funktion wie die Abbildungen in chirurgischen Handbüchern von Vidius im 16. bis zu Heister im 18. Jahrhundert: Die Technik wird so genau erläutert, dass der Laie, wenn er schon nicht selbst zur Anwendung schreitet, zumindest ein genaues Wissen davon erhält und damit das Vertrauen in die Behandlung gestärkt wird. Das Universal-Lexicon, auch wenn noch wenig über die konkrete Art seiner Verfertigung bekannt ist, scheint insgesamt aus einem Geist der Therapie und der schonenden Vermittlung des Wissens geschrieben. Die über 16.000 Artikel zur Medizin und die als 23.000 Artikel zu rechtlichen Vorschriften und Gewohnheiten müssten darauf hin untersucht werden, wie deutlich sie ein ebenso anwendungspraktisches Wissen artikulieren. In jedem Fall gibt es Indizien genug für das durchgängige Interesse an einer unverbrüchlichen Lesertreue, die eine Zusammenstellung 407 Vgl. zu den diesbezüglichen Entwicklungen im 18. Jahrhundert Lindemann (1999), S. 88–91; s. u. S. 194.
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des Wissens mit Blick auf seine Anwendbarkeit gibt und den konkreten Abnehmer nicht durch neue Gedanken schrecken will. Das Universal-Lexicon ist pragmatisch der Aufklärung verpflichtet und weniger programmatisch aufklärerisch. Man kann das Universal-Lexicon als eine Enzyklopädie auffassen, die in der leserorientierten Qualität der Artikel real ist, nicht in der Autorität der Autoren und Redakteure. Die rhetorische Strategie der Leserbindung verbietet eine wissenschaftliche Vorschreibung besseren Wissens. Das heißt zuletzt auch, dass die Anonymität seiner Autoren für dieses Lexikon bezeichnend ist, weil zum Produktionsprinzip der Lexikonmacher die Erzeugung genaue desjenigen Wissens gehört, das niemandem gehört. Es geht bei allgemeinen Enzyklopädien auch heute noch nicht um Originalität, sondern um Verlässlichkeit, es geht das Wissenswerte im Sinne der anwendbaren Information. Eben dieses Modell einer Arbeit am anonymen, allgemeinen Wissen findet man zum ersten Mal beim Universal-Lexicon, worin das Bild eines Publikums eingeschrieben ist, dem sich die Texte andienen. Aufklärer sind oft als Ärzte des zeitgenössischen Bewusstseins erschienen oder wurden so verstanden. Im Universal-Lexicon ist das ärztliche Wissen inhaltlich prominent, mehr aber noch die ärztliche Haltung einer Therapie des Unwissens durch Text.
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Medizinische Enzyklopädien bzw. medizinische Artikel in Enzyklopädien werden von Ärzten oder Gelehrten mit medizinischer Kenntnis geschrieben: Sind sie auch für genau dieses Expertenpublikum bestimmt? Diese Frage berührt die Selbständigkeit des enzyklopädischen Schreibens, das Sachwissen exponiert und kommuniziert: Sind beide Prozeduren identisch? Es gilt hier nicht nur den Unterschied zu beachten, der die Genauigkeit der Informationen oder die Objektivität der Beschreibungen betrifft, sondern auch die Differenz, die bei einer artikelweisen Portionierung des Wissens zwischen der theoretischen und der praktischen Ausrichtung des Schreibens selbst besteht. Das medizinische Expertenwissen kann bereits in seiner theoretischen Gestalt dem Arzt oder dem Chirurgen nützlich sein, für den Laien bedarf es einer zusätzlichen praktischen Orientierung, um die Wege der Umsetzung von Ratschlägen in Bezug auf Krankheitssymptome und Heilmitteldosierung auch tatsächlich beschreiten zu können. Für den Experten bedeutet eine fachliche Auskunft immer auch eine mögliche Handlungsanweisung, für den Laien reduziert sich der praktische Anwendungsnutzen rein fachlicher Expositionen auf präventive Maßnahmen oder auf das Verständnis ärztlicher Kunst. Fachartikel und Sachartikel gehören im 18. Jahrhundert unterschiedlichen Werken an, den Fachenzyklopädien auf der einen und den allgemeinen Enzyklopädien auf der anderen Seite. Im Falle der Medizin nehmen in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwei prominente Werke eben diese Positionen ein, der zuerst englisch publizierte Medical Dictionary von Robert James einerseits und die französische Encyclopédie andererseits. Die mehrbändige medizinische Fachenzyklopädie von James aus den frühen 1740er Jahren wurde zwischen 1746 und 1748 als Dictionnaire universel de médecine auch in die französische Sprache übersetzt, was den Vergleich erleichtert. Übrigens war Denis Diderot an der Übersetzung von James beteiligt, dessen französische Ausgabe fünf Jahre vor dem Beginn der großen allgemeinen Encyclopédie in sechs Bänden abgeschlossen vorlag.408 408 James (1743); James (1746).
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In der Einleitung („Avertissement de l’editeur“) zum französischen James verkündete der Hauptherausgeber Julien Busson, Mitglied der Pariser Medizinischen Fakultät, das Lexikon sei für solche Leute verfasst, die Hilfe brauchten, wenn der Arzt nicht gleich kommen könne. Nun sind sechs Bände kein rasch zu konsultierendes Erste-Hilfe-Brevier, aber die Absicht der französischen Fassung geht eben darauf: ein Buch der Hausmedizin, das sich der Vermittlung fachspezifischer Kenntnisse widmet und daher nicht zunächst den Arzt als Adressaten hat. Dieser Anspruch begründet zugleich, warum der Vorgang einer Erneuerung des ärztlichen Ratschlags für Laien [„réformer la Medecine domestique“, S. 1] so ausführlich geraten ist: Endlich habe man ausreichend Platz, schreibt Busson, um die Rezepte und andere Anweisungen ausführlich und mit hinreichender Genauigkeit zu geben. Das enzyklopädische Schreiben soll sich hier also an den Patienten richten, auch wenn es aus ärztlicher Perspektive geschrieben ist. Busson qualifiziert in der Einleitung die Motive des englischen Autors wie folgt: „Es gehörte bei der Abfassung dieses Werks zu den vornehmsten Absichten des Herrn James, die nötigen Kenntnisse zu verbreiten und die Praxis zu verbessern.“409 Das Ziel des Werks im engeren Sinn sei neu und Vorläufer im eigentlichen Sinne gebe es nicht, heißt es auf der zweiten Seite der Einleitung. Man wolle hier endlich mehreres zusammenbringen: klare Definitionen geben („des définitions claires & précises de l´Art“), die Krankheiten benennen („nommer les maladies“), den menschlichen Körper beschreiben („décrire avec exactitude le corps humain“) und auch über die Entdeckungen der berühmtesten Mediziner berichten. Der Anspruch auf Übersetzung der Fachsprache für medizinische Laien wird in der Einleitung durch das Versprechen erweitert, zu Anfang jedes Artikels den Namen der Krankheit nebst Erklärung der Wirkung von Medikamenten und deren vollständigen Katalog zu geben, unter Einschluss der Chemie und der Alchemie (S. 3). Die Diagnose der Krankheiten geschieht aufgrund ihrer Symptome, daran anschließend wird jeweils Prognostik und Therapeutik behandelt, belegt mit Beispielen aus der Literatur (S. 4). Die Chirurgie wird im Übrigen als Teil als der Medizin angesehen. In der Tat entstammen die meisten der in den sechs Bänden zugefügten Tafeln der chirurgischen Literatur (S. 5). Die Anlehnung an 409 James (1746), S. 1: «Le dessein de répandre les connoissances nécessaires & et de corriger la pratique, a tenu le premier rang parmi les motifs qui ont engagé M. James à entreprendre cet Ouvrage.»
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solche Traditionen wird durch die Angabe von Autoritäten ergänzt, vom antiken Arzt Hippokrates bis zum Entdecker des Blutkreislaufs Harvey (S. 6). In der verbesserten französischen medizinischen Enzyklopädie beugt sich also der Arzt aus dem Fenster seines Konsultationszimmers und benutzt das gedruckte Buch zur Weitergabe seiner Kenntnisse in praktischer, anwendungsbetonter Absicht. So weit die ersten Ankündigungen der Einleitung. Der ursprüngliche Verfasser Robert James wird in der französischen Ausgabe allerdings nicht unverändert wiedergegeben, vielmehr ist sein Text in der Übersetzung an vielen Stellen überformt und anwendungsfreundlicher umgeschrieben. Veränderungen zum englischen Original werden nur dann dem französischen Leser angezeigt, wenn es sich um größere Zusätze oder um neu eingefügte Artikel handelt, markiert durch einen Asterisk (*) (S. 7). Diese Veränderungen und Erweiterungen der medizinische Fachenzyklopädie in der Übersetzung dienen nach Auskunft von Busson nicht größerer Gelehrsamkeit, sondern stärkerer Vereinfachung, denn: „ein Lexikon wird für jedermann gemacht“ [„un dictionnaire étant fait pour tout le monde“] (S. 8). Abschließend warnt der Einleitungstext (S. 10): „Ich kann nicht genug betonen, dass man sich sehr in der Annahme täuscht, dieses Lexikon lasse einen zum Arzt werden. Es enthüllt die Gaukeleien der Scharlatane, es schützt die Kranken vor einer Heerschar an Pfuschern, denen sie zum Opfer fallen, nachdem sie betrogen wurden. Es unterrichtet diejenigen, die entfernt vom nächsten Arzt leben, sich bei den ersten Anzeichen einer Krankheit so zu verhalten, dass die erwarteten Hilfeleistungen nicht vergeblich sein werden. Das genügt, wie ich glaube, dieses Werk den Lesern wertvoll und interessant zu machen.“410 Kein Lehrbuch also, wohl aber ein Werk der medizinischen Fachkritik; kein Ersatz für die Behandlung durch den Arzt, wohl aber eine Handreichung für Erkrankte. 410 Ebd., S. 10: «Mais une chose que je ne peux trop dire, c´est qu´on se tromperait très-fort en croyant que ce Dictionnaire suffise pour devenir Medecin. Il dévoile les impostures de la charlatanerie; il garantira les malades d´une infinité des Fourbes dont ils deviennt les victimes, après en avoir été les dupes. Il instruira ceux qui vivent loin des Medecins, à ses conduire dans les premieres attaques d´une malaide, de maniere que les secours qu´ils auront attendus ne leur seront pas devenus inutiles. C´en est bien assez, à ce que je crois, pour le rendre précieux & intéressant au Public.»
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Ein Werk für das allgemeine Publikum: Das jedenfalls sagt die Einleitung, und soweit reicht die Ideologie der Anwendung und Brauchbarkeit, die Busson ersichtlich auch aus Werbezwecken bemüht. Es folgt auf die Verbeugung vor dem Leser gleich im ersten Band des Werkes eine Belehrung in Form einer Abhandlung über die Entwicklung der Medizin auf knapp 150 Seiten (Discours historique sur l´origine et les progrès de la medecine). Der Rest des Bandes ist wie alle anderen gegliedert in Abschnitte des Alphabets.411 Zu jedem Band gehören jeweils abschließend Erklärungen der beigefügten Stiche; der letzte Band enthält überdies auf knapp 600 Spalten ein Register („Table des matieres“, Spalten 1137–1712, wobei die Stichwörter mit Kurztexten erläutert werden), womit die insgesamt ca. 4.500 Artikel des Werks auf etwa eben so vielen Seiten durch Haupt- und Nebenstichwörter erschlossen werden. Nun sind bei dieser medizinischen Enzyklopädie alle Lemmata lateinisch, was den fachlichen Anspruch unterstreicht. Nur das Register im letzten Band enthält auch französische Stichwörter und kann die französischsprachigen Laien orientieren. Die Übersetzungsarbeit hat damit den Gesichtspunkt des Laien vor allem im Index umgesetzt, um die Terminologie der Enzyklopädie selbst nicht zu verändern. Dass das Werk entgegen den Ankündigungen des Vorworts vor allem Expertenwissen darstellt, kann man auch einer Eingangsbemerkung des Herausgebers zu Band 3 („Avertissement de l’editeur“) entnehmen, worin dieser das Werk gegen den Vorwurf der falschen Dosisangabe bei einem Mittel gegen Magenkrankheiten im Artikel >Alvus< verteidigt. Stellvertretend wird der Autor (James) von Busson gegen Vorwürfe in Schutz genommen, er müsse für alle angeführten Meinungen einstehen. Im Gegenzug folgt der Hinweis, dass eine Enzyklopädie nur die bestmögliche Darstellung, keine Wahrheit geben könne. Diese Zurückweisung von Kritik ist wiederum ein Zeichen für den Charakter des enzyklopädischen Werks als Fachenzyklopädie – trotz aller Beteuerungen des Gegenteils. Zumindest wird eine Spannung sichtbar zwischen dem Anspruch allgemeiner Nützlichkeit und professioneller Erwartung an Verlässlichkeit. Die Artikel des Dictionnaire universel de médecine sind übersichtlich gedruckt und sehr stark im Satz gegliedert: Es gibt kaum spaltenlange Absätze, vielmehr 411 James (1746), Bd. 1: >A< – >Angiglossi< auf 1392 Spalten, Bd. 2: >Angina< – >Carcinoma< auf 1660 Spalten, Bd. 3: >Cardamine< – >Fyada< auf 1676 Spalten, Bd. 4: >Gabal< – >Oculista< auf 1674 Spalten, Bd. 5: >Oculus< – >Sudamina< auf 1706 Spalten, Bd. 6: >Sudor< – >Zathos< auf 1128 Spalten.
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skandieren Zwischenüberschriften und Einrückungen das Lesen; Aufzählungen werden mit unterschiedlicher Hervorhebung gegeben, Absätze mit unterschiedlichen Abständen gestaltet. Eingeleitet werden die Artikel immer durch den lateinischen Ausdruck (in Versalien), gefolgt vom französischen Ausdruck (kursiv). Neben den Artikeln gibt es auch Verweisungen (meist einzeilig). Im Text finden sich oft keine oder nur summarische Literaturverweise, lediglich bei den Rezepturen sind genaue Nachweise mit Seitenzahlen häufig. Der durch die genannten Merkmale betonte Stil der mit Autorität vorgetragenen wissenschaftlichen Meinung wird durch das im Text durchgängig verwendete Pronomen „Ich“ verstärkt: Hier spricht ein englischer Meisterheiler mit französischer Zunge. Das durch die Lemmata erschlossene Vokabular benennt in der Hauptsache Krankheiten, Substanzen, Operationen und Körperteile. Krankheiten bzw. Symptome sind beispielsweise >Catalepsis< (Bd. 3, Sp. 93–104), >Cephalalgia< [Kopfkrankheiten] (Bd. 3, Sp. 254–272), >Coma< (Bd. 3, Sp. 709 f.), >Dysenteria< (Bd. 3, Sp. 1188–1217), >Rachitis< (Bd. 5, Sp. 1025–1032), >Tertiana febris, fievre tierce< (Bd. 6, Sp. 187–200), >Tholeros [...] une respiration trouble< (Bd. 6, Sp. 281–282). Diese Artikel sind meist gegliedert durch mehrere „Observations“ mit eigenen oder fremden Diagnosen, sowie mit Rezepturen: „Prenez [...]“, d.h. „Man nehme ...“. Durch Artikel behandelte Substanzen sind etwa >Agaty, Galega affinis< [ein Baum] (Bd. 1, Sp. 527), >Ternatea< [eine Pflanze] (Bd. 6, 179), >Terra< [Erde] (Bd. 6, Sp. 180–187) oder >Vanilia< (Bd. 6, Sp. 496f.). Beispiel für die eigenständige Behandlung einer Operation ist der Kaiserschnitt (>Caesarea sectioBilis, bileThorax, la poitrinevertebrales musculi, muscles vértebrauxAlimens< [Nahrungs- und Heilmittel] (Bd. 1, Sp. 734–793), >Amputatio< (Bd. 1, Sp. 1070–1110), >Chirurgia, chirurgie< (Bd. 3, Sp. 443–477, davon Sp. 444– 477 Bibliographie), sowie Fachwörtererklärungen wie >Ager chymicus< (Bd. 1, Sp. 528) oder >Aggregatum< (Bd. 1, Sp. 530). Die Namen von Ärzten oder Autoritäten erscheinen häufig und immer dann, wenn deren Methoden oder Mittel referiert werden. Die Hauptartikel über Ärzte sind eher kurz, mit Ausnahme etwa von >Galenus, Galen< und >Hippocrates, Hippocrate< (in Bd. 4, Sp. 8–13 bzw. Sp. 312–316).
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Der durch die alphabetische Anordnung erschlossene Raum des medizinischen Wissens ist also eher topographisch beschrieben, durch Begriffe und Namen, welche die Sprache des behandelnden Arztes bestimmen: Krankheiten und Mittel müssen benannt werden, Autoritäten gekannt sein. Es gibt keine erkennbare systematische Ordnung, weder in den Artikeln selbst angedeutet, noch im Register, und auch die Verweisungen sind pragmatisch ausgerichtet und dienen nicht der Strukturierung. Das spezifische Spiel dieser Enzyklopädie zwischen Expertenwissen und Laienkultur kann am Beispiel der Behandlung des Aderlasses illustriert werden; hier ergibt sich dann auch der Vergleichsgesichtspunkt mit den allgemeinen Enzyklopädien. Der geläufige französische Ausdruck für Aderlass ist >SaignéeSaignée< (Bd. 6, Sp. 1633), das jedoch nicht auf einen einzigen Artikel verweist. Vielmehr werden in den insgesamt ca. 25 Zeilen des Registereintrags auf die Artikel >Phlébotomie< [Venenschnitt] (Bd. 5, Sp. 508– 1026), >Oeil< [Auge] (Bd. 5, Sp. 23) und >Artériotomie< [Arterienschnitt] (Bd. 2, Sp. 464–468) verwiesen. Das französische >Saignée< wird durch diese Verweisungen als umgangssprachliche Zusammenfassung mehrerer ärztlicher Sachverhalte gekennzeichnet. Die sprachliche Operation des Registers führt den Leser von einem Begriff, dem kein lateinischer Ausdruck eindeutig entspricht, zu drei Begriffen, die latein-fachsprachlich konnotiert sind und denen deswegen auch jeweils ein Artikel in der Enzyklopädie gewidmet ist. (Man kann sich eine ähnliche Operation im deutschsprachigen Raum vorstellen, denn der hier gebräuchliche Begriff >Aderlass< ist ebenfalls medizinisch eigentlich falsch, weil vom Arzt nur ganz ausnahmsweise die Ader zur kontrollierten Blutung geöffnet wird, im Normalfall die Vene.) Wenn sich der Leser im Register weiter umtut und etwa zur Kontrolle des unter >Saignée< Mitgeteilten die Registereinträge über >Phlébotomie< (Bd. 6, Sp. 1588 f.) oder >Artériotomie< (Bd.6, Sp. 1215) anschaut, wird er feststellen, dass die dazu gehörigen Artikel (Bd. 5, Sp. 508–536 bzw. Bd. 2, Sp. 463–470) ohne irgendeine Verweisung referieren und jedenfalls nicht auf >Saignée< verweisen. Das Register hat demnach nur die Funktion, einerseits die ungenaue volkssprachliche Terminologie durch Verweisung aufzudecken, andererseits den genauen Wortgebrauch zu indexieren. Andere Verweisungen gibt es nicht. Das Register hat damit nicht die Aufgabe, ein Begriffsfeld zu umschreiben oder systematische Zusammenhänge anzudeuten, nicht einmal den, dass die einzige Ader, die der Arzt
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tatsächlich gelegentlich öffnet, sich am Auge befindet (Richtung Nase), weswegen ja unter >Saignée< auch auf >Oeil< verwiesen wird. Aufschlussreich ist ein Vergleich der auf den Aderlass bezüglichen Artikel dieser medizinischen Enzyklopädie zu den wenige Jahre später redigierten entsprechenden Artikeln der Encyclopédie. Im ‚französischen James‘ ist der Artikel über Einschnitte in die Ader (>Arteriotomia, artériotomie< in Bd. 2, Sp. 464–468), in 20 unterschiedlich lange Absätze unterteilt, von denen die ersten 7 Absätze (oder 2 von 6 Spalten) diese Praxis als ein bei Operationen eintretendes Unglück behandeln. Die folgenden Absätze beschreiben den Aderlass historisch (bei den Ägyptern, Galen etc.) als Mittel der Heilung und der Vorbeugung, ausgeführt meist am Kopf, weil überall sonst das Blut nicht mehr zu stillen ist. Es wird dabei nicht auf andere Lemmata verwiesen; Verweisungen eingangs und gelegentlich im Text gehen auf Autoritäten (Oribasius, Paulus Aegineta, Prospero Alpino, Lorenz Heister). Es ist also ganz und gar die Perspektive des Arztes, die eingenommen wird. Im Unterschied zur Fachenzyklopädie und ihrer strikt professionellen Terminologie hat die Encyclopédie einen Artikel >Aderlass< (Saignée), der von Antoine Louis geschrieben ist412, einem Arzt, dessen ca. 100 sonstige Einträge vor allem die Chirurgie betreffen. Louis war ständiger Sekretär der Académie royale de chirurgie und hat seine gesammelten Enzyklopädie-Artikel in einem Dictionnaire de chirurgie 1772 separat veröffentlicht.413 Übrigens ist auch der spätere Artikel über >Aderlass< (Saignée) in der Encyclopédie d’Yverdon (1770–1780) von einem Experten verfasst, nämlich vom Pariser Arzt Antoine Portal, der allerdings ausdrücklich nur für Kollegen schreiben will.414 Das ist in der Encyclopédie grundsätzlich anders. Schon ihr etwas über eine Spalte langer Artikel >Artériotomie< (Bd. 1, S. 720 f.) nimmt den Patientengesichtspunkt ein und handelt dezidiert allein von der entsprechenden Behandlungsmethode, also vom Aderlass am Kopf. Zugleich wird das Feld des Wissens offengehalten und auf andere Artikel verwiesen, wie >Artère< (Bd. 1, S. 719 f. [= 2,5 Spalten] oder >Phlébotomie, Aneurysme< (Bd. 1, S. 454–457 [= 7,5 Spalten]). Erst im letzten Drittel geht der Autor des Encyclopédie-Artikels auf den beruflichen Kontext ein und spricht vom ärztlichen Fehler, wenn der Chirurg die Arterien versehentlich verletzt (blessure des artères); naheliegend wird dabei auf den Artikel >Hemorrhagie< in Bd. 4 verwiesen. Außerdem gibt es einen Hinweis auf eine Abbildung (Fig. 3 in 412 Vgl. Astruc (1951), S. 364. 413 Laignel-Lavastine (1951), S. 356. 414 Félice (1770); Hardesty (1994a), S. 96 f.
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Tafel 27) unter Chirurgie, wo man einen Schnitt hinter dem Ohr sehen kann, wobei der Kopf in seitlicher Ansicht kreuzweise verbunden erscheint. Ein solches Bild findet sich beim französischen James nicht. Nimmt man also die in der Encyclopédie gegebene Verweisungen zusammen mit der deutlich privilegierten Perspektive des Kranken, nicht des Arztes, so wird erkennbar, wie man einen medizinischen Artikel tatsächlich am Körper des Leser ausrichten kann, nicht am Körper als Gegenstand des Arztes. Auch mit ihrem Artikel über Blutungen (>HemorrhagieHaemorrhagia, hémorrhagie< (Bd. 4, Sp. 181–195) nur Informationen über die spontane Blutung (sowohl als Krankheit wie als Mittel der Gesundung), bringt diese aber in keiner Weise mit Aderlässen in Verbindung. Der Artikel >Phlebotomia, [...] phlébotomie< im französischen James (Bd. 5, Sp. 508–537) thematisiert die heilsamen Wirkungen dieser Behandlungsmethode und ergeht sich in einem beständigen Abwägen des Für und Wider: „Der Aderlass ist keineswegs gefährlich“ („La saignée n’est point pernicieuse [...]“, Sp. 513) bzw. „Der Aderlass ist nicht ohne Gefahren“ („La saignée n’est point sans danger [...]“, Sp. 514). Für verschiedene Zwecke und Krankheiten wird der Aderlass ganz nach den alten Rezepten nach Körperzonen unterschieden (Sp. 528 ff.): Arm, Hand, Fuß, Kopf, Auge werden als Orte des Einschnitts nacheinander behandelt. Auch wenn im 18. Jahrhundert der Blutkreislauf entdeckt war und man wusste, dass es nicht verschiedenes Blut war, das sich an verschiedenen Stellen abzapfen ließ, war die Tradition der ärztlichen Ratgeber so voll mit diesen Hinweisen, dass sie hier offenbar nicht unterdrückt werden konnten. In der Encyclopédie dagegen findet sich im Artikel >Phlébotomie< (Bd. 12 (1765), S. 517 f. [= 1,5 Spalten]) davon nichts: Ohne jeden technischen Hinweis schildert der Text allgemein die Gründe und Absichten der Methode und verweist auf eine Reihe anderer Begriffe wie >SangPoulsCoeurArtèreÉvacuationDérivation< und nicht zuletzt: >SaignéeSaignée< in: Encyclopédie Bd. 14 (1765), S. 501–516), beginnt mit Verweisungen auf Arterien- und Venenschnitt, setzt aber dann zu einer Geschichte der medizinischen Ansichten und Praktiken seit der Antike an, um auf S. 506 zu schließen, dass nur durch die relativ breite Schilderung die permanenten Widersprüche der Ärzte untereinander in Bezug auf die Nützlichkeit des Aderlasses verständlich würden:
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„Wir sind historisch so ausführlich geworden, weil wir uns damit das langweilige Zitieren ersparen; da die Ärzte sich im ewigen Widerspruch untereinander befinden [...], beanspruchen wir die Ehre, jedwedes Vorurteil abzuschütteln [...].“415 Der Artikel der Encyclopédie führt ab S. 509 eine Binnengliederung des Textes mit kursiv gesetzten Absatzanfängen ein: Man fragt nach dem Nutzen („Usage de la saignée“) und bei welchen Krankheiten Aderlass angezeigt sei, man spezifiziert die Symptome (S. 510: „Indications de la saignée“), die bei vielen, aber nicht bei allen Fiebern (inflammations) Aderlass nötig machen, und problematisiert auch die Grenzen (S. 512: „Contre-indication de la saignée“), denn bei geschwächtem Zustand dürfe man niemanden zur Ader lassen. Statt der alten Lehre verschiedener Einschnittstellen wird der beste Zeitpunkt erörtert (S. 513: „Tems de faire la saignée“), die beste Einstichstelle (S. 513: „Choix du vaisseau“), die Menge des Blutes (S. 514: „Quantité du sang“) und die Menge der Aderlässe (S. 514: „Nombre des saignées“). Ab S. 514 beginnt im Artikel >Saignée< der Encyclopédie ein neuer und thematisch abgesetzter Text. Unter der Zwischenüberschrift „Saignée, terme de chirurgie“ wird die technische Handhabung des Aderlasses durch einen geschickten Chirurgen behandelt. Damit ordnen die Einträge zum Aderlass in der Encyclopédie die Sache je nach Gesichtspunkt. Die Perspektive des interessierten Laien und betroffenen Patienten wird getrennt gehalten von der ärztlichen Kunst und ihren Problemen. Wirft man einen Blick auf das ab 1732 in Leipzig verlegte Universal-Lexicon von Johann Heinrich Zedler, findet man dort ebenfalls prominent den pragmatischen Gesichtspunkt, den die französischen Aufklärer in ihren medizinischen Artikeln artikulieren. In dem zwanzig Jahre vor der Encyclopédie erschienenen deutschen Artikel >Aderlass< des Universal-Lexicon (UL 1: 496 f.) wird die Praxis der Reinigung des Blutes durch gezieltes Abzapfen geschildert und die Geschichte des Aderlassens nacherzählt. Der Autor des Artikels beschreibt die alte medizinische Praxis der Zuordnung von Körperstellen und Krankheitssymptomen und bekennt anschließend, dass man seit der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey wisse, dass es immer dasselbe Blut sei, das man abzapfe. Überraschenderweise ver415 Encyclopédie (1751), Bd. 14, S. 506: «Le long détail historique que nous avons donné, nous dispense de l’ennui des citations; après avoir vu les Médecins perpétuellement en contradiction entr’eux, ou avec eux-mêmes [...] nous faisons glire de secouer à cet égard tout préjugé [...]».
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weist der Artikelautor dann auf eine direkte Konsequenz, dass man nämlich nun den Ort des Aderlasses dort suchen könne, wo es am wenigsten Komplikationen für den Patienten gebe. Wenn das alte Wissen von der notwendigen Beziehung zwischen Blutzapfstelle und Krankheit nicht mehr gilt, ist der Arzt freier in seinem Tun. Man könne deshalb auch, – „dem gemeinen Mann zu gefallen und damit sie ihr Vertrauen auf den Aderlass nicht gantz und gar verwerffen“ (UL 1: 494) den Patientenwunsch nach der alten Methode respektieren. Mit dieser Insistenz darauf, dass dem Patienten auch dort Recht gegeben werde solle, wo medizinisch keine Indikation vorliegt, wohl aber Vertrauen in die Therapie gewonnen werden könne, geht die deutsche Allgemein-Enzyklopädie weiter als ihr französisches Äquivalent. Das Universal-Lexicon predigt nicht die medizinische Erkenntnis, sondern das für die Heilung nützliche Wissen. Ärzte sollen die Vorurteile ihrer Patienten nutzen, wenn es der Heilung förderlich ist. Dies ist ein gänzlich therapeutischer Gesichtspunkt. Man findet im Übrigen auch in anderen Artikeln des Universal-Lexicon eine starke Orientierung an der Praktikabilität des medizinischen Wissens, etwa bei Rezepturen für die Herstellung von Salben oder Pflastern. Die Erläuterungen setzen zwar den Laien nicht immer in die Lage, selbst zur Anwendung zu schreiten, zumindest aber geben sie ihm ein genaues Wissen und stärken damit das Vertrauen in die ärztliche Behandlung insgesamt.416 Sowohl im deutschen Universal-Lexicon wie in der französischen Encyclopédie müsste man mehrere tausend Artikel zur Medizin analysieren, um die Hypothese zu bewähren, Laieninteressen würden in diesen Allgemein-Enzyklopädien das Expertenwissen modifizieren. Immerhin kann man den angeführten Beispielen entnehmen, dass es keine einfache Redaktion darstellt, aus medizinischen Fachenzyklopädien (wie demjenigen von James) Artikel für allgemeine Enzyklopädien herzustellen. Wenn die Vermittlung des Wissens selber zum Anliegen des enzyklopädischen Schreibens wird, muss oft die gesamte Perspektivierung des Sachwissens auf den Kopf gestellt werden. Die Redaktion medizinischer Fachartikel durch die (französischen wie deutschen) Enzyklopädisten ist weit mehr als eine sprachliche Übersetzung der Terminologie oder eine bloße Umgewichtung der Aspekte, es ist ein komplettes Umschreiben im Sinne der Neuorientierung des medizinischen Wissens am Körper des Lesers. Was die eigentliche Leistung der Encyclopédie wie des Universal-Lexicon ausmacht, kann man vielleicht die Transformation des Dialogs nennen, in den der 416 Vgl. Schneider (2007b).
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wissenwollende Zeitgenosse eintritt, wenn er einen Artikel liest. Er spricht nicht mehr mit dem Arzt, sondern gewissermaßen mit sich selbst, wenn er über medizinische Sachverhalte – Krankheiten, Heilmittel, Therapien – unterrichtet wird. Sein Körper ist das Problemfeld, und das reale wie potenzielle Handeln des Arztes daran wird nicht gerechtfertigt, sondern erklärt: Aderlass wird ihm als Operation zur Verbesserung des Gesundheitszustandes dargelegt, nicht zuerst und vor allem als operative Technik. Beim Lesen in einer Enzyklopädie beschäftigt sich der Zeitgenosse des Aufklärungszeitalters mit sich selbst, seinem Körper und dessen Unzulänglichkeiten, während er im medizinischen Fachbuch eine ihm fremde Rede des Spezialisten mit kompliziertem Vokabular und gelehrtem Ballast zu hören kriegt. Dabei kann man den Unterschied zwischen der Encyclopédie und dem UniversalLexicon vernachlässigen, auch wenn die französische Enzyklopädie rationaler und die deutsche pragmatischer argumentiert. Für den Herausgeber Diderot war die Herausstellung der Medizin als Wissenschaft wichtig, für den Verleger Zedler und seinen (vermutlich für die meisten medizinischen Artikel verantwortlichen) Autor Winckler, einen Leipziger Stadtarzt417, eher die therapeutische Instruktion des Lesepublikums. Beide Unternehmungen artikulieren eine unterschiedliche Adressierung des Lesers, was auch impliziert, dass die französischen Artikel präziser und sprachlich sauberer verfasst sind als die deutschen, die nicht selten eine nur kommentierende und kompilierende Form haben. Worauf sie beide zielen, ist die Konstruktion eines allgemeinen Wissens, das keine Fachsprache mehr in Anspruch nimmt. So schlägt die ärztliche Haltung der Enzyklopädisten rhetorisch und strategisch auf die Politik der Wissensvermittlung durch. Der Leser wird nicht nur als verstehender Intellekt, sondern als sich selbst diagnostizierender und behandelnder Körper angesprochen, nicht mehr nur als Untersuchungsobjekt ärztlichen Wissens. Auch im Medizinischen soll der Mensch Hand an sich legen, um gegen falsche Autoritäten und Vorurteile die eigene Erfahrung und das eigene Denken aufzubieten.
417 S. o. S. 94.
11. Die Nase in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts
Heutige Leser der französischen Encyclopédie werden beim Artikel ‚Nase‘ (frz. >neznezneutraliténidnevritiquesniaisBinden der Nase< wird mit Detailfreude und Sachkunde erläutert, wie eine gebrochene Nase verbunden werden kann, etwa durch eine „Zirckel-Umwicklung“: „diese nimmt in dem Nacken ihren Anfang, und steiget schreg an der einen Seite der Nase herunter, welche (Nase nemlich) sie umwickelt, und nachdem sie die erste Umwicklung auf dem Rücken der Nase creutzweiß durchschnitten, kommt sie zu dem Wirbel, alldar zerschneidet sie sich wieder, und gehet unter dem Ohre wieder zur Nasen-Kuppe, von dar zu dem Nacken, und über den Schlaff zu dem Rücken der Nase, alsdenn gehet sie über den andern Schlaff wieder zu dem Nacken, da sie denn unter gegenüber gelegenen Ohre vorläuffet, den Schlaff hinauf steiget, und über den Wirbel und den andern Schlaff, unter dem Ohre wieder zu dem Nacken kommt, da sie sich endlich durch eine Zirckel-Umwicklung endiget.“ (UL 3: 1873) Solche Texte sind Prosa eines Hausarztes, der das Lexikon zum Selbsthilfebuch macht, wie etwa Heinrich Winckler, Leipziger Stadtarzt, der die meisten medizinischen Texte im Universal-Lexicon verfasst haben soll.426 Und einen stadtärztlich-praktischen Verstand verraten die Texte durchaus: Sie sind mit Blick auf die Praxis geschrieben und aus der Erfahrung vieler alltäglicher Operationen heraus reflektiert. Es werden Salben beschrieben und dafür die Zutaten angegeben, es wird empfohlen, was bei entzündeten und was bei erfrorenen Nasen zu tun sei, und dann wird auch berichtet, was der italienische Arzt Gasparo Tagliacozzi (1546–1599) für Pionierleistungen in der Nasenchirurgie vollbracht habe. Tagliacozzi ist berühmt geworden mit Techniken, aus anderen Teilen des Gesichts (Wange, Stirn) oder des eigenen Körpers (Arm, Gesäß) fehlende oder verlorene Nasen zu ersetzen. Die plastische Chirurgie war damals voll entwickelt und traf besonders bei Nasenverstümmelungen wohl auf ein großes Interesse: Geschwüre und Entzündungen, Pocken, Kriegseinwirkungen und eine gelegentlich noch praktizierte 426 S. o. S. 94.
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körperliche Kriminalstrafe des Abhackens von Nasen und Ohren führten dazu, dass ein Arzt „anstatt der natürlichen eine andere Nase, wo es nur immer seyn kan, ansetzen und anmachen muss“. Mit Befremden zitierte man Berichte, dass in früheren Gesellschaften fehlende herrschaftliche Nasen durch Sklavennasen ersetzt wurden. Die Rhinoplastik des 18. Jahrhunderts experimentierte lieber mit Transplantationen, etwa wie folgt: Man drückt den Arm des Patienten auf sein Gesicht, ritzt das Gesicht an der Stelle, wo die Nase hin soll, „und öffnet die Haut gleichfalls an dem Orte, der auf die Nase passet, soviel es das verlohrne Stück erfordert, mit einem Messerlein, drücket und bindet hernach das Haupt und den Arm wohl zusammen, und lässet solches vier Wochen unbeweglich stille liegen: denn binnen der Zeit pfleget das Fleisch des Armes und der Nase sich miteinander zu vereinigen und anzuheilen; Hierauf schneidet man so viel nöthig das Fleisch heraus und formiret es über eine gemachte und eingeschobene subtile Forme, soviel die Kunst zulassen will, zu einer andern Nase.“ (UL 23: 728) Diese wochenlange Prozedur wurde allerdings von Patienten wie Ärzten als sehr umständlich empfunden, auch wenn wohl gute Ergebnisse zu erzielen waren. Andere chirurgisch-plastische Verfahren, eine Nase aus Hautfalten zu bilden, schränkten die Nasenlosen in ihrer Bewegung weniger ein und wurden schnell beliebt. Enzyklopädien berichteten über solche Themen, und gelegentlich versank die Beschreibung der ärztlichen Operation ganz im Detail. Ob man daraus schließen muss, dass die Leser des Lexikons selber zum Messer greifen sollten? Wahrscheinlicher ist, dass viele Leser ihre Nase deswegen so tief ins Lexikon steckten, weil sie angenehm schaudernd sich darüber freuen konnten, welche Qualen ihnen erspart blieben. Die wohl oft geübte, aber eben auch oft beschriebene chirurgische Kunst der anaplastischen Nasennachbildung belehrt darüber, welch große Anstrengungen im 18. Jahrhundert dem Unternehmen galten, eine Nase neu zu bilden. Die Wiederherstellung von Funktionen wie Atmen oder Weinen waren dabei nicht die ausschlaggebenden Motive. Vielmehr war die Nase ein sozialer Magnet, mit dem man andere an sich ziehen konnte. Oder andersherum: Keine Nase zu haben, schreckte ab. Tycho Brahe übrigens soll diesen Effekt des nasenlosen Erschreckens gelegentlich genutzt haben, wenn er alleine forschen wollte: Er nahm einfach seine Prothese ab und konnte damit rechnen, seine Besucher damit zu vertreiben.427 427 Brockhaus (1809), Bd. 1, S. 258.
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Das konnte sich nicht jeder leisten. Und es gab andere, die selbst mit Nase den Kürzeren zogen und ohne Anerkennung blieben. Nase ist nicht gleich Nase, und die Physiologie dieses Organs erweitert sich leicht in eine größere Wissenswelt der Nasenvielfalt. Nase haben war nicht alles; Unterschiede zählten auch: „Der Wachsoldat sah dem Fremden ins Gesicht – nie in seinem Leben hatte er eine solche Nase gesehen! – Ich habe mit ihr schon sehr viel Glück gehabt, sagte der Fremde [...]“.428 Dass die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts im Wissen und Denken durchaus international war, schlug sich in den Lexika der Zeit nieder: Historische Lexika von Louis Moréri oder von Daniel Hofmann werteten europäische Quellen aus und öffneten den Blick über Ländergrenzen hinweg; andere, wie der französische Orientalist Herbelot, bezogen sich exklusiv auf arabische und persische Literatur und machten den Orient erfahrbar. Kaufmannslexika schließlich, von Savary bis Zincke, übten den globalen Blick und ließen keinen Ort unerwähnt, an dem Handel getrieben wurde und sich Menschen unterschiedlichster Herkunft begegneten.429 So war es niemals ein Geheimnis, dass es auf den verschiedenen Kontinenten auch verschiedene Nasen gab. Auch medizinische Artikel vermerkten die Variationen der Nasenform: spitz oder platt, gerade oder krumm, groß oder klein. Nicht selten wurden dabei schon Hinweise auf rassische Besonderheiten gegeben, etwa dass die Afrikaner meist große und angedrückte Nasen haben, oder dass ferne Kulturen die in Europa unbekannten und ungewollten Nasenformen durch Bandagen und andere mechanische Vorkehrungen bei kleinen Kindern förderten. Quer durch alle Artikelformen kamen die physiognomischen Interpretationen der Nasenform zur Sprache. Dass man an der Nase den Charakter erkennen könne, war wohl kaum angezweifelt, ebenso wenig ihre sozial-integrative Funktion. Laurence Sterne hat seinen Roman Tristram Shandy (1760–1767) um eine Figur herum aufgebaut, der die Geburtszange eine platte Nase gemacht hatte und für die diese Geschichte das eigentliche Geburtsereignis darstellt – eine verfehlte Identität. Und wahrscheinlich ist es beim Clown nicht zufällig die (künstliche rote) Nase, die ihn als Narren auszeichnet und seine Rolle als gesellschaftlichen Außenseiter unterstreicht. Nasen artikulierten Ordnungsmuster. Ein interessanter Fall ist Omai – eigentlich Mai – als ein von Europa sozusagen adoptierter Polynesier. Von James Cook auf seiner zweiten Reise in Tahiti an Bord 428 Sterne (1972), Buch IV. 429 Moréri (1674), 10 Auflagen bis 1759; Hofmann (1698); Herbelot (1687); Savary (1723), 6. Auflage in vier Bänden 1750; Zincke (1731).
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genommen, war der junge Mann zunächst als Mittler zwischen den Seeleuten und den Bewohnern der Südsee nützlich. Von Cooks Schiffen hieß eines „Abenteuer“ (Adventure), und dessen Kapitän nahm Omai bis nach London mit, wo er zwischen 1774 und 1776 als exotische Kuriosität gehandelt und angestaunt wurde. Mehrere Bilder wurden gemalt und in Kupferstichen weiterverbreitet, wobei die Darstellungen sowohl das Exotische betonten – die dunkle Haut, das krause Harr, die tuchartigen, locker übergeworfenen Gewänder – als auch das Gesittete, Eingebürgerte, Zivilisierte, was in den Berichten der Zeit durchgängige Erwähnung findet, etwa wenn man herausstreicht, wie vollkommen Omais Verbeugungen waren.430 Auf Gemälden und Stichen zeigt die Nase des jungen Mannes, welchen Grad an Assimilation man ihm zubilligte. Wenn die Porträts ihn als Fremden wiedergeben, ist sie breit und groß, wenn der edle Wilde exemplifiziert wird, eher wohlgeformt und gemäßigt. Wo Omai in ruhiger Pose und mit direktem Blick idealisiert erscheint – wie auf einem Stich von Caldwell nach einer Zeichnung von William Hodges –, ist sie weniger polynesisch breit, sondern schmaler und insgesamt unauffälliger. Die Porträtkunst des 18. Jahrhunderts hatte oft mit geschwollenen oder pokkenvernarbten Nasen zu tun – es waren schwierige Aufgaben für die Maler und Stecher, einen Mittelweg zwischen Wahrheitstreue und Bildkomposition zu finden. Meist entschied man sich für die weniger realistische Darstellung und schönte. So finden wir in den Galerien der Kunstmuseen die vielfältigen Entstellungen nicht, die uns aus anderen Zeugnissen verbürgt sind: Man nahm ganz einfach die Warzen und Geschwüre nicht wahr und auch keinerlei Narben, so wenig wie ausgefallene Zähne. Würden wir nicht in den Zeichnungen von William Hogarth gelegentlich die Knollennase eines Säufers gezeichnet finden, die Gefahr wäre groß, in den Bildern des 18. Jahrhunderts die physischen Nöte des Zeitalters zu verkennen. Will man tiefer in die Phänomenologie der Nase im 18. Jahrhundert eindringen, muss man allerdings eine breite Kenntnis der Kunst besitzen. Jemand, der hinter die fast überall durchgesetzte Idealisierung der Gesichtszüge schauen wollte, war Johann Georg Lavater, dessen „Physiognomik“ im Grunde einen Kommentar zu überlieferten Gesichtsdarstellungen gibt. Ausgehend von gesammelten Abbildungen des menschlichen Antlitzes – in Stein, Metall, Holz, auf Leinwand und auf Papier – hat der Schriftsteller und Prediger Thesen entwickelt, die zunächst eher flüchtig notiert wurden. Erst spätere Auflagen und Übersetzungen des Werks haben die Thesen Lavaters zu so etwas wie einer festen Theorie gefügt. In der 430 Vgl. zu Omai: Hackforth-Jones (2007), S. 45–55, mit vielen Abbildungen.
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ersten Auflage ist der Blick ins Gesicht noch sehr empirisch und seine Auswertung spekulativ, was auch die Passagen über die Nase verraten. Zwar behauptete Lavater, die Nase sei „die Wiederlage des Gehirns“ und führte aus: „Auf ihr scheint eigentlich alle Kraft des Stirngewölbes zu ruhen, das sonst in Mund und Wangen elend zusammenstürzen würde“431, er zeigte sich aber kaum an „schönen Nasen“ interessiert. Gerade weil er sagen konnte, sein „ganzes Werk“ sei „voll Beweise von der feinen und mannichfaltigen Bedeutsamkeit der menschlichen Nasen“, konnte er sich gleich anschließend für Nasen begeistern, „die man nicht schön, die man eher hässlich nennet“, und fordert dann: „Der Physiognomist wird sicherlich auf den ersten Blick bei Gesichtern mit solchen [d. h. hässlichen] Nasen verweilen, sich ihnen, wenn ihm Weisheit, Talente, Geistesgaben nicht gleichgültig sind, nähern, sich an sie schmiegen, und – ihr Hörer und Schüler werden[d] – wenigstens allemal ihr Bewunderer seyn.“432 Man mag zweifeln, ob große Männer – angefangen mit Sokrates – immer hässliche Nasen hatten und grundsätzlich haben müssen. Ein anderer Topos der Zeit setzt auf Analogie und fordert Symmetrie zwischen dem Überragenden und dem Herausragenden, wie etwa das Conversationslexicon 1809 im Artikel über >Karl den GroßenEncyclopédieEnzyklopädieAberglaube< bis >ZweifelRussland< in Zedlers Universal-Lexicon, in: Die Kenntnis Russlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert. Wissenschaft und Publizistik über das Russische Reich [= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 2], hg. v. Dittmar Dahlmann, Bonn 2006, S. 247–269. Schneider (2006c) Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der frühen Neuzeit, hg. v. Ulrich Johannes Schneider (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), Darmstadt 2006. Schneider (2006d) Ulrich Johannes Schneider: Bücher als Wissensmaschinen, in: Schneider (2006c), S. 9–20; auch in: Wissensformen, hg. v. Werner Oechslin, Zürich 2008, S. 244–253; englische Übersetzung als: Books as Knowledge Machines, in: Intellectual News 16 (2010), S. 48–54. Schneider (2007a) Ulrich Johannes Schneider: Anmerkungen zur Geschichte der Gelehrsamkeit, in: Grunert/Vollhardt (2007), S. 265–270.
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Danksagung und Texthinweise
Die Diskussion über das Thema dieses Buches habe ich mit vielen Menschen führen können und dabei gedankliche Anregungen erhalten, ohne die das Buch nicht hätte entstehen können. Ich danke insbesondere Mirjam Baumann, Anne Brennenstuhl, Ira Diedrich, Ute Frietsch, Christine Haug, Christian Heitzmann, Nico Dorn, Nikola Kaminski, Ulrich Kronauer, Mark Lehmstedt, Jeff Loveland, Jutta Nowosadtko, Lena Oetjens, Heiko Pollmeier, Nikola Roßbach, Frank Schulenburg, Steffen Siegel, Anja Timmermann, Matthias Weiß, Tobias Winnerling und Helmut Zedelmaier. Gefördert wurde meine Arbeit an Zedlers Universal-Lexicon durch ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (2004–2006), durch Véronique Muon und Joseph Hanimann, in deren Haus bei Paris 2009 die erste Fassung entstand, durch ein dreiwöchiges Forschungsstipendium am Deutschen Historischen Institut in Paris 2010, sowie durch Antonia Birnbaum und Michel Métayer, in deren Wohnung in Toulouse 2011 die letzte Fassung entstand. Ulrich Johannes Schneider Die meisten Kapitel dieses Buches beruhen teilweise auf bereits veröffentlichten Studien, die im Wortlaut oft stark verändert bzw. gekürzt integriert wurden. Leser mit vertieftem Interesse können die nachfolgend aufgeführten Aufsätze des Verfassers empfohlen werden: Kapitel Frühere, teilweise stark abweichende Textform 1 Schneider (2004a), Schneider (2006d), Schneider (2008a), Schneider (2008b) 2 Schneider (2012b) 3 Schneider (2004c) 4 Schneider (2007e) 5 Schneider (2006b)
6 Schneider (2004b), Schneider (2008e) 7 Schneider (2008d) 8 Schneider (2006a) 9, 10 Schneider (2004d), Schneider (2007b), Schneider (2008c) 11 Schneider (2007c) 12 Schneider (2007d)