125 35 31MB
German Pages 343 Year 1991
VOLKER ERB
Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht
Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 71
Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht Eine systematische Darstellung unter Berücksichtigung der entsprechenden zivilrechtlichen Fragestellung
Von
Dr. Volker Erb
Duncker & Humblot . Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Justus Krümpelmann, Mainz
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Erb, Volk er: Rechtmässiges AIternativverhaiten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht: eine systematische Darstellung unter Berücksichtigung der entsprechenden zivilrechtlichen Fragestellung / von Volker Erb. Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Strafrechtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 71) Zug!.: Mainz, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07179-4
NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07179-4
Meinen Eltern
Vorwort Die Arbeit wurde im Jahre 1990 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. Dr. Justus Krümpelmann, der das Thema der Arbeit angeregt und ihr Entstehen mit viel Verständnis gefördert hat. Ebenfalls herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Arndt Teichmann, der die zivilrechtliche Betreuung übernommen hat. Dank schulde ich ferner der Lang-Hinrichsen-Stiftung für ihre großzügige Förderung. Weiterhin bin ich Herrn Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder und dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der "Strafrechtlichen Abhandlungen" verpfliChtet. Mainz, Februar 1991
Volker Erb
Inhaltsverzeichnis AbkürzUDgliverzelchnis •
21
1. Abschnitt: Einleitung .
25
I.
Einführung . . . Radfahrer-Fall
25
2
Beschädigung eines Schiffes . . • . .
26
H.
Die Schwerpunkte der bisherigen Diskussion
26
III.
Ansätze einer rechtsgebietsübergreifenden Lösung .
27
IV.
Zur Methodik vorliegender Arbeit . . . • • . . . . . . . . • • . . .
28
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung . . . . A.
25
1.
Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
31 31
I.
"Kausalität der Pflichtwidrigkeit" . . . . . . . . . . . . . . . . • .
31
H.
Eignung des naturwissenschaftlichen Kausalbegriffs als Zurechnungskriterium im Recht . . . . . . . . . .
33
Das Kausalmodell von Puppe • • • • • • • • • • • • • • • • ••
34
a)
34
1.
2
Ausgangspunkt.....................
b)
Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung .
34
c)
Die Bestimmung des relevanten Erfolges . .
35
d)
Konsequenzen für die Betrachtung des rmAV
37
Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . .
39
a)
Zweckmäßigkeitserwägungen . . . . . . • . . • . . . . .
39
b)
Die Bewältigung der Reserveursachen-Problematik . . . .
41
aa)
Der Ausschluß der Kausalität durch Reserveursachen
41
bb)
Reserveursachen werden selbst für den Erfolg kausal
42
ce)
Das Erfordernis der "ganz konkreten" Betrachtung von Erfolg und Kausalverlauf . . . . . . . . . . . . . .
44
dd)
Kein Zirkelschluß durch "konkrete Betrachtung" des Geschebensablaufs. . . . • . . . . . . . . • . . •
47
10
Inhaltsverzeichnis
III.
B.
(1)
Puppes Einwand. • • •
47
(2)
Keine Kausalität des gesamten vorhergehenden Weltgeschehens • • • • • • • • • . •
48
(3)
Zulissigkeit der Konkretisierung auch des Kausalverlaufs • • • • • • • • • • • • • • •
50
(4)
Vorgabe der Wirklichkeit durch konkrete Gestalten?
51
Ergebnis; Übertragung der Konsequeozcn auf die zivilrechtliche Fragestel lung • • • • . . • . • . • . • • • • • • • • • • • • • • • •
53
Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache I.
Zivilrechtliche Rechtsprechung und literatur
55
Rechtsprechung. . • • • . . . • •
55
1.
11.
54
a)
Mietgelder-Fall- RG, Urt. v. 13.7.1933 - VIII 186/33
55
b)
Löschteich-Fall - OGH brit Zone, Urt. v. 20.1.1949 - 11 ZS 20/48
56
c)
Brandgassen-Fall- BGH, Urt. v. 19.4.1956 - III ZR UJ/55 • • •
57
d)
Inseratkosten-Fall - BAG, Urt. v. 18.121969 - 2 AZR S34n4 .
57
2
literatur.
58
3.
Kritiken.
59
4.
Stellungnahme
59
Strafrecht....
60
1.
2
Arthur Kaufmann: Entlastung durch Reserveursachen
60 60
a)
Der Ansatz • • • • • • • • • • • . • • •
b)
Die ablehnenden Stellungnahmen des Schrifttums . • . • • • .
61
c)
KaufmanDS Replik • . • • • • • . • • • • • . • • • • •.
62
d)
Stellungnahme.....................
63
Spendei: Die Unbeachtlichkeit des rmAV
6S
a)
Der Ansatz • • • • • • • • • •
65
b)
Befürworter......................
66
c)
Kritiken........................
66
Vergleichende Betrachtung • • • • • • • • • • • • • • • • • • . •
68
Rechtmäßiges Alternativverhalten als Frage des Rechtwidrigkeitszusammenhangs .
70
3. Abschnltt: Der Einfluß des rechtmäßigen AlternativverbaItens auf die Zurechnung des Erfolges • • • • • • • . . • • • . • • • • • • • • . • • • • . • • . .
72
Die Vermeidbarkeitsthcorie • • . • . • • • • • • . • • . . • • . • • .•
72
III.
c.
A.
Inhaltsverzeichnis
1.
Varianten und Begründungen 1.
2.
11.
1lI.
73
Strafrecht. • • . • .
73
a)
Kausalität der PfIichtwidrigkeit • • •
73
b)
Der "besondere Zusammenhang" • • . • • • • • • • . • • •
74
c)
Die Zweckverfeblung der Norm • • • • • • • • • • • . • . ,
76
d)
Die Ratio des Erfolgserfordernisses. . . . • • • • • . • • • •
Zivilrecht. . a)
3.
11
Überblick.......................
77 78 78
aa)
Gotzler...
80
bb)
EsserlSchmidt
81
ce)
Übrige Autoren • . . • . . • • • • • • • • • • • •.
81
b)
Der Standpunkt des BGH • • • • • . • . • . • • • . • • •
82
c)
Stellungnahme.....................
83
aa)
Parallelbegründungen zum Strafrecht • • . • • • • • • .
83
bb)
Der Scbadensausgleicbszweck des Zivilrechts
8S
ce)
Der Schutzbereich der Norm •
87
Zwischenbilanz • . • • • • • • • • •
90
Ergebnisbedingte Probleme der Vermeidbarkeitstheorie
90 90
1.
Darstellung. . • . • • • • • . • • • • • .
2.
Zivilrecht: Lösung des Problems minels Beweiserleichterungen
92
3.
Strafrecht: Keine Abhilfe möglich? . .
96
a)
Die unzulässige Beweislastumkebr
96
b)
Bedenkliche Tendenzen in der Rechtsprechung
97
c)
Die eingeschränkte Vermeidbarkeitstheorie nach Frisch .
99
aa)
Die Unbeachtlichkeit des Grundrisikos
99
bb)
Die geringfügige LebensverkUrzung .
101
Abgrenzbarkeit zu den eigentlichen Reserveursachen • • • . • • • •
102
1.
Der Schädiger konnte den Schaden selbst rechtmäßig herbeiführen
103
2.
Die "Gebotenbeit" des rmAV • • • • • • • • • • • • • •
105
3.
Die Abgrenzung nach Haftungsgrund, Haftungsausfüllung und Zeitmoment • . • . • . • • • • • • • • • • . • • . •
107
a)
Die Unterscheidung zwischen Haftungsgrund und Haftungsausfül lung • . • . • • . • . • . • • • • . • • . • • •
107
b)
Die Differenzierung nach Gotzler und das Eignungsprinzip
109
c)
Das Zeitmoment als der entscheidende Aspekt • • • • .
109
d)
Die Willkürlichkeit des Abstellens auf den Erfolgszeitpunkt • ••
111
aa)
111
Die geringfügigen Zeitunterschiede • • . • • • • • • ••
12
Inhaltsverzeichnis Die Zugrundelegung des exakten Zeitpunktes
112
Die Aufspaltung der Sorgfaltspflichten • . • • •
112
bb) e) 4.
IV. B.
Abgrenzungen nach der Rechtsprechung • • •
113
a)
Keine Gegenüberstellung der Fragenkreise
113
b)
Was darf "hinzugedacht" werden? • • • • • • • • . • • • •
114
c)
Die Bedeutung des fehlerhaften Opferverhaltens nach BGHSt 30, 228 ff.. • . • • • • • • • • • • • • • • • . . • • • •
115
5.
Die Bestimmung des "hinzuzudenkenden" AV nach dem neueren strafrechtlichen Schrifttum . • • • • . • • • • • • • . • • • • . •.
116
6.
Bilanz der Abgrenzungsversuche • • • • • • • • . • • . • • ••
118
Zusammenfassende Stellungnahme zur Vermeidbarkeitstheorie
Die Risikoerhöhungslehre • • • • . . . . • .'. • • • • • • • . • • ••
118
120 120
I.
Darstellung...................
11.
Die Bedeutung der Risikoerhöhungslehre für das Zivilrecht
121
III.
Die dogmatischen Begründungen der Risikoerhöhungslehre
124
IV.
1.
Die Unteilbarkeit des geschaffenen Risikos • • • • •
124
2
Die Nichtsteigerung des erlaubten Risikos • • •
124
3.
Die Erreichung des Normzweckes im Einzelfall •
126
Allgemeines......................
126
Der Zweck der Verhinderung des Gefahrerhöhungserfolges
127
c)
Stellungnahme..................
128
Die klassischen Kritikpunkte •
129
1.
Darstellung. •
129
2
Gegeneinwände
130
a)
In dubio pro reo •
130
b)
Die Beibehaltung der erfolgsorientierten Deliktsstruktur
132
Stellungnahme. • . • • • • • • • • •
132
a)
Keine Umwandlung der Deliktsstruktur
132
b)
In dubio pro reo • • • . • • • • • • • • •
133
aa)
Die Einheitlichkeit der Rechtsauslegung •
133
bb)
Die zu beweisende Tatsachenbasis des Gefahrurteils
135
ce)
Weitere Ungereimtheiten des Risikovergleichs .
136
(1)
Die uneingeschränkte ex post-BetraChtung
136
(2)
Die Anpassung der Tatsachenbasis an die des hypothe tischen Urteils • • • • • • • • • • •
137
Differenzierung nach prinzipieller Aufklärbarkeit der Tatsachen • • • • •
138
3.
V.
a) b)
Inhaltsverzeichnis
VI.
c.
13
1.
Damte1lung. • . . • • . • • • • . •
138
2
Kritik • • • • • • • • • • • • •
139
a)
Theoretische Überzeugungskraft
139
b)
Bewältigung des in dubio-Problems? • . • • • • • • • • • •.
141
Die Ungeeignetheit des ex post-Risikoerhöhungserfolges als Zurechnungskriterium • • • • • • • • • • • • • . . • • . • • • • . • • • • •
142
1.
Sicherheits- und Wahrscheinlichkeitsurteil als unterschiedliche Betrachtungsweisen der gleichen Situation • • • • • . • . • • • • •
143
2
Keine Abhilfe durch Beschränkung auf nicht determinierte Abläufe
143
VII. Abschließende Würdigung der Risikoerhöhungslehre • • •
144
Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
146
I.
Darstellung • • • • • • • • • •
146
1.
Der Grundgedanke • • • • •
146
2
Die ex ante vOlZunehmende Wahrscheinlichkeitsbetrachtung • • • ••
148
a)
Die Begründung der ex ante-Betrachtung • • • • • • • • • ••
148
b)
Die Möglichkeit des AuseinanderfaIlens von Pflichtwidrigkeit und Nichterfüllung des Anspruchs • •
149
Die beweisbedürftige Tatsachenbasis • • • • • • • . • • • • • •
ISO
3.
4. 11.
a)
Die Trennung der Tatsachenbasis von der Verlaufsprognose • .•
ISO
b)
Die unbeschränkte Tatsachenbasis der Anspruchslage . •
151
Keine Entlastung beim Verstoß gegen "Eingriffsverbote" • • •
152
Stellungnahme.........................
153
1.
Die theoretische Erfassung des RWZ . • • . . • . . • • • • . ••
153
a)
GrundsälZliche Erwägungen . • • . • . • . • • • •
153
Die unrechtstheoretische Rechtfertigung des Ansa1Zes • •
ISS
b)
aa)
Der Handlungsunwert als Grundlage der strafrechtlichen Zurechnung • • . . • • . • • • • • • • • . • • • ••
ISS
bb)
Entbehrlichkeit des Erfolgsunwertes für das Unrecht? • • •
157
ce)
Die Bedeutung des Erfolgsunwertes als Unrechtskomponente neben dem Handlungsunwert • • • . • • • • • • • •
158
(1) Einwände gegen die rein handlungsbezogene Unrechtslehre • • • • • • • • • •
158
(2)
i.
Plausibililätsargumente
158
ii.
Die Kritik Paeffgens •
160
Die normen theoretische Konstruktion des Unrechtssystems aus der Opferperspektive • • • . • • • • ••
161
14
Inhaltsverzeichnis
io
Die dem Erfolgsunwert zugrundeliegende Normverletzung
162
iio
Der Wirkungsmechanismus der Verhaltensnorm
163
iiio
Die Möglichkeit reinen Handlungsunrechts
164
iv.
Die eigenständige Stellung des Schutzanspruchs
165
v.
Die grundsätzliche Gleichberechtigung von Verhaltensnorm und Schutzanspruch
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
c)
0
0
ee)
Der Ausschluß des Zusammenhangs in rmAV-Fällen 0
0
0
168
0
Der Zusammenhang zwischen beiden Komponenten
Der Fortschritt gegenüber der Risikoerhöhungslehre
0
0
dd)
0
0
0
0
0
168 169 170
0
Probleme der konsequenten Durcbhaltung des ex ante-Standpunktes
172
a)
Grundsätzliche Bedenken
172
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
•
0
0
b)
Folgen für "in dubio pro reo"
173
c)
Konsequenzen
175
d)
Die Bedeutung der theoretischen AufkIärbarkeit eines Verlaufs für die Bestimmung der Gefahrenlage
176
aa)
Grundsätzliche Möglichkeiten der Differenzierung
176
bb)
Unzureichende Begründung der Entbehrlichkeit des Beweises des sicheren Erfolgseintri ttes
177
ce)
"Prinzipielle Unmöglichkeit" der Abgrenzung
177
dd)
Die Differenzierung nach Horn
178
ee)
Stellungnahme
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
180
0
Wesentliche Vorzüge von Horns Vorgehen
(2)
Eindeutige Unterscheidbarkeit zwischen beiden Kategorien von Sachverhalten
182
(3)
In dubio pro reo
186
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
180
0
0
0
0
0
0
ff)
Die Übertragung des Ansatzes auf die normative Korrespondenz
187
gg)
Die Unanwendbarkeit auf die Risikoerhöhungslehre
189
bh)
ZusammenfassunglExakte Bestimmung der Anspruchslage
0
0
Die "Eingriffsverbote" a)
0
0
(1)
0
3.
0
0
0
0
2
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
o· 0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
190 191
Kein Verlust des Schutzes gegen zusätzliche Bedrohungen
192
b)
Wann liegt eine zusätzliche Bedrohung vor?
193
c)
Die Unabhängigkeit dieser Differenzierung von der Schwere des Pflichtverstoßes
195
d)
Zusammenfassende Stellungnahme zu den Eingriffsverboten
196
e)
Mehrere rechtmäßige Altemativ-Verhaltensweisen
196
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Inhaltsveneichnis
m.
aa)
Theoretische Darstellung der Lösung
196
bb)
Das Beispiel von BGH VRS 35, 114
197
Das Verhältnis der Theorie von der normativen Korrespondenz zu anderen Ansätzen 1.
Normative Korrespondenz und der Gegensatz Vermeidbarkeitstheorie Risikoerhöhungslehre • a)
b)
Praktische Unterschiede •
200
200 200
aa)
Im Regelfall Übereinstimmung mit der Risikoerhöhungslehre
200
bb)
Weitergehende Zurechnung in Einzelfällen
202
ce)
Engerer Zurechnungrahmen bei konsequenter Berücksichtigung des Normzweckes
Der grundverschiedene theoretische Ansatz
203
204
2
Die Trennung von Reserveursachen
205
3.
Die Risikorealisierung nach Jakobs
206
a)
Einführung
206
b)
Vergleich mit der Zurechnung nach der normativen Korrespondenz •
207
aa)
4.
5.
IV.
15
Gemeinsame Grundannahme
207
bb)
Unterschiedliche Methode .
207
ce)
Die Bewältigung der "Eingriffsverbote"
209
Die Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand
209
a)
Das Fahrlässigkeitsdelikt nach Struensee •
209
b)
Fehlende Kongruenz zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand in den rmAV-Fällen
210
c)
Struensees Lösung und die normative Korrespondenz •
212
Der Zusammenhang zwischen dem Schutzzweck der Sorgfaltspflichten und der normativen Korrespondenz
213
a)
Unmöglichkeit der Chancenverbesserung
214
b)
Ausscheidung von Schutzreflexen
215
aa)
Fehlende generelle Eignung
215
bb)
Die spezifische Schutzrichtung
217
Die Übertragung des Modells der normativen Korrespondenz auf das Zivilrecht
219
1.
Grundsätzliche Anwendbarkeit •
219
2
Gültigkeit der Begründungen der normativen Korrespondenz auch auf dem Gebiet des Zivilrechts
221
a)
Ausgangspunkt der zivilrechtlichen Unrechtskonzeption
221
b)
Die Verteidigung der erfolgsbezogenen Unrechtslehre.•
222
16
InhaltsveIZeichnis
c)
d)
Die Gegenansicht • • • • • • • •
223
aa)
Die Rechtsordnung kann nur Handlungen steuern
223
bb)
Gesetzliche Zuordnung der Pflichtwidrigkeit zur Schuld?
224
ce)
Die Einheit der Rechtsordnung • . . .
225
dd)
Folgen für den defensiven Güterschutz
225
Stellungnahme............
127
aa)
Die Bedeutung des Handlungsunwertes • • • • • • • •.
127
bb)
Die Unzulänglichkeit des rein handlungsbezogenen Unrechtsbegriffs für das Zivilrecht • • • • • • • • • • • . •
228
(1)
Probleme beim defensiven Güterschutz • • • • •
229
(2)
Die Überwindung der Schwierigkeiten durch eine "zweispurige" Unrechtskonzeption auch im Zivilrecht. • . . • . • •
230
Die Einheit der Rechtsordnung . . • • • • . . . •
231
ce)
e) 3.
Ein willkürlicher Bruch innerhalb des Zivilrechts? •
231
(2)
Die Wahrung der Systemeinheit
232
Konsequenzen............
233
Vueinbarkeit mit du spezifischen AufgabensteIlung des Zivilrechts •
234
a)
Ausschluß der Zurechnung bei fehlender Gefahrerhöhung ex ante
234
b)
Keine zwingende Begründung der Ersatzpflicht bei positiv gegebener Gefahrerhöhung • • • • . • • • • • . • •
235
c)
Zwei hintereinandergeschaltete Zurechnungsschritte • • • • • •
236
d)
Die Unterscheidung nach Haftungsbegründung und Haftungsausfüllung bei Gotzler
Zusammenfassung. • . . . . • . • •
240
5.
Auswirkungen auf die Beweislastverteilung
240
Der Beweis der normativen Korrespondenz
241
aa)
Allgemeines..........
241
bb)
Der Schädiger muß das Vorliegen atypischer Umstände beweisen • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • . • •.
241
ce)
Weitere Beweiserleichterungen • • • • • • • • • • ••
242
b)
Der Einwand der Unvermeidbarkeit ex post
244
c)
Ergebnis..............
244
Bemerkungen zur Einordnung des RWZ in den Tatbestandsaufbau
4. Abschnitt: Sonderfragen . . • • • . . . . • • • A.
238
4.
a)
V.
(1)
Rechtmäßiges Alternativverhalten und Unterlassen • • . • • • • . • . • ••
244 248 248
Inhaltsverzeichnis I.
11.
Die Kausalität des Unterlassens
249
1.
"Ex nihilo nihil fit" . . •
250
2.
Kein Verzicht auf das Kausalitätserfordemis
250
Der Rechtswidrigkeitszusammenhang beim U nterlassunSlldelikt
252
1.
Der DachwohnunSllbrand-Fall • • • • • • • • • • • • • • •
2.
Die stillschweigende Übemahme der konkreten ErfolSllbetrachtung
254
3.
Kritische Stimmen • . . • . . • . . • • . • . . . . . • • . .
255
4.
Stellungnahme. . . • . . . . .
256
a)
Der berechtigte Kem der Kritik
256
b)
Die zutreffende Einordnung . . . . . . . . . . .
256
c)
Wahrung der Strukturparallelität zum Begehungsdelikt
258
5.
Die normative Korrespondenz beim Unterlassungsdelikt • . • . . . .
253
259
Das Vorliegen der normativen Korrepondenz
259
b)
Das Fehlen der normativen Korrespondenz •
260
c)
Ergebnis . • . . • . • . .
261
Rechtmäßiges A1temativverhalten und Vorsatz
262
a)
B.
17
I.
11.
Theoretische Möglichkeit der Beachtlichkeit von rmAV nach der Theorie der normativen Korrespondenz . • . . . • • . • . . . . . • . . . . .
263
1.
Gültigkeit des Modells des Zusammenwirkens von Verhaltens- und Anspruchsnorm auch bei vorsätzlichem Handeln • . . . . . . . . . .
263
2.
Ausschluß der normativen Korrespondenz bei Vorsatz • • • • • .
264
3.
Zurechnung eines vorsätzlich verursachten Erfolges trotz Fehleos der funktionalen Verbindung zwischen Handlungs- und Erfolgsperspektive? . . • . . . . . • . • . . . . . • • • • • .
264
Geringere praktische Bedeutung des rmAV in Vorsatzfällen • • • • • .
266
1.
Das unerlaubte als Steigerung des erlaubten Risikos
266
2.
Vorsatz bei geringer Erfolgswahrscbeinlichkeit
268
3.
Hohe erlaubte Risiken für ein Rechtsgut .
270
a)
Verletzung von Leib und Leben •.
270
b)
Beeinträchtigung von Vermögen und freier Willensentfaltung
271
aa)
Zusätzliche Gefahrschaffungen durch besondere Angriffsformen • . . • . . • . . . • . • . . . . . • • . . .
272
bb)
Pflichtwidrige Realisierung der im Grundsatz tolerierten Beeinträchtigung . .
273
III.
Unterlassensfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
IV.
Zusammenfassung...... . . • . . . • . . • . . • • . . . .
2 Erb
z:n
18 C.
Inhaltsverzeichnis Die Beteiligung mehrerer
Z18
I.
Der Aufzug-Fall •
278
11.
Die Lösung auf dem Boden der Vermeidbarkeitstheorie • • • . • • • • .
279
III.
Die Kritik von Würfel . • . • • • . . • . • . . • • • . . . • . •
281
IV.
Die Lösung des Problems nach Jakobs . . . . . . . . . . . • . . .
282
V.
Stellungnahme I Behandlung der Fälle bei Zurechnung nach der normativen Korrespondenz . . . . . • . • . . . . . • • . • • • • . . • . .
283
1.
Der Fortschritt durch den Lösungsansatz von Jakobs . . . . . . .
284
2
Die Begründung der Lösung anhand der normativen Korrespondenz .
284
a)
Die Möglichkeit der Betrachtung des "Gesamtverhaltens" bei der Bestimmung des Scbutzanspruchs . . . . • . . • . . . .
28S
b)
Die Prüfung des Einzelverhaltens bei zeitlichen Verschiebungen
286
c)
Die Übereinstimmung mit den von Jakobs befürworteten Ergebnissen • . • • . .
287
d)
Die Lösung des Aufzug-Falles . . . . • • . . • .
288
3. Schlußbetrachtung • • . • . • •
288
S. Abschnitt: Zusall1lllenfassung der Ergebnbse
289
I.
11.
Die Kritik der herrschenden Ansichten 1.
Kein Kausalitätsproblem . . . • • .
289
289
2
Rechtmäßiges A1temativverhalten und Reserveursachen • . . . . . .
290
3.
Die Vermeidbarkeitstheorie . . • • . • • • • . . • • • • • . •
291
4.
Die Risikoerhöhungslehre . . . . . . . . . . . . . . • . . • .
292
Die normative Korrespondenz zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht . •
1.
Die hier vertretene Zurecbnungsformel für die Fallgruppe des rechtmäßigen A1temativverhaltens . • . . • • • • . . • . • • • . . . . .
293 293
a)
Der Entwicklungsstand des Kausalverlaufs ex ante im Hinblick auf den späteren Erfolgseintritt • • . • . . • • . . . . • • . .
293
b)
Der Bezug des Chancenvergleichs auf eine Gefahr . . . • • . .
294
c)
Die Berücksichtigung des Schutzbereichs der Norm
295
2
Die Zusammenfassung der Begründung . • . . . . .
295
3.
Geltung auch für das Zivilrecht . . . . . • • . • . . . . . . . .
296
4.
Die Behandlung von Sonderproblemen im Zusammenhang mit rmAV
297
5.
Die Bewältigung der Probleme der anderen Theorien . . • • • • •
297
Inhaltsverzeichnis
19
6. Abschnitt: Die Anwendung der erarbeiteten Grundsätze auf nnAV Fälle aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
A Fälle aus der strafrechtlichen Rechtsprechung . . . . . . . .
299
B.
I.
Apotheker-Fall - RG, Urt. v. 20.12.1886 - Rep. 1:779/86
299
11.
Kokain-Novokain-Fall- RG, Urt. v. 15.10.1926 - 1 D 555/26
301
III.
Ziegenhaar-Fall - RG, Urt. v. 23.4.1929 - I 1265/28
302
IV.
Diphterie-Fall - RG, Urt. v. 30.9.1941 - 1 D 330/41
303
V.
Steinbruch-Fall- BGH, Urt. v. 23.10.1952 - 4 StR 431/52 . . . . . . . .
304
VI.
Fußgänger-Fall- BGH, Urt. v. 11.7.1957 - 4 StR 160/57 . . . . • . . . .
306
VII. Radfahrer-Fall - BGH, BeschI. v. 4.9.1957 - 4 StR 354/57 . . • . . . . .
307
VIII. Referendar- und Wohnungsmakler-Fall - BGH, 8eschl. v. 1:7.5.1959 - 4 StR 49/59 und BGH, Urt. v. 8.10.1957 - 5 StR 366/57 . . . . . . . . . . .
308
IX.
Zahnarzt-Fall - BGH, Urt. v. 27.4.1966 - 2 StR 36/66
308
X.
Bus-Fall - BGH, Urt. v. 10.4.1968 - 4 StR 62168 343
309
XI.
Dachwohnungsbrand-Fall - BGH, Urt. v. 28.7.1970 - 1 StR 175nO • . •.
309
XII. Peritonitis-F'alle - BGH, Urt. v. 20.5.1980 - 1 StR 177/80 und Urt. v. 10.8.1984 - 1 StR 9/84; OLG Koblenz, Beschl. v. 20.8.1980 - 2 WS 398/80.
310
XIII. Kettenauffahrunfall - BGH, Urt. v. 15.10.1981 - 4 StR 398/81 • . . . . .
310
XIV. Tödlicher Sturz einer Radfahrerin im Engpaß - BayObLG, Urt. v. 3.2.19592 St 751/59 . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • • . . .
312
Falle aus der zivilrechtlichen Rechtsprechung
313
I.
Mietgelder-Fall - RG, Urt. v. 13.7.1933 - VIII 106/33 .
313
11.
Dreschsatz-Fall- RG, Urt. v. 5.2.1935 -III 263/34 . .
314
1.
Der Sachverhalt und seine Behandlung durch das RG
314
2.
Die Kausalzusammenhänge .
314
3.
Die normative Korrespondenz
316
III.
Löschteich-Fall - OGH brit. Zone, Urt. v. 20.1.1949 - 11 ZS 20/48
317
IV.
Brandgassen-Fall - BGH, Urt. v. 19.4.1956 - III ZR 26/55 . .
317
V.
Vergiftete Schweine - BGH, Urt. v. 13.2.1958 - VII ZR 108/57
318
VI.
1.
Sachverhalt und Lösung des BGH . . . . . . . . . .
318
2.
Kein Rechtswidrigkeitszusammenhang in bezug auf die Eigentumsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
318
3.
Die Pflicht zum Ersatz des reinen Vermögensschadens
319
Werbeagentur-Fall - BGH, Urt. v. 5.7.1973 - VII ZR 12n3
VII. Beschädigung eines Schiffes - BGH, Urt. v. 4.2.1980 - 11 ZR 55n9
321 322
20
InhaltsvelZeichnis VIII. Notar-Fall - BGH, Urt. v. 24.10.1985 - IX ZR 91/84
c.
IX.
Eigenmächtige Amputation - OLG München, Urt. v. 14.2.1985 24 U 356/84 . . . . . . • • . . . . . . . . . . . . .
X.
Die Inseratkosten-F'älle • . . • . . . . . • . . . . . • . . • . . .
323 325
326
1.
Die Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . .
31:1
2
Die Lösung unter dem Gesichtspunkt der normativen Korrespondenz
328
SchluBbetrachtung
Llteraturverzelcbnls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329 332
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort; gleiche Fundstelle wie das vorhergehende Zitat desselben Autors
Alls.
Absatz
AcP
Archiv für die civilistiscbe Praxis
Anb.
Anhang
Anm.
Anmerkung
AP
Arbeitsgerichtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts)
Art
Artikel
Aufl.
Auflage
AV
Altemativverhalten
BAG
Bundesarbeitsgericht
BAGE
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (amtliche Sammlung)
BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
Bd.
Band
bes.
besonders
Beschl.
Beschluß
Beschr.
Beschränkung
BOB
Bürgerliches Gesetzbuch
BOH
Bundesgerichtshof
BOHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (amtliche Sammlung)
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (amtliche Sammlung)
csqn
conditio sine qua non
OB
Der Betrieb
DNotZ
Deutsche Notar-Zeitschrift
Einschr.
Einschränkung(en)
BzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
Fn.
Fußnote
PS
Festschrift
22
Abkürzungsverzeichnis
GA
Goltdammer's Archiv für Strafrecht
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
h.L.
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
Hs.
Halbsatz
i.d.R.
in der Regel
i.e.S.
im engeren Sinn
i.S.
im Sinne
i.V.m.
in Verbindung mit
i.w.S.
im weiteren Sinn
JA
Juristische Arbeitsblätter
jew.
jeweils
IR
Juristische Rundschau
JuS
Juristische Schulung
1W
Juristische Wochenschrift
1Z
Juristenzeitung
Komm.
Kommentar
krit.
kritisch
Lehrb.
Lehrbuch
Ut
Uteratur
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
MedR
Medizinrecbt
Nachw.
Nachweise
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
OGH brit. Zone
Oberster Gerichtshof für die britische Zone
OGHZ
Entscheidungen des obersten Gerichishofs für die britische Zone in Zivilsachen
OLG
Oberlandesgericht
OLGSt
Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafprozeßrecht
RabeIsZ
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht
Rdnr.
Randnummer
RG
Reichsgericht
RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
Abkürzungsverzeichnis
23
RGZ
Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (amtliche Sammlung)
nnAV
rechtmäßiges A1temativverhalten
Rspr.
Rechtsprechung
RWZ
Rechtswidrigkeitszusammenbang
S.
Seite
s.
siehe
s.o.
siehe oben
SchWZStrR
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
StOB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafproze8ordnung
StrVert
Strafverteidiger
u.
unten
u.a.
unter anderem
u.U.
unter Umständen
Urt.
Urteil
VersR
Versicherungsrecht
vgl.
vergleiche
Vorbem.
Vorbemerkung
VRS
Verkehrsrecht-Sammlung
z. T.
zum Teil
ZfRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung
ZHR
Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht
ZPO
Zivilprozeßordnung
ZSIW
Zeitschrift für die gesamte Strafrecbtswissenschaft
ZZP
Zei tschrift für Zivil prozeßrech I
Abkürzungen für Literaturtitel in den Zitalen sind im Literaturverzeichnis beim jeweiligen Werk angeführt.
Erster Abschnitt
Einleitung I. Einffihrung
Behandelt wird die Problematik des "rechtmäßigen Alternativverhaltens".l Dabei geht es um die Frage, wie es sich auf die Zurechnung eines durch rechtswidriges Verhalten verursachten Erfolges auswirkt, daß für den Schädiger die Möglichkeit bestand, statt des pflichtwidrigen ein pflichtgemäßes Verhalten zu realisieren, das die gleichen Folgen nach sich gezogen hätte oder wenigstens für das betroffene Rechtsgut ebenso gefährlich gewesen wäre. Diese Frage stellt sich sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht.2 Zur Einführung zwei Beispiele:
1. Radfahrer-Fall Der sicherlich bekannteste einschlägige Fall aus der Rechtsprechung ist der "Radfahrer-Fall":3 Ein Radfahrer wurde überfahren und getötet, als ihn ein LKW mit zu geringem Abstand überholte. Es stellte sich allerdings heraus, daß der Radfahrer hochgradig betrunken war, so daß der Unfall höchstwahrscheinlich auf einer trunkenheitstypischen Schreckreaktion beruhte, die sich darin äußerte, daß der Radfahrer das Rad plötzlich nach links zog. Unter diesen Umständen spricht jedenfalls viel dafür, daß der Unfall auch bei Einhaltung des vorgeschriebenen Seitenabstandes durch den Radfahrer eingetreten wäre. Ist der LKW-Fahrer nach § 222 StGB zu bestrafen? Wenn der Fall auch unter dem Gesichtspunkt der Strafbarkeit die Gerichte befaßte, so ist seine Bedeutung 1 Fortan "rmAV". 2 In abweichender Form wird das Problem des rmAV auch im Strafprozeßrecht relevant, nämlich bei der Frage, ob ein Urteil LS.v. § 337 Abs. 1 StPO auf einem Verfahrensfehler beruht: Wäre bei "rechtmäßigem Altemativverhalten" der Vorinstanz, nämlich bei gesetzmäßigem Prozedieren, das Urteil (möglicherweise) anders ausgefallen? Eine Einbeziehung dieser Problematik würde im Rahmen vorliegender Untersuchung zu weit führen. Vgl. etwa Herdegen, NStZ 1900,513 ff. 3 BGHSt 11, 1 ff.
1. Abschnitt: Einleitung
26
doch keineswegs auf das Gebiet des Strafrechts beschränkt: Machen die Angehörigen des getöteten Radfahrers Ansprüche nach § 844 BGB geltend, so stellt sich auch unter zivilrechtlichem Aspekt die Frage, wie sich das rmAV auf die Zurechnung des Erfolges auswirkt.
2. Beschädigung eines Schiffes Ein Fall, in dem mangels der Strafbarkeit fahrlässiger Sachbeschädigung ausschließlich die zivilrechtliche Seite des Problems berührt wird, ist der folgende: 4 Bei der Beladung eines Schiffes ließ das Ladepersonal das Ladegut aus zu großer Höhe herabfallen; das Schiff wurde dabei beschädigt. Infolge einer in den Verantwortungs bereich der Schiffseignerin fallenden falschen Reihenfolge der Beladung wäre das Schiff jedoch in gleicher Weise beschädigt worden, wenn das Ladepersonal die "Regeln fachgerechter Beladungstechnik" eingehalten hätte. Welchen Einfluß hat dieser Umstand auf den von der Eignerin geltendgemachten Schadensersatzanspruch?
11. Die Schwerpunkte der bisherigen Diskussion
Die Diskussionsschwerpunkte bei der Erörterung des rechtmäßigen Alternativverhaltens sind in beiden Rechtsgebieten unterschiedlich gelagert. Im Strafrecht herrscht weitgehende Einigkeit, daß dem Täter ein Erfolg, der mit Sicherheit auch durch rmAV verursacht worden wäre, nicht zugerechnet werden kann. 5 Der Streit entzündet sich an der Frage, wie die Fälle zu behandeln sind, in denen der Erfolg bei rmAV nur möglicherweise eingetreten wäre: Während die "Vermeidbarkeitstheorie" verlangt, daß das Ausbleiben des Erfolges bei rmAV als strafbarkeitsbegründende Tatsache eindeutig nachgewiesen wird oder der Angeklagte "in dubio pro reo" freizusprechen ist,6 soll nach der "Risikoerhöhungslehre" das eigentlich relevante Zurechnungs kriterium nicht die Vermeidbarkeit des Erfolges sein, sondern der Umstand, daß sich das für den Erfolg kausale pflichtwidrige Verhalten des Täters gegenüber dem rmAV als Risikoerhöhung darstellt, was eben auch dann der Fall sein kann, wenn der Er-
4 BGH MDR 1980, 647.
5 Anderer Ansicht etwa Spendet, Eb.-Schmidt-FS, S. 183 ff. und 1uS 1964, 14 ff. und ihm im Ergebnis folgendBindokat, 1Z 1977, 551 f. sowie Kirschbaum, S. 143. 6 Vgl. u. 3. Abschnitt B.I.
1. Abschnitt: Einleitung
27
folg nur möglicherweise ausgeblieben wäre.7 Im Zivilrecht spielt dieser Streit keine Rolle; den mit der häufigen Unbeweisbarkeit der Vermeidbarkeit des Erfolges verbundenen Problemen8 sucht man mit prozessualen Mitteln (Beweiserleichterungen) zu begegnen.9 Dagegen ist im Zivilrecht bereits die grundsätzliche Beachtlichkeit des rmAV umstritten: Die ältere Rechtsprechung und ein Teil des Schrifttums woUen diesem keine über die einer Reserveursache hinausgehende Bedeutung beimessen;10 auch die der "Vermeidbarkeitstheorie" zuzuordnenden Ansichten, nach welchen die Möglichkeit rechtmäßiger Erfolgsherbeiführung grundsätzliCh entlastende Wirkung haben soU, divergieren hinsichtlich der Frage, inwieweit sich aus dem Zweck der verletzten Pflichten Einschränkungen dieses Prinzips ergeben)1
III. Ansätze einer rechtsgebietsübergreifenden Lösung
Bei der Behandlung des rechtmäßigen Alternativverhaltens gehen nur wenige Autoren auf die ParaUelproblematik des jeweils anderen Rechtsgebietes ein. Bemerkenswert erscheint zunächst der Ansatz von Arthur Kaufmann, den Gedanken der "Schadensanlage", der im Zivilrecht zur der Behandlung bestimmter Fälle von Reserveursachen entwickelt wurde, u.a. im Hinblick auf die rmAV-Konstellationen auf das Strafrecht zu übertragen)2 Der Versuch, im Umfeld dieses Fragenkreises eine rechtsgebietsübergreifende Lösung zu entwickeln, wurde ansonsten bislang nur von Kahrs unternommen, der dabei allerdings nicht speziell das rechtmäßige Alternativverhalten, sondern allgemein Probleme im Zusammenhang mit der Anwendung der "Conditio-sine-qua-nonFormel" behandelt. Kahrs hat seinen diesen Fragenkomplex betreffenden Lösungsansatz, der auf die Anwendung einer modifizierten Conditio-sine-quanon-Formel hinausläuft,13 zunächst für das Strafrecht entwickelt14 und in einer weiteren Monographie für das Zivilrecht fruchtbar gemacht. 1S 7 Näheres u. 3. Abschnitt C.I. 8 Dazu u. 3. Abschnitt B.m. 93. Abschnitt B.m.1. 10 3. Abschnitt A.I. 11 Dazu 3. Abschnitt B.II.2. 12 Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-FS, S. 227 ff.; vgl. ausführlich u. 2. Abschnitt B.II.1. 13 Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 283. 14 Kahrs, Das VermeidbarkeitspriDZip und die Conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht. IS Kahrs, Kausalität und überholende Kausalität im Zivilrecht; vgl. dabei das Vorwort zu Kahrs' Ansicht zu den Zusammenhängen zwischen beiden Rechtsgebieten.
28
1. Abschnitt: Einleitung
Die übrigen Autoren beschränken sich meist auf einen knappen Blick über die Grenzen des eigenen Rechtsgebietes. So hat Ulsenheimer in seiner strafrechtlichen Monographie das Zivilrecht nur kurz erwähnt und festgestellt, daß dort zur Behandlung des rmAV bis dato "keine klaren Grundsätze" entwickelt seien.16 Würfel nennt einige zivilrechtliche Fälle und gelangt zu der Feststellung, "daß einheitliche Bewertungsmaßstäbe noch nicht gefunden worden sind."17 Er bezweifelt eine Übertragbarkeit der Ergebnisse und betont die "erheblich besseren Möglichkeiten" des Zivilrechts, "durch Lockerung der Beweisanforderungen und durch einen teilweisen Schadensausgleich entsprechend dem wahrscheinlichen Ausgang des rechtmäßigen Verhaltens befriedigende Mittellösungen zu finden."18 Hanau gibt in seiner zivil rechtlichen Arbeit einen Überblick über den damaligen Stand der strafrechtlichen Diskussion, wobei er insoweit Parallelen sieht, als nach seiner Auffassung bei den Fahrlässigkeitsdelikten auch im Strafrecht die "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" für die Zurechnung des Erfolges maßgebend sein soll, die er für das Zivilrecht als Schlüssel zur Lösung des Problems betrachtet. 19 Gotzler geht davon aus, daß aus zivil rechtlicher Sicht ein Seitenblick auf das Strafrecht zwar nützlich sein könne, ein übergreifender Lösungsansatz sich jedoch angesichts der unterschiedlichen Aufgaben beider Rechtsgebiete verbiete.20 Insbesondere wendet er sich gegen eine Übernahme des Risikoerhöhungsprinzips (s.o. TI.) auf das Zivilrecht,21 während er die Frage der systematischen Einordnung mit Blick auf die entsprechende strafrechtliche Diskussion erörtert. 22
IV. Zur Methodik vorliegender Arbeit
Der Schwerpunkt der Erörterungen in vorliegender Arbeit soll nicht in einer Vertiefung der oben 11. angeführten Streitpunkte bestehen. Der Versuch, mittels eines derartigen Vorgehens das Problem der Lösung einen Schritt näherzubringen, erscheint nämlich schon bei isolierter BetraChtung der Rechtsgebiete we-
16 Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit, S. 155 f.
17 Würfel, S. 14 ff., 18. 18 Aa.O. 19 Hanau, Kausalität, S. 58 ff. 20 Gotzler, S. 6; 90.
21 Aa.O., S. 27 ff. 22 Aa.O., S. 31 ff.
1. Abschnitt: Einleitung
29
nig erfolgversprechend. Mit Recht hat Küper für das Strafrecht darauf hingewiesen, daß bei der Diskussion zwar die Einzelprobleme, die sich z.B. im Strafrecht aus dem Gegensatz Vermeidbarkeitstheorie - Risikoerhöhungslehre (s.o.lI.) ergeben, ausführlich erörtert werden, jedoch eine dogmatische Begründung, warum sich rmAV auf den Zurechnungszusammenhang auswirken soll, eigentlich nicht zu finden ist. 23 Wie sollen aber die Sekundärprobleme einer überzeugenden Lösung zugeführt werden, wenn die grundsätzliche Frage, warum hypothetisches rechtmäßiges Verhalten für das Unrecht von Belang sein kann, noch nicht geklärt ist?24 Für eine Behandlung des Problems unter dem Gesichtspunkt beider Rechtsgebiete wäre ein derartiges Vorgehen umso fruchtloser, als eine Konzentration auf die unterschiedlich gelagerten (vgl. o. 11.) Diskussionsschwerpunkte dazu führen müßte, daß die Erörterungen hinsichtlich beider Rechtsgebiete ebenso beziehungslos nebeneinanderstehen, wie das bei den Darstellungen im straf- gegenüber denen im zivilrechtlichen Schrifttum weitgehend der Fall ist. Stattdessen soll hier folgende Vorgehensweise gewählt werden: Zunächst werden wir uns mit der Frage befassen, wo im Aufbau der Straftat bzw. des zivilrechtlichen Haftungstatbestandes die Problematik des rmAV lokalisiert sein könnte, d.h. ob unabhängig von der vielfach postulierten besonderen Beziehung zwischen Pflichtverletzung und Erfolg ("Rechtswidrigkeitszusammenhang", RWZ), die durch rmAV in Frage gestellt sein soll, möglicherweise schon der Kausalzusammenhang betroffen ist, oder ob rmAV als beachtliche oder unbeachtliche Reserveursache zu behandeln ist. Dies ist Gegenstand des zweiten Abschnittes. Anschließend wird im Hauptteil der Arbeit, dem dritten Abschnitt, die Beachtlichkeit des rmAV für die Zurechnung (im Hinblick auf den RWZ) untersucht. Dabei sollen die bestehenden Ansichten in erster Linie hinsichtlich der Frage kritisch beleuchtet werden, ob sie dem Erfordernis einer unrechtssystematischen Begründung genügen. Weiterhin sollen auch die jeweiligen theoretischen und praktischen Folgeprobleme dargestellt werden; dabei finden auch die bisherigen Diskussionsschwerpunkte (s.o. II.) ihre Berücksichtigung. Diese Erörterungen werden schließlich zum hier vertretenen Lösungsvorschlag für das Problem hinleiten. Bedingt durch die größere Materialfülle und Vielseitigkeit der Ansätze im strafrechtlichen Schrifttum werden wir uns überwiegend auf strafrechtlichem Gebiet bewegen, jedoch stets eine Verdeutlichung von Parallelen zwischen beiden Rechtsgebieten anstreben. Da die eigene Lösung
23 Küper, Lackner-FS, S.
24 Küper a.a.O., S. 262
249 ff.
30
1. Abschnitt: Einleitung
ebenfalls auf einem für das Strafrecht entwickelten Zurechnungsmodell beruht, werden wir uns um die insoweit erforderlichen Vertiefungen wiederum zunächst aus strafrechtlicher Perspektive bemühen und zuletzt die Übertragbarkeit des Ansatzes auf das Zivilrecht untersuchen. Der vierte Abschnitt ist der Behandlung von Sonderproblemen gewidmet, die zunächst aus Vereinfachungsgrunden aus der Diskussion ausgeklammert werden. Der fünfte Abschnitt besteht in einer ausführlichen Zusammenfassung der Ergebnisse der Abhandlung, und im sechsten Abschnitt soll das hier befürwortete Lösungsmodell auf praktische Fälle angewendet werden.
Zweiter Abschnitt
Die systematische Einordnung Schwierigkeiten bereitet nicht nur die Frage, ob der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens letztlich Berücksichtigung finden kann, sondern bereits die Bestimmung der Stelle im Aufbau der Straftat bzw. des zivilrechtlichen Haftungstatbestandes, an der das Problem systematisch einzuordnen ist. Auch wenn die ganz überwiegende Ansicht davon ausgeht, daß zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg ein besonderer Zusammenhang ("Rechtswidrigkeitszusammenhang") bestehen muß, damit die Folgen pflichtwidrigen Verhaltens zugerechnet werden können, und daß dieser Zusammenhang durch die Möglichkeit rmA V ausgeschlossen werden kann, läßt sich nicht von vornherein ausschließen, daß wir es mit einem Problem der Kausalität oder des Bereitstehens einer Reserveursache zu tun haben.
A. Rechtmäßiges Altemativverhalten und Kausalität I. "Kausalität der Ptlichtwidrigkeit"
Eine gängige Formulierung insbesondere der Rechtsprechung sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht besagt, daß eine Zurechnung von Erfolgen, die der Betroffene auch durch rechtmäßiges Verhalten hätte herbeiführen können, mangels "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" ausscheide'! Während die strafrechtliche Rechtsprechung nach wie vor an dieser Formel festhält,2 geht die neue re zivil-
1 Vgl. in der zivil rechtlichen Rspr. RGZ 171, 168 (171); RG JW 1931,2014 (2015); BGHZ 22, 258 (264); BGH NJW 1959, 1583 (1584); BGH VersR 1960, 905; BGH VersR 1963, 165; in der strafrechtlichen Rspr. RGSt 63, 211 (213); BGH VRS 3, 423 (424); BGH VRS 5, 284 (286); BGHSt 11, 1 (3); BGH VRS 16, 126 (128); BGH VRS 21, 341 (342); BGHSt 33,61 (63); in der ziviI rechtlichen Lit. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, bes. S. 23 C.; Gottwald, 97 C.; im Strafrecht: Oehler, Eb.-Schmidt-FS, S. 237 f.; Mühlhaus, S. 26 ff.; Schönke/&hröder, 17. Aufl., § 59 Rdnr. 159a ff.; Seebald, GA 1969, 204 f.; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, S. 127 f. 2 Vgl. BGHSt 33,61 (63).
32
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
rechtliche Judikatur davon aus, daß nnAV niemals die Kausalität entfallen läßt, sondern ein Problem des normativen Zusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Erfolg ist.3 Letzeres ist auch die nahezu einhellige Ansicht in der Literatur: Da das Verhalten des Täters (z.B. Überholen des Radfahrers) seine kausale Wirkung entfaltet hat, woran auch die theoretische Möglichkeit der rechtmäßigen Schadensverursachung nichts mehr ändern könne, sei die Leugnung der Kausalität verfehlt; im übrigen könne die Pflichtwidrigkeit, die kein reales Ereignis, sondern ein wertender Begriff ist, in der Realität nichts verursachen. 4 Offenbar hängt die Entscheidung von der Definition des Kausalbegriffs ab: Geht man vom naturwissenschaftlichen Kausalbegriff aus, so liegt dem Kausalurteil nur der naturgesetzliche Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen Verhalten und dem Erfolg zugrunde, während die Vertreter eines "normativen" Kausalbegriffs auch den Bedingungszusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg einbeziehen wollen. Daß die naturwissenschaftliche Kausalität durch rmAV nicht ausgeschlossen ist, erkennen auch letzere an. 5 Der Streit geht also darum, welcher Kausalbegriff dem Recht zugrundezulegen ist. Er wird zum Teil als reiner Terminologiestreit angesehen, weil es unerheblich sei, ob die Sachprobleme unter dem Etikett der Kausalität oder eines anderen Begriffes erörtert werden. 6 Jedoch sollte es Bedenken erwecken, daß sich auch die Befürworter des Erfordernisses einer "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" gezwungen sehen, zunächst die naturwissenschaftliche Kausalität zu prüfen und in einem weiteren Schritt eine "juristische Kausalität" ins Spiel zu bringen: 7 Wenn man eine getrennte naturwissenschaftliche Kausalitätsbetrachtung für erforderlich hält, so ist nicht ersichtlich, warum man die völlig anders gelagerte Prüfung des Zusammenhangs zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg unbedingt mit der gleichen Bezeichnung belegen sollte. Ein derartiges Arbeiten mit zwei Kausalitätsbegriffen ist nur geeignet, Verwirrung zu stiften,8 und die Erwä-
3 BAG NJW 1984,2846 f.; BGHZ 96,157 (172). 4 Vgl. im strafrechtlichen Schrifttum E:xner, Frank-Festgabe, S. 583 f.; Mezger, JZ 1958, 282; Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-FS, S. 2f17 ff.; Ulsenheimer, PfIichtwidrigkeit, S. 107 ff.; Hardwig, JZ 1968, 289; Reinelt, NIW 1968, 2153; Schlüchter, JuS 1977, 105; Otto, NJW 1980, 420; Kühl, JR 1983,32; Puppe, JuS 1982, 661; SK/Samson, Anh. zu § 16 Rdnr. 23; für das Zivilrecht: Niederländer, JZ 1959,617 f.; Münzberg, Verb. u. Erfolg, S. 127 ff.; Schulin, S.98; Gotzler, S. 78 f.; Larenz, SchR I, S. 528. 5 Vgl. BGHSt 11, 1 (7); Hanau a.a.O., S. 25 f.; Oehler a.a.O., S. 239.
6 Gotzler, S. 78; Bindokat, JuS 1985, 32.; vgl. auch Jakobs, Lehrb., S. 158 f. 7 Vgl. BGHSt 11,1 (7); Rödig, S. 133; Hanau, Kausalität, S. 25 f.
8 Münzberg, NJW 1972, 2081; Gotzler, S. 78 f.
A Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
33
gung, daß die Kausalität durch die Bezugnahme auf die Pflichtwidrigkeit einen "hohen Aussagewert" erhalte,9 läßt eine Doppelverwendung des Begriffes noch lange nicht vorteilhaft erscheinen. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, daß mit dem Postulat des Erfordernisses einer "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" scheinbar evidente Ergebnisse angestrebt werden, ohne daß die sachlichen Kriterien, die für und gegen eine Berücksichtigung des rmAV-Einwandes sprechen, überhaupt zur Erörterung kommen.l O Sieht man die naturwissenschaftliche Kausalität als Grundlage der Zurechnung an, so dürfte es zumindest aus Zweckmäßigkeitsgründen mithin angebracht sein, den bezüglich des rmAV zu Debatte stehenden Zusammenhang zur klaren Unterscheidung vom naturgesetzlichen Zusammenhang nicht ebenfalls als Kausalbeziehung anzusprechen. ll
11. Eignung des naturwissenschaftlichen Kausalbegriffs als Zurechnungskriterium im Recht
Anders könnten die Dinge allerdings liegen, wenn man den naturwissenschaftlichen Kausalbegriff als für die rechtliche Zurechnung unbrauchbar ansieht und die Auffassung vertritt, man könne stattdessen nur auf einen normativen Ursachenzusammenhang abstellen, in dessen Rahmen u.a. die Frage des rmAV berücksichtigt werden müßte. Einen solchen Ansatz vertritt Puppe.l 2 Damit wollen wir uns näher befassen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Auseinandersetzung geeignet erscheint, Erkenntnisse über die naturwissenschaftliche Kausalität und die zutreffende Beschreibung des rechtlich relevanten Erfolges zu gewinnen, die im Lauf der weiteren Erörterung Bedeutung für das Verständnis des rmAVerlangen könnten.
9 Hanau, Kausalität, S. 26. 10 Das Bedenken der Verschleierung von Wertungsfragen durch Einordnung in "juristische Kausaltheorien" äußert schon Honig, Frank-Festgabe, S. 178; vgl. ferner Bockelmann/Volk, S. 163; &hlüchter, JuS 1977, 106; Gotzler, S. 79; &serISchmidt, S. 524. 11 Vgl. Schulin, S. 37 ff.; Gotzler, S. 78 f. 12 ZStW 92 (1980), 863 ff. und ZStW 99 (1987), 595 ff. 3 Erb
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
34
1. Das Kausalmodell von Puppe a) Ausgangspunkt
Puppe entwickelt ihren Ansatz ausgehend von der Beobachtung, daß das Kausalurteil im herkömmlichen Sinn in vielen Fällen nicht geeignet erscheint, die strafrechtliche Zurechnung eines Ereignisses zu tragen. Als Beispiel führt sie u.a. den von Samson 13 gebildeten Fall an, in dem ein Weichensteller nach einem Erdrutsch, der beide Gleise verschüttet hat, den Zug von einem Gleis auf das andere lenkt und damit für den Unfall in seiner konkrCten Gestalt kausal wird. Die "Absurdität" solcher Ergebnisse veranlaßt die Autorin, nach einer Kausalitätsformel zu suchen, deren Ergebnisse mit den "intuitiven Urteilen" bezüglich der Erfolgszurechnung möglichst übereinstimmen. Dabei muß sie sich freilich vom streng naturwissenschaftlichen Kausalitätsverständnis lösen,14
b) Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung Puppe greift bei ihren Erörterungen Engischs Formel von der gesetzmäßigen Bedingung auf. Danach ist ein Verhalten für den Erfolg kausal, wenn zwischen beiden eine gesetzmäßige Beziehung derart besteht, daß "sich an jenes Verhalten als zeitlich nachfolgend Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit dem Verhalten und untereinander in ihrer Aufeinanderfolge (natur-) gesetzmäßig verbunden waren und die ausgemündet sind in irgendeinen Bestandteil des konkreten Sachverhaltes, der dem Strafgesetze gemäß als Erfolg abgegrenzt ist",1S Diese übernimmt sie für ihr Modell nicht unverändert, sondern überträgt sie in folgendes Schema: 16 Gilt der Satz "wenn p, q, r ... x als Bedingungen gegeben sind, dann tritt der Erfolg e ein", und haben Bedingungen der Art p, q, r ... x vorgelegen, dann sind diese im konkreten Fall vorliegenden Bedingungen für den Eintritt des Erfolges e kausal,17 Puppe sieht freilich die Notwendigkeit einer Ergänzung dieses Schemas, um zu verhindern, daß jede beliebige Tatsache in die Kausalerklärung einbezogen werden kann, indem 13 Hyp. Kausalverläufe, S. 98.
14 Puppe, ZStW 92 (1980),863 ff. 1S Engisch, Kausalität, S. 21. 16 Später wird zu prüfen sein, ob dies ohne Sinnänderung vonstatten geht (wie Puppe wohl
meint), s.u. 2.b.aa.
17 Puppe, ZStW 92 (1980), S. 874 f.
A Rechtmäßiges Altemativverhalten und Kausalität
35
man sie mit einer hinreichenden Bedingung verbindet.18 Deshalb verlangt sie als Voraussetzung für die (Mit-)Ursächlichkeit einer Tatsache, daß es eine "zureichende Mindestbedingung des Erfolges" gibt, deren notwendiger Bestandteil sie ist. 19 Die Tatsache kann für sich allein auch schon die notwendige Mindestbedingung darstellen; da die Formel aber auch die kumulative Kausalität erfassen soll, reicht es aus, wenn jene notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung ist.20
c) Die Bestimmung des relevanten Erfolges Mit der eben skizzierten Kausalformel als solcher steht Puppe durchaus noch auf dem Boden der herrschenden Meinung: Daß die zur Kausalitätsfeststellung vielfach proklamierte "conditio-sine-qua-non-Formel" nur eine Faustformel von begrenzter Zuverlässigkeit darstellt, die den naturgesetzlichen Zusammenhang als entscheidendes Kriterium nur unzureichend wiedergibt (ihn vielmehr voraussetzt und damit als Formel zur Kausalitätsfeststellung zirkelschlüssig ist), ist heute vielfach anerkannt. 21 Soweit Puppe also in Anbetracht der Unzu18 Beispiel: Wenn man aus dem Erfahrungssatz, daß das Betätigen des Abzuges einer auf die Herzgegend eines Menschen gerichteten geladenen Pistole zu dessen Tod führt, in Verbindung mit der Tatsache, daß der Mörder dieses Verhalten an den Tag gelegt und das Opfer eine tödliche Schußverletzung erlitten hat, den Schluß zieht, jener sei für den Tod des Betroffenen kausal geworden, so könnte dieses Schema auch zur Annahme der Kausalität eines an einem anderen Ort zur gleichen Zeit Verwünschungen aussprechenden Dritten führen. Einerseits ist nämlich der Erfahrungssatz, daß ein Mensch zu Tode kommt, wenn die oben beschriebene Handlung abläuft und an einem anderen Ort Verwünschungen ausgesprochen werden, durchaus zutreffend (wenn auch im Hinblick auf eine Kausalaussage offensichtlich sinnlos), und andererseits hat der Dritte die in diesem Erfahrungssatz enthaltene Bedingung "Verwünschungen" realisiert. 19 Aa.O., S. 875 f.; 878. Damit wird in unserem Beispiel das unsinnige Ergebnis der Kausalität der Verwünschungen vermieden, denn es gibt keinen Sachverhalt, der dann, aber auch nur dann zu einer tödlichen Schußverletzung führt, wenn zugleich anderswo eine Verwünschung ausgesprochen wird. 20 Vgl. Puppe a.a.O., S. 876 ff. unter Anführung des Schulbeispiels, in dem A und B unabhängig voneinander eine jeweils schon für sich allein tödliche Giftdosis in das Getränk des Opfers geben. Dabei ist weder das Verhalten des A noch das des B notwendige Bedingung für den Tod des Opfers; beider Tatigwerden ist aber jeweils notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung. 21 Jedenfalls im strafrechtlichen Schrifttum, vgl. die Kritiken von Engisch, Kausalität, S. 18 f.; GmÜT, S. 142 ff.; Wehrenberg, MDR 1971, 900 ("pleonastische Leerformel"); Jakcbs, Lehrb., S. 156 f.; vgl. ferner Sch./Sch./Lenckner, vor §§ 13 ff. Rdnr. 75; im Zivilrecht: &hulin, S. 106 ff., 118; Larenz, SchR I, S. 433 f.; gerade im Zivilrecht wird allerdings vielfach immer noch unreflektiert auf die conditio-sine-qua-non-Formel abgestellt, so z.B. MüKomm/Grunsky, vor ~ 249 Rdnr. 36; die Rechtsprechung verwendet in beiden Rechtsgebieten nach wie vor als selbstverständlich diese Formel, s. BGHZ 96, 157 (170); BGHSt 31,96 (98).
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
36
länglichkeit der conditio-sine-qua-non-Formel Engischs Alternativformel aufgreift und zu präzisieren versucht, dürfte sie auch bei einem Großteil der herrschenden Meinung "offene Türen einrennen". Der Übergang zu einem abweichenden Kausalbegriff wird schließlich jedoch über die Erfolgsbetrachtung vollzogen: Schon zu Beginn ihrer Überlegungen formuliert Puppe ihre Kritik22 an der Figur des "Erfolges in seiner ganz konkreten Gestalt", mit der die h.L. das Problem der Reserveursachen bewältigen will;23 für den "Erfolg in seiner konkreten Gestalt" sieht Puppe bei konsequenter Verwendung ihrer Kausalformel "kein Bedürfnis mehr", da Ersatzursachen nicht mehr zum Ausschluß der Kausalität der wahren Ursache führen sollen.24 Stattdessen will sie auf den "konkreten tatbestandsmäßigen Erfolg" abstellen, worunter sie die "Tatbestandsverwirklichung im Einzelfall" versteht, die ohne die Einbeziehung von Begleitumständen einfach dadurch bestimmt werden soll, daß "wir die in der tatbestandlichen Erfolgsbeschreibung auftretenden Individuenvariabeln ... mit Konstanten ausfüllen".25 Diesen Erfolg will Puppe ferner "statt als Zustand als Veränderung von Zuständen verstehen, und zwar als eine für das Rechtsgut nachteilige" (nämlich die im jeweiligen Tatbestand umschriebene). Dadurch könne im Einzelfall nicht nur eine Vernachlässigung der Begleitumstände erfolgen, sondern auch die jeweilige Ausgangsposition einfach vorausgesetzt und aus der Kausalerklärung ausgeklammert werden. Kausal für den tatbestandlieh relevanten Erfolg seien vielmehr allein die Tatsachen, die zur Erklärung der nachteiligen Veränderung erforderlich sind. 26 So muß beispielsweise bei einem Tötungsdelikt nicht erklärt werden, warum das Opfer zum Tatzeitpunkt gelebt hat, sondern nur der Vorgang der Tötung, so daß d~e Tatsachen, daß es von seiner Mutter geboren wurde und daß ihm ein bestimmter Arzt einmal das Leben gerettet hat, nicht in der Kausalerklärung auftreten, wohl aber das Verhalten des Mörders, das Bedingung für die im Tatbestand umschriebene Vernichtung
22 Puppe, ZStW 92 (1982), S. 872 ff.; vgl. zu den Einzelheiten die Kritik an Puppes Ansatz, u. 2b.oc.,dd
23 Bei Verwendung der csqn-Formel können Reserveursachen den Anschein erwecken, die wirkliche Ursache sei gar nicht kausal: Der Erfolg wäre ja auch dann eingetreten (als Folge der Reserveursache), wenn man die Ursache "wegdenkt". Wenn man den Erfolg "konkretisiert", dh. mit zusätzlichen Angaben versieht, so führt dies dazu, daß dieser genauer beschriebene Erfolg nicht mehr ohne die tatsächliche Ursache erklärt werden kann, so daß die Kausalität durch das Vorhandensein von Reserveursachen nicht mehr in Frage gestellt wird, vgI. z.B. Ebert, Jura 1979, S. 564; weitere Nachw. bei Puppe, ZStW 92 (1980), S. 870 Fn. 7. 24 Puppe a.a.O., S. 878; vgl. im einzelnen u. 2.b.aa.
25 Aa.O., S. 879. 26 Aa.O., S. 880 ff.
A Rechtmäßiges A1temativverbalten und Kausalität
37
des Rechtsguts geworden ist.27 Puppe löst sich damit vom naturwissenschaftlichen, den Erfolg umfassend erklärenden Kausalbegriff und bestimmt die Kausalität "normativ", bezogen auf die vom jeweiligen Tatbestand beschriebene Rechtsgutverschlechterung. Damit meint sie, ihrem eingangs formulierten Anliegen Rechnung zu tragen, die "absurden Ergebnisse" der herrschenden Lehre zu vermeiden. 28 d) Konsequenzen für die BetraChtung des rmAV An anderer Stelle29 versucht Puppe dann, über diesen Kausalbegriff den Zusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg und mithin unsere Problemstellung zu erfassen. Sie will dies dadurch bewerkstelligen, daß sie sich nicht nur bezüglich des Erfolges, sondern auch hinsichtlich der Handlung von der Betrachtung der jeweils "ganz konkreten Gestalt" lösen will: Es sollen nur die GesiChtspunkte der Handlung in die Kausalerklärung eingeführt werden, die einerseits für die Schlüssigkeit der Erklärung des Erfolges (im soeben beschriebenen Sinn) erforderlich sind und andererseits gerade die Parameter darstellen, aus denen die Sorgfaltswidrigkeit der Handlung ableitbar ist, während die übrigen als bloße Begleitumstände ebenso außer Betracht bleiben wie die im Hinblick auf den Tatbestand unwesentlichen Bestandteile des Erfolges.30 Auch Puppe hält es zwar für inkorrekt, mit der Rechtsprechung von einer "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" zu sprechen, denn Ursache eines Erfolges können nur Veränderungen und Zustände sein, nicht dagegen die Pflichtwidrigkeit einer Handlung, die nur eine Eigenschaftsbeschreibung darstellt und als solche keine realen Erfolge herbeiführen kann. 31 Immerhin verdeutliche die Formel der Kausalität der Pflichtwidrigkeit, wo das Problem liege32 (nämlich darin, daß der die Zurechnung tragende Zusammenhang nicht schlechthin zwischen Handlung und Erfolg gesucht werden darf, sondern nur zwischen den Pa-
27 Aa.O., S. 879 f. 28 Vgl. a.a.O. S. 880. Eine ähnliche, ebenfalls nicht am "ganz konkreten Erfolg" anknüpfende Konzeption hatte bereits Trat/ger, S. 41 ff. entwickelt, der ebenfalls nach dem Zweck der jeweiligen Kausalprüfung abstrakte Erfolgskategorien bildete und fragte, ob der Erfolg aufgrund des Täterverbaltens diesen unterfällt. Vgl. dazu auch R. Lange, ZStW 73 (1961),111 f. 29 ZStW 99 (1987), S. 595 ff.
30 Aa.O., S. 601. 31 Puppe, JuS 1982, S. 661; ZStW 95 (1983), S. 290; ausdrücklich bestätigt in ZStW 99 (1987), S. 601 Fn. 21; ebenso schon E%Mr, Frank-Festgabe, S. 538 f. 32 Puppe, ZStW 99 (1987), S. 601.
38
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
rametern der Handlung, aus denen sich deren Sorgfaltswidrigkeit ergibt, und denjenigen des Erfolges, welche die nachteilige Veränderung der Lage des betroffenen ReChtsgutes darstellen). Die Fälle des rmAV lösen sich danach wie fOlgt: Es ist nicht danach zu fragen, ob der Täter bei pflichtgemäßem Verhalten den Erfolg vennieden hätte,33 vielmehr entfalle die Kausalität, wenn die Parameter der Handlung, aufgrund deren die Handlung als pflichtwidrig zu qualifizieren ist, nicht zur Erklärung der Rechtsgutverletzung, sondern nur zur Erklärung von rechtlich irrelevanten Begleitumständen (zufallsbedingte Verschiebung von Ort, Zeit u.s.w.) erforderlich sind. Dabei bedürfe es auch nicht des Rückgriffs auf den Schutzzweck der Norm, der bei Anwendung des herkömmlichen Modells dann erforderlich werde, wenn die Nonnen "Schutzreflexe" entfalten, indem durch die Frage, was bei rechtmäßigem Täterverhalten passiert wäre, auch Umstände den Vermeidbarkeitsammenhang begründen können, "mit dem Unfallgeschehen nur zufällig zeitlich zusammentreffen", bei deren Fehlen jedoch der Erfolg gleichwohl ausgeblieben wäre. 34 In unserem Ausgangsfall nach BGHSt 11, 1 müßte die Argumentation demnach lauten: Um den Unfalltod des Radfahrers zu erklären, benötigt man zwar die Angabe, daß er vom LKW überholt wurde, angesichts der besonderen Umstände des Falles jedoch nicht die Tatsache, daß das Überholmanöver mit zu knappem Seitenabstand erfolgte. Gerade letztere Information würde aber benötigt, um die Pflichtwidrigkeit der Handlung zu begründen. Folglich fehlt es an der Kausalität des die Pflichtwidrigkeit begründenden Parameters für den tatbestandlich relevanten Erfolg, so daß die Zurechnung abgelehnt werden müßte.
Noch nicht gelöst ist damit, wie Puppe einräumt, das Problem, wie eine evtl. Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes zu behandeln ist: Wie sich diesbezügliche Schwierigkeiten bei der Lösung nach dem Venneidbarkeitskonzept in der Weise stellen, daß der hypothetische Verlauf bei Zugrundelegung rechtmäßigen Verhaltens nicht sicher festgestellt werden kann, so treten sie bei der Verwendung von Puppes Konzept in den kritischen Fällen dahingehend zutage, "daß die Frage, ob ein bestimmter Parameter zur Schlüssigkeit der Kausalerklärung 33 So daß insoweit auch die leidige Problematik entfalle, was denn nun "hinzugedacht" werden darf und was nicht, vgl. zu dieser Schwierigkeit der Vermeidbarkeitstheorie u. 3. Abschnitt A.III., bes. 4.b. und 5., sowie Puppe a.a.O., S. 601 f. 34 Puppe a.a.O., S. 602 Beispiel: Die Kausalität des Rotlicht-Verstoßes eines Autofahrers für den 10 km weiter eingetretenen Unfall, bei dem ihm zwar unmittelbar kein Sorgfaltsverstoß zur Last fällt, der jedoch bei p(Iichtgemäßem Warten vor der Ampel ausgeblieben wäre, weil er die Unfallstelle erst später erreicht hätte.
A Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
39
notwendig ist, deshalb nicht entscheidbar ist, weil wir keine strikten allgemeinen Gesetze besitzen, die uns definitiv darüber Auskunft geben, welche Mindestbedingung den Erfolg schlüssig erklärt und ob die sorgfaltpflichtwidrigen Parameter der Handlung notwendige Bestandteile dieser Mindestbedingung sind."35 Die Lösung, die Puppe für dieses Problem entwickelt, wird uns an späterer Stelle noch näher beschäftigen;36 im folgenden wollen wir uns zunächst mit der Frage auseinandersetzen, ob die vom konkreten Erfolg abstrahierende Kausalitätsbetrachtung, in welche die rmAV-Problematik einbezogen werden soll, einer kritischen Überprüfung standhält.
2. Kritische Würdigung
a) Zweckmäßigkeitserwägungen In einem Satz zusammengefaßt läßt sich der Unterschied des Zurechnungsmodells nach Puppe gegenüber dem der herrschenden Meinung wie folgt ausdrücken: Während nach der überwiegenden Ansicht zunächst die naturwissenschaftliche Kausalität des Verhaltens für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt und erst dann die normative Zurechenbarkeit festzustellen ist,37 findet bei Puppe zunächst eine normative Betrachtung statt, nämlich die Erörterung der Frage, welche Parameter von Handlung und Erfolg in die anschließend erfolgende Kausalbetrachtung einzubeziehen sind. Gegenstand einer kritischen Betrachtung muß damit die Frage sein, ob diese Umkehr der Prüfungsreihenfolge tatsächlich sachliche Verbesserungen für die Zurechnungslehre mit sich bringt. Da die Hauptschwierigkeit bezüglich des rmAV im Strafrecht, nämlich die Konsequenzen der häufigen Unbeweisbarkeit der "Unvermeidbarkeit" des Erfolges,38 durch die neue Konzeption der Kausalität nicht berührt wird (s.o.), ist vor allem zu überprüfen, ob dem Anliegen, das Puppe zu ihren Überlegungen bewogen hat, nämlich die Ausschaltung "unbestimmter Korrektivkriterien",
35 Aa.O.
36 S.u. 3. Abschnitt B.V. 37 Vgl. z.B. Honig, Frank-Festgabe, S. 177 ff.; Mezger,
Lehrb., S. 114 ff.; Hardwig, JZ 1968, 289 Cf.; Bockelmann/Volk, S. 163; Ebert, Jura 1979, 564; Jescheck, Lehrb., S. 249 f.; Sch./Sch./Lenclcner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 86; im Zivilrecht Münzberg, Verh. u. Erfolg, S. 129 ff.; Kramer, JZ 1976, 340; Gottler, S. 79; Esser/Schmidt, S. 522.
38 Vgl. Einleitung 11.
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
40
welche die h.M. zur Vermeidung "absurder Ergebnisse" der naturwissenschaftlichen Kausalitätsbetrachtung heranzieht,39 Genüge getan wird. Bedenken daran müssen aufkommen, wenn man überlegt, wie Puppe die Auswahl der Parameter trifft, die in die "Kausalerklärung" einbezogen werden sollen. Betrachten wir das Beispiel eines Unfallopfers, das im Krankenhaus (etwa durch einen Brand) weiteren Schaden erleidet. Nach Puppe soll in diesem Fall die Kausalität des für den Unfall Verantwortlichen für den Zweitschaden entfallen, weil die erste Verletzung nicht mehr gebraucht werde, um die zweite zu erklären (anders natürlich, wenn die Verletzung das Risiko für den Folgeschaden erhöht hat, z.B. wenn er sich infolge seiner Verletzung bei einem Brand nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte).4O Die unerlaubte Handlung habe in solchen FaIlen neben dem unerlaubten41 auch einen erlaubten Zustand42 geschaffen; ist die Zweitschädigung nur Folge des erlaubten Zustandes, so könne sie die Zurechnung des Erfolges nicht tragen. 43 Auch wenn dieser Erwägung grundsätzlich zuzustimmen ist, so ist sie doch keine spezifische Frucht des "normativen" Kausalbegriffs, sondern nur eine Präzisierung der Figur des "allgemeinen Lebensrisikos": Weil zwischen Verhalten und Erfolg kein unrechtstypisches, sondern ein erlaubtes Ereignis zwischengeschaltet ist, erscheint die Aussage berechtigt, es habe sich nur das allgemeine Lebensrisiko in rein zufaIliger Verknüpfung mit dem verbotenen Verhalten realisiert. Dieser Gedanke44 läßt sich aber auch bei einer Lösung nach der h.M. verwenden, zwar nicht bei der Prüfung der völlig wertfrei45 zu bestimmenden Kausalität, aber dafür eben bei der sich anschließenden Prüfung des normativen Zurechnungszusammenhangs, bei der die erforderlichen Eingrenzungen des nach der Kausalitätsprüfung zunächst uferlos weiten Zurechnungsrahmens erfolgen. 46 Der Übergang zur "normativen" Kausalität bewirkt also lediglich eine Verschiebung des 39 Puppe, 1StW 92 (1980), S. 864; 1StW 99 (1987), S. 595.
40 1StW 99 (1987), 608 ff. 41 Verletzung. 42 Aufenthalt an einem Ort, der nicht mehr und nicht weniger als andere auch vom
stimmter Katastrophen bedroht ist
Eintritt be-
43 Aa.O., S. 610 f. 44 Der als solcher im Interesse einer möglichst präzisen Fassung der Kriterien auch des normativen Teils des Zurechungszuaammenhangs sicherlich sehr positiv zu betrachten ist
45 Also ohne Rücksicht darauf, ob die Ereignisse durch "erlaubte"
sind.
Zwischenzustände verknüpft
46 Vgl. JescMck, Lehrb.,S. 2S8 f.; Sch./Sch./Lenekner, Voroem. §§ 13 ff. Rdnr. 96; ebenso im Zivilrecht Larenz, SehR I, S. 435 ff.; Esser/Schmidt, S. 522 ff., 533 f.
A Rechtmäßiges A1temativverhalteo und Kausalität
41
Problems: Die Bekämpfung der Unsicherheiten, die mit den zur Vermeidung "absurder Ergebnisse" erforderlichen normativen Erwägungen verbunden sind, wird nicht dadurch erleichtert, daß man zuerst mittels normativer Betrachtung den Kreis der zu berücksichtigenden Tatsachen einschränkt, anstatt für die Kausalerklärung zunächst alle Tatsachen zu verwenden und anschließend die notwendigen normativen Einschränkungen vorzunehmen. Damit stellt sich die Frage nach der Zweckmäßigkeit des neuen Ansatzes. Gegen diese spricht wiederum47 die Gefahr der Begriffsverwirrung bei Vermengung der wertfreien Kriterien der Kausalbeziehung mit normativen Erwägungen bzw. der Verdekkung von Wertungen unter dem Etikett der "Kausalität". b) Die Bewältigung der Reserveursachen-Problematik
Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob sich über die eben genannte Zweckmäßigkeitserwägung hinaus auch zwingende Gründe gegen die Lösung nach Puppe anführen lassen. Dazu soll näher untersucht werden, inwieweit es Puppe tatsächlich gelungen ist, das Problem der Reserveursachen ohne Abstellen auf den "ganz konkreten Erfolg" in befriedigender Weise in den Griff zu bekommen. aa) Der Ausschluß der Kausalität durch Reserveursachen Den Effekt, daß bei Anwendung der csqn-Formel Reserveursachen die Kausalität scheinbar ausschließen können (s.o. l.c. Fn. 23), braucht man bei der Anwendung von Engischs Formel von der gesetzmäßigen Bedingung nicht mehr zu befürchten: Reserveursachen können den Erfolg nicht erklären, da bei ihnen die Kette der Zwischenstadien zum Erfolg nicht lückenlos gegeben ist; sie können danach auch keine Zweifel an der Ursächlichkeit der "richtigen" Bedingung aufkommen lassen. Nun hat Engisch48 in seiner Formel an der Betrachtung des konkreten Erfolges festgehalten, während sich Puppe hiervon distanziert. Die Loslösung von der konkreten Erfolgsgestalt führt aber dazu, daß nicht mehr alle Zwischenglieder der Kausalkette bei der Erfolgserklärung berücksichtigt werden; wie wir gesehen haben, will Puppe ja ausdrücklich auf die
47 Wie schon gegen die "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" im herkömmlichen Sinn als zweite Stufe der Zurechnung nach Feststellung der naturwissenschaftlichen Kausalität, vgl. o. I. am Ende. 48 Engisch, Kausalität, S. 21.
42
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
rechtlich irrelevanten Glieder der Kausalerklärung verzichten. So sind auch in ihrer schematisierten Formel (Wenn der Satz gilt "wenn p, q, r ... x als Bedingungen gegeben sind, dann tritt der Erfolg e ein" und Bedingungen der Art p, q, r ... x vorgelegen haben, dann sind diese im konkreten Fall vorliegenden Bedingungen für den Eintritt des Erfolges e kausal)49 ganz im Gegensatz zu Engischs KausalitätsdefinitionSO die Zwischenursachen nicht berücksichtigt. Dennoch tritt das Problem des Kausalitätsausschlusses durch Reserveursachen nicht auf: Wenn außer den tatsächlich wirksamen Bedingungen noch weitere Tatsachen der Art p,q,r ... x vorhanden sind, so ändert das selbstverständlich nichts an der Kausalität der ersteren. 51
bb) Reserveursachen werden selbst für den Erfolg kausal Dafür tritt nun ein anderer, ebenso mißlicher Effekt ein: Da die Reserveursachen ebenso wie die realen Bedingungen solche der Art p,q,r ... x sind, sind sie nach Puppes Formel für den Erfolg kausal. Nun erkennt Puppe diese unangenehme Konsequenz und zieht daraus den Schluß, daß man die Zwischenursachen eben doch berücksichtigen muß ("genetische Kausalerklärung").52 Sie will dabei aber vermeiden, nun doch wieder die "konkrete Gestalt", diesmal des Kausalverlaufs, in die Betrachtung einzuführen:53 Die "genetische Kausalerklärung" soll vom Erfolg rückwärts erfolgen und nur solche Tatsachen einbeziehen, die "zur kausalen Erklärung des jeweils nächsten Stadiums des Verlaufs erforderlich sind." Dabei bleiben aber solche Zwischenstadien außer Betracht, die nur durch Fakten gekennzeichnet sind, welche für die Erklärung des (abstrakten!) ErfOlgseintrittes bedeutungslos erscheinen. So soll bei der Zerstörung eines Hauses durch eine Bombe die genaue Lage des Sprengsatzes für die Kausalerklärung unerheblich sein; auch die genaue Zeitangabe sei unbeachtlich.54 Der Unterschied zur herrschenden Meinung besteht also darin, daß zwar eine "Konkretisierung" des Kausalverlaufs stattfindet - was sonst ist die Vervoll49 Puppe, 'lStW 92 (1980), S. 875.
SO Engisch a.a.O., S. 21.
51 Kuhlen, S. 63 Fn. 151, nimmt an, daß der Ersatz der notwendigen Bedingung i.S. der csqnFormel durch Puppes Formel vom "notwendigen Bestandteil der zureichenden Mindestbedingung" hinsichtlich der Ausschaltung von Reserveursachen im Ergebnis genau das gleiche leiste wie die "Konstruktion der Erfolges in seiner konkreten Gestalt" 52 Puppe a.a.O., S. 888 f.
53 Aa.O., S. 890. 54 Aa.O., S. 893.
A. Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
43
ständigung der Kausalerklärung durch Einbeziehung von Zwischenschritten? - , diese jedoch nicht mit letzter Konsequenz bis zur Einbeziehung aller Umstände durchgeführt wird. Damit drängt sich die Frage auf, woher Puppe die Maßstäbe dafür nimmt,
wie weit sie die Konkretisierung betreiben darf, und ob eine teilweise Konkretisierung nicht auch nur zu einer tei/weisen Ausschaltung der Reserveursachen
führt. Daß wir damit am wunden Punkt des Modells angelangt sind, läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen, anläßlich dessen Puppe selbst Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Ursachen und Ersatzursachen einräumt: Ss Zwei Jungen spielen Fußball, wobei eine Mauer gegenüber einer Schaufensterscheibe das Tor darstellt. Nach einer mißlungenen Abwehr des Torwarts, der den Ball nur gestreift und dabei die Flugbahn leicht verändert hat, prallt der Ball von der Mauer ab und fliegt in die Scheibe; letzteres wäre auch ohne die Berührung passiert. War die Abwehr des Torwarts kausal für die Zerstörung der Fensterscheibe? Bei Anwendung der csqn-Formel könnte man zur Vemeinung dieser Frage gelangen, denn schließlich wäre die Scheibe auch dann zerstört worden, wenn er den Ball gar nicht berührt hätte. Andererseits ist zu bedenken, daß der Ball dann eine andere Flugbahn beschrieben hätte und an einer anderen Stelle der Scheibe "eingeschlagen" wäre, so daß der "konkrete" Geschehensablauf und Erfolg ein anderer geworden wäre. Ist der (hypothetisch gebliebene) direkte Weg des Balles vom Torschützen über den Abprall an der Mauer in die Scheibe also nicht richtigerweise nur als Reserveursache gegenüber dem tatsächlichen Geschehen anzusehen, zu dem die Änderung der Flugbahn durch den Torwart gehört, und ist damit dieser doch für den Erfolg kausal? Puppe will getreu ihrem Modell auf eine exakte Beschreibung der Flugbahn verzichten und sich für die Kausalerklärung auf die Angabe einer "Bahnenschar" beschränken, innerhalb deren sich der Ball bewegt haben muß, um die Scheibe zu treffen; Ereignisse, die nur im Rahmen dieser "Bahnenschar" die Flugbahn modifIZiert haben, sind damit nicht zur Erklärung des Erfolges erforderlich und folglich nicht kausal. Da die "Bahnenschar" sowohl die Flugbahn mit als auch die ohne das Eingreifen des Torwarts umfaßt, scheidet die mißlungene Abwehr aus der Kausalerklärung aus, der Torwart hat den Erfolg nicht (mit-) verursacht. Wie ist der Fall aber zu beurteilen, wenn die Abwehr gelingt und der Ball direkt vom Torwart, also ohne Berührung der Mauer, in die Scheibe fliegt? Auch hier gehören sowohl die tatsächliche als äuch die hypothetische Flugbahn zur Gruppe der Bahnen, die zur Zerstörung der Scheibe führen, der Unterschied
SS Vgl. Puppe a.a.O., s. 869, 894 f. (Beispiel nach Wolf!, Kausalität, S. 22).
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
44
zur anderen Fallgestaltung ist nur ein quantitativer, indem der Torwart hier eine stärkere Abwandlung der Flugbahn bewirkt hat. Aber ist hier noch der Schluß tragbar, der Torwart habe mit der Zerstörung der Scheibe, in die er den Ball hineingelenkt hat, nichts zu tun, nur weil hinter ihm eine Mauer war, von der der Ball "hilfsweise" in die Scheibe abgeprallt wäre? Dies ginge offenbar auch Puppe zu weit: Eine so ungenaue Fassung der Angaben über die Flugbahn des Balles, die zur Zusammenfassung dieser beiden stärker voneinander abweichenden Bahnen in einer "Bahnenschar" führen würde, überschreite "die Grenze zwischen bloß ungenauer Angabe der gegebenen Zwischenstadien und einer Zusammenfassung der wirklich gegebenen mit nicht gegebenen Zwischenstadien unter Oberbegriffen". Dem ist noch hinzuzufügen, daß bei Ausklammerung des Torwarts aus der BetraChtung in dieser Variante die Wand für den Schaden kausal sein müßte, obwohl der Ball sie doch gar nicht berührt hat: Nach wie vor ist ihr Vorhandensein ja notwendiger Bestandteil der zureichenden Mindestbedingung "Ballflug in der gefährlichen Bahnenschar", solange man nicht doch die Ballabwehr des Torwarts in die Erklärung einbezieht. Puppe räumt ein, daß hier "keine scharfe und erst recht keine logisch bestimmte Unterscheidung" vorliege. 56 Mit anderen Worten: Der Ansatz droht dahingehend auszuufern, daß am Ende hypothetische Schadensereignisse selbst kausal erscheinen, während tatsächlich vorhandene Kausalstränge im Zuge der "Abstraktion" vom konkreten Geschehen auf der Strecke bleiben. Um diesen Konsequenzen zu entgehen, muß Puppe mangels qualitativ bestimmtem Abgrenzungskriterium die Unterscheidung von wirklichen Ursachen und Reserveursachen über eine eingeschränkte Erfolgskonkretisierung bei der "genetischen" Kausalbetrachtung vollziehen. Hierbei ist eine willkürliche Grenzziehung notwendig. Damit wählt Puppe die Vorgehensweise, die sie der h.L. vorwirft. 57 ce) Das Erfordernis der "ganz konkreten" BetraChtung von Erfolg und Kausalverlauf Da Puppe Reserveursachen folglich ebenfalls über eine teilweise "Konkretisierung" der Betrachtungsweise ausschalten will und ihr dies soweit gelingt, wie sie diese Konkretisierung vollzieht (vgl. Fußball-Beispiel), stellt sich die 56 Puppe a.a.O., S. 895. 57 Vgl. ZStW 99 (1987), S. 596 ff. und ZStW 92 (1980), 873: Man beziehe immer gerade sol· che Parameter in den "konkreten Erfolg" ein, daß die Bedingungen, die man als kausal ansehen will, im Ergebnis auch als kausal erscheinen, nicht dagegen solche, die man schon vorher willkürlich als Reserveursachen bezeichnet hat
A Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
45
Frage, ob der Schlüssel zur vollständigen Bewältigung des Problems nicht doch in einer weitergehenden Erfolgskonkretisierung zu suchen ist, und ob die Einwände hiergegen nicht entkräftet werden können. Damit wäre freilich der Ansatz einer nonnativen Bestimmung des Kausalbegriffs verworfen und wir würden wieder zum wertfreien, naturwissenschaftlichen Kausalbegriff der h. M., zurückkehren. Zur Erleichterung der Entscheidung erscheint es nützlich, sich zunächst einmal zu verdeutlichen, was eigentlich das Kennzeichnende an einer Reserveursache ist. Definitionsgemäß besteht der Unterschied zwischen tatsächlichen und Reserveursachen gerade darin, daß erstere realiter den Erfolg herbeigeführt haben, während letztere ihn nur herbeigeführt hätten, wenn das Geschehen anders abgelaufen wäre. 58 Folglich müssen letzere dann Probleme bereiten, wenn man sich nicht strikt an die Realität hält, sondern versucht, von dieser zu "abstrahieren", sei es, daß man nicht mehr den Erfolg e zum Zeitpunkt t am Ort x betrachtet, sondern einen "nonnativ" abzugrenzenden Erfolg der jeweiligen Erfolgskategorie, sei es, daß man in der Kausalerklärung Zwischenschritte vernachlässigt: In Anbetracht der Tatsache, daß der Erfolg in Wirklichkeit zur Zeit t am Ort x eingetreten ist, verläßt man die Ebene der Wirklichkeit, wenn man glaubt, es komme eben nicht so genau darauf an, wann und wo nun der Erfolg eingetreten ist, denn der Tod des Unfallopfers 10 Sekunden später und I oder 100 Meter weiter entlang der Straße ist eben nur ein gedachtes Ereignis. Folglich sind auch die zu diesem führenden Schritte in der "genetischen Kausalerklärung" nicht Wirklichkeit, sondern nur gedachte Ereignisse und demnach Reserveursachen. Aber auch die Vernachlässigung von Zwischenschritten in der Kausalerklärung führt zu Störungen durch Reserveursachen, selbst wenn man die konkrete Handlung und den konkreten Erfolg betrachtet: Prüft man nur den Bedingungszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg und keinerlei Zwischenursachen, so führen sämtliche Reserveursachen bei Verwendung der conditio-sinequa-non-Fonnel zum Ausschluß der Kausalität (s.o. aa.), und bei Verwendung der Fonnel nach Puppe werden sie selbst kausal (s.o. bb». Denn bei einem solchen Vorgehen übersieht man, daß Handlung und Erfolg nur Momentaufnahmen im Laufe eines kontinuierlichen Geschehens darstellen und folglich über Zwischenzustände verbunden sind. Vernachlässigt man diese, so ist es möglich, daß nicht das aus der Handlung folgende Zwischenereignis x, sondern in Wirklichkeit das von der Handlung unabhängige Ereignis y den Erfolg herbeiführte. 58 Vgl. Schulin, S. 170 ff.; Sch./Sch./LenclcMr, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 81.
46
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
Diesen Effekt kann man nun vermeiden, wenn man im Rahmen einer "genetischen Erklärung" des Erfolges Zwischenereignisse einbezieht. Wenn man dabei aber auf halbem Weg stehenbleibt, so besteht die Gefahr, daß man zwar einen Teil der Reserveursachen ausschaltet, für den anderen dagegen Einfallstore offenläßt: Da das Kausalgeschehen kontinuierlich abläuft, sind die Einzelereignisse, welche man in die Kausalkette einbezieht, ja untereinander wieder durch Zwischenschritte verbunden, bei deren Nichtbeachtung wiederum nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob das nächste Ereignis tatsächlich über Zwischenereignis x mit dem vorhergehenden verknüpft ist oder in Wirklichkeit von Reserveereignis y ausgelöst wurde. Wir sehen: Reserveursachen lassen sich nur dann ausschalten, wenn wir uns durch konkrete Betrachtung des Geschehensablaufs (und damit auch von Handlung und Erfolg, die ja Beginn und Ende des konkreten zu untersuchenden Geschehensablaufs darstellen) streng an das halten, was wirklich geschehen ist.59 Der entscheidende Schritt beim Übergang von der conditio-sine-qua-non-Formel zur Formel von der gesetzmäßigen Bedingung liegt demnach gar nicht darin, daß man nicht mehr fragt, ob der Erfolg auch ohne die Bedingung eingetreten wäre, und stattdessen darauf abstellt, ob die Bedingung zur gesetzmäßigen Erklärung des Erfolges geeignet ist.60 Der bedeutende Fortschritt bei Engischs Formel besteht vielmehr darin, daß bei ihr die naturgesetzliche Verbundenheit über eine lückenlose Kette61 tat59 Auch Spendei, Kausalitätsformel, S. 38; 44 ff., will Reserveursachen dadurch ausschalten, daß er nur Umstände in die Betrachtung einbezieht, die sich tatsächlich verwirklicht haben, versucht allerdings, diesen Ansatz mit der Conditio-sine-qua-non-Formel in Einklang zu bringen, dazu zu recht krit. Puppe, ZStW 92 (1982), 868 ff. 60 Es ist gleichermaßen fehlerhaft, wenn man eine Bedingung deshalb als kausal bezeichnet, weil sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, oder weil sie geeignet ist, den Erfolgseintritt zu erklären: Im ersten Fall setzt die Feststellung, daß der Erfolg ohne die Bedingung ausgeblieben wäre, das KausaIurteil schon voraus (vgI. Engisch, Kausalität, S. 18 f.; Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-FS, S. 208 ff., Maiwald, S. 5 f.; Gmür, S. 142 ff.; Jescheck, S. 253), im zweiten Fall wird gar nicht die Feststellung getroffen, daß die Bedingung den Erfolg verursacht hat, denn den Erfolgseintrilliogisch erklären kann man auch mit Ereignissen, die ihn gar nicht bewirkt haben, sondern nur hätten bewirken können. 61 Aufgrund des Umstandes, daß an sich ein kontinuierlicMs Geschehen vorliegt, innerhalb dessen jeder Zwischenschrill wiederum nur eine Momentaufnahme darstellt, bedeutet dies, daß wir den Ablauf theoretisch in unendlich viele Schrille zerlegen müßten. Praktisch ist dies natürlich nicht möglich und auch insofern nicht nötig, als es häufig offensichtlich ist, daß Schrill x Schritt y tatsächlich bewirkt hat, weil Reserveursachen nicht ersichtlich sind: Daß im Fußballspieler-Beispiel die Ballposition a in Verbindung mit der kinetischen Energie des Balles die BalIposition b, bei der der Ball einen Meter weitergeflogen ist, bewirkt hat, kann mangels anderer in Betracht kommender Ursachen nicht zweifelhaft sein, so daß es sinnlos wäre, die Zwischenpositionen zu untersuchen (vgI. zur Entbehrlichkeit der Berücksichtigung aller Zwischenursachen Puppe, ZStW 95 (1983), 300; Krüntpelmann, Jescheck-FS, S. 316 f.). Anders liegen die Dinge natürlich, wenn zwischen beiden Positionen ein weiterer Spieler stand, der möglicherweise die Flugbahn verändert hat: Dann
A Rechtmäßiges Altemativverhalten und Kausalität
47
sächlich gegebener Zwischenschritte in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird.62 Damit deutet sich das Scheitern des Versuchs an, die naturwissenschaftliche Kausalität durch einen "normativen" Kausalbegriff zu ersetzen, indem man die zu berucksichtigenden Tatsachen im Hinblick auf die jeweilige Norm bestimmt. Bevor wir aber endgültig zum auf den konkreten Geschehensablauf abstellenden und damit alle mit dem Erfolg zusammenhängenden Tatsachen berucksichtigenden naturwissenschaftlichen Kausalbegriff zUlÜCkkehren, wollen wir noch die Bedenken zerstreuen, mit denen Puppe den "Rittern von der konkreten Gestalt"63 begegnet. dd) Kein Zirkelschluß durch "konkrete Betrachtung" des Geschehensablaufs (1) Puppes Einwand Puppe erhebt gegen eine "ganz konkrete" Betrachtung des Geschehens im wesentlichen folgenden Einwand: Das Verfahren sei zirkelschlüssig, weil man keine Regel angeben könne, was zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt gehört; man wähle einfach solche Umstände aus, die durch die schon vorher als solche definierte Ersatzursache nicht erklärt werden können, konkretisiere mit ihnen den Erfolg und stelle dann fest, daß die Ersatzursache diesen Erfolg nicht herbeigeführt hat.64 Dieser Zirkelschluß werde besonders dann offenbar, wenn man so weit geht, daß man den Kausalverlauf selbst als Bestandteil des konkreten Erfolges ansieht, weil man damit den Kausalverlauf voraussetze, den man doch erst feststellen wolle. 65 Will man diesem Einwand entgehen, indem man sagt, man müsse eben alle Parameter des Erfolges mit einbeziehen, so werde das Kausalitätserfordernis sinnlos: Wenn man den Erfolg beliebig konkret faßt, müßte festgestellt werden, ob ein Zwischenereignis gegeben ist, das die Flugbahn tatsächlich verändert hat.
62 Die Kette aufeinanderfolgender Ereignisse steht auch im Mittelpunkt der Original formel nach Engisch (Kausalität, S. 21, vgl. o. l.b.), wenngleich das Erfordernis der theoretischen Lückenlosigkeit dort nicht explizit zum Ausdruck kommt. In der schematisierten Variante nach Puppe dagegen stellt die Berücksichtigung von Zwischenschritten nur noch ein - wie wir gesehen haben unscharfes - Korrektiv dar. 63 Puppe, ZStW 99 (1987), S. 602
64 vgl. Puppe a.a.O., S. 596 f. und ZStW 92 (1980), S. 872 ff. 65 Puppe, ZStW 92 (1980), S. 874, insoweit im Anschluß an Engisch a.a.O., S. 16, der mit dem Vorwurf des Zirkelschlusses aber nicht die konkrete Betrachtungsweise der Gegebenheiten, sondern die Kausalitätsermittlung durch die csqn-Formel angreift.
48
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
indem man ihn mit immer mehr Parametern anreichert, so wird man bald an einem Punkt angelangen, in dem das gesamte vorhergehende WeItgeschehen kausal wird, da jedes vorhergehende Ereignis einen der dann unüberschaubar vielen Parameter mitbeeinflußt hat.66 (2) Keine Kausalität des gesamten vorhergehenden WeItgeschehens l..etzerer Erwägung dürfte ein Mißverständnis zugrunde liegen, evtl. dadurch bedingt, daß die Anhänger der h.L. vielfach nicht deutlich zum Ausdruck bringen, welche Angaben in die Erfolgsbetrachtung einzubeziehen sind.67 Natürlich ist es völlig sinnlos, den Erfolg dadurch zu "konkretisieren", daß man irgendwelche Begleitumstände, die mit dem jeweiligen Tatbestand nichts zu tun haben, zu seinen Bestandteilen erklärt. Bei diesem Verfahren kann man in der Tat das gesamte vorhergehende WeItgeschehen für kausal erklären, wenn man nur genug Parameter in die Erfolgsbeschreibung einführt (unter Einschluß so unsinniger Daten wie der Frage, ob es zum Tatzeitpunkt auf der anderen Seite der Erde geregnet hat). Ein derartiges Vorgehen ist aber auch gar nicht nötig, wenn man im Auge behält, was man mit der "Konkretisierung" bezweckt, nämlich lediglich die Unterscheidung realer von nur gedachten Ereignissen. Dazu ist es erforderlich und ausreichend, die Angaben in die Erfolgsbetrachtung einzubeziehen, die ein Ereignis in den KoOrdinaten des WeItgeschehens eindeutig definieren, nämlich der exakte Ort und die exakte Zeit des Vorgangs. 68 Wenn man über diese Informationen verfügt, dann läßt sich eindeutig sagen, ob der zu untersuchende Erfolg (den man im übrigen sinnvollerweise nach des Angaben des zur Debatte stehenden Tatbestandes beschreibt, also z.B. der Tod eines Menschen; insoweit hat die Forderung, vom tatbestands mäßigen Erfolg auszugehen, ihre Berechtigung(9) tatsächlich stattgefunden hat ("A ist zur Zeit t am Ort x gestorben") oder nicht ("A ist nicht zur Zeit t am Ort x gestorben, sondern schon vorher"); letzterenfalls liegt nur ein gedachtes Ereignis vor, bezüglich dessen folglich auch keine realen Kausalbeziehungen festgestellt werden kön66 Puppe a.a.O., S. 872 f., ebenso schon Hall, Grdnhut-Brinnerungsgabe, S. 218; im Zivilrecht Bydlinslci, S. 14 f.; vgl. ferner J alcobs, Lebrb., S. 158.
67 Vg!. z.B. Mezger, Lebrb., S. 114, der den Erfolg "mit allen seinen Modalitäten" berücksichtigen will. Hier erscheint die kritische Frage berechtigt: Was gehört zu den Modalitäten des Erfolges?; vg!. ferner Welzel, Lehrb., S. 43; Ebert, Jura 1979, 564. 68 Vg!. Maiwald, S. 37 (mit naturwissenschaftlicher Begründung); Rödig, S. 20. 69 Daher ist die Formulierung vom "konkreten tatbestandsmäßigen Erfolg" im Grundsatz wohl zutreffend
A Rechtmäßiges A1temativverhalten und Kausalität
49
nen. Bei dieser Erfolgsbeschreibung wird der Kausalitätsbegriff zugegebenermaßen sehr weit, und selbstverständlich reicht die derart bestimmte Kausalität als alleiniges Zurechnungskriterium nicht aus. Das soll uns aber insofern nicht weiter stören, als es ja offensichtlich nicht möglich ist, die Zurechnung völlig wertfrei zu betreiben (auch Puppe ist ja, wie wir gesehen haben, zu normativen Erwägungen gezwungen, um die Parameter auszuwählen, mit denen sie die Kausalitätsfeststellung durchführen will), so daß nichts dagegen spricht (die Zeckmäßigkeit spricht wohl eher dafür, vgl. o. 2.a.), die erforderlichen Einschränkungen auf einer späteren Zurechnungsstufe vorzunehmen. Das Bedenken, das Kausalitätserfordernis werde sinnlos, weil im Ergebnis alles, was vorher auf der Welt passiert ist, als kausal für den Erfolg angesehen werden kann, ist jedenfalls gegenstandslos geworden: Da bloße Begleiterscheinungen des tatbestandsmäßigen Erfolges außer Betracht bleiben,70 werden die Ursachen der Begleiterscheinungen auch nicht für den rechtlich relevanten Erfolg kausal. So ist z.B. im Beispiel der vom Täter zerstörten bemalten Vase 7l der Maler, der diese bemalt hat, nicht deshalb für den rechtlich relevanten Erfolg kausal, weil aufgrund seines Tätigwerdens bemalte statt unbemalte Scherben am Boden liegen: 72 Der Tatbestand der Sachbeschädigung (beziehungsweise im Zivilrecht die Deliktshaftung für Eigentumsverletzung) knüpft nicht an einer bestimmten Beschaffenheit des zerstörten Gegenstandes an (diese ist allenfalls für die Rechtsfolgen von Bedeutung, also etwa für die Höhe der Strafe bzw. des Schadensersatzes, wenn die Vase aufgrund der Bemalung besonders wertvoll war).73 Der Umstand, daß die Kausalität gleichwohl weite Kreise zieht, sollte auch über ihre Bedeutung nicht hinwegtäuschen, denn ihr Erfordernis führt immer70 Für eine derartige Eingrenzuog des relevanten Erfolges nach dem Tatbestand übrigens bereits M. L. Müller, der wohl der Begründer der Lehre ist, die auf die "konkrete Gestalt" abstellt, S. 10, 13 f.; ebenso Gmür, S. 50 f. 7l Beispiel von Engisch, Kausalität, S. 9 ff.; von Puppe, 'ZStW 92 (1980) als Beispiel für die Unmöglichkeit angeführt, den "konkreten Erfolg" sinnvoll zu bestimmen. 72 So auch Gmür, S. 51.
73 Eine
Kausalität des Malers für den konkreten tatbestaodsmäßigen Erfolg im hier verstandenen Sinn kann sich freilich daraus ergeben, daß die Vase aufgruod der Zeit, die das Bemalen in Anspruch nahm, erst später in die Hände des Zerstörers gelangte. In diesem Fall könnte die Zurechnung erst an einer späteren Stelle des Tatbestandsaufbaus verneint werden. Auf der Ebene der Kausalität wäre man dagegen auf die Angabe des Bemalens der Vase angewiesen, da man nur so erklären kann, daß die Vase zum entsprechenden Zeitpunkt am entsprechenden Ort zerstört wurde, und da man diese Angaben für die Feststellung benötigt, daß man ein reales Ereignis betrachtet und nicht ein nur gedachtes: Zum Zeitpunkt, zu dem die Vase ohne die Bemalung zerstört worden wäre, fand eine Zerstörung nun einmal in Wirklichkeit nicht statt. 4 Erb
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
50
hin zur Ausscheidung von solchen Bedingungen, die weder mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges als solchem noch mit seiner genauen Zeit oder seinem genauen Ort in naturgesetzlichem Zusammenhang stehen. Damit entfällt hinsichtlich vieler Handlungen (und gerade auch solcher, die Reserveursachen gesetzt haben, welche den Erfolg hätten bewirken können, ihn tatsächlich aber nicht bewirkt haben) die Zurechnung bereits auf Kausalitätsebene, ohne daß es insoweit des Rückgriffs auf häufig mit Unsicherheit behaftete normative Erwägungen bedarf.
(3) Zulässigkeit der Konkretisierung auch des Kausalverlaufs Wie steht es aber mit dem Bedenken, die Einbeziehung auch des Kausalverlaufs in die Bestimmung des konkreten Erfolges sei einerseits in bestimmten Fallgestaltungen zum Ausschluß von Reserveursachen unerläßlich,74 aber andererseits offensichtlich zirkelschlüssig (s.o.)? Unzulässig ist selbstverständlich eine "Konkretisierung" in dem Sinn, daß in die Kausalitätsprüfung überhaupt nur Bedingungen einbezogen werden sollen, die für den Erfolg kausal sind, denn dabei würde man in der Tat das voraussetzen, was man feststellen will. Eine richtig verstandene "konkrete Betrachtungsweise" des Kausalverlaufs nimmt die Vorauswahl der Fakten aber nichtnach ihrer Kausalität für den Erfolg vor, sondern lediglich unter dem GesiChtspunkt, ob sie in Wirklichkeit gegeben sind. Von daher ist es strenggenommen nicht ganz korrekt, von einer Betrachtung des "konkreten Kausalverlaufs" zu sprechen; zutreffender müßte wohl von einer Konkretisierung der als Zwischenursachen in Frage kommenden Ereignisse oder von der "tatsächlichen Verknüpfung des Geschehens nach Kausalgesetzen"75 die Rede sein. Das richtige Vorgehen würde wiederum darin bestehen, daß man die möglichen Zwischenschritte des Kausalverlaufs mit Zeit- und Ortsangabe versieht und nur die Tatsachen berücksichtigt, die zum entsprechenden Zeitpunkt am entsprechenden Ort auch wirklich vorgelegen ha-
74 Vielzitiertes, wohl auf Engisch a.a.O., S. 15 zurückgehendes Beispiel ist der sogenannte Scharfrichter-Fall: Der Vater des Opfers stößt den Henker zur Seite und betätigt den Hebel des Fallbeils exakt zu dem Zeitpunkt, zu dem es andernfalls der Henker getan hätte. Geht man vom Tod des Verurteilten zum Zeitpunkt t unter dem Fallbeil als dem konkreten tatbestandsmäßigen Erfolg aus und verzichtet auf eine Konkretisierung auch des Kausalverlaufs, so läßt sich nicht aufzeigen, daß nicht der Henker, sondern nur der Vater den Erfolg verursacht bat: Ein Bedingungszusammenbang zum Erfolg ist nach Naturgesetzen ja sowohl vom Verhalten des Vaters her gegeben als auch vom Verhalten, das der Henker ohne das Eingreifen des Vaters an den Tag gelegt hätte. 75 Für letzteres Wolf!,
Kausalität, S.
15 Fn. 12.
A Rechtmäßiges Alternativverhalten und Kausalität
51
ben. Der Scharfrichter-Fa1l76 wäre danach in folgender Weise zwanglos zu lösen: Als Ursache des Todes des Verurteilten ist das Verhalten des Henkers und das des Vaters des Opfers zu untersuchen. Betrachtet man das Verhalten des Henkers, so wird man feststellen, daß er zwar zur Hinrichtung angesetzt und diese bei normalem Gang der Dinge auch ausgeführt hätte. Gleichzeitig wird man aber die Beobachtung machen, daß der für eine "genetische Kausalerklärung" notwendige Zwischenschritt "Griff des Henkers zum Auslöser" zu keinem Zeitpunkt stattgefunden hat, also ein rein hypothetisches Ereignis ist und daher nicht berücksichtigt werden darf, wenn man nicht Reserveursachen in die Kausalerklärung einbeziehen will. Damit fehlt es an einem Verbindungsglied zwischen dem Betätigen des Hebels durch den Henker und dem Tod des Verurteilten, so daß er nicht für den Erfolg kausal wurde. Bezüglich des Verhaltens des Vaters wird man dagegen feststellen, daß nicht nur eine lückenlose Kette von naturgesetzlich verbundenen Ereignissen einschließlich Betätigung des Auslösers gedacht werden kann, sondern daß jene jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort auch eingetreten sind. Wir stellen also fest, daß wir mit einer Kausalreihe aus realen Ereignissen zu tun haben, und daß infolgedessen die Kausalität des Vaters für den Tod des Delinquenten bejaht werden kann. Bei diesem Verfahren wurde für die Feststellung der Kausalbeziehung an keiner Stelle das Bestehen eines Kausalzusammenhangs vorausgesetzt, so daß der Vorwurf eines Zirkelschlusses nicht gerechtfertigt ist.77 Es geht lediglich darum, Ereignisse, die tatsächlich nicht stattgefunden haben, nicht nur auf Erfolgsebene, sondern auch bezüglich der zum Erfolg führenden Zwischenstufen aus der Betrachtung auszuschalten.
(4) Vorgabe der Wirklichkeit durch konkrete Gestalten? Nun wendet sich Puppe gerade gegen die Erwägung, daß die Wirklichkeit durch konkrete Gestalten vorgegeben wird, von denen nicht abstrahiert werden 76S. Fn. 74. 77 Zirkelscblüssig ist das Verfahren allerdings, wenn man bei einer Prüfung nach der csqn-Formet auf den konkreten Kausalverlauf abstellt: Man würde die Kausalität dadurch feststellen, daß man die Möglichkeit des Wegdenkens einer Bedingung prüft, aber nur der konkret wirksamen Bedingung, also derjenigen, die tatsächlich kausal wurde. Der Fehler liegt dabei aber nicht in der Betrachtung des konkreten Verlaufs des tatsächlichen Geschehens, sondern in der Anwendung der csqn-Fonnel, diese ist zirkelschlüssig (vgI. o. Fn. 60); ihr Fehler, die Kausalität als naturgesetzlieben Zusammenhang nicht festzustellen, sondern vorauszusetzen, Irin hier nur besonders deutlich zutage, vgl. Engisch, Kausalität, S. 15 f.; Gmür, S. 142 ff.; Jescheck, Lehrb., S. 254; Jakobs, Lehrb., S. 156 f.
52
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
darf: Menschliche Erkenntnis sei nicht aufgrund der in der Natur gegebenen Fakten als solcher möglich, sondern setze eine Begriffsbildung und damit eine Abstraktion notwendig voraus. 78 Die damit berührten wissenschaftstheoretischen Fragen können im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden. Puppes Einwand sei aber folgendes entgegengesetzt: Zwar soll die Notwendigkeit einer Begriffsbildung ebensowenig bestritten werden wie der Umstand, daß der Inhalt der Begriffe nicht durch die Wirklichkeit vorgegeben ist, sondern durch Definitionen festgelegt werden muß.79 Jedoch darf man nicht aus den Augen verlieren, daß eine sinnvolle Begriffsbildung doch zu dem Zweck erfolgt, mit den Begriffen gegebene Sachverhalte zu benennen und damit die Wirklichkeit mittels der Sprache faßbar zu machen.80 Die Begriffe müssen also so definiert werden, daß sie zur Benennung realer Zustände taugen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn auf begrifflicher Ebene zwischen wirklichen und gedachten Ereignissen unterschieden wird, denn Definitionen, welche dies nicht zu leisten vermögen, wären nur zur Errichtung von Gedankengebäuden ohne Wirklichkeitsbezug geeignet, weil bei keinem von ihnen benannten Gegenstand gesagt werden könnte, ob dieser nun existiert oder nicht. Zur Differenzierung zwischen realen und gedachten Ereignissen ist die Sprache auch sehr wohl in der Lage: Wenn man vom Erfolg "Tod des A" ohne Zeitund Ortsangabe spricht, so ist in der Tat nicht festgelegt, ob ein reales oder ein gedachtes Geschehen betrachtet wird. Da A nur einmal gestorben sein kann, nämlich zur Zeit t am Ort x, behandeln wir ein nur gedachtes Ereignis, wenn wir uns von diesen Angaben entfernen, indem wir z.B. auch den Tod des Azur Zeit s am Ort y in die BetraChtung einbeziehen; letzeres Ereignis hat nämlich nie stattgefunden. Erweitern wir die Definition dagegen um die Daten "Zeit t I Ort x", so beziehen wir uns auf das Ereignis, das wirklich stattgefunden hat. Wenn Puppe die Möglichkeit einer solchen Differenzierung zwischen realen und hypothetischen Ereignissen nicht anerkennt, so liegt im übrigen bereits darin die Kapitulation vor der Reserveursachen-Problematik: Wie anders als durch Unterscheidung von realen und rein hypothetischen Ereignissen sollte man Reserveursachen, die doch gerade dadurch definiert sind, daß sie entweder selbst nur gedachte Ereignisse außerhalb der Wirklichkeit darstellen, oder zwar real 78 Puppe, 1BtW 99 (1987), S. 597 f. 79 Vgl. Hessen, Wissenschaftslehre, S. 163 ff; Kuchinke, S. 96 f.; Horn, S. 38 f. ("Logisch gese-
hen sind mithin die Begriffe immer vor den Tatsachen 'da', die Tatsachen wachsen sozusagen in ihren Begriff, in ihren Namen hinein. ").
80 Horn, S. 41.
A Rechtmäßiges A1temativverbalten und Kausalität
53
vorliegen, aber mit dem Erfolg nicht durch eine lückenlose Kette von realen Zwischenursachen (s.o. Fn. 61) verbunden sind, aus der Betrachtung ausscheiden?
III. Ergebnis; Übertragung der Konsequenzen auf die zivilrechtliehe Fragestellung
Welche Konsequenzen ergeben sich nach alledem für das Verhältnis rmAV Kausalität? Wir haben oben unter I. zunächst festgehalten, daß es im Sinne der Begriffsklarheit nicht sinnvoll erscheint, den Kausalbegriff doppelt zu belegen, also zunächst die naturwissenschaftliche Kausalität zu prüfen und im Anschluß daran das Problem des rmAV als Frage der "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" anzusprechen. Als sogar fehlerträchtig erschien der Versuch, auf die Prüfungsstufe der naturwissenschaftlichen Kausalität ganz zu verzichten und das Kausalurteil ausschließlich als normativ gefärbtes Urteil über den Bedingungszusammenhang aufzufassen: Da wir bei der Prüfung der naturwissenschaftlichen Kausalität einen in der Wirklichkeit vorliegenden naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen feststellen, werden gerade an dieser Stelle die Reserveursachen ausgeschieden, die sich von den realen Ursachen eben nicht im abstrakten bzw. "normativen" Bedingungszusammenhang unterscheiden, sondern dadurch, daß die Ereigniskette zum Erfolg in der Realität nicht existiert. Das naturwissenschaftliche Kausalurteil, das im Einklang mit EngiscllS Formel von der gesetzmäßigen Bedingung aufgrund einer "konkreten" Betrachtungsweise erfolgt, indem man alle Ereignisse mit exakter OTts- und Zeitangabe versieht und nur dann berücksichtigt, wenn sie zur entsprechenden Zeit am entsprechenden Ort real stattgefunden haben, erweist sich damit als unerläßlich zur Bewältigung der Reserveursachen-Problematik. Wir haben uns mit dem Problem anband der von strafrechtlicher Warte aus verfaßten Aufsätze von Puppe auseinandergesetzt, jedoch ergeben sich für das Zivilrecht keine Abweichungen: Auch dort ist es erforderlich, eine Kausalbeziehung zwischen Handlung und Erfolg herzustellen und dabei die Reserveursachen auszusondern,81 so daß das zum Erfordernis einer naturwissenschaftlichen Kausalbetrachtung Gesagte auch hier gilt. Unterschiede ergeben sich auch nicht aus der im Zivilrecht weitgehend vertretenen Adäquanztheorie (also Ein81 Daß Reserveursachen nicht in die Kausalitätsbetrachtung einbezogen werden dürfen, ist ja auch bier allgemein anerkannt, vgl. Knappe, S. 75 f.; Schulin, S. 170 ff.; Larenz, SehR I, S. 523 f.; diskutien werden ja nur velSCbiedene Möglichkeiten, diese an späterer Stelle, insbes. bei der Scbadensberechnung, unter gewissen Umständen zu berücksichtigen.
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
54
schränkung der Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitserwägungen): Auch die Adäquanztheorie stellt zunächst die Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinn fest und nimmt die Einschränkungen erst anschließend in Form einer wertenden Betrachtung vor.82 Da wir uns mithin ohnehin an einem vorrechtlichen und nicht normativ geprägten Kausalbegriff orien.tieren müssen, können sich auch aus den unterschiedlichen Funktionen beider Rechtsgebiete im Kausalitätsbegriffkeine Unterschiede ergeben.83 Wir können also festhalten, daß die Kausalität nur im naturwissenschaftlichen Sinn aufgefaßt und geprüft werden sollte. Damit kann die Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht als Kausalproblem verstanden werden (daß im Radfahrer-Fall der LKW-Fahrer durch sein Überholmanöver den Tod des Radfahrers im naturwissenschaftlichen Sinne verursacht hat, kann ja wie o. unter I. gesagt keinen Zweifeln unterliegen und wird auch nirgends bestritten), sondern nur als weiteres Zurechnungsproblem neben der Kausalität.
B. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache Wenn das rechtmäßige Alternativverhalten im Rahmen der Kausalität keine Rolle spielt, dann stellt sich die Frage, ob es nicht mit allen Konsequenzen als Reserveursache zu behandeln ist: Wenn rmAV ein Verhalten des Täters ist, mit dem er den Erfolg rechtmäßig hätte herbeiführen können, wenn er nicht in concreto reChtswidrig gehandelt hätte, so stellt es ein Ereignis dar, das die entsprechende Folge "hilfsweise" bewirkt hätte, und damit eben eine Reserveursache. Jedenfalls im Zivilrecht würde eine derartige Sichtweise nicht die generelle Unbeachtlichkeit des rmAV nach sich ziehen, da hier weitgehend anerkannt ist, daß Reserveursachen unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen der Schadensberechnung zu einer gegebenenfalls bis auf null gehenden Minderung des Schadensersatzanspruches führen können, wenn auch die Einzelheiten sehr umstritten sind.84
82 Vgl. Watermann, S. 81; Lange, Schadensersatz, S. 56 f.; Larenz, SehR I, S. 435 f.; J0U4rmg/ Teichmann, vor §§ 249-253 Anm. V.2. und 3.; Kuhlen, S. 37. 83 Ebenso Watermann, S. 83; Schu/in, S. 10.
84 Vgl. Neuner,
AcP 133 (1931), 311 f.; Larenz, NJW 1950, 488 ff. und SchR AT, S. 523 ff.; Lange, AcP 152(1952/53), 160 ff.; Hwck, JR 1953,404 f.; Knappe, S. 87 ff.; Werner, NJW 1957, 1858; ZeUMr, AcP 157 (1958/59), 441 ff.; von Caeminerer, Überholende Kausalität, S.4 ff.;
B. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache
55
I. ZlvUrechtUcbe Recbtsprec:bung und Literatur
Insbesondere in der älteren Rechtsprechung und im älteren Schrifttwn, aber auch in neueren Kommentaren des Zivilrechts wird rmAV in der Tat als Reserveursache behandelt. 1. Rechtsprechung Als Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung sollen hier der "Mietgelder-Fall",85 der "Löschteich-Fall",86 der "Brandgassen-Fall"87 sowie ein früher "lnseratkosten-Fall" des BAG88 dargestellt werden. Diese Entscheidungen haben Fallgestaltungen zum Gegenstand, in denen ein Schädiger einen reChtswidrig verursachten Schaden auch durch rechtmäßiges Verhalten hätte bewirken können, so daß man von "rmAV" sprechen kann, wenn auch in den Entscheidungen dieser Begriff nicht verwendet wird.
a) Mietgelder-Fall - RG, Urt. v. 13.7.1933 - VIII 186/3389 Im "Mietgelder-Fall" hat der Beklagte, ein Hausverwalter, Mieteinnahmen reChtswidrig für sich verwendet, anstatt sie auf der von den Eigentümern angegebenen Bank einzuzahlen. Der Schadensersatzforderung hielt er entgegen, daß eben diese Bank zusammengebrochen sei, die Forderungen ihrer Gläubiger bislang nur zu 15% erfüllt habe und auch für später nur eine Quote von weiteren 15% in Aussicht sei. Deshalb müsse auch er zunächst nur 15% und insgesamt 30% der Schadenssumme erstatten, da die Kläger bei seinerseits ordnungsgemäßem Verhalten ebenfalls nicht mehr erhalten hätten. Bereits das Berufungsgericht hatte klargestellt, daß die Kausalität zwischen dem Verhalten des Haus-
Rother, S. 197; Lange, Schadensersatz, S. 114; SoergellMertens, Vor § 249 Rdnr. 154; JtlU4rnigl Teichmann, Vor §§ 249·253 Anm. VI.2. 85 RGZ 161,365.
86 OGHZ 1,308. 87 BGHZ 20, 275. 88 BAG AP Nr. 3 zu § 276 BOB Vertragsbruch,. NJW 1970, 1469 f. 89 RGZ 141, 365 ff.
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
56
verwalters und dem Schaden nicht durch das spätere Ereignis "Zusammenbruch der Bank" unterbrochen wurde, wollte aber dennoch bei der Berechnung der Schadenshöhe letzteren Vorgang mitberücksichtigen. Demgegenüber führte das Reichsgericht aus, daß der einmal entstandene Schadensersatzanspruch durch ein weiteres Schadensereignis, das den Schaden ebenso verursacht hätte, auch nicht teilweise wieder beseitigt werden könne.90 Der Einwand des Hausverwalters, er hätte den Schaden auch auf rechtmäßige Weise herbeiführen können, wurde also als Berufung auf eine unbeachtIiche Reserveursache zurückgewiesen.91 b) Löschteich-Fall - OGH brit. Zone, Urt. v. 20.1.1949 - 11 ZS 20/4892 Im "Löschteich-Fall" hatte die Beklagte 1944 auf Anordnung der "Werkluftschutzbezirksstelle" auf dem benachbarten Grundstück der Kläger mit den Arbeiten für die Anlage eines Feuerlöschteichs begonnen und dabei Schäden verursacht. Dies geschah jedoch rechtswidrig, da weder die Kläger mit der Maßnahme einverstanden waren noch die Voraussetzungen für eine zwangsweise Inanspruchnahme geschaffen wurden. Jedoch hätte sie die Schäden auch auf rechtmäßige Weise herbeiführen können, weil die "Werkluftschutzbezirksstelle" auf Rückfrage der Beklagten eine zwangsweise Inanspruchnahme der Kläger veranlaßt hätte. Der OGH ging wie das RG im Mietgelder-Fall davon aus, daß letzerer Umstand als hypothetisches Schadensereignis zu behandeln sei, formulierte allerdings Bedenken hinsichtlich der Ansicht, daß der Schadensersatzanspruch hiervon immer unberührt bleiben müsse. 93 Jedenfalls für die Konstellation des Löschteich-FaIIes, in welcher der Schädiger "ohne Rechtfertigung getan hat, was er mit Rechtfertigung genauso hätte ausführen sollen und ausgeführt hätte", könne als Schaden nur die Differenz "zwischen reChtmäßiger und rechtloser Durchführung der Maßnahme" angesehen werden.94
90 RGZ 141, 365 (367 Cf.). 91 Zu anderen Beispielen aus der Rspr. des RG, in denen dem Schidiger die Entlastung mit entsprechender Begründung versagt wurde, vgl. Hanau, Kausalitit, S. 41 ff.
92 OGHZ 1, 308 Cf.
93 OGHZ 1, 308 (311 ff.). 94 OGHZ 1, 308 (315); Hervorhebungen im Text der Entscheidung.
B. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache
57
c) Brandgassen-Fall - BGH, Urt. v. 19.4.1956 - III ZR 26/5595 Ähnlich gelagert wie der Löschteich-Fall ist der vom BGH entschiedene "Brandgassen-Fall": Bei der Anlage sogenannter Brandgassen als Fluchtwege für die Bevölkerung bei Luftangriffen ließ die beklagte Stadtverwaltung 1944 Vorder- und Hinterhaus des Klägers abreißen, obwohl sich die Verfügung nur auf das Vorderhaus bezog. Der Schadensersatzforderung hielt sie entgegen, daß die Beschränkung der Verfügung auf das Vorderhaus ein Irrtum gewesen sei; die Verfügung hätte ohne weiteres auch auf das Hinterhaus erstreckt werden können und müssen, so daß der Schaden auch auf rechtmäßige Weise hätte herbeigeführt werden können. Der BGH hält nun das Problem der "hypothetischen Schadensverursachung" im eigentlichen Sinn nicht für berührt, sondern nimmt nur eine Frage der Schadensberechnung an: Durch die bereits im Zeitpunkt des Abrisses drohende Erweiterung der Abrißverfügung sei das Gebäude schon mit einer "Schadensanlage" behaftet und damit im Wert praktisch auf null gemindert gewesen, so daß unter diesem Aspekt durch den Abriß kein Schaden entstanden sei. Dennoch können wir diese Entscheidung den Fällem der Behandlung von rmAV als Reserveursache zuordnen, da die Fälle, in denen eine Reserveursache als "Schadensanlage" bereitsteht, nach überwiegender Ansicht als eine Fallgruppe des Problemkreises der Reserveursachen angesehen werden. 96 d) Inseratkosten-Fall - BAG, Urt. v. 18.12.1969 - 2 AZR 534{7497 Der in diesem Zusammenhang noch zu nennende vom BAG entschiedene Fall ist einer von mehreren im wesentlichen gleichartig gestalteten "lnseratkosten-Fällen", in denen Arbeitnehmer ihren Arbeitsvertrag gebrochen hatten, da sie ohne fristgerechte Kündigung ihren Arbeitsplatz aufgaben oder (wie in diesem Fall) ihre Stelle erst gar nicht antraten. Der Forderung des Arbeitgebers auf Ersatz der entstehenden Inseratkosten für die Einstellung eines Nachfolgers wurde jeweils der Einwand entgegengehalten, daß diese Kosten ja auch bei rechtmäßigem Verhalten, nämlich bei ordnungsgemäßer Kündigung des Arbeitsverhältnisses, entstanden wären. Im Gegensatz zu späteren Entscheidun-
95 80HZ 20, 275 ff. 96 VgI. von Caemmerer, Überholende Kausalität, S.16; Lange, Schadensersatz, S. 121 ff.; SoergellMertens, Vor § 249 Rdm. 157; Staudingerl Medicus, § 249 Rdnr.l03; für getrennte ProblemkJ:eiseNiederländer, JZ 1959, 620; differenzierend Larenz, SehR I, S. 526.
97 BAG AP Nr. 3 zu § 276 Vertragsbruch
=NJW 1970, 1469.
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
58
gen98 hat das BAG hierin die Berufung auf ein hypothetisches Schadensereignis gesehen und mit Hinweis auf eine frühere BAG-Entscheidung im Zusammenhang mit einem rechtswidrigen Streik99 die Beachtlichkeit mit der Begründung verneint, Vertragsbrüche dürften nicht durch das Vorhandensein von Reserveursachen sanktionslos gestellt werden.100 2. Literatur Im zivilrechtlichen Schrifttum finden sich zahlreiche Stimmen, die wie die im vorigen Absatz angeführte Rechtsprechung rmAV dem Problemkreis der Reserveursachen zuordnen. Dabei gibt es Autoren, die rmAV als eine FaUgrup-
pe betrachten, in der die Reserveursache den Schädiger gerade nicht entlasten soll.101 Andere dagegen sind der Auffassung, daß der Umstand, der das rmAV von sonstigen hypothetischen Schadensereignissen offenbar unterscheidet, nämlich die Tatsache, daß der hypothetische Schadenseintritt nicht unabhängig vom Verhalten des Täters erfolgt wäre, sondern daß der Schädiger selbst die Möglichkeit hatte, diesen herbeizuführen, keine andere Behandlung des Problems gegenüber Reserveursachen im allgemeinen rechtfertige.1 02 So behandelt man rmAV nach den jeweils für Reserveursachen allgemein entwickelten Lösungen.l 03 Von diesem Standpunkt aus ist es konsequent, eine Entlastung des Schädigers überhaupt nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn es nach den Umständen sicher erscheint, daß der Betroffene von der Möglichkeit rechtmäßiger Schädigung auch tatsächlich Gebrauch gemacht hätte.1 04 98 vgl. BAG AP Nr. 7, 8 zu
2846f.
§
276 BOB Vertragsbruch = NJW 1981, 2430 f.; NJW 1984,
99 BAG AP Nr. 2 zu § 1 lVG Friedenspflicht unter V.3. =BAGE 6, 321 (376 f.) =NJW 1959,
908 (909 f.).
100 Die Fragwürdigkeit dieser Begründung soll hier nicht im einzelnen erörtert werden. 101 Ze~r, AcP 157, 452 ff. mit der Erwägung, man müsse den Schädiger an der von ihm gewählten rechtswidrigen Möglichkeit der Schadensherbeiführung "festhalten"; StaudingerfWerner, 10./11. Aufl., Vorbem. §§ 249·255 Rdnr.63 unter Berufung auf "Treu und Glauben"; Fi· kentscher, 4. Aufl. (anders neue Aufl.), S. 302. 102 Niederländer, AcP 153 (1954),68; MüKommlGrunsky, § 249 Rdnr. 88. 103 Für eine Behandlung als Reserveursache außer den in den vorangegangenen Fn. Genannten auch &hulin, S. 178 ff.; SoergellMertens, vor § 249 Rdnr. 160 ff.; andeutungsweise Münzberg, Verh. u. Erfolg, S. 131; FranJc/Löjfkr, JuS 1985,693 betonen die "enge Berührung" von rmAV und Schädigung durch hypothetische Ereignisse. 104 Niederländer, AcP 153 (1954),69 er. und JZ 1959, 621; Soergel/Mertens a.a.O.; vgJ. auch Larenz, NJW 1959, 866.
B. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache
59
3. Kritiken Vielfach wird im Schrifttum eine Verschiedenheit von hypothetischer Kausalität und rmAV postuliert, ohne daß dabei aufgezeigt wird, warum eigentlich eine Gleichstellung mit (anderen?) Reserveursachen der Sache nicht gerecht werden soll. So schreibt z.B. Lange,105 daß sich im Gegensatz zur hypothetischen Kausalität der Schädiger hier darauf berufe, "daß die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens in casu nicht relevant gewesen sei". Aber warum sollen für diesen Einwand hier andere Grundsätze gelten als bei der allgemeinen Behandlung hypothetischer Kausalverläufe? Larenz106 sieht den Unterschied zu den "gewöhnlichen" Reserveursachen darin, "daß hier nicht ein anderes Ereignis, sondern der ... Ersatzpflichtige selbst, nur auf andere Weise, den gleichen Schaden verursacht hätte". Damit ist jedoch nur der äußere Unterschied zum Ausdruck gebraCht, nicht jedoch dargelegt, warum dieser Unterschied eine unterschiedliche Behandlung nach sich ziehen muß. Wissmann 107 führt aus, die Betrachtung des rmAV als Reserveursache führe insofern nicht weiter, als es allgemein anerkannt sei, daß hypothetische Kausalverläufe nur dann entlasten können, wenn ihr Eintritt sicher ist, was in der Entscheidung, die seinen Erwägungen zugrundeliegt,lOS aber unmöglich festzustellen sei. Deshalb müsse eine andere Lösung gefunden werden, die Wissmann im "Rechtswidrigkeitszusammenhang" sucht. Indes: Was gebietet überhaupt die Berücksichtigung des rmAV?109
4. Stellungnahme
Die Behandlung des rmAV als Reserveursache liegt wegen des Umstandes nahe, daß rmAV letztlich ein Ereignis ist, das den Schaden "hilfsweise" herbei105 Schadensersatz, S. 128. 106 SchR I, S. 528. 107 NIW 1971,549 Cf. BbensoHanau, Kausalität, S. 66 f. lOS BAG AP Nr. 3 zu § 276 BGB Vertragsbruch, s.o. 1. 109 W/Ssmann a.a.O. stellt seine Überlegungen schließlich auch auf eine ganz andere Basis: Für entscheidend bei der Lösung des Inseratkosten-Falles hält er den Umstand, daß es nicht Zweck der Kündigungsfrist sei, dem Arbeitgeber die Suche nach einem Nachfolger für den Arbeitnehmer zu ersparen. Diese Erwägungen können aber auch allgemein und unabhängig von der Frage des rmAV im Einzelfall angestellt werden; zum Zusammenhang zwischen rmAV und dem Schutzzweck der Norm vgl. u. 3. ~hnitt C.III.5.
60
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
geführt hätte. Um diesen Standpunkt zu übelWinden, genügen nicht die soeben angeführten Kritikpunkte aus der Literatur, die mehr Behauptungen denn Begründungen darstellen. Wenn über die Frage der Schadensberechnung hinaus als unerläßliche Voraussetzung der Zurechnung gefordert wird, daß der Schädiger die Rechtsgutverletzung nicht auch auf rechtmäßige Weise hätte herbeiführen können, bedarf es vielmehr einer ausführlichen Darlegung, warum dies der Fall sein sollte. Inwieweit dieser Nachweis als geglückt anzusehen ist, wird an späterer Stelle bei der Darstellung der Theorien, die ein derartiges Erfordernis annehmen, erörtert werden.
11. Strafrecht
Im Gegensatz zum Zivilrecht gibt es auch in der älteren strafrechtlichen Rechtsprechung keine Tendenzen, den Einwand, der Erfolg wäre auch durch rechtmäßiges Verhalten des Täters 110 herbeigeführt worden, als Berufung auf eine Reserveursache zu behandeln. Dagegen gibt es im Schrifttum zwei im Ergebnis völlig entgegengesetzte Lösungen, die an der Eigenschaft von rmAV als Reserveursache ansetzen. 1. Arthur Kaufmann: Entlastung durch Reserveursachen a) Der Ansatz Arthur Kaufmann 111 hält es für "erstaunlich", daß das Strafrecht bei der Diskussion der Fälle des Problemkreises BORSt 11, 1 die "sehr lebhafte zivilrechtliehe Diskussion über das Problem hypothetischer Erfolgsursachen" nicht beachtet hat. Wie einige zivilrechtliche Autoren (s.o. 1.2.) vertritt er die Ansicht, 110 Insofern anders gelagert BOHSt 30,228: Diese Entscheidung hatte einen Ketten-Auffahrunfall im Nebel zum Gegenstand; der Angeklagte wendete ein, daß auch durch Einhaltung der den Sichtverhältnissen angepaßten Geschwindigkeit die Verletzungen des Opfers nicht vermieden worden wären, weil sie ein nachfolgendes Fahrzeug in ungefähr gleicher Weise verursacht hätte. Entgegen der Revision des Angeklagten hat der BOH hier wohl im Ergebnis mit Recht keinen Fall von rmAV bzw. fehlender "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" angenommen, sondern ging von einer unbeachtlichen Reserveursache aus. Die Frage, ob die Erwägung zutreffend ist, fehlende "Kausalität der PfIichtwidrigkeit" komme deshalb nicht in Betracht, weil die hypothetische Verletzung nicht durch Täter- oder Opferverhalten, sondern durch die Handlung eines Dritten herbeigeführt worden wäre, soll an dieser Stelle noch offenbleiben, vgl. dazu u. 3. Abschnitt A.1II.4.c.; 6. Abschnitt A.XIII. 111 Eb.-Schmidt-FS, S. 200 ff. (205).
B. Recbtmäßiges A1temativverbalten als Reserveursacbe
61
daß zwischen den Fällen, in denen das hypothetische Schadensereignis das nnAV des Täters darstellt und denjenigen, in denen es sich um einen sonstigen Vorgang handelt, kein wesentlicher Unterschied besteht. 112 Im folgenden stellt er dann klar, daß eine Einordnung des Fragenkreises in den Bereich der Kausalität nicht zutreffend ist. Gleichwohl zeige sich, daß außer der Kausalität für die Zurechnung noch ein "weiterer rechtlich bedeutsamer Zusammenhang" benötigt wird; eine Einordnung als "RWZ" u. dgl.lehnt er aber ebenfalls ab, da hierdurch nicht zum Ausdruck komme, um was es sich bei diesem Zusammenhang handle, wenn es schon nicht um die Kausalität geht. 113 Auch am Verschulden fehle es nicht, und der Gedanke der Vermeidbarkeit des Erfolges führe ebenfalls nicht weiter. 1l4
Kaufmann begründet seine Lösung schließlich mit dem im Zivilrecht entwikkelten Gedanken der "Schadensanlage" (vgl. o. I.1. "Brandgassen-Fall" BGHZ 20, 275): Wie eine bereitstehende Reserverursache im Zivilrecht den Wert einer Sache mit Konsequenzen für evtl. Ersatzansprüche mindern oder aufheben kann, so könne im Strafrecht der Erfolgsunwert der Tat gemindert oder sogar aufgehoben sein, wenn das Rechtsgut schon dem Untergang geweiht war. 1l5 Nun meint Kaufmann, daß dies beim Vorsatzdelikt nur zu einer .Strafmilderungsmöglichkeit führe, weil hier der Handlungsunwert allein die Strafbarkeit begründen könne. Beim Fahrlässigkeitsdelikt dagegen bedürfe es wegen der Straflosigkeit des "Versuchs" immer auch eines Erfolgsunwertes, so daß Straflosigkeit eintreten könne, wenn der Erfolgsunwert durch eine schon unmittelbar bereitstehen Reserveursache ganz aufgehoben sei. Unter diesem Aspekt hält er die Entscheidung des BGH im Radfahrer-Fall für zutreffend.1l6 b) Die ablehnenden Stellungnahmen des Schrifttums Die Lösung von Arthur Kaufmann ist im Schrifttum, insbesondere in Roxins bekanntem Aufsatz,117 auf heftige Kritik gestoßen. Diese richtet sich einerseits 112 A.a.O., S. 205 f. 113 A.a.O., S. 219 f. 114 A.a.O., S. 220 ff. 115 A.a.O., S. 227 ff. Einen äbnlicben Gedanken zur Berücksichtigung von Reserveursacben,
allerdings unter der Ausnahme zahlreicher Fallgruppen sowie ausdrücklicb auf die Ebene der Strafzumessung beschränkt, hat Jakobs, Lehrb., S. 194 f. entwickelt
116 A.a.O., S. 229 ff. 117 7.StW 74 (1962),411 Cf. (425 ff.).
62
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
gegen das Ergebnis, daß eine konsequente Anwendung der von Kaufmann entwickelten Grundsätze eben nicht nur in den rmAV-Fällen, sondern auch bei "von außen" kommenden Reserveursachen zu Straffreiheit führen kann, was (wohl zu recht, man denke an die faktische Aufhebung der Sorgfaltspflichten gegenüber Todkranken) als unerträglich angesehen wird.H8 Roxin weist nach, daß jedenfalls auf der Basis der Reserveursachen-Lösung eine Abgrenzung zwischen den Fällen, in denen die Entlastung des Täters untragbar erscheint, und den Fällen wie BGHSt 11, 1 nicht möglich ist bzw. willkürlich erfolgen müßte. 1l9 Daneben richtet sich die Kritik gegen die Erwägung, daß der Erfolgsunwert durch das Vorhandensein einer "Schadensanlage" entfallen könne: Bereits bei SaChzerstörungen sei zu bedenken, daß § 303 StGB nicht den Wert, sondern die Substanz an sich schützt, und bei Körperverletzungen und Tötungen sei es "geradezu anstößig", von Wertlosigkeit des Rechtsgutes zu sprechen, auch wenn es dem Untergang geweiht ist.l2O Ferner erscheint die Behandlung des Vorsatzdeliktes durch Kaufmann angreifbar, denn wenn man wirklich vom Wegfall des Erfolgsunwertes ausgeht, so müßte man konsequenterweise eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat verneinen und könnte allenfalls wegen Versuchs bestrafen.l21 Schließlich wird die Übernahme zivil rechtlicher Problemlösungen hinsichtlich des Reserveursachen-Problerns insofern zurückgewiesen, als der Gedanke der "Schadensanlage" im Zivilrecht seine Bedeutung im Rahmen der Schadensberechnung erlangt, bei der eine Betrachtung der Vermögenseinbuße stattfindet, während das Strafrecht die Verletzung des Rechtsgutes an sich zum Gegenstand hat. 122 c) Kaufmanns Replik Kaufmann hat in jüngerer Zeit zur Problematik erneut Stellung genommen.123 Dabei räumt er die Berechtigung des Vorwurfs ein, er habe sich bei seiner früheren Argumentation zu sehr von zivilrechtlichen Erkenntnissen lei118 Roxin a.a.O., S. 427 f.; Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit, S. 128; Samson, Hyp. Kausalverläufe, S. 36. 119 Aa.O.
120 Roxin a.a.O., S. 428 f.; vgl. zur Absolutheit des Tötungsverbotes auch Welzel, KohlrauschFS, S. 408 ff.; Ulsenheimer a.a.O., S. 129 f. 121 Roxin a.a.O., S. 429 f. 122 Roxin a.a.O., S. 430; Androulakis, S. 67; Ulsenheimer a.a.O., S. 130 f.; Seebald, GA 1969, 204; Samson a.a.O. 123 lescheck-FS, S. 273 ff.
B. Rechtmäßiges A1temativverhalten als Reserveursache
63
ten lassen; außerdem seien ihm "einige Formulierungen mißglückt",124 Er gibt jedoch seinen früheren Standpunkt, daß es bei unserem Problemkreis letztlich um die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe geht, nicht preis, sondern unternimmt den Versuch, ihn mit der Risikoerhöhungslehre (s.u. c.) zu verbinden: Das Abstellen auf die Risikoerhöhung sei "nur ein vordergründiges Argument, das die eigentliche Frage, warum Risikobegründung und -erhöhung Unrecht ist, noch nicht beantwortet. "125 Ferner sei es ein Nachteil der Risikoerhöhungslehre, daß sie nur auf Fahrlä8sigkeitsdelikte paßt. Gleichwohl ist er der Ansicht, daß bei der Frage der Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe die "materiellrechtliche Kernfrage" laute, "welcher Grad von Wahrscheinlichkeit" für den Eintritt der Reserveursache zu ver-langen sei,l26 so daß er das Risikoerhöhungsprinzip als nützlich für die Bewältigung der ReserveursachenProblematik127 ansieht. Dabei will er die Risikoerhöhungslehre nicht unverändert übernehmen, sondern unternimmt noch einige Überlegungen zur Trennung von materiellrechtlicher Seite und Beweisfragen sowie dazu, welcher Grad von Wahrscheinlichkeit für den hypothetischen Erfolgseintritt denn nun zu verlangen sei,l28 die uns an dieser Stelle aber nicht näher beschäftigen sollen. Festzuhalten ist, daß Kaufmann rmAV weiterhin als Problem hypothetischer Kausalverläufe ansieht. Einerseits stützt er diese Einordnung auf die Erkenntnis, daß kein Kausalitätsproblem vorliegt. 129 Andererseits hält er es offenbar nicht für plausibel, "jenen mysteriösen Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg"l30 anderswo zu suchen als im Rahmen der Reserveursachen-Problematik nach dem Gedanken des geminderten Erfolgsunwertes. 131
d) Stellungnahme Arthur Kaufmann konnte die Einwände gegen seine Lösung nicht entkräften: Wenn er einräumt, daß die enge Anlehnung an das Zivilrecht nicht unproble124 Aa.O., S. 274. 125 Aa.O., S. 275. 126 Aa.O., S. 279; Hervorhebung von mir. 127 Und zwar ausdrücklich auch für die Fälle, in denen die Ersatzursache nicht vom Täter selbst
gesetzt wird, vgl. a.a.O.
128 Aa.O., S. 277 ff. 129 Aa.O., S. 278 und Bb.-Schmidt-FS, S. 207 ff. 130 Arthur KauftnQIIII, Bb.-Schmidt-FS, S. 223. 131 Vgl. a.a.O., S. 219 ff.
64
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
matisch war,132 so darf er sich nicht auf eine terminologische Modifikation seines Ansatzes beschränken, indem er nicht mehr unmittelbar die Parallelen zum zivil rechtlichen Vermögensschaden geltendmacht. Stattdessen müßte er auch in der Sache die Konsequenzen ziehen, nämlich im Gegensatz zur zivilrechtlichen Betrachtungsweise die QuantiflZierung des Erfolgsunwertes nach der voraussichtlichen Lebensdauer des betroffenen Rechtsgutes aufgeben. 133 Schließlich richtet sich die Kritik ja nicht nur gegen die formale Parallele, die Kaufmann zwischen bei den Rechtsgebieten gezogen hat, sondern in erster Unie gegen die Grundannahme, Reserveursachen könnten über eine Minderung des Erfolgsunwertes zur Straffreiheit führen. Wenn er entgegnet, daß auch nach der h.M. das pflichtwidrige Verhalten anders bewertet werde, wenn der Erfolg auch ohne dieses eingetreten wäre,134 so trägt er dem Umstand nicht Rechnung, daß diese "Bewertung" auf der Annahme beruht, daß rmAV ein von der h.M. für die Erfüllung des Tatbestandes gefordertes Merkmal, nämlich den besonderen Zusammenhang zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert, ausschließt (es fehlt also schlicht an der Tatbestandsmäßigkeit). Dagegen wird der Wert des verletzten Rechtsgutes im Gegensatz zu seiner Ansicht gerade nicht in Zweifel gezogen. Nun mag Kaufmann recht haben, wenn er sagt, daß die h.M. keine hinreichende Begründung für ihre Entscheidung liefert;135 jedoch muß die Schwäche einer Begründung kein zwingendes Argument für Richtigkeit einer anderen sein. Auch Kaufmanns Angriff auf die These, das menschliche Leben sei ein unter keinen Umständen quantiflZierbarer Wert,136 würde selbst dann, wenn er berechtigt wäre, keine wirkungsvolle Verteidigung seiner Theorie darstellen: Zwar wird gerade die Wertabstufung menschlichen Lebens als "anstößig" (Roxin) empfunden, jedoch darf das nicht den Blick darauf verdecken, daß die juristisch tragfahigere Argumentation gegen Kaufmann in der Feststellung zu suchen ist, daß die Straftatbestände überhaupt keinen Raum für eine "Bewertung" der ReChtsgüter lassen, da die Verletzung ohne Rücksicht auf ihre Schwere die Tatbestandsmäßigkeit und damit die Strafbarkeit begründet. 137 Übrigens läßt sich gerade das (und nicht etwa das Gegenteil) durch die Betrachtung des Zivilrechts untermauern: Auch dort behauptet niemand, daß eine 132 Jescheck-FS, S. 274. 133 Wozu Kaufmann nicht ohne weiteres bereit ist, vgl.
nahme würde ja auch seiner Ansicht den Boden entziehen.
134 Jescheck-FS, S. 275. 135 Dazu unten 3. Abschnitt AI. 136 Aa.O. 137 Vgl. U/senheimer, Pflichtwidrigkeit, S. 131.
a.a.O., S.
275; die Aufgabe dieser An-
B. Rechtmäßiges Altemativverhalten als Reserveursache
65
vorhandene "Schadensanlage" am Vorhandensein einer rechtswidrigen Schädigung etwas ändert, vielmehr findet die Entlastung im Rahmen der Berechnung des Vermögensschadens statt, die in §§ 249 ff. BGB geregelt ist.l38 Vorschriften mit entsprechendem Regelungsgehalt sind aber im Strafrecht nicht vorhanden.139 Wenn man in rmAV nichts weiter als eine Reserveursache sieht, ist es demnach konsequenter, ihm keine den Täter entlastende Funktion beizumessen.
2. Spendei: Die Unbeachtlichkeit des rmA V a) Der Ansatz Diesen Weg ist im Ergebnis Spendel gegangen.l 4O Er behandelt das rmAV zwar nicht ausdrücklich unter dem Stichwort "Reserveursachen", jedoch liegt eine derartige Betrachtung in der Konsequenz seiner Überlegungen: Spendei geht davon aus, daß im Radfahrer-Fall die Kausalität nicht zweifelhaft sein könne; das durch Annahme einer fehlenden "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" abweichende Ergebnis in BGHSt 11, 1 beruhe nur auf dem unzulässigen Hinzudenken eines hypothetischen Umstandes.l 41 Damit könne die Erfüllung des objektiven Tatbestandes keinen Zweifeln mehr unterliegen, für seine Vemeinung unter anderen Aspekten als der Kausalität sei "kein zwingender Grund ersichtlich",142 und entsprechende Versuche "verdunkeln nur die klare Erkenntnis der Kausalfrage" .143 Da er auch Rechtswidrigkeit und Schuld für gegeben
138 Vgl. die Nachweise unter Fn. 84. 139 Eine quantitative Bestimmung des Brfolgsunwertes mag für die Strafzumessung von Bedeutung sein, so daß man don über eine Berücksichtigung von Reserveursachen diskutieren kann, vgl. Jakobs, Lehrb., S. 194 f. Wenn dabei der Brfolgsunwen so stark geminden erscheint, daß die StrafwIlrdigkeitsgrenze unterschritten wird, so kann dies vielleicht die Anwendung einer Vorschrift über das Absehen von Strafe nahelegen, aber niemals die Erfüllung des Tatbestandes ungeschehen machen, denn dem Grunde nach und damit als TatbestandsvoraU8SetZUng ist ja der Brfolgsunwen in Form der Rechtsgutverletzung gegeben. 140 Eb.-Schmidt-FS, S. 183 Cf. und JuS 1964, 14 ff. 141 Spendei, Eb.-Schmidt-FS, S. 184 ff.; JuS 1964, 14 f. Anders nach Spendei nur, wenn man ein Unterlassungsdelikt annimmt (Unterlassen des gebotenen Abstandhaltens beim Überholen), da hier zur Feststellung der Kausalität die unterlassene Handlung hinzugedacht werden müsse. Die Annahme von Unterlassen hält Spendei im Radfahrer-Fall aber mit Recht nicht für vemetbar (S. 184 f./14 f.). 142 Eb.-Schmidt-FS, S. 195. 143 JuS 1964, 15. 5 Erb
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
66
hält, gelangt er zu dem Ergebnis der Strafbarkeit des Täters.l44 Letztlich hieße das, daß die Geltendmachung von rmAV nichts weiter darstellen würde als die Berufung auf eine Reserveursache, der im Strafrecht keine Bedeutung zukommt. b) Befürworter Spendels Ansatz hat indes soweit ersichtlich nur zwei Befürworter gefunden, die noch dazu mit recht fragwürdigen Argumenten arbeiten: Bindokat geht davon aus, daß Spendels Lösung eine "Versarihaftung"145 bedeute, hält eine solche aber in weitem Umfang (über die rmAV-Problematik hinaus) für angemessen.l 46 Kirschbaum schließlich befürwortet Spendeis Lösung aufgrund der Erwägung, die Berücksichtigung des rmAV-Einwandes würde den Entzug des Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehr147 bei eigenem verkehrswidrigem Verhalten "vereiteln" und damit dessen Funktion als "Prämie für eigenes Wohlverhalten" des Verkehrsteilnehmers zuwiderlaufen. Das hält er im Interesse einer allgemeinen Hebung der Verkehrsmoral für unerträglich.l 48 Es liegt auf der Hand, daß eine so einseitig rechts politisch geführte Argumentation als dogmatische Stütze für Spendels Lösung ungeeignet erscheinen muß. c) Kritiken Auch die Zahl der spezifisch gegen Spendels Argumentation gerichteten Kritiken ist gering. Roxin wirft ihm vor, seine Lösung führe "auf die alte und 144 Eb.-Schmidt-FS, S. 195 ff.; JuS 1964, 15 ff. Bereits Eberhard &hmidl, S. 162; 201 kommt bei der Besprechung des sog. Kokain-Novokain-Falles (RG HRR 1926, 1636/ Nr. 2302, vgl. u. 6. Abschnitt A.II.) zu einem ähnlichen Ergebnis: Ein Arzt hätte statt des unzulässigen (und in concreto tödlichen) Narkotikums Kokain ein anderes (Novokain) veIWenden müssen. Der Umstand, daß dieses aufgrund der erst nachträglich erkennbaren besonderen Konstitution des Patienten wohl ebenfalls den Tod herbeigeführt hätte, kailn nach Eberhard &hmidt die Strafbarkeit nicht hindern, da die Vetwendung des gefährlichen Mittels nicht nur für den Tod kausal, sondern jedenfalls auch schuldhaft war. Jedoch behandelt Schmidt das rmAV nicht als allgemeine Frage, sondern bezieht seine Ausführungen speziell auf den genannten Fall (vgl. dazu auch ULsenheimer, Pfiichtwidrigkeit, S. 67 f.). 145 S. dazu sogleich unter c.
146 JZ 1977,551 f. 147 Also des Grundsatzes, wonach man bei Fehlen besonderer Anhaltspunkte nicht mit Fehlver-
halten anderer Verkehrsteilnehmer zu rechnen braucht. 148 Kirschbaum, S.
143.
B. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Reserveursache
67
längst überwundene Lehre vom versari in re illicita zurück, wonach, wenn man etwas Verbotenes tut, alle daraus entstehenden Folgen eo ipso als fahrlässig zugerechnet werden."149 Dieser Vorwurf allein kann jedoch Spendels Ansicht aber nicht entgegengellalten werden, denn es geht in den rmAV-Fällen ja nicht darum, daß dem Täter der Erfolg ohne Rücksicht auf den Inhalt der verletzten Sorgfaltspflicht zugerechnet und er damit offensichtlich für reine Zufallsfolgen seines verbotenen Tuns haftbar gemacht würde.l SO Daß es sich z.B. beim Tod des Radfahrers in BGHSt 11, 1 um ein zufällig mit dem zu knappen Überholen verbundenes Ereignis handelt, wird man nämlich angesichts des Umstandes, daß wir es mit einer typischen Folge derartiger Verkehrswidrigkeiten zu tun haben, zumindest nicht als selbstverständlich ansehen können. Folglich müßte erst der dogmatische Nachweis erbracht werden, inwiefern die Möglichkeit der Schädigung durch rmAV dem Erfolgseintritt Zufallscharakter verleiht, bevor man Spendei entgegenhält, er betreibe eine Wiederbelebung des "versari in re iIIici ta " )51 Auch die von Uisenheimer gezielt gegen Spendels Ansatz gerichtete Kritik vermag diesen nicht zu widerlegen: Bei der Unterstellung, Spendei habe die "fehlerhafte systematische Einordnung" des rmAV152 in BGHSt 11, 1 "nicht klar erfaßt", wenn er davon ausgeht, das Urteil sei nur dann plausibel, wenn man ein Unterlassungsdelikt annimmt (s.o. Fn. 141),153 trägt Ulsenheimer der Tatsache nicht Rechnung, daß Spendei nicht nur die Möglichkeit einer "Kausalität der Pflichtwidrigkeit", sondern überhaupt das Erfordernis einer Berücksichtigung des rmAV -Einwandes lS4 bestreitet. Bei diesem Ausgangspunkt wäre jedoch der Freispruch in BGHSt 11, 1 in der Tat nur schlüssig, wenn man ein Unterlassungs delikt annimmt,ISS so daß man die "Kausalität" des unterlassenen 149 Roxin, ZStW 74 (1962), 431. ISO Wie es z.B. dann der Fall wäre, wenn man einen Autofahrer für die Folgen eines Unfalls be-
strafen würde, der deshalb eingetreten ist, weil er einige Zeit vorher zu schnell gefahren ist und daher zufällig an der UnfallsteIle ankam, bevor der andere Beteiligte sie verlassen hane. Kritisch zum Vorwurf des "versari in re illicita" insofern auch Burgsta1ler, S. 136 f.
151 Vgl. Burgstaller, S. 136 f. Roxin a.a.O. häne den Einwand also am Schluß seiner Ausführungen, in denen er die Risikoerhöhung als Zurechnungserfordernis einführt, nicht aber zu Beginn anführen sollen. 152 D.h. die Einordnung als Kausal- stan als sonstiges Zurechnungsproblem. 153 Ulsenheimer, PfIichtwidrigkeit, S. 111 f. IS4 Welches der BGH ja im übrigen nur darauf stützte, daß die Kausalbeziehung sich auf die PfIichtwidrigkeit erstrecken müsse.
ISS Was Spendel dem BGH ja nicht unterstellt, er wirft ihm im Hinblick auf diese Frage lediglich unklare Formulierung vor.
68
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
Abstandhaltens verneinen müßte, während die Annahme eines Begehungsdelikts zur Verurteilung des LKW-Fahrers führt. Eine endgültige Stellungnahme zu Spendels Ansatz kann somit nicht bereits anband der speziell gegen ihn vorgebrachten Einwände erfolgen, sondern bedarf wiederum der Untersuchung, inwieweit über Handlung, Erfolg und Kausalität hinaus ein zusätzliches Zurechnungserfordernis besteht, das durch rmAV ausgeschlossen werden kann.
III. Vergleichende Betrachtung
Im Vergleich läßt sich feststellen, daß die Behandlung des rmAV als Reser-
veursache im Zivilrecht wesentlich weiter verbreitet ist als im Strafrecht. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, daß sich im Zivilrecht auf diese Weise über den Gedanken der "Schadensanlage" das rmAV wenigstens zum Teil berücksichtigen läßt,156 was offenbar zumindest mit einem weit verbreiteten Rechtsgefühl in Einklang steht,157 während im Strafrecht dieser Weg, der nur von Arthur Kaufmann eingeschlagen wurde, wohl nicht gangbar ist. 158 Im Strafrecht wäre es demnach bei Zugrundelegung der Annahme, daß rmAV nichts weiter sei als eine Reserveursache, konsequent, mit Spendei die Unbeachtlichkeit des rmAV-Einwandes anzunehmen, was aber offensichtlich nicht befriedigt. 159 Auch im Zivilrecht erweist sich die Beachtung des rmAV-Einwandes auf der Grundlage der Behandlung als Reserveursache freilich als nicht unproblematisch: Für die Berücksichtigung von Reserveursachen wird die Sicherheit ihres Eintrittes verlangt, und diese wird bei rmAV im Vergleich zu "von außen" drohenden hypothetischen Schadensereignissen noch seltener nachzuweisen sein.l 60 Im Ergebnis müßte eine Betrachtung des rmAV (nur) als
156 Wenn man andererseits auch bedenken muß, daß ein erheblicher Teil der Stimmen, die rmAV im Zivilrecht als Reserveursache behandeln wollen, gerade die Unbeachtlichkeit des Einwandes proklamien, vgI. o. 1. Mietgelder- und Inseratkosten-Fall sowie Nietkrländer, AcP 153 (1954),68; MüKommlGrunsky, § 249 Rdnr. 88. 157 Für letztere Vermutung spricht z.B. der Umstand, daß sich die Kritik gegen die Reserveursachen-Lösung zum Teil gerade daran entzündet, daß auf diese Weise eine ausreichende Berücksichtigung des Einwandes nicht möglich sei (vgI. W/Ssmann, NJW 1971,549 ff; Hanau, Kausalität, S. 66 f.). 158 VgI. o. Il.l. 159 Man bedenke die geringe Anhängerzahl, die Spetukl gefunden hat. 160 Hanau a.a.O., S. 66, hält die Vorstellung, "hypothetischen Willensentschlüssen nachzuspüren ", für "nicht nur wenig praktikabel, sondern rechtlich überhaupt unerträglich." Das mag z.B. für
B. Rechtmäßiges Altemativverhalten als Reserveursache
69
Reserveursache jedenfalls zu einer Differenzierung zwischen beiden Rechtsgebieten mit genereller Unbeachtlichkeit im Straf- und eingeschränkter Beachtlichkeit im Zivilrecht führen. Will man die Richtigkeit der Behandlung von rmAV als Reserveursache in Zweifel ziehen, so ist der Nachweis erforderlich, daß die Zurechnung einen besonderen Rechtswidrigkeitszusammenhang erfordert, der dann zu verneinen ist, wenn auch rmAV der Erfolg herbeigeführt hätte. Die Frage, ob dieser Nachweis gelungen ist, wird uns im dritten Abschnitt beschäftigen. Sofern die weitergehende Beachtlichkeit des rmAV nicht dogmatisch untermauert werden kann, wäre rmAV in der Tat als Reserveursache zu behandeln, denn schießlich, das sei hier nochmals betont, ist auch rmAV ein hypothetisches Ereignis, das den Erfolg hätte verursachen können, ihn aber nicht verursacht hat; die Feststellung, im Gegensatz zu "gewöhnlichen" Reserveursachen hätte der Schädiger die hypothetische Schädigung selbst bewerkstelligen können, hat rein deskriptiven Charakter und taugt als solche nicht zur Begründung einer gesonderten Behandlung der Fallgruppe. Selbst wenn aufgezeigt werden kann, daß rmAV unabhängig von der Schadensberechnung bereits den Zurechnungszusammenhang zwischen Verhalten und Rechtsgutverletzung ausschließen kann, so ändert das freilich nichts daran, daß rmAV strukturell zugleich eine Reserveursache bleibt und damit im Zivilrecht auch im Rahmen der Schadensberechnung Bedeutung erlangen könnte. Nun erübrigen sich Überlegungen zur Schadensberechnung, wenn im Einzelfall bereits eine zurechenbare Rechtsgutverletzung verneint werden muß.161 Unterstellt man jedoch die Möglichkeit, daß rmAV nur in bestimmten Fällen den Zurechnungszusammenhang ausschließt, so wäre durchaus zu erwägen, ob in den verbleibenden Konstellationen nicht eine Behandlung als Reserveursache und damit gegebenenfalls eine Berücksichtigung im Rahmen der Schadensberechnung in Betracht kommt. RmAV könnte in diesem Fall im Zivilrecht eine Doppelbedeutung erlangen. Diese Erwägungen sollen vorerst zurückgestellt werden Inseratkosten-Fall zutreffen, dagegen sind auch Konstellationen denkbar, in denen schon die äußere Situation kaum Zweifeloffenläßt, wie sich der Täter verhalten hätte, wenn er nicht das rechtswidrige Verhalten gewählt hätte. So wird man im Radfahrer-Fall mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen können, daß der LKW-Fahrer nicht etwa hinter dem Radfahrer geblieben wäre, sondern mit ausreichendem Abstand überholt hätte, wenil dafür genug Platz vorhanden war, während ihm bei zu wenig Platz auf der linken Seite eine Realisierung des rmAV faktisch gar nicht möglich gewesen wäre.
161 Aus der "Hilfsfunktion" des Schadensersatzrecbts folgt, daß seine Bestimmungen nur Anwendung finden könne, wenn zunächst ein Haftungsgrund gegeben ist, JQl./4rnigl TeichmQIUI, Vor ~ 249-253 Anm. I.
70
2. Abschnitt: Die systematische Einordnung
den; wir werden sie wieder aufgreifen, nachdem wir untersucht haben, inwieweit rmAV bereits den Rechtswidrigkeitszusammenhang ausschließen kann (s.u. 3. Abschnitt C.IV.3.).
C. Rechtmäßiges Alternativverhalten als Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhangs (RWZ) Als Zurechnungsproblem neben der im naturwissenschaftlichen Sinn zu verstehenden Kausalität wird das. rechtmäßige Alternativverhalten von denen aufgefaSt, die eine "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" nicht anerkennen, dem Einwand aber gleichwohl mehr Bedeutung beimessen als einer ReseIVeursache. Die Unklarheit hinsichtlich Natur und Berechtigung dieses Zurechnungserfordernisses spiegelt sich in der Vielfalt der Begriffe wider, mit denen es belegt wird. Die wohl geläufigste Formulierung besagt, bei rmAV stehe der neben der Kausalität für die Zurechnung des Erfolges zu verlangende "Rechtswidrigkeitszusammenhang" (RWZ) in Frage.l62 Abweichende Formulierungen lauten z.B. "Pflichtwidrigkeitszusammenhang" ,163 "Schuldzusammenhang",164 "Realisierungszusammenhang" (zwischen verbotenem Risiko und Erfolg),I65 "Risikoverwirklichung" 166und "Relevanz der Ursache"167. Da wir vermeiden wollen, bereits durch die Begriffswahl eine Vorentscheidung hinsichtlich der inhaltlichen Fragen des Problems zu treffen, soll im folgenden an der relativ allgemein gehaltenen Formulierung "Rechtswidrigkeitszusammenhang" festgehalten werden, zumal nicht ohne Not von einem Begriff abgewichen werden soll, der sich sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht allgemein durChgesetzt hat. Nun 162 Vgl.in der zivilrechtlichen Ut.: von Caemmerer, Überholende Kausalität, S. 30 ff.; Esser, SchR I, 4. Aufl., S. 322; Esser/Schmidt, S. 539; Wusmann, NJW 1971, 530; Deutsch, Larenz-FS, S.899 ff. und Haftungsrecht, S. 174; HerscM/, Anm. zu BAG EzA § 249 BOB Nr. 6; Gotzler, S. 24 ff.; im strafrechtlichen Schrifttum Samson, Hyp. Kausa1verläufe, S. 34; JescMck, Lehrb., S. 527; Lockner, Komm., § 15 Anm. 1II.2.b.bb.; &h./Sch./Cramer, § 15 Rdnr. 162; in der zivilund strafrechtlichen Rechtsprechung wird der Begriff z.T. auch parallel zu der Bezeichnung "rechtlicher Ursachenzusammenhang" angewendet, vgl. z.B. DLG Hamm Vel8R 1978,950; BayDbLG VRS69,392. 163 Maurach, AT, 4. Aufl., S. 539; Schmidhäuser, Lehrb., S. 237; Kahlo, GA 1987, 74. 164 EXMr, Frank-Festgabe, S. 583. 165 Frisch, Tatbestandsm. Verh., S. 55 ff. 166Jakobs, Lackner-FS, S. 60. 167 Mezger, JZ 1958,282
c. Frage des Recbtswidrigkeitszusammenbangs
71
wird mit "Rechtswidrigkeitszusammenhang" vielfach nicht nur die Frage des rmAV, sondern auch das Problem, ob der Erfolg bzw. Schaden dem Schutzzweck der Norm unterfallt, bezeichnet. l68 Münzberg sieht wegen dieser Doppelbelegung des Begriffs die Gefahr von Mißverständnissen,169 Dennoch erscheint es vertretbar, beide Phänomene unter dem Oberbegriff RWZ zusammenzufassen: In beiden Fällen geht es ja um das Erfordernis einer besonderen Beziehung zwischen der Rechtswidrigkeit des Verhaltens (die in beidenFallgruppen jeweils gegeben ist) und dem Erfolg, der einmal auch ohne die Rechtswidrigkeit des Verhaltens eingetreten wäre und im anderen Fall nicht auf die Art eingetreten ist, um derentwillen das Verhalten vom Normgeber als rechtswidrig qualifiziert wird. Eine Aussage darüber, worin dieser "mysteriöse Zusammenhang"170 im einzelnen besteht, wird erst im Verlauf der weiteren Untersuchung möglich sein, wenn wir der Frage nachgehen, ob und warum sich rmAV auf die Zurechnung einer Rechtsgutverletzung auswirkt.
168 BGH NJW 1973, 285; Lauft, NJW 1969,532; Lange, JZ 1976, 201; LaTenz, SebR I, S. 446; Erman/Sirp, § 249 Rdnr. 28; Jescheck, Lehrb., S. 529; Sch./Sch./Cramer, § 15 Rdnr. 160.
169 Münzberg, Verb. u. Erfolg, S. 125.
170 Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-FS, S. 223.
Dritter Abschnitt
Der Einfluß des rechtmäßigen Altemativverhaltens auf die Zurechnung des Erfolges In diesem Abschnitt soll die eigentliche Bedeutung des Umstandes für die Zurechnung des Erfolges untersucht werden, daß im Einzelfall ein rechtmäßiges Alternativverhalten genauso folgenträchtig gewesen wäre wie das pflichtwidrige Verhalten. Ist dabei das angebliche Zurechnungserfordernis "Rechtswidrigkeitszusammenhang" ausgeschlossen, so das der Straftäter bzw. Schädiger entlastet wird? Zur Beantwortung dieser Frage sollen die Lösungen, die in Rechtsprechung und Literatur für beide Rechtsgebiete entwickelt wurden, nachskizziert und kritisch gewürdigt werden. Zugleich soll eine Gegenüberstellung vergleichbarer Ansätze aus Zivil- und Strafrecht erfolgen. Auf den umfassenden Nachweis des älteren einschlägigen Materials aus Rechtsprechung und Schrifttum wird dabei verzichtet, da insofern auf die sorgfaItige Darstellung in den Arbeiten von Ulsenheimer 1 und Hanau2 verwiesen werden kann.
A. Die Venneidbarkeitstheorie Unter der Bezeichnung "Vermeidbarkeitstheorie" werden hier die Ansichten zusammengefaßt, die trotz zahlreicher Unterschiede im Detail insgesamt darin übereinstimmen, daß sie dem Einwand, der schädliche Erfolg sei unvermeidbar, weil er auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Schädigers eingetreten wäre, grundsätzliCh entlastende Wirkung beimessen. Derartige Meinungen sind sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht weit verbreitet.3
1 Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten. 2 Die Kausalität der Plichtwidrigkeit 3 Vgl. die Nachweise im Rahmen der folgenden Darstellung.
A. Die Vermeidbarkeitstheorie
73
I. Varianten und Begründungen
1. Strafrecht
a) Kausalität der Pflichtwidrigkeit In der strafrechtlichen Rechtsprechung wird das Zurechnungserfordernis der Vermeidbarkeit des Erfolges durch rmAV damit begründet, daß sich die Kausalitätsbetrachtung nicht auf die Feststellung der Kausalität des Verhaltens im naturwissenschaftlichen Sinn beschränken dürfe, sondern daß auch die Ursächlichkeit der Pflichtwidrigkeit nachgewiesen werden müsse. 4 Da die Kausalität als Zurechnungserfordernis nicht zweifelhaft ist, erübrigt sich eine weitere Begründung des Venneidbarkeitserfordernisses (scheinbar5). Wie wir im 2. Abschnitt unter A.1. gehen haben, stehen der Vorstellung einer "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" jedoch durchgreifende Bedenken gegenüber; im Schrifttum wird sie nahezu einhellig abgelehnt. Die Verwerfung dieses Ansatzes führt dazu, daß man, wenn man gleichwohl am Kriterium der Erfolgsvenneidbarkeit festhalten will, eine weitere ungeschriebene 6 Zurechnungsvoraussetzung an4 BGH VRS 3, 423 f.; BGH VRS 5, 284 (286); BGHSt 11, 1 (7); BGH VRS 21, 341 f.; BGHSt 21,59 (61); BGHSt 33, 61 (63); OLG Hamm VRS 35, 124 (125); im Schrifttum ist ein Abstellen auf die "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" selten, zustimmend Mühlhaus, S. 26 ff.; Schönke/ Schröder, 17. Aufl., § 59 Rdnr. 159 a ff.; von "Vermeidbarkeitskausalität" ist bei M aurach/Gössel! Zipf, AT 2, S. 127 f. die Rede; ebenfalls von einem Kausalitätsproblem, aber mit abweichenden Lösungen, gehen Oehler, Eb.-Schmidt-FS, S. 237 f.und Seebald, GA 1969, 204 f., aus. 5 Genau genommen nämlich nur dann, wenn man davon ausgeht, daß die Kausalität durch die conditio-sine-qua-non-Formel, die ja gerade danach fragt, ob der Erfolg bei "Wegdenken" des jeweiligen Umstandes vermeidbar war, zutreffend beschrieben wird. Gerade das ist aber, wie wir oben im 2. Abschnitt unter A.I.1.c. und 2.b.dd(3). Fn. 77 gesehen haben, höchst fraglich. 6 Teilweise wird allerdings schon dem Wortlaut der Fahrlässigkeitsdelikte (Herbeiführung der Rechtsgutverletzung "durch" Fahrlässigkeit) das Erfordernis eines besonderen Rechtswidrigkeitszusammenhangs oder sogar der Vermeidbarkeit des Erfolges entnommen (vgl. ULrenheimer, Pflichtwidrigkeit, S. 144; Würfel, S. 134 ff.; letzerer sieht in einer anderen Auslegung sogar einen Verstoß gegen das Analogieverbot). Indes mag diese Formulierung vielleicht als Indiz angesehen werden, ein zwingendes Argument ist ihr nicht zu entnehmen: Sie kann wohl ohne unzulässige Überschreitung der Wortlautgrenze so ausgelegt werden, daß die Worte "durch Fahrlässigkeit" eine "zufallige sprachliche Wendung" (Niewenhuis, S. 6) darstellen, die i. S. von "durch eine pflichtwidrige Handlung verursachen" zu verstehen ist. Das gilt umso mehr, wenn man zu der Erkenntnis gelangt ist, daß die Pflichtwidrigkeit als solche gar nichts verursachen kann. So räumt Niewenhuis a.a.O. dem Argument des Wortlauts von §§ 222, 230 SIGB denn auch nur "unterstützende Funktion" ein. Entscheidend ist jedoch folgendes: Selbst wenn man meint, daß in dieser Formulierung "klar die Ansicht zum Ausdruck (kommt), Sorgfaltsverstoß und Rechtsgutverletzung miteinander zu verbinden und zu prüfen, ob sich 'die Fahrlässigkeit' irgendwie im Erfolg ausgewirkt hat" (ULrenheimer a.a.O.), so ist damit noch lange nicht gesagt, daß das diese "irgendwie" geartete Auswirkung durch das Erfordernis der Vermeidbarkeit zutreffend beschrieben ist, zumal jenes
74
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
nehmen muß. In diesem Fall kann die rmA V -Formel nicht als selbstverständliche Anlehnung an die Kausalformel akzeptiert werden, vielmehr muß ihre Berechtigung sorgfaltig nachgewiesen werden. Im folgenden wollen wir uns mit der Frage befassen, ob den Anhängern der "Vermeidbarkeitstheorie" im Strafrecht dieser Nachweis in zufriedenstelIender Weise gelungen ist. Dabei werden wir vielfach auf die Untersuchung von Küper Bezug nehmen, der soweit ersichtlich bislang als einziger die Begründungen zum Erfordernis eines RWZ einer systematischen Kritik unterzogen hat.7
b) Der "besondere Zusammenhang" Betrachtet man die Schriften, in denen das Vermeidbarkeitserfordernis als Zurechnungsvoraussetzung angesehen wird, so fallt auf, daß zwar vielfach die Argumente für und wider die Gegenansicht (Risikoerhöhungslehre) ausführlich erörtert werden, jedoch als "Begründung" des Dogmas, daß die Möglichkeit rechtmäßiger Herbeiführung der Verletzung die Zurechnung ausschließen soll, meist nur knappe Hinweise zu finden sind, wie etwa: Die fehlende Vermeidharkeit des Erfolges schließt die Zurechnung aus,8 es fehlt an der "Gefahrverwirklichung",9 der "Relevanz" der vom Täter für den Erfolg gesetzten Ursache 10, bzw. der Realisierung der Sorgfaltspflichtverletzung;l1 der Erfolg "beruhe" nicht auf der Pflichtwidrigkeit. 12 Küper weist zu recht darauf hin, daß derartige Wendungen keine Begründungen darstellen)3 Teilweise handelt es sich schlicht um neue Formulierungen des Problems, wie die Möglichkeit rechtmäßiger Schadensherbeiführung zu behandeln ist (fehlende "Vermeidbarkeit"),
schon eine Kausalbeziehung nicht unbedingt zutreffend wiederzugeben vermag (s. vorhergehende Fn.). 7 Laclmer-FS, S. 247 ff.
8 Vgl. Exner, Frank-Festgabe, S. ausschi ießen solle.
583 f., wonach fehlende Vermeidbarkeit die "Verschuldung"
9 So schon Engisch, Kausalität, S. 64 f.; ähnl. SK/Samson, Anh. zu § 16 Rdnr. 24. 10 Mezger, JZ 1958, 282; ähnl. Wessels, AT, S. 208 f. 11 Welzel, Lehrb., S. 135 f., Bockelmann/Volk, S. 162.
12 Hardwig, JZ 1968,290; Sch./Sch./Cramer, § 15 Rdnr. 162. 13 Aa.O, S. 252 f. Von zivilrechtlicher Warte aus weist schon Münzberg, Verh. u. Erfolg, S. 132 auf den mangelnden Nachweis dafür hin, daß zur Zurechnung überhaupt die Vermeidbarkeit bei rmA V erforderlich sein soll.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
75
teilweise um nicht belegte Behauptungen: Warum soll gerade die Möglichkeit der Schädigung durch tmAV die "Relevanz" etc. der Pflichtwidrigkeit ausschließen? Ausführlicher hat Niewenhuis das Erfordernis des RWZ untersucht; unter den von ihm aufgelisteten Gesichtspunkten fmdet sich aber ebenfalls kein zwingender Grund, den tmAV-Einwand zu berücksichtigen. Als erstes nennt er den Umstand, daß die Fahrlässigkeitsdelikte nicht jede, sondern nur die ein gewisses Maß überschreitende unerlaubte Gefährdung verbieten. Daraus sei zu folgern, daß gerade der unsachgemäße Umgang mit der Gefahr "für den Erfolgseintritt relevant" sein muß.14 Dem ist entgegenzuhalten, daß die kausale Herbeiführung des Erfolges durch das unsachgemäße Verhalten (ordnungsgemäßes Verhalten fand schließlich nicht statt) ja vorliegt; worin die darüber hinausgehende Relevanz der unerlaubten Gefährlichkeit liegen sollte, bleibt weiterhin ungeklärt. Zum zweiten weist er auf "ungerechte Ergebnisse" hin und nennt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Autofahrers, der beim Fahren mit defekten Bremsleuchten in einen Unfall verwickelt wird, bei dem die Funktion dieser Leuchten überhaupt keine Rolle spielt. Das ist für sich genommen zwar zutreffend. Diese fast evident gelagerten Fälle bedürfen jedoch eines Rückgriffs auf das tmAV-Dogma überhaupt nicht, sondern sind schon mit der Überlegung angemessen zu lösen, daß der Schutzbereich der Sorgfaltspflicht (im Beispiel offensichtlich nur die Verhinderung einer bestimmten Kategorie von Auffahrunfällen) nicht betroffen ist. Liegt dagegen der Erfolg und die Art seines Eintrittes im Schutzbereich der Norm (wie z.B. im Radfahrer-Fall), so erscheint eine Zurechnung nicht evident ungerecht (insbesondere dann nicht, wenn der Radfahrer bei ordnungsgemäßem Überholen nur vielleicht ebenfalls getötet worden wäre).l5 Drittens würde nach Niewenhuis der Erfolg ohne Pflichtwidrigkeitszusammenhang seine "innere Rechtfertigung" als "unrechtsbegründendes oder unrechtssteigerndes Element" verlieren, weil auch zufällig bei verbotenem Tun eintretende Erfolge zur Strafbarkeit führen würden, die "über die Risiken gerade des konkreten Sorgfaltsverstoßes überhaupt nichts" besagen.1 6 Dem ist wiederum zuzustimmen, soweit es darum geht, daß die in
14 Niewenhuis, S. 2 15 Entsprechend auch Küper a.a.O., S. 251 f. Anzumerken ist jedoch, daß Niewenhuis seine Ausführungen nicht nur auf das Erfordernis eines Vermeidbarkeitszusammenhanges, sondern auch auf das eines RWZ überhaupt einschließlich der Frage nach dem Schutzbereich der Normen bezieht. Soweit es um letzteren geht, soll Niewenhuis hier keinesfalls widersprochen werden.
16 Aa.O., S. 3 f.
76
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
den Erfolg umschlagenden Gefcihrdungen im Schutzbereich der Pflicht gelegen haben müssen; ein Nachweis, daß es zur Herstellung dieser "inneren Rechtfertigung" des Vermeidbarkeitskriteriums bedarf, findet sich aber gleichfalls nicht. Schließlich stellt der Satz, daß die Auferlegung der Verantwortung für einen Erfolg voraussetze, daß dem Täter über den Vorwurf des Fehlverhaltens hinaus mitgeteilt werden kann, wie er den Erfolg, der ihm neben dem Verhaltensverstoß angelastet wird, denn hätte vermeiden können,17 wiederum lediglich die Behauptung des Vermeidbarkeitserfordernisses dar. c) Die Zweckverfehlung der Norm Ulsenheimer hat den wohl sorgfciltigsten Versuch unternommen, den "besonderen Zusammenhang" zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg, den er mit Rücksicht auf den Wortlaut (Verursachung des Erfolges "durch" Fahrlässigkeit), aber auch den Grundgedanken (Sorgfaltspflichten zum Zwecke der Vermeidung schädlicher Erfolge) der Fahrlässigkeitstatbestände verlangt,18 nicht nur zu postulieren, sondern eine Erklärung dafür zu finden, daß sich dieser Pflichtwidrigkeitszusammenhang tatsächlich im Vermeidbarkeitserfordernis ausdrückt. Dazu greift er auf die Aufgabe und Wirkungsweise der Sorgfaltspflichten zurück: Bei der Möglichkeit rechtmäßiger Erfolgsherbeiführung erweise sich die ex ante bestehende "Schutzwirkung" der Norm ex post als wirkungslos, so daß auch die Berechtigung der Strafe entfalle.l9 Dieser Erwägung ist wiederum Küper entgegengetreten: Auch Ulsenheimers Ansatz gelange nicht über "eine analytisch-deskriptive Beschreibung des Sachverhalts" hinaus, weil die "Zweckverfehlung" der Sorgfaltspflicht an ihrer Geltung nichts zu ändern vermag, so daß nicht erklärt sei, warum das ausnahmsweise Fehlen der Schutzwirkung im Einzelfall die Zurechnung des durch die pflichtwidrige Handlung verursachten Erfolges hindern sollte. 2O Dem ist zuzustimmen.21
17 Niewenhuis, S. 5. 18 Ulsenheimer, PfIichtwidrigkeit, S. 143 fr.; JZ 1969, 367 f. Damit will er einen Rückfall in "die aUe, längst überholte Lehre vom 'versari in re illicita'" (JZ 1969, 367 f.) vermeiden. 19 Ulsenheimer, Pflicbtwidrigkeit, S. 146 f.; JZ 1969,368.
20 Küper, Lackner-FS, S. 256 fr.; vgl. auch Frisch, Tatbestandsm. Verb., S. 533. 21 Vgl. aucb unter 2.c.aa. die Kritik an Gotzkrs Ableitung der BeTÜcltsicbtigungsfäbiglceit des rmAVaus dem Prinzip der "Eignung", das auf einem äbnlichen Gedankengang beruht; dort wird eine ausführlicbere Stellungnabme erfolgen.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
77
d) Die Ratio des Erfolgserfordemisses Einen ganz anderen Weg ist Frisch gegangen, der die Lösung unseres Zurechnungsproblems in der "spezifischen Ratio des Erfolgserfordernisses" sucht. 22 Diese sieht er darin, daß sich bei Eintritt des Erfolges die "Sinnhaftigkeit der verletzten Norm besonders eindrucksvoll demonstrieren läßt."23 Dabei werde nämlich einerseits das Fehlverhalten allgemein sichtbar und das Maß der "Rechtsfriedensstörung" sei besonders groß, andererseits trete "der Sinn der rechtlichen Verhaltensanforderungen" besonders deutlich zutage. 24 Zu dieser Demonstration tauge der Erfolg aber nur, wenn er die Realisierung eben dieses Risikos ist, aufgrund dessen die Verhaltensweise verboten ist. 25 Nun hält Frisch zur Untersuchung der Frage, ob die "Risikorealisierung" vorliegt, eine besondere "Realisierungsformel" an sich gar nicht für nötig, sondern will die tatsächlich geschehene "Verlaufskette", die schließlich zur Rechtsgutverletzung führte, anband einer normativen Betrachtung dahingehend untersuchen, ob sie zu jenen Vorgängen gehört, derentwegen das Verhalten mißbilligt ist. 26 Damit verfolgt er zunächst einen ganz anderen, von der Vermeidbarkeitstheorie verschiedenen Ansatz, der uns an späterer Stelle noch beschäftigen wird.27 Fast etwas überraschend gelangt Frisch dann dennoch zur rmAV-Formel, die er zu Feststellung der Frage verwenden will, ob der Erfolg "planmäßig vermeidbar" war,28 und erklärt zugleich, warum er diese Formel neben den Erwägungen zur Risikorealisierung für erforderlich hält: Die Risikoverläufe seien so vielgestaltig, daß man sie nicht alle kennt und folglich nicht alle losgelöst vom Einzelfall als mißbilligt bzw. nicht mißbilligt qualifIZieren könne. Dieses Defizit sei dadurch auszugleichen, daß das Problem "konkret fallbezogen nachgelöst" wird eben durch Verwendung der rmAV-Formel. 29 Hier ist denn auch die Stelle erreicht, an der das Begründungsdefizit wieder auftaucht, das allen bisherigen Versuchen einer Rechtfertigung der Vermeidbarkeitsformel anhaftet: Es fehlt 22 Frisch, Tatbestandsm. Verh., S. 511.
23 Aa.O., S. 516.
24 Aa.O., S. 516 Cf. 2S A.a.O., S. 519, 525. 26 A.a.O., S. 526 ff.
27 Vgl. u. C.IIl.3. Frisch kommt damit nah an die Überlegungen von Jakobs heran, wonach mehrere Risiken miteinander konkurrieren können, das Verhalten aber nur im Hinblick auf eines verboten ist; festzustellen ist daher, ob sich gerade jenes im Erfolg realisiert bat; vgl. AT, S. 184 ff. und zur Ausgestaltung dieses Grundsatzes im einzelnen Lackner-FS, S. 53 Cf. 28 Frisch a.a.O., S. 529 ff. 29 Aa.O., S. 529 f. Fn. 89.
78
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
der Nachweis, warum es gerade diese Formel ist, mit der man die Risikorealisierung erfassen kann. Zwar könnte in vielen Fällen fehlender Risikorealisierung tatsächlich auch rechtmäßiges Verhalten den Erfolgseintritt ausgelöst haben (man denke nur an Niewenhuis' Bremsleuchten-Fall). Das macht die Hypothesenformel aber nicht zu einem zuverlässigen Maßstab, um die Restfälle fehlender Risikorealisierung zu erfassen (allein die Unsicherheiten, die sich auf Kausalitätsebene mit der csqn-Formel ergeben, sollten insoweit zur Vorsicht mahnen), für die Frisch seine zunächst favorisierte Methode nicht mehr als geeignet ansieht. Im Gegenteil läßt sich gegen die Vermeidbarkeitsformel einwenden, daß sich immer nur eine Gefahr realisieren kann, die tatsächlich geschaffen wurde. Deshalb leuchtet zwar u.U. im Einzelfall die Behauptung ein, eine tatsächlich geschaffene und verwirklichte Gefahr sei nicht mißbilligt; nicht ersichtlich ist dagegen, wieso ein tatsächlich nicht geschaffenes hypothetisches Risiko etwas daran ändern sollte, daß sich das in Wirklichkeit geschaffene verbotene Risiko realisiert hat. 30 Nun hält Frisch noch ein weiteres Argument für die Richtigkeit der rmAVFormel bereit, und zwar führt er wieder die "Ratio des Erfolgserfordernisses" an, die nicht nur die Risikorealisierung im oben geschilderten Sinn, sondern auch die Vermeidbarkeit des Erfolges bei normgemäßem Verhalten voraussetze, andernfalls würde der Erfolg als "Realisierung eines allgemeinen Lebensrisikos" gewertet. Gerade das erscheint jedoch höchst zweifelhaft: Wenn sich trotz der hypothetischen rechtmäßigen Risikoverwirklichung in Wahrheit die Gefahr des unerlaubten Typs im Erfolg niedergeschlagen hat, so läßt sich daran sehr wohl die "Sinnhaftigkeit der Norm" demonstrieren, auch wenn ausnahmsweise ein erlaubtes "Reserverisiko" bereitstand. Fazit: Auch Frischs Untersuchung liefert letzlich nicht den Beweis dafür, daß die Zurechnung deshalb ausscheiden muß, weil der Täter den Erfolg auch durch rmAV hätte herbeiführen können.
2. Zivilrecht a) Überblick Auch im Zivilrecht ist innerhalb der Vermeidbarkeitstheorie zunächst die Ansicht zu nennen, die rmAV als Problem der Kausalität ansieht, bei hypotheti30 Vgl. Küper, Lackner-FS, S. 254 f.
A Die Vermeidbarkeitstheorie scher Schadensherbeiführung durch
rmAV
79
die "Kausalität der Pflichtwidrig-
keit" vemeint,31 und auf diese Weise vorbehaltlich der Beweislastfrage zu weitestgehender32 Entlastung des Schädigers durch rmAV gelangt. Diesem Ansatz
kann wie im Strafrecht aus den oben im 2. Abschnitt unter A.I. genannten Gründen nicht gefolgt werden. Die h.M., nach der rmAV zwar nicht die Kausalität, aber den neben dieser erforderlichen RWZ ausschließen kann, gelangt teilweise ebenfalls zum Ergebnis durchgehender Beachtlichkeit,33 will jedoch überwiegend die Berücksichtigung des
rmAV
davon abhängig machen, daß sie
nicht dem Schutzzweck der Norm zuwiderläuft34 oder - vom Ansatz her ähnlich - daß keine Verfahrensgarantien verletzt wurden, die dem Schutz des Geschädigten dienen. 35 31 Vgl. RGZ 147, 129 ff.; 171, 168 (171); RG JW 1931, 2014 (2015); BGH NJW 1959, 1583 (1584); BGH VersR 1960, 905; BGH VRS 21, 5 (6); BGH VersR 1963, 165; BGH NJW 1971, 241 ff.; Hanou, Kausalität, S. 23 ff. und DNotZ 1986,414 f.; Gottwald, S. 79 f. 32 Jedenfalls ist eine von den Anhängern der Theorie des R WZ vielfach geforderte Einschränkung nach dem Sehutzzweck der jeweiligen Sehadensersatznorm nicht möglich, da dieser ja nicht vom Kausalitätserfordernis dispensieren kann. Gleichwohl vertretene Beschränkungen des rmAVEinwandes, insbesondere die von Hanau verlangte Nichtberücksichtigung "unechten Alternativverbaltens" (Hanou a.a.O., S. 11 ff., näheres dazu u. 111.2) erfordern also den Nachweis, daß in diesen Fallen die "Kausalität" gar nicht betroffen ist Nicht ganz konsequent Gottwald, der einerseits das Erfordernis einer "Kausalität der PfIichtwidrigkeit" befürwortet (S. 96 ff.), andererseits aber bei der Beachtlichkeit des rmAV nach Fallgruppen differenzieren will (S. 163). 33 Für eine durchgehende Beachtlichkeit des rmAVGotzler, S. 84 ff., 90 ff.; Esserl&hmidt, S.539. 34 Vgl. Larenz, NJW 1959, 866; von Caemmerer, Überholende Kausalität, S. 32 ff.; Deutsch, JZ 1966, 557 ff. und Haftungsrecht, S. 175 f.; Lange, Schadensersatz, S. 134 ff.; Fikentscher, S. 347; Larenz, SchR I, S. 527 f.; StaudingerlMedicus, § 249 Rdnr. 111 f.; Jauernigffeichmann, vor §§ 249-253 Anm. VI.3.; PalandtlHeinrichs, Vorbem. v. § 249 Anm. 5.C.g.; BGHZ 96, 157 (172 f.). Bei Deutsch ist allerdings zu beachten, daß er "rmAV" in einem engeren Sinn versteht als in dem der Möglichkeit des Sehadenseintrittes bei pflichtgemäßem Verhalten: Von "rmAV' spricht er, wenn ein Rechtfertigungsgrund dem Schädiger die Schadensherbeiführung gestattet hätte; von diesen Fällen, in denen er die Beachtlichkeit des Einwandes vom Schutzzweck der jeweiligen Norm (insbesondere einer etwa verletzten Verfahrensgarantie) abhängig macht, unterscheidet er ausdrücklich jene, in denen es "keine Rechtfertigung der Verletzung" gibt, sondern die Verhaltensnorm "im konkreten Fall untauglich gewesen" wäre (Haftungsrecht, S. 174 f., 249). Im Zusammenhang mit letzteren geht er offenbar von einer Entlastung des Sehädigers aus und hält in erster Linie die Beweislast für problematisch (a.a.O., S. 246 ff.). Die Berechtigung dieser Differenzierung erscheint zweifelhaft, wenn man bedenkt, daß doch in beiden Konstellationen ein Erfolg rechtswidrig herbeigeführt wurde, der auch eingetreten wäre, wenn der Schädiger den Anforderungen der Rechtsordnung Genüge getan hätte. 35 Vgl. Niederländer, AcP 153 (1954), 69 (der das Problem allerdings in den Fragenkreis der Reserveursachen einordnet); von Caemmerer, Überholende Kausalität, S. 33; Esser, SehR I, 4. Aufl., S. 323; Deutsch, Haftungsrecht, S. 175 f.; Gottwald, S. 163; StaudingerlMedicus, § 249 Rdnr. 114; JauerniglTeichmann, vor §§ 249-253 Anm. VI.3. Ähnlich Laufo, NJW 1969, 532, der die Zurechnung der Folgen ärztlicher Eigenmacht auch dann befürwortet, wenn der Patient bei ord-
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
80
Bevor zu der Frage Stellung genommen wird, ob die für die Berücksichtigung des rmAV-Einwandes erforderliche Begründung im Zivilrecht überzeugender gelungen ist als im Strafrecht, sollen die hierzu vertretenen Ansätze zunächst kurz skizziert und die Stellungnahme des BGH in einer neueren Entscheidung dargestellt werden.
aa) Gotzler Den wohl ausführlichsten Begründungsansatz hat Gotzler in seiner Monographie entwickelt.36 Er sieht die zur Zurechnung erforderliche besondere Beziehung zwischen der verletzten Pflicht und dem Erfolg in der "teleologischen Mittel-Zweck-Beziehung von VN (Verhaltens norm) und Erfolgsvermeidung begründet".37 Diese beschreibt er folgendermaßen: Ausgangspunkt sei der "Eignungsgedanke", wobei Eignung als "die Eigenschaft eines Objekts, hier eines Verhaltens, die es befähigt, das intendierte Ziel zu erreichen" definiert wird.38 Der "Eignungsgedanke" liege der Zurechnung der Folgen von Verstößen gegen Verhaltensnormen allgemein zugrunde, d.h. Erfolge werden deshalb zugerechnet, weil die Einhaltung der Norm zu ihrer Vermeidung geeignet gewesen wäre. 39 Dementsprechend finde er bereits bei der Bildung der Verhaltensnormen Anwendung, indem die bei ex ante-Betrachtung erfolgsgeeigneten Verhaltensweisen als pflichtwidrig eingestuft werden. 40 Jedoch dürfe sich die Beachtung des "Eignungsprinzips" hierin nicht erschöpfen, da diese "praesumptive Eignung" an dem Mangel leide, daß das ex ante-Urteil keine sichere Auskunft über den tatsächlichen Gang der Dinge geben könne. Dieser Mangel müsse dadurch ausgeglichen werden, daß man im Rahmen eines ex post-Urteils die Frage beantwortet, ob die Befolgung der allgemein zur Erfolgsvermeidung geeigneten Norm auch im Einzelfall geeignet gewesen wäre, den Schaden zu verhindern.41 Zu bestimmen sei diese Eignung durch Betrachtung des hypothetischen Kausalverlaufs bei rmAV: Die fehlende "Eignung" der Norm im Einnungsgemäßer Aufklärung und Befragung seine Einwilligung in den Eingriff ohne weiteres erteilt hätte: Die richtige Aufklärung sei ein ·so wesentliches Element des Heilverfahrens, daß sie nicht nachträglich durch Richterspruch getroffen werden kann.' 36 Gotzler, S. 73-95. 37 Gotzler, S. 91 f. 38 Aa.O., S.
73.
39 Aa.O., S. 74. 40 Aa.O., S. 74 f. 41 Aa.O., S. 75 f.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
81
zelfall zeige sich daran, daß auch das rechtmäßige Verhalten für den Erfolgseintritt kausal geworden wäre.42 Den Ausschluß der Zurechnung in diesem Fall sucht Gotzler noch dadurch zu untermauern, daß er auf die §§ 831 ff. BGB hinweist, in denen die Berücksichtigung des Eignungsgedankens bei der Normanwendung Ausdruck gefunden haben soll, und auf den Zweck der Schadensersatznormen, Schäden zu verhindern und auszugleichen und nicht etwa pflichtwidriges Verhalten zu sanktionieren: Aus dem ausschließlichen Zweck des Schadensausgleichs ergebe sich, daß der Verhaltensunwert die Zurechnung nur dann trägt, wenn zwischen ihm und dem Schaden ein Zusammenhang in Gestalt des funktionierenden Mittel-Zweck-Mechanismus besteht, andernfalls sei der Schadensersatz nur Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens.43
bb) Esser/Schmidt Letztere ElWägung findet sich in ähnlicher Weise auch bei Esser/Schmidt: "RmAV" bedeute, daß trotz Pflichtverstoß keine Erhöhung des vom Geschädigten zu tragenden allgemeinen Lebensrisikos vorliege, so daß die Pflichtwidrigkeit des Handeins und der Erfolg als Ausfluß dieses vom Geschädigten zu tragenden Risikos beziehungslos nebeneinanderstünden. Unter diesen Umständen könne die Gewährung von Schadensersatz nur noch an der Pflichtwidrigkeit an sich, nicht mehr jedoch an ihrer Funktion "als tragendes Moment der Verantwortlichkeit für Unrechtsfolgen" anknüpfen und würde daher die Einführung des "Sanktionsgedankens" und "Verkennung der bloßen Ausgleichsfunktion" bedeuten. 44
ce) Übrige Autoren Der Hinweis darauf, daß in rmAV-Fällen Pflichtwidrigkeit und Erfolg unverbunden nebeneinanderstehen, taucht zur Begründung der grundsätzlichen Beachtlichkeit des rmAV auch bei Autoren auf, die die Relevanz des rmAV einschränken wollen, wenn auch meist in sehr knapper Form; so ist davon die Rede, daß bei rmAV die Folgen nicht in der Verbotenheit des Verhaltens wur-
42 Aa.O., S. 84 ff.
43 Aa.O., S. 90. 44 EsserlSchmidt, S. 539 f. 6 Erb
82
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
zeln,45 oder von "fehlender Relevanz des Normverstoßes für den Schadenserfolg".46 Bei der Begründung der Einschränkungen kommt dagegen eine Erwägung ins Spiel, die sich bei Gotzler und bei EsserlSchmidt nicht findet, nämlich der Hinweis auf den Schutzbereich der Norm47 bzw. die Bedeutung einer "Verfahrensgarantie"48 (wobei es in der Sache wohl ebenfalls um den Schutzbereich geht, nämlich um den der Verfahrensvorschrift), welche Ausnahmen von der Regel erfordern sollen. Andere ziehen (z.T. nur andeutungsweise) bereits bei der Begründung der grundsätzlichen Berücksichtigungsfähigkeit des Vermeidbarkeitseinwandes den Schutzbereich der einzelnen Schadensersatznorm heran. Dieser gehe aber im allgemeinen nämlich nicht so weit, daß er auch solche Schäden umfaßt, die den Geschädigten auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Schädigers ohnehin getroffen hätten; entsprechend bestimmt der jeweilige Schutzbereich zugleich die Grenzen der Erheblichkeit des rmAV-Einwandes. 49
b) Der Standpunkt des BGH Der BGH hat in einer neueren Entscheidung zur Frage des rmAV grundsätzlich Stellung genommen.so Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt lautet (vereinfacht dargestellt) folgendermaßen: Der beklagte Notar beurkundete einen Grundstückskaufvertrag zwischen der Klägerin und einem Dritten. Dabei wurde er von den Vertragsparteien mit dem Vollzug des Vertrages beauftragt, und zwar sollte er zunächst die Freistellung des von der Klägerin gekauften Teils des Grundstückes von bestehenden Belastungen bewirken und dann den Kaufpreis fällig stellen. Er beschaffte denn auch Pfandfreigabeerklärungen für die ursprünglichen Lasten, versäumte eine entsprechende Maßnahme jedoch hinsichtlich einer Grundschuld, die für einen Dritten im Zusammenhang mit dem Verkauf einer weiteren Teilfläche des Grundstückes noch vor der Auflassungsvormerkung der Klägerin ins Grundbuch eingetragen worden war. Gleichwohl teilte er der Klägerin mit, die Fälligkeitsvoraussetzungen 45 von Caemmerer, Überholende Kausalität, S. 31. 46 Larenz, SchR I, S. 528; ähnl. Deutsch, Hafrungsrecht, S. 174.
47 Larenz 3.3.0., S. 529.
48 von Caemmerer 3.3.0., S. 32
49 Vgl. Deutsch, JZ 1966, 558 f., Haftungsrecht, S. 175 f. und Grundriß, S. 40; Wissmann, NJW 1971, 549 ff.; Esser, SehR I, 4.Aufl., S. 322 f.; Kittner, OB 1970, 1488; Lange, Schadensersatz, S. 134 ff.; Jauemigrreichmann, vor §§ 249-253 Anm. VI.3.; PalandtlHeinrichs, Vorbem. vor § 249 Anm. 5.C.g. SO 80HZ 96, 157 ff.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
83
seien nunmehr gegeben, worauf diese an den Dritten zahlte. Nun entstanden ihr nicht etwa Nachteile aus der Belastung des Grundstückes - die Grundschuld wurde 6 Monate später getilgt -, vielmehr verlangte sie Ersatz der Kosten, die ihr in Form von Zinsen dadurch entstanden waren, daß sie den Kaufpreis nicht erst eben dieses halbe Jahr später bezahlt hatte. Der Notar hielt dem entgegen, daß er die Klägerin zwar amtspflichtwidrig zur Zahlung des Kaufpreises aufgefordert hatte, bevor die Fälligkeitsvoraussetzungen vorlagen, daß er diese Voraussetzungen aber ohne weiteres bereits zu jenem Zeitpunkt hätte herbeiführen können (und dies sogar hätte tun müssen, um seipen Amtspflichten in jeder Hinsicht zu genügen), wodurch die Klägerin die Kaufpreisschuld ebenfalls zum früheren Termin bezahlt und folglich den gleichen "Schaden" erlitten hätte; er berief sich also mit anderen Worten auf rmAV. Der BGH distanzierte sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich von der Auffassung, wonach es in diesem Zusammenhang um die "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" gehen soll; vielmehr laute die Frage, "inwieweit einem Schadensverursacher die Folgen seines pflichtwidrigen Verhaltens bei wertender Betrachtung billigerweise zugerechnet werden können."51 Nach dem Hinweis, daß das Problem umstritten sei, bemerkte der BGH schließlich lapidar und ohne weitere Begründung: "Der Senat schließt sich der Auffassung an, daß der Schutzzweck der jeweils verletzten Norm darüber entscheiden muß, ob und inwieweit der Einwand im Einzelfall erheblich ist".52 Mit der Erwägung, die Amtspflicht bezwecke nicht nur den Schutz der Klägerin vor Grundstücksbelastungen, sondern auch vor verfrühter Zahlung, wurde der Einwand des Notars daher für unbeachtlich erklärt, wobei noch hinzugefügt wurde, daß eine Entlastung im Interesse des Schutzes des Vertrauens "in die Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit des Notars" nicht tragbar wäre. 53
c) Stellungnahme aa) Parallelbegründungen zum Strafrecht Ebenso wie im Strafrecht finden sich "Begründungen", die sich auf Behauptungen wie es fehle an der "Relevanz des Normverstoßes" etc. beschränken und damit im Grunde genommen keine Argumente für die Entlastung des SchädiSI BGHZ96, 157 (172).
52 BGHZ 96, 157 (173). 53 BGHZ 96, 157 (173 f.).
84
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
gers durch rmAV liefern. Eine Ähnlichkeit ist auch festzustellen zwischen den Ansätzen von Gotzler und Uisenheimer, die das Erfordernis des Vermeidbarkeitszusammenhangs beide aus dem Gedanken des Versagens der Norm im Einzelfall entwickeln: Der Erwägung Ulsenheimers, das Versagen der im Regelfall zur Erfolgsverhinderung grundsätzlich geeigneten Sorgfaltspflicht könne nicht ohne Auswirkung auf die Zurechnung bleiben, entspricht der Gedanke Gotzlers, zur Legitimation der Zurechnung müsse der grundsätzlichen ex anteEignung der Verhaltensnorm auch eine ex post-Eignung im Einzelfall entsprechen. Insofern gilt die oben unter l.c. bereits Ulsenheimers Begründung entgegengehaltene Kritik auch für Gotzler: Es fehlt schlicht der Nachweis dafür, daß der "Eignung" tatsächlich die Bedeutung eines übergeordneten Zurechnungsprinzips zukommt, die Gotzler ihm einräumt, denn aus der Tatsache, daß Erfolge deshalb zugerechnet werden, weil die Normeinhaltung zu ihrer Vermeidung geeignet ist, folgt nicht automatisch umgekehrt, daß eine Zurechnung dort ausscheiden muß, wo die Einhaltung der grundsätzlich zur Erfolgsvermeidung tauglichen Norm im Einzelfall einmal nicht "geeignet" gewesen wäre. Ersteres ist nämlich, wovon offensichtlich auch Gotzler ausgeht,54 Folge der Wirkungsweise der Normen: Gezielter Rechtsgüterschutz ist nur möglich über (u.U. aus dem allgemeinen Verbot, andere zu verletzen, abgeleitete) VerhaUensnormen, die ex ante gefährliche, d.h. zur Rechtsgutverletzung geeignete Verhaltens-weisen verbieten.55 Daraus ergibt sich zugleich die Sinnlosigkeit von Verhaltensanordnungen (jedenfalls unter dem Aspekt der Schadensverhütung), die zu diesem Zweck ex ante ungeeignet sind, so daß ein Verstoß gegen diese auch keine Schadenszurechnung legitimiert. 56 Deshalb läßt sich sagen, daß die ex ante bestehende "Eignung" der Verhaltensnorm zur Schadensverhütung die Zurechnung des Schadens bei Verstößen trägt. Wollte man dagegen die Geltung der Verhaltensnorm davon abhängig machen, daß sie auch ex post gesehen im Einzelfall zur Schadensverhinderung geeignet war, so würde man ihr etwas abverlangen, was sie prinzipiell nicht zu leisten vermag,57 nämlich die Verhinderung von Erfolgen als solchen. Nun zieht auch Gotzler in diesen Fällen nicht die Geltung der Verhaltensnorm in Zweifel 58 (ebensowenig wie Ulsenheimer), sondern weist nur auf die fehlende Eignung zur Erreichung ihres Fernziels der 54 Vgl. a.a.O., S. 74 f. i.V.m. S. 64 Cf. 55 Vgl. auch o. 2. Abschnitt m.l. und 2.a. 56 Bntsprechend auch UlsenMimer, Plichtwidrigkeit, S. 146.
57 S.u. C.II.l.b.cc.(2).ii. sowie Armin KaufmQ1Ul, Normentheorie, S. 105 ff. 58 Ausdrücklich a.a.O., S. 90 f.: "die Bildung der Norm ... erfolgt ex anle und dieser Schadensverhütungszweck bleibt bestehen, auch wenn er im Binzelfall nicht erreicht werden kann."
A. Die Vermeidbarkeitstheorie
85
Schadensverhinderung hin. Wenn die "ex post-Eignung" damit aber im Gegensatz zur "ex ante-Eignung" nichts mit dem Wirkungsmechanismus der Verhaltensnormen zu tun hat, so entfällt bei ihr auch der zwingende Anlaß, ihr im Rahmen der Zurechnungsproblematik Rechnung zu tragen. Selbstverständlich ist hiermit noch nicht gesagt, daß die fehlende "Eignung" der Norm zur Erfolgsverhinderung im Einzelfall für die Zurechnung des Schadens zum Normverstoß bedeutungslos sein muß, aber der Satz, daß in diesen Fällen die Zurechnung der Rechtsgutverletzung ausscheidet, stellt lediglich eine Behauptung dar und kein durchschlagendes Argument für die Beachtlichkeit des rmAV -Einwandes. Schließlich erscheint auch Gotzlers Hinweis auf die §§ 831 ff. BGB, in denen das auf den Einzelfall bezogene Eignungserfordernis gesetzlichen Niederschlag gefunden haben soll, sehr problematisch: Erstens ist dürfte es sich wie auch bei §§ 287 S. 2, 2. Hs. und § 848 BGB eher um nicht analogiefähige Ausnahmevorschriften handeln,59 und zweitens geht es bei diesen Vorschriften um die Unterlassung von Pflichten, so daß nicht nur das Vermeidbarkeits-, sondern das Kausalitäts- (bzw. Quasikausalitäts-) erfordernis betroffen ist, für das in diesen Vorschriften entgegen der allgemeinen Regel eine Beweislastumkehr statuiert wird.60 Auf die Frage, inwieweit der von Gotzler für das Eignungsprinzip weiterhin angeführte Hinweis auf die Schadensausgleichsfunktion des Zivilrechts überzeugend ist, soll im folgenden Absatz eingegangen werden.
bb) Der Schadensausgleichszweck des Zivilrechts Einleuchtend wirkt zunächst der Gedanke, daß in unseren Fällen, in denen der Geschädigte den rechtmäßig herbeigeführten Erfolg als Ausfluß des allgemeinen l..ebensrisikos hätte hinnehmen müssen, die Gewährung von Schadensersatz nicht mehr von der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzrechts gedeckt ist, denn der Verletzte würde im Gegensatz zu anderen Schadensersatzfällen nicht so gestellt, wie es ohne Störung der Rechtsordnung der Fall wäre, sondern besser; er würde also von der Rechtswidrigkeit des Schädigerhandelns profitieren.61 Auch bei Anerkennung der zugrundeliegenden Prämisse der ausschließli59 Mit dieser Erwägung wenden sich Esser, SchR I, 4. Aufl., S. 317 f.; Lange, Schadensersatz, S. 112 f.; Staudinger/Medicus, § 249 Rdnr. 99, dagegen, u.a. aus §§ 287 S. 2, 2. Hs. und 848 BOB einen allgemeinen Grundsatz für die Behandlung der Reserveursachen zu entnehmen. 60 So Esser/Schmidt, S. 539. 61 Vgl. o.2.a. und die dortigen Nachweise; besonders deutlich erschein I dieser Gedanke auch
86
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
chen Schadensausgleichsfunktion des Zivilrechts62 muß diese Überlegung aber nicht zwingend zur Berücksichtigung der Berufung auf rmAV im Rahmen des RWZ führen: Erstens läßt sich das Argument, der Geschädigte dürfe keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen, daß der Schaden, den er bei rechtmäßiger Verursachung ersatzlos als allgemeines Lebensrisiko hätte hinnehmen müssen, zufällig auf rechtswidrige Weise bewirkt wurde, auch dahingehend umkehren, daß es keinen Grund gibt, den Verletzten auf dem Schaden, den er durch rechtswidriges Verhalten erlitten hat, deshalb sitzenzulassen, weil für den Schädiger zufällig die Möglichkeit bestand, diesen rechtmäßig zu verursachen und damit das allgemeine Lebensrisiko spielen zu lassen.63 Zweitens würde selbst die Richtigkeit des Gedankens nur besagen, daß der Möglichkeit rechtmäßiger Schabei Keule, S. 59 ff.: Die Schadensersatzverpflichtung diene nur der Befriedigung des Interesses des Gläubigers an ordnungsgemäßem Schädigerverhalten. Zustimmend zu Gotzlers Eignungsprinzip gerade unter dem Gesichtspunkt, daß in ihm die Ausgleichsfunktion des Schadensersatzrechts zum Tragen komme, äußerte sich auch GrWlSky, AcP 178 (1978),331.
62 Der Frage nach dem Zweck des Schadensersatzrechts hat sich Mertens, Vermögensschaden, S. 93 ff. ausführlich gewidmet Er kommt dabei zu dem Schluß, daß Prävention und Sanktion zwar als Sekundärzwecke des Schadensersatzes quasi als erwünschter Nebeneffekt des Ausgleichszwekkes angesehen werden können (S. 109 f.), äußert jedoch durchgreifende Bedenken dagegen, in ihnen eine Primäraufgabe des zivilrechtlichen Deliktsrecbts zu sehen, die auf die Ausgestaltung des Schadensersatzes zurückwirken kann; für letztere kann vielmehr allein die im Vordergrund stehende Ausgleicbsfunktion maßgebend sein. Unter den zahlreichen Aspekten, die hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden können, überzeugt insbesondere das Argument, das Mertens von Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 83, übernommen hat, wonach eine weitergehende Bedeutung des Präventions- und Sanktionscharakters einen Niederschlag in der Ausgestaltung des positiven Rechts hätte finden müssen, wie z.B. in einer Abstufung der Haftung nach Verschuldensgrad oder einer zivilrecbtlichen Sanktion für das Versucbsunrecht Iedoch ist gerade das Gegenteil der Fall: Der Schadensersatz ist ausschließlich an den für den Ausgleich maßgeblichen Verhältnissen des Geschädigten orientiert (vgl. a.a.O., S. 99). Diese Erkenntnis wird im Schrifttum vielfach den Ansichten entgegengehalten, die eine Berufung auf rmAV in bestimmten Fallen bei der Verletzung von "Verfahrensgarantien" oder nach Erwägungen zum Schutzbereich der Norm nicht zulassen wollen (wie auch der BG H, s.o.) und damit die Einhaltung von Verfabrensvorschriften sanktionieren, deren Einhaltung dem Geschädigten im Ergebnis ohnehin nichts genützt hätte, bzw. der Schadensersatznorm eine über den Schadensausgleich hinausgehende Funktion gewähren. Krit. insofern Rother, S. 218; Keule, S. 66 f.; Gotzler, S. 94 f.; Grunsky, AcP 178 (1978),331 f.; Esser/Schmidt, S. 539 f.; Hanau, DNotZ 1986, 413 ff., letzterer warnt speziell im Hinblick auf BGHZ 96, 157 davor, das Schadensersatzrecht zu einem "ergänzenden Disziplinarrecht" für Notare zu erheben (a.a.O., S.416). 63 Im Gegensatz zu vom Rechtsgutinhaber allgemein zu tragenden Unglücksfallen ist eben nicht ausschließlich das diesen treffende allgemeine Lebensrisiko im Spiel, sondern zusätzlich eine grundützlich haftungsbegründende Pflichtverletzung eines Dritten, so daß praktisch das Prinzip der Unabwälzbarkeit des ersteren mit dem Grunc:katz des Einstehenmüssens für rechtswidrige Schädigungen konkurriert. Dabei sollte man nicht vergessen, daß in Wirklichkeit eine Schädigung durch rechtswidriges Verhalten stattgefunden hat, während die rechtmäßige Schädigung ein hypothetisches Ereignis geblieben ist
A. Die Vermeidbarkeitstheorie
87
densverursachung überhaupt Rechnung zu tragen ist, aber nicht, daß dies im Rahmen der Zurechnung der Rechtsgutverletzung zu erfolgen hat. Vielmehr ließe sich die Ausgleichsfunktion auch dadurch hinreichend berücksichtigen, daß man das rmAV wie eine (sonstige?) Reserveursache im Rahmen der Schadensberechnung behandelt.64 Eine solche Behandlung würde sogar näher liegen, da die Erkenntnis, daß trotz vorhandener rechtswidriger Verletzung die Vermögens interessen des "GeSChädigten" insofern nicht betroffen sind, als er letztlich keinen Anspruch darauf hatte, daß sie unterbleibt, eben zwanglos zur Feststellung der Schadenshöhe null führen müßte.65 Dagegen leuchtet es nicht ein, aufgrund der Erwägung, dem Geschädigten dürften keine ungerechtfertigten Vermögensvorteile erwachsen, bereits den RWZ zwischen Handlung und Rechtsgutverletzung und damit den Haftungsgrund zu verneinen, wo dessen Vorliegen doch für sich genommen lediglich das Bestehen einer haftungsrechtlich relevanten Beziehung zwischen Schädiger und Betroffenem bedeutet,66 jedoch nichts darüber aussagt, ob und in welchem Umfang aus der rechtswidrigschuldhaften Verletzung des ReChtsgutes auch ein Vermögensschaden entstanden ist. Auch der Hinweis auf die Ausgleichfunktion des Schadensersatzrechts stellt also keine tragfahige Begründung für die Auffassung dar, die Möglichkeit rechtmäßiger Schadensherbeiführung müsse über eine mögliche Berücksichtigung als Reserveursache (vgl. o. 2. Abschnitt B.) hinaus zur Verneinung des RWZführen.
ce) Der Schutzbereich der Norm So bleibt als letztes noch die Bedeutung des Schutzbereichs der Norm in der Weise, in der ihn ein Teil des Schrifttums und neuerdings auch der BGH einerseits zur grundsätzlichen Begründung, andererseits aber auch zur Einschränkung der Beachtlichkeit des rmAV verwenden wollen, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. 67 64 Die Schwierigkeit, daß es selten nachweisbar ist, ob der Schädiger von der Möglichkeit eines rmAV Gebrauch gemacht hätte (s.o. 2. Abschnitt B.1.3.), wäre entweder hinzunehmen oder aber es wäre ifIMrhalb der Dogmatik der Reserveursachen aufzuzeigen, ob und warum bereits die nachgewiesene Möglichkeit des Setzens einer solchen Reserveursache den Schädiger entlasten kann. 6S Entsprechend die Lösung von Keule, S. 68 f. 66 Vgl. u. III.3.a. 67 Insbesondere gegen die Einschränkungen der aerllcksichtigungsfähigkeit des rmAV-Einwandes findet sich auch im Schrifttum heftige Kritik, die der h.l.. insbesondere mangelnde Vereinbarkeit mit der ausschließlichen Schadensausgleichsfunktion des Zivilrechts vorwirft, vgl. Rother. S. 218; Keuk, S. 66 f.; Gotzler. S. 94 f.; Hanau. DNotZ 1986, 413; &ser/Schmidt. S. 539 f.
88
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
Hierzu ist folgendes zu bemerken: Während der BGH in der oben zitierten Entscheidung ohne eigene Begründung auf die entsprechende auf den Schutzzweck der Norm abstellende Ansicht in der Literatur verweist, ist dort keine überzeugende Begründung dafür zu finden, warum der Schutzbereich der jeweiligen Norm über die Beachtlichkeit des rmAV entscheiden sollte. Bezeichnenderweise wird der Gedanke, der Schutzbereich der betroffenen Norm solle darüber entscheiden, ob auch für bei rmAV unvermeidbare Erfolge gehaftet werden müsse, vielfach genannt,68 aber soweit ersichtlich nirgends vertieft. Er trägt aber dem Unterschied zwischen der Funktion der Schadensersatznormen im allgemeinen und dem Schutzbereich der einzelnen Sorgfaltspflicht nicht hinreichend Rechnung: Überlegungen zum Schutzbereich einer einzelnen Norm erscheinen in Konstellationen sinnvoll, in denen zweifelhaft ist, ob es dem Zweck der Vorschrift entspricht, einen Schaden dieser Art zu verhindern; es geht dabei also um eine Normauslegung Lw.S.69 Gelangt man zu dem Ergebnis, der Schaden bzw. die Art seiner Herbeiführung sei nicht vom Schutzbereich der Norm erfaßt, so führt dies zur Entlastung des Schädigers, ohne daß es eine Rolle spielt, ob die Einhaltung der Norm im konkreten Fall den Schaden vermieden hätte, d.h. es kommt auf die rmAV-Problematik gar nicht an. 70 Die Vermeidbarkeit der Schädigung bei Einhaltung der Norm kann also im Ergebnis nur dann von Belang sein, wenn ein Erfolg gegeben ist, der zwar im Einzelfall trotz rmAV eingetreten wäre, aber grundsätzlich vom Schutzbereich der Norm umfaßt wird. Wenn der Schaden aber in allen Fällen, in denen es auf die Beachtlichkeit des rmAV ankommt, vom Schutzbereich der Norm umfaßt ist, müßte die Ansicht, die in diesem die Begründung und die Schranken der Vermeidbarkeitstheorie sucht, in allen problematischen Fällen zur Zurechnung gelangen. Man kann also sagen, daß dieser Ansatz nicht nur keine überzeugende Begründung der Vermeidbarkeitstheorie darstellt, sondern ihr bei konsequenter Weiterverfolgung sogar den Boden entziehen müßte. Wenn im Schrifttum im Zusammenhang mit rmAV gleichwohl immer wieder der Hinweis auf den Schutzbereich der Norm auftaucht, so könnte das neben der Nähe jenes Gedankens zu der Frage, ob es grundsätzlich noch Zweck der Schadensersatznormen sein kann, Schäden auszugleichen, die auch ihre Einhaltung nicht verhindert hätte, auf folgendes zurückzuführen sein: Ein gewisser Zusammenhang zwischen rmAV und dem Schutzbereich der Norm be68 Vgl. die Nachweise in Pn. 49. 69 Vgl. Gotzkr, S. 151 ff. 70 Deutlich Lange, Schadensersatz, S. 129; Gotzler, S. 124 f.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
89
steht insofern, als der Umstand, daß ein bestimmter Schaden regelmäßig auch durch rmAV herbeigeführt wird, Anlaß zu Erwägungen sein kann, ob die Verhinderung derartiger Schäden sinnvollerweise noch als Zweck der Norm anzusehen ist. Verdeutlicht werden soll dies an einer Entscheidung des BAG in einem neueren "Inseratkosten-Fall", in dem das BAG im Gegensatz zu früheren Entscheidungen71 den Einwand eines vertragsbrüchigen Arbeitnehmers, die vom Arbeitgeber als Schadensersatz geltendgemachten Kosten eines Inserats bei der Suche nach einem Nachfolger wären auch bei fristgerechter Kündigung entstanden, berücksichtigte.72 Der Senat führte in dieser Entscheidung nebeneinander Erwägungen zum rmAV und zum· Schutzbereich der vertraglichen Pflichten an. Dabei erscheint die Erwägung zutreffend, daß es offenbar nicht Sinn der Pflicht, den Arbeitsplatz nicht ohne vorhergehende Kündigung aufzugeben, sein kann, dem Arbeitgeber Inseratkosten zu ersparen, die ihn in aller Regel auch bei ordnungsgemäßer Kündigung treffen, deren Entstehung durch die Vertragstreue des Arbeitnehmers also gar nicht beeinflußt wird. Daher liegt unter dem Aspekt "Schutzbereich der Pflicht" eine Entlastung des Arbeitnehmers nahe. Auch die Erwägung, daß der Arbeitnehmer im konkreten Einzelfall den Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten hätte herbeiführen können, vermag zur Entlastung des Arbeitnehmers führen, wenn man dem rmAV grundsätzlich entlastende Wirkung beimißt. Dagegen ist es zirkelschlüssig, zur Begründung der Beachtlichkeit des rmAV nun wiederum auf den Schutzbereich zu verweisen: Da dieser mit Rücksicht auf die in entsprechenden Konstellationen häufig bestehende Möglichkeit rechtmäßiger Schadensverursachung eingegrenzt wurde, würde man sonst im Ergebnis die Berücksichtigung von rmAV mit der besonderen Häufigkeit seines Auftretens in entsprechenden Konstellationen rechtfertigen - ein merkwürdiges Resultat. Die Erklärung dafür, daß der Versuch, nach dem Schutzzweck der jeweiligen Norm die Beachtlichkeit des Vermeidbarkeitseinwandes zu bestimmen, im Strafrecht keine Parallele hat, dürfte übrigens darauf zurückzuführen sein, daß dort die Unzulänglichkeit des Ansatzes schneller offenbar wird: Eine derartige "eingeschränkte Vermeidbarkeitslehre" im Strafrecht müßte sich selbst ad absurdum führen, denn die Aufgabe, im Dienste der Prävention bestimmte Verhaltensverstöße zu sanktionieren, kommt ja allen Strafrechtsnormen zu, so daß der Einwand, eine Berücksichtigung des rmAV sei damit nicht zu vereinbaren,
71 Vgl. o. 1. Abschnitt B.I.1.d.
72 BAG AP Nr. 8 zu § 276 BGBVertra~bruch =NJW 1984,2846 f.
90
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
im Grunde genommen zu einer völligen Unbeachtlichkeit der Möglichkeit rechtmäßiger Erfolgsverursachung führen würde. 73
3. Zwischenbilanz
Es bleibt also festzuhalten, daß trotz der weiten Verbreitung der Vermeidbarkeitstheorie in Straf- und Zivilrecht ihren Anhängern bislang nicht der Nachweis gelungen ist, daß die Möglichkeit, den Erfolg auch durch rmAV herbeizuführen, den Täter bzw. Schädiger zwingend entlasten müßte. Die Begründungen, die sich in beiden Rechtsgebieten teilweise gleichen, teilweise aber auch bereits ihrer Natur nach auf eines der Rechtsgebiete beschränkt sind,74 vermögen das Problem lediglich in andere Worte zu kleiden oder sind innerhalb der Argumentation auf das bloße Postulat eines bestimmten Zusammenhangs angewiesen.
11. Ergebnisbedingte Probleme der Vermeidbarkeitstheorie
1. Darstellung Nach der im Ergebnis nicht zugunsten der Vermeidbarkeitstheorie sprechenden Untersuchung der dogmatischen Begrüdungen soll im folgenden erörtert werden, inwieweit sich auf dem Boden dieser Theorie unter rechtspolitischem Aspekt angemessene Ergebnisse erzielen lassen.
Unabhängig von den Grenzen der Rechtsgebiete muß sich die Vermeidbarkeitstheorie mit der Schwierigkeit auseinandersetzen, daß ihre konsequente Anwendung häufig zu unbilligen Ergebnissen führt, bedingt durch regelmäßig auftretende Beweisprobleme: Ist es häufig schon schwierig genug, das Bestehen eines Kausalzusammenhangs im naturwissenschaftlichen Sinn zwischen unerlaubtem Verhalten und Erfolg nachzuweisen, so ist es vielfach erst recht unmöglich, den Beweis zu führen, daß ein hypothetischer Sachverhalt (nämlich 73 Insoweit auch gegen die entsprechende Lösung im Zivilrecht Würfel, S. S3 f.: Schließlich habe eine gesetzliche Pflicht immer den Zweck, "irgendein Rechtsgut zu schützen und somit dem Rechtsinhaber eine Garantie zu bieten." 74 So wäre es natürlich sinnlos, im Strafrecht mit der Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes oder umgekehrt im Zivilrecht mit der Ratio des Erfolges in den Straftatbesländen zu argumentieren.
A. Die Venneidbarkeitstheorie
91
das nnAV) nicht ebenfalls zum Erfolg geführt hätte. Dennoch müßte im Strafrecht gegen den Angeklagten eben dieser Beweis geführt bzw. im Zivilrecht die entsprechende Beweislast dem Kläger auferlegt werden, da die Vermeidbarkeit des Erfolges bei nnAV nach dieser Konzeption ja eine strafbarkeits- bzw. anspruchsbegründende Tatsache ist, unabhängig davon, ob man sie nun als Bestandteil der Kausalität oder als gesondert davon zu prüfende Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhangs auffaßt. Zwar ist das Auftreten von Beweisproblemen an sich nichts Ungewöhnliches, jedoch kommt in unserem Zusammenhang noch die Besonderheit hinzu, daß die Beweislage umso aussichtsloser wird, je dringender das Eingreifen des Rechts im Interesse eines effektiven Geschädigten- bzw. Opferschutzes erforderlich wäre: Je gefährlicher die Ausgangslage für den Betroffenen ist, umso schwieriger wird sich anschließend der ohnehin problematische Nachweis gestalten, daß der Schaden nicht auch ohne die Pflichtwidrigkeit des Schädigers eingetreten wäre. 75 Das gilt insbesondere im Bereich der Arzthaftung: Wer könnte nach einem Kunstfehler bei der Operation eines akut lebensgefährlich Erkrankten sagen, daß der Patient die kunstgerecht durchgeführte Operation überlebt hätte?76 Der Arzt könnte also zur Vermeidung zivil- und strafrechtlicher Konsequenzen umso weniger Sorgfalt walten lassen, je ernster der Zustand des Patienten ist, da es umso schwerer sein wird, die Einlassung zu widerlegen, auch bei nnAV sei es möglicherweise zu einem unglücklichen Ausgang gekommen. Nun wird diese Schwierigkeit in anderen Fallgruppen des zivilrechtlichen Delikts-77 und des Strafrechts nicht dieselbe Brisanz entwickeln, da es nirgendwo so hohe erlaubte Risiken gibt wie in der Medizin, wo z.B. zur Abwendung des sichern Todes eben gegebenenfalls auch lebensgefährliche Heilmethoden zulässig sind. Jedoch wird man in allen Lebensbereichen mit einem weiteren Problem konfrontiert, sobald es um hypothetische menschliche Entscheidungen oder (Fehl-)Leistungen geht, nämlich mit der Unmöglichkeit der exakten Vorhersage menschlichen Verhaltens: 78 So mag es im Ausgangsfall BGHSt 11, 1 in Anbetracht der hochgradigen Trunkenheit des Radfahrers besonders nahegelegen haben, von einer hypothetischen Fehlreaktion des Opfers auszugehen, die auch bei rechtmäßigem Täterverhalten zu seinem Tod geführt hätte. Sicher wissen kann man es indes nicht; im übri-
75 Roxin, ZStW 74 (1962), 422 ff.; Würfel, S. 26; &hüMmann, JA 1975, 649; Krüntpelmann, GA 1984, 491.
76 Vgl. das Beispiel bei Würfel a.a.O. 77 Wohl dagegen im Vertragsrecht, soweit es um von Anfang an riskante Geschäfte geht.
78 Was einige Vertreter der Risikoerhöhungslehre zu folgenreichen Differenzierungen veranIaßt hat, vgI. u. B.V.
92
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
gen müßte der Freispruch auch erfolgen, wenn nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für einen derartigen Ausgang bestand. Aber auch im technischen Bereich sind WlZählige Konstellationen denkbar, in denen zwar das tatsächliche Geschehen kausal erklärt werden kann, es bei der Vielzahl der zu berücksichtigenden Daten aber praktisch unmöglich ist, eine Aussage darüber zu treffen, was bei unter einem bestimmten Aspekt veränderten Umständen passiert wäre. 79 Nun könnte man sich mit dem häufigen Auftreten der Beweisnöte als solchem ja evtl. noch aus der Erwägung heraus abfinden, daß nun einmal eine Seite (und im Strafrecht immer die Anklagevertretung) die Folgen der tatsächlichen Unaufklärbarkeit zu tragen hat. Was diese Konsequenzen hier als besonders ungerecht erscheinen läßt, ist indes der Umstand, daß diese Unsicherheiten hier einem Schädiger bzw. Täter zugute kommen, der nicht nur pflichtwidrig gehandelt hat, sondern durch das pflichtwidrige Verhalten den Erfolg auch erwiesenermaßen im naturwissenschaftlichen Sinne verursacht hat. Damit läßt sich für das Zivilrecht sagen, daß er eigentlich sogar "näher dran" ist, die Folgen eines non liquet zu tragen als z.B. der Teilnehmer an einer unerlaubten Handlung, für den § 830 Abs. 1 S. 2 BGB ausdrücklich eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität seines Beitrages bestimmt. 80 Aber auch im Strafrecht sollte es Bedenken erwecken, wenn die Fahrlässigkeitstatbestände in diesem Zusammenhang für bestimmte Fallgruppen leerlaufen, obwohl der Täter volles Handlungsunrecht verwirklicht hat.81 Die Haltbarkeit der Vermeidbarkeitstheorie wird also in bei den Rechtsgebieten entscheidend davon abhängen, inwieweit es in ihrem Rahmen möglich ist, diesen rechtspolitischen Bedenken Rechnung zu tragen. 2. Zivilrecht: Lösung des Problems mittels Beweiserleichterungen Im zivilrechtlichen Schrifttum bewältigt man diese Schwierigkeiten im allgemeinen (bzw. verhindert bereits ihre Entstehung), indem man dem Schädiger die Beweislast auferlegt, daß der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten entstanden wäre.82 Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Feststellung bis79 So Puppe, 'ZStW 95 (1983), 301. 80 Was z.T. zum Anlaß genommen wird, eine Umkehr der Beweislast zu verlangen, s.u. 1. 81 Vgl. etwa die Bedenken bei Roxin, 'ZStW 74 (1962), 422; Rudolphi, JuS 1969, 554; Würfel, S. 9, 26; Wolter, S. 336. 82 So die h.M., s. Gottwald, S. 163; Esser, SehR 1,4. Aufl., S. 324; Hanau, DNotZ 1986, 416;
A Die Vermeidbarkeitsthcorie
93
weilen getroffen wird, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß man nicht die Vermeidbarkeit der Rechtsgutverletzung als (mithin vom Kläger zu beweisende) anspruchsbegründende Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs betrachtet, sondern vielmehr in der Möglichkeit rechtmäßiger Rechtsgutverletzung eine Einwendung gegen die Entstehung des Schadensersatzanspruchs sieht.83 Diese Sichtweise kann allerdings nur dann als konsequent erscheinen, wenn man rmAV als echtes Reserveursachen-Problem auffaßt84, da die Behandlung einer Reserveursache als vom Schädiger einzuwendendes den Ersatzanspruch minderndes Ereignis jedenfalls eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen kann85, abgesehen von den in diesem Problemkreis noch unerträglicheren Konsequenzen, wenn der GeSChädigte die Beweislast für das Ausbleiben von Reserveursachen tragen müßte. 86 Dagegen ist sie mit der Einordnung der zu untersuchenden Fragestellung als "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" kaum zu vereinbaren, denn nach allgemeinen Grundsätzen muß die Kausalität vom Anspruchsteller bewiesen werden. 87 Bei Behandlung im RWZ erscheint Lange, Schadensersatz, S. 137; Deutsch, Grundriß, S. 41; StaudingerlMedicus, § 249 Rdnr. 113; lauernigffeichmann, vor §§ 349-253 Anm. VI.3.c.; PaiandtlHeinrichs, Vorbem. vor § 249 Anm. 5.C.g.; auch BGH MDR 1980, 647. 83 So ausdrücklich Esser und Deutsch a.a.O. 84 Was bei einem Teil der Lit. in der Tat der Fall ist, vgl. 0.2. Abschnitt B.I.; für die in Fn. 82 Genannten trifft das aber gerade nicht zu. 85 Die Beweislast des Schädigers für Reserveursachen ist weitgehend anerkannt, vgl. Stoll, AcP 176, (1976), 175; StaudingerlMedicus a.a.O.; Larenz, SchR I, S. 527, jew. m.w.N. Auch hier gehen allerdings Lemhöfer, JuS 1966, 341 f.; Kahrs, Kausalität, S. 45 f. und MüKommlGrilnsky, vor § 249 Rdnr. 91 davon aus, daß nicht der Schädiger das Vorhandensein, sondern der Geschädigte, der ja schließlich die Höhe des Schadens beweisen muß, grundsätzlich die Abwesenheit von Reserveursachen nachzuweisen hat. Die Frage kann hier nicht weiter verfolgt werden; ihre praktischen Konsequenzen dürften dadurch gemindert werden, daß bei der Schadensberechnung § 2137 ZPO Anwendung findet und damit eine richterliche Ermessensausübung erfolgen kann; Lange, Schadensersatz, S. 1213 weist insofern zu recht darauf hin, daß folglich von einer "Beweislast" im eigentlichen Sinn bei Reserveursachen gar nicht gesprochen werden kann. 86 Diese betont z.B. StaudingerlMedicus, § 249 Anm. 102; s. auch Hanau, Kausalität, S. 137 f. 87 Vgl. lauernigffeichmann, § 823 Anm. VII. Gleichwohl befürwortet Hanau a.a.O., S. 138 ff., als Vertreter der Lehre von der "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" eine generelle Beweislasrumkehr bei rmAV: Nach seiner Ansicht ist "der rechtserhebliche Kausalverlauf unter dem Aspekt der Beweislastverteilung in zwei Phasen aufzuschlüsseln", nämlich in die "reale Phase" und die, in deren Bereich "hypothetische Kausalverläufe" Berücksichtigung finden, wobei er in letzerer doch wieder Parallelen zu "von außen kommenden" Reserveursachen geltendmacht. Diese Trennung soll auch für pflichtwidrige Unterlassungen gelten (S. 141 f.). In der zweiten Phase treffe den Schädiger die Beweislast, weil er einen "Ausnahmefall" geltendmacht. Angesichts der von Hanau ansonsten so stark betonten Zugehörigkeit des rmAV zur Kausalitätsfrage erscheint diese faktische Ausgliederung der Problematik aus der eigentlichen Kausalität für den prozessualen Bereich allerdings nicht sehr konsequent
94
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
das Verständnis von rmAV als Einwendung ebenso bedenklich, da in diesem Fall von einer ungeschriebenen Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs auszugehen ist; allein die Beobachtung, daß die Vermeidbarkeit und damit der RWZ statistisch in dem meisten Fällen rechtSwidriger Schädigungen gegeben ist, berechtigt noch nicht dazu, in Zweifelsfällen sein Vorliegen zu vermuten.88 Die Erwägung von Eike Schmidt, für denjenigen, der anläßlich pflichtwidrigen Verhaltens einen Schaden adäquat-kausal verursacht, falle dieser "prinzipiell in seinen Verantwortungskreis, so daß er das UnaufkIärbarkeitsrisiko tragen soll"89, bringt zwar deutlich zum Ausdruck, warum die Beweisnot des Geschädigten besonders unbillig erscheint, ist aber als dogmatische Rechtfertigung noch nicht überzeugend. Die Rechtsprechung hat sich nicht im Sinne einer generellen Beweislastumkehr hinsichtlich der "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" entschieden, sondern recht unterschiedliche Möglichkeiten herangezogen, der Beweisnot abzuhelfen. So wurde die Anwendung von § 2B7 ZPO in Betracht gezogen,90 der für den Geschädigten insofern eine Beweiserleichterung darstellt, als er die Beweiswürdigung hinsichtlich der Schadensentstehung weitgehend richterlichem Ermessen unterstellt. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt allerdings voraus, daß das der Schadensentstehung zugrundeliegende haftungsbegründende Ereignis nach § 286 ZPO, also zu voller Überzeugung des Gerichts, nachgewiesen wurde 91 und scheidet folglich da aus, wo es um die Frage geht, ob das haftungsbegründende Ereignis selbst durch rmAV ausgelöst worden wäre. 92 Als weitere Möglichkeit der Beweiserleichterung bietet sich der prima facie-Be88 Entsprechende Bedenken auch bei StoII, AcP 176 (1976), 175; vgl. zur grwodsiilzlichen Beweislast des Geschädigten hinsichtlich des R WZ auch Deutsch, Larenz-PS, S. 901. 89 Vgl. z.B. EsserlSchmidt, S. 553 f. 90 Vgl. BGH VersR, 1960, 905 (906); für die Anwendung von § 287 ZPO auch MüKomml GrWJSky, § 249 Rdnr. 91, der von der grundsätzlichen Beweislast des Geschädigten ausgeht. Im Schrifttum finden sich auch Stimmen, die eine Beweislastumkehr befürworten und gleichzeitig § 287 ZPO anwenden wollen (vgl. Gottwald, S. 163; Lange, Schadensersatz, S. 137). Damit würden die Folgen der Beweislastumkehr etwas abgeschwächt, da der Schädiger nunmehr den Nachweis der Unvermeidbarkeit der Schädigung bei rmAV nicht nach den strengeren Grundsätzen von § 286 ZPO führen müßte. 91 BGHZ 4,192 (196); BGH VersR 1965,91 (92), Hainmüller, S. 147. 92 Das veranlaßteHanau a.a.O., S. 122 ff., die Rechtsgutverletzung zur Haftungsausfüllung zu ziehen und als Haftungsgrund generell bereits die der Verletzung vorausgehende Gefdhrdung ausreichen zu lassen, so daß die Frage, ob die Verletzwog durch rechtmäßiges Verhalten vermeidbar war, immer nach § 287 ZPO zu beurteilen wäre; krit. zu dieser Vorgehensweise StoII, RabelsZ 36 (1972), 582. Die Abgrenzung zwischen Haftungsgrund und Haftungsausfüllung ist in den Einzelheiten sehr str., vgl. u. III.3.a.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
95
weis an, soweit die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind.93 Daneben hat die Rechtsprechung schon frühzeitig eine Beweislastumkehr aus Billigkeitserwägungen zugelassen, wenn es fraglich war, ob ein Schaden auf einen groben Behandlungsfehler eines Arztes zurückzuführen ist, der typischerweise zur Schadensherbeiführung geeignet war. 94 Ferner soll dort, wo der Schädiger Aufklärungspflichten verletzt hat, die Ungewißheit, wie sich der Geschädigte bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die relevanten Umstände entschieden hätte, zu Lasten des ersteren gehen. 95 Das wird mit der Erwägung gerechtfertigt, daß sich die Pflichtwidrigkeit nicht nur (möglicherweise) im Schaden niedergeschlagen hat, sondern zugleich die Unaufklärbarkeit nach sich zog, also quasi eine Beweisvereitelung vorliegt.96 Dieser Gedankengang wirkt zunächst einleuchtend, denn schließlich hätte sich bei ordnungsgemäßer Beratung des GesChädigten ja gezeigt, wie er sich entschieden hätte. Bei näherer Betrachtung muß aber der Umstand Bedenken erwecken, daß nicht eine dem Geschädigten (möglicherweise) günstige Beweisposition zerstört wurde, sondern lediglich ein Schädigungsereignis stattfand, bei dem eine solche erst gar nicht zur Entstehung gelangen konnte, so daß der Gesichtspunkt der Beweisvereitelung eigentlich fehlgeht. 97
93 Vgl. BGHZ 18,311 (318 f.); ferner in Erwägung gezogen z.B. in BGH VersR BGH VersR 1960,905 (906); BGH VRS 21, 5 (6); BGHZ 61, 118 (120).
1960, 183 f.;
94 Vgl. RGZ 171, 168 (171 f.); BGH VersR 1958, 849; BGH NJW 1959, 1583 f.; BGH VersR 1962,528 (529); BGH VersR 1965, 91 (92); BGHZ 85,212 ff.; BGH MDR 1989,900. Krit. zur berufsgruppenspezifischen Differenzierung Hanau, Kausalität, S. 133 und Hofmann, Beweislast, S. 18; gegen das Abstellen auf den Verschuldensgrad StolI, F.v. Hippel-FS, S. 552 Fn. 149, S. 558 f.; ihm folgend Hanau a.a.O. Die häufige Anerkennung der Beweislastumkehr gerade bei der Arzthaftung dürfte darauf zurückzuführen sein, daß hier wie oben beschrieben aufgrund des generell hohen (und erlaubten) Risikos der Einwand, daß der Schaden auch ohne Behandlungsfehler entstanden wäre, besonders naheliegt und kaum zu widerlegen ist.
95 So wiederum im Rahmen der Anthaftung bei Ungewißheit darüber, ob der Patient auch nach ordnungsgemäßer Aufklärung in eine Behandlung eingewilligt hätte, BGHZ 29, 176 (178), aber z.B. auch bei der Frage, ob der Anwender eines Werbemittels von diesem auch dann Gebrauch gemacht hätte, wenn ihn die beklagte Werbeagentur pflichtgemäß auf die rechtlichen Bedenken hingewiesen hätte, die gegen die Werbemaßnahme bestanden, BGHZ 61, 118 (123 f.). In dieser Fallgruppe tritt das zweite Hauptproblem für den Nachweis hypothetischen Geschehens (neben den Schwierigkeiten bei besonders hohem Ausgangsrisiko) zutage, nämlich die Unmöglichkeit der exakten Prognose menschlichen Verhaltens.
ab.
96 Im Schrifttum vertreten von StolI, F.v.Hippel-FS, S. 551 f. 97 Daher lehnen Prölss, S. 96 ff., und Gaupp, S. 84 ff., eine Beweislastumkehr in diesen Fällen
96
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
Als Abschluß dieses kurzen Überblickes 98 ist festzuhalten, daß sowohl Rechtsprechung als auch Schrifttum Wege gefunden haben, unannehmbare Konsequenzen für die Geschädigten hinsichtlich der Beweislage zu vermeiden, wobei die dogmatische Berechtigung dieser Ansätze hier dahingestellt bleiben soll. 3. Strafrecht: Keine Abhilfe möglich?
a) Die unzulässige Beweislastumkehr In der älteren strafrechtlichen Rechtsprechung "bewältigte" man das Problem z.T. dadurch, daß man eine Entlastung des Täters nur dann zuließ, wenn bei rechtmäßigem Verhalten der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls eingetreten wäre, nur in diesem Fall hielt man die Kausalität99 bzw. die "Zurechnung zum Verschulden"l00 für ausgeschlossen - eine glatte Beweislastumkehr. Erstaunlicherweise gibt es Reichsgerichtsentscheidungen, in denen bereits umgekehrt für die Verurteilung der Nachweis der Vermeidbarkeit des Erfolges bei pflichtgemäßem Verhalten verlangt wurde.101 Dagegen hat der BGH z.B. im sog. Steinbruch-Fall 102 für die "Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs" wiederum die "an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit" verlangt, daß sich der Unfall auch bei ordnungsgemäßem Verhalten des Täters ereignet hätte, wofür er die pragmatische Begründung anführte, ein anderes Vorgehen führe zur Straflosigkeit "so gut wie jeder strafwürdigen Unterlassung". Während man im Zivilrecht eine auf derartige Erwägungen gestützte Beweislastumkehr für dogmatisch bedenklich, aber immerhin für diskutabel halten mag, so ist sie im Strafrecht angesichts der unbeschränkten Geltung des Grundsatzes "in dubio pro Teo" schlicht unzulässig lO3 und wird in die117 ff. 15, 151 (153), "Apotbeker-Fan"; RGSt 63, 211 (213 f.), "Ziegenbaar-Fan". 100 RG HRR 1926, 1636 (Nr. 2302), "Kokain-Novokain-Fan". 101 RGSt 75, 324 (326 ff.); RGSt 75, 372 (373 f.), wobei allerdings in erstgenannter Entschei-
98 Ausführlicber zur Beweisverteilung bei rmAV HOfIau, Kausalität, S. 99 RGSt
dung betont wird, daß eine "Überspannung" der Anforderungen an diesen Nacbweis zu vermeiden sei.
102 BGH bei Dallinger MDR 1953, 20. Ein Unternebmer versäumte die Ausbesserung einer scbadhaften Stelle in einem Zaun, der seinen Steinbrucb umgab. Ein Junge drang durcb diese Stelle in das Gelände ein und stürzte im Steinbruch tödlich ab; möglicherweise hätte er aber einen reparierten Zaun einfacb überklettert und wäre dann ebenfalls verunglückt. 103 Den Verstoß der alten Recbtsprecbung gegen diesen Grundsatz bat bereits Exner, FrankFestgabe, S. 587 ff. erkannt und dargestellt. Zur Bedeutung und Reicbweite des in dubio-Satze8 ausführlich Würfel, S. 123 ff.
A. Die Vermeidbarkeitstheorie
97
ser Fonn heute nicht mehr vertreten; eine Bewältigung der kriminalpolitischen Unzulänglichkeit der Venneidbarkeitstheorie mit prozessualen Mitteln erscheint somit ausgeschlossen. Während die Anhänger der Risikoerhöhungslehre (s. dazu sogleich) daraus die Konsequenzen ziehen und materiell rechtlich den Venneidbarkeitsansatz ablehnen, bleibt den Vertretern der Vermeidbarkeitstheorie im Grunde genommen nichts anderes übrig, als sich mit den negativen Konsequenzen abzufinden.104
b) Bedenkliche Tendenzen in der Rechtsprechung Theoretisch ist letzeres auch die Linie der Rechtsprechung seit BGHSt 11, 1, jedoch weist KrümpelmannlOS auf das merkwürdige Phänomen hin, daß Fälle, in denen der Erfolg bei rmAV mit hoher, aber nicht "an Sicherheit grenzender" Wahrscheinlichkeit vennieden worden wäre, in der veröffentlichten Rechtsprechung fast nicht zu finden sind, obwohl sie in der Lebenswirklichkeit sicherlich eher häufiger auftreten als solche mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schädigung auch bei rmAV. Damit liegt daß der Verdacht nahe, daß durchaus nach Wahrscheinlichkeit zugerechnet wird, allerdings verbrämt durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Daneben ist nicht auszuschließen, daß in materiellrechtlicher Hinsicht bedenkliche EntsCheidungen in bestimmten Konstellationen darauf zurückzuführen sind, daß die Rspr. einerseits am Venneidbarkeitskriterium festhalten, andererseits jedoch kriminalpolitisch bedenkliche Freisprüche vermeiden will. Zu nennen sind aus der Arzthaftung die "PeritonitisFälle" BGH NStZ 1981, 218 ff. und BGH NStZ 1985, 26 f.,106 in denen der BGH angesichts der Unaufklärbarkeit der Frage, ob die Patientinnen bei
104 Besonders deutlich Würfel, der einerseits eindringlich die kriminalpolitischen Bedenken formuliert (S. 9 ff., 24 f.), de lege ferenda die Risikoerhöhungslehre (mit Einsehr.) befürwortet (S. 167), de lege lata hingegen als unzulässig betrachtet (S. 144 f.), damit eine befriedigende Lösung des rmAV -Problems auf dem Boden des geltenden Rechts überhaupt für unmöglich hält und am Ende notgedrungen der Vermeidbarkeitstheorie im Ergebnis zustimmt (S. 165 f.). Wenn Kuhlen, S. 41 ff. einem "Anscheinsbeweis" im Strafrecht für möglich hält, so ist zu beachten, daß er diesen nicht im zivilrechtlichen Sinn als Beweiserleichterung versteht (die gegen "in dubio pro reo" verstoßen würde), sondern eher als Ausprägung des Grundsatzes, daß rein theoretische Möglichkeiten bei der Bildung der Überzeugung des Gerichts außer Betracht bleiben können (vgl. a.a.O., S. 47 ff.). Eine der zivilrechtlichen Lösung entsprechende Bewältigung der praktischen Schwierigkeiten der Vermeidbarkeitstheorie ist also auch unter Zugrundelegung dieses Ansatzes nicht möglich. 105 GA 1984, 492. 106 Vgl. dazu ausführlicher u. 4. Abschnitt A.II.2./5.a. 7 Erb
98
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
pflichtgemäßem Verhalten des Arztes jeweils endgültig überlebt hätten, die Zurechnung auf die angeblich sichere Verzögerung des Todeseintrittes bei rmA V um einen Tag bzw. um zwei Stunden gründete, was unter Normzweckgesichtspunkten (ist der Arzt verpflichtet, um einer so kurzen Verlängerung der Lebensspanne willen eine schwere Operation zu veranlassen?) höchst fragwürdig ist. 107 Für das Straßenverkehrsrecht äußerte Niewenhuis den entsprechenden Verdacht hinsichtlich der Fälle der "angepaßten Geschwindigkeit", in denen der BGH die Folgen eines Unfalls bei einer Trunkenheitsfahrt 108 bzw. einer Fahrt mit abgefahrenen Reifen 109 zurechnete, obwohl der Unfall möglicherweise auch bei nüchternem Fahrer bzw. mit intakten Reifen eintreten konnte, da er jeweils jedenfalls dann vermieden worden wäre, wenn der Fahrer die Geschwindigkeit seiner Trunkenheit oder dem schlechten Reifenzustand "angepaßt" hätte. Diese Entscheidungen sind der Kritik ausgesetzt, daß sie dem Schutzzweck der Norm nicht hinreichend Rechnung tragen, denn das Verbot des Fahrens in alkoholisiertem ZustandllO bezweckt wohl die Verhinderung von Situationen, in denen der Fahrer alkohol bedingt nicht mehr wie ein Nüchterner reagieren kann, obwohl dies nach der Verkehrssituation erforderlich wäre, nicht dagegen, den Fahrer, der trotz Alkoholgenuß verbotenerweise ein Fahrzeug führt, in die Lage zu versetzen, durch die Einhaitung der "angepaßten Geschwindigkeit" noch Situationen zu bewältigen, in denen ein in jeder Hinsicht ordnungsgemäß handelnder Fahrer dies nicht mehr schaffen würde. ll1 Nun könnte man die Unterstellung, die Gerichte hätten den Normzweck deshalb nicht konsequent beachtet, um auf diese Weise die unannehmbaren praktischen Konsequenzen der
107 Krit. insofern Geilen, JZ 1973, 322; Krümpelmann a.a.O., S. Frisch, Tatbestandsm. Verh., S. 554 Cf., vgl. dazu u. c.bb.
492 ce.; zustimmend dagegen
108 BGHSt 24, 31 mit krit. Anm. Knauber, NJW 1971,627. 109 BGH VRS 37, 276. 11 0 Entsprechendes gilt für die abgefahrenen Reifen.
111
&; würde zu weit führen, hier zu den Einzelheiten des Streitstandes Stellung zu nehmen; die wohl ausführlichste Kritik der zitierten Entscheidungen befindet sich bei Niewenhuis, S. 179 ff., zur zutr. Berücksichtigung des Normzweckes bes. S. 213 ff.; mit zahlr. weiteren Nachw. Erwähnt werden soll hier noch eine neuere Entscheidung, die einen Unfall betrifft, bei dem der Angeklagte zwar mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, aber auch bei Einhaltung der zugelassenen 100 km/b nicht mehr rechtzeitig hätte bremsen können. Der BGH befürwortete gleichwohl eine Zurechnung mit der Begründung, daß der Unfall bei 100 km/b bei "Eintritt der kritischen Situation" deshalb ausgeblieben wäre, weil der Angekl. die Unfallstelle dann später erreicht hätte (BGHSt 33, 61 ff.). Hier ist die Verfehlung des Normzweckes schon fast offensichtlich, da es nicht Zweck der Geschwindigkeitsbegrenzung sein kann, einen bestimmten Ort zu einem anderen Zeitpunkt zu erreichen, vgl. Puppe, JR 1985,295 ff.; Ebert, JR 1985,356 ff.; Jakobs, Lackoer-FS, S. 71 ff.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
99
Vermeidbarkeitstheorie wenigstens zu mildem,112 als Spekulation zurückweisen; jedoch spricht für die Vermutung, daß diese Gründe wenigstens unbewußt eine Rolle gespielt haben, immerhin die Beobachtung, daß der 6. Zivilsenat des BGH in einer Entscheidung,113 mit der sich die zitierten strafrechtlichen Entscheidungen nicht einmal auseinandersetzen,1l4 gerade umgekehrt entschieden hatte und für die Zurechnung verlangte, daß sich ein alkoholbedingter Fahrfehler beim Unfall ausgewirkt hatte - im Zivilrecht bieten sich eben Wege, untragbare Ergebnisse mit prozessualen Mitteln zu bewältigen (s.o. a.), so daß kein Bedarf besteht, die Entlastung durch rmA V schon im materiellen Recht so weit wie nur irgend möglich einzuschränken.
c) Die eingeschränkte Vermeidbarkeitstheorie nach Frisch Einen interessanten Sonderweg zur Ausräumung der kriminalpolitischen Bedenken ist Frisch gegangen. Dieser beruht im wesentlichen auf zwei Stützen: Erstens ist Frisch bestrebt, die Formulierung der Rechtsprechung, wonach die bloße "gedankliche Möglichkeit", daß der Erfolg auch bei rmAV eingetreten wäre, nicht zur Entlastung des Täters führt,115 zu präzisieren und für eine Einschränkung der Vermeidbarkeitstheorie fruchtbar zu machen,116 und zweitens sucht er für die Konstellationen, in denen ein Arzt pflichtwidrig die erforderlichen Maßnahmen mit tragischen Konsequenzen unterlassen hat, das Abstellen der Rechtsprechung auf die wenn auch geringfügige Lebensverkürzung zu rechtfertigen. 117
aa) Die UnbeachtIichkeit des "Grundrisikos" Zum erstgenannten Gesichtspunkt führt Frisch aus, daß in allen Fällen, in denen das zulässige Verhalten ein erlaubtes Risiko aufweist, die Möglichkeit besteht, daß der Erfolg auch durch dieses ausgelöst worden wäre. Jedoch gehe 112 Vgl. Niewenhuis, S. 234 ff., der von einer "Risikoerhöhungslehre in anderem Gewande" und einer "Hilfskonstruktion zur Senkung der Beweisanforderungen" spricht. 113 BGH VRS 21, 5 Cf. 114 Niewenhuis, S. 227 ff. weist darauf hin, daß gern. § 136 Abs. 2 GVG sogar eine Vorlage vor den Vereinigten Großen Senat hätte erfolgen müssen. 115 Vgl. BGH SIll, 1 (7). 116 Frisch, Talbeslandm. Verh., S. 546 ff.
117 Aa.O., S. 555 ff.
100
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
man in diesen Fällen davon aus, daß "regelmäßig nichts passiert, wenn gewisse Bedingungen eingehalten werden", was er als "Abstraktion von den Restrisiken" bezeichnet. Diese müsse auch dann zur Geltung kommen, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg anläßlich einer Überschreitung des erlaubten Risikos eingetreten ist, denn in diesem Fall nehme man die Möglichkeit der Herbeiführung des Erfolges durch das erlaubte Risiko nicht ernst, so daß der Erfolg "auf das Konto pflichtwidrigen Verhaltens gebucht" wird. Damit aber sind erstens die rechtsfriedenstörende Wirkung und zweitens die "Demonstrationsfunktion" des Erfolges gegeben, also die Momente, die nach Frisch die Erfolgszurechnung tragen. 118 Ist damit ein klares Kriterium gewonnen, mit dem sich kriminalpolitisch bedenkliche Freisprüche vermeiden lassen? Dem ist ein theoretischer und ein praktischer Einwand entgegenzuhalten. Erstens stellt nämlich das nicht gesteigerte allgemeine Lebensrisiko entgegen dem ersten Anschein ein durchaus willkürlich gewähltes Abgrenzungskriterium zwischen den "in dubio-Fällen" und der "rein gedanklichen Möglichkeit" dar: Während die im Prozeß aufgeworfene Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit des schlechten Ausgangs auch bei rmAV ist, ex post anhand aller nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen bestimmt werden kann, stellt das erlaubte Risiko eine ex ante zu bestimmende Größe dar, mit deren Hilfe die Frage beantwortet werden soll, ob die statistisch zu erwartende Häufigkeit schädlicher Erfolge noch sozial erträglich ist, und die mithin mit ersterer überhaupt nichts zu tun hat. Deutlich wird das an dem von Frisch selbst angeführten Beispiel 1l9 eines riskanten Überholmanövers mit Folgen: Sicherlich bestand ex ante ein erlaubtes Risiko, daß auch bei ordnungsgemäßem Überholen infolge unglücklicher Umstände ein Unfall passieren würde. Indes sind doch nach dem Unfall zusätzliche Umstände bekanntgeworden, die auch hinsichtlich der hypothetischen Entwicklung bei rmAV eine genauere Wahrscheinlichkeitsprognose ermöglichen als das ex ante-Urteil, so daß die Wahrscheinlichkeit je nach Sachlage nicht nur höher, sondern ebensogut niedriger 120 ausfallen kann als die des erlaubten Risikos. Dabei ist nicht einzusehen, wieso die Höhe der ex ante zur Festlegung der Grenzen des Erlaubten bestimmten Wahrscheinlichkeit im Spektrum der ex post bestimmten Wahr118 Aa.O., S. 547 ff. 119 Aa.O., S. 547. 120 Das dürfte sogar die Regel sein, wenn man bedenkt, daß das erlaubte Risiko doch hauptsächlich im Hinzutreten unglücklicher Umstände besteht, von denen man hinterher meist leicht sagen kann, ob sie vorlagen oder nicht. So wird man beim Überholen die Gefahr des Unfalls durch ein plötzlich auf die Fahrbahn laufendes Tier sicherlich in die ex ante-Berechnung einstellen müssen, kann sie dagegen bei der nachträglichen Risikobestimmung außer acht lassen, wenn nun einmal weit und breit kein Tier zugegen war.
A Die Venneidbarkeitstheorie
101
scheinlichkeiten gerade die Grenze sein sollte, bis zu der dem Täter prozessual der Grundsatz "in dubio pro reo" hilft, zumal diese Grenze dabei noch je nach Höhe des im jeweiligen Lebensbereich als gerade noch akzeptabel Hinzunehmenden variieren müßte! Das Stichwort der variierenden Größe des erlaubten Risikos leitet über zum praktischen Einwand gegen Frischs Lösung: In Fällen mit hohem erlaubtem Risiko, in denen schon danach die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts über die "gedankliche Möglichkeit" hinausgeht, ließe sich auch nach Frisch der Erfolg "nicht mehr überzeugend auf das rechtswidrige Verhalten zurückführen",121 d.h. Unklarheiten müßten zu Gunsten des Täters gehen. Damit wird nicht nur noch einmal die Fragwürdigkeit des erlaubten Risikos als Grenze deutlich,l22 sondern es zeigt sich ferner, daß der Ansatz gerade das Phänomen unbewältigt läßt, daß das Opfer umso schutzloser gestellt wird, je höher die Ausgangsgefahr und damit eigentlich seine Schutzwürdigkeit ist.
bb) Die geringfügige Lebensverkürzung Frisch stimmt dem BGH darin zu, daß in den oben b. zitierten PeritonitisFällen die Zurechnung bei Bestehen einer Chance des Patienten, durch pflichtgemäße Einleitung einer Operation überhaupt gerettet zu werden, auf die sichere, wenn auch kurze Zeitspanne gestützt werden kann, die der Patient länger gelebt hätte. Dabei tritt er dem Einwand von Krümpelmann l23 entgegen, wonach es nicht Zweck der Pflicht zur Durchführung einer schweren Operation sein könne, das Leben nur ganz kurzfristig zu verlängern: Einerseits seien die Problemfälle in unserem Zusammenhang von den Fällen im moribunden Bereich zu trennen, weil im Gegensatz zu jenen die Chance des Überlebens bestand,l24 andererseits hält er der Erwägung, daß die "rechtliche Gewährleistung" nicht auf die Lebensverlängerung, sondern auf die Aussicht des Überlebens überhaupt bestand, entgegen, daß sie "spaltet, was zusammengehört", denn die kurze Zeitspanne sei insofern geschützt, als sie "um der Erhaltung die121 Frisch a.a.O., S. 550.
122 Welchen Wert sollte ein Abgrenzungskriterium besitzen, das erstens variabel ist, zweitens ab einer bestimmten Größe seine Tauglichkeit verliert und von dem drittens nicht genau gesagt werden kann, ab welcher Größe letzteres der Fall ist, denn wann haben wir es mit einem "relativ hohen Grundrisiko" (Frisch a.a.O.) zu tun? 123 GA 1984, 492 ff.
124 Frisch a.a.O., S. 556 f.
102
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
ser Chancen willen selbst erhaltenswert ist",125 Indes stellt sich die Frage, ob durch diese Betrachtungsweise nicht zwei Dinge verbunden werden, die nichts miteinander zu tun haben: Wenn die kurze Zeitspanne mit Rücksicht auf Vergleichsfälle im moribunden Bereich nicht mehr um ihrer selbst willen geschützt wird, sondern nur noch dann, wenn eine Überlebenschance bestand, dann stellt nicht mehr sie, sondern eben diese Überlebenswahrscheinlichkeit den Zurechnungsgrund dar; durch die rein begriffliche 126 Einkleidung in die Lebensverlängerung wird diese zum trojanischen Pferd zur Einschleusung des Risikoerhöhungsgedankens in die Vermeidbarkeitstheorie. Es zeigt sich also, daß auch die Modifikationen der Vermeidbarkeitstheorie durch Frisch die Bedenken hinsichtlich der Ergebnisse dieser Behandlung der rmAV-Fälle nicht zu entkräften vermögen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Im Gegensatz zum Zivilrecht hat die Vermeidbarkeitstheorie im Strafrecht keine Möglichkeit gefunden, ihre praktischen Schwierigkeiten zu überwinden und ist demnach gezwungen, diese entweder in vollem Umfang in Kauf zu nehmen oder aber in Teilbereichen zu mildem, indem sie durch fragwürdige materiellrechtliche Konstruktionen in bestimmten Konstellationen die Zahl der Freisprüche reduziert.
111. Die Abgrenzbarkeit zu den eigentlichen Reserveursachen
Nachdem sich gezeigt hat, daß die Berücksichtigung von rmAV i. S. der Vermeidbarkeitstheorie sowohl begründungs technische als auch ergebnisbezogene Schwierigkeiten bereitet, soll noch der Frage nachgegangen werden, ob unter Berücksichtigung der Prämissen der Vermeidbarkeitstheorie immerhin eine konsequente Abgrenzung der rmAV-Fälle von (anderen) Reserveursachen möglich ist. Ausgehend von der Erwägung, bei rmAV fehle es an der Realisierung der pflichtwidrig geschaffenen Gefahr im Erfolg, müßten die Fallgestaltungen, in denen dies plausibel erscheint (Radfahrer-Fall) von jenen, in denen das offenbar nicht der Fall sein kann (das Opfer wäre am nächsten Tag durch
125 A.a.O., S. 559.
126 Daß beide Gesichtspunkte nichts miteinander zu tun haben, zeigt sich schon daran, daß nicht nur (im moribunden Bereich) Lebensverkürzungen ohne Vereitelung einer Überlebenschance möglich sind, sondern, was übrigens auch Frisch einräumt (a.a.O., S. 560), auch umgekehrt Fälle der Vernichtung realistischer Überlebensmöglichkeiten ohne sichere Lebensverkürzung. Was sollte also die Aussage rechtfertigen, daß die sichere Fristverlängerung nur um des möglichen Überlebens willen geschützt wird?
A. Die Vermeidbarkeitstheorie
103
einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen), durch ein dogmatisches Kriterium zu unterscheiden sein. Jakobs führt aus, daß die "Hypothesenfonnel" im Rahmen der Prüfung des RWZ dann zu richtigen Ergebnissen führt, wenn das rechtswidrige gegenüber dem rechtmäßigen Verhalten nur eine "Verlaufsvariation" innerhalb eines identischen Risikos bewirkt hätte, denn in diesem Fall hätte sich kein eigenständiges verbotenes Risiko verwirklicht; anders sei die Lage bei Ersatz eines Risikos durch ein anderes, denn das nur hypothetische Risiko könne nichts daran ändern, daß sich das tatsächlich gesetzte realisiert hat, sonst würde man ja einem Erfolg gegenüberstehen, in dem sich gar kein Risiko realisiert hat. 127 Prima facie könnte der Radfahrer-Fall in die erste, das Flugzeug-Beispiel in die zweite Gruppe "passen". Ist damit bereits eine praktikable Unterscheidung von nnAV (erste Gruppe) und bloßen Reserveursachen (zweite Gruppe) gefunden? Nein, denn eine derartige Abgrenzung der beiden Gruppen wäre für die Vermeidbarkeitstheorie zirkelschlüssig: Wenn man nämlich davon ausgeht, an einer Realisierung eines Risikos fehle es, weil der Erfolg auch durch rmA V nicht vermieden worden wäre, so läßt sich nicht der Anwendungsbereich dieser Formel umgekehrt danach bestimmen, ob sich das verbotene Risiko realisiert hat. Vielmehr ist es erforderlich, ein von der erst festzustellenden Risikorealisierung unabhängiges Kriterium zu finden, wann eine Konstellation vorliegt, in der aus dem hypothetischen Erfolgseintritt der Schluß auf fehlende Risikorealisierung gezogen werden kann.
1. Der Schädiger konnte den Schaden selbst rechtmäßig herbeiführen
Definitionsgemäß ist die Fallgruppe "rmAV" betroffen, wenn der Schädiger selbst den Erfolg durch rechtmäßiges Verhalten hätte verursachen können, während eine klassische Reserveursache ein "von außen" hinzutretendes hypothetisches Ereignis ist.l28 Ist damit bereits ein sinnvolles Merkmal zur eindeutigen Abgrenzung bei der Fallgruppen gegeben? Es ist zu bedenken, daß der Er127 Jakobs, Lackner-FS, S. 56 ff. 128 Diese Abgrenzung wird von den meisten Autoren, insbesondere des Strafrechts, offenbar
stillschweigend vorausgesetzt und tritt z.T. zutage, wenn man die Ausführungen zur überholenden Kausalität einerseits und zu rmAV andererseits betrachtet, vgI. etwa Lange, Schadensersatz, S. 128; Deutsch, GrundriB, S. 39 f.; Jescheck, Lehrb., S. 258,527; Frisch, Tatbestandsm. Verh., S. 529 ff., 562 ff. ; ausdrücklich erscheint sie z.B. bei von Caemmerer, Überholende Kausalität, S. 30; Esser, SehR I, 4. Aufl., S. 322 f.; Deutsch, HaflUngsrecht, S. 173; Larem, SehR I, S. 527 f.; Staudingerl Medicus, § 249 Rdnr. 107; Seebald, GA 1969,199; Puppe, JuS 1982,662.
104
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
folg nicht entweder durch Drittereignisse oder durch das Täterverhalten herbeigeführt wird, sondern daß zwar eine Verursachung allein durch eine Ursache "von außen" ohne Kausalbeitrag des Täters denkbar ist, daß jedoch das Täterverhalten den Erfolg nicht allein, sondern nur im Zusammenwirken mit anderen Ereignissen bewirken kann.129 Die Unterscheidung müßte also danach getroffen werden, ob der Täter für das hypothetische Schadens ereignis einen aktiven Kausalbeitrag geleistet hatte oder nicht. Diese Abgrenzung erscheint insofern zunächst nicht unplausibel, als erstgenannte Fälle (z.B. Radfahrer-Fall) häufig zu jenen gehören, in denen der Gedanke der fehlenden Risikorealisierung einleuchtet. Dagegen kann bei einer vom Täter nicht beeinflußbaren Reserveursache 130 der hypothetische Erfolgseintritt jedenfalls nichts mit dem erlaubten Risiko eines (überhaupt nicht zur Debatte stehenden) hypothetischen Täterverhaltens zu tun haben, so daß sich hier schwerlich die Behauptung aufrechterhalten läßt, das unerlaubte Risiko des in Wirklichkeit kausal gewordenen verbotenen Verhaltens habe sich nicht verwirklicht.131 Indes mag auf diese Weise zwar ein Indiz dafür zu finden sein, ob ein Fall für die Behandlung im Rahmen der rmAV-Problematik "paßt"; eine auch für Zweifelsfälle befriedigende Trennung der für die Vermeidbarkeitstheorie diskutablen rmA V-Fälle von unbeachtlichen Konstellationen der überholenden Kausalität ist so jedoch nicht möglich. Dies soll am oben im 2. Abschnitt unter B.I.1.a. dargestellten Mietgelder-Fall 132 verdeutlicht werden. Zur Erinnerung: Das Reichsgericht wies den Einwand eines Hausverwalters, auch bei pflichtgemäßer Einzahlung der Mieteinnahmen statt der Unterschlagung seien diese zum größten Teil durch den Konkurs der Bank verloren gewesen, als Berufung auf eine unbeachtliche Reserveursache zurück. In der Tat dürfte der Fall z.B. mit dem Radfahrer-Fall nicht ohne weiteres vergleichbar sein, da wir es bei Unterschlagung und Konkurs der Bank doch mit grundverschiedenen Gefahren zu tun haben, so daß die Behauptung, wegen des Konkurses habe sich das in der Unterschlagung liegende Risiko nicht verwirklicht, wenig Überzeugungskraft besitzt. Gleich-
129 So wäre ja z.B. im Radfahrer-Fall für die hypothetische Tötung durch rmAV nicht nur das Überholen, sondern auch das Verhalten des Radfahrers kausal geworden. 130 Beispiel: Das Opfer des Verkehrsunfalles wäre am nächsten Tag einem Flugzeugabsturz zum Opfer gefallen. 131 Entsprechend die Begründung von Puppe, JuS 1982, 662. 132 RGZ 161, 365. Man störe sich hier nicht daran, daß wir
es im Gegensatz zu den meisten rmAV -Fällen mit einer vorsätzlichen Rechtsgutverletzung zu tun haben: Der Fall wäre ohne weiteres auch als fahrlässige Schädigung konstruierbar, etwa wenn der Verwalter die Einzahlung vergiBt und das Geld verlien. Zur Bedeutung des rmAV bei Vonatztaten s.u. 4. Abschnitt B.
A Die Vermeidbarkeitstbeorie
105
wohl ließe sich behaupten, daß der Hausverwalter hier die hypothetische Schädigung selbst in der Hand gehabt hätte, denn zum Verlust des Geldes bedurfte es nicht nur des Konkurses, sondern auch der vorhergehenden Einzahlung des Betrages.1 33 Also nach der im Schrifttum geläufigen Abgrenzung doch ein rmAV-Fall? Dieses Ergebnis schafft Unbehagen, wird aber vollends dann fragwürdig, wenn man den Fall dahingehend modifiziert, daß der Verwalter die bereits auf der Bank eingezahlten Gelder wieder abhebt und unterschlägt: Dann gibt es kein rechtmäßiges alternatives Tun mehr, sondern rechtmäßig ist für den Hausverwalter nur das Unterlassen des rechtswidrigen Abhebens der Gelder. Der Zusammenbruch der Bank würde damit zur echten Reserveursache, die den hypothetischen Verlust des Geldes ohne Mitwirken des Verwalters verursacht hätte. Diese relativ geringfügige und für die Bewertung wohl unerhebliche Abwandlung würde also das gefundene Ergebnis erneut auf den Kopf stellen. Dabei dürfte es sich beim Mietgelder-Fall durchaus nicht um einen Sonderfall handeln, vielmehr wird sich die soeben geschilderte Problematik immer ergeben, wenn es für das Wirksamwerden der Reserveursache auch dann eines (rechtmäßigen) Tuns des Täters bzw. Schädigers bedarf, das mit der tatsächlich realisierten unerlaubten Tätigkeit weder sachlich noch zeitlich etwas zu tun hat. Mithin kann die Frage, ob der Schädiger die rechtmäßige Erfolgsverursachung selbst in der Hand hatte, auch unter den Prämissen der Vermeidbarkeitstheorie nicht als geeignetes Kriterium zur Unterscheidung der beiden Fallgruppen angesehen werden, da es gerade in Zweifelsfällen versagt.
2. Die "Gebotenheit" des rmA V Eine abweichende Abgrenzung der Alternativen, die im Rahmen der Feststellung der "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" zu berücksichtigen sind, von den als bloße Reserveursachen Ld.R. unbeachtlichen Verhaltensweisen hat Hanau durch seine Unterscheidung von "echtem" und "unechtem" Alternativverhalten entwickelt.134 Unter ersterem versteht er dabei das Verhalten, welches das rechtlich gebotene GegenstÜCk zum verbotenen Tun ist,135 unter letzerem solches, das "nicht das vom Recht gewollte GegenstüCk der pflichtwidrigen Schä-
133 Hanau, Kausalität, S. 41, bält die Entscbeidung daber zumindest in der Begründung für unzutreffend
134 Hanau, Kausalität, S. 11 ff.; 31 ff. 135 Aa.O., S. 11 f.
106
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
digung, sondern eine tatsächlich und rechtlich selbständige Reserveursache" darstellt und daher in der Regel unbeachtlich sei, da die Möglichkeit rechtmäßiger Schadensherbeiführung keinen "Freibrief' für Schädigungen ohne Beachtung der entsprechenden Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen sein dürfe.136 Dabei versteht Hanau - sprachlich etwas inkonsequent - unter Gebot nicht nur das Verhalten, das der Täter in dieser Weise häUe vornehmen müssen, um nicht pflichtwidrig zu handeln,137 sondern auch jenes, das die Norm als Grenze des Erlaubten bei einer nicht generell verbotenen Handlung angibt. 138 Diesem Ansatz ist erstens die Willkürlichkeit der Unterscheidung zwischen Ge- und Verboten emtgegenzuhalten, soweit nicht die Pflichtwidrigkeit bloßen Untätigbleibens zur Debatte steht:139 Wie soll verbindlich festgelegt werden, welche von mehreren möglichen rechtmäßigen Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation die "gebotene" ist, wo das Recht doch gerade alle zuläßt?140 Zweitens gewährleistet auch diese Abgrenzung keinesfalls, daß nicht Fälle vom Typ des Mietgelder-Falles, in denen der Verursacher des mißbilligten Erfolges diesen durch Einleitung eines von seinem pflichtwidrigen Verhalten völlig unabhängigen hypothetischen Kausalverlaufs hätte herbeiführen können, dem rmAV zugeschlagen werden: Auch für den Hausverwalter bestand ja gerade das Gebot, das Geld bei der von den Eigentümern bestimmten Bank einzuzahlen. Übrigens würde sich diese Lösung auch hier wieder umkehren, wenn man die oben 1. gebildete geringfügige Abwandlung dieses Falles betrachtet: Wenn sich das Geld bereits auf der Bank befindet, so gibt es für den Verwalter kein Gebot mehr, irgend etwas zu tun, sondern nur noch das Verbot, fremdes Geld anzurühren. Auch die Unterscheidung nach Ver- und Geboten erweist sich damit als wenig geeignet, eine klare Trennungslinie zwischen den Problernfeldern des rmAV und der überholenden Kausalität zu ziehen.
136 A.a.O., S. 12. 137 Insofern dürfteHanaus Unterscheidung nicht mit der Differenzierung vergleichbar sein, die
Schmidhäuser im StraCrecht getroffen hat, indem er in Fallen, in denen eine Pflicht zur Vornahme des rmAV bestand, die Vermeidbarkeitstheorie, in den übrigen dagegen den Risikoerhöhungsgedanken anwenden will (vgl. Lehrb., S. 308 Cf.). 138 Vgl. a.a.O., S. 33 C. Er kommt dabei in einem Beispiel zu dem Ergebnis, daß die 50 km/bGrenze in geschlossenen Ortschaften kein Verbot, sondern ein Gebot darstellt, dagegen zu recht Gotzler, S. 196 fC.
139 Nur in diesem besonderen Fall kann man sinnvollerweise von Geboten im eigentlichen Sinn sprechen. 140 Vgl. die Kritik von Gotzler, S. 194 CC.
A Die Venneidbarkeitstheorie
107
3. Die Abgrenzung nach Haftungsgrund, Haftungsausfüllung und Zeitmoment Einen anderen Weg zur Unterscheidung von rmAV und Reserveursachen hat Gotzler beschritten: Im Rahmen des RWZ soll nur rmAV zu berücksichtigen sein, welches sich bereits auf den haftungsbegründenden Zurechnungszusammenhangs ausgewirkt hätte, während "rmAV", das erst bei der HaftungsausfülJung zum Tragen kommt, als Reserveursache zu behandeln seL141 a) Die Unterscheidung zwischen Haftungsgrund und HaftungsausfülJung Bevor die Einzelheiten dieses Ansatzes dargestellt und kritisch beleuchtet werden, sollen zunächst einige Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen Haftungsgrund und HaftungsausfülJung erfolgen, könnte doch unser Abgrenzungsproblem durch die Bezugnahme auf diese Untergliederung der Schadensersatztatbestände mit zusätzlichen Unsicherheitsfaktoren belastet werden, welche jener Unterteilung ihrerseits innewohnen. Allgemein anerkannt scheint in dortigem Zusammenhang nämlich nur zu sein, daß unter "Haftungsgrund" ein rechtswidriges Ereignis zu verstehen ist, und daß im Rahmen der Haftungsausfüllung die Entwicklung der Folgen dieses Ereignisses bis hin zum Vermögensschaden zu behandeln sind. Wo dabei im Lauf der Entwicklung vom Verhalten des Schädigers bis zum Vermögensschaden beim Geschädigten die Grenze zu ziehen ist, ist dagegen völlig offen: Hanau vertritt z.B. die Auffassung, daß der Haftungsgrund bei "VerhaItensnormtatbeständen" (die an der Verletzung normierter Sorgfaltspflichten anknüpfen, etwa § 823 Abs. 2 BGB) in der Verletzung der VerhaItenspflicht bestehe und bei "Eingriffstatbeständen" (z.B. § 823 Abs.l BGB) in der unmittelbaren Gefährdung des ReChtsgutes; die eigentliche Rechtsgutverletzung zählt er bereits zur Haftungsausfüllung.l 42 Während seine diesbezügliche Behandlung der Verhaltensnormtatbestände (wie § 823 Abs. 2 BGB, § 839 BGB oder auch der Verletzung vertraglicher Verhaltenspflichten) auch von anderen befürwortet wird,143 rechnet man bei Eingriffstatbeständen 141 Gotzler, S. 101 ff.
121 C.; im Ergebnis entsprechend schon zwei ältere BGH-Entscheidungen, in denen im Rahmen des Haftungsgrundes zwar ein "8etroffensein" verlangt wurde, dieses aber keine Rechtsgutverletzung darzustellen brauchte: Das Angefahrenwerden bei einem Unfall (BGH DB 1959, 170) oder das "Betroffensein" eines Nasciturus durch eine Verletzung der Mutter (BGHZ 58, 48 (55» sollte bereits den Haftungsgrund bilden, wählend die Frage, inwieweit dies jeweils Körperschäden des Anspruchstellers zur Folge hane, der Haftungsausfüllung zugerechnet wurde. 142 Hanau, Kausalität, S.
143 Vgl. BGHZ 29, 22 ff., bes. 26.
393 (398); OLG Frankfurt OLGZ 68,436 (439 f.); Arens, ZZP 88 (1975),
108
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
die Rechtsgutverletzung als solche im übrigen fast durchweg zum Haftungsgrund. Nach der wohl überwiegenden Ansicht, der auch Gotzler folgt, soll aber auch bei den Verhaltensnormtatbeständen die Rechtsgutverletzung zum Haftungsgrund und erst die aus dieser resultierende Schadens entwicklung zur Haftungsausfüllung zählen,144 Die Lage wird noch komplizierter, wenn man bedenkt, daß die erste Verletzung eines ReChtsgutes des GesChädigten nicht nur unmittelbar zu einem Vermögensschaden führen kann, sondern auch zunächst zu weiteren Rechtsgutbeeinträchtigungen, die dann ihrerseits einen Schaden nach sich ziehen,145 Soll dabei die nachfolgende Rechtsgutbeeinträchtigung eine Frage der Haftungsausfüllung sein,146 oder haben wir es mit einem neuen Haftungsgrund zu tun?147 Diese Fragen brauchen hier nicht weiter verfolgt zu werden: Es ist zweifelhaft, ob die Unterscheidung Haftungsgrund - Haftungsausfüllung in den grundverschiedenen Zusammenhängen, in denen sie angeführt wird, überhaupt einheitlich getroffen werden kann,148 So erscheint es nicht zweckmäßig, an dieser Stelle einen Terminologiestreit weiterzuführen. Vielmehr soll nur untersucht werden, ob durch die Unterscheidung zwischen zwei Zurechnungsschritten unter Zugrundelegung der von Gotzler angeführten Kriterien eine klare und funktionale Abgrenzung zwischen rmAV und überholender Kausalität möglich ist. 144 Vgl. BGHZ 4, 192 (196 f.); BGH NJW 1963, 1828 (1829); 80H VersR 1965,91; BGH 1969, 1708 (1709); Gaupp, S. 38 ff.; StolI, AcP 176 (1976),185 Cf.; Gotzler, S. 112 C. 145 Etwa wenn der Verletzte ein Medikament nicht verträgt und dadurch einen weiteren Ge-
NJW
sundheitsschaden erleidet.
146 So mit der Erwägung, daß der Eingriff in den Rechtskreis des Geschädigten mit dem Ersterfolg abgeschlossen sei, Gottwald, S. 76. 147 Dafür Hainmüller, S. 140; StolI, AcP 176 (1976),193 ff.; differenzierend Gaupp, S. 34 f. 148 Lindenmaier, ZHR 113, 214 ff., bezweckte eine Abgrenzung zwischen dem Teil des Kau-
salverlaufs, bei dem die Äquivalenzkausalität durch das Adäquanzerfordemis eingeschränkt werden soll (Haftungsbegründung), und jenem, wo dies nicht der Fall ist (Haftungsausfüllung). Zum Teil wird die Unterscheidung Haftungsgrund/Haftungsausfüllung mit der Reichweite des Verschuldensbezuges in Verbindung gebracht, vgl. Gaupp, S. 7; Fikentscher, S.299. Dann liegt es natürlich nahe, den Verletzungserfolg bei § 823 Abs. 2 BGB schon zur Haftungsausfüllung zu rechnen, wenn man Verschulden im Rahmen dieser Vorschrift nur hinsichtlich des Normverstoßes, nicht hingegen hinsichtlich des Erfolges für erforderlich hält (dafür etwa Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 177; Jauernigrreichmann, § 823 Anm. m.l.c.; a.A MüKommlMerlens, § 823 ROOr. 161). Am häufigsten wird die Unterteilung des Zurechnungszusammenhangs aber im prozessualen Bereich relevant, nämlich bei der Frage, inwieweit der Schadensnachweis durch § 287 ZPO gegenüber § 286 ZPO erleichtert ist (s. dazu auch oben 11.2.), vgl. 80HZ 4, 192 (195 ff.); 80H NJW 1963, 1828 (1829); Hainmüller, S. 145 ff.; Arens, ZZP 88 (1975), 2 ff.; Stoll, AcP 176 (1976), 181 ff.; Gottwald, S. 63 ff. Teilweise wird der Sinn der Unterscheidung zwischen Haftungsgrund und Haftungsausfüllung auch in Zweifel gezogen, so von Kramer, JZ 1976, 343; Gottwald, S. 81, 89.
A Die Venneidbarkeitstheorie
109
Die Bezeichnung der Zurechnungsschritte als Haftungsbegründung und Haftungsausfüllung ist dabei zweitrangig. .
b) Die Differenzierung nach Gotzler und das Eignungsprinzip Gotzler sieht den Haftungsgrund im Eingriff in den Mittel-Zweck-Mechanismus der Verhaltenssteuerung durch Verhaltensnormen.149 Ein solcher soll vorliegen, wenn der Schädiger ein Rechtsgut verletzt hat, zu dessen Schutz vor der konkreten Gefahr eine Verhaltensnorm bereitstand.150 Dagegen zählt er die weitere Entwicklung zum Vermögensschaden zur Haftungsausfüllung.1 51 Damit wird bereits der Zusammenhang zwischen Haftungsgrund und "Eignungsprinzip" deutlich, das Gotzler zur Begründung der Beachtlichkeit des rmA V an anderer Stelle (vgl. o. 1.2.a.aa.) angeführt hat, denn dieses hat die Funktionsfähigkeit eben jenes Mittel-Zweck-Zusammenhangs zum Gegenstand. Insofern ist die Beschränkung des rmAV auf den Rahmen der Haftungsbegründung natürlich konsequent, denn wenn die Haftungsausfüllung außerhalb dieses Zusammenhangs steht, dann können hypothetische Ereignisse, die sich in ihrem Rahmen auswirken, bei folgerichtiger Betrachtung an seinem Funktionieren und damit an der "Eignung" der Verhaltensnorm nichts ändern. Jedoch ist mit dieser abstrakten BetraChtung für das eigentliche Ziel der ganzen Erörterung, nämlich der Bestimmung, welche Ereignisse im einzelnen als rmAV oder "nur" als Reserveursache anzusehen sind, noch nicht viel gewonnen: Der so definierte Haftungsgrund umfaßt zwar den Gegenstand, auf den sich auch das Eignungsprinzip bezieht, aber es ist noch nicht gesagt, von welchen hypothetischen Ereignissen man nun sagen kann, daß sie sich im Rahmen dieses Haftungsgrundes auswirken, und bei welchen das nicht der Fall ist.
c) Das Zeitmoment als der entscheidende Aspekt Entscheidend für die Beantwortung dieser Kernfrage ist bei Gotzler schließlich das Zeitmoment. Bereits zu Beginn seiner soeben kurz skizzierten Betrach149 Wobei es gleichgültig ist, ob die Verhaltensnorm vorfonnuliert ist (bei Verhaltensnonntatbeständen wie § 823 Abs. 2 BGB etc.) oder situationsbezogen aus einem Bingriffstatbestand abgeleitet werden muß, der schlicht den Schutz des Rechtsgutes zum Gegenstand hat (vgJ. Gotzler, S. 112). 150 VgJ. Gotzler, S. 112 ff. 151 VgJ. a.a.O., S. 119.
110
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
tungen über die Reichweite des Haftungsgrundes steht die Beobachtung, daß eine Trennung von rmA V und überholender Kausalität ohne eine zeitliche Grenzziehung nicht möglich ist. 152 Wenn man nämlich noch Ereignissen in beliebiger Ferne Auswirkungen auf den RWZ zuschreibt, dann werden auch solche berücksichtigt, bei denen eine Differenzierung gegenüber sonstigen Reserveursachen nicht mehr einleuchtet, wie es oben unter 1. am Mietgelder-Fall aufgezeigt wurde. Liegt also die Unzulänglichkeit der Unterscheidung danach, ob der Schädiger bzw. Täter den Erfolg selbsthäUe herbeiführen können, in der Vernachlässigung des Zeitfaktors? Hier sieht Gotzler den Schlüssel zur Lösung des Problems. Er verlangt, bei Vorhandensein "mehrere(r) zeitlich gestaffelte(r) Verhaltenspflichten" die Eignungsprüfung immer mit Rücksicht auf die Einhaltung der gerade verletzten Pflicht und ohne die Beachtung der hypothetischen Folgen späterer Pflichterfüllung vorzunehmen. Für den Mietgelder-Fall soll sich danach folgendes ergeben: Durch die Spekulation sei die Pflicht zur sorgfältigen Verwahrung verletzt worden. Diese war aber unzweifelhaft geeignet, den Verlust des Geldes zum Zeitpunkt t1 zu verhindern. Folglich wurde durch die Verletzung der Verwahrungspflicht bereits ein Haftungsgrund geschaffen. Daran könne der Umstand, daß die Wahrnehmung der zeitlich nachgeordneten Einzahlungspflicht nicht geeignet war, den Verlust zum Zeitpunkt t2 zu verhindern, nichts mehr ändern, so daß jener Umstand allenfalls noch bei der Schadensberechnung Berücksichtigung finden könne. 153 Gotzlers Erwägungen sind an dieser Stelle mit einer Unklarheit belastet: Einerseits soll der Zeitpunkt des hypothetischen Erfolgseintrittes eine Rolle spielen, andererseits aber auch die Frage, welche von mehreren "zeitlich gestaffelten" Verhaltenspflichten verletzt wurde. Beide Gesichtspunkte müßten aber getrennt voneinander behandelt werden, denn eine zeitliche Verschiebung des Erfolges korreliert nicht unbedingt mit der Aufeinanderfolge "zeitlich gestaffelter Verhaltenspflichten", sondern kann sich auch dann ergeben, wenn der Täter die eine Pflicht eingehalten hätte, deren Verletzung ihm vorgeworfen wird, ohne daß weitere Verhaltensnormen im Spiel waren.l 54 Wir wollen daher im folgenden beide Kriterien (also einerseits zeitliche Verschiebung des Erfolges und 152 Aa.O., S. 99. 153 Gotzler, S. 118 f.
154 Beispiel: Die Krankenschwester verabreicht versehentlich das falsche Medikament, was sofort zum Tode des Patienten führt; wegen dessen unerkannter Überempfindlichkeit gegen das richtige Präparat wäre er auch an diesem gestorben, allerdings etwas später. Hier liegt also eine Zeitverschiebung hinsichtlich des Erfolges vor, obwohl von "zeitlich gestaffelten Verhaltenspflichten" nicht die Rede sein kann.
A Die Venneidbarkeitstheorie
111
andererseits die Beschränkung der "Eignungsprüfung" auf die Einhaltung einer von mehreren aufeinanderfolgenden Verhaltens normen, nämlich der in concreto verletzten) getrennt voneinander auf ihre Tauglichkeit zur Abgrenzung des rmAV von den Reserveursachen untersuchen. d) Die Willkürlichkeit des Abstellens auf den Erfolgszeitpunkt Die Differenzierung nach dem Zeitpunkt des Erfolgseintrittes wirkt auf den ersten Blick einleuchtend: Wie sollen spätere Ereignisse etwas daran ändern, daß sich in einem Vorgang die Pflichtwidrigkeit des Tuns "realisiert" hat? Der RWZ müßte doch bereits im Augenblick der Rechtsgutverletzung vorliegen und kann ebensowenig wie die Kausalität nachträglich "beseitigt" werden. Entsprechend geht Gotzler offenbar davon aus, daß wir uns bei Gleichzeitigkeit von realem und hypothetischem Ereignis im Bereich ein und desselben Haftungsgrundes bewegen, so daß die Rechtmäßigkeit des hypothetischen Vorgangs den RWZ entfallen läßt. Bei genauer Betrachtung ergeben sich jedoch durchgreifende Bedenken. aa) Die geringfügigen Zeitunterschiede Bereits oben II.3.b. wurde angesprochen, wie fragwürdig und im Hinblick auf den Schutzzweck der Norm willkürlich es erscheinen kann, eventuell rein zufalls bedingte Zeitverschiebungen über die Zurechnungsfrage entscheiden zu lassen ("Peritonitis-Fälle"). Darüberhinaus ist die Lösung nach dem genauen Zeitpunkt gar nicht konsequent durchführbar: Geringfügige Zeitunterschiede zwischen realem und hypothetischem Erfolg liegen praktisch immer vor; auch im Radfahrer-Fall wäre das Opfer bei ordnungsgemäßem Überholen Sekundenbruchteile später unter die Räder des LKW gelangt. Gotzler räumt dies ein, meint aber, daß solche minimalen Verschiebungen nach dem "Bagatellgedanken" vernachlässigt werden können.l 55 Das überzeugt jedoch deshalb nicht, weil es nicht nur um eine unterschiedliche Bewertung zweier Fallgruppen geht, sondern um die Abgrenzung zweier angeblich grundverschiedener dogmatischer Kategorien (RWZ-Problem einerseits, Problem der Schadensberechnung andererseits). Die Frage, ob wir es mit ein und demselben oder zwei verschiedenen Haftungsgründen zu tun haben, sollte daher exakt und nicht nur anhand 155 Aa.O., S. 98 unter Berufung auf Würfel, S. 120 f.
112
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
unbestimmter Wertungen wie der "Erheblichkeit" einer Zeitverschiebung zu beantworten sein.
bb) Die Zugrundelegung des exakten Zeitpunktes Wollte man dagegen auf den exakten Zeitpunkt des hypothetischen Erfolgseintrittes abstellen, so würde die Vermeidbarkeitstheorie nicht nur praktisch leerlaufen, sondern es müßte auch berücksiChtigt werden, daß selbst im (absolut theoretischen) Fall völliger Gleichzeitigkeit der hypothetische Erfolg immer noch ein gedachtes Ereignis als Konsequenz einer wenigstens zum Teil nie Realität gewordenen Kausalkette bleibt. 156 Auch hier ließe sich also in Fortführung von Gotzlers Ansicht behaupten, daß wir es mit zwei verschiedenen Haftungsgründen zu tun haben, so daß selbst theoretisch Reine Fälle übrigbleiben würden, in denen rmA V eine über das Vorliegen einer Reserveursache hinausgehende Bedeutung hätte. e) Die Aufspaltung der Sorgfaltspflichten Noch weniger als die Differenzierung nach dem Zeitpunkt des hypothetischen ErfOlgseintrittes überzeugt letztlich die von Gotzler zur Lösung des Mietgelder-Falles vorgetragene Argumentation mit zwei zeitlich hintereinandergeschalteten Sorgfaltspflichten: Es ist nicht möglich, eine Rechtsgutverletzung, die trotz hypothetischer Einhaltung mehrerer aufeinanderfolgender Verhaltensnormen eingetreten wäre, der Einhaltung speziell einer dieser Pflichten zuzuordnen: Wenn die Schädigung trotz insgesamt pflichtgemäßen Verhaltens eingetreten wäre, so erweist sich doch letztlich jede dieser Pflichten als ungeeignet, jene zu verhindern. Für den Mietgelder-Fall bedeutet das, daß es nicht möglich ist, zu sagen, der hypothetische Verlust des Geldes durch den Zusammenbruch der Bank sei durch die Einhaltung der Einzahlungspflicht und nicht durch den des Unterschlagungsverbotes eingetreten, denn beUle waren Voraussetzung für dieses Schadensereignis und damit zu seiner Abwendung nicht ge156 Wenn man bedenkt, daß der Erfolg letztlich die Momentaufnahme eines kontinuierlichen Geschehens ist, (vgl. oben 2. Abschnitt AII.2.b.cc.), so berechtigt der Zufall, daß das hypothetische Geschehen zufällig exakt zum gleichen Zeitpunkt in einen als rechtlich relevanter Erfolg qualifizierten Zustand geführt hätte, wohl noch nicht zu der Annahme, wir hätten es mit identischen Ereignissen zu tun. Zwar hätte dieser Erfolg dann die gleichen Raum!Zeit-Koordinaten wie der tatsächliche, jedoch liegt er als gedachter Vorgang nach Rödigs treffender Formulierung "in einer anderen Welt"; vgI. Rödig, S. 20, 40, 45.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
113
eignet. Dem Schädiger die aus der Verletzung der ersten - "ungeeigneten" Verhaltensnorm resultierende Rechtsgutverletzung nur deshalb zuzurechnen, weil die Einhaltung einer nachfolgenden Pflicht den Erfolg ebenfalls nicht verhindert hätte, erscheint willkürlich, zumal der verletzten Sorgfaltspflicht, deren Einhaltung den Erfolg angeblich nicht verhindert hätte, fast immer noch eine weitere Sorgfaltspflicht nachgeschaltet werden kann, deren Einhaltung den Erfolgseintritt auch nicht verhindert hätte: So ließe sich in Anlehnung an Gotzlers Behandlung des Mietgelder-Falles im Radfahrer-Fall ohne weiteres zwischen einem Verbot der Einleitung eines Überholmanövers ohne ausreichenden Seitenabstand und Sorgfaltspflichten beim Überholen (Beobachtung des Überholten im Rückspiegel etc.) unterscheiden, so daß man entsprechend sagen müßte, die Möglichkeit der Schädigung trotz Einhaltung der nachfolgenden Sorgfaltspflichten hindere nicht die Zurechnung der Schädigung bereits infolge der unerlaubten Einleitung des Überholmanövers. Man mag eine derartige Argumentation für gekünstelt halten - letztlich unterscheidet sie sich von Gotzlers Lösung des Mietgelder-Falles nicht grundsätzlich, sondern nur quantitativ durch den geringeren zeitlichen Abstand zwischen den beiden Pflichten. Damit zeigt sich: Die Trennung der Fallgruppen danach, ob mit Rücksicht auf das Zeitmoment einer oder verschiedene Haftungsgrunde betroffen sind, sei es im Hinblick auf den genauen Zeitpunkt des Erfolgseintrittes, sei es im Hinblick auf die Aufeinanderfolge verschiedener Sorgfaltspflichten, läßt sich nicht ohne Willkür vollziehen.
4. Abgrenzungen nach der Rechtsprechung a) Keine Gegenüberstellung der Fragenkreise Eine dogmatische Gegenüberstellung des rmAV-Phänomens und der Fallgruppe der Reserveursachen ist in der Rechtsprechung nicht zu finden. In der grundsätzlichen Stellungnahme des BGH im Notar-Fall 1S7 wurde die Behandlung des rmAV-Einwandes als "normale" Reserveursache überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Hinsichtlich der älteren Rechtsprechung stellt Gotzler fest, daß das von ihm für entscheidend gehaltene Zeitmoment insofern eine Rolle zu spielen scheint, als bei Gleichzeitigkeit der hypothetischen rechtmäßigen Schädigung eher ein Fehlen der "Kausalität der Pflichtwidrigkeit" angenommen 157 80HZ 96, 157 (172 ff.), s.o. I.2b. 8 Erb
114
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
wurde als bei nachfolgenden Ereignissen.1 58 Angesichts der Begründung über die Kausalität erscheint das natürlich naheliegend, da die "Beseitigung" des Kausalzusammenhangs durch hypothetische Ereignisse umso weniger plausibel zu erklären ist, je später der entsprechende Vorgang stattgefunden hätte.
b) Was darf "hinzugedacht" werden? Das Problem der Abgrenzung von rmAV und Reserveursachen kehrt jedoch in den besonders in der verkehrsstrafrechtlichen Judikatur zahlreichen Fällen wieder, in denen anläßlich mehrerer denkbarer Verhaltensalternativen die Frage im Raum steht, was denn nun zur Bestimmung der "Kausalität" "hinzugedacht" werden darf: Die Alternativen, bei denen das nicht der Fall sein soll, sind damit ja zugleich als für den RWZ unbeachtliche Reserveursachen eingestuft. Die Gerichte erklärten dabei immer wieder bestimmte hypothetische Verläufe für unbeachtlich, und zwar im wesentlichen mit zwei Erwägungen: Erstens erscheint immer wieder der Hinweis, es sei vom "wirklichen Geschehen" auszugehen;159 zweitens könne nur das rmA V bei Eintritt in die "konkrete kritische Situation" beachtlich sein.160 Beide Gesichtspunkte vermögen nicht zu überzeugen: Ersterer steht im Widerspruch dazu, daß rmAV überhaupt Berücksichtigung findet, denn danach muß ja definitionsgemäß von einem gedachten Geschehen ausgegangen werden. Die Erwägung, nicht von gedachtem Geschehen auszugehen, kann also nur eine Scheinbegründung an Stelle der nicht zum Ausdruck kommenden wirklichen Gründe darstellen, aus denen sich in bestimmten Konstellationen eine Beachtung von Hypothesen verbieten soll.1 61 Das Abstellen auf den Eintritt der "konkreten kritischen Situation" führt zu bedenklichen Ergebnissen im Hinblick auf den Schutzzweck der Sorgfaltspflichten,162 was dadurch zu erklären ist, daß die Pflichten ihrer Natur nach z.T. er-
158 Vgl. einerseits den Mietgelder-Fall (s.o.), andererseits den "Dreschsatzfall" RGZ 147, 129 und Gotzler, S. 115 ff. m. w. Nachw.; Gotzler stellt jedoch unter Hinweis auf Löschteich- und Brandgassen-Fall (OGHZ 1,308 ff. und BGHZ 20,275 ff., vgl. o. 2. Abschnitt 8.1.1.) fest, daß eine Unterscheidung nach dem Zeitmoment in der Rechtsprechung keineswegs konsequent durchgehalten wird. 159 BGH VRS 5,46 f.; BGHSt 10, 369 (370); BGHSt 24, 31 (34); weitere Nachw. bei Niewen57. 160 Vgl. BGHSt 24, 31 (34); BGHSt 33, 61 (63 ff.); krit. dazu Niewenhuis, S. 80 ff., der diese
huis, S.
Rspr. unter Aufarbeitung der umfangreichen Kasuistik ausführlich erörtert.
161 Vgl. Niewenhuis, S. 58. 162 Vgl. o. II.3.b.
A Die Vermeidbarkeitstbeorie
115
hebliche Zeit vor und damit unabhängig von jener Situation erfüllt werden müssen (z.B. Wartung eines Fahrzeuges). Der Eintritt der "konkreten kritischen Situation" ist damit zur Beantwortung der Frage, ob der hypothetische Erfolgseintritt Zweifel an der "Realisierung" der spezifischen Gefahr der Pflichtverletzung im Erfolg begründen kann, völlig untauglich,163 So dienen die beiden genannten Kriterien der Rechtsprechung zwar der ReChtfertigung der Einstufung des "rrnAV" als bloße Reserveursache, wo man aus welchen Gründen auch immer eine darüber hinausgehende BelÜcksichtigung für unangemessen hält, stellen aber als nicht tragfähige BeglÜndungen keine Gewähr für die Richtigkeit der Entscheidungen dar. c) Die Bedeutung des fehlerhaften Opferverhaltens nach BGHSt 30, 228 ff. Fragwürdig ist auch die Begründung einer neueren Entscheidung, in deren Sachverhalt im Ergebnis allerdings wohl mit Sicherheit eine unbeachtliche Reserveursache vorlag,164 Der BGH hob ein Urteil der Vorinstanz auf, in dem ein schuld haft in einen Kettenauffahrunfall verwickelter Autofahrer vom Vorwurf einer Körperverletzung freigesprochen worden war, weil er bei Einhaltung der den Sichtverhältnissen angemessenen Höchstgeschwindigkeit sein Fahrzeug zwar reChtzeitig hätte anhalten können, infolge des Auffahrens eines weiteren Fahrzeugs das Opfer aber in etwa gleicher Weise verletzt worden wäre. Der BGH begründete seine Entscheidung u.a. mit der Erwägung, daß hier im Gegensatz zu anderen Fällen der Erfolg bei rrnAV nicht infolge des fehlerhaften Opferverhaltens, sondern durch den Pflichtverstoß eines Dritten ausgelöst worden wäre,165 Puppe weist zu recht darauf hin, daß das darin implizierte Verständnis von rrnAV als "Verwirkung des Strafschutzes durch das selbst leichtfertig handelnde Opfer" nicht sachgerecht ist,166 Daß die vom BGH angeführten Vorentscheidungen tatsächlich alle Fälle zum Gegenstand hauen, in denen in der Tat fehlerhaftes Opferverhalten im Spiel war, dürfte darauf zUlÜckzuführen sein, daß sich im Straßenverkehr gefährliche Situationen in aller Regel daraus ergeben, daß sich ein Beteiligter pflichtwidrig verhält, so daß das erlaubte Risiko des einen Verkehrsteilnehmers eben in Form eines Pflichtverstoßes des anderen vorliegt. Daß dennoch (wenn überhaupt) die Erlaubtheit des hypotheti163 Puppe, JuS 1982, 662 f.; NiewenhWs, S. 81 f.
164 BGHSt 30, 228 ff. 165 BGH a.a.O., S. 231. 166 Puppe, JuS 1982, 661.
116
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
sehen Täterverhaltens und nicht die Pflichtwidrigkeit des Opferverhaltens entlasten muß, zeigt ein Blick auf die rrnA V-Konstellationen im medizinischen Bereich: Dort liegt das erlaubte Risiko des rrnA V normalerweise nicht in Obliegenheitsverletzungen des Patienten, sondern in "höherer Gewalt"; gleichwohl ist auch hier die Berücksichtigungsfähigkeit des rrnAV anerkannt. Der BGH führt in der genannten Entscheidung zur Stütze seines Ergebnisses denn auch noch kurz einige weitere GesiChtspunkte an, nämlich daß auch der Angeklagte nichts zur hypothetischen Körperverletzung beigetragen hätte, daß ein "ganz anderes" Geschehen vorgelegen hätte und daß dieses "zeitlich nachfolgend" eingetreten wäre.l 67
5. Die Bestimmung des "hinzuzudenkenden" A V nach dem neueren strafrechtlichen Schrifttum
Zum Abschluß der Betrachtung der bislang unbefriedigend verlaufenen Versuche, ein eindeutiges Abgrenzungskriterium zu den Reserveursachen anzugeben, das immerhin eine Rechtfertigung für die Behandlung der Fallgruppe des rmA V als eigene dogmatische Kategorie abgeben könnte, sei noch auf Ansätze im neueren strafrechtlichen Schrifttum eingegangen, die wiederum die Frage beantworten wollen, welche hypothetischen Verhaltensweisen "hinzugedacht" werden dürfen, ohne daß man zur Betrachtung von Reserveursachen übergeht. Nach diesen sollen unter den denkbaren hypothetischen Verläufen solche ausgewählt werden, deren Vorliegen im Gegensatz zu anderen Zweifel an der "Risikorealisierung" zu erwecken vermag.l 68 Ausschlaggebend soll dabei sein, ob der Täter mit dem rrnAV dns gleiche tatsächliche Interesse verfolgt hätte wie mit dem pflichtwidrigen Tun, denn nur und gerade die aus der Wahrnehmung dieses Interesses drohenden Gefahren würden hingenommen 169 bzw. nur in diesem Fall versage die "Demonstration der Unwertigkeit einer Handlung", weil der Erfolg "als unabwendbare Konsequenz des vom Täter praktizierten rechtlich zulässigen Handlungstyps begriffen" würde. 170 Rechtmäßige Verhaltensweisen mit anderer Zielsetzung müßten demnach als Reserveursachen behandelt werden. 167 BGHSt 30, 228 (231). 168 Vgl. Puppe, JuS 1982, 664; Schlüchter, JA 1984, 676 ff.; Frisch, Tatbestandsm. Verh., S. 535 ff., letzterer wiederum unter Hinweis auf die "Ratio des Erfolgserfordemisses.
169 Puppe, JuS 1982, 664; Schlüchter, JA 1984, 678. 170 Frisch a.a.O., S. 536 f.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
117
Im Rahmen dieser Lösung ist zunächst auf eine Schwierigkeit bei der Ein-
grenzung des vom Täter verfolgten "Interesses" hinzuweisen, die von den zitierten Autoren nicht berücksichtigt wird: Soll es darauf ankommen, daß der Täter durch das rrnAV dasselbe konkrete Ziel verfolgt hätte wie durch das tatsächliche Verhalten, oder soll es genügen, daß er damit ein Ziel der jeweiligen Art angestrebt hätte? Als Beispiel sei ein bekannter Fall aus der älteren BGHRechtsprechung 171 genannt, in dem zwei Fußgänger auf einer Landstraße verbotswidrig am rechten Straßenrand entlanggingen; ein Motorradfahrer bemerkte sie zu spät, fuhr zwischen beide hinein und stürzte tödlich. Wie ist nach der hier diskutierten Lösung ihr Einwand zu beurteilen, der Tod des Motorradfahrers wäre auch eingetreten, wenn sie zwar auf derselben Seite, aber aus der Gegenrichtung kommend und mithin ordnungsgemäß links gegangen wären?l72 Stellt man auf ihr in concreto verfolgtes Ziel ab, von A nach B (und nicht umgekehrt) zu gelangen, so liegt eine bloße Reserveursache vor.173 Stellt man dagegen auf das allgemeine Interesse ab, sich als Fußgänger auf der Landstraße zu bewegen, so wäre in der Hypothese das gleiche Interesse verfolgt worden - also müßte man einen Fall von rrnAV annehmen. Letztlich erweisen sich beide Wege als ungeeignet, die Fallgruppen in überzeugender Weise voneinander zu trennen: Dem ersten steht entgegen, daß der Umfang der in bestimmten Lebensbereichen tolerierten Gefahren nichts damit zu tun hat, welche individuellen Motive der einzelne gerade verfolgt, sondern vielmehr abstrakt für die Vornahme der jeweiligen Tätigkeit im allgemeinen bestimmt werden muß.174 Wählt man dagegen den zweiten Weg, so wird der Kreis der als rrnA V zu berücksichtigenden Hypothesen wieder unannehmbar weit: Alle Varianten, die ein Autofahrer im Interesse der Fortbewegung 175 mit seinem Wagen hätte vornehmen können und die vielleicht ebenfalls zum Unfall geführt hätten, wären als rrnAV zu betrachten. Auch das Abstellen auf das ver171 BGHSt 10, 369 ff. 172 Der BGH a.a.O. bejahte den "ursächlichen Zusammenhang" zwischen Pflichtverletzung und
Erfolg unter Hinweis darauf, daß es nur auf den "tatsächlichen Unfallverlauf" ankomme; zur zutr. Lösung vgl. u. C.III.5.b.aa.
173 So offensichtlich Schlüchter a.a.O., S. 678; Frisch a.a.O., S. 536 Fn. 109. 174 Vgl. Preuß, S. 22. So ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit beim Autofahren nicht davon
abhängig, ob man zu einer wichtigen dienstlichen Besprechung, einer privaten Feier, einem Einkauf fahren will oder einfach nur eine Spazierfahrt unternimmt.
175 Insofern wäre ein Ausschluß des rmAV-Einwandes allerdings in dem von Puppe, JuS 1982, 662,664 angeführten "LKW-Fall" BGH VRS 24,124 möglich, bei dem der Angeklagte sich darauf berief, daß der Unfall auch eingetreten wäre, wenn er nicht pflichtwidrig auf der Autobahn gestanden hätte, sondern zulässig langsam gefahren wäre.
118
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
folgte Interesse ermöglicht demnach keine zuverlässige Unterscheidung zwischen rmAV und Reserveursachen.
6. Bilanz der Abgrenzungsversuche Wir können damit festhalten, daß alle Versuche, unter den Prämissen der Vermeidbarkeitstheorie eine eindeutige Unterscheidung zwischen rmAV und "gewöhnlichen" Reserveursachen zu treffen, nicht zu befriedigenden Resultaten führen. Die angebotenen Abgrenzungskriterien erweisen sich bei näherem Hinsehen als nicht stichhaltig; ihre vordergründige Plausibilität dürfte darauf zurückzuführen sein, daß sie - wenn auch in unterschiedlicher Weise - "sachverhaltsfernere" Alternativen, bei denen Ld.R. ein Ausschluß der Risikorealisierung wenig einleuchtet, aus der Betrachtung im Rahmen des RWZ eliminieren; sie sind dabei aber weder dogmatisch fundiert, noch liefern sie durchweg befriedigende Ergebnisse. Sie führen daher im Prinzip nicht weiter als der wiederkehrende Leitsatz in der Rechtsprechung, es müsse "vom tatsächlichen Geschehen" ausgegangen werden.
IV. Zusammenfassende Stellungnahme zur Vermeidbarkeitstheorie
Der Satz, daß der Umstand, daß der Täter den Erfolg auch durch rechtmäßiges Verhalten hätte herbeiführen können, auf fehlende Realisierung der Pflichtwidrigkeit bzw. der in ihr verkörperten Gefahr im Erfolg schließen läßt und daher einen Straftäter bzw. Schadensersatzpflichtigen entlasten kann, führt also erstens in bestimmten Konstellationen (jedenfalls im Geltungsbereich des in dubio pro reo-Grundsatzes) zu rechtspolitisch unerträglicher Resultaten, zweitens läßt sich seine Richtigkeit nicht überzeugend begründen und drittens sind keine zwingenden Kriterien vorhanden, mit denen sich die zur Debatte stehenden Fälle von solchen einfacher Reserveursachen unterscheiden lassen. Was liegt also näher, als dieses Dogma zu verabschieden? Die Konsequenz wäre, daß der Einwand nichts weiter als die Berufung auf eine Reserveursache darstellen würde, so daß wir im Grunde genommen zu den oben im 2. Abschnitt unter B.lIL am Ende formulierten Ergebnissen - Unbeachtlichkeit im Strafrecht, eingeschränkte Berücksichtigung als Reserveursache im Zivilrecht - gelangen würden.
A Die Vermeidbarkeitstheorie
119
Indes dürfte es voreilig sein, in dieser Weise Spendel176 zu folgen und in allen rrnAV-Fällen den Erfolg zuzurechnen: Schon in der weiten Verbreitung der These vom Ausschluß des RWZ bei rrnAV kommt zum Ausdruck, daß sich das Rechtsgefühl in bestimmten Konstellationen offenbar gegen eine Zurechnung sträubt. Das sollte Anlaß für weitere dogmatische Untersuchungen sein. Da die Betrachtung der hypothetischen Verläufe offenbar nicht weiterführt, liegt die Vermutung nahe, daß der Fehler nicht in der Annahme liegt, der RWZ setze eine spezifische Gefahrrealisierung voraus, sondern in der Behauptung, daß ein hypothetisches Geschehen diese Realisierung ausschließen kann. Nicht ausgeschlossen ist damit freilich umgekehrt, daß die Möglichkeit, den Erfolg durch rechtmäßiges Verhalten herbeizuführen, eine regelmäßige Begleiterscheinung fehlender Risikorealisierung ist (was eine Erklärung dafür sein könnte, daß sie so häufig als das entscheidende Kriterium angesehen wird), aber eben auch in anderen Fällen vorliegen kann.!77 Damit wären wir hinsichtlich der Vermeidbarkeitsformel auf der Ebene des RWZ mit der gleichen Situation konfrontiert, die sich auf Kausalitätsebene hinsichtlich der csqn-Formel darstellt. 178 Es muß also nach den tatsächlich ausschlaggebenden Kriterien zur Bestimmung der "Risikorealisierung" und des RWZ gesucht werden; der hypothetische Erfolgseintritt bei rrnA V kann allenfalls eine Veranlassung sein, im entsprechenden
176 S.o. 2. Abschnitt B.1I.2. 177 So im Grundsatz auch Jakobs, Lackner-FS, S. 57 ff., der betont, daß es bei "der Gegenüberstellung von Sachverhaltsvarianten" "nicht um die Ermittlung einer Risikoverwirklichung, sondern um die Benennung einer schon ermittelten Wirkung" geht (a.a.O., S. 59; Hervorhebungen im Text). Der Umstand, daß Jakobs trotz der Erkenntnis, daß die Hypothesenformel eine bloße Begleiterscheinung der entscheidenden Beziehung ist, diese als heuristiscbes Mittel in großem Umfang einsetzt (vgl. Studien, S. 101 ff.; Lehrb., S. 190; Lackner-FS, S. 71 ff.), trägt ihm allerdings von Frisch (a.a.O., S. 531 Fn. 89) den Vorwurf ein, er halte seine ~Absage an die Hypothesentheorie" "nur scheinbar durch". Bereits vom tbeoretiscben Ausgangspunkt her inkonsequent ist Ranfts Absage an die Hypothesenformel, denn dieser will offenbar nur einen hypothetischen Verlauf durch einen anderen ersetzen, nämlich den Verlauf bei rmAV durcb den Verlauf im "Regelfall der defektfreien Opferlage" (NJW 1984,1429). Diesen Ansatz kann er nicht durchhalten, weil viele Sorgfaltspflichten das Opfer eben nicht nur in der "defektfreien Lage" schützen sollen, wie Ranft selbst an einem Beispielfall einräumt (a.a.O., S. 1432), bei dem es dann docb wieder darauf ankommen soll, ob der Bremsweg bei Einhaltung der zulässigen Höchstgescbwindigkeit zur Vermeidung des Unfalls ausgereicbt bätte. 178 Vgl. o. 2. Abscbnitt AII.2b. Fn. 60 und 77. Die Parallelen betont auch Jakobs, Lebrb. S. 185 und Lackner-FS, S. 53, 57 ff.: Bei beiden Fragestellungen kommt es in Wahrheit nicht darauf an, was gescbeben wäre, wenn bestimmte (Kausal- oder Risiko-) Faktoren fehlen, "sondern was sie bewirkt haben" (Hervorhebung von mir).
120
3. Abschnitt: Die Zurecbnung des Erfolges
Fall den RWZ unter den wirklich relevanten Gesichtspunkten in Frage zu stellen.
B. Die Risikoerböbungslebre I. Darstellung
Eine Ansicht, nach der der RWZ nach einem anderen Kriterium zu bestimmen ist als nach der Vermeidbarkeit des Erfolges, findet sich im strafrechtlichen Schrifttum. Sie ist unter der Bezeichnung "Risikoerhöhungslehre" bekanntgeworden und will den durch das Täterverhalten verursachten Erfolg dann zurechnen, wenn das rechtswidrige Verhalten im Nachhinein betrachtet die Gefahr des Erfolgseintrittes gegenüber der Gefahr bei hypothetischem pflichtgemäßem Verhalten erhöht hat. 179 Die Risikoerhöhungslehre geht auf einen Aufsatz von Roxin zUTÜck 180; ein ähnlicher Lösungsversuch von Mittasch181 fand zunächst keine Beachtung. Ein Einwand U/senheimers 1tn gegen Roxins Lösung besagte, die Zurechnung nach dem Risikoerhöhungsprinzip sei deswegen sinnlos, weil ex ante betrachtet das Risiko des pflichtwidrigen Verhaltens immer höher sei als das des pflichtgemäßen, denn das Verhalten wird ja gerade wegen seiner erhöhten Gefährlichkeit als pflichtwidrig eingestuft. Ein Gefahrurteil sei aber überhaupt nur ex ante sinnvoll. Die Erwiderung der Vertreter der Risikoerhöhungslehre hier-
179 Vgl. Mittasch, Deutsche Recbtswissenscbaft, Bd. 8 (1943), S. 46 ff.; Ronn, ZStW 74 (1962),43 ff., ZStW 78 (1966),217 ff., Honig-FS, S. 138 ff.; Rudolphi, JuS 1969, 553 f. und SK, vor § 1 Rdnr. 66 ff.; Schafforein, Honig-FS, S. 171 f.; Burgstaller, S. 139 ff; Maurach, AT, 4. Aufl., S. 540 f.; Schmidhäuser, Lebrb., S. 308 ff. (m. Einschr. bei Fallen, in denen eine Hand· lungspflicbt des Täters bestand); Schünemann, JA 1975,650 ff. und StrVen 1985,230 f.; Jescheck, Lebrb., S. 527 und Fabrlässigkeit, S. 16 f.; Dtto, Maurach-FS, S. 102 ff. und NJW 1980, 423; Wol· ter, S. 336 Cf.; Kahlo, GA 1987, S. 75 ff.; Küper, Lackner-FS, S. 270 ff., 282 ff.; Lackner, Komm., § 15 Anm. III.2b.cc.; Lampe, ZStW 101 (1989),44 ff.; m. 8escbr. auf den "nicbt determinienen Bereich" (s.u.) Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 54 Cf.; Stratenwerth, Gallas-FS, S.229 ff. und AT, S. 87; Puppe, ZStW 95 (1983),301 ff. 180 ZstW 74 (1962), 411 ff. 181 Deutscbe Recbtswissenscbaft, Bd. 8 (1943), S. 46 ff. Mittasch versucbte allerdings nocb nicbt, die Risikoerböbung als solcbe zur materiellen Zurechnungsgrundlage zu Qheben, sondern spracb unverbolen von einer "Beweisregel", welcbe in den Fallen "feblerbaften Risikos" Anwendung finden solle, vgl. a.a.O., S. 51 ff. 182 Pflicbtwidrigkeit, S. 134 f. und JZ 1969, 366.
B. Die Risikoerhöhungslehre
121
auf ist einerseits durch den Versuch gekennzeichnet, die Möglichkeit eines ex post-Gefahrurteils zu verdeutlichen,183 andererseits durch die KlarsteIlung, daß die Risikoerhöhung unter Verwendung ex post feststellbarer Umstände bestimmt werden InÜSse l84 • Seither ist die ex post-Betrachtungsweise in der Risikoerhöhungslehre allgemein anerkannt. l85 Ein Vorzug (aber zugleich die Quelle der wichtigsten Bedenken) der Risikoerhöhungslehre besteht darin, daß sie die aus dem Grundsatz "in dubio pro reo" resultierenden kriminalpolitisch unerträglichen Freispruche in bestimmten rmAV-Fällen (s.o. A.1I.) insofern vermeidet, als nicht mehr der Nachweis der Vermeidbarkeit des Erfolges erforderlich ist, sondern nur noch der (leichter zu führende) der Gefahrerhöhung. Im folgenden sollen zunächst einige Bemerkungen zur Übertragbarkeit der Risikoerhöhungslehre auf das Zivilrecht erfolgen, dann die Stichhaltigkeit der dogmatischen Begründungen untersucht und schließlich auf die von den Vertretern der Vermeidbarkeitstheorie vorgebrachten Bedenken eingegangen werden.
11. Die Bedeutung der Risikoerböhungslehre für das Zivilrecht
Soweit die Autoren des Zivilrechts die Risikoerhöhungslehre zur Kenntnis nehmen, betonen sie zumeist deren Unbrauchbarkeit für ihr Rechtsgebiet. Regelmäßig erscheint der Hinweis, daß das Zivilrecht nicht die Sanktion gefährlichen Verhaltens, sondern den Ausgleich von Schäden bezweckt, so daß das Risikoerhöhungsprinzip als Zurechnungsgrundsatz hier einen Fremdkörper darstellen würde. l86 Neben dieser theoretischen Erwägung dürfte entscheidend sein, daß die Risikoerhöhungslehre im Strafrecht wohl nicht infolge der (ohnehin selten geäußerten) dogmatischen Bedenken gegen die Vermeidbarkeitstheo-
183 Vgl. Ro::cin, Honig-PS, S. 138 f. Fn. 18; Würfel, S. 74 f.; ausführlich Wolter, S. 231 ff. LV.m. S. 338. 184 Ro::cin a.a.O. 185 Stratenwerth, Gallas-PS, S. 229 f. und Burgstalkr, S. 142 f. erheben die Forderung nach 'uneingeschränkter Beurteilung ex post", um eine "Verkürzung der Urteilsbasis" zu vermeiden; vgl. ferner Wolter a.a.O.; SK/Rudolphi, vor § 1 Rdnr. 69; Lackner, Komm., § 15 Anm. III.2.b.cc.; Schünemann, JA 1975,652 f., stellt den Gegensatz der Sinnbaftigkeit der Norm ex ante und ex post hervor; bei fehlender Risikoerhöhung entfalle die ex post-Tauglichkeit der Norm zur Bekämpfung des schädlichen Erfolges. 186 So etwa Deutsch, JZ 1966, 557 f.; Hanau, Kausalität, S. 130; StolI, AcP 176 (1976), 176 f.; Gotzler, S. 28 f.
122
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
rie entstanden ist, sondern angesichts deren ergebnis bezogener Schwierigkeiten; insoweit besteht im Zivilrecht für sie in Anbetracht der beweisrechtlichen Möglichkeiten (s.o. A.II.2.) überhaupt kein Bedarf.187 Gleichwohl ist der Risikoerhöhungsgedanke im Zivilrecht nicht völlig ohne Einfluß geblieben: Kahrs will z.B. mittels des Risikoerhöhungsprinzipsl88 nach dem Grad der durch das pflichtwidrige gegenüber dem pflichtgemäßen Verhalten vereitelten Chance des guten Ausgangs eine Schadensteilung in Betracht ziehen.l 89 Diese Durchbrechung des Alles-oder-nichts-Grundsatzes beim Schadensersatz dürfte allerdings mit dem geltenden Recht nicht vereinbar sein l90 . Teilweise wird das Risikoerhöhungsprinzip auch zur Rechtfertigung von Beweiserleichterungen herangezogen.l 91 Alles in allem können wir jedoch festhaIten, daß dem Risikoerhöhungsprinzip für das materielle Zivilrecht nach fast einhelliger Auffassung keine Bedeutung zukommen soll. Trotzdem wollen wir das Risikoerhöhungsprinzip in diesem Zusammenhang nicht gänzlich aus den Augen verlieren: Es hat sich gezeigt, daß der Vermeidbarkeitsgedanke als solcher zur Konkretisierung des RWZ auch im Zivilrecht letztlich nicht zum Ziel führt, obwohl nach einem offenbar weit verbreiteten Rechtsgefühl auch hier in zahlreichen rmAV-Fällen der Ausschluß des RWZ naheliegt. Wäre das Risikoerhöhungs- statt des Vermeidbarkeitsprinzips tatsächlich der für die strafrechtliche Zurechnung entscheidende Gesichtspunkt, so wäre im einzelnen zu untersuchen, ob die dafür sprechenden Gründe auch für das Zivilrecht Geltung beanspruchen können.
187 Deutlich Gotzler a.a.O.: "Für diese Lösung besteht aber dort, wo die Beweislast als geschmeidiger Risikoverteilungsfaktor eingesetzt werden kann, keine Notwendigkeit." (Hervorhebungen von mir.)
188 Das er in der Sache meint, wenn er von "Vermeidbarkeitsprinzip" spricht, da er Vermeidbarkeit nicht im üblichen Sinn als Entweder-oder-Frage auffaßt, sondern nach Höhe des Risikos graduell "Stufen der Vermeidbarkeit" unterscheidet, vgl. Kausalität, S. 24; besonders deutlich auch Vermeidbarkeitsprinzip, S. 47 f., wo er einen "elastischen Vermeidbarkeitsbegriff" proklamiert. 189 Vgl. Kausalität, S. 3 ff.; 26 ff.; 67 ff. 190 Deutlich Hanau a.a.O., s. 131 f.; Gotzler, S. 28 f.; auch Deutsch, der in Larenz-FS, S. 901 f., mit dem Gedanken eines eingeschränkten Schadensersatzes bei erwiesener Risikoerhöhung spielt, hält dies de lege lata allenfalls in Konstellationen für vertretbar, in denen zur Bestimmung der Höhe des Ersatzanspruches ohnehin eine Abwägung aller Umstände erforderlich ist (Mitverschulden, Schmerzensgeld). 191 Deutsch a.a.O. und Haftungsrecht, S. 247 ff.; sehr deutlich BGHZ 85, 213 (216): Bei der Gewährung von Beweiserleichterungen sei das "Gewicht der Möglichkeit" zu berücksichtigen, denn das "Aufklärungserschwemis liege ja gerade darin, daß "das Spektrum der für einen Mißerfolg in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen der besonderen Schadensneigung des Fehlers verbreitert bzw. verschoben worden ist. "
B. Die Risikoerhöhungslehre
123
Der verbreitete Einwand, eine Zurechnung nach Gefährdung sei mit der Ausgleichsfunktion des Zivilrechts nicht vereinbar, müßte sich dabei nicht als unüberwindbares Hindernis erweisen: Wie oben unter A.1.2.c.bb. dargestellt, bedarf es zur Wahrung der Ausgleichsfunktion des Zivilrechts der Berücksichtigung des Einwandes der Unvermeidbarkeit des Erfolges jedenfalls nicht im Rahmen des RWZ, ihm kann vielmehr auch noch bei der Schadens bestimmung Rechnung getragen werden.192 Letzteres würde durch die Übertragung des Risikoerhöhungsprinzips auf das Zivilrecht aber keineswegs ausgeschlossen: Wenn mangelnde Risikoerhöhung den RWZ bezüglich eines durch pflichtwidriges Verhalten verursachten Erfolges ausschließt und damit den Schädiger entlastet, dann bedeutet das nicht umgekehrt, daß eine positiv gegebene Risikoerhöhung bereits endgültig die Ersatzpflicht begründet, sondern trägt zunächst nur die Annahme des RWZ, während im Rahmen der von diesem zu trennenden Schadensberechnung der Einwand, der Schaden wäre auch bei rechtmäßigem Verhalten entstanden, nicht abgeschnitten wäre. Schon gar nicht ließe sich sagen, eine derartige Lösung würde darauf hinauslaufen," vom Schadenserfolg zu dispensieren",193 denn dieser muß ja immerhin kausal herbeigeführt sein. Es könnte demnach nicht behauptet werden, daß eine Entschädigung für eine Risikoerhöhung gewährt wird, sondern es würde nur mangelnde Risikoerhöhung die Entschädigung ausschließen. Übrigens müßte das genannte Bedenken gegen die Bedeutung der Risikoerhöhung für die Zurechnung im Falle seiner Richtigkeit nicht nur im Zivilrecht, sondem auch im Strafrecht durchgreifen: Auch wenn das Zivilrecht nicht wie das Strafrecht vom Ausgleichsgedanken geprägt ist, so haben wir es doch mit Erfolgsdelikten zu tun, so daß eine Vernachlässigung des Erfolgserfordernisses nicht weniger bedenklich wäre als im Zivilrecht.l 94
192 Falls das Ausgleichsprinzip dies wirklich verlangt, zu entsprechenden Zweifeln vgl. o. AI.2.c.bb. 193 Deutsch, JZ 1966, 558.
194 Der entsprechende Vorwurf wird der Risikoerhöhungslehre auch häufig gemacht, indem man ihr vorhält, sie vollziehe eine unzulässige Verwandlung der Erfolgs- in konkrete Gefährdungsdelikte, vgl. Samson, Hyp. Kausalverläufe, S. 154 ff. und SI(, Anh. § 16. Rdnr. 27; Schlüchter, JA 1984,676; Niewenhuis, S. 44 f.; Baumann/Weber, S. 274; BoculmannlVolk, S. 162; LK/Schroeder § 16 Rdnr. 190; OLG Koblenz OLGSt § 222, S. 63 (67).
124
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
III. Die dogmatischen Begründungen der Risikoerhöhungslehre
1. Die Unteilbarkeit des geschaffenen Risikos Rudolphi führt für die Risikoerhöhungslehre den Gesichtspunkt der Unteilbarkeit von Risiken ins Feld: Weil die Aufspaltung einer einheitlich strukturierten Gefahr bestimmter Größe in einen erlaubten und einen unerlaubten Teil nicht möglich sei, lasse eine verbotene Risikosteigerung das erhöhte Risiko als ganzes unerlaubt erscheinen. Deshalb könne die Möglichkeit des Erfolgseintrittes bei rmAV nicht ausreichen, die Realisierung des tatsächlich geschaffenen, insgesamt verbotenen Risikos zu verneinen,195 Mit den Vertretern der Vermeidbarkeitstheorie geht er allerdings davon aus, daß die Zurechnung mangels Realisierung des verbotenen Risikos ausscheiden muß, "wenn auch bei rechtmäßigem Verhalten der Erfolg mit Sicherheit eingetreten wäre."196 Diese Erwägungen führen zwar zu einem weiteren Argument gegen die Vermeidbarkeitstheorie,197 basieren aber letztlich auf deren Prämisse, die "Realisierung" eines Risikos lasse sich grundsätzlich durch Betrachtung des hypothetischen Verlaufs bestimmen, und stellen damit keinen eigenständigen Begründungsansatz für die Risikoerhöhungslehre dar. Aus diesem Grund sollen sie hier nicht weiter verfolgt werden.
2. Die Nichtsteigerung des erlaubten Risikos Roxin hält im Rahmen der Feststellung des RWZ als Ersatz des von ihm ausdrücklich abgelehnten Vermeidbarkeitsprinzips198 das Risikoerhöhungsprinzip für erforderlich, weil durch dieses der Grundsatz der Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte bei der Behandlung der erlaubten Risiken verwirklicht werde: Da dem Täter ein Verhalten nur dann als Pflichtwidrigkeit zugerechnet werden kann, wenn er damit die Grenze des erlaubten Risikos überschritten hat, sei
S.
195 Rudolphi, JuS 1969, 554 und SK, vor § 1 Rdnr. 67 f.; vgl. auch Stratenwerth, Gallas-FS, 238.; Puppe, ZStW 93 (1983), S. 314. 196 SK vor § 1 Rdnr. 67. 197 Sie werden von Rudolphi ja auch in der Auseinandersetzung mit der Vermeidbarkeitstheorie
angeführt.
198 Die Vermeidbarkeit des Erfolges sei als Zurechnungskriterium nicht überzeugend begründet worden, man habe ihm wohl nur deshalb die entsprechende Bedeutung beigemessen, weil die Unvermeidbarkeit ein Indiz dafür sei, daß es an der Risikoerhöhung fehlt, auf die es in Wirklichkeit ankomme, Ronn, ZStW 74 (1962), 440 ff.
B. Die Risikoerböbungslehre
125
man gehalten, eine Handlung, die zwar pflichtwidrig war und auch zum Erfolg geführt hat, aber dabei keine über das erlaubte Maß gehende Gefahrdung mit sich gebracht hatte, dem entsprechenden unverbotenen Verhalten gleichzustellen und die Zurechnung zu verneinen.l 99 In eine ähnliche Richtung weist die Argumentation von Puppe (die allerdings nur mit Einschränkungen der Risikoerhöhungslehre folgt, vgl. u. IV.): Wenn schon nicht jede, sondern nur die ein gewisses Maß überschreitende Risikoerhöhung verboten sei, so müsse dieses "Benefiz des erlaubten Risikos" auch dem pflichtwidrig Handelnden erhalten bleiben, sonst begründe man eine "versari"-Haftung. 2OO Dieser Begründung wurde mit Recht entgegengehalten, daß das Argument der Gleichbehandlung bzw. der Erhaltung des "Benefizes" des erlaubten Risikos nicht zwingend erscheint, von "erlaubtem Risiko" definitionsgemäß nur gesprochen werden kann, wo der Täter sich pflichtgemäß verhalten hat. Mithin liegt in den rrnAV-Fällen, in denen sich der Täter (wenn auch ohne die Folge der Gefahrerhöhung) tatsächlich pflichtwidrig verhalten hat, eine nur teilweise gleiche Konstellation vor, so daß der Gleichheitssatz nicht ohne weiteres greift bzw. nicht einzusehen ist, wieso der Täter überhaupt noch Anspruch auf das "Benefiz" des erlaubten Risikos haben sollte. 20l Küper weist ferner darauf hin, daß die Forderung nach "Gleichberechtigung" des verbotenen mit dem erlaubtriskanten Verhalten ja konsequenterweise auch zu einer Verneinung der Sorgfaltspflicht führen müßte, was offensichtlich nicht richtig sein kann, denn diese "steht voraussetzungsgemäß fest".202 Küper hat jedoch zugleich den Versuch unternommen, diese Bedenken dadurch auszuräumen, daß er das "erlaubte Risiko" in diesem Zusammenhang nicht als "Derivat sorgfaltsgemäßen Handeins", sondern in seiner "erfolgsorientierten" Form verstehen will.203 Dabei führt er an, daß als Ergebnis der dem "erlaubten Risiko" zugrundliegenden Interessenabwägung nicht nur dem Täter ein riskantes Verhalten gestattet, sondern zugleich (und sogar primär) auf der "Passivseite" Gefahrdungen des Rechtsgutes als allgemeines Lebensrisiko in Kauf genommen werden. Dieser "erlaubte Risikoerfolg" lasse sich nun von der Verhaltenskomponente "derart isolieren", daß sein Vorliegen "nicht notwendig 199 Roxin a.a.O., S. 431 ff.; ähnl. SKIRudo/phi, vor § 1 Rdnr. 66.
200 Puppe, JuS 1982,661 f.; ZStW 95 (1983), 288 f.; JZ 1985,295. 201 Münzberg, Verb. u. Erfolg, S. 136; Bindokat, JZ 1977, 550 und JuS 1985, 34; Gotz/er, S. 91; Küper, Lackner-FS, S. 255 f., 261, 271 f.; Frisch, Tatbestandsm. Verb., S. 533.
202 Aa.O., S. 256 f. 203 Aa.O., S. 271 ff.
126
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
an einen sorgfaltigen Handlungsvollzug gebunden ist".204 Küper hält es also für denkbar, daß unter diesem Gesichtspunkt der Erfolgsunwert und damit die Zurechnung entfallen könnte. Das erscheint zwar plausibler als der pauschale Hinweis auf das "Benefiz des erlaubten Risikos", bedarf jedoch, worauf Küper hinweist,205 einer näheren Überprüfung insbesondere mit Blick auf die Funktion der Sorgfaltsnormen. Seine Erörterungen hierzu werden im folgenden unter 3.b. und c. behandelt.
3. Die Erreichung des Normzweckes im Einzelfall
a) Allgemeines Ein für die Risikoerhöhungslehre vorgetragener BegTÜndungsansatz besagt, daß die Norm im Einzelfall ihren Zweck verlieren könne, wenn sie nicht nur zur Verhinderung des Erfolges, sondern bereits zur Reduzierung der Gefahr auf ein erlaubtes Maß ungeeignet ist, weshalb eine Zurechnung des Erfolges bei fehlender Risikosteigerung nicht in Betracht komme. 206 Im Grunde genommen ist diese Argumentation strukturgleich mit den entsprechenden Erwägungen hinsichtlich des Zweckes der Erfolgsverhinderung, mit denen die Vertreter der Vermeidbarkeitstheorie ihre These zu untermauern suchen;207 ausgetauscht wurde lediglich der angebliche Gegenstand des Normzweckes (Verhinderung der Risikosteigerung statt des Erfolges). Demnach müßte die dort vorgetragene Kritik208 hier in gleicher Weise greifen: Wenn die Zurechnung von Normverstößen generell ihre Berechtigung daraus erlangt, daß diese im allgemeinen die Gefahr für ein Rechtsgut über das erlaubte Maß hinaus erhöhen, so kann daraus nicht umgekehrt zwingend gefOlgert werden, daß das (erst nachträglich erkennbare) Versagen dieses Mechanismus im Einzelfall die Zurechnung ausschließen 204 Aa.O., S. Z72 ff. 205 Aa.O., S. Z74. 206 Vgl. Rorin, ZStW 78 (1966), 217 f.; Rudolphi, JuS 1969,554; Burgstaller, S. 138 f.; Schünemann, JA 1975,651 f. und StrVert 1985,230 f.; Wolter, S. 336; differenzierend Küper, Lackner-
PS, S. 268 f. Etwas abweichend Lampe ZStW 101 (1989),46 f.: Der Grund der Mißbilligung sei für den Gesetzgeber die Gefahrerhöhung und nicht die Venneidbarkeit; dies müsse bei der Bestimmung der Rechtswidrigkeit (in deren Bereich er im Gegensatz zur h.M. die nnAV -Problematik einordnet) auch bei der Rechtsanwendung im Einzelfall berücksichtigt werden, so daß wohl mangelnde Risikoerhöhung, nicht dagegen mangelnde Venneidbarkeit die Zurechnung des Erfolges ausschließen könne.
207 Vgl. o. Al.l.c.
208 S.o. AI.1.c. und 2.c.aa.
B. Die Risikoerhöhungslehre
127
muß. In Fortführung der Kritik an der Vermeidbarkeitstheorie ließe sich sagen, daß die Norm ihren Sinn, ex ante gefährliche Verhaltensweisen zu verhindern, nicht nur bei der Möglichkeit des Erfolgseintrittes bei rmAV behalten kann, sondern· auch dann, wenn im Einzelfall im Nachhinein betrachtet sogar nicht einmal die Gefahr erhöht wurde. b) Der Zweck der Verhinderung des Gefahrerhöhungserfolges Anders könnten sich die Dinge dagegen nach Küpers Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgskomponente darstellen: Küper behauptet nicht mehr, daß in den uns interessierenden Fällen der Normzweck der Eindämmung gefahrlichen Verhaltens verfehlt wird, sondern meint im Gegenteil, daß dieser auf der Er[olgsseite, d.h. soweit es darum geht, Gefährdungen von Rechtsgütern über das erlaubte Maß hinaus zu verhindern, trotz Sorgfaltspflichtverletzung gerade erreicht werde, denn schließlich habe das pflichtwidrige Verhalten ausnahmsweise keine verbotene Risikosteigerung zur Folge gehabt. 209 Die scheinbar paradoxe Situation, daß ein sorgfaltswidrig handelnder Täter somit einen erlaubten Gefahrerfolg schaffen kann, sei dadurch zu erklären, daß die Sorgfaltspflichten die "tolerierten Gefahren ... generalisierend ex ante definieren", wohingegen die Frage, ob tatsächlich ein unerlaubter Risikoerfolg entsteht, erst nachträglich und damit u.U. mit für den Einzelfall anderem Ergebnis beantwortet werden könne. 210 Wenn lediglich auf der Verhaltensseite durch den Verstoß des Täters dem Zweck der Norm zuwidergehandelt wird, dagegen auf der Erfolgsseite mangels Gefahrerhöhung quasi alles zum Besten steht, dann liegt in der Tat die Erwägung nahe, es fehle trotz Sorgfaltspflichtverletzung und Schädigung des Rechtsgutes letztlich am vollständigen Vorliegen der Erfolgskomponente, so daß sich im Rahmen eines Erfolgsdeliktes die Zurechnung verbieten würde; der Schadenserfolg wäre "durch eine tolerierte Gefahr vermittelt und damit selbst toleriert".211 Freilich betont Küper, daß er diese lösung zwar für schlüssiger als die zuvor besprochenen, aber wiederum nicht für 209 Küper, Lackner-FS, S. 274 ff. Küper geht dabei davon aus, daß die Begrenzung der Gefahren für Rechtsgüter auf das erlaubte Maß der primäre Zweck der Normen ist, während die Verhinderung von Schäden als solchen, die ja auch nach normgerechtem Verhalten eintreten können, lediglich ihr Motiv sein soll. Daher könne man bei Unvenneidbarkeit des Erfolges nicht von Zweckverfehlung der Norm sprechen, sondern müsse im Gegenteil von der Verwirklichung des von ihr gerade zugelassenen erlaubten Risikos ausgehen.
210 Küper a.a.O., S. 276 f. 211 Küper a.a.O., S. 277.
128
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
zwingend hält, denn er hält ohne weiteres auch eine Konzeption für denkbar, nach der die rechtliche Billigung des Risikoerhöhungserfolges an die Rechtmäßigkeit des vorangegangenen Verhaltens gebunden ist. 212
c) Stellungnahme Die Ausführungen Küpers sind im Ansatz überzeugender als die bislang erörterten Versuche, Vermeidbarkeits- oder Risikoerhöhungslehre zu begründen. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der RWZ als der spezifische Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit einerseits und Erfolg andererseits verstanden wird, dann fehlt nicht nur der dogmatische Nachweis dafür, sondern es wirkt schon im Ansatz wenig überzeugend, die Kriterien des RWZ entweder bei der Handlung (beinhaltete sie ein erhöhtes Risiko?) oder beim Erfolg (war er vermeidbar?) zu suchen: Das Vorliegen einer Verbindung läßt sich schwerlich dadurch feststellen, daß man deren ohnehin unzweifelhaft gegebenen Gegenstände betrachtet. Vielmehr ist es erforderlich, nach dem Vorhandensein von Zwischenstadien zu suchen, die diese Verbindung herstellen können bzw. deren Fehlen sie ausschließt. Diesem Erfordernis entspricht Küpers Vorgehen, die Entstehung der Gefahr für das Rechtsgut als Folge der pflichtwidrigen Handlung einerseits und als Vorstufe der Verletzung andererseits in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. DemgegenÜber erweist sich das von Küper selbst geäußerte Bedenken, ob nicht die Rechtswidrigkeit der Handlung automatisch die Gefahr für und damit auch die Verletzung des Rechtsgutes als verboten erscheinen läßt, nicht als gravierend, da eine derartige Sichtweise mit allgemein anerkannten Grundsätzen kollidieren müßte: Wollte man den Täter für alle durch das Verhalten verursachten Gefahren und die aus diesen resultierenden Verletzungen verantwortlich machen, so müßte man doch auch in Fällen zur Zurechnung gelangen, in denen die Berücksichtigung des beschränkten Schutzzweckes der Sorgfaltspflicht dies eigentlich verbietet: Auch die von der Rechtsordnung gebilligte Gefahr für einen Fußgänger, bei unachtsamem Überqueren der Straße von einem an sich ordnungsgemäß fahrenden Wagen erfaßt zu werden, würde zur rechtlich mißbilligten Gefahr, wenn der Autofahrer die Fahrt mit defekten Brernsleuchten und insofern pflichtwidrig unternimmt. 213 Da das unvorhergesehene Auftauchen von Fußgängern auch nicht außerhalb jeder Vorhersehbarkeit liegt, 212 Küper a.a.O., S. 278 Cf.
213 Beispiel nach Niewenhuis, S. 3; vgl. auch oben A.I.1.b.
B. Die Risikoerböbungslehre
129
könnte der Fahrer in diesem Beispiel also wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung bestraft werden, wenn der entsprechende Unfall eintritt, obwohl der Defekt der Bremsleuchten dabei keine Rolle spielt. Einer Preisgabe der Prämisse, daß unerlaubtes Verhalten erlaubte Gefahren und Verletzungen nach sich ziehen kann, wäre also mit Recht der in anderen Zusammenbängen214 fehlgehende Vorwurf des "versari in re illicita" entgegenzuhalten. 215 Küpers Ansicht könnte jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt Bedenken erwecken: Kann der i.S. der Risikoerhöhungslehre ex post festgestellte Gefährdungserfolg tatsächlich als das fehlende Zwischenglied zwischen Handlung und Rechtsgutverletzung angesehen werden? Auch wenn es scheinbar unmittelbar einleuchtet, daß das Verhalten eine gefährliche Situation nach sich zieht, die dann ihrerseits in die Rechtsgutverletzung umschlägt und mithin ein Bindeglied darstellt, so muß doch untersucht werden, ob diese Vorstellung einer näheren Überprüfung allgemein216 und insbesondere auch bei Zugrundelegung des anband aller nachträglich bekanntgewordenen Fakten bestimmten Gefahrerfolges, wie er der Vorstellung der Risikoerhöhungslehre entspricht,217 standhält. Die Erörterung dieser Frage soll jedoch auf die abschließende Beurteilung der Risikoerhöhungslehre verschoben werden; zuvor werden die weiteren Bedenken und die durch diese ausgelösten Modifikationen jener Theorie behandelt.
IV. Die klassischen Kritikpunkte
1. Darstellung
Die Risikoerhöhungslehre ist heftiger Kritik seitens der Vertreter der Vermeidbarkeitstheorie ausgesetzt. Dabei stehen weniger die soeben skizzierten Bedenken gegen die unzureichende Begründung des Dogmas, ein hypothetisches rechtmäßiges Risiko könnte die Realisierung des verbotenen Risikos aus214 S.o. 2. Abschnitt B.Il.2.c. und 3. Abschnitt A.1.l.b. 215 Auch Küper a.a.O., S. 250 f., hat am Ausschluß der Zurechnung in solchen Fällen keinen Zweifel. 216 Vgl. Spendei, Stock-FS, S. 104 und Preuß, S. 115, nach denen jedem Erfolg eine Gefahr vorgelagert ist. 217 Vgl. die Forderung nach "uneingeschränkter Beurteilung ex post" (s. o. Fn. 185) mit der Konsequenz, daß die Zurechnung jedenfalls dann entfallen muß, wenn der Erfolg bei rmAV mit Sicberheit ausgeblieben wäre, vgl. Otto, Maurach-FS, S. 103; leseheck, Lebrb., S. 528; SK/Rudolphi vor § 1 Rdnr. 67; Wolter, S. 334; Küper, Lackner-FS, S. 283; Kahlo, GA 1987, 74. 9 Erb
130
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
schließen, im Vordergrund,218 als vielmehr zwei Haupteinwände aus der Perspektive der Vermeidbarkeitstheorie: Erstens liege ein Verstoß gegen den Grundsatz "in dubio pro reo" vor, weil prozessuale Unsicherheiten darüber, was bei rmAV tatsächlich geschehen wäre, zur Annahme einer Risikoerhöhung führen und sich damit zu Lasten des Angeklagten auswirken,219 zweitens knüpfe die Strafbarkeit im Ergebnis nicht mehr an die Rechtsgutverletzung an, Zurechnungsgrund werde vielmehr die Gefährdung des Rechtsgutes; damit liege aber eine unzulässige Verschiebung der Deliktsstruktur vor, indem aus Erfolgsdelikten konkrete Gefährdungsdelikte werden, bei denen das Erfolgserfordernis nur noch die Bedeutung einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit hat. 220
2. Gegeneinwände a) In dubio pro reo Nach der vorweggenommenen Gegenkritik von Roxin liegt eine Verletzung des in dubio-Satzes insofern nicht vor, als Grundlage der Zurechnung eben nicht die von der Tatsachenlage her unsichere Vermeidbarkeit des Erfolges ist, sondern die Risikolage als solche. Es bedarf also gar keines Beweises dessen, was geschehen wäre, so daß auch diesbezügliche Unklarheiten unschädlich sind. 221 Nun weist Burgstaller darauf hin, daß bereits der Umstand, daß überhaupt Risiken und damit tatsächliche Unsicherheiten Grundlage der Zurechnung sein sollen, mit "in dubio pro reo" kollidieren könnte; er tritt dieser Erwägung jedoch sogleich entgegen: Die Zugrundelegung des Risikoprinzips stelle eine "materielle Einsicht" dar, über deren Richtigkeit nicht unter Heranziehung prozessualer Grundsätze entschieden werden könne. 222 Vielmehr sei es eine rein normative Frage, ob eine Vorschrift in einem konkreten Fall schon dann nicht mehr als sinnvoll erscheint, wenn ihre Einhaltung möglicherweise ihren 218 Diese könnten in der Auseinandersetzung zwischen Vermeidbarkeits- und Risikoerhöhungstheorie auch kaum überzeugen, da erstere schließlich an denselben Mängeln leidet. 219 Vgl. Samson, Hyp. Kausalverläufe, S. 46 ff. und SK, Anh. § 16 Rdnr. 27a; Würfel, S. 129; Jakobs, Lehrb., S. 196; Schlüchter, JA 1984, 676; Niewenhuis, S. 44 C.; Baumann/Weber, S.273; Sch./Sch.ICramer § 15 Rdnr. 172; OLG Koblenz OLGSt § 222, S. 63 (67). 220 Vgl. Samson, Hyp. KausalverläuCe, S. 154 Cf. und SK, Anh. § 16 Rdnr. 27; Schlüchter a.3.0.; Niewenhuis, S. 44 f.; Baumann/Weber, S. 274; Bockelmann/Volk, S. 162; LKISchroeder, § 16 Rdnr. 190; OLG Koblenz a.a.O. 221 Roxin, ZStW 74 (1962), 433 f., ebenso Burgstaller, S. 143. 222 Burgstaller, S. 143 f.
B. Die Risikoerhöhungslehre
131
Zweck der Erfolgsverhinderung erreicht hätte, oder erst dann, wenn sie bereits zur Verminderung des Risikos untauglich war. 223 Besonders deutlich wird dieser Ansatz zur Überwindung des in dubio-Problems von Schünemann hervorgehoben, der die "naturalistische" durch eine "normative" Betrachtungsweise ersetzen will: Die Zurechnungs frage müsse danach entschieden werden, ob nach einem Vergleich der ex ante bestimmten und vom Täter verletzten Verhaltensnorm "mit den vor dem ex-post-Wissen standhaltenden Sorgfaltsmaßregeln" erstere noch als sinnvoll erscheine; es seien also "zwei auf unterschiedlicher Wissensbasis konstruierte Normen ... zueinander in Beziehung zu setzen."224 Gleichsam als Indiz für die Tragfähigkeit der Auffassung des Risikoerhöhungsgedankens als "normatives" Prinzip, das jenseits der Frage der Beweisbarkeit im Einzelfall steht, weisen die Vertreter der Risikoerhöhungslehre auch immer wieder darauf hin, daß die konsequente Anwendung dieses Prinzips durchaus Raum für die Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" läßt: Die Tatsachenbasis, aufgrund deren die Frage der Risikosteigerung zu beantworten ist, muß mit prozessualen Mitteln festgestellt werden, Unklarheiten hierbei, die dazu führen, daß nicht festgestellt werden kann, ob eine Risikosteigerung stattgefunden hat, müssen also zum Freispruch führen. 225 223 Vgl. Burgstaller, S. 138 f.; Maurach, AT, 4. Aufl., S. 541; Küper, Lackner-FS, S. 269 f.; trotz seines abweichenden Standpunktes in der Begr. ähnlich Lampe, ZStW 101 (1989),40 ff.: Das von ihm jenseits der Tatbestandsverwirklichung, in deren Rahmen nach seinem Konzept die rmAVFrage keine Rolle spielt, geforderte positive Rechtswidrigkeitsurteil basiere zwar auf einer Wahrscheinlichkeit..betrachtung, jedoch ermögliche das Abstellen auf den Wahrscheinlichkeitsgrad als relevantes Kriterium eine sichere normative Beurteilung der Tat. 224 Schünemann, JA 1975, 652; ebenso StrVert 1985, 231. Schroeder, LK, § 16 Rdnr. 190 sieht hierin eine "weitgehende Modifizierung der Risikoerhöhungslehre"; indes stehen die Ausführungen Schünemanns in diesem Zusammenhang nicht in Widerspruch zu Roxins Thesen, denn bei Schünemanns Methode bedarf es ja exakt des von Roxin geforderten Risikovergleichs, um die Frage der Zweckverfehlung der Norm zu beantworten. Schünemanns Sicht dürfte also eher eine Untermauerung von Roxins Lehre mit einem neuen argumentativen Ansatz denn eine Modifizierung derselben darstellen.
225 Vgl. Stratenwerth, Gallas-FS, S. 231 f.; Burgstaller, S. 144 f.; leseheck, Lehrb., S. 528 f.; Küper, Lackner-FS, S.283; Schünemann, StrVert 1985, 231; Arthur Kaufmann, Jescheck-FS, S. 280 ff.; SK/Rudolphi, vor § 1 Rdnr. 69; die bei den letzteren insofern ausdrücklich gegen Roxin, ZStW 74 (1962), 434, der dort die Auffassung vertritt, bei Zweifeln darüber, ob eine Risikoerhöhung stattgefunden hat, könne bestraft werden, weil "diese Fälle denen des erlaubten Risikos eben nicht gleich" stünden. Allerdings scheint dabei insofern ein Mißverständnis vorzuliegen, als Roxin a.a.O. ersichtlich nicht die Konstellation meint, in der die Feststellung der Risikoerhöhung an Mängeln der Tatsachenbasis scheitert, sondern den besonderen Fall, in dem der Stand der Wissenschaft nicht nur keine sicheren Vorhersagen, sondern nicht einmal Wahrscheinlichkeitsprognosen zuläßt. Stratenwerth a.a.o., S. 230 f., 235 f., unterscheidet diese Varianten ausdrücklich; er will auch in letzterer eine Verurteilung nur zulassen, wennfest..teht, daß eine Risikoerhöhung stattgefunden hat.
132
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
b) Die Beibehaltung der erfolgsorientierten Deliktsstruktur Gegen den Einwand der Umwandlung von Verletzungs- in Gefahrdungsdelikte wird schließlich vorgebracht, daß die Berücksichtigung der Gefährdung innerhalb eines Verletzungsdeliktes insofern keinen Fremdkörper darstelle, als eine Verletzung überhaupt nur über die Vorstufe einer Gefährdung zustandekommen kann. Insofern wirken auch die Verletzungsdelikte letzIich über die Aufstellung von Gefährdungsverboten, so daß die Haftung für die Verletzung durch die Haftung für die Gefahr, aus der sie sich entwickelt hat, "vermittelt" ist. 226
3. Stellungnahme a) Keine Umwandlung der Deliktsstruktur Rudo/phi ist darin zuzustimmen, daß eine Umwandlung der Erfolgs- in Gefährdungsdelikte jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn die Risikoerhöhung gerade deIjenige Faktor ist, der den erforderlichen Zusammenhang zwischen Handlungsunwert und Erfolg herstellt. Wir wollten zwar die Annahme, daß dies der Fall ist, noch einer kritischen Überprüfung unterziehen, jedoch können wir dem Einwand der Umwandlung der Erfolgs- in Gefährdungsdelikte schon jetzt begegnen. Zunächst ist nämlich festzuhalten, daß das Erfordernis der Kausalität zwischen Tathandlung und Rechtsgutverletzung als Grundlage der Zurechnung auch nach der Risikoerhöhungslehre erhalten bleibt. 227 Welche Beziehung zwischen Handlung und Erfolg darüberhinaus noch erforderlich ist, ist nicht vorgegeben, sondern gerade die bei der Diskussion des RWZ zu beantwortende Frage. Der Vorwurf der Verschiebung der Deliktsstruktur setzt aber voraus, daß die Antwort bereits gegeben ist, und zwar im Sinne der Vermeidbarkeitstheorie: Nur wenn es zur Begründung des vollständigen Erfolgsunrechts gerade des Nachweises der Vermeidbarkeit der Rechtsgutverletzung bedarf, läßt sich sagen, daß eine auf ein anderes Kriterium abstellende Zurechnungslehre der Funktion des Erfolges nicht hinreichend Rechnung trägt. Wenn der Umwandlungs-Einwand aber gerade von der Anerkennung der Zentralthese der Ver226 SKIRudolphi, vor § 1 Rdnr. 70; ähnl. schon Stratenwerth, Gallas.FS, S. 238; ausführlich und unter Betonung des Charakters der Risikoerhöhung als Vorstufe der Rechtsgutverletzung Küper, Lackner-FS, S. 274 ff. 227 Das betont Küper, Lackner-FS, S. 285; es seien insofern "zumindest wesentliche Elemente eines 'Verletzungsdelikts' gegeben".
B. Die Risikoerhöhungslehre
133
meidbarkeitstheorie abhängt, so kann er der Risikoerhöhungslehre, die diese gerade grundsätzlich in Frage stellt, nicht entgegengehalten werden. 228 Da wir die Vermeidbarkeitstheorie ebenfalls abgelehnt und den Schluß gezogen haben, daß der RWZ gerade durch ein anderes Merkmal als das Ausbleiben des Erfolges bei rmAV begründet werden muß, können wir den Vorwurf, die Risikoerhöhungslehre verwandele Erfolgs- in Gefahrdungsdelikte, somit als gegenstandslos betrachten.
b) In dubio pro reo Vordergründig wirkt auch der Gegeneinwand der Risikoerhöhungslehre schlüssig, wonach die Frage, welche Tatsachen als Deliktsvoraussetzung erforderlich sind, damit des Beweises bedürfen und überhaupt erst insoweit bei Unklarheiten Raum für "in dubio pro reo" eröffnen, normativer Natur ist. Wenn es um die von Beweisfragen unabhängige Auslegung der entsprechenden Straftatbestände geht und man eine Auslegung wählt, nach der es für die Strafbarkeit auf die Schaffung oder Erhöhung einer Gefahr entscheidend ankommt, wäre somit nichts dagegen einzuwenden, nur deren Vorliegen und nicht die Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit eines Erfolges zum Beweisgegenstand zu machen. So setzt ja z.B. auch der Tatbestand der konkreten Gefahrdungsdelikte den im Einzelfall festzustellenden Eintritt einer Gefahr voraus 229 und nicht etwa die Feststellung eines tatsächlichen oder hypothetischen Erfolgseintritts. 230 Gleichwohl ergeben sich Bedenken.
aa) Die Einheitlichkeit der Rechtsauslegung Wenn wir es tatsächlich mit einer Auslegung zu tun haben, so müßte diese unabhängig vom Einzelfall gelten: Schon der Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs.l Grundgesetz gebietet die einheitliche Anwendung des Rechts. Wenn man die Risikoerhöhungslehre beim Wort nimmt und das Abstellen auf die Ge228 Insofern bezeichnet SchünemQll1l, StVert 1985, 230, den Vorwurf der unzulässigen Umwandlung der Deliktsstruktur zu recht als petitio principii. 229 Vgl. Jescheck, Lehrb., S. 237. 230 Allerdings kommt es bei diesen Delikten eben nur auf die Feststellung der Gefährdung an. Jedoch kann der Umstand, daß wir es in unserem Problemkreis neben einer Gefahrschaffung auch noch mit einern Erfolg zu tun haben, hinsichtlich der Beurteilung der Gefahr keine strengeren Maßstäbe hinsichtlich des Satzes "in dubio pro reo" rechtfertigen.
134
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
fahrerhöhung als Auslegung der Fahrlässigkeitstatbestände ansieht, so ergeben sich Bedenken, ob dieser Anforderung Genüge getan ist. Das würde nämlich voraussetzen, daß die Gefahrurteile, aus deren Vergleich auf das Vorliegen einer Risikoerhöhung geschlossen wird, immer nach den gleichen Grundsätzen bestimmt werden. Genau das ist aber nicht der Fall, wenn man getreu der Aufforderung zu "uneingeschränkter ex post-Betrachtung" immer einfach alle Tatsachen verwertet, die hinsichtlich des hypothetischen Verlaufs bekanntgeworden sind. Bei einem gut aufgeklärten Sachverhalt wären für das hypothetische Gefahrurteil nämlich viele Tatsachen zu verwerten, bei dürftiger Beweislage dagegen nur wenige. In im übrigen identischen Fällen könnte das Gefahrurteil also unterschiedlich konkret ausfallen, was hinsichtlich des Ergebnisses gravierende Konsequenzen nach sich ziehen kann: 231 Es sei das Modell eines rrnAVFalles betrachtet, bei dem zum Sicherheitsurteil232 der Nachweis der Tatsachen Xl bis x5 erforderlich ist. 233 Wir wollen das Beispiel so wählen, daß die Tatsachen Xl und x2 nachgewiesen wurden, bei den übrigen soll der Nachweis nicht geglückt und der Sachverständige nur zu der Aussage in der Lage sein, sie hätten nach den Umständen jeweils mit dem Wahrscheinlichkeitsgrad 0,5 vorgelegen. Damit betrug die Gefahr des Erfolgseintrittes bei rmAV 0,53, also 0,125. Gelingt dagegen der Nachweis, daß die Tatsache x3 ebenfalls vorlag, so beträgt der Gefahrengrad schon 0,5 2, also 0,25. Fehlt es nur am Beweis der letzten Tatsache, so liegt er bei 0,5. Wir haben es also in der Tat je nach Ergiebigkeit des Beweismaterials mit unterschiedlichen Gefahrurteilen zu tun, obwohl die materielle Situation doch in allen Varianten identisch ist. Besonders kraß erscheint die Konsequenz in Sonderfällen, in denen feststellbar ist, daß der Erfolg auch bei rrnAV mit Sicherheit eingetreten wäre: Hier führt die Diagnose einer 100 %igen Wahrscheinlichkeit sogar dazu, daß eigentlich nicht mehr von einem Wahrscheinlichkeits-, sondern von einem Sicherheitsurteil gesprochen werden muß, so daß wir durch das Abstellen auf dieses Sicherheitsurteil den Fall de facto nach der Vermeidbarkeitstheorie lösen würden. Es zeigt sich also, daß das 231 Auf die Änderung des Wahrscheinlichkeitsgrades je nach Umfang der einbezogenen Tatsachen weist bereits Puppe, ZStW 95 (1983),302, hin. Auch Bassenge, S. 3D, sieht stets den Umfang der ermittelten Tatsachenbasis als entscheidend dafür an, ob und wenn ja mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad ein Möglichkeitsurteil getroffen werden kann. 232 Also zur Verifizierung der Behauptung, der Erfolg wäre definitiv auch bei rmAV eingetreten. 233 Die Tatsachen sollen als Variabeln für Sachverhaltsumstände stehen, wie etwa in einem Fall aus dem Straßenverkehrsrecht die genaue Geschwindigkeit, das exakte Reaktioosvermögen von Täter und Opfer, Nässegrad der Straße, Licht- und Windverhältnisse elc.; im Arztrecht kämen etwa Stabilität des Kreislaufs, Zustand des Immunsystems, Anzahl der Bakterien und ihr Resistenzgrad gegen ein bestimmtes Antibiotikum in Betracht.
B. Die Risikoerhöhungslebre
135
angeblich rein materiellrechtJiche Gefahrurteil nach der prozessualen Lage schwankt, und nicht nur das, es wird darüberhinaus für den Angeklagten umso nachteiliger, je dürftiger die Beweislage ist. Damit haben wir es mit dem zu tun, was Samson treffend "materielle Einkleidung des 'in dubio contra reum'" bezeichnet. 234 Daß ein derartiges Vorgehen unzulässig ist, dürfte evident sein.
bb) Die zu beweisende Tatsachenbasis des Gefahrurteils Nun unterscheiden die Vertreter der Risikoerhöhungslehre vielfach zwischen der mit prozessualen Mitteln festzustellenden Tatsachenbasis, bei deren Fehlen "in dubio pro reo" freizusprechen ist, und dem auf dieser Basis aufbauenden Gefahrurteil.235 Das mag dazu führen, daß evident untragbare Ergebnisse vermieden werden, indem bei einem non liquet hinsichtlich grundsätzlich leicht aufklärbarer Fakten236 diese nicht einfach mit einer nach der Lebenserfahrung bestimmten Wahrscheinlichkeit in die Risikobetrachtung integriert werden, sondern immerhin insoweit eine Unterstellung zugunsten des Angeklagten erfOlgt. Soll diese Differenzierung aber nicht willkürlich, sondern nach einem dogmatisch greifbaren Kriterium erfolgen, dann muß, worauf Samson 237 wiederum hinweist, eine abstrakte Bestimmung des Umfangs der erforderlichen Tatsachenbasis erfolgen. Das jedoch ist gerade nicht der Fall, weil man nicht nur kein entsprechendes Kriterium nennt, sondern darüberhinaus bereit ist, die Tatsachenbasis nach Belieben bzw. nach der prozessualen Lage bis hin zum Sicherheitsurteil auszuweiten, wenn über die im Regelfall aufklärbaren Tatsachen hinaus im Einzelfall weitere Umstände bekanntgeworden sind,238 aus denen sich eine veränderte Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintrittes bei rmA V oder sogar die Unvermeidbarkeit des Erfolges ableiten läßt. Nun scheint teilweise die Vorstellung zu bestehen, diese Ausweitung der zu berücksichtigenden Tatsachen könne deswegen nicht so problematisch sein, weil sie gegenüber der die Strafwürdigkeit schon begründenden Situation in anderen Fällen ja nur den Täter begünstigt, hinsichtlich dessen Tat der Nachweis der Unvermeidbarkeit des
234 SK/Samson, Anh. zu § 16 Rdnr. 27a. 235 VgI. o. 2.a. 236 Etwa der Frage, ob die Bremsen des Fahrzeugs intakt waren, die nur deshalb nicht beantwortet werden kann, weil der Wagen aus Versehen sofort verschrottet wurde. 237 Aa.O. und Welzel-PS, S. 593 Fn. 68. 238 Deren Vernachlässigung würde ja dem Erfordernis "uneingeschränkter ex post-Betrachtung" zuwiderlaufen.
136
3. Abschnitt: Die Zurecbnung des Erfolges
Erfolges glückt. 239 Indes wäre eine Begünstigung des einen zugleich eine Benachteiligung der anderen, die weniger Glück bei der Beweisführung haben; außerdem dürfte es kaum Aufgabe des Grundsatzes "in dubio pro reo" sein, bis zu einer gewissen Schwelle dem Straftäter etwas "gutzubringen" und jenseits dieser zurückzutreten. Seine Funktion kann vielmehr nur darin liegen, dem Täter generell nachteilige Folgen eines non liquet im Vergleich zu besser aufgeklärten Sachverhalten zu ersparen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er dies "verdient" oder nicht. Ohne eine von den Erkenntnissen des Einzelfalles unabhängige Festiegung, auf welcher Basis das Gefahrurteil zu erfolgen hat, kann der Risikoerhöhungslehre folglich der Vorwurf des Verstoßes gegen "in dubio pro reo" nicht erspart bleiben.
ce) Weitere Ungereimtheiten des Risikovergieichs Bevor wir eine Modifikation der Risikoerhöhungslehre untersuchen, welche die Lösung des "in dubio"-Problerns voranbringen könnte, sei noch auf eine weitere Ungereimtheit im Zusammenhang mit der Festiegung der für den Risikovergleich relevanten Tasachenbasis hingewiesen. Wenn ein Risikovergleich stattfinden soll, so setzt dieser nämlich zwei Gefahrurteile voraus. Das bedeutet, daß sich die Frage nach der Höhe der Gefahr und damit nach der Tatsachenbasis nicht nur für den hypothetischen, sondern auch für den realen Sachverhalt stellt. Wenn man die Tatsachenbasis des hypothetischen Risikos nicht abstrakt festlegen kann, so ergibt sich für die der realen Gefahrschaffung folgendes: (1) Die uneingeschränkte ex post-Betrachtung Übernimmt man die für das hypothetische Gefahrurteil verlangte "uneingeschränkte ex post-Betrachtung" unter Einschluß der Bereitschaft, bei erwiesener Unvermeidbarkeit des Erfolges eine 100%ige Wahrscheinlichkeit anzunehmen, so hat das unweigerlich zur Folge, daß das real geschaffene Risiko immer 100 % beträgt, denn der reale Erfolgseintrittsteht ja fest. Demnach wäre zur
239 Deutlicb wird das etwa bei der Bemerkung Kü~rs. Lackoer-FS. S. 287. schließlicb werde "einem fabrlässig bandeinden Tater ohnehin scbon 'viel gutgebracbt' .... wenn man ibm - sogar in Zweifelsfallen - einen 'erlaubten Risikoerfolg' trolZ gegebener Sorgfaltswidrigkeit. adäquater Scbadensverursacbung und Gefabrrealisierung 'isoliert' positiv anrechnet". Küper hält es für fragwürdig, ibm dann aucb nocb die "Restzweifel" hinsichtlicb der Vermeidbarkeit des Erfolges bei rmAV zugute zu balten.
B. Die Risikoerböbungslehre
137
Verneinung einer Risikoerhöhung im Vergleich zur hypothetischen Gefahr der Beweis erforderlich, daß rmAV mit Sicherheit ebenfalls zum Erfolgseintritt geführt hätte (nur dann würde auch das hypothetische Risiko 100% betragen und eine Risikoerhöhung wäre zu verneinen). Damit wären wir im Ergebnis bei der als untragbar abgelehnten älteren Rechtsprechung angelangt, die der Unvermeidbarkeit des Erfolges bei rmAV entlastende Wirkung beimißt, aber nur im Falle ihres Nachweises. 240 Für die übrigen Fälle, in denen das hypothetische Gefahrurteil im Gegensatz zum realen nicht von einer eine sichere Prognose zulassenden Tatsachenbasis aus gefallt werden kann, wäre ein derartiges Vorgehen aber auch methodisch unzulässig, denn ein Vergleich zweier Gefahrurteile setzt ja deren Vergleichbarkeit voraus. Diese ist aber, worauf Rudolphi mit Recht hinweist,241 nur gegeben, wenn sie auf die gleiche Weise, also insbesondere ausgehend von der gleichen Tatsachenbasis ermittelt wurden, denn es wäre ja sinnlos, zur Feststellung eines Risikovergleichs ein Sicherheits- (und damit Kausal-) mit einem unsicheren und damit echten Wahrscheinlichkeitsurteil zu vergleichen.
(2) Die Anpassung der Tatsachenbasis an die des hypothetischen Urteils Deshalb wäre es erforderlich, die beiden Gefahrurteile auf die gleiche Weise zu ermitteln, also insbesondere von der gleichen Tatsachenbasis auszugehen. 242 Da die Tatsachenbasis des hypothetischen Gefahrurteils243 durch die "uneingeschränkte ex post-Betrachtung" aber je nach Aufklärbarkeit des Sachverhaltes variiert, müßten folglich die in das reale Gefahrurteil einzustellenden Tatsachen ebenfalls von Fall zu Fall einen unterschiedlichen Umfang annehmen, um die notwendige "Anpassung" zu bewerkstelligen. Die Urteilsbasis müßte also auf die Tatsachen des realen Sachverhaltes beschränkt werden, deren hypothetische Vergleichstatsachenjeweils nachgewiesen wurden, während vom Vorliegen der
240 Vgl. o. A.II.3.a. 241 Ausdrücklich in SK, vor § 1 Rdnr.69. 242 So Rudolphi a.a.O. 243 Der FalI, daß das Gefahrurteil für den talSächlichen Verlauf daran scheitert, daß wegen Un-
klarheiten im wirklichen Kausalverlauf einzelne reale Tatsachen nicht bekannt sind, müßte in dubio pro reo zum Freispruch führen (vgl. Burgstaller, S. 144 f.). Jedoch dürfte es praktisch kaum denkbar sein, daß Fakten, die hinsichtlich des hypothetischen Verlaufs festgestelIt werden können, hinsichtlich des realen Verlaufs ungeklärt bleiben: Wenn schon das reale Vorliegen eines Umstandes nicht geklärt werden kann, so wird es fast immer erst recht unmöglich sein, die Frage nach seinem hypothetischen Eintritt zu beantworten.
138
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
übrigen Fakten zu "abstrahieren" wäre.244 Auf dieser Grundlage der zu berücksichtigenden Tatsachen hätte dann unter Zugrundelegung des rechtswidrigen Täterverhaltens eine Wahrscheinlichkeitsbestimmung für die zur Kausalerklärung fehlenden Tatsachen und damit für den (in Wirklichkeit ja definitiv eingetretenen) Erfolg stattzufinden. Damit erst wäre die Vergleichsbasis für das auf das rmA V bezogene Gefahrurteil geschaffen. Jedoch wäre das mit der Konsequenz verbunden, daß nicht nur das hypothetische, sondern auch das reale Gefahrurteil in Abhängigkeit von der prozessualen Lage auf unterschiedliche Weise gefällt werden müßte und in Einzelfällen (bei restloser Aufklärung auch des gedachten Verlaufs) auch einmal ein Sicherheitsurteil sein dürfte. Auch hier könnte also von einheitlicher Anwendung der angeblichen Normauslegung, wonach der Vergleich von bestimmten Gefahrsachverhalten über die Zurechnung entscheiden soll, keine Rede sein.
V. Differenzierung nach prinzipieller Aufldärbarkeit der Tatsachen
1. Darstellung
Die Probleme, die sich im Rahmen der Risikoerhöhungslehre im Hinblick auf den Grundsatz "in dubio pro reo" ergeben, sucht man zum Teil dadurch zu bewältigen, daß man ihre Anwendung auf Fälle beschränkt, in denen es angeblich theoretisch gar nicht möglich ist, ein (hypothetisches) Kausalurteil zu treffen, so daß die Zurechnung überhaupt nur nach einem Wahrscheinlichkeitsurteil erfolgen kann. Diese Beschränkung der Risikoerhöhungslehre auf nicht determinierte Verläufe findet sich erstmals bei Kahrs;245 sie liegt insbesondere 244 Daher führt es auch nicht weiter, mit Burgstaller (S. 144 f.) zur Wahrung des in dubio-Satzes vollständige Aufklärung der real gegebenen Tatsachen zu verlangen, da diese eben gar nicht alle in das Gefahrurteil eingehen können: Auf der Grundlage der vollständig aufgeklärten realen Tatsachenbasis würde man nicht mehr zu einem Wahrscheinlichkeits-, sondern wiederum zu einem Kausalurteil gelangen. Dann müßte man zur Wahrung der Vergleichbarkeit aber auch im hypothetischen Bereich ein (hypothetisches) Kausalurteil verlangen. Die umfassende Verwertung der realen Tatsachen mag daher zwar einen Verstoß gegen "in dubio pro reo" vermeiden, würde aber im Ergebnis zur Vermeidbarkeitstheorie führen, wie KrÜlnpelmann (GA 1984, 496 f.) zutreffend bemerkt. Dieses Dilemma läßt sich entgegen Burgstaller auch nicht durch die Heranziehung der Unterscheidung nach prinzipiell aufklärbaren bzw. unaufklärbaren Tatsachen (vg!. u. V.) vermeiden: Unsicherheiten hinsichtlich letzterer führen zwar dazu, daß nicht gesagt werden kann, ob der hypothetische Erfolg eingetreten wäre, jedoch wird die Unsicherheit nicht erst durch den Übergang vom tatsächlichen Sachverhalt zur Hypothese hervorgerufen, sondern liegt Ld.R. bereits in der Komplexität des realen Sachverhaltes begründet (KrÜlnpelmann a.a.O., S. 497). 245 Vermeidbarkeitsprinzip, S. 48 ff.; Kahrs will die Unterscheidung auch für das Zivilrecht
B. Die Risikoerhöhungslehre
139
den Zurechnungs konzepten von Stratenwerth246 und Puppe247 zugrunde.248 Die wohl detaillierteste Darlegung des Gedankens findet sich bei Puppe, die von der Erwägung ausgeht, daß eine Kausalerklärung nur bei "strikten Gesetzen" möglich ist, d.h. bei solchen, die besagen, daß aus einem bestimmten Ursachenkomplex zwingend ein bestimmter Erfolg hervorgeht. 249 An solchen fehle es aber außer im mikrophysikalischen Bereich vor allem da, wo menschliche Entscheidungen und menschliches Verhalten zur Debatte stehen. In vielen Fällen bereite das insofern keine praktische Schwierigkeit, als sich ex post zeigt, wie der Betroffene entscheidet; das Verhalten werde dann "einfach in die Kausalerklärung einbezogen, ohne es selbst weiter zu erklären."25Q Allerdings sei bereits in diesen Fällen ein theoretischer Unterschied zwischen determinierten und nicht determinierten Prozessen erkennbar: Bei letzteren habe die Unterscheidung der Betrachtung ex ante und ex post einen Sinn, da ex ante der Ausgang wirklich unsicher war, bei ersteren dagegen sei diese sinnlos, da objektiv der Ausgang des Geschehens von Anfang an feststeht, Prognose ex ante und Erklärung ex post also identisch sind.251 Scheitern müsse die Erklärung eines Verlaufs unter Einbeziehung nicht determinierter Fakten jedoch dann, wenn keine nachträgliche Erklärung in Betracht kommt, nämlich wenn wir es mit hypothetischen Verläufen zu tun haben. 252 Dann bleibe nichts anderes übrig als "die Anwendung von Wahrscheinlichkeitsaussagen";2S3 eine Kollision mit "in dubio pro reo" sei ausgeschlossen, weil es sinnlos sei, einen schon theoretisch unmöglichen Nachweis zu verlangen. Bedenken äußert Puppe für die Fälle, in denen zwar theoretisch naturgesetzlich determinierte Prozesse vorliegen, ein Nachweis praktisch aber nicht denkbar ist, tendiert aber auch hier zu einer Zurechnung nach Wahrscheinlichkeit.2S4 Für nicht mehr tragbar hält sie dagegen
fruchtbar machen, indem er im nicht determinierten Bereich eine Schadensteilung nach der Höhe der vereitelten Chance befürwortet, nicht dagegen im kausal gebundenen Bereich, da die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts keine materielle Zurechnung begründen könne, vgl. Kausalität, S. 24 ff.
246 Gallas-PS, S. 231; deutlicher AT, S. 87. 247 ZStW 95 (1983), 293 ff. 248 Zustimmend äußerten sich ferner Walder, SchwZStrR 93 (1977), 160; Wolter, S. 339; KoMo, GA 1987, 77. 249 Aa.O., S. 293. 250 Aa.O., S. 294. 251 Aa.O., S. 295. 252 Vgl. Puppe a.a.O., S. 295 f. 253 Aa.O., S. 299. 254 Puppe, ZStW 95 (1983), S. 301 ff.
140
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung dort, wo die "prinzipielle Unmöglichkeit" lediglich aus der Begrenztheit der prozessualen Mittel folgt. 255
2. Kritik
Ungeachtet des alten Streits, ob das menschliche Verhalten determiniert oder frei ist, ist Kahrs, Stratenwerth und Puppe jedenfalls zuzugeben, daß es Situationen gibt - und der Ausgang menschlicher Entscheidungen wird im Regelfall sicherlich dazugehören -, in denen eine auf ein Sicherheitsurteil gerichtete Prognose faktisch undenkbar ist. Damit steht aber die Gangbarkeit des vorgeschlagenen Weges noch nicht fest.
a) Theoretische Überzeugungskraft Bedenken ergeben sich schon, wenn man die Frage nach einer dogmatisch tragfahigen Begründung dieser Differenzierung stellt. So wird zwar untersucht, wie die "Erfolgserklärung durch Wahrscheinlichkeitsregeln" erfolgen soll,256 dagegen fehlt der Nachweis, warum der Beweis der Unvermeidbarkeit einmal notwendig sein soll und einmal nicht. 257 Denn selbst wenn zwei grundverschiedene Arten von Tatsachen bzw. Geschehensabläufen vorliegen sollten, so müßte in diesem Unterschied zugleich die sachliche Rechtfertigung einer derartigen Ungleichbehandlung258 liegen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen besteht aber nur darin, daß der Beweis der Vermeidbarkeit des Erfolges einmal (theoretisch) geführt werden kann und einmal nicht. Wenn man nun im determinierten Bereich der Vermeidbarkeitstheorie folgt, so erkennt man grundsätzlich an, daß eine Verurteilung jenen Nachweis erfordert. Wenn dieser im nicht determinierten Bereich unmöglich ist, so mag zwar einerseits ein erhöhter Bedarf für den Übergang zum Risikoerhöhungsprinzip bestehen, und andererseits könnten vielleicht die Bedenken gegen "in dubio pro reo" 255 Aa.O, S. 303 ff. 256 Vgl. Puppe, ZStW 95 (1983), 305 ff. 257 Vgl. auch Jakobs, Lehrb., S. 196.
258 Man bedenke, daß man einmal die Vermeidbarkeitstheorie und einmal die Risikoerhöhungslehre verwendet, also zwei gegensätzliche Lösungsmodelle nebeneinander. Vgl. dazu auch Horn, S. 111 f., der in anderem Zusammenhang Konsequenzen aus prinzipieller Unaufklärbarkeit eines Sachverhalts nur zulassen will, wenn dies durch eine theoretische Begründung gerechtfertig erscheint (s.u. C.II.2.d.dd.).
B. Die Risikoerhöhungslebre
141
übelWunden werden. Jedoch ist es bei grundsätzlicher Anerkennung des Vermeidbarkeitserfordernisses nicht zulässig, aus der Unmöglichkeit des Nachweises den Schluß auf seine Entbehrlichkeit zu ziehen: Wenn man grundsätzlich den Vermeidbarkeitsnachweis verlangt und Ausnahmen nicht dogmatisch zu begründen vermag, so müßte die Konsequenz eben lauten, bei prinzipieller Unaufklärbarkeit von prinzipieller Unanwendbarkeit der Erfolgstatbestände auszugehen. Einzig die Untragbarkeit dieses Ergebnisses dürfte es sein, die hier zur Übernahme der Risikoerhöhungslehre veranlaßt. Selbst wenn dies ohne Verstoß gegen "in dubio pro reo" möglich sein sollte, so müßte das angesichts der unzureichenden Begründungen ohnehin schwache dogmatische Fundament bei der Theorien (s.o. A.1. und B.III.) jeweils noch zusätzlich an Überzeugungskraft verlieren, wenn man sie ungeachtet ihrer Gegensätze je nach Bedarf bei einer Gratwanderung zwischen "in dubio pro reo" und kriminalpolitisch unerträglichen Ergebnissen nebeneinander velWendet. 259 b) Bewältigung des in dubio-Problems? Daneben erscheint aber auch die Erreichung des Ziels, also die Einhaltung des in dubio-Satzes, keineswegs gesichert. Wie wir oben unter IV.3.b. gesehen haben, ist ein Verstoß gegen "in dubio pro reo" nur dann zu vermeiden, wenn abstrakt (d.h. völlig unabhängig von der Aufklärbarkeit im Einzelfall) feststeht, welche Tatsachen in das Gefahrurteil einbezogen werden können, und welche als prinzipiell aufklärbar zur Gewißheit feststehen müssen. 260 Samson hält eine Unterscheidung nach prinzipiell aufklärbaren bzw. unaufklärbaren Umständen für "wohl prinzipiell unmöglich. "261 Hierfür spricht die Beobachtung, daß offenbar auch im Bereich angeblicher prinzipieller Unaufklärbarkeit (wenngleich seltene) Fälle auftreten, in denen doch einmal ein Sicherheitsurteil möglich ist. Das gilt schon im Hinblick auf die menschlichen Entscheidungen, die doch den Kernbereich der "prinzipiellen" NichtfeststeIlbarkeit darstellen sollen: In den meisten Fällen werden hier zwar in der Tat keine sicheren Prognosen möglich 259 Diese Gefahr nennt auch Schünemann, StrVert 1985, 230; er sieht in der Differenzierung nach der Aufklärbarkeit der Tatsachen keine "Rettung der Risikoerhöhungslehre" (die er durch eine "Profilierung des normativen Grundcharakters" derselben leisten will), sondern "ihre Kompromittierung durch naturalistische Versatzstücke." Gleichwohl bat er keine Bedenken, die Grenze des prozessualen Aufklärungserfordernisses bei "genereller Unaufklärbarkeit nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft" zu ziehen, a.a.O., S. 231. 260 So auch SKISamson, Anh. § 16 Rdm. 27a. 261 Welzel-PS, S. 593 Pn. 68 und SI(, Anb. zu § 16 Rdnr 27a.
142
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
sein, aber in Einzelfällen läßt sich anhand der Gegebenheiten praktisch sicher vorhersagen, wie sich der Betreffende verhalten wird.262 Erst recht sind in theoretisch determinierten, aber aufgrund ihrer Komplexität als "prinzipiell unaufklärbar" eingestuften Sachverhalten Sonderkonstellationen denkbar, in denen durch Zufall ein Sicherheitsurteil möglich ist.263 Damit stehen wir auch im angeblich prinzipiell unaufklärbaren Bereich wieder vor der Schwierigkeit, daß bei ansonsten gleichem Sachverhalt je nach Beweislage einmal angesichts vorhandener Risikoerhöhung eine Verurteilung möglich ist und im anderen Fall ausnahmsweise der Nachweis der Unvermeidbarkeit erfolgt und damit nach der Prämisse der "uneingeschränkten ex post-Betrachtung" ein Freispruch erfolgen müßte. Es findet also lediglich eine quantitative Verschiebung statt (indem der Nachweis der Unvermeidbarkeit seltener gelingt), während an dem unannehmbaren Zustand, daß theoretisch eine Entlastungsmöglichkeit besteht, für man dem Angeklagten aber die Beweislast auferlegt, nichts geändert wird. Auch durch eine Beschränkung der Risikoerhöhungslehre auf "prinzipiell unaufidärbare" Geschehensabläufe können damit die Bedenken nicht entkräftet werden.
VI. Die Ungeeignetheit des ex post-Risikoerhöhungserfolges als Zurechnungs kriterium
Wir hatten oben III.3.c. festgestellt, daß die Erwägung, die Gefahrerhöhung stelle als Vorstufe des Erfolges das Bindeglied zwischen pflichtwidriger Handlung und Erfolg dar (bei dessen Fehlen eine Zurechnung demnach nicht in Betracht kommen würde), im Grundsatz überzeugender ist als die übrigen Begründungsansätze von Risikoerhöhungslehie und Verrneidbarkeitstheorie. Wirklich schlüssig ist diese Überlegung aber nur, wenn der ex post festzustellende Risikoerhöhungserfolg tatsächlich jenes Bindeglied darstellt. Die noch ausstehende Antwort auf die Frage, ob dies der Fall ist, soll im folgenden gegeben werden, wobei die Feststellungen, aus denen sich die Unausweichlichkeit 262 Krümpelmann, GA 1984, 500, mit überzeugenden Beispielen. 263 Krümpelmann a.a.O., S. 501. AIs Beispiele (nach Krümpelmann) sind etwa der Fall zu nen· nen, in dem ein zufallig im Fahrzeug eingebauter Fahrtenschreiber sonst unaufklärbare Umstände (etwa die ganz exakte Geschwindigkeit vor dem Unfall) an den Tag bringt, oder der scheinbar unerklärliche Zusammensturz eines Hauses, der auf einmal durch das Auftauchen eines vorher angefertigten statischen Gutachtens exakt begründet werden kann (was dann vielleicht denjenigen entlastet, der ohne diesen außergewöhnlichen Umstand für die angebliche Erhöhung des Einsturzrisikos hätte geradestehen müssen).
B. Die Risikoerhöhungslehre
143
des Verstoßes gegen "in dubio pro reo" ergeben hat, auch hier entscheidende Bedeutung erlangen.
1. Sicherheits- und Wahrscheinlichkeitsurteil als unterschiedliche Betrachtungsweisen der gleichen Situation
Wenn sich das Abstellen auf die Risikoerhöhung als unzulässig erweist, weil diese in Wirklichkeit nur das Produkt einer Vernachlässigung der zum Sicherheitsurteil führenden Tatsachen darstellt, dann spricht das dafür, daß sie auch nicht das fehlende Bindeglied zwischen Handlung und Rechtsgutverletzung darstellen kann: Den Risikoerfolg als Vorstufe der Rechtsgutverletzung zu betrachten ist nur dann sinnvoll, wenn er sich materiell von dieser unterscheidet, denn wie sollte von zwei identischen Sachverhalten einer die Vorstufe des anderen bilden? Wenn man nun durch die Einbeziehung aller ex post erkennbaren Umstände ein Wahrscheinlichkeitsurteil bildet, das sich vom Sicherheitsurteil nur dadurch unterscheidet, daß man die für letzteres erforderliche Tatsachenkenntnis nicht erlangen kann, so beziehen sich beide Urteile auf die gleiche materielle Situation. Die "Risikoerhöhung" ist also kein Vergleich von Vorstufen der Rechtsgutverletzung, die als Verbindungsglied zur Handlung dienen könnten, sondern nur eine veränderte Betrachtungsweise der Lage, die sich bei günstigeren Beweismöglichkeiten als Vergleich zwischen dem realen und dem hypothetischen Ausgang des Geschehens darstellen würde, d.h. als Vermeidbarkeit bzw. Unvermeidbarkeit der Rechtsgutverletzung. Folglich kann das Argument der Herstellung der Verbindung zwischen ptlichtwidrigem Verhalten und Verletzungserfolg die Risikoerhöhungslehre in ihrer gegenwärtigen Form nicht stützen.
2. Keine Abhilfe durch Beschränkung auf nicht determinierte Abläufe
Nun könnten sich die Dinge unter Berücksichtigung der unter V. dargestellten Differenzierung zwischen prinzipiell autKlärbaren bzw. nicht aufklärbaren Verläufen anders darstellen: Bei einem nicht determinierten Geschehen ließe sichja sagen, daß sich im zeitlichen Ablauf objektiv die Dinge entscheiden,264
264 Daher der Schluß von Puppe, ZStW 95 (1983), 295, hier sei im Gegensatz zum determinierten Geschehen eine objektive Unterscheidung zwischen ex ante und ex post sinnvoll.
144
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
so daß die frühere Situation tatsächlich als Vorstufe der späteren angesehen werden kann. Allerdings würde das voraussetzen, daß man wirklich von der früheren Situation ausgeht, also eine ex ante-Betrachtung vornimmt: Versucht man getreu der Risikoerhöhungslehre auch hier, ein ex post-Urteil zu treffen, so kann dieses zwar in der Regel 265 ebenfalls nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil sein. Daß dieses jedoch nicht das Bindeglied zwischen Verhalten und Erfolg repräsentiert, zeigt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, warum wir kein Sicherheitsurteil erlangen können: Der Grund dafür liegt nicht darin, daß wir von einer Situation ausgehen, in der offen ist, wie die weitere Entwicklung aussehen wird, sondern darin, daß im ex post betrachteten hypothetischen Verlauf die nicht determinierte Entscheidung durchaus der Vergangenheit angehört und damit als theoretisch gefallen betrachtet werden muß, wir aber nicht bestimmen können, wie sie aussieht, da sie nicht in die Realität getreten ist. Wie bei determinierten Prozessen steht also nicht die Vorstufe, sondern die Situation des hypothetischen Erfolgseintrittes selbst im Blickpunkt, nur daß im Gegensatz zu diesen die Auflösung in ein hypothetisches Sicherheitsurteil auch nicht dem mit optimalen Aufklärungsmethoden ausgestatteten Beobachter, sondern nur dem "Laplace'schen Weltgeist" möglich ist. Daß es dabei nicht um die Vorstufe der Rechtsgutverletzung geht, zeigt sich auch darin, daß in Ausnahmefällen bei Vorliegen besonderer Umstände, die erkennen lassen, wie die Entscheidung im hypothetischen Verlauf gefallen wäre, eben doch wieder ein Sicherheitsurteil möglich ist (vgl. o. V.2.b.). Wollte man wirklich nur nach dem Vorliegen einer Vorstufe des Erfolges zurechnen und sich damit von den dogmatisch nicht fundierten Regeln der Vermeidbarkeitstheorie lösen, so müßte man bereit sein, auch in solchen Ausnahmekonstellationen nur nach dem Vorliegen jenes Zwischengliedes zwischen Handlung und Erfolg zu fragen und letzeren u.U. auch dann zuzurechnen, wenn erwiesen ist, daß er auch bei rmAV eingetreten wäre. Mit einem solchen Übergang zur ex ante-Perspektive wäre jedoch der Boden der Risikoerhöhungslehre verlassen.
VII. Abschließende Würdigung der Risikoerhöhungslehre
Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, daß die Risikoerhöhungslehre ebensowenig wie die Vermeidbarkeitstheorie eine befriedigende Lösung des rmAV-Problems ermöglicht. Die Begründungen dafür, warum das
265 Aber nicht immer, vgl. o. V.2.b.
B. Die Risikoerhöhungslehre
145
Vorliegen eines ex post festzustellenden Gefahrerhöhungserfolges über die Zurechnung einer Rechtsgutverletzung entscheiden sollten, haben sich letztlich als ebensowenig überzeugend erwiesen wie diejenigen des Vermeidbarkeitserfordernisses. Zwar lassen sich gegenüber der Vermeidbarkeitstheorie die als unerträglich empfundenen Konsequenzen der regelmäßig auftretenden Beweisprobleme mildern, jedoch ist dies nur um den Preis eines Verstoßes gegen den Grundsatz "in dubio pro reo" möglich. Sollte unter diesen Umständen eine Übertragung der Risikoerhöhungslehre auf das Zivilrecht in Betracht gezogen werden? Im Zivilrecht wäre das in dubio-Argument gegenstandslos, so daß die Anwendbarkeit der Theorie allein davon abhängt, ob sich eine überzeugende Begründung finden läßt. Eine solche fehlt im Strafrecht; es stellt sich also die Frage, ob auf zivil rechtlichem Gebiet überzeugendere Argumente für eine Zurechnung nach dem Risikoerhöhungsprinzip vorliegen. Diese Frage dürfte aus folgendem Grund zu verneinen sein: Wie immer wieder betont wird (s.o. 11.), besteht der Unterschied zwischen den Zurechnungsprinzipien bei der Rechtsgebiete im wesentlichen darin, daß das Strafrecht zurechenbare Rechtsgutverletzungen sanktionieren soll, während dem Zivilrecht der Ausgleich der aus diesen resultierenden Schäden zukommt. Wenn die Erwägungen aus strafrechtlicher Perspektive das Risikoerhöhungsprinzip als Zurechnungs grundsatz nicht tragen, so käme ein anderes Ergebnis für das Zivilrecht wohl nur dann in Betracht, wenn das Ausgleichs- im Gegensatz zum Sanktionsprinzip ein Abstellen auf die ex post festgestellte Risikoerhöhung nahelegt. Zwar hatten wir o. 11. festgestellt, daß das Ausgleichsprinzip einer Übertragung der Risikoerhöhungslehre nicht unbedingt entgegensteht, jedoch nur aufgrund der Überlegung, daß die Feststellung der Risikoerhöhung nicht automatisch zur Annahme eines Schadensersatzanspruches führen muß, sondern daß der Ausgleichsgedanke u.U. im Rahmen der zusätzlich erforderlichen Schadensberechnung Berücksichtigung finden kann. Aus der Vereinbarkeit des Risikoerhöhungs- mit dem Ausgleichsprinzip folgt mithin nicht umgekehrt, daß letzteres gerade durch ersteres verwirklicht wird. Folglich können bei einer Übertragung der Risikoerhöhungslehre auf das Zivilrecht aus dem Ausgleichsgedanken keine weiteren Argumente für diese Zurechnungslehre gewonnen werden, so daß angesichts der im übrigen fehlenden dogmatischen Begründung der Zurechnungsrelevanz des ex post festgestellten Risikoerhöhungserfolges die Übernahme für das Zivilrecht nicht befürwortet werden kann.
10 Erb
146
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg Ein Zurechnungs modell jenseits von Vermeidbarkeitstheorie und Risikoerhöhungslehre, aber auch jenseits des in allen rmAV-Fällen zur Strafbarkeit gelangenden Ansatzes von Spendei hat für das Strafrecht Krümpelmann vorgeschlagen. 266 Danach soll die Zurechnung des Erfolges neben der Kausalität zwar noch eine weitere Beziehung zwischen Verhalten und Rechtsgutverletzung voraussetzen, jedoch soll diese weder in der Vermeidbarkeit des Erfolges bei rmA V noch in einer ex post feststellbaren Risikoerhöhung zum Ausdruck kommen. Vielmehr setze die Zurechnung voraus, daß der aus der Gefahrlichkeil der Handlung resultierenden Pflichtwidrigkeit auf der Seite des Erfolgsunrechts ein aus einer der eigentlichen Verletzung vorgeschalteten Gefahrenlage des Rechtsgutes abgeleiteter "Schutzanspruch" des Opfers gegenübersteht.
I. Darstellung
1. Der Grundgedanke Krümpelmann geht davon aus, daß Vermeidbarkeitstheorie und Risikoerhöhungslehre an dem grundsätzlichen Mangel leiden, daß sie den Rechtswidrigkeitszusammenhang in einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem Wertbegriff der Pflichtwidrigkeit mit dem Faktum Erfolg bzw. Risikoerhöhung suchen und damit eine "Kategorienverwischung" vornehmen. Richtigerweise müsse die Verbindung von der normativ bestimmten Pflichtwidrigkeit auf der Verhaltensseite zu einem ebenfalls normativ bestimmten Gegenstand auf der Erfolgsseite gezogen werden. 267 Einen solchen arbeitet er dadurch heraus, daß er im Sinne einer "zweispurigen" Unrechtskonzeption 268 nicht nur die Handlung, sondern auch die Entwicklung des Geschehens aus der Perspektive des Opfers einer wertenden Betrachtung unterzieht und daraus einen "Gewährleistungssatz" ableitet: Ebenso wie aus der Gefahrlichkeit der Handlung eine Pflicht des Täters (zu Unterlassung des Verhaltens oder zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen) abgeleitet wird, ist auf der Seite des Erfolgsunrechts zu fragen, ob die Rechtsordnung dem Opfer aufgrund der Gefahrenlage, in der es sich vor der Rechtsgutverletzung befand ("Gefährdetheit"), einen entsprechenden "Schutz266 Bockelmann-FS, S. 443 Cf. und Jescheck-FS, S. 313 CC. 267 Krümpelmann, Jescheck-FS, S. 313,319.
268 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 82 ff.; Bockelmann-FS, 443 ff., s. dazu u. 1I.1.a.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verbalten und Erfolg
147
anspruch"269 gewährt. 270 Die Verwirklichung vollen (also Handlungs- und Erfolgskomponente umfassenden) Unrechts liegt dann vor, wenn der Pflichtverletzung des Täters auf der Opferseite gerade die Verletzung des auf Einhaitung dieser Pflicht gerichteten Anspruchs gegenübersteht. 271 Wenn dagegen Anspruch und Pflicht nicht korrespondieren, so scheidet eine Zurechnung als volles Unrecht aus. Das kann dann der Fall sein, wenn die einem Rechtsgut drohende Gefahr atypisch gelagert ist, so daß ein Anspruch auf ihre Abwendung durch die zur Vermeidung typischer Risiken statuierten Verhaltenspflichten nicht erfüllt werden kann, und wenn sie zugleich dem Handelnden nicht erkennbar ist und deshalb auch keine über den Normalfall hinausgehende Sorgfaltspflicht zu begründen vermag. 272 In derartigen Situationen kann zwar die nach wie vor geltende und der Abwendung der Regelgefahr dienende Verhaltensnorm verletzt werden, nicht jedoch ein dieser entsprechender Schutzanspruch. Diese Konstellation ist in rmA V-Fällen wie dem Radfahrer-Fall gegeben: Die Pflicht zur Einhaltung des Seitenabstandes von 100-150 cm beim Überholen von Radfahrern dient dem Schutz dieser vor durch Schlingerbewegungen verursachten Unfällen. Zwar handelt der Radfahrer seinerseits pflichtwidrig, wenn er diesen Abstand durch entsprechend nachlässige Fahrweise voll ausnutzt, jedoch wird ihm angesichts der Häufigkeit derartiger Verstöße gleichwohl ein entsprechender der Pflicht des Überholenden korrespondierender Schutzanspruch zugebilligt. Dagegen würde dem hochgradig betrunkenen Radfahrer, der geradewegs in den überholenden Wagen hineinfährt, dieser Anspruch überhaupt nichts nützen, da er sich in einer viel weitergehenden Gefahrenlage befindet. Nun erwächst ihm aus dieser auch grundsätzlich ein weitergehender Schutzanspruch, etwa dahingehend, überhaupt nicht überholt zu werden. Zur Erfüllung dieses Anspruchs ist jedoch einerseits die Pflicht des Abstandhaltens untauglich, während andererseits die Entstehung der zu seiner Erfüllung geeigneten weitergehenden Pflicht scheitert, wenn dem Überholenden wie in BGHSt 11, 1 die Trunkenheit des Radfahrers nicht erkennbar ist. Der LKW-Fahrer wäre daher wegen Fehlens der "normativen Korrespondenz" freizusprechen. 273 Anders ausgedrückt: Da die Brücke von der Pflichtwidrigkeit 269 "Anspruch" soll dabei nicht im streng technischen Sinn des Zivilrechts nach § 194 BGB (also als der Verjährung unterliegendes Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen) oder im Sinn der allgemeinen Rechtslehre, sondern als "rechtlich gewährleistete Schutzforderung ad incertam personam" verstanden werden, Krümpelmann, Jescheck-FS, S. 320 Fn. 32.
270 Krümpelmann, Bockelmann-FS, S. 447 ff.; Jescheck-FS, S. 319 ff. 271 Krümpelmann, Bockelmann-FS, S. 450; JescheckeFS, S. 326 f. 272 Krümpelmann, Jescheck-FS, S. 327. 273 Vgl. Krümpelmann a.a.O., S. 331.
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
148
über einen entsprechenden Anspruch zum Erfolg fehlt, ist letzterer nicht als vom Täter bewirktes Unrecht, sondern als Unglück bzw. Ausfluß des allgemeinen Lebensrisikos anzusehen.
2. Die ex ante vorzunehmende Wahrscheinlichkeitsbetrachtung
In dem soeben geschilderten Modell spielt wie schon in den Begründungen der Vermeidbarkeitstheorie 274 die Frage der Eignung normgerechten Verhaltens eine entscheidende Rolle, die hier allerdings nicht auf die Vermeidung des Erfolges, sondern auf die Erfüllung des diesem vorgelagerten Schutzanspruches bezogen ist. Gleichwohl könnte man bei vordergründiger Betrachtung die Frage stellen, worin denn der sachliche Unterschied zu dieser besteht, wenn der Anspruch doch gerade auf ein Verhalten gerichtet ist, das den Erfolg vermeiden soll. Indes schafft die Konstruktion des "Anspruchs" bei Krümpelmann nicht etwa bloß eine gedankliche Brücke zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg zur Untermauerung der Vermeidbarkeitstheorie, sondern reicht weiter; sie läuft im Ergebnis auf die Beurteilung nach einem ex ante zu treffenden Wahrscheinlichkeitsurteil hinaus.
a) Die Begründung der ex ante-Betrachtung Krümpelmann zeigt zunächst, daß die Beurteilung des von zahlreichen Zufalligkeiten geprägten Kausalverlaufs, der die "Basis des Unrechtsurteils" abgibt, ex post erfolgen kann 275 und muß.276 Grundsätzlich anders soll die Lage dagegen im Rahmen der darüberhinaus erforderlichen normativen Zurechnung sein. Offensichtlich ist das auf der Handlungsseite, nämlich bei der Konkretisierung der Verhaltenspflicht: Diese muß dem Adressaten in der jeweiligen Situation Verhaltensanweisungen geben, um die "noch unentschiedene Zukunft" mit der Tendenz zur Verhinderung schädlicher Erfolge zu gestalten, nicht hin274 Vgl. o. A.1. 275 Es interessiert nicht, warum gewisse Zufälligkeiten eingetreten sind, die letzi ich ermöglichten, daß die vom Tater gesetzte Bedingung zum Erfolgseintrilt führen konnte, und ob der Eintritt dieser Zufälligkeiten vor herzusehen war, sondern nur, daß letztendlich eine naturgesetzliehe Verknüpfung zwischen Handlung und Erfolg besteht. 276 Es ist mangels Kenntnis aller möglichen Determ inanten "außerhalb logischer Konstruktionen oder außerhalb physikalisch vorformulierter Experimente" außer in Evidenzfällen gar nicht möglich, im voraus zu sagen, ob die Handlung sicher zum Erfolg führen wird, vgl. Krümpelmann a.a.O., S. 316 f.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
149
gegen hinterher sagen, was der Betroffene hätte tun müssen, damit der Erfolg nicht eingetreten wäre. Da sich nicht immer mit Bestimmtheit sagen läßt, unter welchen Umständen genau der Erfolg eintreten bzw. ausbleiben wird, ist eine Prognose erforderlich, um die Verhaltensnorm zu bestimmen, welche die ausreichende Wahrscheinlichkeit der Erfolgsvermeidung gewährt. 277 Soll der für die Feststellung des RWZ erforderliche "Korrespondenzpartner" auf der Erfolgsseite der gleichen Kategorie angehören wie die Pflicht, so muß aber auch dieser prognostisch bestimmt werden: Der "Anspruch" gehört nur dann der normativen KategOrie an, wenn er wie die Pflicht eine "rechtliche Gestaltungskraft" besitzt, also der Steuerung der noch offenen Zukunft dient. Das ist aber wiederum nur ex ante möglich (die Erfüllung des Schutzanspruchs setzt die Gefahr des Erfolgseintrittes herab; sicher verhindern kann sie ihn freilich vielfach nicht), während ein ex post bestimmter Anspruch ebenso wie eine ex post bestimmte Pflicht nur noch zum Ausdruck bringen könnte, was hätte geschehen müssen, um den Erfolg zu verhindern, aber am Geschehen nichts mehr ändern kann. 278
b) Die Möglichkeit des Auseinanderfallens von Pflichtwidrigkeit und Nichterfüllung des Anspruchs Wenn die Verhaltenspflicht des Handelnden und der Schutzanspruch beide als Gefahrurteile ex ante zu bestimmen sind, so liegt die kritische Frage nahe, wo denn nun der Unterschied zwischen beiden besteht, ob man also nicht auf der Opferseite das bereits bei der Bestimmung der Pflichtwidrigkeit getroffene Gefahrurteil einfach wiederholt und damit im Ergebnis wie Spendei in allen rmA V-Fällen zur Zurechnung gelangt.279 Dieses Bedenken wird aber gegenstandslos, wenn man berücksichtigt, daß beide Gefahrurteile zwar aus der gleichen zeitlichen Perspektive erfolgen, sich aber jedenfalls hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Tatsachenbasis unterscheiden: Während das Vorliegen der Pflichtwidrigkeit nur anband der dem Täter erkennbaren Umstände zu bestimmen ist, erscheint diese Beschränkung der zu berücksichtigenden Tatsachen bei 277 Krümpelmann a.a.O., S. 318 f.
278 Krümpelmann a.a.O., S. 319 ff. 279 Vgl. den von Ulsenheimer erhobenen Einwand gegen die Risikoerhöhungslebre, bevor de-
ren Vertreter ausdrücklich ein ex post-Urteil verlangten: Jede Normübertretung stelle ex ante eine Risikoerhöbung dar, daher müsse die ex ante bestimmte Gefahrerhöhung "als Abgrenzungskriterium zwischen strafbaren und straflosen Pflichtverletzungen ausscheiden", Ptlicbtwidrigkeit, S. 134 f.; ebenso JZ 1969, 366 f.
150
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
der Bestimmung der Anspruchslage nicht sinnvoll. 280 Statt der "Veränderung der zeitlichen Perspektive" findet ein "Wechsel der Perspektive vom Täter zum konkreten Rechtsgutsträger" statt. 281 Daß dies grundsätzlich möglich ist, zeigt die oben unter 1. dargestellte Anwendung des Modells auf den Radfahrer-Fall: Die aus der Fahruntauglichkeit des Radfahrers resultierende Gefahr (und damit sein "Schutzanspruch") war nicht identisch mit der allgemein bei Überholvorgängen bestehenden Gefahrdung, wie sie der LKW-Fahrer annehmen mußte, und die daher allein Grundlage des PfliChtwidrigkeitsurteils war.
3. Die beweisbedürftige Tatsachenbasis
a) Die Trennung der Tatsachenbasis von der Verlaufsprognose Über die durch die Gegenüberstellung der Pflichtwidrigkeit mit einer ebenfalls normativen und daher gleichwertigen Größe bedingte theoretische Überlegenheit dieses Modells hinaus sieht Krümpelmann einen bedeutenden Vorteil gegenüber der Risikoerhöhungslehre in folgendem: Durch die Trennung der ex ante bestehenden tatsächlichen Lage von der Frage ihrer hypothetischen Weiterentwicklung sei (im Gegensatz zur ex post-Betrachtung, bei der beide Gesichtspunkte untrennbar in die Tatsachenbasis des Wahrscheinlichkeitsurteils eingehen) eine abstrakte Unterscheidung der zu beweisenden Tatsachenbasis von den zur Verlaufshypothese gehörenden Umständen, für die lediglich eine Wahrscheinlichkeitsbestimmung erforderlich ist, möglich. Die Frage, ob bei hypothetischer Betrachtung bestimmte Tatsachen eingetreten wären oder nicht, stehe nämlich überhaupt nicht mehr zur Debatte. Damit sei der von Samson zur Vermeidung eines Verstoßes gegen "in dubio pro reo" geforderte "abstrakte Maßstab"282 zur Eingrenzung der beweisbedürftigen Tatsachen gewonnen. 283 Krümpelmann betont, daß die ex ante vorliegenden Umstände, aus denen sich die "Gefährdetheit" des Opfers ergibt, ebenso wie die tatsächliche Grundlage des Urteils über Gefahrlichkeit (und damit Pflichtwidrigkeit) der Handlung auf keinen Fall durch ein Wahrscheinlichkeitsurteil ersetzt werden dürfen, sondern daß ein diesbezügliches non Iiquet zur Annahme der dem Angeklagten
280 Vgl. Preuß, S. 116 f. 281 KrümpelmOlln, BockeImann-FS, S. 449; lescheck-FS, S. 321 f.
282 Vgl. o. B.JV.3.b.bb. 283 KrümpelmOlln, lescheck-FS, S. 321 C.; ähnl. schon Bockelmann-FS, S. 462 C.
c. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verbalten und Erfolg
151
günstigsten Möglichkeit führen muß.284 Er räumt ein, daß insoweit praktische Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Tatsachenbasis und Verlaufsprognose auftreten können, weil sich z.B. hinter der im Prozeß getroffenen Aussage, vor dem fehlerhaften Verhalten des Arztes habe der Patient eine Überlebenschance von x % gehabt, auch tatsächliche Unsicherheiten verbergen können: Diese kann nämlich nicht nur bedeuten, daß die Prognose bei einem bestimmten Zustand des Patienten entsprechend einzuschätzen ist, sondern auch, daß der Zustand des Patienten nicht mehr genau rekonstruiert werden kann und eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen Zustand mit besserer, eine andere dagegen für einen solchen mit schlechterer Überlebenschance spricht. 285 Zur Vermeidung von Verstößen gegen "in dubio pro reo" müsse deshalb jeweils sorgfältig bestimmt werden, in welcher Beziehung wir mit Unsicherheiten konfrontiert sind, wobei hinsichtlich einer nicht eindeutig rekonstruierbaren Lage ex ante die für das Rechtsgut schlimmste (und damit dem Täter günstigste) Situation zugrundegelegt werden muß, auf deren Grundlage dann die Prognose stattzufinden hat. Die Prognose selbst hingegen kann nicht nur, sondern muß sogar ein Wahrscheinlichkeitsurteil sein, so daß es hier auf exakte Tatsachenfeststellungen nicht ankommt. Deshalb kann sich z.B. ein Arzt nicht unter Berufung auf ein unter den jeweiligen Umständen bestehendes grundsätzliches Komplikationsrisiko entlasten, sondern allenfalls durch die nicht nur spekulative Möglichkeit, daß besondere Verhältnisse bestanden, welche die Lage schon ex ante als aussichtslos erscheinen ließen. 286
b) Die unbeschränkte Tatsachenbasis der Anspruchslage Eine weitere Beschränkung der als sicher nachzuweisenden Tatsachen als die eben dargestellte Begrenzung auf solche, die die ex ante bestehende Gefahrenlage objektiv kennzeichnen, findet grundSätzlich nicht statt. Insbesondere darf die Bedeutung des ex ante-Standpunktes nicht dahingehend mißverstanden werden, daß es darauf ankomme, ob die Tatsachen, welche die Grundlage der Prognose darstellen, einem bestimmten Beobachter oder gar dem Opfer erkennbar waren. Vielmehr ist die Anspruchslage auch "durch Tatsachenfeststellungen jenseits der Grenze der Erkennbarkeit zu korrigieren."287 Der Umstand, 284 lescheck-FS, S. 322. 285 A.a.O., S. 322 Cf. 286 Krümpelmann a.a.O., S. 324 ff.
287 Krümpelmann a.a.O., S. 321 Fn. 36.
152
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
daß z.B. ein Tumor erst im Rahmen einer Obduktion (also nachträglich) entdeckt werden konnte, der bereits zum Zeitpunkt der Fehlleistung des Arztes die Situation aussichtslos gestaltete, hindert also nicht daran, diesen in die Tatsachenbasis einzubeziehen, wenn er ex ante nur objektiv vorgelegen hat. 288
4. Keine Entlastung beim Verstoß gegen "Eingriffsverbote"
Eine Entlastung des Täters aufgrund des Fehlens der "normativen Korrespondenz" soll nach Krümpelmann dort nicht in Betracht kommen, wo eine Verletzung sogenannter "Eingriffsverbote" vorliegt. Darunter versteht er Fälle, in denen das pflichtwidrige Verhalten des Täters nicht nur zum Ausgleich einer besonderen "Gefährdetheit" des Opfers und zur Erfüllung des daraus resultierenden Schutzanspruches ungeeignet ist, sondern bereits den aus einem nicht gesteigerten allgemeinen Lebensrisiko resultierenden Schutzanspruch verletzt. Denn solche Handlungen seien absolut und nicht nur mit Rücksicht auf besondere Umstände der Lage des Opfers verboten; daher müsse der entsprechende Schutz auch dem unerkennbar stark gefährdeten und sich möglicherweise bereits in hoffnungsloser Situation befindlichen Opfer zugutekommen, das zufällig in den "Einwirkungskreis" eines solchen Geschehens gerät, bei dem "die Gefährlichkeit allein aus der Handlung" folgt. 289 Beispiele dafür seien etwa: Der LkW-Fahrer in BGHSt 11, 1 unterschreitet nicht nur den gebotenen Mindestabstand, sondern fährt sogar nur eine Handbreite am Radfahrer vorbei, so daß es selbst ohne jegliche unerlaubte Seitenbewegungen von dessen Seite zum
288 Wir haben es also mit einer anhand nachträglicher Feststellungen rekonstruierten Cl( anteBetrachtung zu tun. Abweichend etwa Wolter, S. 83 ff., der (allerdings in anderem Zusammenhang) im Rahmen einer ex an te-Betrachtung nur zur Tatzeit erkennbare Umstände zulassen will. Wie KrÜlnpelmann Ga/las, Heinitz-FS, S. 177 ff., der aufzeigt, daß die Beschränkung auf die im Zeitpunkt der Gefahr zugänglichen Umstände nur dort Sinn hat, wo es um die Beurteilung der Handlung geht, weil diese eben mit Rücksicht auf die Täterperspektive zu erfolgen hat. Wo es dagegen wie in unserem Zusammenhang - um die Frage einer objektiven Bedrohung geht, verlangt Gallas, das Urteil "mit einem Maximum an Wahrheitsgarantie auszustatten, d.h. aber, in die Basis des Gefährlichkeitsurteils auch die inzwischen gewonnenen Kenntnisse und Erkenntnisse mit einzubeziehen." Da hierdurch aber nur die "Basis der Prognose" geschaffen wird, wird der ex ante-Standpunkt nicht verlassen; dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn "der Ablauf des prognostizierten Geschehens" aufgrund nachträglich bekanntgewordener Tatsachen nicht mehr als grundsätzlich ungewiß behandelt wird. 289 Krümpelmann, Bockelmann-FS, S. 451; Jescheck-FS, S. 331.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
153
Unfall kommen kann. 290 Die Krankenschwester verabreicht dem moribunden Patienten statt des Heilmittels ein tödlich wirkendes Gift. 291
11. SteUungnahme
1. Die theoretische Erfassung des RWZ
a) Grundsätzliche Erwägungen Das Zurechnungs modell nach der "normativen Korrespondenz" ist Vermeidbarkeits- und Risikoerhöhungslehre jedenfalls insofern überlegen, als es im Gegensatz zu jenen eine schlüssige Begründung ermöglicht, warum in bestimmten Fällen auch ein pflichtwidrig verursachter Erfolg nicht zugerechnet werden soll. Sowohl Vermeidbarkeitstheorie als auch Risikoerhöhungslehre suchen den normativen Zusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg dadurch zu bestimmen, daß sie dem Kausalzusammenhang zwischen bei den einen hypothetischen Vermeidbarkeitszusammenhang hinzufügen (der sich einmal in sicherer und einmal in wahrscheinlicher Vermeidung der Rechtsgutverletzung ausdrücken soll). Dieser ist aber zur Herstellung der tatsächlichen Verbindung nicht erforderlich (die Kausalität liegt ja vor), und daß in ihm der normative Zusammenhang zum Ausdruck kommen soll, ist, wie wir bei der Diskussion dieser Theorien gesehen haben, eine zwar häufig erhobene, aber nirgendwo überzeugend begründete Behauptung. Demgegenüber sucht Krümpelmann die normative Verbindung zwischen Handlungs- und Erfolgskomponente des Unrechts primär nicht bei den tatsächlichen Umständen, sondern im Zusammenwirken der normativen (prospektiv abgeleiteten) Komponenten auf Handlungs- und Erfolgsseite. Dadurch wird der Ausschluß der Zurechnung in bestimmten Fällen wie z.B. im Radfahrer-Fall einleuchtend: Während der Rechtsordnung auf Handlungs- und Enolgsseite Genüge getan wird, wenn mit der Pflichtbefolgung des Handelnden gerade der Schutzanspruch des potentiellen Opfers erfüllt wird 292, ist dieses funktionale Zusammenwirken von Pflicht und Anspruch dann gestört,
290 lescheck-FS, S. 331. 291 Bockelmann-FS, S. 451 Fn. 47. 292 Und zwar unabhängig davon, ob am Ende eine RechtsgutverlelZung oder ex post gesehen ein besonderer Gefahrdungserfolg eingetreten ist, da die auf Gestaltung der unsicheren Zukunft ausgelegte Rechtsordnung eben nur Risiken vermindern, nicht aber Erfolge verhindern kann, vgl. KrÜlnpelmann, lescheck-FS, S. 320 f.
154
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
wenn die Pflicht verletzt und dadurch der entsprechende Schutzanspruch des Opfers vereitelt wird; dann hat der Täter volles Unrecht verwirklicht (Verstoß gegen VerhaItens- und Anspruchsnorm). Steht dagegen der Pflicht des Täters aufgrund diesem nicht erkennbarer Umstände ein modifiziertes Schutzbedürfnis des Opfers gegenüber, zu dessen Erfüllung die Pflicht objektiv untauglich ist, so kann der Täter den Anspruch durch Befolgung der VerhaItensnorrn nicht mehr gezielt293 erfüllen. Wenn es zur Bestimmung des "Schutzanspruches" erforderlich ist, die Gefahrenlage zu analysieren, in welcher sich das Opfer befand, so stellt sich allerdings die Frage, inwieweit dabei die möglichen Verhaltensweisen des Täters (also das pflichtwidrige Verhalten einerseits und das rrnAV andererseits) mit in diese Betrachtung einzubeziehen sind. Krümpelmann geht offensichtlich von der Möglichkeit aus, die Anspruchslage allein aufgrund der objektiven Gegebenheiten in der Opfersphäre ("Basistatsachen der Gef1ihrdetheit") zu bestimmen und damit den "Rückgriff auf hypothetische Tatsachen" auszuschließen. 294 Gegen diesen kategorischen Ausschluß der Berücksichtigung der denkbaren Verhaltensalternativen des Täters ist aber einzuwenden, daß die Gefahr, in der sich das Opfer befindet, und auf deren Abwendung der "Schutzanspruch" gerichtet ist, nicht unabhängig von den Handlungsmöglichkeiten des potentiellen Täters betrachtet werden kann: Dessen Verhalten stellt ja gerade die Bedrohung des Rechtsgutes dar, so daß der Verhaltensspielraum des Täters zu den "Basistatsachen der Gefährdetheit" gehört (wie umgekehrt die möglichen Rechtsgutbeeinträchtigungen die Pflichtenlage des Täters mitbestimmen). Indirekt kann damit durchaus das hypothetische rechtmäßige Verhalten des Täters Bedeutung erlangen, allerdings nicht wie bei Verrneidbarkeits- und Risikoerhöhungslehre unter dem Aspekt, daß es möglicherweise den Erfolg oder das ex post betrachtete Risiko ebenfalls herbeigeführt hätte, sondern im Hinblick darauf, daß es in der Gefahrenbilanz für das Rechtsgut ex ante ebenso negativ erscheint wie das schließlich realisierte rechtswidrige Verhalten.
293 Wenn er zufällig ein Verhalten an den Tag legt, das doch noch zur Wahrung der Erhaltungschance des Rechtsgutes führt, indem der LKW-Fahrer sich z.B. aus unerfindlichen Gründen dazu entschließt, hinter dem Radfahrer zu bleiben, so ist das nicht mehr auf eine gestaltende Wirkung der Normen zurückzuführen, sondern Zufall. 294 Jescheck-FS, S. 321 ff.
c. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
155
b) Die unrechts theoretische Rechtfertigung des Ansatzes Dieser Ausfall der "normativen Korrespondenz" in rmAV-Fällen soll im folgenden anhand unrechts theoretischer Erwägungen überprüft und seine Begründung dabei wenn möglich vertieft werden. Wie eingangs (1.1.) erwähnt, liegt Krümpelmanns Ansatz ein "zweispuriger" Unrechtsbegriff zugrunde, d.h. das Unrecht wird durch eine Handlungs- und eine Erfolgskomponente konstituiert. Diese Konzeption des Unrechts ist nicht unumstritten.
aa) Der Handlungsunwert als Grundlage der strafrechtlichen Zurechnung Nach der ältere Lehre sollte das Unrecht allein durch das Vorliegen einer Verletzung rechtlich geSChützter Interessen gekennzeichnet sein. 295 Im Gegensatz dazu hat sich in der Strafrechtswissenschaft heute jedoch weitgehend die sogenannte personale Unrechtslehre durchgesetzt, welche das Verhalten des Täters in den Mittelpunkt der Unrechtsbetrachtung stellt: Das Rechtswidrigkeitsurteil stellt grundSätzlich die Mißbilligung des Verhaltens dar, das der Täter an den Tag gelegt hat. Wichtigstes Argument für ein derartiges Unrechtsverständnis ist die Überlegung, daß das Recht nicht den Eintritt von Erfolgen verbieten, sondern nur Anforderungen an menschliches Verhalten stellen kann (wenn letzteres auch zu dem Zweck erfolgt, die unerwünschte Rechtsgutverletzung zu verhindern). Daher sollte sinnvollerweise auch das Rechtswidrigkeitsurteil an der Frage anknüpfen, ob sich der Handelnde über eine Verhaltensanforderung hinweggesetzt hat, und nicht am Vorliegen einer Interesseverletzung, die genausogut auf Zufall beruhen kann. 296 Zwar mag es vielleicht formal nicht zu beanstanden sein, unerwünschte Ereignisse mit dem Begriff "objektives Unrecht" zu belegen, jedoch ist zu berücksichtigen, daß das Rechtswidrigkeitsur-
295 Vgl. Mezger, Der Gerichtssaal 89 (1924), 248 ff. und Lehrb., S. 162 CC., bes. 166 f.; von Hippel, Bd 1, S. 26; Bd. 2, S. 184 C.; von Liszt/Schmidt, S. 6, 144, 174 ff. Dabei ist allerdings zu beachten, daß eine Interesseverletzung nicht nur in der aktuellen Beschädigung eines konkreten Rechtsgutes erblickt werden kann, sondern auch in der Beeinträchtigung des Rechtsguts als Institution, wie sich etwa beim Versuch zeigt, vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 67 Cf. 296 Vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 105 ff. und Rechtswidrigkeit, S. 41; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 75; Zielinski, S. 127. M. L Müller wies bereits darauC hin, daß die Rechtsordnung eigentlich keine Erfolge, sondern nur menschliche Verhaltensweisen verbieten kann (S. 22 CC.), will die Rechtswidrigkeit des Verhaltens aber danach bestimmen, ob das Verhalten "vom Standpunkt abstrakt menschlicher Erkenntnis" (und nicht nach dem aus der Perspektive des Handelnden Erkennbaren) erfolgsträchtig ist (S. 28).
156
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
teil ja als Grundlage des Schuldurteils dienen soll. Daß reine Naturereignisse dafür nicht in Betracht kommen, dürfte evident sein; Zufall kann keine Schuld begründen. Der Zufall als Unrechtsurheber scheidet aber nicht bereits dadurch aus der Betrachtung aus, daß man eine menschliche Handlung als Erfolgsursache verlangt. 297 Wenn dem Betreffenden nicht einmal objektiv ein Verstoß gegen rechtliche Verhaltenspflichten zur Last fällt, dann fehlen nämlich nicht nur im Einzelfall weitere Voraussetzungen des Schuldurteils, vielmehr könnte derart begründetes Unrecht als ebenso zufällig eingetreten wie reine Naturereignisse generell nicht zum Verschulden zugerechnet werden. Aber auch umgekehrt ergeben sich Schwierigkeiten: Wo sollte beim versuchten Delikt, bei dem es gerade nicht zu einer Rechtsgutverletzung kommt, das Unrecht liegen? Will man nicht Schuld und Strafbarkeit ohne Unrecht annehmen298 und damit die Funktion des Unrechts als Grundlage des Schuldurteils völlig preisgeben,299 so muß man die Rechtsgutverletzung quasi vorverlagem, indem man die Gefahrdung des Rechtsguts als Unrechtserfolg ansieht. 300 Nun läuft ein derartiges Vorgehen noch nicht dem Verständnis des Unrechts als BeeinträChtigung rechtlich geSChützter Interessen Lw.S. zuwider,301 allerdings müßte man beim untauglichen und daher objektiv ungefährlichen Versuch auf die Gefährlichkeit des Täters abstellen und würde sich spätestens an dieser Stelle von einer konsequent den Handlungsunwert außer Betracht lassenden Sichtweise des Unrechts entfernen. 302 Diese Schwierigkeiten vermeidet eine handlungsbezogene Unrechtslehre; sie wird darüberhinaus auch der Intention des Strafrechts besser gerecht, indem sie das mißbilligte Täterverhalten, um dessen Sanktion es schließlich geht, in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt303 und nicht die Interessenbeeinträchtigung beim Verletzten, deren Ausgleich Aufgabe des Zivilrechts ist.
297 Zielinski, S. 23 f.
298 So
Goldschmidt, Frank-Festgabe, S. 434 f., der von "Pflichtwidrigkeit mit bloß versuchter lIIegalität" spricht; "Pflichtwidrigkeit" versteht er dabei im Sinne von "Schuld". Richtig erscheint jedoch, daß ohne eine rechtswidrige Handlung nicht von Schuld gesprochen werden kann: Nur ein rechtswidriges Handeln kann auch rechtlich vorwerfbar sein, vgl. Armin Kaufmann, Rechtswidrigkeit, S. 37. 299 Vgl. Zielinski, S. 24. 300 So z.B. von Hippel, Bd. 2, S. 425 ff.
301 Vgl. Fn. 295. 302 Krampelmann, Die Bagatelldelikte, S. 71 ff.
303 Krampelmann a.a.O., S. 75.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
157
bb) Entbehrlichkeit des Erfolgsunwertes für das Unrecht? Damit stellt sich die Frage, ob das Unrecht allein durch den Handlungsunwert zu begründen ist, oder ob neben der Handlungs- auch die Erfolgskomponente einen eigenständigen Stellenwert behält. Eine rein handlungsbezogene Unrechts lehre haben vor allem Armin Kaufmann 304 und Zielinski305 begründet. 306 Der Erfolg hätte danach nur noch die Stellung einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit.
Zielinski, der diesen Ansatz am ausführlichsten fortentwickelt hat, stellt bei seiner Argumentation zunächst fest, daß der Erfolgseintritt das Unrecht nicht über den Handlungsunwert erhöhen kann,3D7 sondern allenfalls "über eine unmittelbare Erhöhung des Unrechts durch den Erfolgsunwert308 als selbständigen Unrechtsbestandteil neben dem Handlungsunwert. "309 In der Tat könne der Erfolgsunwert ein weitergehendes Werturteil beinhalten als der Handlungsunwert,310 allerdings soll eine Erweiterung des Unrechtsurteils durch den Erfolgsunwert daran scheitern, daß dem Werturteil keine über das Verbot des finalen Aktes hinausgehende Norm korrespondiere,311 welche vorliegen müßte, damit der Erfolg als weitergehender Verstoß gegen einen Rechtssatz und damit als gegenüber der Handlung weitergehendes Unrecht verstanden werden kann. Die "Erfolgsfähigkeit" des finalen Aktes stehe nämlich außerhalb der Finalität als 304 ZfRV 1964, 42 ff.; Welzel-FS, S. 410 f. 305 Vgl. bes. S. 143 f., 191,200 ff. 306 Ähnliche Ansätze, den Erfolg aus dem Unrecht zu verbannen, finden sich z.B. auch bei Horn, S. 78 ff.; Lüderssen, ZStW 85 (1973), 291 f. und Bockelmann-FS, S. 183 ff. 307 S. 128 ff.; ebenso schon Welzel, Abhandlungen, S. 355. 308 Worunter auch Zielinski nicht nur den tatsächlichen Erfolg LS. der Rechtsgutverletzung versteht, sondern bereits die "Erfolgsfähigkeit", dh. die objektive Tauglichkeit der Handlung, den Erfolg herbeizuführen, vgl. ZielifLSki, S. 128 ff. 309 S. 135.
310 S. 135 f. 311 Der Zusammenhang von Werruneil und Norm ist nach Armin Kaufmann, Normentheorie, S.69 ff., folgender: Es besteht eine "Stufenfolge der Werrungen", deren erste die positive Bewerrung der Rechtsgüter ist, die zweite die 8ewerrung von Ereignissen, die sich auf den Bestand von Rechtsgütern auswirken; die dritte dagegen hebt diejenigen unter diesen Ereignissen heraus, die "Menschenwerk" sind, und beuneilt sie nach ihrer Finalität bzw. nach ihrer Eignung, Rechtsgüter zu beeinträchtigen. In letzterer liegt die 8euneilung des Aletunwertes, der allein für die Bewenung der Tat entscheidend ist (S. 72). Diese Werruneile sind nun das Motiv des Gesetzgebers für den Erlaß von Normen (S. 74 im Anschluß an Binding, Normen I, S. 356 ff.), wobei genau die Verhaltensweisen verboten werden, die wegen ihrer möglichen Folgen für Rechtsgüter als unernäglich bewertet werden.
158
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
solcher und könne damit nicht Gegenstand einer Norm sein, weil Normen eben nur finales Verhalten steuern können.312 Mithin habe die Vollendungs- gegenüber der Versuchsnorm keinen weitergehenden "Regelungseffekt": Sie "begründet keine Pflicht, die nicht auch schon durch die Versuchsnorm begründet wäre."313 Das auf dem Erfolgsunwert aufbauende Werturteil ist dem Normadressaten ex ante nicht erkennbar, kann ihn folglich nicht motivieren und taugt damit nicht für die Qualifikation einer Tat als "Unrecht" .314 Zielinski untermauert seine Thesen noch mit der Erwägung, daß das Unrechtsurteil nur solche Umstände enthalten dürfe, die auch beim auf diesem aufbauenden Schuldurteil berücksichtigt werden können; das sei aber bei der Frage, ob die finale Handlung als Gegenstanddes Schuldurteils nun tatsächlich zum Erfolg führt, nicht der Fall.315 Gesondert prüft und bejaht Zielinski auch die Übertragbarkeit seines Ansatzes auf die Fahrlässigkeit, insbesondere auf die unbewußte Fahrlässigkeit, bei der es keine Finalität im Zusammenhang mit dem betroffenen Rechtsgut vorliegt, aber die Sorgfaltspflichtverletzung Gegenstand des handlungsbezogenen Unrechtsurteils ist. 316
cc) Die Bedeutung des Erfolgsunwertes als Unrechtskomponente neben dem Handlungsunwert (1) Einwände gegen die rein handlungsbezogene Unrechtslehre
i. Plausibilitätsargumente Die herrschende Meinung lehnt Zielinskis Thesen ab und hält am Erfolgsunwert als Unrechtsbestandteil neben dem Handlungsunwert fest. Zielinski wird dabei u.a. entgegengehalten, daß aus dem Umstand, daß Strafrechtsnormen nur 312 S. 136 ff. 313 Zielinski, S. 141.
314 Zielinski, S. 141 ff. 315 Zielinski, S.
145 ff.
316 Vgl. Zielinski, S. 168 ff.; er setzt sich dabei mit dem Problem auseinander, daß "es an einer irgendwie auf das Rechtsgut gerichteten Finalität fehlt, die Gegenstand der Bewertung sein könnte." (S. 168) Die Lösung sieht er in der "ohne-zu-Komponente" der Handlung: Der Täter nimmt eine gefährliche Handlung vor, ohne dabei die erforderlichen Sorfaltsmaßnahmen zu ergreifen; dieser Umstand begründe das Unrecht der Handlung (S. 171 ff.), indem er die Konkretisierung der Sorgfaltsnorm zur Unterlassungsnorm bedingt, wenn der Täter die erforderliche Sorgfalt nicht anwenden kann oder will (S. 179).
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
159
über Verhaltensanforderungen wirken können und daher der Verhaltensnormverstoß im Mittelpunkt der Unrechtsbetrachtung stehen muß, nicht umgekehrt folge, daß sich der SinngehaIt der Normen in der Statuierung von VerhaItensanforderungen erschöpft. 317 Vielmehr könne man in den Straftatbestand neben der Verhaltensnorm auch eine Bewertungsnorm hineininterpretieren, welche keine Verhaltensanforderungen statuiert, sondern die rechtliche Mißbilligung der BeeinträChtigung der Interessen des Verletzten zum Ausdruck bringt.318 Jakobs319 und Schünemann3W halten dies nach dem Gesetz sogar für naheliegender,321 da der Gesetzgeber nun einmal am Erfolg anknüpfe und die Konstruktion der Verhaltensnorm nur aufgrund der "psychologischen Wirkungsweise" (Jakobs) der Norm erforderlich sei. Gegen das Argument des mangelnden Verschuldensbezuges führt Stratenwerth an, wegen der Zufalls komponente könnten zwar nur Handlungen ge- oder verboten werden, jedoch bedeute dies nicht, "daß der Täter mit dem Erfolg nichts zu tun hat, wenn er eintritt".322 Dem wird man insofern zustimmen können, als der Erfolg ja nicht ein Zufall ist, der beziehungslos neben die Handlung tritt, sondern gerade die Realisierung der Gefahr, um derentwillen die Handlung als verboten und schuld haft qualifiziert wird, so daß man von einem schuldhaft (nämlich durch eine verschuldete Handlung) herbeigeführten Erfolg sprechen kann. 323 Diese Erwägungen mögen geeignet sein, den zwingenden Charakter von Zielinskis Thesen zu bestreiten. Sie begründen indes nicht positiv das Erfordernis eines Erfolgsunwertes für das Unrecht. Gegen eine Begründung einer dualistischen Unrechts konzeption unter Einbeziehung des Erfolgsunwertes, die sich auf die vorgetragenen Überlegungen beschränkt, könnte man mithin den gleichen Vorwurf erheben, den Stratenwerth gegen Zielinski erhob, nämlich den 317 Vgl. Jakobs, Studien, S. 121 C.; Stratenwerth, Schaffstein-FS, S. nem "grob fehlerhaften Umkehrschluß" spricht.
182 f., der insoweit von ei-
318 Gallas, Bockelmann-FS, S. 162; Wolter, S. 26. 319 Studien, S. 122 ff. 320 Schaffstein-FS, S. 173 f.; JA 1975,512. 321 Ähnlich Rudolphi, Maurach-FS, S. 69 f.: Dem Gesetzgeber stehe es frei,
neben dem Handlungs- auch einen Erfolgsunwert für das Vorliegen strafrechtlich relevanten Unrechts zu verlangen.
322 Stratenwerth, a.a.O., S. 183, Hervorhebung im Text. 323 Vgl. Gallas, Bockelmann-FS, S. 163 ff.; Hirsch, ZStW 94 (1982), 254 f.; Wolter, S. 114 Cf.; Stratenwerth, a.a.O. und SchwZStR 79 (1963), 252 ff., geht noch weiter und nimmt nicht nur an,
daß das Verschulden auch auf den Erfolgseintrin bezogen werden kann, sondern daß letzterer sogar die "Schwere der Schuld" mitbeeinflußt. Diese These, die von Stratenwerth im wesentlichen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch begründet wird, dürfte nicht unbedenklich sein, soll hier aber nicht näher erörtert werden. Kritisch dazu Paeffgen, S. 108 C.
160
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
des "grob fehlerhaften Umkehrschlusses" .324 Haben wir es also mit einer Pattsituation zu tun, in der Zweckmäßigkeitsgründe den Ausschlag geben?325 Dafür könnte der Umstand sprechen, daß die Argumente für die Bedeutung des Erfolgsunwertes für das Unrecht sich häufig um die Frage ranken, wo man den Erfolg im Gesamtaufbau der Straftat denn sonst unterbringen sollte. Die Konzeption des Gesetzes, insbesondere der Umstand, daß die Fahrlässigkeitstatbestände als Erfolgsdelikte konstruiert sind, gebietet einerseits, den Erfolg zu berücksiChtigen. Andererseits bereitet es Unbehagen, ihn als bloße objektive Bedingung der Strafbarkeit anzusehen: Während objektive Bedingungen der Strafbarkeit nur in einem "äußeren Zusammenhang zur Tat" stehen,326 ist der im Tatbestand umschriebene Erfolg gerade die Realisierung der reChtswidrig schuldhaften Gefahrschaffung.327 Außerdem erscheint es nicht plausibel, daß eine objektive Bedingung der Strafbarkeit nicht nur das Ob der Strafe bestimmt, sondern auch die Strafhöhe und die Auswahl der Strafe aus völlig unterschiedlichen Strafrahmen. Eine derartige Macht traut man offenbar nur einem Merkmal zu, welches das "kriminelle Gewicht"328 mitbestimmt, und zählt den Erfolg deshaLb zum Unrecht. 329
ii. Die Kritik Paeffgens Eine über die Begründungen, die sich im wesentlichen auf die Widerlegung des zwingenden Charakters von Zielinskis Thesen beschränken, hinausgehende Kritik findet sich bei Paeffgen. Auch dieser greift Zielinkis Behauptung an, daß nur die "normwidrige Finalität" unrechts relevant sei, weil nur die Finalität von Normen beeinflußbar ist. 33O Dabei geht er aber über Stratenwerths Kritik des "grob fehlerhaften Umkehrschlusses"331 hinaus. Er weist nach, daß auch ZieLinski nicht ohne die Verwendung objektiv-zuflilliger Kriterien auskommt und folglich seinen Ansatz nicht konsequent durchhalten kann: Auch Zielinski kann 324 Stratenwerth, Schaffstein-FS, S. 325 Jakobs, Studien, S.
126,
183.
hält den Streit um die Bedeutung des Unrechts in der Tat für "nutzlos" und zählt den Erfolg um der "terminologischen KlarsteIlung" willen zum Unrecht.
326 Sch./Sch./Lenckner. Vorbem. §§ 13 Cf. Rdnr.
327 Vgl. Stratenwerth, Schaffstein-FS, S. 187.
124.
328 Bockelmann/Volk, S. 50.
329
Vgl. Krauß, ZStW 76 (1964), S. 60 ff.; Schünemann, Schaffstein-FS, S. mann/Volk, a.a.O.; Sch./Sch./Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 59. 330 S. 110 ff.
331 Schaffstein-FS, S. 183.
171 ff.; Bockel-
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
161
nicht an der Finalität als solcher, sondern nur an der Handlung anknüpfen - diese ist aber bereits objektiv wahrnehmbare Wirklichkeit und damit ein Erfolg, und zwar ab "dem Augenblick, in dem eine normwidrige Intention sich in einem ersten Akt niederschlägt ... ".332 Dieses objektive Geschehen entwickelt sich dann kontinuierlich weiter, so daß eine bloß anfängliche Berücksichtigung bei der Unrechtsbetrachtung, die ab dem Stadium des beendeten Versuchs entfällt, willkürlich wäre, zumal Handlung und Erfolgsherbeiführung häufig zusammenfallen. 333 Auch dort, wo beides auseinanderfällt (Paeffgen spricht von "Distanzdelikten"), ist nicht nur der Erfolg, sondern auch (allerdings in geringerem Umfang) die Umsetzung des Willens in die Handlung vom Zufall mitbestimrnt. 334 Damit aber ist der Erwägung, man dürfe den Erfolg wegen des in ihm steckenden Zufallselements nicht bei der Unrechtsbetrachtung berücksichtigen, der Boden entzogen: Die Idee, man könne ausgehend von der Tatsache, daß Normen unmittelbar nur die Finalität steuern können, auch das Unrecht ausschließlich danach und unter Ausklammerung von Zufalls aspekten betrachten, hat sich als undurchführbar erwiesen. (2) Die normentheoretische Konstruktion des Unrechtssystems aus der Opferperspektive Im folgenden soll untersucht werden, wie die offensichtlich unentbehrliche Erfolgskomponente des Unrechts normentheoretisch erklärt werden kann. Als Ausgangspunkt der Überlegungen dient die Ableitung der Normen aus der Stufenfolge der Wertungen nach Armin Kaufmann 335 • Danach wird der Zusammenhang zwischen den Rechtsgütern und den sie schützenden Normen folgendermaßen vermittelt: Die Rechtsordnung läßt zunächst den Rechtsgütern eine positive Bewertung zuteil werden (1. Wertungsstufe).336 Daraus ergibt sich auf der 2. Wertungsstufe die negative Beurteilung von Ereignissen, welche die
332 Paeffgen, S. 111 f.
333 So
im Beispiel des Messerstiches, bei dem ein und dasselbe Geschehen einmal aus Täterperspektive als Handlung und einmal aus Opferperspektive als Körperverletzungserfolg angesehen wird, Paeffgen, S. 113.
334 Paeffgen, S. 114 f.; Beispiel des Täters, dessen Waffe sich in der Hosentasche verhakt oder der durch einen Muskelkrampf am Ziehen der Waffe gehindert wird. 335 Diese
Horn, S. 65 ff.
wurde bereits in Fn.
336 Armin Kaufmann,
11 Erb
311
kurz skizziert; vgl. auch die ausführliche Darstellung bei
Normentheorie, S. 69 f.
162
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
Rechtsgüter in ihrer Unversehrtheit beeinträchtigen. 337 Auf der 3. Wertungsstufe schließlich werden menschliche Verhaltensweisen, die entweder bewußt auf die Herbeiführung eines solchen Ereignisses gerichtet sind oder unbeabsichtigt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu ihm führen werden, ebenfalls negativ bewertet. 338 Erst auf dieser Stufe ist der Übergang vom "Werturteil" zum "Sollurteil" und damit zur echten Norm möglich: Diese entsteht durch das Zusammenwirken des Werturteils (Mißbilligung des gefährlichen Verhaltens) mit dem "teleologischen Moment", der Möglichkeit, die Wirklichkeit zu beeinflussen, indem die Adressaten zum Unterlassen des mißbilligten Verhaltens angehalten werden. Wo dieser Spielraum zur Wirklichkeitsgestaltung nicht vorliegt, ist es laut Kaufmann sinnlos, von einer Norm im eigentlichem Sinn zu sprechen, weil diese mit dem Werturteil identisch wäre. 339 Nun stellt sich die Frage, inwiefern in diesem Modell Raum bleibt für die Einbeziehung der opferbezogenen Unrechtskomponente.
i. Die dem Erfolgsunwert zugrundeliegende Normverletzung Krümpelmann weist darauf hin, daß das System des Unrechts grundsätzlich von zwei Seiten aus konstruiert werden kann, nämlich außer vom Armin Kaufmanns Auffassung zugrundeliegenden finalistischen, vom Unwert des Täterverhaltens ausgehenden Standpunkt auch aus der Sicht des Opfers, für das sich Unrecht als "eine Einbuße an Lebensgestaltungsmöglichkeiten" darstellt.340 Er plädiert für eine Synthese beider Lehren, da die Einseitigkeit beider für sich genommen dem Umstand nicht gerecht werde, daß Unrecht (im Gegensatz zu Drittinteressen nicht berührenden Verhaltensweisen oder reinen Unglücksfällen) "nicht vom Menschen an Objekten, oder am Menschen durch schädigende Ereignisse, sondern ... vom Menschen am Menschen" bewirkt wird.341 Entsprechend der Verhaltensnorm auf der Täterseite haben wir es auf der Opferseite mit einer Gewährleistungsnorm zu tun. Diese gewährt dem Opfer einen Schutzanspruch zur Abwendung einer Gefahrenlage, dessen Verletzung das Unrecht
337 Aa.O., S. 70 f. 338 Aa.O., S. 71 f. 339 Aa.D., S. 74 ff.
340 Bagatelldelikte, S. 68 ff., 74 ff.; Bockelmann-FS, S. 443 ff. 341 Bagatelldelikte, S. 82 unter Hinweis auf eine ähnliche Formulierung bei Hans-Rudolf Horn,
S.76. Eine ausführliche Darstellung des Ansatzes mit zustimmender Stellungnahme findet sich bei
Paeffgen, S. 117 ff.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
163
des Erfolgsunwertes begründet, wie das Handlungsunrecht aus der Verletzung der Pflicht folgt, die aus der Verhaltensnorm abgeleitet wird.342 Wie soll jedoch gewährleistet sein, daß sich das Erfordernis der Berücksichtigung bei der Blickwinkel bei der Unrechtsbestimmung auch in einer sachlichen Verschiedenheit von Verhaltensnorm und Schutzanspruch niederschlägt? Liegt nicht der Einwand nahe, daß der Wechsel zur Opferperspektive lediglich zu einer spiegelbildlichen Umformulierung des Gegenstandes der Wertungsstufen und der Norm343 führt, so daß dem "Anspruch" kein von dem der Verhaltensnorm unterschiedlicher Gegenstand zugrundeliegt, wie ihn Zielinski für die Anerkennung einer eigenständigen Norm verlangt?344 Wo sollte der Raum für eine normative Korrespondenz zwischen Schutzanspruch und Verhaltensnorm sein, wenn beide nur andere Sichtweisen desselben Sachverhaltes sind und damit das Vorliegen der einen aus dem der anderen folgt? Bei näherer Untersuchung erweisen sich diese Bedenken als unbegründet, da nicht alle Unrechtsformen der einen auch aus der anderen Perspektive erklärt werden können.
ii. Der Wirkungs mechanismus der Verhaltensnormen Was die Verhaltensnormen betrifft, so ist Armin Kaufmann darin zuzustimmen, daß diese ihre steuernde Wirkung nur insoweit ausüben können, als sie den Menschen anhalten, sich in bestimmter Weise "zwecktätig" zu verhalten (bzw. nicht zu verhalten); ein Verursachungsverbot als solches ist sinnlos. 345 Die Verhaltensbeeinflussung kann in der Weise geschehen, daß dem Adressaten verboten wird, eine Tätigkeit auszuüben, die nach seiner Vorstellung der Verletzung eines Rechtsgutes dient oder mit ihr voraussichtlich verbunden ist (Verbot vorsätzlichen Verhaltens), aber auch derart, daß er angehalten wird, seine Tätigkeiten auf mögliche Folgen für fremde Rechtsgüter zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu unterlassen oder nicht ohne Einhaltung besonderer
342 S.o.l.l. 343 Rechtsgutverletzendes Ereignis als passive Einbuße (statt als positive Verletzung) an ge-
schützten Interessen und daher von der Rechtsordnung unerwünscht, gefährliches Verhalten als Erleiden einer Bedrohung (statt als aggressive Betätigung), Gewährung eines Anspruch auf Nichtvornahme der Handlung durch die Rechtsordnung (statt Untersagung des Verhaltens).
344 Vgl. Zielinski, S. 136 ff. 345 Armin KaufmQJllt, Normentheorie, S. 105 ff.
164
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
Vorsichtsmaßnahmen vorzunehmen (Verbot fahrlässigen Verhaltens).346 Die Grenze dieses Mechanismus der Verhaltenssteuerung wird da erreicht, wo ein Verhalten zwar objektiv (und bestimmten Beobachtern auch erkennbar) geflihrIich ist, diese Eigenschaft aber auch vom sorgfaltigsten Beobachter in der Situation des Täters nicht erkannt werden kann: Hier ist eine Motivierung des Handelnden durch die Sorgfaltsnorm absolut unmöglich. 347 Damit erscheint bei der Umsetzung der Wertungen in Normen über die Verhaltenskomponente ein gewisses Defizit: Bestimmte vom Menschen am Menschen bewirkte BeeinträChtigungen bleiben ausgeklammert. Freilich könnte es sein, daß eine Erfassung dieser Beeinträchtigungen als Unrecht gar nicht möglich ist (Näheres u. iv.). Umgekehrt produziert die Wirkungsweise der Verhaltensnormen gegenüber den objektiv geflihrlichen Verhaltensweisen aber auch einen "Überschuß" an Verboten: Wenn die Verhaltensnorm nur durch Motivation des Handelnden wirken kann, dann muß ihre Geltung in einer sich dem Handelnden in bestimmter Weise darstellenden Situation unbedingt sein und kann nicht unter dem Vorbehalt stehen, daß gewisse Umstände außerhalb der Erkennbarkeit vorliegen oder nicht vorliegen. 348 Das bedeutet, daß auch Verhaltensweisen untersagt sind, die zwar objektiv harmlos, aber nach den sich dem Täter darstellenden Verhältnissen gefahrlich sind. iii. Die Möglichkeit reinen Handlungsunrechts Aus der Existenz letzterer folgt die Möglichkeit eines reinen Handlungsunrechts: Wenn ein Verhalten verboten ist, weil es aus Sicht des Täters Rechtsgüter schädigen kann oder muß, ohne daß diese Vorstellung der Realität entspricht, dann liegt nach finalistischer Auffassung gleichwohl Unrecht vor, weil die Bewertung auf der dritten Stufe die Finalität der Handlung als solche zum 346 Vgl. Zie/inski, S. 171 ff. Die genaue Einordnung der (insbesondere unbewußten) Fahrlässigkeit in das System der finalen Unrechtslehre ist umstritten, spielt in diesem Zusammenhang aber keine Rolle. Vgl. dazu aus jüngster Zeit den Überblick bei Struensee, JZ 1987, S3 ff., mit umfassenden Nachw. und einem neuen Ansatz, wonach auch die Fahrlässigkeit als Unrechtselement wie der Vorsatz als subjektiver Tatbestand erfaßt werden soll (dazu u. lIlA.). 347 Vgl. Zie/inski, S. 143. 348 Vgl. Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 93 f.: "Eine Handlung ist entweder verboten, oder sie ist es nicht. Eine Handlung 'unter gewissen Voraussetzungen' ist eben eine andere Handlung als die Handlung, bei der diese Voraussetzungen fehlen." Wenn die Verbotenheit einer Handlung aber nach der dem Täter erkennbaren Situation zu bestimmen ist, können auch nur dem Täter erkennbare Voraussetzungen die Handlung modifizieren; andere Umstände lassen die Handlung und ihre absolute Verbotenheit bzw. Erlaubtheit unverändert bestehen.
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
165
Gegenstand hat.349 Krümpelmann weist darauf hin, daß in diesen Fällen freilich nicht von Unrecht ("vom Menschen am Menschen") gesprochen werden könnte, wenn nur die "normmotivierende Funktion des Rechtsgutes" beeinträchtigt wäre und es an einer "Sinnbeziehung" zu einem konkreten Erfolg fehlte. 350 Diese ist jedoch aus der Sicht des Täters gegeben, da die Handlung eine Tendenz zur Herbeiführung eines konkreten Erfolges hatte, indem der Täter in einer Weise agierte, die nach den ihm erkennbaren Verhältnissen nicht nur abstrakt der positiven Bewertung eines Rechtsgutes zuwiderlief, sondern eine ganz konkrete Beeinträchtigung eines Rechtsgutträgers mit sich bringen konnte.351 Aus der Sicht des potentiellen Opfers ist sie jedoch nicht darstellbar: Wenn ein Verhalten praktiziert wird, das zwar für den Handelnden pflichtwidrig ist, aber für den Rechtsgutinhaber absolut harmlos (also eine reine Sorgfaltspflichtverletzung oder untauglicher Versuch), so fehlt es an einer Beeinträchtigung der konkreten Interessen.352 Daher ist aus dieser Perspektive auch kein ruergegen gerichteter Schutzanspruch darstellbar, weil aus ihr weder eine negative Bewertung des Geschehens möglich ist noch ein Gestaltungsspielraum besteht (die Situation des konkreten Rechtsgutträgers ist so und so ungestört, ein Anspruch auf Unterlassung der Handlung könnte sie also nicht verbessern). Wenn es demnach Unrechtsformen gibt, die unter dem Aspekt des Erleidens nicht erklärt werden können, dann könnte das allerdings bedeuten, daß das Unrecht über die Handlungsseite umfassend dargestellt werden kann, während aus der Opferperspektive nur ein Teilbereich zu erfassen ist, ohne daß dabei Bereiche eröffnet werden, die sich nicht auch aus der Perspektive des Handelnden aufzeigen lassen. Damit wäre der "Schutzanspruch" dort, wo er in Betracht kommt, stets nur eine durch den Perspektivenwechsel bedingte Umkehrung der Ver hai tensnorm.
iv. Die eigenständige Stellung des Schutzanspruchs Anders liegen die Dinge, wenn es Unrechtsformen gibt, die nur aus der Erfolgs- und nicht aus der Handlungsperspektive dargestellt werden können, denn dann hat der Schutzanpruch eine eigentändige (nicht generell von der Verlet349 Vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. Tl:, Zielinski, S. 123 ff. 350 Bagatelldelikte, S. 90 ff. 351 Krümpelmann a.a.O.
352 Das Rechtsgut ist nur noch als Institution und nicht mehr als Interesse eines bestimmten Menschen betroffen, vgl. Krümpelmann a.a.O., S. 71 ff.
166
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
zung einer Verhaltensnorm abhängige) Stellung. Zu prufen ist also, ob wenigstens in einem Teil der Fälle, in denen eine Handlung objektiv gefährlich ist, aber mangels Erkennbarkeit der möglichen Konsequenzen für den Täter keiner Verhaltensnorm unterfällt, gleichwohl aus der Opferperspektive unter dem Gesichtspunkt "Verletzung eines Schutzanspruches" von "Unrecht" ausgegangen werden muß. Dies scheitert jedenfalls nicht an der fehlenden negativen Bewertung der Vorgänge, der ja auch Naturereignisse unterworfen sind, die ein Rechtsgut beeinträchtigen.353 Was jedoch zweifelhaft erscheint, ist die Existenz einer Norm, die durch die Handlung verletzt wird, wenn wir für eine solche einen Gegenstand verlangen, den das Recht nicht nur zu bewerten, sondern auch zu gestalten vermag. 354 So kann von einem Schutzanspruch, der dem Verletzten die Möglichkeit einer Verbesserung seiner Situation gewährt, jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn die schädliche Wirkung des Verhaltens weder für den Handelnden noch für den Geschädigten (oder einen für diesen tätigen Sachwalter) erkennbar war, denn in diesem Fall kommt die Verletzung durch die fremde Handlung in der Tat wie ein Naturereignis über den Betroffenen. Ganz anders ist die Lage jedoch in Situationen, in denen zwar mangels Erkennbarkeit der Gefahr für den Handelnden keine Verhaltenspflicht besteht, aber dem Gefährdeten (bzw. einer zur Wahrnehmung seiner Interessen bereiten anderen Person) die Gefahr erkennbar ist und ihm Gegenrechte zur Seite stehen.355 In diesem Zusammenhang ist zunächst der (analog auch auf an353 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 70 f. 354 Vgl. dazu auch Ga/las, 8ockelmann-FS, S. 162. 355 Derartige Fälle dürften allerdings kaum praktisch werden: Wenn Verhalten, dessen Gefährlichkeit dem Handelnden nicht erkennbar ist, den Bedrohten überrascht, dann wird in der Regel keine Zeit mehr zu Gegenmaßnahmen (geschweige denn zur gerichtlichen Geltendmachung) von Unterlassungsansprüchen sein. Umgekehrt ist in Konstellationen, in denen diese Zeit noch zur Verfügung steht, wohl normalerweise auch die Möglichkeit gegeben, den Handelnden über die relevanten Umstände in Kenntnis zu setzen, so daß die Weiterverfolgung der urspriinglichen Handlung für ihn pfIichtwidrig wäre, und sei es, daß der Handelnde aus der Einleitung der Gegenmaßnahmen darauf schließen muß, daß sein Verhalten in fremde Belange eingreift. Die Gegenmaßnahme richtet sich dann letztlich doch gegen Verhaltensunrecht. Das ändert aber nichts an der theoretischen Möglichkeit von Abwehrrechten gegen bis zuletzt nicht pflichtwidrige Handlungen, wenn sich die entsprechenden Beispiele auch nicht durch besondere Lebensnähe auszeichnen: So ist der Fall zu nennen, in dem ein Autofahrer durch unvorhersehbare Straßenglätte die Beherrschung über das Fahrzeug verliert und auf eine Fußgängergruppe zuschleudert, ihm aber ein geistesgegenwärtig eingreifender LKW -Fahrer den Weg versperrt (Beispiel nach LK/Spentkl, § 32 Rdnr. 28). Spendei geht hier allerdings nicht von einer Handlung aus, weil der Fahrer keinen Einfluß mehr auf die Bewegungen seines Wagens hat. M.E. läßt sich aber das Pahren als solches als die Handlung ansehen, die durch den nicht steuerbaren Schleudervorgang zur Bedrohung der Fußgäner wird und daher bekämpft werden darf. Ein noch exotischeres Beispiel: Aufgrund eines traumatischen Erlebnisses löst eine bestimmte
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
167
dere Rechtsgüter außer dem Eigentum anwendbare) Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1, S. 2 BGB zu nennen, der eine Handlung zum Gegenstand hat, die nicht notwendigerweise sorgfaltswidrig zu sein braucht.356 Hier beläßt es die Rechtsordnung nicht bei einer negativen Bewertung des sorgfalts gemäßgefährlichen Verhaltens, sondern stellt dem Betroffenen ein Mittel zur Verfügung, dagegen vorzugehen, nämlich eine Anspruchsnorm,357 die auf ihren Gegenstand (die Freiheit des Rechtsgutinhabers von Beeinträchtigungen) eine gestaltende Wirkung entfaltet.358 Aber auch das Selbsthilferecht gegen verbotene Eigenmacht nach § 858 BGB, das keine Erkennbarkeit der Unzulässigkeit des Verhaltens für den Handelnden voraussetzt,359 und schließlich das Notwehrrecht360 (womit wir uns (auch) wieder auf strafrechtlichem Gebiet bewegen) sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Hier schützt die Rechtsordnung konkrete Rechtsgüter nicht dadurch, daß sie dem Handelnden eine Verhaltensweise mittels einer VerhaItensnorm untersagt, sondern dadurch, daß sie durch Erlaubnissätze (also Suspendierung von Pflichten, die ihrerseits dem Beeinträchtigten obliegen) das Spektrum der dem Rechtsgutträger erlaubten Verhaltensweisen erweitert. Auch hier wird also das rechtsgutbeeinträchtigende Verhalten unabhängig von seiner Erkennbarkeit für den Handelnden nicht nur negativ bewertet, sondern die Rechtsordnung eröffnet auch einen Spielraum zu seiner Abwendung. Folglich liegt unabhängig von einer Verhaltenspflicht das vor, was wir oben für die Anerkennung eines Schutzanspruchs als echte Norm Melodie bei X mit einiger Zeitverzögerung Krampfanfälle aus. Sein Arbeitskollege A pfeift diese Melodie und läßt davon auch auf die Bitte des X nicht ab, weil er an eine Schikane glaubt und dies nach den sich ihm erschließenden Umständen auch tun darf. Obwohl das Verhalten des Adamit nicht als sorgfaltswidrig bezeichnet werden kann, wird man dem X (wenn er nicht ausweichen kann, etwa weil er die von ihm bediente Maschine nicht verlassen darf) ein (sozialethisch eingeschränktes) Notwehrrecht zubilligen müssen und daneben für die Zukunft einen Unterlassungsanspruch analog § 1004 BGB. 356 Vgl. dazu unten IV.2b./d.bb. 357 Hier sogar i.S. von § 194 Abs. 1 BGB. 358 Dagegen kann nicht eingewendet werden, daß das Verhalten spätestens mit Klagezustellung pflichtwidrig wird; so aber Münzberg, Verh. u. Erfolg, S. 422 ff., zur Kritik an dieser Sichtweise s.u. lV.2.d.bb.(1). Auch der Einwand, daß der Unterlassungsanspruch ja schließlich wieder über im Urteil bzw. in der einstweiligen Verfügung enthaltene - Verhaltensnormen durchgesetzt wird, geht in diesem Zusammenhang fehl, da die entsprechenden Verhaltensanordnungen nur ein Hilfsmittel zu seiner Durchsetzung sind, also von ihm abhängen und nicht umgekehrt, so daß der Anspruch nicht als bloße Kehrseite einer Verhaltensnorrn verstanden werden kann. 359 Vgl. Jauernig, § 858 Anm. 2.e.; unten IV.2.d.bb.(I). 360 Sofern man für den "Angriff" i.S. von § 32 StGB bzw. § 227 BGB (im Einklang mit der überwiegenden Meinung) kein pflichtwidriges Verhalten verlangt, vgl. Jescheck, Lehrb., S. 303, m.w.N.
168
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
gefordert haben. Wir können also (zumindest theoretisch) von der Existenz von Verhaltensweisen ausgehen, die als einer Norm zuwiderlaufendes Übel "vom Menschen am Menschen" als Unrecht bezeichnet werden können, aber nur aus der Opferperspektive als solches darstellbar sind. v. Die grundsätzliche Gleichberechtigung von Verhaltensnorm und Schutzanspruch Wenn es demnach nicht nur Formen von Unrecht gibt, die allein aus der Täterperspektive über die Verletzung einer Verhaltensnorm erklärt werden können, sondern umgekehrt auch solche, die nur aus der Opferperspektive über die Verletzung eines Schutzanspruches zu begründen sind, dann ist kein Grund mehr ersichtlich, warum im Überschneidungsbereich, in dem ein Geschehen aus dem Blickwinkel von Täter und Opfer als Unrecht dargestellt werden kann, allein die Beurteilung der Pflichtverletzung legitim sein sollte; das Abstellen auf den Schutzanspruch kann nicht als bloße Spiegelung der Verhaltensnorm ohne eigenen Erkenntniswert abgetan werden. Damit ist der Nachweis für die Existenz einer eigenständigen Norm ("Schutzanspruch" ) auf der Opferseite erbracht, deren der eigentlichen Schädigung vorausgehende Verletzung einen Verstoß gegen einen Rechtssatz darstellt und damit das neben das Handlungsunrecht tretende Erfolgsunrecht begründen kann.
dd) Der Zusarnrnenhang zwischen bei den Komponenten Was uns im Hinblick auf das rechtmäßige Alternativverhalten aber letztlich interessiert, ist die Frage, wie die "normative Korrespondenz" zwischen Pflicht und Anspruch erklärt werden kann. Dabei sind wir jetzt insofern einen Schritt weiter, als die eigenständige Existenz des Schutzanspruches feststeht, aber die endgültige Antwort steht im Ergebnis noch aus, weil der Zusammenhang zwischen beiden Komponenten bislang nicht erklärt ist: Wenn einerseits eine Verhaltenspflicht und andererseits ein auf Gegenrechten beruhender Schutzanspruch vorliegt, dann besagt das noch nicht, daß ein solcher neben der Pflicht gegebener Anspruch mit dieser auch in Wechselwirkung tritt, denn inwiefern sollte es für die Strafbarkeit des Täters von Belang sein, ,ob für das Opfer Selbsthilferechte oder Unterlassungsansprüche in Betracht kornrnen? Das besondere Zusammenspiel von Pflicht und Anspruch bei Unrecht, das sowohl aus der Täter- als auch aus der Opferperspektive erklärt werden kann, hat denn
C. Die "normative Korrespondenz" zwischen Verhalten und Erfolg
169
auch nichts mit den Gegenrechten zu tun, die den Schutzanspruch als eine über die bloße Wertung hinausgehende Norm erscheinen lassen. Es beruht vielmehr darauf, daß in den einschlägigen Fällen die tatsächliche GestaltungskraJt des Anspruchs nicht (nur) über Gegenrechte des Gefährdeten vermittelt wird, sondern (auch) durch den Spielraum, den die Verhaltensnorm als Sollenssatz eröffnet: Wenn die Gefährlichkeit des Verhaltens aus der Täterperspektive mit der objektiven Gefährlichkeit übereinstimmt, dann liegt in der Möglichkeit, daß der Handelnde durch die Verhaltensnorm zu aus seiner Sicht harmlosem Verhalten motiviert wird, zugleich die Chance, daß das aus der Opferperspektive negativ bewertete objektiv gefährliche Verhalten unterbleibt und damit der Schutzanspruch erfüllt wird. Umgekehrt führt die Wahl des pflichtwidrigen Verhaltens durch den Täter dazu, daß zugleich das Opfer dem objektiv gefährlichen Verhalten ausgesetzt ist und somit der Schutzanspruch vereitelt wird. Insofern besteht ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Mißachtung der Norm, der Verletzung des Schutzanspruches und damit letztlich der Rechtsgutverletzung, es liegt eine Brücke vom Handlungs- zum Erfolgsunrecht vor.
ee) Der Ausschluß des Zusammenhangs in rmA V-Fällen Als entscheidenden Punkt haben wir nun zu untersuchen, inwieweit dieser Zusammenhang in bestimmten rmAV-Fällen (z.B. Radfahrer-Fall) fehlen und in diesen damit reines Handlungsunrecht vorliegen soll, obwohl eine pflichtwidrige Handlung eine Rechtsgutverletzung verursacht hat. Reines Handlungsunrecht haben wir dort angenommen, wo ein aus der Täterperspektive gefährliches Verhalten realisiert wird, welches objektiv harmlos ist; hier fehlt es an einem Schutzanspruch, weil dem potentiellen Opfer ohnehin keine Gefahr droht. 361 Umgekehrt müssen wir einen Schutzanspruch LS. einer zur Abwehr des drohenden Verhaltens bereitstehenden Norm (allerdings ebenso die SorgfaItspflichtverletzung) auch dann verneinen, wenn die objektive Gefährlichkeit der Handlung dem Täter nicht erkennbar war und Gegenrechte des Opfers nicht in Betracht kamen, die Schädigung sich also als reines Unglück darstellt: Hier ist die Rechtsordnung ebensowenig wie bei Naturereignissen in der Lage, die Situation des bedrohten Rechtsguts zu verbessern. 362 Noch nicht behandelt ist dabei der Fall, in dem es aus der Perspektive des Täters ein gefährliches und ein harmloses Verhalten gibt, objektiv aber beide 361 Vgl. o. cc.(2).iii. 362 Vgl. o. cc.(2).iv.
170
3. Abschnitt: Die Zurechnung des Erfolges
gefahrlich sind - also genau die Variante, die wir in den rmAV-Konstellationen vorfinden. Hier stellt sich die Sachlage folgendermaßen dar: Aus der nach der Täterperspektive bestehenden Handlungsalternative und der Mißbilligung des gefährlich erscheinenden Verhaltens läßt sich die Pflicht des Täters zur Nichtvornahme des gef