211 86 124MB
German Pages 609 [612] Year 1969
de Gruyter Lehrbuch
Das Deutsche Strafrecht Eine systematische Darstellung von
Dr. Hans Welzel Professor in Bonn
Elfte neubearbeitete und erweiterte Auflage
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969
Der erste Teil des Buches ist zugleich die 14. erweiterte Auflage von: „Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen" Übersetzung ins Spanische von Prof. Carlos Fontan Balestra (gemeinsam mit Eduard Friker), Depalma, Buenos Aires, 1956 Teilübersetzungen ins Italienische (1952), Koreanische (1959), Japanische (1962), Griechische (1963), Spanische (1964), Übersetzung ins Italienische in Vorbereitung
Avchlv-Nr. 23 14 601 Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 80. Alle Hechte, einschließlich des Hechts der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten.
EBERHARD SCHMIDT dem getreuen Eckart der Rechtsidee zugeeignet
Vorwort zur 11. (14.) Auflage Die Neuauflage mußte tiefe Eingriffe über sich ergehen lassen: Die beiden Strafrechtsreformgesetze waren einzuarbeiten, und zwar in erster Linie das am 1. 9. 69 und am 1. 4. 70 in Kraft tretende erste Strafrechtsreformgesetz, während auf die Besonderheiten des erst am 1. 10. 73 in Kraft tretenden zweiten Strafrechtsreformgesetzes nur hinzuweisen war. Dabei mußte ich die Darstellung über die Strafe und die sichernden und bessernden Maßnahmen im besonderen Maße neu bearbeiten. Daneben habe ich die Rechtsänderungen, die Rechtsprechung und die Literatur seit der letzten Auflage (1967) eingearbeitet; davon seien die Neufassung des Staatsschutzstrafrechts und des Ordnungswidrigkeitenrechtes und das Kastrationsgesetz besonders hervorgehoben. Abgesehen von diesen aktuellen Partien wurde die Dogmatik des Beleidigungsrechtes an Hand ihrer jüngsten Entwicklung neu dargestellt; hierbei bedanke ich mich in besonderem Maße für die Mitarbeit des Regensburger Kollegen Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Hirsch. Aber auch zu den Grundfragen der hier vertretenen finalen Handlungslehre habe ich mehrfach ausführlich Stellung genommen und ihre Konsequenzen für schwierige moderne Grenzfragen deutlich gemacht (bes. in §§ 8,18,20). So ist ein neues Buch entstanden, das zugleich einen Einblick in die — hoffentlich bald zu einem glücklichen Ende kommende — Strafrechtsreform bietet. Bei den Korrekturarbeiten haben mir die Herren Referendare Theodor Blank, Peter Jäger und Dr. Hinrich Rüping, letzterer vor allem auch bei der Anfertigung der Register, tatkräftig Hilfe geleistet, wofür ich ihnen an dieser Stelle vielmals danke. Die Neuauflage widme ich meinem langjährigen treuen Freunde, Herrn Professor Dr. Dr. Eberhard Schmidt, mit den gleichen Worten, in denen er für die Leistung Eduard Kohlrauschs in schwerer Zeit dankte. Bonn, im Herbst 1969 Hans Wekel
Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort Wichtige Abkürzungen
VII XIII
Einleitung: Das Strafrecht §1. § 2. §3. §4. §6. §6.
Sinn und Aufgabe des Strafrechts tiberblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts Quellen und Schrifttum des Strafrechts Der Begriff des Strafrechts Strafrecht und Strafgesetz Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts
l 9 13 15 19 25
Allgemeiner Teil Erstes Buch: Das strafbare Verhalten und sein Täter § 7. Vorbemerkung: Aufgabe und Gegenstand der allgemeinen Lehren des Strafrechts
30
Enter Teil: Der Aufbau des Verbrechens und das Wesen des Totere Einleitung: Die Handlungslehre §8. Der Handlungsbegriff §9. Das Kausalproblem im Straf recht
33 43
Erstes Kapitel: Das Unrecht und sein Täter § 10. Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des strafrechtlichen Unrechts
48
Erster Abschnitt: Das Unrecht der vorsätzlichen Delikte § 11. Der Unrechtsbegriff der vorsätzlichen Delikte § 12. Der objektive Tatbestand § 13. Der subjektive Tatbestand
59 62 64
X
Inhaltsverzeichnis Seite
§ 14. § 15. § 16. § 17.
Die Die Die Der
Rechtfertigungsgründe Täterschaft Teilnahme Täter als kriminologischer Typ
80 98 111 125
Zweiter Abschnitt: Das Unrecht der fahrlässigen Delikte § 18. Tatbestand und Rechtswidrigkeit der fahrlässigen Delikte . . . . . . 127
§ 19. §20. §21. § 22. § 23.
Zweites Kapitel: Die Schuld Die Stellung der Schuld im Verbrechensbegriff Schuld und Willensfreiheit Die Elemente der Vorwerfbarkeit: 1. Die Schuldfähigkeit („Zurechnungsfähigkeit") Die Elemente der Vorwerfbarkeit: 2. Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht Die Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens
138 142 152 157 178
Zweiter Teil: Die Stufen der Verbrechensverwirklichung. Der Versuch § 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch . . 187 § 25. Der Rücktritt vom Versuch 196 Dritter Teil: Die strafbare Unterlassung § 26. Der Begriff der Unterlassung § 27. Die echten Unterlassungsdelikte § 28. Die unechten Unterlassungsdelikte
200 204 207
Vierter Teil: Verbrechenseinheit und -mehrheit § 29. Die Handlungseinheit und die Einheit strafbarer Lebensführung . . . 224 § 30. Zusammentreffen mehrerer Verbrechenstatbestände in einer Handlung (die Idealkonkurrenz) 231 § 31. Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen (die Realkonkurrenz). 236 Zweites Buch: Die Strafen und die sichernden Maßregeln § 32. §33. § 34. §35. § 36.
Vom Wesen der Strafe und der sichernden Maßregeln Das Strafensystem Die Strafbemessung Die Maßregeln der Sicherung und Besserung Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Strafe des Jugendstrafrechts
. 238 247 257 263 . 270
Inhaltsverzeichnis
XI
Besonderer Teil Die einzelnen Verbrechen §37. Einleitung: Systematik des Besonderen Teils
8elte
277
Erstes Buch: Verbrechen gegen die Persönlichkeit §38. Die Tötungsverbrechen § 39. Die Körperverletzung s 40. Gefährdung von Leib und Leben § 41. Die Abtreibung §42. Die Beleidigung §43. Straftaten gegen die persönliche Freiheit § 44. Der Hausfriedensbruch § 46. Verletzung fremder Privatgeheimnisse und der Vertraulichkeit des Wortes
280 288 295 299 303 324 332 335
Zweites Buch: Vermögensverbrechen Erster Abschnitt: E i g e n t u m s v e r b r e c h e n § 46. Die Zueignungsdelikte im allgemeinen 339 § 47. Die Unterschlagung 344 §48. Der Diebstahl 346 § 49. Besondere Formen des Diebstahls und diebstahlsähnliche Fälle . . . . 351 § 60. Der Raub 359 §61. Die Sachbeschädigung 361 Zweiter Abschnitt: Straftaten gegen Aneignungs-, Forderungs- und Sicherungsrechte § 62. Jagd- und Fischereiverbrechen 362 § 63. Straftaten gegen Forderungs-, Sicherungs- und Nutzungsrechte . . . . 364 Dritter Abschnitt: Verbrechen gegen das gesamte V e r m ö g e n §64. Der Betrug §55. Die Erpressung § 56. Die Untreue § 57. Strafbare Vermögensgefährdung und Ausbeutung § 68. Sachliche (unechte) Begünstigung und Hehlerei
368 380 384 389 392
XII
Inhaltsverzeichnis Drittes Buch: Verbrechen gegen das Gemeinschaftsleben Erster Abschnitt: Urkunden- und Geldverbrechen Seite
§59. Systematischer Überblick über die Urkundendelikte·, der Urkundenbegriff § 60. Die Urkundenfälschung und die Fälschung technischer Aufzeichnungen . §61. Die übrigen Urkundendelikte (Falschbeurkundung, Urkundenunterdrükkung, Mißbrauch von Ausweispapieren, Grenzverrückung) § 62. Straftaten gegen das Münzwesen sowie an Stempel- und Postwertzeichen
402 408 415 420
Zweiter Abschnitt: Verbrechen gegen die sittlichen Grundlagen des sozialen Lebens § 63. Straftaten gegen Personenstand, Ehe und Familie 422 § 64. Straftaten der Sexualsphäre (Sittlichkeitsdelikte) 431 § 65. Vergehen, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen . . . . 449 §66. Tierquälerei 451 Dritter Abschnitt: Strafbare Störungen des Gemeinschaftslebens §67. Gemeingefährliche Straftaten 452 §68. Verletzung elementarer Verkehrsrücksichten und sozialer Pflichten . . 470 Viertes Buch: Verbrechen gegen den Staat § 69. Straftaten gegen den Bestand des Staates §70. Störung der Beziehungen zu ausländischen Staaten § 71. Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen §72. Straftaten gegen die Landesverteidigung und die Volkskraft § 73. Auflehnung gegen die Staatsgewalt §74. Störung des Volksfriedens § 75. Strafbare Eingriffe in die Staatsautorität und in die Staatsverwaltung . § 76. Straftaten gegen die Rechtspflege § 77. Fortsetzung: Falsche Beweisaussage § 78. Die Amtsverbrechen § 79. Verbrechen nach Völkerstrafrecht: Der Völkermord §80. A n h a n g . Schema für den Verbrechensaufbau. Zugleich Anleitung zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle Gesetzesrejrister Sachverzeichnis
480 491 492 494 498 509 512 516 526 535 559 560 567 578
Wichtige AE ARSP Baumann BGH. BGH.(Z.) BayObLG. Binding I, II Binding, Hdb. Bockelmann, Arzt BVerfG. DAR. DJ. DJT. DR. DRZ. DRiZ. DStR. Dohna, Aufbau Dreher, Bericht BA. EngischFestschrift Enn.-Nipperdey FamRZ. Floegel-Härtung Frank Frank-Festg. GA. Gallas, Beiträge Gerland GrS. Grünhut-Festg. GS. Gutachten Hafter I, II Kann. Rpfl. HESt.
Abkürzungen
Alternativ-Entwurf eines StGB, Allg. TeU, 1966. Archiv f. Rechts- u. Sozialphilosophie. Baumann, Strafrecht, Allg. Teil, 5. Aufl., 1968. Entscheidungen des Bundesgerichtshois in Strafsachen. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen. Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Binding: Lehrbuch des gemeinen deutschen Straf rechts, Besonderer Teil 2. Auflage 1902-1906. Binding: Handbuch des Strafrechts 1885. Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968. Bundesveri'assungsgericht. Deutsches Autorecht, hg. v. Allg. D. Automobil-Club. Deutsche Justiz. Verhandlungen des deutschen Juristentages. Deutsches Recht. Deutsche Rechtszeitschrift. Deutsche Richterzeitung. Deutsches Strafrecht. Graf zu Dohna: Der Aufbau der Verbrechenslehre. 2. Auflage 1941. Probleme der Strafrechtsreform; Berichte über die Tagungen der Großen Strafrechtskommission; Bundesanzeiger. Festschrift für Karl Engisch, 1969. Enneccerus-Nipperdey, Der Allgem. Teil des Bürgerlichen Rechts, lö. Aufl., 1959/6U. Ehe und Familie. Zeitschrift für das ges. Familienrecht. Floegel-Hartung, Straßenverkehrsrecht, 17. Aufl. 1968. Reinhard Frank: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. 18. Auflage 1931. Fest^abe^für R. Frank. 1930. Goltdammers Archiv für Strafrecht. Wilhelm Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968. Gerland: Deutsches Reichsstrafrecht. 2. Auflage 1932. Großer Senat. Erinnerungsgabe für Max Grünhut, 1965 Gerichtssaal. Materialien z. Strafrechtsreform, 1. Bd., Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954. Hafter: Schweizerisches Straf recht. Besonderer Teil I (1937), (1943). Hannoversche Rechtspflege. Höchstrichterliche Entscheidungen in Strafsachen.
XIV Hippel Hippel I, II Hirsch, Neg. Tatbestandsmerkmale HRR. JA. Jesckeck, Lb JMB1NRW. JR. JuS. JW. JZ. Kaufmann, Normentheorie Kaufmann, Unterlassungsdeiikte KG. Kohlrausch-L. Lackner-Maassen
Wichtige Abkürzungen v. Hippel: Lehrbuch des Strafrechts. 1932. v. Hippel: Deutsches Strafrecht. Bd. I. 1926. Bd. II. 1930. H. J. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960. Höchstrichterliche Rechtsprechung; Ergänzungsblatt z. DJ. Juristische Arbeitsblätter. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 1969 Justizministerialblatt für Nordrhein-Westfalen. Juristische Rundschau. Juristische Schulung, Zeitschrift f. Studium u. Ausbildung. Juristische Wochenschrift. Juristenzeitung. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954.
Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959. Kammergericht. Kohlrausch-Lange, Strafgesetzbuch. 43. Auflage. 1961. Lackner-Maassen, Strafgesetzbuch (4. Aufl. des von Dreher mitbegründeten Werkes) 1967. Das Reichsstrafgesetzbuch. Erläutert von Ebermayer-LobeLK. Rosenberg. 4. Auflage 1929. (Leipziger Kommentar); 6. Auflage 1944. (§§1-151); 6. u. 7. Auflage 1951 u. 1953; hgg. von Nagler, Jagusch, Mezger; 8. Aufl. hgg. von Jagusch und Mezger, 1957/58. Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht, Leipz. Z. v. Liszt-Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. AllLiszt-Sch. gemeiner Teil 26. Aufl. 1932. Der Besondere Teil zitiert nach der 25. Aufl. 1927. LM. = Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH. Maurach, = Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgem. Teil, 3. Aufl. 1965; Besonderer Teil, 5. Aufl. 1969. AT;BT Mayer = Hellmuth Mayer, Das Straf recht des deutschen Volkes, 2. Aufl. 1953. Mayer-Festschr. = Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft; Festschrift f. Hellmut Mayer, 1966. Mezger = E. Mezger, Strafrecht. Ein Lehrbuch. 2. Auflage 1933. Mezger-Blei I, II = Mezger, Straf recht, ein Studienbuch. Allg. Teil, 13. Auflage 1969; Bes. Teü, 9. Aufl. 1966; hgg. von Blei. MezgerFestschr. == Festschrift für Edmund Mezger, 1954. MDR. =: Monatsschrift für deutsches Recht. MonKrimBi. =: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform (jetzt: Mon.Schr. f. Kriminologie u. Strafrechtsreform: MonKrimStra.). Nieder= Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtsschriften kommission Bonn, 1956—60. NJW. = Neue Juristische Wochenschrift. NsRpfl. = Niedersächsische Rechtspflege.
Wichtige Abkürzungen OGH
Olshausen Probleme
XV
Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone. J. v. Olshausens Kommentar zum StGB. 11. Auflage 1927; 12. Auflage (bis § 246) 1942. Probleme der Strafrechtserneuerung (E. Kohlrausch zum 70. Geburtstag 1944).
Radbruch-Gedächtnisschr. RG. RG.Rspr. RG. (Z) ROW
= Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen. Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und internationale Rechtsprobleme. Roxin, Täterschaft = Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 2. Aufl. 1967. Schleswig-Holsteinischer Anzeiger. SchlHA. Schmidt= Festschrift für Eb. Schmidt, 1961. Festschr. ; Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. 14. Auflage 1969. Schönke-Schr. = 0. Schwarz, Strafgesetzbuch, fortgef. v. Ed. Dreher, 30. Aufl. Schwarz-Dreher 1968. SchweizZ. ·· Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht. Simson-Geerds = Simson-Geerds, Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte, 1969. Süddeutsche Juristenzeitung. SJZ. Studien zur Strafrechtswissenschaft; Festschr. f. Ulr. Stock, 1966. Stock-Festschr. Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen VDA (B) Strafrechts; AUg. Teil bzw. Bes. Teil. Verkehrsrechtssammlung. Entscheidungen aus allen Gebieten VRS. des Verkehrsrechts. Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems. 4. Auflage Welzel, 1961. Neues Bild Welzel, Aktuelle Weizel, Aktuelle Strafrechtsprobleme im Rahmen der finalen StrafrechtsHandlungslehre 1953. probleme H. v. Weber, Grundriß des deutschen Strafrechts. 1948. v. Weber, Gr. v. Weber-Festschr. Festschrift für H. von Weber, 1963. Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht. ZAk. Z. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Zeitschrift für Rechtspolitik. ZRP Die Bedeutung weiterer Abkürzungen ergibt sich aus dem Schrifttumsverzeichnis Seite 15.
EINLEITUNG Das Strafrecht § 1. Sinn and Aufgabe dos Strafrechts Das Strafrecht ist derjenige Teil der Rechtsordnung, der die M e r k m a l e der verbrecherischen Handlung festlegt und an sie Strafe oder sichernde Maßnahmen k n ü p f t . Aufgabe der Strafrechtswissenschaft ist es, den Inhalt dieser Eechtsregeln in ihrem inneren Zusammenhang, also „systematisch", zu entwickeln und zu deuten. Als systematische Wissenschaft legt sie den Grund zu einer gleichmäßigen und gerechten Hechtspflege, da nur die Einsicht in die inneren Zusammenhänge des Rechts die Rechtsanwendung über Zufall und Willkür hinaushebt. Aber nicht nur darum, weil sie der Rechtspflege dient, ist die Strafrechtswissenschaft eine „praktische" Wissenschaft, sondern auch in einem tieferen Sinne darum, weil sie eine Theorie vom rechten und unrechten menschlichen Handeln ist, so daß ihre letzten Wurzeln bis zu den Grundbegriffen der praktischen Philosophie reichen. I. Die sozialethische Funktion dee Strafrechts
Aufgabe des Strafrechts ist es, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Jede menschliche Handlung, im guten wie im schlechten, unterliegt zwei verschiedenen Wertaspekten. Sie kann einmal nach dem Erfolg bewertet werden, den sie herbeiführt (Erfolgs- oder Sachverhaltswert), zweitens aber auch unabhängig vom Erreichen des Erfolges schon nach dem Sinn der Tätigkeit als solcher (Aktwert). Beispiel: Einer der elementarsten menschlichen Werte ist die Arbeit. Ihre Bedeutung kann einmal vom sachlichen Ergebnis — dem Werk — her, das sie hervorbringt (Erfolgs- oder Sachverhaltswert der Arbeit), gesehen werden. Zweitens besitzt die Arbeit schon unabhängig davon, ob ihr Werk gelingt oder nicht, eine positive Bedeutung im menschlichen Dasein. Im Rhythmus von Tätigkeit und Muße bringt die Arbeit als solche Erfüllung in das menschliche Weisel, Strafrecht, 11. Aufl.
l
2
Einleitung
Leben, gewiß nur als sinnvolle Tätigkeit, d.h. als eine auf ein positives Werk gerichtete Tätigkeit. Aber dieser Sinn bleibt ihr auch dann erhalten, wenn das Werk nicht gelingt (Aktwert der Arbeit). Das gleiche gilt im Negativen: Der Unwert der Handlung kann darin gesehen werden, daß der Erfolg, den sie hervorbringt, mißbilligenswert ist (Erfolgsunwert der Handlung). Aber auch schon unabhängig vom Erreichen des Erfolges ist eine Handlung, die auf einen zu mißbilligenden Erfolg abzielt, mißbilligenswert (Aktunwert der Handlung, z.B. der Griff des Taschendiebes in die leere Tasche). Beide Wertarten sind für das Strafrecht von Bedeutung. Das Strafrecht will zunächst bestimmte L e b e n s g ü t e r der Gemeinschaft (Sachverhaltswerte) schützen, wie z. B. den Bestand des Staates, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum usf. (sog. Rechtsgüter), indem es deren Verletzung (den Erfolgsunwert) mit Rechtsfolgen belegt. Diesen Rechtsgüterschutz erreicht es dadurch, daß es die auf Rechtsgüterverletzung abzielenden Handl u n g e n verbietet und bestraft: also Verhinderung der Sachverhalts- oder Erfolgsunwerte durch Pönalisierung der Aktunwerte. Dadurch sichert es die Geltung der positiven sozialethischen Aktwerte, wie der A c h t u n g vor fremdem Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum usf. Diese in der beständigen r e c h t l i c h e n (d.h. legalen, nicht notwendig moralischen) Gesinnung wurzelnden Werte rechtmäßigen Handelns bilden den positiven sozialethischen Hintergrund der strafrechtlichen Normen. Ihre reale Befolgung sichert das Strafrecht dadurch, daß es den b e t ä t i g t e n Abfall von ihnen in den treubrüchigen, zuchtlosen, unehrlichen, unredlichen Handlungen bestraft. Die zentrale Aufgabe des Strafrechts liegt also darin, durch Strafdrohung und Strafe für den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlichen Handelns die unverbrüchliche Geltung dieser Aktwerte sicherzustellen. Der Hinweis, daß die Rechtsordnung den wirklich betätigten Abfall von den Werten rechtlichen Handelns bestraft und damit deren reale Geltung sichert, bedeutet keineswegs, daß sie schlechte oder gefährliche Vorsätze ohne verletzendes oder gefährdendes Tun verfolge und ahnde (so Spendel, Stock-Festschr. S. 92). Denn nur die wirkliche Betätigung jenes Abfalls löst Strafe aus (über deren Voraussetzungen später eingehend berichtet wird!). Es soll hier nur die Auffassung zurückgewiesen werden, „daß es das Recht nur mit dem äußeren Verhalten, nicht aber mit der inneren Einstellung und Gesinnung zu tun habe. ... Richtig daran ist, daß innere Einstellung und Gesinnung keine Strafe auslösen.... Ist aber ein äußeres strafgesetzwidriges Verhalten gegeben, so ist für die Antwort, die das Strafrecht darauf gibt, tatsächlich Einstellung und Gesinnung von Bedeutung" (Peters, Kriminalpädagogik S. 17). Daß damit der Unterschied zwischen Ethik und Recht unangetastet bleibt, sollte offenkundig sein! Über die Herkunft dieses Unterschiedes vgl. Welzel, Bemerkungen zur Rechtsphilosophie von Leibniz, Husserl-Festschr. 1969, S. 201(208f.) und Welzel, Die Entstehung des modernen Rechtsbegriffs, in „Der Staat", Bd. 8.
§ 1. Sinn und Aufgabe des Strafrechts
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Indem das Strafrecht so den wirklichen Abfall von den rechtlichen Gesinnungswerten bestraft, schützt es zugleich die Rechtsgüter, auf die jene Aktwerte bezogen sind, so wie die Treue zum Staat auf das Wohl des Staates bezogen ist oder die Persönlichkeitsachtung auf das Leben, die Gesundheit, die Ehre der Mitmenschen, die Ehrlichkeit auf fremdes Eigentum usf. In der Strafe für den Hoch- und Landesverrat schützt es den Bestand des Staates, in der Strafe für die Unehrlichkeit das Eigentum, in der Strafe für den Meineid die Wahrheit der Beweisaussagc usw. Dennoch ist die primäre Aufgabe des Strafrechts nicht der aktuelle Rechtsgüterschutz, also nicht Schutz der individuellen Person, ihres Eigentums usf. Denn dazu kommt es gerade dort, wo es real in Aktion tritt, regelmäßig zu spät. Wesentlicher als der Schutz der konkreten einzelnen Rechtsgüter ist die Aufgabe, die reale Geltung (Befolgung) der Aktwerte rechtlicher Gesinnung sicherzustellen; sie sind das stärkste Fundament, das den Staat und die Gemeinschaft trägt. Bloßer Rechtsgüterschutz hat nur eine negativ-vorbeugende, polizeilich-präventive Zielsetzung. Die tiefste Aufgabe des Strafrechts dagegen ist positiv-sozialethischer Natur: Indem es den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung verfemt und bestraft, offenbart es in der eindrucksvollsten Weise, die dem Staat zur Verfügung steht, die unverbrüchliche Geltung dieser positiven Aktwerte, formt das sozialethische Urteil der Bürger und stärkt ihre bleibende rechtstreue Gesinnung. Vgl. dazu Welzel, Probleme lOlff.; Peters, Grundprobleme der Kriminalpädagogik, 1960, insbes. S. 17f., 92; Gallas, Gründe und Grenzen der Strafbarkeit, Heidelb. Jahrb. 1965.
Während sich die Erkenntnis, daß eine Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz besteht, allgemein durchgesetzt hat, ist dies bezüglich der sozialethischen Funktion des Strafrechts nur ungenügend der Fall. Dies wirkt sich in einer Überbetonung der Erfolgsseite und einer damit unvermeidlichen Utilitarisicrung des Strafrechts aus. Recht oder Unrecht einer Handlung bestimmen sich nach dieser Auffassung nach dem Grade ihrer Sozialnützlichkeit oder Sozialschädlichkeit. Das hat nicht nur eine starke Utilitarisierung, sondern auch eine starke Aktualisierung der Wertbeurteilung zur Folge: Der aktuelle Nutzen oder Schaden des Handlungserfolges bestimmen den Wert der Handlung. Dabei wird übersehen, daß es dem Strafrecht weniger auf das a k t u e l l e positive Ergebnis der Handlung als auf die bleibende positive Uandlungstendenz der Rechtsgenossen ankommen muß. Die A c h t u n g vor den Rechtsgütern (also die Geltung der Aktvverte) zu sichern, ist wichtiger, als im aktuellen Einzelfall ein positives Ergebnis zu erreichen. So steht hinter dem Tötungsverbot primär der Gedanke, die Achtung vor dem Leben anderer zu sichern, also der Schutz eines Aktwertes, und gerade darum ist Mörder auch der, der ein sozial wertloses Menschenleben, wie einen
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Einleitung
zum Tode verurteilten Verbrecher, eigenmächtig tötet. Der Gedanke einer erlaubten Lynchjustiz oder gar der Privatrache wegen mangelnden aktuellen Sozialschadens der Handlung wäre ebenso unerträglich wie gefährlich. Nur dann kann die Sicherheit aller ausreichend gewährleistet werden, wenn unabhängig vom aktuellen Wert des Einzellebens die Achtung vor fremdem Leben sichergestellt wird. Der Aktwert ist relativ unabhängig vom Sachverhaltswert (Rechtsgut). Nur über die Sicherung der elementaren sozialethischen Handlungswerte ist ein wirklich dauerhafter und durchgreifender Schutz der Rechtsgüter zu erreichen. Durch die umfassendere sozialethische Funktion des Strafrechts wird der Rechtsgüterschutz tiefer und stärker gewährleistet als durch den alleinigen Güterschutzgedanken. Die Aktwerte der Treue, des Gehorsams, der Achtung vor der Person usf. haben den längeren Atem und den weiteren Blick als der bloße Güterschutz. Sie sehen nicht auf das Heute oder Morgen, sondern auf das Bleibende. Hinter ihnen tritt der nur aktuelle Nutzen oder Schaden zurück vor dem dauerhaften Gewinn, der in der beständigen rechtstreuen Gesinnung der Bürger liegt. Vgl. Welzel,Festschrift. Julius v.Gierke, 1950, 290. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel hierfür liefert die Geschieht« des Abtreibungsverbots. Nach der vor 1933 herrschenden Deutung sollte Strafgrund des Abtreibungstatbestandes das bevölkerungspolitische Interesse des Staates sein. Diese utilitaristische Lehre nahm der Nationalsozialismus beim Wort. Als während des Krieges die Massen der Fremdarbeiter und -arbeiterinnen nach Deutschland verbracht wurden, ermächtigte eine VO. vom 9. 3. 43 den Reichsjustizminister, Personen, die nicht deutsche Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit waren, vom Abtreibungsverbot auszunehmen, um den staatspolitisch unerwünschten Kindersegen der Fremdarbeiterinnen zu verhindern. Damit schien das bevölkerungspolitische Interesse des deutschen Staates trefflich gewahrt zu sein. In Wahrheit wurde die Geltungskraft des Abtreibungsverbots im Bewußtsein auch der deutschen Frauen aufs schwerste erschüttert, als sie sahen, daß bei den neben und mit ihnen arbeitenden Ausländerinnen straflos abgetrieben wurde. Der extreme Utüitarisraus erreicht nicht einmal sein eigenes Ziel!
So ergibt sich: Aufgabe des S t r a f r e c h t s ist der Schutz der elementaren sozialethischen Gesinnungs- (Handlungs-)werte und erst darin eingeschlossen der Schutz der e i n z e l n e n Rechtsgüter. 1. Rechtsgut ist ein Lebensgut der Allgemeinheit oder des Einzelnen, das wegen seiner sozialen Bedeutung rechtlich geschützt wird. Dem Substrat nach kann es in verschiedenster Art auftreten: als psychophysisches oder als ideellgeistiges Objekt (jenes z. B. das Leben — dieses die Ehre) oder als realer Zustand (z.B. der Hausfrieden) oder als Lebensbeziehung (z.B. Ehe oder Verwandtschaft) oder als Rechtsverhältnis (z.B. Eigentum, Jagdrecht), ja sogar als Verhalten eines Dritten (z. B. die Pflichttreue des Beamten, geschützt vor Bestechung). Rechtsgut ist also j e d e r e r w ü n s c h t e soziale Z u s t a n d , den das Recht vor V e r l e t z u n g e n sichern will. Die Summe der Rechtsgüter bildet nicht einen atomisierten Haufen, sondern die soziale Ordnung, und
§ 1. Sinn und Aufgabe des Strafrechts
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darum ist die Bedeutung eines Rechtsgutes nicht isoliert für sich allein, sondern nur im Zusammenhang mit der gesamten sozialen Ordnung abzuschätzen. Vom Rechtsgut ist das Tatobjekt zu unterscheiden. Vielfach fallen sie zwar zusammen: In §§ 211 ff. ist das Leben sowohl Rechtsgut wie Tatobjekt; aber in § 267 ist Rechtsgut die Sicherheit des Rechtsverkehrs, Tatobjekt dagegen die Urkunde. Den Rechtsgütern bietet das Strafrecht Schutz vor möglichen Verletzungen, allerdings nicht absolut, denn jedes Rechtsgut muß im sozialen Leben tätig eingesetzt und damit bis zu einem gewissen Grade gefährdet werden (erinnert sei nur an den beträchtlichen Grad der unverbotenen Lebensgefährdung im modernen Verkehr!). Rechtsgüterschutz gewährt das Strafrecht nur gegen bestimmt geartete Angriffe. 2. A u f g a b e des S t r a f r e c h t s ist der R e c h t s g ü t e r s c h u t z d u r c h den Schutz der elementaren sozialethischen Handlungswerte. Den Rechtsgüterschutz bewirkt das Strafrecht dadurch, daß es bestimmtgeartete Handlungen verbietet oder gebietet. Hinter seinen Verboten oder Geboten stehen elementare sozialethische Pflichten (Aktwerte), deren Geltung es dadurch sichert, daß es ihre Verletzung mit Strafe bedroht. Dadurch allein erzielt es einerseits einen wirklich durchgreifenden und dauerhaften Güterschutz und beschränkt ihn andererseits auf die sozialethisch verwerflichen Angriffsformen. Inhaltlich lassen sich diese elementaren sozialethischen Pflichten in dem Gebot: „neminem laede" zusammenfassen, entsprechend der überwiegenden Verbotsnatur des Straf rechts: „Du sollst n i c h t . . . töten, rauben, betrügen" usf., wie auch die wenigen positiven Handlungsgebote sich auf elementare Pflichten beschränken (etwa die Fürsorgepflicht der Eltern gegenüber den Kindern u. dgl). So gering sozialethisch die Werthöhe dieser Pflichten ist, so schwerwiegend ist ihre Verletzung, gemäß dem Grundsatz, daß je geringer die Werthöhe einer Pflicht ist, desto schwerer ihre Verletzung wiegt (und umgekehrt). Mag auch die Achtung vor fremdem Leben sozialethisch selbstverständlich sein, BÖ gehört doch ihre Verletzung, der Mord oder Totschlag, zu den schwersten Verbrechen. Die vom Strafrecht erfaßten und unter Strafschutz gestellten sozialethischen Pflichten sind elementar in dem doppelten Sinne, daß ihre Erfüllung von geringer Werthöhe ist, ihre Verletzung aber besonders schwer wiegt. In dieser Beschränkung auf die elementaren Pflichten erfüllt das Strafrecht, um des Rechtsgüterschutzes willen, eine bedeutungsvolle, sittenbüdende Funktion. Gewiß ist das Strafrecht nur ein Faktor unter den zahllosen, die sittliche Anschauungswelt einer Zeit prägenden Kräften, aber unter ihnen ein solcher von tiefgreifender Bedeutung. Indem es die unverbrüchliche Geltung der elementaren sozialethischen Pflichten durch Verfemung und Bestrafung
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Einleitung
ihrer Verletzung vor aller Augen stellt, formt und festigt es wirkungsstark das sittliche Urteil und die rechtliche Gesinnung der Rcchtsgenossen. Die Sicherheit des sozialethischen Uiteils des Einzelnen hängt wesentlich von der Sicherheit ab, mit der der Staat seine Werturteile ausspricht und durchsetzt, wobei sich diese Sicherheit des staatlichen Urteils allerdings nicht so sehr in der Strenge als vielmehr in der Gewißheit der Strafe, also in der Verfolgungsintensität, ausspricht. Und wo durch eine ihrer selbst unsichere Strafreehtspflege die Geltung der elementaren Sozialpflichten ins Wanken gerät, beschränkt sich die Erschütterung nicht auf die elementaren sozialethischen Pflichten, sondern ergreift die ganze ethische Wertwelt. Hierin besteht die Tiefenwirkung des Strafrechts: so sehr sich seine Normen auf die elementaren sozialethischen Pflichten beschränken, so legt es doch den Grund für den Bestand der gesamten sittlichen Wertwelt einer Zeit. So weist das Strafrecht über sich hinaus und bettet sich in die Gesamtkultur seiner Zeit ein. Aber es erreicht diese Wirkung nur durch weise Beschränkung seiner Mittel. Eine Vielbestraferei würde seine Waffe stumpf machen. Es muß sich auf die Bestrafung von Verletzungen der elementaren sozialethischen Pflichten beschränken: insofern hat es einen „ f r a g m e n t a r i s c h e n Charakter" (Binding, H. May er). Vor allem aber darf der Staat die schweren Eingriffe in Leben, Freiheit und Ehre der Person, die die Strafe (und die präventive Freiheitsentziehung) enthält, nur innerhalb des Strafrechts als Rechtsfolge des Verbrechens verwenden (Grundsatz der Exklusivität der spezifischen Strafmittel). Sobald er sie (oder gleichschwere Eingriffe) für außerstrafrechtliche Zwecke benutzt, etwa zur Erreichung organisatorischer oder wirtschaftlicher Ziele oder gar zur Bekämpfung politischer Gesinnungen, erschüttert er die sittenbildende Kraft der Strafnormen und drängt das Strafrecht auf den Weg zu einer reinen Abschreckungsmaßnahme. Wo Strafvorschriften fast alleLebensbetätigungen einzwängen, wo selbst Akte der Existenzverteidigung strafbar werden können, da leidet im Übermaß des Strafens das Strafrecht Not. 11. Dfe präventive Funktion des Strafrecht»
1. Die geschilderte sozialethische Funktion des Strafrechts trifft Menschen, die überhaupt sozialethischer Bindung fähig sind. Das ist gewiß die Masse der Rechtsgenossen, die vornehmlich durch die beiden grundlegenden sozialen Bindungen: Beruf und Familie am positiven Aufbau des Gemeinschaftslebens teilhat. Diesen Rechtsgenossen gegenüber funktioniert das Strafrecht primär dad urch, daß es die Sicherheit und Stetigkeit ihres sozialethischen Urteils gewährleistet, und damit in ihnen den Grund zu einer sittlichen Anschauungswelt legt, und erst s e k u n d ä r dadurch, daß es gegen den Rechtsbruch im Einzelfall mit Strafe einschreitet. Die Kriminalität dieser großen Masse der Bevölkerung ist
§ 1. Sinn und Aulgabe des Strafrechts
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die aus einer außergewöhnlichen oder einer verlockenden Situation erwachsende Konflikts· und Gelegenheitskriminalität, die ihrerseits ebenfalls die Masse der tatsächlichen Kriminalität ausmacht. Nach dieser gesunden, das Gemeinschaftsleben tragenden Bevölkerungsschicht ist das Strafrecht einzurichten: durch klare Herausarbeitung des spezifischen deliktischen Unwerts der verbotenen Handlung in Tatbeständen, die durch feste Grenzen dem Einzelnen die erforderliche· Bewegungsfreiheit im Sozialleben geben, und durch eine nach dem Maße der Schuld bemessene vergeltende Strafe (weiter durch einen Strafprozeß, der dem Angeklagten ausreichende eigene Verteidigungsrechte gibt). 2. Daneben gibt es jedoch eine andersartige Kriminalität von Menschen, denen die Fähigkeit zur Bindung an sozialethische Normen im weiten Umfange abgeht. a) Die wichtigste Gruppe umfaßt die sog. Zustandsverbrecher i. e. S. Bei der Erforschung der tatsächlichen Kriminalität fällt immer wieder der tiefgehende Unterschied zwischen Gelegenheitstätern, die — an sich fest in den sozialen Bindungen wurzelnd — gelegentlich einer lockenden Versuchung oder einer außergewöhnlichen Konfliktslage erliegen, und den Z u s t a n d e Verb r e c h e r n auf, die unabhängig vom Wechsel der äußeren Verhältnisse immer wieder Verbrechen begehen, bei denen das Verbrechen also in ihrer Persönlichkeit wurzelt. Deutlich zeigt es die Statistik (Exner. Kriminalbiologie S. 210): Während Konjunkturschwankungen die Kriminalität der (bisher) Unbestraften stark beeinflussen, ändern sie die Kriminalität der vielfach Vorbestraften nur geringfügig. Unbestrafte Mehr als 4mal Vorbestrafte Inflation 1922-1924 413 36,3 Aufschwung 1927-1929 100 26,4
In Herkunft, Charakter und Lebensbedingungen unterscheiden sich die Zustandsverbrecher deutlich von der übrigen Bevölkerung, der die Gelegenheitstäter voll zugehören. Sie stammen auffällig stark aus Familien, die mit schweren charakterlichen Abartigkeiten (Psychopathien) oder mit Kriminalität belastet sind, deren Erziehungsverhältnisse dementsprechend schlecht sind. Sie sind selbst zu einem hohen Prozentsatz charakterlich schwer abartig, meist haltlos oder gemütsarm. Schlechte Schulerfolge, vorzeitiger Abbruch der Lehre, bloße Gelegenheitsarbeit der meisten von ihnen zeugen von ihrer Unfähigkeit zu ernster Arbeit und zum Beruf. Statt Bindung an bleibende Werte, die dem Menschen durch Beruf und Familie vermittelt werden, beherrschen lebensbehauptende Nahziele ihr Wollen. Diese tief v erwurzelte weitgehende Bindungslosigkeit führt sie über einen meist frühzeitigen Kriminalitätsbeginn zu einem asozialen Dasein mit einer Kette von Straftaten. Zu diesen Zustandsverbrechern gehören einerseits die Gruppe der Asozialen i.e.S.: der Bettler, Landstreicher, Arbeitsscheuen, Dirnen mit einer meist leichten Kriminalität,
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andererseits die Gruppe der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher mit erheblicher Kriminalität. Ihrer Herkunft nach rekrutieren sie sich vornehmlich aus den Nachkommen der Bettler, Gauner und Landstreicher, der „Jauner" und „Jänischen" früherer Jahrhunderte, weiter aus den haltschwachen Menschen, die der modernen großstädtischen Freiheit nicht gewachsen sind, während noch ihre Eltern und Großeltern in den patriarchalischen Abhängigkeitsverhältnissen der Grundherrschaften und kleinbürgerlichen Gewerbe ein sozial brauchbares Leben führten — stammt doch die überwiegende Zahl der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher aus der Großstadt —; zu ihnen stoßen durch Verwahrlosung und Entgleisung immerfort Splitter der sozialtauglichen Bevölkerung.
Dem Zustandsverbrecher gegenüber reicht das eigentliche Straf-Recht nicht aus, da es gegenüber ihrer weitgehenden Bindungslosigkeit keine genügend sittenbildende, haltgebende Kraft entfalten kann. Die vom Maße der Schuld begrenzte vergeltende Strafe trifft nicht die in der Täterpersönlichkeit liegende bleibende Gefährlichkeit. Diese muß durch andersartige, sichernde und bessernde Maßnahmen bekämpft werden, die neben und mit der Strafe zusammen erst den vollen Rechtsgüterschutz gewährleisten. Das geltende Recht stellt dabei für die gefährlichen Hangverbrecher die Sicherungsverwahrung (und die sozialtherapeutische Anstalt) als sichernde (und bessernde) Maßnahme zur Verfügung. Der Weg des Straf- oder richtiger des Kriminalrechts ist also „zweispurig". Die eine Spur führt über die Schuld zur vergeltenden Strafe, die andere über die Gefährlichkeit zur sichernden (und bessernden) Maßnahme. Es ist notwendig, sich des Verbindenden wie des Trennenden beider Spuren stets bewußt zu bleiben. Das V e r b i n d e n d e liegt einmal in der Voraussetzung, die für Strafe und Maßnahme das Verbrechen ist, zweitens in der Art ihrer Verhängung, die beide Male durch strafrichterliches Urteil erfolgt. Denn auch die Verhängung der oben besprochenen Schutzmaßnahmen ist kein bloßer Verwaltungsakt, sondern Aufgabe des strafrichterlichen Amtes: Dies nicht bloß zum Zwecke der höheren Rechtsgarantien für den Betroffenen, sondern deshalb, weil das Urteil, das dem Täter wegen seiner kriminellen Gesamtpersönlichkeit das im Gemeinschaftsleben vorauszusetzende Maß an Selbstbeherrschung und Bindungsfähigkeit abspricht, ein negativ-sittliches Urteil ist, das, wie das Schuldurteil, nur dem Strafrichter obliegt. Das Trennende liegt darin, daß beide Spuren, wenn auch im Grenzgebiet sich überschneidend, grundsätzlich zwei verschiedene Tätergruppen treffen, auf der einen Seite die Gelegenheits- und Konfliktstäter der sozialaufbauenden Bevölkerung, auf der anderen die Zustandstäter der asozialen Schicht. Während die Funktion des Strafrechts dort sozialethischer Natur ist, muß es hier vornehmlich auf präventiv-sichernden Rechtsgüterschutz bedacht sein. Während es dort klare, festumrissene Tatbestände aufstellen muß, um die soziale Handlungsfreiheit des Einzelnen nicht zu lahmen, muß es hier den allgemeinen
§ 2. Überblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts
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Würdigungsbegriff der „sozialen Gefährlichkeit" einführen, um die Rechtsgüter gegen die Asozialen wirksam zu schützen. Während es dort die feste, durch das Maß der Schuld bestimmte Strafe verhängt, bleibt hier die Dauer der Maßregel von der unbestimmten Dauer der Tätergefährlichkeit abhängig. Klare, bestimmte Grenzen dort, verschwimmende Umrisse hier: um so notwendiger ist es, beide Spuren scharf ausehianderzuhalteu. Schon einmal hat die Orientierung am „schädlichen Mann" die Grundhaltung eines ganzen Strafrechts bestimmt, nämlich den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß. Dieses Verfahren, in dem der Angeklagte bloßes Objekt war, dem man gegebenenfalls mit der Folter das Geständnis zu entreißen suchte, war im Kampf gegen den landschädlichen Mann der spätmittelalterlichen Unterschicht erwachsen, demgegenüber der germanisch-altdeutsche Parteienprozeß versagt hatte; es war dann allmählich auf den freien Vollbürger ausgedehnt worden mit all den Mängeln, die es trotz vieler Verbesserungen von seinem Ursprünge her an sich tragen mußte. Nicht weniger bedenklich wäre es auch heute, das von festen Tatbeständen umgrenzte, sozialethisch fundierte Strafrecht zugunsten eines allgemeinen Sicherungsrechtes aufzuweichen, wie es umgekehrt unzulänglich war, daß das Strafrecht des 19. Jahrhunderts als ausschließliches Straf-Recht die Sicherungsaufgaben gegen den schädlichen Mann übersah. b) Gegenüber der besprochenen Gruppe der Zustandsverbrecher treten andere Gruppen von Zustandsverbrechern i.w. S. zurück: die Rauschgiftsüchtigen und die gefährlichen Geistesdefekten. Auch diesen gegenüber kann die Strafe den vollen Rechtsschutz nicht gewährleisten, sondern muß durch sichernde Maßnahmen ergänzt werden (durch Unterbringung in Entziehungsanstalten oder Heil- und Pflegeanstalten). Die Beziehung dieser Maßnahmen zum Straf recht ist eine lockere: das Delikt ist keine Voraussetzung für die Maßregel selbst, sondern nur für die Zuständigkeit des Strafrichters. Zwangsentziehung und Verbringung in eine Heil- und Pflegeanstalt sind auch ohne deliktisches Verhalten und ohne strafrichterliches Urteil zulässig. Ein wirkungsstarkes Straf recht ist doppelspurig: es ist ein sozialethisch fundiertes, in festen Tatbeständen umgrenztes, vergeltendes Strafrecht gegen den Gelegenheitstäter einerseits, ein — akute Sozialgefahren bekämpfendes — Sicherungsrecht gegen den Zustandsverbrecher andererseits. Insoweit abw. Peters, Kriminalpädagogik S. 93ff.: Auch die Maßregeln der Sicherung und Besserung haben Strafcharakter. Darum tritt P. für Einspurigkeit ein (ähnlich schon Liszt-Schmidt, S. 364; Mayer, S. 379; ders., Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962.
§ 2. Überblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts Brunner-v. Schwerin, Deutsche Rechtsgeschichte, I 1906, II 1928; His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, I 1920, II 1935; v. Hippel, I38ff., Eberh. Schmidt, Einführung in die Geschichte d. deutsch. Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965.
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1. Dem Germanen erschienen die meisten „Missetaten" als Sippenverletzungen. Sie berechtigten und verpflichteten die Sippe — wenn nicht Buße gefordert wurde — zur Blutrache (Fehde), die durch Sühnevertrag beendet wurde. Nur in wenigen Missetaten sah man einen Bruch des Friedens des ganzen Volkes (z. B. in Kriegsverrat, Heeresflucht, Meintaten u. a.); der Täter verfiel der Friedlosigkeit und konnte bußlos von jedermann getötet werden. Mit dem Erstarken staatlicher Gewalten im fränkischen Beich wurden in steigendem Umfang Missetaten mit öffentlicher Strafe (Leibes- und Lebensstrafen, Verbannung u. a.) bedroht und öffentlich verfolgt. Im Mittelpunkt der Strafen stand jedoch die Sühnozahlung (das Kompositionensystem der Volksrechte), die der fränkische Staat zur Zurückdränguiig der Fehde begünstigte. Auch öffentliche Strafe war regelmäßig durch Fricdensgeld an den Staat und Buße an den Verletzten ablösbar. Das Wesen der Missetat sah man in der rechtswidrigen Zufügung einer Verletzung ohne (spezielle) Berücksichtigung der Willensseite. „Die Tat tötet den Mann". Darum haftete man auch für ,,Ungcfährwerke" (Fahrlässigkeit und Zufall), während umgekehrt dor Versuch grundsätzlich straflos blieb. Doch bedeutet das keine Blindheit gegenüber der Willensseite, sondern nur ein archaisches Haften am Typischen: in der verletzenden Tat steckt typisch der verletzende Wille. Daraus erklärt sich, daß gewisse typische Fälle, in denen der Wille meist fehlt (z. B. Töten beim Baumfällen), milder bestraft wurden, wie umgekehrt typische Versuchsfälle (z. B. Messcrzücken) ohne Verletzungserfolg unter Strafe standen. Eine deutliche Berücksichtigung der Willensseite zeigen die besonders schimpflichen „Meintaten" oder „Neidingswerke", vor allem die heimlichen Taten wie Mord und Diebstahl (im Unterschied zum „ehrlicheren" offenen Totschlag oder Raub) u.a. Die Betonung der Tat- und Erfolgsseite bleibt jedoch ein Kennzeichen des deutschen Strafrechts bis ins StGB, hinein. Rechtsquellc war ursprünglich allein die überlieferte Rechtsüberzeugung, die vom G. Jahrh. an in den Volksrechten, beginnend mit derlex Salica, aufgezeichnet wurde. Dazu trat in der fränkischen Zeit das gesetzte Königsrecht (Kapitularien). Doch blieb daneben stets auch ungeschriebenes Recht in Anwendung. 2. Das weitere Mittelalter (10. bis 15. Jahrh.) brachte überwiegend eine Verschlechterung der strafrechtlichen Verhältnisse in Deutschland. Die innenund außenpolitischen Kämpfe der deutschen Kaiserzeit führten zu einem Nachlassen der staatlichen S traf rech tspf lege. Die Überhandnähme des Fehdewesens und Raubrittertums wurde seit dem 12. Jahrh. durch die Landfrieden einzudämmen versucht. Mit dem Aufblühen der Städte und dem Erstarken der Territorialgewalten seit dem 13. Jahrh. trat die öffentliche Strafrechtspflege in den Vordergrund. Der zunehmenden Grausamkeit des Spätmittelalters
§2. überblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts
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entsprach jedoch eine brutale Verrohung der Straf arten. Das geschriebene Recht (Volksrechte und Kapitulanten) war in Vergessenheit geraten; erst vom 13. Jahrh. an wurde das Recht wieder aufgezeichnet im Sachsen- und Schwabenspiegel, in Stadt- und Landrechten u.a. Das materielle Strafrecht erfuhr darin kaum eine Fortbildung. 3. Neue mächtige Impulse brachten erst das 15. und 16. Jahrh. unter dem starken Einfluß der italienischen Rechtswissenschaft (Glossatoren und Postgloss atoren), deren wissenschaftliche Verdienste vor allem in der Herausarbeitung der allgemeinen Lehren des Strafrechts lagen. Diese Einflüsse wirkten durch Vermittlung einer populär-wissenschaftlichen Literatur auf die deutschen Partikulargesetze (sog. Halsgcrichtsordnungen) ein. Bahnbrechend wurde die Bambergcr Halsgerichtsordnung Johann von Schwarzenbergs (1507) ale Grundlage des ersten und auf dreieinhalb Jahrhunderte einzigen deutschen Reichsstrafgesetzbuches, der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532 (constitutio criniiiialis Carolina), einer der bedeutendsten Leistungen der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt! Die Carolina enthält materielles und Prozeßrecht. Im Prozeß brachte sie eine rechtliche Ordnung des (sog.) Inquisitionsverfahrens. Im materiellen Strafrecht kommt das Willensprinzip endgültig zum Durchbruch: Grundsätzlich ist nur die vorsätzliche Tat strafbar; die Fahrlässigkeit wird klar vom Zufall abgetrennt. Der Versuch wird definiert und allgemein unter Strafe gestellt; ebenso, wenn auch weniger klar, die Teilnahme. Die einzelnen Verbrechenstypen wahren überwiegend die deutschrechtliche Überlieferung. Die Sprache ist volkstümlich, klar und kraftvoll und von großem Ernst gegenüber der richterlichen Aufgabe: Jede Obrigkeit solle möglichste Sorgfalt anwenden, ,,damit die peinlichen gericht zum besten verordnet und niemand unrecht geschehe, alsdann zu dieser großen sachen, welche des menschen ehr, leben und gut belangen sein, dapffer und wol bedachter fleiß gehörig" (Art. 1). Darum wird der Richter grundsätzlich an das Gesetz gebunden. Bei Gesetzeslücken soll nach Analogie des kaiserlichen Rechtes und der Carolina entschieden werden, doch soll der Richter dabei Rat beim Oberhof oder der Obrigkeit einholen oder, wenn die Obrigkeit Anklage führt, bei der nächsten Juristi-nfakultät (Art. 104/05, 219). Die Carolina war Reichsgesetz mit Vorbehalt zugunsten des Landesrechts („salvatorische Klausel"). Die innero Kraft ihres Wertes hat sie in Deutschland weitestgehend durchgesetzt, so daß sie die Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts auf drei Jahrhunderte wurde. Ergänzend traten zu ihr die Reichepolizeiordnungen von 1530,1548 und 1577 gegen Ausartungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. 4. Die Weiterentwicklung des Strafrechta hielt sich in der Folgezeit nicht auf der Höhe der Carolina. Durch wirkliche und durch künstlich (mittels ein-
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engender Auslegung) geschaffene Lücken in der Carolina drangen uferlose römischrechtliche Deliktsbegriffe wie crimen majestatis, stellionatus und falsum (Verrats-, Täuschungs- und Fälschungsdelikte) ein. Die Umgehung der Carolina führte zu einer unerhörten richterlichen Willkür. Als Gewinn stand ihr immerhin die allmähliche Milderung der noch sehr harten Strafen der Carolina und das Aufkommen der Freiheitsstrafe an Stelle peinlicher Strafen gegenüber (wichtig war das Amsterdamer Zuchthaus von 1595). Einflußreich wurde die junge deutsche Rechtswissenschaft, vor allem der sächsischen Juristen des 17. Jahrhunderts. Ihr Haupt war Benedikt Carpzov, der mit seiner umfassenden praktisch-kommentatorischen Behandlung des geltenden Rechts und seiner umfangreichen gutachtlichen Tätigkeit im Leipziger Schöppenstuhl die deutsche Strafrechtspflege auf hundert Jahre bestimmt hat. Im 18. Jahrh. wandte sich die Wissenschaft unter dem Einfluß des Naturrechts tiefergehenden, systemgerichteten Forschungen zu und erreichte vor allem bei J. S. F. Bö h m er eine wesentliche Vertiefung der allgemeinen Lehren. Die unhaltbar gewordenen Zustände in der Strafrechtspflege wurden durch Aufklärung und aufgeklärten Absolutismus entscheidend gebessert. Aus verschiedenartigen, z. T. entgegengesetzten Motiven führte die Aufklärung zu einer strengen Bindung des Richters an das Gesetz: sie brachte eine rationellweltliche Behandlung des Strafrechts, eine Milderung der Strafen unter dem Gesichtspunkt ihrer staatlichen Notwendigkeit, dabei eine Einschränkung der Todesstrafe und eine weitgehende Verwendung der Freiheitsstrafe, Abschaffung der Folter u.a. Literarisch wirkten vor allem M o n t e s q u i e u , V o l t a i r e und B e c c a r i a , gesetzgeberisch J o s e f II. („Josephina" von 1787) und am stärksten F r i e d r i c h der G r o ß e (ALR. von 1794). 5. Auf die Gestaltung des Strafrechts im 19. Jahrh. übte die Wissenschaft einen entscheidenden Einfluß aus. Mit Anselm v. F e u e r b a c h , einem Anhänger des kantischen Kritizismus, beginnt die Strafrechtswissenschaft im modernen Sinne, gekennzeichnet durch scharfe Begrifflichkeit und klare, sachgebundene Systematik (Lehrbuch 1801). Seine wegweisende gesetzgeberische Leistung war das bayerische Strafgesetzbuch von 1813, das durch strenge Systematik, begriffliche Schärfe, Bestimmtheit der Strafen bei Wahrung richterlicher Ermessensfreiheit, Abstufung der Strafübel, nicht zuletzt durch seine Kürze das Vorbild der deutschen Gesetzgebung im 19. Jahrh. wurde. Unter den zahlreichen Partikularstrafgesetzen aus der Jahrhundertmitte ragte das preußische StGB, von 1851 als stärkste Leistung hervor, auf das neben der reichblühenden deutschen Wissenschaft Napoleons Code penal von 1810 eingewirkt hatte. Es ist in verbesserter Form unser RStGB. von 1871 geworden. 6. Auf dem Boden des RStGB. entfaltete sich ein reiches wissenschaftliches Leben, das sich um zwei Schulen kristallisierte. Die „Klassiker" mit B i n d i n g an der Spitze bewahrten die rechtsstaatlich umgrenzte, konservativ-autoritäre
§3. Quellen und Schrifttum des Strafrechts
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Haltung und die Vergeltungsidee, die beide als Erbe des Idealismus Kants und Hegels die geistige Luft des StGB, bestimmt hatten. Die Arbeit der Klassiker galt vor allem der Dogmatik (Hauptwerk: Bindings „Normen"). In teilweise scharfen Gegensatz dazu stellte sich die von Franz von Liszt begründete sog. „moderne Schule". Sie sah im Straf recht eine rationale Zweckmaßnahme der Verbrechensbekämpfung. Ihr Hauptziel war, in naturwissenschaftlich-kausaler Methode die Verbrechensursachen zu erforschen und die geeigneten Mittel für ihre Beseitigung zu finden. Beide Schulen haben — jede in gewisser zeitbedingter Einseitigkeit — unsere strafrechtlichen Einsichten wesentlich vertieft. Gesetzgeberisch jedoch blieb, trotz zahlreicher Novellen, die Grundhaltung des StGB, bis 1933 unverändert. An den Schicksalen des Strafrechts im Dritten Reich lassen sich drei Entwicklungsreihen unterscheiden: a) Der größere Teil der staatlich angeordneten Freiheitsentziehungen und Tötungen, deren Verhängung bisher ausschließlich im Rahmen des Strafrechts möglich war, erfolgte ohne Rechtsgarantien durch die politische Polizei oder andere politische Stellen. b) Das Strafrecht selbst wurde trotz Beibehaltung der großen Stoffmasse in der Grundstruktur insofern verändert, als in ständig zunehmendem Maße einmal die gesetzliche Bindung des Richters gelockert wurde — durch Änderung des § 2, später durch unbestimmt gefaßte Gesetze und Verordnungen (VolksschädlingsVO. u. a.), schließlich (seit 1942) durch eine planmäßige „Lenkung der Rechtspflege" seitens des Justizministeriums —, und als zweitens in zahlreichen Tatbeständen die Strafdrohungen unter immer ausschließlicherer Verwendung des Abschreckungsgedankens bei ungeahnter Vermehrung der Todesstrafe verschärft wurden. Dazu traten rein politische Gesetze, wie das Heimtücke- und das Blutschutzgesetz. c) Neben dieser Politisierung der Strafrechtspflege lief eine Entwicklungsreihe unpolitischer Rechtsfortbildung einher, zumeist auf der Grundlage früherer Reform vorschlage: Einführung der Sicherungsmaßregeln §§42 äff., der limitierten Akzessorietät § 50, Neufassung der §§ 153ff., 211/2,253, 267 u. a. m. § 3. Quellen and Schrifttum des Strafrechts I. Übersicht über den wichtigsten Quellenbestand 1. Das Bundesrecht Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich war am 16.5.1871 verkündet worden. Von den zahlreichen Änderungen und Ergänzungen bis 1933 sei hier nur das Jugendgerichtsgesetz vom 16. 2. 23 (heutige Fassung vom 4. 8. 63) erwähnt. Die heute geltende Fassung (Neufassung verkündet am 25. 8. 53, BGB1. S. 1083) bestimmt sich nach den 3. bis 9. Strafrechtsänderungsgesetzen (StÄG.) vom 4. 8. 53, 11. 6. 57; 24. u. 30. 6. 60; 1. 6. 64; 25. 6. 68; 4. 8. 69, ferner den l.und 2. Strafrechtsreform-Gesetzen (StrRG) vom 25. 6. 69 und vom 4. 7. 69.
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Die Vorschriften des 1. StrRG. (vor allem die Neuordnung des Strafensystems) treten überwiegend am 1. 4. 1970 in Kraft (Art. 105). Schon am 1. 9.1969 treten jedoch in Kraft: a) Artikel l Nr. 48, 49, 52, 60, 63 und 78 nach Maßgabe des Artikels 106; b) Artikel l Nr. 16 Buchstabe a, Nr. 17, 39, 40, 42, 46, 47, 50, 53 bis 55, 58, 61, 67,81, 83, 85, 95 und 97; Artikel 9 Nr. 5, Artikel 10 Nr. 4, Artikel 49 Nr. l, Artikel 60, 83 Nr. 2, Artikel 86 Nr. 5, Artikel 93, 95, 97, 98, 99 Abs. l, 2 Nr. l, Artikel 101, 102, 104 und 106 Nr. 2. Dazu gehören vornehmlich die Neufassungen der §§ 166—167 a, 175, 218, 235—238, 268; die Streichungen der §§ 121 II, 172,175 b, 179, des 15. Abschnitts, §§ 245 a, 296, 347 II; die Neufassung des § 176 Ziff. l, u. a. m. Die verhängten, aber noch nicht vollstreckten Strafen für solche Straftaten, die aufgehoben worden sind, werden erlassen (Art. 98). Der Wegfall der Verjährung für Verbrechen nach § 220 a (Völkermord) und die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord von 20 auf 30 Jahren, wie dies § 68 in der Fassung des 2. StrRG. vorsieht, tritt nach dem 9. StÄG. schon am 5. 8. 69 in Kraft. Das 2. StrRG (mit der Neufassung des Allg. Teils) tritt am 1.10.1973 in Kraft (Art. 7).
2. Das Landesrecht Nach § 2 EinfGes. zum StGB, tritt das Landesrecht außer Kraft, soweit es Materien betrifft, die Gegenstand des StGB. sind. Materie ist eine Deliktsgruppe, die Verbrechen bestimmter Art oder gegen bestimmte Rechtsgüter abschließend regelt. So bilden die Sittlichkeitsvcrbrechen eine geschlossene Materie und schließen landesrochtliche Strafvorschriften gegen das Konkubinat aus, a. A. RG. 33 273; Blei, JZ 67 605; dasselbe gilt für die Gefangenenbefreiung, darum ist eine landesrechtliche Pönalisierung der Selbstbefreiung eines Gefangenen unzulässig (BGH. 4 396); ebenso wegen §§ 361 Nr. 6—6c die Pönalisierung der Gewerbsunzucht, BGH. 11 32. Ob und inwieweit die allgemeinen Lehren des StGB, für das Landesrecht bindend sind, ist bestritten; auf jeden Fall kann das Landesrecht von den Vorschriften des StGB, über die Schuldfähigkeit nicht abweichen (vgl. Mezger, 63ff.; M a u r a c h , AT § 8 III B 2). II. Die Arbeiten an der Strafrochtserneueruug Seit 1902 wird an der Reform des StGB, gearbeitet. Die Reihe der Entwürfe sind: VorEntw. 19q9,.Gegenentw. 1911, Entw. 1913, Entw. 1919, Entw. Radbruch 1922; dann zusammen mit Österreich Entw. 1925, der 1927 an den Reichstag iririg; in den Reichstagsausschüssen wurde er weiter geändert zum Entw. 1930. Die nach 1933 unternommenen Reformarbeiten hatten zu keinem Abschluß geführt. Die vom Bundesjustizministerium 1954 eingesetzte Reformkommission hat 1959 einen Entw. in 2. Lesung fertiggestellt (E. 59 II). Der von der Bundesregierung und dem Bundesrat verabschiedete Entwurf liegt jetzt als E. 62 (Bundestagsvorlage) dem Bundestag vor. Gegen den E. 62 verfalt seit 1966 eine Gruppe von 16 Rechtslehrern einen AlternativEntwurf eines StGB., der zusammen mit E. 62 von den Bundestagsausschüssen beraten wird; wichtigstes Ergebnis sind die beiden (1. u. 2.) StrRG. In der DDR ist am 12. 1. 1968 ein neues StGB, mit Wirkung vom 1. 7. 1968 beschlossen worden, so daß die bis dahin bestehende Rechtseinheit zerrissen ist. Vgl. dazu M a u r a c h , NJW. 68 913. III. Die Rechtsprechung Die amtliche Sammlung von Entscheidungen des Reichsgerichts war: „Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, hrsg. von den Mitgliedern des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft". Für die Zeit von 1879 bis 1888 bestand noch eine zweite,
§ 4. Der Begriff des Strafrechts
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nur mit 10 Bänden erschienene Sammlung „Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen". Nach 1945 erschienen die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone (3 Bde); Höchstrichterliche Entscheidungen in Strafsachen (2 Bde); nunmehr die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und die Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Weitere Entscheidungen veröffentlichten: Deutsche Justiz, Höchstrichterliche Rechtsprechung (Ergänzungsblatt zur Deutschen Justiz), Juristische Wochenschrift (später: Deutsches Recht), Deutsche Juristen-Zeitung (später: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht), Goltdammers Archiv für Strafrecht (später: Deutsches Straf recht, heute wieder alter Name). Heute erscheinen: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Deutsche Rechtszeitschrift, beide jetzt vereinigt in der Juristen-Zeitung, Monatsschrift f. deutsches Recht, Neue Juristische Wochenschrift, Juristische Rundschau, Neue Justiz (in der DDR).
IV. Kurze Übersicht über das wichtigste Schrifttum Lehrbücher: Binding, Handbuch des Deutschen Strafrechts I. 1885; ders., Die Normen und ihre Übertretung I—IV, 1914—1919; ders., Lehrbuch d. gemeinen deutschen Strafrechts; Besonderer Teil 2. Aufl. 1902—05; v. Liszt-Schmidt, Lehrb. 26. Aufl. 1927, 26. Aufl. (nur Allgem. Teü) 1932; M. E. Mayer, Der Allgemeine Teil d. dtsch. Strafrechts, 1915; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. I 1925; Bd. II 1930; Lehrbuch 1932; Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, 2. Aufl. 1932; Allfeld, Lehrbuch, 9. Aufl. 1934; Mezger, Strafrecht, Ein Lehrbuch, 2. Aufl. 1933; Kurzlehrbuch I (jetzt hgg. von Blei) 13. Aufl. 1969; II9. Aufl. 1966, Hellmuth Mayer, Das deutsche Strafrecht, 2. Aufl. 1953; ders., Strafrecht, Allg. Teil, ein Studienbuch, 1967; Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Aufl. 1941; v. Weber, Grundriß d. deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1948; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 1965, Besonderer Teil, 5. Aufl. 1969; Sauer, Allg. Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1955; System des Strafrechts, Besonderer Teil, 1954; Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1968; Niethammer, Lehrbuch d. bes. Teils, 1950; Kern, Grdr. d. bes. Teils 1950; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 1969. Kommentare: Olshausen, 11. Aufl. 1927. 12. Aufl. 1942 (unvollständig), E b e r m a y e r - L o b e - R o s e n b e r g (sog. Leipziger Kommentar), 4. Aufl. 1929, 5. Aufl. (nur Allgem. Teil) 1933; fortgeführt von N a gier, 6. Aufl. 1944, 7. Aufl. 1951 u. 1953; von Jagusch u. Mezger, 8. Aufl. 1956; Frank, 18. Aufl. 1931; SchönkeSchröder, 14. Aufl. 1969; Kohlrausch-Lange, 43. Aufl. 1961; Dalcke, 37. Aufl. 1961; Schwarz-Dreher, 30. Aufl. 1968; Dreher-Maassen, 3. Aufl. 1959; jetzt Lackner-Maassen, 4. Aufl. 1967. Strafrechtliche Zeitschriften: Der Gerichtssaal (1849—1942); Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (begründet von v. Liszt), Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform; Goltdammers Archiv; Strafrechtliche Einzelschriften, vor allem wichtige Dissertationen, wurden i. d. „Strafrechtlichen Abhandlungen", hrsg. von Schoetensack, neu herausgegeben von Schmidhäuser, gesammelt. § 4. Der Begriff des Strafrechts I. Umfang des Stratrechts
Der Name ,,Strafrecht" ist für den im StGB, behandelten Stoff vor allem seit der Novelle vom 24. 11. 33 zu eng geworden; denn neben der Strafe regelt das StGB, auch die sichernden und bessernden Maßregeln.
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Einleitung
Rechtsgrund der Strafe ist das Verbrechen, d.i. die für die Rechtsgemeinschaft wegen ihrer sozialethischen Verwerflichkeit unerträgliche Handlung oder Unterlassung. Rechtsgrund der sichernden und bessernden Maßregeln ist die in der Verbrechensbegehung zutage getretene kriminelle Gefährlichkeit des Täters. Aus dem Strafrecht scheidet das Recht der sog. nichtkriminellen Strafen aus. 1. Die O r d n u n g s s t r a f e n Das Gesetz über die Ordnungswidrigkeiten vom 24. 5. 68 unterscheidet, wie schon das vom 25.3.52 und das Wirtschaftsstrafgesetz vom9.7.54i.d.Fass. vom 21.12. 62, nach der Art der angedrohten bzw. verwirkten Rechtsfolge zwischen „Straftaten" und „Ordnungswidrigkeiten". Sind Zu Widerhandlungen ausschließlich mit „Geldbuße" bedroht, so sind sie „Ordnungswidrigkeiten"; sind sie ausschließlich mit Strafe bedroht, so sind sie Straftaten; sind sie entweder mit Strafe oder mit Geldbuße bedroht, so entscheidet die im Einzelfall verhängte Rechtsfolge. Für die Natur der Zuwiderhandlung ist also maßgebend die Art der Rechtsfolge, wobei die „Geldbuße" aus dem System der Kriminalstrafe herausgenommen und zu einer eigenständigen Sanktion (Ordnungsstrafe) verselbständigt worden ist. Zweifelhaft und äußerst bestritten ist, ob dieser Unterscheidung nach den Rechtsfolgen auch ein sachlicher Unterschied im Unrecht, also zwischen einem „Ordnungsunrecht" („Verwaltungsunrecht", „Polizeiunrecht") und dem Kriminalunrecht, entspricht (Eb. Schmidt, Arndt-Festschr. S. 415). Die von der Lehre vom Verwaltungsunrecht (Goldschmidt, Erik Wolf; Eb. Schmidt) entwickelten Kriterien (vor allem die Unterscheidung zwischen „natürlichen" oder „naturrechtlichen" Delikten und „künstlichen" oder „nur vom Willen des Staates erzeugten" Delikten) sind undurchführbar. Zum jüngsten Streitstand vergleiche die Kontroverse zwischen Lange, JZ. 56 73, 519; 57 233 und Welzel, JZ. 56 238; 57 130; Hirsch, Neg. Tatbestandsmerkmale S. 279 Anm. 40; wie hier Jescheck, JZ. 59 457; Mattes, Untersuchungen z. Lehre von d. Ordnungswidrigkeiten, 1966; Krümpelmann, Bagatelldelikte, 1966; Schoreit, GA. 67 225; vgl. BGH. 11 263; BVerfG. NJW. 58 1963; 59 619. — Über Fragen des Tatbestandes und der Schuld bei den Ordnungswidrigkeiten s. u. § 22 III4. 2. Die Dienststrafen (Disziplinarstrafen) verhängt der Staat als Dienstberechtigter bei Verletzung der Dienstpflicht. Daher ist die schwerste Dienststrafe die Aberkennung des Amtes (ihr Zweck: Reinerhaltung des Beamtenstandes). Entsprechendes gilt für die Ehrengerichtsbarkeit der Stände: der Rechtsanwälte, Ärzte u. a. Strafbar sind hier Verfehlungen gegen die Standesehre (vgl. die Rechtsanwalts- bzw. Ärzteordnung). Über das Verhältnis der Disziplinarstrafen zu den Kriminalstrafen wegen derselben Tat vgl. BVerfG. NJW. 671651: Doppelbestrafung sei zwar zulässig, aber die disziplinare Strafe sei bei der Kriminalstrafe zu berücksichtigen (zw.); dazu Gelle und Oldenburg, NJW. 68 1103 u. 2256.
§ 4. Der Begriff des Strafrechts
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3. Die prozessualen Beugestrafen (Zwangsstrafen) sollen ein bestimmtes Verhalten erzwingen, z. B. §§ 888, 889 ZPO., ferner die prozessualen Ordnungsstrafen wegen Ungebühr §§ 178, 179 GVG., weeren Nichterscheinens des Zeugen § 51 StPO., § 380 ZPO. u. dgl. Zur Rechtsnatur der Strafe nach §890 ZPO. siehe Lange, Engisch-Festschr. S. 625. Über das Verhältnis von Ordnungsstrafen wegen Ungebühr zu Kriminal strafen für dieselbe Tat vgl. LG Saarbrücken, NJW. 68 1686. . Die formale Yerbrechensdreiteilung des § l StGB.
Im Anschluß an den Code ponal unterscheidet § l StGB, nach der Schwere der angedrohten (nicht der verhängten) Strafe: Verbrechen, Vergehen, Übertretungen. Diese Unterscheidung ist auch vom 1. StrRG beibehalten worden; dabei ist der § l wegen der Beseitigung der Differenzierung der Freiheitsstrafen neu gefaßt worden: „Verbrechen sind Handlungen, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Übertretungen sind Handlungen, die mit Freiheitsstrafe bis zu 6 Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 500 DM bedroht sind. Vergehen sind alle übrigen mit Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bedrohten Handlungen". Die Dreiteilung hatte von Anfang an nur eine technische Bedeutung, zunächst um die Art des Gerichtes zu bestimmen, vor das das Delikt gehörte (Verbrechen vor das Schwurgericht, Vergehen vor die Strafkammer, Übertretungen vor den Polizeirichter); später wuchs ihr die Funktion zu, die Anwendbarkeit zahlreicher materiellrechtlicher Bestimmungen zu regeln. So wird der Versuch bei Verbrechen stets, bei Vergehen nur bei ausdrücklicher Anordnung und bei Übertretungen nie bestraft (§ 43), auch Beihilfe ist nur bei Verbrechen und Vergehen, nicht aber bei Übertretungen strafbar (§ 49); vgl. ferner § 49a, §§ 67ff., § 257 u. a. m. Die angeblich aus dem Naturrecht stammende materiale Bedeutung, die Kohlrausch-Lange III der Dreiteilung beilegt, ist historisch nicht haltbar (vgl. Welzel, JZ.51754).
Der Einteilung des § l liegt eine generelle („abstrakte") Betrachtungsweise zugrunde: nicht die im Einzelfalle verwirkte, sondern die für den anzuwendenden Tatbestand a n g e d r o h t e ordentliche Höchststrafe bestimmt die Deliktsnatur der Tat. Grundlage hierfür ist der Tatbestand. Ein und derselbe Tatbestand kann nur einer der drei Deliktsarten angehören, und zwar bestimmt sich diese nach der Höchststrafe des „ordentlichen" Strafrahmens des betr. Tatbestandes; außerhalb dieses „ordentlichen" Strafrahmens stehen die mildernden Umstände und die „minder schweren" bzw. (besonders) „schweren Fälle"; W e l z e l , Strafrecht, 11. Aufl.
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diese sind lediglich Strafzumessungsgründe innerhalb desselben Tatbestandes und ändern darum die Deliktsnatur nicht. Demgemäß bestimmt §1 Abs. 4: „Milderungen oder Schärfungen, die nach den Vorschriften des Ersten Teils oder bei mildernden Umständen, minder schweren, besonders schweren oder ähnlichen nur allgemein umschriebenen Fällen vorgesehen sind, bleiben für die Einteilung außer Betracht." Dagegen ist für jeden neuen Tatbestand die Deliktsnatur selbständig zu ermitteln. Hierfür gilt im einzelnen: 1. a) „Mildernde Umstände" erweitern nur den „normalen" Strafrahmen nach unten hin, während die Deliktsnatur sich nach der schwersten Strafe des n o r m a l e n Strafrahmens bestimmt (BGH. 8 79). Also bleibt der Raub auch bei Zubilligung mildernder Umstände (§249 II) ein Verbrechen, ebenso der Totschlag (§ 212) im Falle der mildernden Umstände des § 213.
b) Die gleiche Regel gilt für die „minder schweren Fälle". Danach sind die gefährlichen Eingriffe in den Bahnverkehr (§ 315 III) auch unter den Voraussetzungen eines minder schweren Falles ein Verbrechen (vgl. Frankfurt, HESt. 2 174). Auch die im Ersten (Allgemeinen) Teil geregelten generellen Strafmilderungen für Versuch (§ 44), Beihilfe (§ 49), verminderte Zurechnungsfähigkeit (§ 51II) ändern die nach dem normalen Strafrahmen des betreffenden Delikts zu bestimmende Deliktsnatur nicht. Die Deliktsnatur der Teilnahme bestimmt sich grundsätzlich nach der Haupttat; über Ausnahmen nach § 50 III unten § IG V 4. c) Ein Gegenstück zu den mildernden Umständen und den minder schweren Fällen bilden die seit 1933 häufig verwendeten unbenannten Straferschwerungen der „besonders schweren Fälle" (z. B. 263 III, 266 II u. a. m.). Auch hier bestimmt sich die Deliktsnatur nach der unabhängig vom besonders schweren Fall vorgesehenen normalen Straf drohung. Folglich ist § 266 II ein Vergehen, auch wenn ein besonders schwerer Fall vorliegt. Das gleiche gilt für § 129 IV (BGH. 11 240) und für § 241 a IV; BGH. 20 184; NJW. 67 1330; Schröder, JZ. 65 308; a. A. BGH.20140(aufgegebenin NJW 67 1330) Dreher, JZ. 65 455.
2. Sieht der Tatbestand w a h l w e i s e verschiedenartige Strafdrohungen vor, so ist die schwerste Strafdrohung maßgebend. Darum ist § 185, der früher wahlweise Haft und Gefängnis androhte, stets ein Vergehen (vgl. BGH. 2 181; 393).
3. "Wird aus einem Grundtatbestand durch Hinzunahme spezieller, sog. „benannter" (objektiver oder subjektiver) Tatbestandsmerkmale ein neuer Tatbestand gebildet („Spezialdelikt"), so bestimmt sich die Deliktsnatur nach dem neuen Tatbestand. Bei Strafschärfung nennt man diesen ein „qualifiziertes" Delikt (z. B. § 244 im Verhältnis zu § 242), bei Strafmilderung ein „privilegiertes" Delikt (z. B. § 248 a im Verhältnis zu § 242). Ein solches
§ 5. Strafrecht und Strafgesetz
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Spezialdelikt kann auch innerhalb derselben Strafbestimmung gebildet sein. So z. B. sind die schweren Freiheitsberaubungen des § 239 II und III Verbrechen im Verhältnis zur einfachen Freiheitsberaubung des §2391 als Vergehen. 4. Einen neuen Tatbestand mit eigener Deliktsnatur stellt erst recht das e i g e n s t ä n d i g e D e l i k t (delictum sui generis) dar, das aus dem Grunddelikt völlig ausgeschieden und verselbständigt ist, wie z. ß. der liuub (§ 249) im Verhältnis zum Diobstahl und zur Nötigung (§§ 240, 242). 5. Bei Androhung von „Geldstrafe schlechthin" und bei multiplikativer Geldstrafendrohung liegt stets ein Vergehen vor. Zu 1.—5.: Die hier entwickelte „generelle" oder „abstrakte" Betrachtungsweise der Dreiteilung entspricht der historischen Entwicklung und herrscht in Judikatur und Lehre. RG. fi9 51; 74 65; HESt. 2 164,170, 174; BGH. 2 181. -W3; 8 47; NJW. 55 1804; Jagusch, LK. § l, 3; N i e t h a m m e r , DRZ. 47 100; Welzel, JZ. 51 754; Maurach, AT. § 13 III 3a; S c h w a r z - D r e h e r , § l, 3. Die von K ü h l r a u s c h (38. Aufl.) und E n g i s c h (SJZ. 4 JZ. 66 451 mit An m. S c h r ö d e r .
§22.Die£leinentederYorwerrbarkeit:2.DieMögIichkoitderUnrecht8einsicht Mag die Schuld in einem einmaligen Versagen der sinnmäßigen Willenssteuerung liegen oder in einer Fehleinstellung des erworbenen Charakters wurzeln, — stets kommt sie im Strafrccht nur als persönliche Vorwerfbarkeit einer einzelnen rechtswidrigen Handlung oder — in wenigen Ausnahmefällen wie beim Zuhälter — eines bestimmten Stückes rechtswidriger Lebensführung in Betracht. Schuld ist die Vorwerfbarkeit der einzelnen rechtswidrigen Tat (oder des Stückes rechtswidriger Lebensführung). Das, was vorgeworfen wird, ist die rechtswidrige Willensbildung bezüglich der einzelnen Tat (oder des Teils der Lebensführung). Existentielle Voraussetzung der Vorwerfbarkeit ist die freie, d. h. sinnmäßige Selbstbcstimmbarkeit des Täters: seine Schuld- oder Zurechnungsfähigkeit. Diese Schuldfähigkeit ist in der konkreten Situation generell vorhanden (oder nicht vorhanden), unabhängig davon, ob der Täter überhaupt handelt oder nicht, ob er sich rechtmäßig oder rechtswidrig verhält. Die Vorwerfbarkeit setzt aber weiter voraus, daß der schuldfähige Täter bezüglich der konkreten Tat an Stelle des rechtswidrigen einen rechtmäßigen Handlungswillen hätte bilden können: Das ist der Fall, wenn er das Unrecht seiner Tat erkannt hat oder hat erkennen können. Die einfache Wahrheit, daß man den Schuldvorwurf —: der Täter hätte seinen Handlungswillen rechtmäßig statt rechtswidrig bilden können — nur dann gegen ihn erheben kann, wenn er in der Lage war, die Rechtswidrigkeit seines Tuns zu erkennen, diese einfache Wahrheit hat lange Zeit gebraucht und große Mühe gehabt, sich durchzusetzen, und ist noch heute keineswegs unbestritten. Die Autorität des römischen Satzes error juris nocet und die begründete Sorge, dem Rechtsbrecher zu einer bequemen Ausrede und zu einem unberechtigten Freispruch zu verhelfen, haben die Anerkennung der logisch zwingenden Konsequenz aus dem Schuldprinzip bis zur Gegenwart verhindert. Beispiele: Ein Ausländer, in dessen Heimat die einfache Homosexualität straflos ist (wie z. B. in der Schweiz), nimmt in Deutschland homosexuelle Handlungen vor. — Ärzte und Pfleger beteiligten sich an der Tötung von Geisteskranken, weil sie den
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Allgemeiner Teil
„Euthanasie"-Erlaß Hitlers für gültiges Recht hielten (OGH. 2 129; BGH. NJW. 53 613). — Ein Wachmann erschießt einen Kriegsgefangenen, der ihm wegen des Verdachts des Plünderns vorgeführt worden war (BGH. 2 333; s. auch BGH. 2234). — Ein junger, etwas primitiver Landarbeiter verkehrt mit einer zum Geschlechtsverkehr bereiten Frau, die wegen Geisteskrankheit sterilisiert worden ist, in Kenntnis ihres Zustande, aber ohne Kenntnis der Verbotsnorm des § 176 Ziff. 2 (BGH. LM. Nr. 3 zu § 176 Ziff. 2). — Der Vormund verkehrt geschlechtlich mit dem Mündel (§ 174 Ziff.l) in der Meinung, seine Pflichten beschränkten sich auf die Vermögensfürsorge (RG. 58 10, 61; s. auch RG. 67 390). — Ein Angler, in dessen Nähe ein Junge verunglückt ist, weigert sich, den Verunglückten in seinem Kraftwagen zur Klinik zu fahren, im Glauben, hierzu nicht verpflichtet zu sein (§ 330 c; BGH. 2 297). — Ein Taxifahrer bleibt untätig dabeistehen, als ein Mädchen in seinem Taxi vergewaltigt wird (BGH. 16 156). — Ein Mann sperrt einen fremden ungezogenen Jungen zwei Stunden in seinem Kohlenkeller ein, weil er glaubt, ein Züchtigungsrecht gegenüber fremden Kindern zu haben. — Eltern gestatten der Tochter den Geschlechtsverkehr mit dem (ernsthaft) Verlobten in der Überzeugung von der Zulässigkeit der Duldung (§ 181, BGH. 6 46). I. Die Lehre des ehemaligen Reichsgerichts Das Bewußtsein der Kechtswidrigkeit ist keine Voraussetzung der Strafbarkeit: error iuris nocet, RG. 2 269: „Das Strafgesetz fordert für seine Anwendung mehr nicht, als daß der Täter das Bewußtsein derjenigen Umstände gehabt habe, in welchen das Gesetz die Merkmale einer strafbaren Handlung erblickt. ... Es kann nicht gefordert werden, daß der Täter sich der Rechtswidrigkeit, des Unerlaubtseins seiner Handlung bewußt gewesen sein müsse." Im einzelnen unterschied das Reichsgericht zwischen einem strafrechtlichen und einem außerstrafrechtlichem Irrtum: a) Handelt es sich um Unkenntnis s t r a f r e c h t l i c h e r Vorschriften, dann sei der Irrtum u n b e a c h t l i c h : error iuris criminalis nocet. ß) Betrifft die Unkenntnis a u ß e r s t r a f r e c h t l i c h e Rechtsnormen (z. B. das Zivil- oder Verwaltungsrecht), dann sei der Irrtum beachtlich. Er stehe dem Tatbestandsirrtum gleich und schließe daher den Vorsatz gemäß § 59 aus. Die Unterscheidungen dabei sind völlig willkürlich: Weiß jemand nicht, daß er Kaufmann im handelsrechtlichen Sinne ist upd deshalb Handelsbücher führen muß, so irrt er über die strafrechtlichen Bestimmungen des § 240 Ziff. 3 KO. (RG. 8147). Dagegen ist der Irrtum über die Beamteneigenschaft nach RG. 23 374 ein außerstrafrechtlicher; auf anderem Standpunkt steht jedoch in demselben Falle RG. GA. 69 343; RG. 53 131. Besonders kraß ist RG. 57 235: Erblasser diktiert Testament und Unterschrift. Hält der Schreiber den Auftrag zur Niederschrift des Testaments für wirksam, dann befindet er sich im Zivilrechtsirrtum; hält er aber das Testament für formgerecht und gültig, dann war er im Strafrechtsrrrtum. y) Die gleiche Unterscheidung traf das Reichsgericht auch beiBlankettstrafgesetzen. Ist der Irrtum über die das Blankettgesetz ausfüllende Norm außerstrafrechtlicher Art, so schließt er den Vorsatz aus; ist er strafrechtlicher Art, so ist er unbeachtlich. RG. 87 391; 52 100; 60425; 67 115; — andererseits RG. 45 382; dazu Olshausen, § 58, 15 u. 18; Welzel, JZ. 56 238.
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 159 In der Sache war das Reichsgericht bemüht, überall da, wo es den Irrtum entschuldigen wollte, einen außerstrafrechtlichen Irrtum anzunehmen, und überall da, wo es den Irrtum für unentschuldbar hielt, ihn für einen strafrechtlichen zu erklären (vgl. Welzel, JZ. 52 208). Jedoch gelang das nicht immer. Indem das Reichsgericht selbst bei unvermeidbarer Unkenntnis der Rechtswidrigkeit strafte, hat es Strafe ohne Schuld verhängt und damit einen essentiellen Schuldgrundsatz verletzt: niemals kann man dem Täter den rechtswidrigen Handlungsentschluß vorwerfen, wenn ihm die Rechtswidrigkeit überhaupt nicht bewußt werden konnte. Daß „Vorsatz" mit „Schuld" nicht identisch ist, sondern daß es auch einen schuldlosen Vorsatz gibt, hatte das Reichsgericht schon 1930 (RG. 64 30) an Taten im strafrechtlichen Notstand (§§ 52, 54) erkannt. Es hätte diese Erkenntnis über die Notstandstaten hinaus nur erweitern und verallgemeinern müssen! Die Lehre hat sich seit langem bemüht, den Schuldgrundsatz auch für den Verbotsirrtum durchzusetzen, und die Praxis selbst hat sich seit 1945 in steigendem Maße von den Grundsätzen des Reichsgerichts freigemacht. Die sachgemäße Lösung mußte jedoch der herrschenden Lehre schwerfallen, solange sie den Vorsatz als einen Bestandteil der Schuld auffaßte und ihn nicht, wie die finale Handlungslehre, als G e g e n s t a n d der Vorwerfbarkeit zur Handlung und zum Unrecht stellte. So lag es für sie nahe, das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als einen Teil des Vorsatzes anzusehen. Hieraus ergab sich die „Vorsatztheorie". II. Die Vonatztheorie. Die sozialethischen Wertprinzipien der Vorsatz- und der Schuldtheorie Vgl. Mezger-Blei, I§65; LK. § 59; Schönke-Schröder, §59N.81ff.; Olshausen, vor § 51, 6e; Nagler, LK., (1944) vor § 51 IV A 1; § 59 II; Schröder, MDR. 60 646; Z. 65 178; Lang-Hinrichsen, JR. 52 184; JZ. 53 362; Baumann § 27 III 2, zur Kritik Welzel, SJZ. 48 368; MDR. 51 65; NJW. 51 577; MDR. 52 584; Aktuelle Strafrechtsprobleme, 1953; Z. 67 196ff. Für die Vorsatztheorie ist der Vorsatz ein Schuldelement, das — abweichend von der Auffassung des Reichsgerichts — nicht nur das Bewußtsein der Tatbestandsmerkmale, sondern auch das der Rechtswidrigkeit zum Inhalt hat. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gehört also zum Tatvorsatz; fehlt es dem Täter, so ist sein Vorsatz ausgeschlossen, selbst wenn er mit voller Kenntnis des Tatbestands handelt. Der Irrtum über die Reehtswidrigkeit schließt wie der Tatbestandsirrtum gemäß § 59 den Vorsatz aus. Die Vorsatztheorie kann ihre These nicht ernsthaft durchführen. Der Vorsatz verlangt ein wirkliches, gegenwärtiges Bewußtsein (Wahrnehmen oder Vorstellen) der Tatbestandsmerkmale im Augenblick der Tat. Ein solches aber hat der Täter bezüglich der Rechtswidrigkeit nur selten, und es fehlt ihm völlig bei schweren Affekt- und bei raschen Augenblickstaten.
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Vgl. Kurt Schneider, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, S. 19f.; de Boor, Über motivisch unklare Delikte, 1959, S. 197: „Ein aktuelles Vorstellungsbild über Recht und Unrecht des Tatverhaltens im Augenblick des Geschehens gehört zu den ganz großen Seltenheiten." Der Täter „weiß" wohl meist, daß seine Tat Unrecht ist, so wie er auch die Regeln der Addition und Subtraktion und vieles andere kennt, auch wenn er nicht aktuell daran denkt. Zur Bewußtseinsform des Vorsatzes aber genügt nicht ein solches inaktuelles, nur aktualisierbares „Wissen", sondern lediglich ein wirkliches, g e g e n w ä r t i g e s , aktuelles Bewußtsein. Wollte man aber eine solche aktuelle Vorstellung von der Rechtswidrigkeit der Tat im Augenblick ihrer Vornahme verlangen, dann würde es kaum noch vorsätzliche Taten in diesem Sinne geben Die Vorsatztheorie müßte sich vielmehr mit einer Unrechts„kenntnis" im Sinne eines inaktuellen, nur aktualisierbaren „Wissens" begnügen, muß sich dann aber darüber klar sein, daß ein solches zur Bewußtseinsart des Tatvorsatzes nicht genügt. Vorsatz und Unrechtskenntnis verlangen vielmehr psychologisch zwei verschiedene Bewußtseinsarten: jener verlangt notwendig die a k t u e l l e Vorstellung oder Wahrnehmung z. Z. der Tat, diese begnügt sich mit einem inaktuellen „Wissen". Die offensichtlichen Lücken der Vorsatztheorie haben ihre Verteidiger dazu geführt, diese Theorie zu erweitern: a) durch Nichtbeachtung „rechtsblinden" (oder „rechtsfeindlichen") Verhaltens. Das ist der von Mezger, Probleme 183f., sachlich begründete Vorschlag des Entwurfs 1936 (Gürtner I 64f., 71): Der Irrtum des Täters sei unbeachtlich, wenn er auf einer Einstellung beruht, die mit der gesunden Volksanschauung (gesunden Auffassung) von Recht und Unrecht unvereinbar ist. Vgl. Probleme, 184; StuB. 1182, LK. § 69 II 17. — Dieser Vorschlag überträgt das gesunde Volksempfinden in die Schuldlehre und belastet sie — strafbegründend — mit diesem unbestimmten Begriff; gegen seine Unbestimmtheit aus rechtsstaatlichen Gründen schon mit Nachdruck Hafter, Schweiz. ZStW. 62 (1947) 491. Vor allem verletzt die vorgeschlagene Formel das Schuldprinzip. Denn sie schneidet dem Täter einen Entschuldigungsgrund ab, indem sie seinen Irrtum unwiderleglich als unentschuldbar fingiert. Das kann nicht nur gegenüber dem Ausländer, sondern bei einigen Delikten ganz allgemein zu ungerechten Ergebnissen führen. Da z. B. gemäß BGH. 6 46ff. die Duldung des Beischlafs auch zwischen ernsthaft Verlobten nach „gesunder Auffassung" Kuppelei sei, könnte sich hier der Täter niemals auf Verbotsirrtum berufen, da ja sein Irrtum mit einer gesunden Auffassung von Recht und Unrecht in Widerspruch steht. Die Formel eröffnet die Möglichkeit für eine autoritäre Rechtsauffassung, eine bestimmte Weltanschauung in Rechtsfragen als verbindlich zu dekretieren und jede Abweichung von ihr, ja selbst den Irrtum über sie unwiderleglich als unentschuldbar zu verwerfen (dazu Welzel, Z. 67 202 ff.). — Dazu treten unüberwindliche dogmatische Schwierigkeiten. „Rechtsfeindliches" Handeln soll nicht vorsätzliches Handeln sein (LK. § 69 II 17; III); dennoch soll der rechtsfeindlich (also unvorsätzlich) handelnde Täter im Urteil wegen vorsätzlicher Tat bestraft werden. Das ist eine Fiktion und ein Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz nulla poena sine lege. Denn wo das Gesetz nur vorsätzliches Handeln unter Strafe stellt, kann der Richter ohne gesetzliche Ermächtigung nicht ein unvorsätzliches Handeln „als" vorsätzliches Handeln bestrafen (so mit Recht BGH. 2 206ff.). — Auf eine Nichtbeachtung
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 161 rechtsblinden Verhaltens läuft auch die Vorsatztheorie Baumanns hinaus: Werde die Stimme des Gewissens durch Erregung oder Gefühle des Täters überschrien, so sei das „seine Sache"! (Lehrbuch §27 III 2a) ß) durch Schaffung eines Aushilfstatbestandes der „Rechtsfahrlässigkeit"; so Schröder, Z. 65199, §59 N. 113f. nach dem Entwurf von 1936 (Gürtner I 631, 69f.): In allen Fällen fahrlässiger Verbotsunkenntnis, in denen fahrlässiges Handeln nicht bereits unter Strafe gestellt ist, soll der Täter wegen „Rechtsfahrlässigkeit" mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft werden. — Dieses von den einzelnen Tatbeständen losgelöste crimen culpae stellt einförmig die mangelnde Rechtserkundigung des Täters unter Strafe. Ihm fehlt die Beziehung zur konkreten Tat, und es läßt die schwereren Schuldstufen des Verbotsirrtums unberücksichtigt. Die Bezugnahme auf die „Fahrlässigkeit" verengt und verschiebt die entscheidende Fragestellung. Fahrlässigkeit ist Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Der Vorwurf, daß der Täter sich das Unrecht seiner Tat nicht klargemacht hat, obwohl er dies konnte, ist umfassender und weiter als der Vorwurf der Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (vgl. dazu Welzel, Z. 67 207). Inzwischen hat Schröder (§ 59, N. 114) seinen Vorschlag dahin abgewandelt, „jedem Vorsatztatbestand ein besonderes Delikt der Rechtsfahrlässigkeit" beizufügen. Damit würde zwar das crimen culpae beseitigt, sachlich aber nur unbeholfener und mißverständlicher eine der Schuldtheorie nahekommende Lösung dargeboten, die genauso wie diese zwischen Irrtum über Tatumstände (er führt zur „Tatfahrlässigkeit") und Irrtum über die Rechtswidrigkeit (er führt zur „Rechtsfahrlässigkeit") unterscheiden müßte — eine Unterscheidung, die nach Schröder „willkürlich" und „undurchführbar" sein soll. (Über die Bedenklichkeit der Deutung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums als „Fahrlässigkeit" s. Deubner, NJW. 67 64) y) durch die Erweiterung des Bewußtseinsbegriffs („sachgedankliches Unrechtsbewußtsein"); so Schmidhäuser, Mayer-Festschr., S. 316ff.: Das im Unbewußten gespeicherte Bild von der Verwerflichkeit trete bei entsprechendem Erleben mit seelischer Notwendigkeit ins Bewußtsein, jedenfalls hinsichtlich der „anschaulichen Grundgebote und -verböte des Zusammenlebens" (S. 330). — Das ist bei raschen Augenblicks- und bei Affekttaten in dieser Allgemeinheit eine bloße Fiktion, d. h. es kann, aber muß nicht so sein. Über die Begründung des Schuldvorwurfs in diesen Fällen s. o. § 20 II (was immer wieder übersehen wird!). Überdies versagt die Antwort Schmidhäusers in den Fällen außerhalb der „gängigen Bilder der unrechten Tat", also etwa bei Annahme nicht-anerkannter Rechtfertigungsgründe oder in den oben vor I angeführten Fällen OGH. 2 129; BGH. NJW. 53 513; BGH. 2 234, 297, 333; 6 46; 16 155 u. a. m. Die Vorsatztheorie verkennt, daß der Vorsatz der G e g e n s t a n d des Schuldvorwurfs ist und daß er darum bereits zur Handlung und zum Tatbestand gehört, während das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nur ein Bestandteil der Vorwerfbarkeit ist. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ist nicht etwas, was dem Täter vorgeworfen wird, sondern der Grund, weshalb dem Täter der rechtswidrige Vorsatz vorgeworfen wird. Weil der Täter die Rechtswidrigkeit erkennen und demgemäß seinen rechtswidrigen Handlungsentschluß unterlassen konnte, wird ihm dieser zum Vorwurf gemacht. Daraus folgt, daß die Unrechtskenntnis kein Element des Vorsatzes, sondern allein der Vorw e r f b a r k e i t ist. Dem Täter ist der rechtswidrige Vorsatz in dem Maße vorWelzel, Strafrecht, 11. Aufl.
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werfbar, wie er das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit aktualisieren und zum sinnbestimmenden Gegenmotiv werden lassen konnte. Die Vorsatztheorie verkennt weiter, daß der Mensch die Verantwortung für die Richtigkeit seiner Entscheidung nach dem Maße seiner sozial-ethischen Einsichtsfähigkeit trägt. Darum ist ihm seine rechtswidrige Willensbildung nicht nur dann vorzuwerfen, wenn er ihre Rechtswidrigkeit k a n n t e , sondern auch dann, wenn er sie e r k e n n e n k o n n t e . Das ist der Schuldbegriff nach der Schuldtheorie: „Der Mensch i s t . . . jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und Unrecht zu vermeiden. Dieser Pflicht genügt er nicht, wenn er nur das nicht tut, was ihm als Unrecht klar vor Augen steht. Vielmehr hat er bei allem, was er zu tun im Begriff steht, sich bewußt zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens im Einklang steht." BGH. 2 192 (201). Diesen Schuldbegriff verkürzt die Vorsatztheorie: Schon der subjektive Glaube des Täters an die Rechtmäßigkeit seiner Handlung soll ihn v o n jeder Schuld befreien (sofern nicht die fahrlässige Tatbegehung unter Strafe gestellt ist). Der Schuldbegriff der Schuldtheorie beruht auf dem V e r a n t w o r t u n g s prinzip, wonach die Person die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit ihrer Tatentschlüsse in den Grenzen ihrer sozialethischen Einsichtsfähigkeit trägt. Der Schuldbegriff der Vorsatztheorie dagegen gründet sich auf das K e n n t n i s prinzip, wonach der Person der rechtswidrige Inhalt ihrer Entscheidung nur dann vorgeworfen werden kann, wenn sie die Rechtswidrigkeit k a n n t e . Nur in den wenigen Fällen, in denen das Straf recht auch die fahrlässige Tatbegehung unter Strafe stellt, will die Vorsatztheorie den in schuldhafter Unkenntnis der Rechtswidrigkeit handelnden Täter wegen fahrlässiger Tatbegehung haften lassen. Diese Umdeutung vorwerfbarer Unkenntnis der rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung in eine fahrlässige Tatbegehung ist sachlich verfehlt und führt zu unerträglichen Lücken der Strafbarkeit: In den Fällen BGH. 2 297 und 16 165, nämlich in dem Fall des angelnden Arztes, der sich geweigert hatte, einen Verunglückten in die Klinik zu fahren, und des Taxifahrers, der untätig dabeistand, als ein Mädchen in seinem Taxi vergewaltigt wurde, hätte Freispruch erfolgen müssen, weil hier fahrlässige Tatbegehung nicht strafbar ist. Das zeigt sich ferner bei allen Subsumtionsiirtümern, die zugleich Verbotsirrtümer sind (s. u. III3), und bei der schuldhaft-irrigen Annahme von Rechtfertigungsgründen — anerkannten und nicht-anerkannten — und insbesondere des übergesetzlichen Notstandes. Die Fruchtabtreibung bei leichtfertiger Annahme einer Notstandslage müßte dann straflos bleiben, da die fahrlässige Abtreibung nicht unter Strafe steht (Welzel, JZ. 55 142). Die gleiche Situation würde sich bei den meisten nur vorsätzlich begehbaren Delikten des StiiB. ergeben, seien es Hoch- und Landesverrat (JZ.55144) oder Beamtennötigung und Hausfriedensbruch, Verwahrungs-, Verstrickungs- und Siegelbruch oder Nötigung und Freiheitsberaubung oder Bruch des Berufsgeheimnisses und viele andere mehr. Vgl. auch Welzel, Z 76 619.
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 163 Um diesen unhaltbaren Konsequenzen zu entgehen, haben (Teü-)Anhänger der Vorsatztheorie den Vorschlag gemacht, bei allen Delikten, bei denen die Anwendung ihrer Theorie zu unerträglichen Lücken führen müßte, die fahrlässige Tatbegehung (also die fahrlässige Abtreibung, Nötigung, Freiheitsberaubung, den fahrlässigen Hausfriedens- und Geheimnisbruch, den fahrlässigen Parteiverrat usf.) unter Strafe zu stellen (vgl. den Bericht von Jescheck, GA. 66 100). Dieser Vorschlag würde umgekehrt zu einer unerhörten Erweiterung der Strafbarkeit führen, da man mit ihm auch die fahrlässige Verkennung von Tatumständen (z. B. daß die Frau, die man fahrlässig verletzt, eine Schwangere ist) unter Strafe stellen würde (vgl. Welzel, JZ.66456).
Die Vorsatztheorie verkennt die tiefgreifenden, prinzipiellen Unterschiede zwischen einer in schuldhaftem Verbotsirrtum begangenen vorsätzlichen Handlung und einer fahrlässigen Tatbegehung. Bei der fahrlässigen Tatbegehung ist der Inhalt des Tatentschlusses für die Strafbarkeit unerheblich; er ist überdies in den allermeisten Fällen auf strafrechtlich nicht mißbilligte oder sogar auf erwünschte Erfolge gerichtet. Lediglich seine Durchführung ist fehlerhaft, weil sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt: der Täter hätte andere, außerhalb seines Verwirklichungswillens liegende mißbilligte Folgen beachten und danach sein Verhalten einrichten sollen. Der Vorwurf schuldhaften Verbotsirrtums hingegen bezieht sich auf den Inhalt des Tatentschlusses, der auf etwas rechtlich Verbotenes (Rechtswidriges) gerichtet ist, und ist der Vorwurf einer schuldhaft-rechtswidrigen Entscheidung. Erklärt die Rechtsordnung eine bestimmte vorsätzliche Handlung (Abtreibung, Nötigung, Freiheitsberaubung, Parteiverrat usf.) für sozial unerträglich (rechtswidrig), so geht sie davon aus, daß auch der Rechtsgenosse diese sozialethische Wertung grundsätzlich (durch Gewissensbefragung, Nachdenken oder Erkundigung) mitvollziehen kann und daß er, wo er die vorsätzliche Handlung trotzdem vornimmt, weil er eine rechtfertigende Ausnahmelage für gegeben hält (z. B. Notstand), sich vergewissert, ob diese wirklich vorliegt. „Der Arzt, der aus zwingenden ärztlichen Gründen eine Schwangerschaft beendet, soll sich darüber klar sein, daß er eine Leibesfrucht tötet, der Soldat soll wissen, daß er tötet, und beide sollen sich bewußt bleiben, daß es sich um schwerwiegende und schmerzvolle Vorgänge handelt, die besonderer Rechtfertigung bedürfen" (Mayer, 107). Darum entschuldigt sie eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung nur, wenn der Irrtum über die Rechtswidrigkeit unverschuldet war. Ganz anders stellt sich die sozialethische Wertungsfrage beim fahrlässigen Delikt: Hier ist der Entschluß des Täters nicht auf die Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung, sondern auf einen (in der Regel) rechtlich irrelevanten, oft sogar sozial erwünschten Erfolg gerichtet. Darum kann die Rechtsordnung den Handelnden nur bei der Durchf ü h r u n g seines Entschlusses zur Beachtung möglicher Gefahren verpflichten. Da nun aber der Weltlauf unübersehbare Gefahrenquellen enthält, muß die Rechtsordnung — will sie nicht jegliche Handlung im sozialen Raum im Keime ersticken — den größten Teil dieser Gefahren hinnehmen und kann nur bei 11
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Gefahren für einige bedeutende Rechtsgüter (z. B. für Leib und Leben) zu besonderer Sorgfalt verpflichten. Sie folgt auch dabei dem Verantwortungsprinzip: Der Mensch kann die tätige Verantwortung im Weltlauf nur dann übernehmen, wenn die Rechtsordnung (besonders das Strafrecht) sein Risiko für mögliche Gefahren nicht überspannt (vgl. dazu Binding, Normen IV 200). Aus diesem Grund bestraft das Recht die fahrlässige Tatbegehung nur bei einigen wenigen Delikten. So legt das V e r a n t w o r t u n g s p r i n z i p dem Rechtsgenossen einerseits die V e r a n t w o r t u n g dafür auf, daß der Inhalt seines Handlungsentschlusses nicht rechtswidrig ist (soweit der Handelnde die Rechtswidrigkeit nach dem Maß seiner sozialethischen Einsichtsfähigkeit erkennen konnte) und b e s c h r ä n k t andererseits die V e r a n t w o r t u n g für die s o r g f ä l t i g e D u r c h f ü h r u n g rechtlich-irrelevanter Tatentschlüsse auf die Beachtung von G e f a h r e n für besonders wichtige Rechtsgüter. Damit steckt die Schuldtheorie positiv und negativ die Grenzen der sozialethischen V e r a n t w o r t u n g der Person klar ab, während das Kenntnisprinzip der Vorsatztheorie hierzu nicht in der Lage ist. Vgl. Welzel, Über die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung, SJZ. 47 400ff.; Aktuelle Strafrechtsprobleme, 1953, S. 15ff.; Z.67199ff.
. Die Schuldtheorie Vgl. Dohna, Aufbau der Verbrechenslehre, 44f.; Weiz, Die Arten des Irrtums, Strafr. Abh. H. 286; Maurach, AT. § 38; von Weber, Gr. 122; Härtung und Warda, JR. 545f.; NJW. 209; Welzel, SJZ.48368, MDR. 5165; NJW. 61577; Gutachten S. 46ff.; Z. 67 196ff.; 76 619; Niese, Finalität, Vorsatz u. Fahrlässigkeit, 33ff.; H. J. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, Bonn, 1960. — Stuttgart, DRZ. 49 164; Oldenburg, MDR. 50 690; BGH. (Großer Senat) vom 18. 3. 52, 2 194 (= JZ. 52 335); BGH. 4 1. Weitgehend i. S. der Schuldtheorie schon Adolf Merkel, Lehrbuch (1889) S. 67ff.; M. E. Mayer 262, Paul Merkel, Gdr. des Strafr. 1,1927; Frank § 59 III 2; v. H i p p e l II 349; VDA. III 547ff.; 586ff.; Kohlrausch-L. §69 II2h; OGH.2 129; 36. — Die Schuldtheorie ist gesetzlich anerkannt im früheren § 6 AViStG. (hierzu Eb. Schmidt, SJZ. 48 574; 50 837), § 6 III OWiG. u. in §17 in der Fassung des 2. StrRG. Vgl. auch Art. 31 Griech. StGB.; dazu Philippides, Poinika Chronika 1954, S. 325 u. schon Chorafas, Über den Begriff des Vorsatzes (Athen 1922) I 205ff. Über die Schuldtheorie im Zivil-und Arbeitsrecht siehe: BAG. (15. 9. 54) l 69ff. (79); Enn.-Nipperdey, S. 13l7ff.; Nipperdey, Der Begriff des Verschuldens bei schadensersatzpflichtigen Handlungen, Festschr. f. Alex Meyer, 1954, S. 96ff.; dazu Niese, JZ. 50 457. Gegenstand des Schuldvorwurfs ist der rechtswidrige Handlungswille; er wird dem Täter in dem Maße vorgeworfen, wie ihm die Rechtswidrigkeit der Handlung zum Bewußtsein kommen und sinnbestimrnendes Gegenmotiv werden konnte. Am leichtesten ist dabei dem Täter die Möglichkeit sinnmäßiger Selbstbestimmung dann, wenn er die Rechtswidrigkeit positiv kennt, gleichgültig, ob sie ihm bei Be-
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 165 gehung der Tat aktuell bewußt ist oder er sie sogleich aktualisieren kann. Darum ist in diesem Falle der Schuldvorwurf am stärksten. Schwieriger hat es der Täter dann, wenn er die Rechtswidrigkeit nicht kennt, sie aber bei einiger Sorgfalt erkennen kann. Hätte er durch stärkere Gewissensanspannung, durch Nachfrage u. dgl. das Unrecht seiner Tat erkennen können, so ist ihm diese ebenfalls vorwerfbar, wenn auch gegenüber dem ersten Falle in einem geringeren Maße. Der vermeidbare Verbotsirrtum mildert die Vorwerfbarkeit und demgemäß die Strafe nach dem Maße seiner Vermeidbarkeit. Während nun bei der unvorsätzlichen Rechtsgutsverletzung der Strafrahmen der fahrlässigen Delikte eine angemessene Strafmilderung für das geringere Maß der Vorwerfbarkeit unmittelbar zuläßt, ist für vorsätzliche Delikte ein allgemeiner Milderungsschlüssel für die vermeidbare Verbotsunkenntnis aus § 51 Abs. 2 in Verbindung mit § 44 zu nehmen: Da die Erschwerung der generellen Fähigkeit, rechtmäßig zu handeln, nach § 51 Abs. 2 Vorwerfbarkeit und Strafe mildert, muß der gleiche Grundsatz dann gelten, wenn infolge vermeidbarer Verbotsunkenntnis die k o n k r e t e Möglichkeit, rechtmäßig zu handeln, erschwert war (BGH. 2194 = JZ. 52 335; BGH. 3123). War die Verbotsunkenntnis unvermeidbar, so entfallen Vorwerfbarkeit und Strafe ganz. Unzutreffend ist die Behauptung, die Schuldtheorie kenne als „Einheitsschuldtheorie" keine Schuldabstufungen inhaltlicher Art, wie sie durch die Gegenüberstellung in § 69 Abs. l u. 2 gegeben sind (vgl. Mezger, LK. § 59 II17). — Die Schuldtheorie bestimmt die Schuld im Einklang mit der h. L. (vgl. Mezger 249) einheitlich als Vorwerfbarkeit (nicht als,,Vermeidbarkeit"); innerhalb der Schuld differenziert sie ebenfalls die Vorwerfbarkeit danach, ob diese sich auf eine vorsätzliche oder eine unvorsätzliche Tatbestandsverwirklichung bezieht (vgl. unten6). Dadurch, d a ß d e r F i n a l i s m u s d e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n V o r s a t z und Vorsatzmangel in den Tatbestand vorverlegt nnd ihn d a n n schon für das Unrecht erheblich sein läßt, „nivelliert" er ihn doch nicht für die Schuld, sondern vertieft ihn auch f ü r diese! Denn die in einer tieferen Stufe des Verbrechensb e g r i f f s angelegte Verbrechensdifferenz kehrt in der höheren Stufe — nun noch fundamentaler — wieder! Darüber hinaus differenziert der Finalismus die Vorwerfbarkeit auch bei vorsätzlichen Taten noch danach, ob der Täter die Rechtswidrigkeit der Tat gekannt hat oder ob er sie hätte kennen können (nur im letzteren Falle beruht die Vorwerfbarkeit auf einer „Vermeidbarkeit" der Verbotsunkenntnis!). Ebenso unbegründet ist der Vorwurf, die Schuldtheorie arbeite mit einer VorsatzFahrlässigkeitskombination. — Was den Vorsatzinhalt ausmacht, definiert präzis § 69 I; zu ihm gehört das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit n i cht (so auch Mezger, LK. §59,14). Nur ein Irrtum über einen Tatumstand führt zur Fahrlässigkeit! Mangelndes Bewußtsein der Rechtswidrigkeit beeinträchtigt also den Tatbestandsvorsatz nicht und führt ebensowenig zur Fahrlässigkeit, (s. oben § 13 16). Eine Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination ist etwas völlig anderes: sie betrifft u.a. die durch § 56 n. F. geschaffene Kombination eines vorsätzlichen mit einem fahrlässigen Delikt, z. B. § 226: eine Kombination von vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung (s. dazu oben § 18). Vgl. auch unten § 42 II Ib.
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Dogmatisch und praktisch unhaltbar ist die Konstruktion des Verbotsirrtums als eines Straf ausschließungsgrundes durch Schwarz, NJW. 55526; dagegen durchschlagend Vianden-Grüter, NJW. 551057; Härtung, JZ.56 663.
Bei obiger Behandlung des Verbotsirrtums ergibt sich, daß die Sorge, seine Anerkennung könne zu bequemen Ausreden verleiten und zu unberechtigten Freisprächen führen, unbegründet ist; denn nur der unvermeidbare Verbotsirrtum macht straffrei. Nach diesen Grundsätzen ist zwischen dem vorsatzausschließenden Tatb e s t a n d s i r r t u m und dem schuldausschließenden V e r b o t s i r r t u m zu unterscheiden: Tatbestandsirrtum ist der Irrtum über einen objektiven Tatumstand des gesetzlichen Tatbestands; er schließt den Vorsatz der Tatbestands Verwirklichung (Tatbestandsvorsatz) aus. Der Täter kann wegen fahrlässiger Tat strafbar bleiben, wenn diese unter Strafe gestellt ist (§ 59). Verbotsirrtum ist der Irrtum über die Kechtswidrigkeit der Tat bei voller Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung (also bei vollem Tatbestandsvorsatz). „Der Täter weiß, was er tut, nimmt aber irrig an, es sei erlaubt" (BGH.); er kennt entweder die rechtliche Norm nicht oder verkennt sie (legt sie falsch aus) oder nimmt irrig einen Kechtfertigungsgrund an. Jeder dieser Irrtümer schließt die Vorwerfbarkeit aus, wenn er unvermeidbar ist, oder mildert sie gemäß § 51 Abs. 2, § 44, wenn er vermeidbar ist. Unter „Verbotsirrtum" ist (ähnlich wie beim Tatbestandsirrtum) nicht nur die falsche, sondern auch die fehlende Vorstellung von der Rechtswidrigkeit der Tat zu verstehen, d. h. nicht nur die positive Vorstellung, rechtmäßig zu handeln, sondern auch die fehlende Vorstellung, rechtswidrig zu handeln. Armin K a u f m a n n , Schmidt-Festschrift S. 325ff.; BayObLG. JR. 63 229; verfehlt: § 21 E 62; richtig dagegen § 6 Abs. 3 des OWiG. u. § 17 in der Fassung des 2. StrRG.
Die Unterscheidung des Tatbestandsirrtums vom Verbotsirrtum macht historisch bedingte Schwierigkeiten, da sie immer wieder mit dem schiefen Begriffspaar der Digesten: error facti und error iuris zusammengeworfen wurde. Tatbestandsirrtum ist das Verkennen eines zum T a t b e s t a n d gehörigen objektiven Tatumstands, sei er tatsächlicher (deskriptiver) oder normativer Art. Tatbestandsirrtum ist also nicht nur der Irrtum über „Tatsachen" wie Sache, Körper, Kausalität, sondern auch über „Unzüchtigkeit" der Handlung, „Fremdheit" der Sache, „Beschlagnahme" (in § 137), „Urkunde", „Beamter". Dabei genügt eine Kenntnis im Sinne der Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein (s. o. § 13 14f.; Welzel, JZ. 54 278). Ganz verfehlt ist der Ausdruck „Tatsachenirrtum" (mißverständlich auch „Tatirrtum"). Der maßgebende Unterschied der beiden Irrtumsarten bezieht sich nicht auf den Gegensatz: Tatsache-Rechtsbegriff, sondern auf den Unter-
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schied: Tatbestand-Rechtswidrigkeit. Wer einem anderen eine Sache wegnimmt, die er irrtümlich für seine eigene hält, befindet sich im Tatbestandeirrtum (er weiß nicht, daß er eine f r e m d e Sache wegnimmt). Wer aber glaubt, ein Selbsthilferecht zu haben, eine fremde Sache wegzunehmen (z. B. als Gläubiger gegenüber dem zahlungsunfähigen Schuldner), der befindet sich im Irrtum über die Rechtswidrigkeit seines Tuns. Wer nicht weiß, daß die von ihm beiseite geschaffte Sache gepfändet ist, irrt über einen Tatumstand; wer es weiß, aber irrig glaubt, ein Recht zur Entstrickung zu haben, befindet sich im Verbotsirrtum. Tat- und Rechtsirrtum auf der einen Seite und Tatbestands- und Verbotsirrtum auf der anderen sind also zwei völlig verschiedenartige Begriffspaare. Es gibt Rechtsirrtümer, die Tatbestandsirrtümer sind: z. B. der Irrtum über normative Tatumstände wie Fremdheit der Sache; und es gibt Tatirrtümer, die Verbotsirrtümer sind: der Irrtum über die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (s. unten 1). Gleich mißverständlich wie der Ausdruck Tatsachenirrtum ist der Ausdruck „Sachverhaltsirrtum". Auch er verschleiert, daß das maßgebende Objekt des Vorsatzes (gemäß § 59) der Tatumstand des gesetzlichen Tatbestandes und nicht irgend etwas „Tatsächliches" („Sachverhaltsmäßiges") im Unterschied zum „Rechtlichen" ist. VgL Welzel, Aktuelle Strafrechtsprobleme, S. 22; JZ. 64 278. Aber auch der Ausdruck „Verbotsintum", der vor allem durch Dohna im Strafrecht gebräuchlich wurde, bietet zu Mißverständnis Anlaß, als sei er nur der Irrtum über das Verbot, nämlich über die „generellen Regeln des Handelns". Verbotsirrtum ist vielmehr die abkürzende Bezeichnung für den Irrtum über die Rechtswidrigkeit der wirklichen Tat. ET verschleiert dem Täter die Einsicht, daß seine tatbestandsmäßige Handlung die Rechtsordnung verletzt.
1. Einzelfragen: a) Die Rechtswidrigkeit wird dadurch, daß sie — meist überflüssigerweise — im Gesetz genannt ist (z. B. in §§ 123/4, 239, 240, 246, 303 usf.) nicht zum Tatumstand, sondern bleibt Bewertung des Tatbestandes. Dasselbe gilt für sprachlich andere Bezeichnungen der Rechtswidrigkeit wie „unberechtigt" (§ 277), „ohne hierzu berechtigt zu sein" (§ 341). Keine Tatbestandsmerkmale, sondern Rechtswidrigkeitsregeln enthalten §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB. Ein Irrtum über sie ist Verbotsirrtum.
b) Ein Moment der Rechtswidrigkeit ist die Rechtspflicht bei den Unterlassungs- und den Fahrlässigkeitsdelikten. Darum ist der Irrtum über die Garantenpflicht innerhalb der unechten Unterlassungsdelikte (bei Kenntnis der Garanten s t eil u n g), über die Pflicht zur Anzeige oder zur Hilfeleistung in §§ 138, 330c (bei Kenntnis des Verbrechensplanes oder des Unglücksfalles) und über die Pflicht zur verkehrsmäßigen Sorgfalt bei den Fahrlässigkeitsdelikten ein Gebots- bzw. Verbotsirrtum; desgleichen der Irrtum über die Amtspflicht bei den Amtsdelikten (s. u. § 78 Vorb. 4).
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c) Ebenso sind die speziellen Rechtswidrigkeitsmerkmale, nämlich: „rechtsgültig" (§110), „rechtmäßig" (§ 113), „zuständig" (§§ 110, 116, 137, 360 Ziff. 8), ferner „unbefugt" i. S. von „rechtswidrig", „ohne behördliche bzw. polizeiliche Erlaubnis" (§ 284 u. a. m.) (vgl. oben § 14 12 c) keine Tatumstände. Der Irrtum über sie ist also ein Verbotsirrtum. W e l z e l , Z. 67 224; Köln, JMBI. NRW. 56 164(für § 367 Ziff. 8); abw. BGH. 3 253; 4 161. Vgl. auch Hirsch, Neg. Tatbestandsmerkmale, S. 299. d) Weiter ist der Irrtum über Begriff und U m f a n g der sozialen Adäquanz ein Irrtum über die Rechtswidrigkeit (Subsumtionsirrtum) (s. o. § 10IV). e) Bei Blankett-Strafgesetzen, d. h. solchen, die nur die Strafdrohung enthalten, bezüglich des Tatbestandes aber auf andere Normen verweisen (z. B. §366 Ziff.l), gelten die allgemeinen Regeln: der Irrtum über einen Tatumstand des (ausfüllenden) Tatbestandes ist ein Tatbestandsirrtum, der Irrtum über die Norm als solche (die Strafsatzung) ist ein Irrtum über das Verbotensein. War da, Abgrenzung von Tatbestands- u. Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955; JR. 50 651; Welzel, MDR. 62 586; JZ. 56 238; 57 130; abw. Lange, JZ. 56 73ff.; 67 233. f) Einen Fall des Verbotsirrtums bildet die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes. Mag der Täter über die objektiven Voraussetzungen oder über die rechtlichen Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes irren oder irrtümlich einen vom Recht nicht anerkannten Rechtfertigungsgrund annehmen, in allen diesen Fällen irrt er über die Rechtswidrigkeit seiner vorsätzlichen Tatbestandsverwirklichung. Wer einen anderen körperlich verletzt, weil er sich von ihm angegriffen wähnt (Putativnotwehr) oder weil er glaubt, ihn zum Zwecke der vorläufigen Festnahme körperlich verletzen zu dürfen (Irrtum über die Grenzen des Festnahmerechts), oder weil er meint, einen Beleidiger körperlich züchtigen zu dürfen (irrige Annahme eines rechtlich nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes), begeht in allen diesen Fällen eine vorsätzliche Körperverletzung in der Meinung, zu ihr berechtigt zu sein. Er handelt nicht in Tatbestandsunkenntnis, sondern lediglich im Verbotsirrtum. Dies ist bezüglich der beiden letzten Fälle von der herrschenden Lehre allgemein anerkannt, um so bestrittener aber für den ersten Fall. Die überwiegende Meinung nimmt bei irriger Annahme der objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes Vorsatzausschluß an. Wenn Engisch (Z. 70 599) meint, die Bestrafung wegen Vorsätzlichkeit sei „unangebracht", weil die irrige Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes die Wirkung habe, die „Impulse" lahm zu legen, die der Tatbestandsvorsatz dem Täter geben sollte, über die Rechtmäßigkeit der Tat nachzudenken, so wird dabei übersehen, daß der — doch vorhandene — Tatbestands Vorsatz zunächst einmal die Impulse gibt oder geben sollte, die Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes nachzuprüfen. Wenn man schon die These der Schuldtheorie akzeptiert, daß der Tatbestandsvorsatz die Anregung gibt, über Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Tat nachzudenken, so muß für denjenigen, der über das strafrechtliche Verbot nicht einmal im unklaren
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 169 ist, sondern glaubt, wegen des Vorliegens eines rechtfertigenden Sachverhaltes dennoch den Verbotstatbestand verwirklichen zu dürfen, erst recht gelten, daß er die sachlichen Voraussetzungen seiner Annahme nachprüf 11 Vgl. dazu Hirsch, a. a. 0. S. 314ff. Die Praxis des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs ist gespalten und in Widerspruch verstrickt: Sie nimmt grundsätzlich bei irriger Annahme der objektiven Voraussetzungen eines Rechtf ertigungsgrundes Vorsatzausschluß an, macht aber für den (nach der Notwehr) wichtigsten Rechtfertigungsgrund, den übergesetzlichen Notstand, eine Ausnahme: Nimmt der Täter die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes irrig an, so wird er nur dann entschuldigt, wenn er dem Irrtum trotz pflichtmäßiger Prüfung der Sachlage erlegen war; hat er dagegen nicht pflichtmäßig geprüft, so bleibt er — trotz Annahme der objektiven Notstandsvoraussetzungen — wegen vorsätzlicher Tatbegehung strafbar (RG. 62 139; BGH. 3 7). Die Praxis wendet also beim (übergesetzlichen) Putativnotstand die Schuldtheorie, bei den übrigen putativen Rechtfertigungsgründen die Vorsatztheorie an; der Versuch von BGH. 3 7, diesen Widerspruch zu beheben, ist gescheitert. Bei der abweichenden Auffassung der herrschenden Lehre spielen zwei Irrtümer eine Rolle: einmal die (schon oben zurückgewiesene) falsche Alternative von Rechtsirrtum und Tatirrtum, zweitens die Lehre von den „negativen Tatbestandsmerkmalen". Aus der fehlerhaften These, daß die Rechtfertigungsgründe negative Tatbestandsmerkmale seien und ihr Vorliegen den Tatbestand ausschließe, hat man den Fehlschluß gezogen, daß die irrige Annahme der Notwehr den Tatbestandsvorsatz (z. B. den Körperverletzungsvorsatz) ausschließe. Da aber die Rechtfertigungsgründe nicht die Tatbestandsmäßigkeit, sondern nur die Rechtswidrigkeit beseitigen, wird durch die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht der Tatbestandsvorsatz, sondern lediglich das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ausgeschlossen (s. oben § 14 11). Daraus folgt, daß alle drei Fälle der irrigen Annahme eines Rechtfertigungsgrundes gleichermaßen Verbotsirrtümer sind: der unvermeidbare Irrtum schließt die Schuld aus, der vermeidbare mildert sie nach dem Maßs seiner Vermeidbarkeit; die Strafe ist gemäß §§ 51/44 zu ermäßigen. Dabei muß die (Milder-)Bestrafung bei vermeidbarem Irrtum auch im Urteilsspruch (Tenor) zum Ausdruck kommen: „Der Angeklagte wird wegen Abtreibung (Freiheitsberaubung, vorsätzlicher Körperverletzung, Totschlags u. dergl.), begangen in vermeidbar-irriger Annahme eines Notstands (eines Selbsthilfe-, Züchtigungs-, Notwehrrechts usw.),... bestraft." Wird dies beachtet, so erledigen sich die Gefühlsbedenken, in diesen Fällen wegen vorsätzlicher Taten zu bestrafen. Vgl. zusammenfassend Welzel, Z. 67 196 (mit weiterer, auch älterer Lit.); Z. 76 619; JZ.55142ff.; ferner Bockelmann, NJW.50830; Härtung, NJW.51209; 52761; JZ.55663; Welzel, NJW.52564, JZ. 52342, 596; MD R. 62 684; Neues Bild S.54, Aktuelle Strafrechtsprobleme, 1953; Heitzer, NJW. 53 210; Niese, DRiZ. 68 20; JZ. 55 323; Armin K a u f m a n n , JZ. 55 37; Maurach, AT. § 38 II B 2; Fukuda, JZ. 58143; a. A. Schaffstein, MDR. 51196; Z. 72369; Festschr.f. OLGCelle.
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S. 184 (dazu Hirsch, Z. 74 78); v. Weber, JZ. 51 260; Mezger-Festschr. 183ff.; Lange, JZ. 53 9; Schröder, Z. 65 178; Mezger, LK. § 59, II11; Arthur Kaufmann, JZ. 64 653ff.; 56 353, 393; Engisch, Z. 70 566. Jetzt zum Ganzen H. J. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, Bonn, 1960. Die Große Strafrechtskommission ging in ihrem Mehrheitsbeschluß grundsätzlich davon aus, daß der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum ist, daß er aber in der Rechtsfolge „wie" ein solcher behandelt werden solle (ebenso schon § 17 Abs. 2 E. 1927). Hiervon machte sie jedoch eine Ausnahme für den Irrtum über den rechtfertigenden Notstand; er soll wie ein reiner Verbotsirrtum behandelt, dabei noch weiter gemildert werden (§39 Abs. 2 E 1962). Der Kompromiß will also den in der Praxis gegenwärtig gehandhabten Rechtszustand legalisieren. Er ist theoretisch und praktisch unbefriedigend; dazu Welzel, Z. 67 196 (213); 76 627; JZ. 55 142; vgl. auch K r ü m p e l m a n n , GA. 68 129. Kr. geht zwar mit großer Präzision von der hier vertretenen (strengen) Schuldtheorie aus, unternimmt es aber, sowohl die Verweisung auf die Fahrlässigkeitsregelung bei der Putativnotwehr als Rechtsfolgeverweisung wie auch die unterschiedliche Behandlung der Putativnotwehr für eine mögliche, gesetzgeberische Wertentscheidung zu deuten. Allerdings versagt auch dies bei dem im Folgenden behandelten Problem: Eine praktisch entscheidende Bedeutung und Bestätigung hat die hier vertretene Lehre beim Irrtum über die Voraussetzungen des politischen Widerstandsrechts (Art. 20 IV GG) gefunden. Die Meinung der überkommenen Lehre, daß beim Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes der Tatbestandsvorsatz ausgeschlossen sei und daß darum nur eine fahrlässige Tatbegehung vorliegen könne, müßte hier sowohl zu einer eindeutigen Verkennung der Sachlage wie zu schweren Lücken in der Strafbarkeit führen. Da das politische Widerstandsrecht grundsätzlich gegenüber jeder Tatbestandsverwirklichung denkbar ist und vor allem bei einer Versuchstat eingreifen kann, müßte die überkommene Lehre trotz klaren Widerspruchs zur Wirklichkeit einen Versuch für unmöglich erklären und ihn straffrei lassen. Hier erfaßt die oben vertretene Deutung sowohl die Sachlage richtig, wie sie die rechtliche Bewertung (Irrtum über die Rechtswidrigkeit) zutreffend wiedergibt (s. o. § 14 II 7). g) Eine Abart des Verbotsirrtums ist der Irrtum über die positive Geltung einer Strafrechtsnorm (Gültigkeitsirrtum im Unterschied zum bisher behandelten Inhaltsirrtum). Der Täter kennt das Verbot, hält es aber für ungültig, weil es seiner Meinung nach einer übergeordneten positiven Rechtsnorm, z. B. der Verfassung, widerspricht. Auch hier gelten die Regeln des Verbotsirrtums. Ist der Irrtum unvermeidbar, so ist die Tat straffrei, ist er vermeidbar, so bleibt sie strafbar (BGH. 4 1). Unvermeidbar kann der Gültigkeitsirrtum vor allem dann sein, wenn der Täter auf die Richtigkeit der Entscheidung eines unteren Gerichts vertraut, die die Gültigkeit einer Verordnung unzutreffend verneint hatte. Wer aber sonst glaubt, auf Grund seiner unzulänglichen Urteilsfähigkeit einer irrig für ungültig gehaltenen Verbotsnorm zuwiderhandeln zu dürfen, dessen Verschulden liegt nicht darin, daß er im Ergebnis seiner Prüfung irrt,
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sondern darin, daß er sich mit ihr überhaupt befaßt. Hier gilt der allgemeine verantwortungsethische Grundsatz, daß sich derjenige Schuld auflädt, der eine Sache übernimmt, der er — wie er erkennen kann — nicht gewachsen ist. Überdies muß der Täter in einem solchen Falle, in dem er eine Rechtsnorm bewußt übertritt, weil er sie für ungültig hält, damit rechnen, daß sein Verhalten entgegen seiner Auffassung verboten ist. Da er hier mit der Möglichkeit eines rechtswidrigen Verhaltens rechnet und die Tat auf jeden Fall begehen will, handelt er mit Unrechtsbewußtsein und nicht bloß im (vermeidbaren) Verbotsirrtum. BGH. 4 1; Gelle, MDR. 56 436; s. ferner auch unten IV, Normverletzung aus abweichendem Gewissensentscheid.
2. Grund und Umfang der Vorwerfbarkeit des Verbotsirrtums im einzelnen. Der Gegenstand des Unrechtsbewußtseins und des Verbotsirrtums ist die Rechtewidrigkeit des (geplanten) Verhaltens. Der Täter muß sich desjenigen Widerspruchs seines Verhaltens zur Gemeinschaftsordnung bewußt werden können, auf dem das strafrechtliche Verbot beruht und das dieses zum Ausdruck bringt. Nicht erforderlich aber ist, daß der Täter den Rechtssatz selbst (also das Strafgesetz) oder gar die Strafdrohung kannte oder kennen konnte. Umgekehrt genügt nicht, daß sich der Täter der bloßen Immoralität seines Verhaltens bewußt sein konnte. Der Ausländer, in dessen Heimatland die einfache Homosexualität nicht rechtswidrig ist, weiß vielleicht durchaus, daß seine homosexuellen Handlungen unsittlich sind, doch weiß er darum nicht schon, daß die Vornahme solcher Handlungen in Deutschland als unerträglicher Verstoß gegen die Gemeinschaftsordnung angesehen wird. Er befindet sich deshalb im Verbotsirrtum. Vgl. BGH. 10 41; 12 266; 22 314 (318); bedenklich dagegen BGH. 15 377; hier wird dadurch, daß aus §§ 180,181 eine rechtliche Norm des allgemeinen Verbots der Förderung fremder Unzucht — obwohl nur qualifizierte Begehungsweisen ausdrücklich verboten sind — abgeleitet und die Kenntnis der zugrundeliegenden Norm für die Qualifizierungen als hinreichend angesehen wird, die Grenze zwischen der Kenntnis der «.Rechtswidrigkeit und der der Sittenwidrigkeit verwischt; vgl. B au man n, §27,111 I b i ; JZ. 61 564.
Für die große Masse der Normen des StGB, ist jedoch das in ihnen beschriebene Verhalten gerade darum für rechtswidrig erklärt, weil es einen unerträglichen Verstoß gegen die Sittenordnung enthält. Hier deckt sich der Verstoß gegen die Gemeinschaftsordnung mit dem gegen die Sittenordnung, so daß die Erkennbarkeit des letzteren Verstoßes mit der des ersteren zusammenfällt. Vorwerfbar ist der rechtswidrige Tatentschluß dem Täter nur insoweit und in dem Umfange, als ihm dessen Rechtswidrigkeit erkennbar war. Beim Zusammentreffen mehrerer Unrechtsgesichtspunkte in derselben Tat muß sich die Erkennbarkeit auf jeden der verschiedenen Unrechtsgesichtspunkte beziehen. Der Ausländer (z. B. Schweizer), der in Deutschland mit seiner Schwiegertochter geschlechtlich verkehrt, vermag
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zwar den Unrechtsgehalt seiner Tat als Ehebruch, nicht anbedingt aber auch den als Blutschande zu erkennen, da in der Schweiz die Blutschande auf Blutsverwandte beschränkt ist. Vgl. BGH. 10 35; 22 314 (318); Warda, NJW. 58 1052; Zimmermann, NJW. 54 908; a. A. BGH. 3 342, NJW. 53 471. Soweit das Strafgesetz ein Verhalten für strafbar erklärt, das schon nach der erlebten Kultur (der „Sittenordnung") strafwürdig ist, beruht die Vorwerfbarkeit fehlender Unrechtskenntnis auf m a n g e l h a f t e r „Gewissensanspannung", weil sich die Inhalte des Gewissens wesentlich aus den Überzeugungen der erlebten Kultur bilden. Wenn sich der Täter durch eigene B e s i n n u n g auf die tragenden sozialethischen Werte des ihn umgebenden Gemeinschaftslebens über die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens vergewissern konnte, ist für ihn sein Irrtum über die Rechtswidrigkeit vermeidbar (BayObLG. NJW. 65 163; vgl. auch oben § 20 II). Soweit er als Ausländer mit den besonderen sozialethischen Anschauungen in Deutschland nur unzulängliche Berührung hat, kann sein Verbotsirrtum unvermeidbar sein (so z. B. in dem obigen Falle einfacher Homosexualität). Andererseits kann sein Verbotsirrtum vermeidbar sein, wenn er Anlaß hatte, sich nach den deutschen Rechtsvorschriften zu erkundiget], wie es vor allem von ausländischen Kraftfahrern hinsichtlich der deutschen Verkehrsvorschriften erwartet werden muß. Dafür gelten die im folgenden entwickelten Grundsätze. Im StGB, gibt es zahlreiche Bestimmungen, die nicht ein schon von der Sittenordnung als strafwürdig angesehenes Verhalten für strafbar erklären, sondern in denen die verwaltende, ordnende, sichernde Tätigkeit des Staates ein eigenes Schutzobjekt schafft und unter Strafe stellt. Ob es zulässig ist, ein amtliches Siegel zu entfernen (§ 136) oder eine beschlagnahmte Sache beiseite zu schaffen (§ 137), ist keine Frage eines Sittenverstoßes (und darum der eigenen Gewissensentscheidung), sondern im wesentlichen eine Frage rechtlicher Würdigung. Hier stellt die Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit ähnliche Fragen, wie sie beim Gültigkeitsirrtum auftreten. Wer nicht die rechtlichen Vorkenntnisse besitzt, um die Rechtsgültigkeit der Siegelanlegung oder der Beschlagnahme zu beurteilen, der muß sich, ehe er die behördliche Maßnahme vereitelt, bei rechtskundiger Stelle über die Rechtslage vergewissern. Sein irriger Glaube, die behördliche Maßnahme vereiteln zu dürfen, ist nicht wegen mangelnder Gewissensanspannung oder mangelnder eigener Überlegung, sondern wegen mangelnder Erkundigung vorwerfbar. Der Rechtskundige dagegen hat „alle seine geistigen Erkenntniskräfte und alle seine sittlichen Wertvorstellungen einzusetzen, wenn es gilt, sich über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens ein Urteil zu bilden" (BGH. 4 5; Celle, VRS. 28 32); von ihm muß „angenommen werden, daß er die Tragweite gesetzlicher Gebote oder Verbote auf Grund seiner Vorbildung und Beruf sausübung wenigstens in der Regel zu erkennen vermag" (BGH. 4 86; 18 197). Über die Unvermeidbarkeit des Irrtums vgl. besonders BGH. 21 20.
§ 22. Die Elemente der Vorwerf barkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 173 Ein Verbotsirrtum kann vor allem bei sich widersprechenden Gerichtsentscheidungen unvermeidbar sein. Bremen, NJW. 60 163; Köln, NJW. 60 2160. Zur Frage, wann der Täter sich auf die Richtigkeit der Auskunft eines Rechtskundigen verlassen darf, vgl. BGH. 20 372; BayObLG. MDR. 6 502; Hamburg, NJW. 67 214; Stuttgart, NJW. 67 122. Vollends in denjenigen strafrechtlichen Bestimmungen, in denen der bloße Ordnungscharakter überwiegt oder ausschließlich herrscht — letzteres im Ordnungsstrafrecht — , kann ein venneidbarer Verbotsirrtum nur auf fehlender oder unzureichender Erkundigung beruhen, wenn die konkreten Umstände dem Täter einen Anlaß hierzu geben. So muß sich derjenige, der sich mit dem Vertrieb von Wein befassen will, über die Rechtsvorschriften, insbesondere über das Weingesetz vom 16. 7. 69 unterrichten. Vgl. dazu auch BGH. 9 358; 2118; BayObLG. 4 16. Dabei ist ein Handeln ohne zureichende Erkundigung nur dann vorwerfbar, wenn die Erkundigung den Irrtum beseitigt hätte. BGH. VRS. 15 123; Köln, GA. 56 326; a. A. BayObLG. NJW. 651926; dagegen Strauss, NJW. 69 1418. 3. Der Subsumtionsirrtum insbesondere. Der Subsumtionsirrtum ist der Irrtum über das Strafgesetz bei vollem Tatbestandevorsatz, d. h. bei voller Kenntnis des sachlichen Gehalts aller Tatumstände des Strafgesetzes. Er liegt z. B. vor, wenn der Täter, der ein Pferd kitzlig macht (RG. 37 411) oder der Klebstoff in eine Uhr gießt (RG.20183), glaubt, er mache sich nicht nach § 303 strafbar, weil der Begriff der „Sache" in § 303 sich nicht auf Lebewesen beziehe oder der Begriff der „Beschädigung" eine Substanzverletzung erfordere. Da er jedoch den sachlichen Inhalt der in § 303 aufgeführten Tatumstände richtig erfaßt — er weiß, daß ein Pferd ein körperlicher Gegenstand ist und daß die Brauchbarkeit der Uhr durch den Klebstoff aufgehoben wird —, so hat er den für § 303 ausreichenden Tatbestands Vorsatz (genau so wie der Schreiner, der den Auftrag zur Herstellung einer Leiter bekommen hat, den Gegenstand kennt, den er fabrizieren soll, auch wenn er den Begriff der Leiter nicht richtig zu definieren vermag!). Für den Tatbestandsvorsatz ist stets die Kenntnis des sachlichen Gehalts der Tatumstände ausreichend. Der Irrtum über den Umfang der gesetzlichen Begriffe (der gesetzlichen Definitionen) berührt den Tatbestandsvorsatz nicht. Er ist ein „Subsumtionsirrtum". Der Subsumtionsirrtum (oder der Irrtum über das Strafgesetz) kann im Strafrecht eine zwiefache Bedeutung entfalten: a) Soweit er lediglich die Strafbarkeit eines Verhaltens, dessen Rechtswidrig k ei t der Täter anderweitig kennt oder erkennen konnte, betrifft, ist er völlig unbeachtlich. Das ist in den beiden oben angeführten Beispielen der Sachbeschädigung der Fall, da der Täter mindestens über die ziviliechtliche Unzulässigkeit seines Eingriffs nicht im unklaren sein konnte.
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b) Soweit sich dagegen der Irrtum nicht nur auf die Strafbarkeit, sondern auch auf das Verbotensein bezieht und dem Täter damit die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens verschleiert, ist erein Verbotsirrtum. Das ist besondere bei solchen Verbotsnonnen möglich, die komplizierte normative Tatbestands· merkmale enthalten. So darf der Anwalt in § 356 nicht in „derselben Rechtssache" beiden gegensätzlich Beteiligten dienen. Für die „Identität" der Rechtssache kommt das gesamte vertretene materielle Rechtsverhältnis, nicht bloß der einzelne Anspruch in Betracht. Kennt der Anwalt diese Einheit des materiellen Rechtsverhältnisses, so hat er den für § 366 ausreichenden Tatbestandsvorsatz. Glaubt er nun, daß der Begriff „derselben Sache" in § 356 lediglich den einzelnen Anspruch meint, so irrt er nicht bloß über die Straf« barkeit seines Verhaltens, dessen Rechtswidrigkeit er schon anderweitig (etwa aus § 45 12 Rechtsanwaltsordn.) kennen konnte, sondern er irrt sich auch über das Verbotensein seiner Tat; d. h. er irrt sich nicht nur über das Strafgesetz (§ 356), sondern sogar über die dem Strafgesetz zugrunde liegende Verbotsnorm (§46 12 BRAO.); vgl.BGH.5284; 717, 261; 9347; W e l z e l , JZ.54276. — Ebenso befindet sich der Unternehmer eines sogenannten Schneeballgeschäfts im — unvermeidbaren — Verbotsirrtum, wenn er zwar in Kenntnis des aleatorischen Charakters seines Geschäfts (also mit Tatbestandsvorsatz des § 286) sein Geschäft betreibt, aber vom zuständigen Innenminister die Auskunft erhalten hatte, daß sein Geschäft keiner Genehmigung bedürfe, weil es keine Ausspielung im Sinne des § 286 sei. Auch hier irrt er nicht bloß über die Strafbarkeit, sondern schon über das Verbotensein seiner Tat (s. unten § 57 13. Zum Irrtum über den Begriff des „Kreditgeschäfts" und über „Wein" i. S. des Weingesetzes vgl. BGH. 4 352; 13135). Die Trennungslinie zwischen Tatbestandsirrtum und Subsumtionsirrtum verläuft nicht, wo das Reichsgericht sie irrigerweise gezogen hat, zwischen dem Verkennen einer „Tatsache" und den fehlerhaften „Schlußfolgerungen aus ihnen", sondern zwischen dem Irrtum über einen T a t u n i s t a n d und dem Irrtum über einen Rechtsbegriff. Das RG. hatte (insbesondere bei den normativen Tatbestandsmerkmalen) den Umfang des Tatbestandsvorsatzes zu eng und den Umfang des Subsumtionsirrtums zu weit gezogen und außerdem den Subsumtionsirrtum durchweg für unbeachtlich erklärt. Zum Vorsatz der normativen Tatumstände genügt nicht die Kenntnis der Tatsachengrundlage, sondern gehört die der gesetzlichen Beurteilung parallel gehende Erkenntnis des sachlichen Inhalts dieser Tatumstände durch den Täter. Ist sich der Täter des sachlichen Bedeutungsgehalts des Tatumstandes im sozialen Leben nicht bewußt, so fehlt ihm der Tatbestandsvorsatz. Erst jenseits dieser Kenntnis erhebt sich der Subsumtionsirrtum (s. oben §1314; auch unten §64Vorb.; BGH. 4 352; 717; Welzel, JZ.54276; 55455).
4. B e s c h r ä n k u n g der Strafbarkeit auf Verbotskenntnis. Der Gesetzgeber kann natürlich anordnen, daß eine (vorsätzliche) Tat nur bei Verbotskenntnis bestraft werden soll; damit schließt er jeden Verbotsirrtum (auch den vermeidbaren) von der Strafbarkeit aus. Das ist z. B. in §§ 327. 328 dadurch geschehen, daß nur die „wissentliche" Verletzung von Absperrmaßregeln oder Einfuhrverboten unter Strafe gestellt ist (s. unten § 67 IX). Dasselbe gilt für die Verwendung des Begriffes „eigenmächtig" in §§ 15ff. WehrStG. (s. oben § 14 I 2).
§ 22. Die Elemente der Vorwerfbarkeit: Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht 175 Der ganze Streit darum, ob im Ordnungsstrafrecht das Verbotensein zum Tatbestand gehört und ob demgemäß der Vorsatz das Verbotensein umfassen müsse, geht in Wahrheit um die Frage, ob der Gesetzgeber in bestimmten Vorschriften die Strafbarkeit auf das Handeln in Verbotskenntnis hat beschränken wollen. Denn die erstere Lösung — die Zuweisung des Verbots zum Tatbestand — scheitert einfach aus dem Grunde: unmöglich kann das Verbot, einen Tatbestand zu verwirklichen, Teil eben dieses Tatbestandes seinl Nachdem heute das sachliche Verhältnis von Vorsatz und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit — wonach „das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ein vom Vorsatz getrenntes selbständiges Schuldelement4' ist (BGH. 2 208) — in der Praxis zutreffend erkannt worden ist, muß auch der Gesetzgeber bei der Formulierung seiner Strafbestimmungen die erforderlichen Konsequenzen hieraus ziehen: er darf das Wort „vorsätzlich" nicht da verwenden, wo es sich allein um die Beschränkung der Strafbarkeit auf die V e r b o t s k e n n t n i s handeln soll (statt dessen etwa: „bewußt verbotswidrig").
6. Die Vorwerfbarkeit bei den fahrlässigen Delikten insbesondere Vgl. Armin K a u f m a n n , Das fahrlässige Delikt, Ztschr. f. Rechtsvergleichung (Wien) 64 51 ff. Bei den fahrlässigen Delikten gelten dieselben Grundsätze der Vorwerfbarkeit wie bisher: Da die Rechtswidrigkeit des fahrlässigen Deliktes durch die Verletzung der objektiven Sorgfalt bei Vornahme der Täterhandlung begründet wird, bedeutet hier „Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit" die individuelle Erkennbarkeit der Sorgfaltswidrigkeit der Täterhandlung. Und da die Sorgfaltswidrigkeit stets bezogen ist auf die Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung, umfaßt die „Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit" auch die individuelle Erkennbarkeit der Sorgfaltswidrigkeit der Täterhandlung in bezug auf eine mögliche Rechtsgutsverletzung. Danach ist zu unterscheiden: a) die bewußte Fahrlässigkeit: die bewußte Verletzung der objektiven Sorgfalt im Vertrauen auf das Ausbleiben des möglichen Erfolges. Über das „Vertrauen auf'* s. o. § 13 I 2 c ß. b) die unbewußte Fahrlässigkeit: die nicht erkannte, aber dem Täter erkennbare Verletzung der objektiven Sorgfalt in bezug auf die (ihm erkennbare) Möglichkeit des Erfolgseintritts. Während die o b j e k t i v e Voraussehbarkeit des Erfolges durch einen einsichtigen Menschen (das Adäquanzurteü im Augenblick des Handelns) ein Moment des U n r e c h t s (des Handlungsunwertes) der unsorgfältigen Handlung ist, ist die i n d i v i d u e l l e Voraussehbarkeit (der subjektive Nachvollzug des objektiven Adäquanzurteils) ein konstitutives Merkmal für die Vorwerfbarkeit jener objektiven Sorgfaltsverletzung. Das Recht gebietet für Handlungen im sozialen Bereiche generell die Innehaltung der objektiven — einem einsichtigen und besonnenen Täter möglichen — Sorgfalt und erklärt die Verletzung dieser Sorgfalt für rechtswidrig (besonders wichtig im Zivilrecht, ferner z. B. für
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§42b und §330a und für den Begriff des rechtswidrigen Angriffs in §53); aber zur Schuld kann es diese objektive Sorgf alts Verletzung nur dann vorwerfen, wenn der i n d i v i d u e l l e Täter nach Maßgabe seiner Einsichtsfähigkeit den Erfolg voraussehen konnte (Köln, NJW 561848; vgl. auch RG. 67 20; 74198). Maßgeblich ist daher der intellektuelle Bildungsstand, den der Täter individuell besitzt (RG. 73 262) oder den er aus seiner sozialen Stellung heraus besitzen sollte. RG. 67 23 betr. Fortbildungspflicht der Ärzte und Heilkundigen; vgl. auch BGH. 3 95 über unverschuldete Ausbildungsmängel. Dabei bezieht sich auch hier die individuelle Voraussehbarkeit nicht auf den bloßen Erfolg, sondern muß auch den Kausalverlauf in semen wesentlichen Zügen umfassen (RG. 29 218; 56 350; 73 370; BGH. 12 78: etwas weit! Vgl. Dallinger, MDR. 66 198). Stets muß der konkrete Kausalverlauf berücksichtigt werden: Entscheidend ist, ob die wirkliche Ursache nicht bedacht worden war (BGH. bei Dallinger, MDR. 68 550). Konnte der individuelle Täter nur einen Teil des — an sich allgemein voraussehbaren — Erfolges voraussehen (z. B. eine Körperverletzung statt des Todes), so kann ihm nur die Verursachung dieses Teilerfolges vorgeworfen werden (BGH. LM. § 222 Nr. 1). Gegenüber der bewußten Fahrlässigkeit enthält die unbewußte keineswegs einen prinzipiell geringeren Schuldgrad. Die vorwerfbare Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit, die dem Täter nicht einmal die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung im Augenblick der Tat zum Bewußtsein brachte, kann schwerer wiegen als der Leichtsinn des bewußt-sorgfaltswidrig Handelnden, dem nur eine verhältnismäßig entfernte Möglichkeit des Erfolgseintritts bewußt war. Über den Schuldcharakter der unbewußten Fahrlässigkeit s. auch oben § 20 II. Über Vergessen als Fahrlässigkeit s. BGH. 14 52; S. Fischer, Vergessen als Fahrlässigkeit, Strafr. Abh. 346.
IV. Anhang: Normverlctzung aus abweichendem Gewissensentscheid (der Gewissenstäter) Sonderprobleme ergeben sich in den Fällen, in denen der Täter die Verbotsnorm wohl kennt, sie aber in seinem Gewissen für nicht verpflichtend hält und ihr darum aus abweichender Gewissenspflicht zuwiderhandelt. Beispiele bieten heute etwa die Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes (oder der Impfverpfliehtung) durch Zeugen Jehovas, die Weigerung eines katholischen Arztes, die Lebensgefahr einer Mutter durch Abbruch der Schwangerschaft zu beseitigen, oder die Tötung eines schwer kontergangeschädigten Kindes durch einen Arzt auf Bitten der Eltern, um dem Kinde ein Leben des Leidens zu ersparen.
Als Gewissensentscheid ist dabei „jede ernste sittliche", d. h. an den Kategorien von „Gut" und „Böse" orientierte Entscheidung anzusehen, die der einzelne als für sich bindende und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte (BVerfG. NJW. 61 357). Hier besteht zunächst die Schwierigkeit, ob und wie der Richter das Vorhandensein einer echten Gewissensentscheidung nachprüfen kann, die etwas anderes und mehr ist als das bloße, von der rechtlichen Wertung abweichende
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Werturteil des einzelnen, die vielmehr vom Betroffenen als die ihn unausweichlich verpflichtende Verhaltensnorm erlebt wird. Trotz der faktischen Feststellungsschwierigkeiten kann der Richter im Einzelfall aus den besonderen Umständen und aus der Persönlichkeit des Täters von dem Vorhandensein einer echten Gewissensentscheidung überzeugt sein. In diesen Fällen ist zu bedenken, daß die Normen des Rechts (Strafrechts) keine bloßen Entscheidungsnonnen für den Richter sind, d. h. Normen, gemäß denen er, wenn der Täter ihre Voraussetzungen erfüllt, mit Zwangsakten („Strafe") gegen ihn vorzugehen hat, sondern Normen, die den Täter zu einem bestimmten Verhalten verpflichten (innerlich binden), so daß die Schuld das Versagen des Täters gegenüber dieser inneren Bindung an die Norm ist. Wenn aber dem von der Rechtsnorm Verpflichteten in seinem Gewissen eine andere, gegenteilige Verpflichtung entgegentritt, treffen in seiner Person zwei letzte, einander entgegengesetzte Verpflichtungsansprüche aufeinander. Eine Instanz darüber, welcher von beiden der richtige ist, gibt es nicht: Über das Gewissen gibt es keinen Richter. Dadurch entsteht ein unauflösbarer Widerspruch (eine Antinomie) der Verpflichtungsansprüche. Trotz der Pflicht, dem Gewissen zu folgen, besteht das ebenso verpflichtende Gebot der übcrindividuellen Sollensordnung des Rechts fort. Denn das Recht kann die Verpflichtungskraft seiner Normen nicht von der Gewissensbilligung durch den einzelnen abhängig machen, da sonst nicht nur der Bestand einer überindividueUen Ordnung, sondern auch der durch sie gewährte Schutz der Rechtsgüter (z. B. der allgemeine Gesundheitsschutz durch allgemeine Pockenimpfung) prinzipiell unmöglich gemacht würde. Darum kann das Recht zwar nicht die Richtigkeit der andersartigen Gewissensentscheidung anerkennen, sollte aber wenigstens deren Gewissenhaftigkeit respektieren. Dem Gewissenstäter muß zwar die Fehlerhaftigkeit seiner Entscheidung sichtbar gemacht, die objektive Gültigkeit und Verpflichtungskraft der Rechtsnormen aufrechterhalten, das Recht als Recht, nicht bloß als Zwangsmacht, manifestiert werden; aber die Gewissenhaftigkeit seiner Entscheidung kann ihm nicht als schuldhaftes Versagen gegenüber dem Recht vorgeworfen werden. Es entfällt der negative Akzent der „Vorwerfbarkeit", aber es bleibt das (in der freien Entscheidung steckende) Moment der persönlichen Verantwortung des Täters für seine Entscheidung unverkürzt. Darum kann ihn die Rechtsordnung für seine abweichende Entscheidung gegen das Recht zur Verantwortung ziehen, aber die damit verbundene Unrechtsfolge sollte von jedem diskriminierenden Charakter freigehalten werden. Das geschah in der custodia honesta, wie sie § 20 a. F. (und §11II a. F. Wehrstrafgesetz) nur beschränkt (nämlich nur, wo es im Gesetz vorgesehen ist), andererseits aber auch über den Gesinnungstäter hinaus (allgemein beim Fehlen ehrloser Gesinnung bzw. bei achtenswerten Beweggründen) zuließ (leider jetzt beseitigt!). Welzel, Strafrecht, 11.
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Aus der Zeit vor 1933: Radbruch, Der Überzeugungsverbrecher, Z. 44 34ff.; ders., 34. DJT. (1926) II 354ff.; Nagler, Der Überzeugungsverbrecher, GS. 94 (1927) 48ff.; Erik Wolf, Verbrechen aus Überzeugung, 1927; Budzinski, Der Überzeugungsverbrecher, 1931; heute: Welzel, Gesetz und Gewissen, JuristentagsFestschr. 1383; ders., An den Grenzen des Rechts; die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966; Arthur K a u f m a n n , Schuldprinzip 137; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1968, 185 Anm. 70; Peters, Überzeugungstäter und Gewissenstäter, Mayer-Festschr. 257ff.; ders., JZ. 66 457; Lang-Hinrichsen, JZ. 66 153; Ulsenheimer, FamRZ. 68 572f. Vgl. auch H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1966. Zur Bestrafung der Zeugen Jehovas wegen Dienstflucht (§ 53 Ersatzdienstgesetz) BVerfG. NJW. 68 979 m. abl. Anm. Adolf A r n d t ; dazu Weber, NJW 68 1610; BVerfG. NJW. 68 982 (Unzulässigkeit der mehrfachen Bestrafung). Über die Entwicklung der Rechtsprechung: Peters, Engisch-Festschr. S. 468ff. (481ff.).
§ 23. Die Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens Mit der Bejahung sowohl der Zurechnungsfähigkeit wie auch der Möglichkeit der Unrechtserkenntnis ist die Schuld, das „Dafür-Können" des Täters für seine tatbestandsmäßig-rechtswidrige Handlung, sachlich begründet. Dennoch bedeutet das nicht, daß damit die Eechtsordnung den Schuld-Vorwurf wirklich erheben müßte. Sie kann vielmehr Gründe haben, auf den SchuldVorwurf gegen den Täter zu verzichten, ihm seine Schuld nachzusehen und ihn insoweit zu „entschuldigen" und von Strafe freizustellen. In Betracht kommen außergewöhnüche Motivationslagen, in denen die Möglichkeit nonngemäßer Motivation stark beeinträchtigt und somit auch die Schuld, das Dafür-Können, vermindert ist, wie vor allem der strafrechtliche, „entschuldigende" Notstand der §§ 52/54 StGB. Dieser Notstand liegt vor, wenn Leib oder Leben des Täters oder eines Angehörigen schuldlos in Gefahr geraten sind und der Täter sie nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter fremder Interessen retten kann, ohne daß seine Handlung durch das allgemeine Rechtsprinzip des angemessenen Mittels zum anerkannten Zweck gerechtfertigt werden könnte. Es handelt sich um die Verletzung solcher Rechtsgüter, die selbst im Hinblick auf die Rettung von Leib und Leben niemals bloß als Mittel verwendet werden dürfen, insbesondere um schwere Eingriffe in die fremde Person (Verletzungen von Leib oder Leben unschuldiger Dritter). Zwar muß selbst hier der vom Täter verfolgte berechtigte Zweck (die eigene Rettung oder die der Angehörigen) bei der Beurteilung des (objektiven) Handlungsunwerts auch als u n r e c h t s m i n d e r n d mit veranschlagt werden. Aber die Minderung des objektiven Handlungsunwerts geht nicht so weit, daß die Handlung voll gerechtfertigt wäre: Denn der Mitmensch darf niemals bloß als Sache, sondern muß stets auch als Selbstzweck behandelt werden (Kant). Vielmehr kann das Recht hier volle Straffreiheit nur darum gewähren, weil es Nachsicht übt mit der menschlichen Schwäche, aus der heraus
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der in Not Befindliche die eigene Rettung oder die Rettung seiner Angehörigen über die Achtung vor fremdem Leib und Leben gestellt hat. Wie weit es mit der Nachsicht gehen will, das steht in seiner Macht: Einer Reihe von Personengruppen (Soldaten, Seeleuten u. a.) mutet es auch das Bestehen der Leibesund Lebensgefahr zu (s. u. I Ic). Darin zeigt sich, daß in den Fällen der außergewöhnlichen Motivationslagen weder Unrecht noch Schuld ausgeschlossen sind, sondern nur Nachsicht gewährt wird, und das nur grundsätzlich, nicht aber stets und notwendig. Daraus folgt, daß die sog. „Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens" in diesen außergewöhnlichen Motivationslagen kein Schuldausschließungsgrund wie die Zurechnungsunfähigkeit oder der unvermeidbare Verbotsirrtum, sondern nur ein faktischer Entschuldigungsgrund in dem Sinne ist, daß die Rechtsordnung trotz bestehender Schuld vom Schuld v or wurf absieht und dem Täter Nachsicht gewährt. Vgl. zum Ganzen Armin K a u f m a n n , Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 1610.; dort auch (S. 169ff.) über Maurachs Lehre von der „Tatverantwortung" als selbständiger Stufe im Deliktsaufbau zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld; ferner Lenckner, Der rechtfertigende Notstand. S. 36ff.; Rudolphi, Z. 78 66ff. (80ft); Jescheck, Lb. §43111.
Der wichtigste Fall der Unzumutbarkeit des rechtmäßigen Verhaltens ist der entschuldigende Notstand der §§ 52 und 54 StGB., von denen § 54 die allgemeinere Bestimmung ist. Beispiele: Das Brett des Karneades (Akademiker, in Rom um 150 v.Chr.): Nach einem Schiffsunglück retten sich zwei Personen an einer Planke, die nur einen tragen kann. Der A stößt den B von der Planke, um sein Leben zu retten; B ertrinkt. — Mignonette-Fall (England 1884): Zwei dem Hungertode preisgegebene Schiffbrüchige retten sich, indem sie einen dritten Schiffbrüchigen, einen Schiffsjungen, töten und verspeisen (Z. 5 367; R a d b r u c h , Der Geist des englischen Rechts, 2. Aufl. S. 76ff., 93ff).
I. Der straf rechtliche (entschuldigende) Notstand (§§ 54/68) 1. Der Notstand des §54. a) Die Notstandslage ist nur bei gegenwärtiger Leibes- oder Lebensgefahr vorhanden. Gegenwärtig ist sie dann, wenn befürchtet werden muß, die Abwehr werde zu spät kommen, wenn nicht sofort gehandelt wird (RG. 69 69; 66 225). Wie die Zusammenstellung: Leibes- und Lebensgefahr zeigt, ist Leibesgefahr nur das Drohen einer erheblichen Schädigung der Gesundheit oder körperlichen Unversehrtheit; sie muß so erheblich sein, daß sie die freie Selbstbestimmung des Betroffenen einschränkt. Dabei ist Leibesgefahr auch eine durch ihre Dauer körperlich wirksame Einsperrung (RG. 54 338; BGH. LM Nr. 8 zu §52). Über Dauergefahr s. RG. 60318: Ein gemeingefährlicher Trunkenbold bildet, auch wenn er im Augenblick ruhig ist, eine Dauergefahr, wenn jeden Augenblick neue schwere Wutanfälle mit lebensgefährlichen Folgen zu erwarten sind. Ebenso RG. 66 22; BGH. 5 371; abw. Gelle, Kann. RpfL 47 16. 12*
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Die Notlage muß unverschuldet sein; verschuldet ist sie nicht schon dann, wenn lediglich die Gefahr, sondern nur dann, wenn auch die Notwendigkeit der Verletzung fremder Rechtsgüter pflichtwidrig herbeigeführt war. Zwei Freunde machen eine Segelfahrt und verunglücken dabei. Beide retten sich an eine Flanke, die nur einen von ihnen trägt. Der eine stößt den Gefährten weg, dieser ertrinkt. Hier ist zwar die Gefahr (die Möglichkeit eines Segelbootsunglücks) bewußt herbeigeführt, nicht aber gerade die Notwendigkeit der Verletzung des anderen Gefährten. Darum ist die Handlung nach § 54 entschuldigt. Über die Pflichtwidrigkeit s. auch KG. 36 340. Ist an der Notlage der in ihr Befindliche schuld, so darf auch ein Angehöriger ihn nicht unter Verletzung fremder Rechtsgüter retten (Frank I 6; Liszt-Sch. 286; Mezger 368; Schönke-Schröder, N. 9; a. A. Jagusch, LK. 4; Olshausen 7; Köhi MDR. 63 65).
b) Die N o t s t a n d s h a n d l u n g muß der letzte Ausweg sein. Von mehreren Möglichkeiten muß der Täter das kleinste Übel wählen und muß subjektiv den Rettungszweck verfolgen. Der Täter muß also unter dem Drucke der Leibes- oder Lebensgefahr handeln (BGH. 3 272). Auch genügt nicht, daß die Verletzung fremden Rechtsguts die einfachste und bequemste Lösung für den Täter darstellt (BGH. NJW. 52111).
c) Die rechtlichen Folgen: Die Notstandshandlung ist, wenn sie nicht das angemessene Mittel zum angemessenen Zweck ist, rechtswidrig, wird aber wegen Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens entschuldigt. So die herrschende „Differenzierungstheorie" (Rechtfertigung unter den Voraussetzungen des übergesetzlichen Notstandes, sonst nur Entschuldigung): Frank §54 III; Mezger, 369; Mezger-Blei I § 69 III; Liszt-Schm. 285; Olshausen § 52, 2; Kohlrausch-L. § 54, I; RG. 61 249; a. A. (Rechtfertigung auch bei strafrechtlichem Notstand) v. Hippel II 231; Mayer 191; z. T. auch Nagler-J., LK. (7.) § 64 III 2. Diese Entschuldigung wird nicht gewährt, wenn das Recht dem Täter das Ertragen der Leibes- und Lebensgefahr zumutet: dem Soldaten (§ 6 WehrStG.), dem Seemann (§§ 29,109 Seemannsges. v. 26. 7. 57), der Polizei, Feuerwehr, dem Wettermann im Bergwerk (RG. 72 246), der Frau bezüglich der normalen Schmerzen und Gefahren des Geburtsaktes. Auch sonst muß eine Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der drohenden körperlichen Verletzung und der Schwere des zu ihrer Abwendung begangenen tatbestandlichen Unrechts bestehen: die Entschuldigung einer schweren Straftat (z. B. Meineid) setzt die Gefahr einer erheblichen körperlichen Beeinträchtigung voraus l (RG. 66 399). Dagegen setzt die Tatsache, daß die Not allgemein ist, der Notstandsentschuldigung keine Grenzen (vgl. v. Weber, MDR. 47 78; Kiel, MDR. 49 209; Neustadt, NJW. 51 852; a. A. Gelle, Kann. Rpfl.46152).
d) Notstand ist grundsätzlich auch bei Zuständen möglich, die aus behördlichen Anordnungen resultieren; unzulässig aber ist hier der Widerstand, der
§ 23. Die Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens
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sich unmittelbar dem Rechtszwang entgegenstellt, z. B. der Vollstreckung eines ordnungsmäßigen rechtskräftigen Urteils, selbst wenn es objektiv unrichtig ist. RG. 41 214; Recht 151222; Kiel.MDR.47 74;Neustadt, NJW. 5l 862; Jagusch, LK. 2e. Dagegen ist gegenüber Willkürakten die Berufung auf Notstand zulässig. Gera, HESt. l 20. Vgl. auch BGH. ROW. 58 33; Sax, JZ. 59385. e) Über Teilnahme s. unten III 2. 2. Der Nötigungsnotstand (§52). Er betrifft die Zwangslage, die von einem Menschen durch N ö t i g u n g geschaffen wird. §54 ist die allgemeinere Bestimmung; bei ihr ist es gleichgültig, wodurch die Zwangslage entstanden ist, ob durch Naturkräfte oder durch menschliches Verhalten, sofern es nur nicht darin besteht, daß es die Notstandshandlung abnötigt: hierfür tritt speziell § 52 ein (s. RG. 66 225). a) Die Zwangslage: Nötigung durch a) unwiderstehliche Gewalt. Hier kommt nicht die vis absoluta in Betracht, die jeden Willen des Genötigten und damit jede eigene Handlung ausschließt, vielmehr die vis compulsiva, d. h. die beeinflussende Gewalt, wie Prügeln, Foltern, Einschließen usw., um eine bestimmte Handlung zu erzwingen. Die vis compulsiva unterscheidet sich von der Drohung dadurch, daß erstere das Übel selbst enthält, während letztere es nur ankündigt. ß ) D r o h u n g , d. h. die A n k ü n d i g u n g eines vom D r o h e n d e n zu b e f ö r d e r n d e n Übels. Das Übel muß im §52 eine gegenwärtige Leibes- oder Lebensgefahr des im Notstand Befindlichen oder eines Angehörigen sein und darf nicht anders abwendbar sein. Die Drohung kann vom Angehörigen selbst ausgehen und ihn selbst betreffen, z. B. Drohung mit Selbstmord (RG. 38 127). Im Unterschied zu § 54 braucht die Notlage nicht unverschuldet zu sein. BGH. GA. 67 113; a. A. Binding, Hdb. 1769; Nagler-J., LK. I S. 357. — Jedoch sind die Grundsätze der actio libera in causa (s. o. § 21, 4 b) anzuwenden: wer sich in die Gefahr begibt im Bewußtsein, später zu einer rechtswidrigen Handlung gezwungen zu werden, haftet — je nach seiner Willensrichtung — wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger rechtswidriger Tatbegehung (bzw. als Gehilfe dazu); BayObLG. MDR. 55 247. Im übrigen gelten die sonstigen Grundsätze des Notstandes, insbesondere oben l a—e. b) Die abgenötigte Straftat ist rechtswidrig, doch wird der Notstandstäter entschuldigt (RG. 64 30). Der Nötigende ist mittelbarer Täter, er hat die überlegene Tatherrschaft über einen unfrei handelnden Dritten (s. oben §15 II 2 a«). c) § 52 Abs. 2 definiert unabhängig vom BGB. für den Bereich des Strafrechts den Begriff des Angehörigen. Für Verwandtschaft, Schwägerschaft, Verschwisterung
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kommt hiernach auch das uneheliche Kind in Betracht (die Fiktion des § 1689 Abs. 2 BGB. gilt für das Strafrecht nicht, anders für das Strafprozeßrecht: BGH. 22 187). Zu den Angehörigen rechnen auch die Seitenschwäger 2. Grades, d. h. die Geschwister des Ehegatten und die Ehegatten der Geschwister. — Das Angehörigenverhältnis zwischen Ehegatten und Verschwägerten endet mit der rechtskräftigen Scheidung oder Nichtigkeitserklärung der Ehe, dagegen nicht mit dem Tode des anderen Ehegatten (Binding, Hdb. 787; BGH. 7 383; Gelle, NJW. 68 471; a. A. Mayer, JZ. 59 119). Dagegen soll nach bisher überwiegender Meinung die Scheidung einer Ehe das Angehörigenverhältnis zwar unter den Ehegatten, aber nicht zu den Verschwägerten beenden (Jagusch, LK. 5). Zum Verlöbnis vgl. Koblenz, NJW. 68 2027.
3. Der P u t a t i v n o t s t a n d Wenn der Täter die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes (nach l oder 2) irrigerweise annimmt, befindet er sich in derselben seelischen Konfliktslage wie dann, wenn seine Annahme zutrifft. Da die Gründe, die im Notstand die Möglichkeit rechtmäßiger Willensbestimmung beeinträchtigen, gerade in der seelischen Situation des Täters begründet liegen, ist Nachsicht (Entschuldigung) hier wie dort zu üben, — es sei denn, daß der Irrtum des Täters selbst vermeidbar war; doch mildert sich dann der Schuldvorwurf in dem Maße, wie die irrige Annahme der Notstandslage vermeidbar war, und die Strafe ist entsprechend § 51 Abs. 2, § 44 zu ermäßigen. Liszt-Sch. 289; Grünhut, Z. 52 130; Welzel, Z. 67 222; Maurach, AT. § 38 II B3; Mezger-Blei I § 65 III; Schwarz-Dreher, § 54, 6; BGH. 5StR.532/55; Ulsenheimer, FamRZ. 68 574; a. A. Mezger, 321; BGH. 5 374; 18 311: Wer einen Meineid leistet in der irrigen Annahme, er befinde sich im Notstand, soll wegen fahrlässigen Falscheids strafbar sein. Hier ist die Umdeutung einer vorsätzlichen Tat in eine fahrlässige besonders ungereimt: Liegt Notstand wirklich vor, so begeht der Täter eine vorsätzliche Eidesverletzung (Meineid), wird aber wegen des Notstandes entschuldigt (vgl. RG. 64 31). Nimmt er dagegen die objektiv fehlenden Notstandsvoraussetzungen irrig an, so soll er nur das geringere Unrecht des fahrlässigen Falscheids verwirklichen?! Hier handelt es sich um die äußerliche Übertragung der ohnehin fehlerhaften Lehre von den negativen Tatumständen. Vgl. auch Vogler, GA. 69 102; Jescheck, Lb. § 48 II.
II. Weitere Fälle der Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens 1. Bei den vorsätzlichen Delikten übt das Recht Nachsicht mit der menschlichen Schwäche grundsätzlich nur bei Leibes- und Lebensgefahr, also in den Fällen des Notstands (§§ 52/54), nicht aber bei sonstigen Gefahren, vor allem nicht bei der Gefahr wirtschaftlicher Nachteile; vgl. RG. 66 397. a) Nur bei einigen wenigen Delikten begnügt es sich mit geringeren Gefahren wie bei der Begünstigung (RG. 60101; 63 233; 70 390), dem Eidesnotstand (§ 157), u. U. der Kuppelei zugunsten ernsthaft Verlobter (vgl. BGH. 657). b) Eine generelle Ausnahme machen die Unterlassungsdelikte, bei denen (auch) die (sog.)vorsätzliche Unterlassung durch die Unzumutbarkeit derSchädi-
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gung billigenswerter eigener Interessen (also auch von Vermögensinteressen) entschuldigt werden kann (a. u. § 28III2). c) Weiter übt es (volle) Nachsicht beim (intensiven) Notwehrexzeß, wenn der Täter „in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Verteidigung hinausgegangen ist" (§ 53 Abs. 3); s. dazu o. § 14115. d) Endlich berücksichtigt es die wirtschaftliche Not — beim Notdiebstahl (§ 248 a) und Notbetrug (§ 264a) —, ferner die wirtschaftliche und die Ehrennot — bei der Kindestötung (§ 217) — zwar nicht straf ausschließend, aber doch durch Aufstellung privilegierter Tatbestände strafmildernd. Maßgebend für die Privüegierung ist sowohl die Minderung des Handlungsunwerts, wie die Minderung der Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens in der Not. Voraussetzung der Strafmilderung ist, daß der Täter die privilegierenden Merkmale gekannt hat und in den Fällen der §§ 216, 248 a, 264 a überdies aus den dort bezeichneten Beweggründen (Verlangen des Getöteten, Not) gehandelt hat. Fehlt es an diesen Voraussetzungen, so ist wegen vollendeter Begehung des nicht privilegierten Delikts zu bestrafen. Nimmt der Täter irrtümlich den strafmildernden Umstand an, (z. B. die Kindesmörderin hält ihr Kind für unehelich, vgl. § 217), so ist nach der milderen Strafbestimmung zu bestrafen (im Beispielsfalle also nur nach § 217, nicht nach §§ 211 und 212). Denn der Handlungsunwert und die Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens sind hier ebenso gemindert wie beim objektiven Vorliegen der privilegierenden Merkmale (vgl. M a u r a c h , AT. §23 II D Ic; Keilbach, Die Schuldmilderungsgründe im Strafrecht, Diss. München 1964; Küper, GA. 68 321). 2. Am weitesten geht das Recht in der Nachsicht menschlicher Schwäche bei fahrlässigen Delikten: a) Hier berücksichtigt es unverschuldete Ermüdungs- und Erregungszustände, die auch dem einsichtsfähigen Täter die Innehaltung der objektiven Sorgfalt erschweren, und wirft ihm die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt nicht vor, wenn er infolge unverschuldeter Erregungs- oder Ermüdungszustände (Schreck, Bestürzung, Furcht, Benommenheit, Überanstrengung u. dgl.) unbesonnen handelt. So wenn ein Kraftfahrer in einer ohne sein Verschulden plötzlich aufgetretenen Gefahr, die sofortiges Handeln gebietet, infolge Schrecks oder Verwirrung nicht das richtige Mittel zur Gefahrenabwehr ergreift. BGH. VRS. 6 368; 6 451; 10213; vgl. auch RG. 58 30; Floegel-Hartung, Straßenverkehrsrecht, StVO. § l N. 42; Sattler, NJW. 67 422; Spiegel, DAR. 68 283; ferner Berichte der evangel. Akademie Hofgeismar 1968 H. 4. — Über Verschulden beim Einschlafen am Steuer s. Hamm, NJW. 53 1077. Über Blendung und Ermüdung s. Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze u. Vorträge, 1967, S. 194. b) Weiterhin wirft es dem Täter die ihm bekannte oder erkennbare Sorgfaltsverletzung dann nicht vor, wenn die Rechtsgütergefährdung so entfernt war, daß ihm die Unterlassung des unsorgfältigen Tuns mit Rücksicht auf die erheblichen Nachteile, die die Unterlassung für ihn zur Folge gehabt hätte, nicht zuzumuten war (RG. 30 65; Leinenfängerfall: Ein Knecht fährt auf Geheiß des Bauern mit einem zum Durchgehen neigenden Pferde aus, da er
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bei Weigerung seine Stellung verloren hätte; ebenso EG. 74 195). Bei der Frage, ob die Innehaltung der objektiven Sorgfalt dem Täter zuzumuten ist, ist die Entfernung der Gefahr mit der Erheblichkeit des Schadens, der aus der Unterlassung der unsorgfältigen Handlung droht, in Beziehung zu setzen: je näher und größer die Gefahr und je unerheblicher der dem Täter drohende Nachteil ist, desto weniger kann die erkennbare Sorgfaltsverletzung entschuldigt werden. Niemals kommt es hierbei auf die individuelle Wertung der Motive seitens des Täters, sondern stets auf deren objektive Wertung seitens der Rechtsordnung an! Vgl. Jescheck, Lb. § 57 IV. . Derfibergesetzlicheentschuldigende Notstand 1. Der strafrechtliche Notstand der §§ 52/54 baut auf dem Gedanken auf, daß in Leibes- und Lebensnot der Rechtsgehorsam ein so großes Opfer dem Täter auferlegen würde, daß ihm ein rechtmäßiges Verhalten mit Rücksicht auf seinen Selbsterhaltungstrieb in aller Regel nicht zuzumuten ist. Aus diesem Grunde beschränken §§52/54 den Schuldausschluß auf Situationen, in denen der Täter selbst oder nahe Angehörige in Leibes- und Lebensnot sich befinden. Indessen gibt es Lagen, in denen den Täter oder einen Angehörigen nicht Leibes- oder Lebensnot bedrängt, sondern in denen ihn f r e m d e Leibes- oder Lebensnot in einen Pflichtenwiderstreit (Gewissenskonflikt) bringt, dem er ohne Übernahme eines bestimmten Maßes an Schuld nicht ausweichen kann. In einen solchen Konflikt waren zahlreiche Anstaltsärzte durch den sog. „Euthanasieu-Befehl Hitlers zur Tötung von Geisteskranken geraten. Sie konnten die ihnen anvertrauten, vom Geheimerlaß betroffenen Kranken nur dadurch retten, daß sie zwar eine gewisse Zahl von ihnen der Tötungsaktion preisgaben, aber dadurch einen erheblichen Teil retteten; hätten sie dagegen jede Mitwirkung verweigert, so wären sie durch willfährige Ärzte ersetzt worden, denen alle betroffenen Kranken zum Opfer gefallen wären. OGH. l 321; 2 117; ein weiterer Fall bei Welzel, Z. 63 51.
Hier kann der Täter sich der Entscheidung nicht entziehen. Läßt er den Dingen ihren Lauf, so wird er für den Tod aller oder der meisten Kranken ursächlich und lädt sich dadurch schwerere Schuld als durch seine Beteiligung auf, durch die er wenigstens einen Teil der Kranken retten konnte. Darum ist die letztere Entscheidung die ethisch richtige. Aber auch sie verstrickt ihn in Unrecht und Schuld, weil er unschuldige Menschen als bloßes Mittel zur Rettung anderer benutzt. Aber die Rechtsordnung kann ihm daraus keinen Schuldvorwurf machen, daß er geringeres Unrecht auf sich nahm, um schwereres Unrecht zu verhüten. Sie muß Nachsicht üben, weil jeder andere Rechtsgenosse an Stelle des Täters richtigerweise ebenso handeln mußte wie der Täter.
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Kritisch hierzu Spendel, Engisch-Festschr. S. 405ff., 518f. Dabei unterstellt Spendel allerdings, daß die Anstaltsärzte in der Lage waren, alle Kranken zu retten (S. 405, 419, 425) und nimmt in diesen anders gelagerten Fällen (mit Recht) nur einen Strafmilderungsgrund an. Der übergesetzliche Entschuldigungsgrund setzt voraus, daß a) die Handlung des Täters das einzige Mittel war, um noch größeres Unheil zu verhüten, b) der Täter wirklich das kleinere Übel gewählt hat und c) subjektiv den Rettungszweck verfolgt hat. Nach ähnlichen Gesichtspunkten dürften ärztliche Entscheidungen bei Anwendung moderner chirurgischer Instrumente zu beurteilen sein: In einer Chirurgischen Klinik befinden sich (nur) drei Herz-Lungen-Maschinen, an die die drei schwerverletzten Patienten A, B und C angeschlossen sind. Nach einem Autounfall werden drei weitere Schwerverletzte , und Z eingeliefert. Der leitende Chirurg entschließt sich nach Beratung mit zwei Kollegen, statt des A den neu eingelieferten X an die Maschine anzuschließen, weil A trotz seines Anschlusses an die Maschine nur noch geringe Überlebenschance, X dagegen bei Anschluß an die Maschine große Überlebenschance hat. A stirbt — wie erwartet — nach Abschalten von der Maschine. Hier wird man dem Chirurgen einen übergesetzlichen Notstand zubilligen müssen, aber von ihm zur Kontrolle seines Urteils die Hinzuziehung eines anderen Fachkollegen fordern müssen. Abw. Bockelmann, Arzt 126: Auch keine Entschuldigung; vgl. auch Geilen, FamRZ. 68 122; Roxin, Engisch-Festschr. S. 400, Jescheck, Lb. §4712. 2. Keine derartige Konfliktssituation liegt da vor, wo der Täter nicht größeres Unheil abwenden kann, sondern wo sein Eingreifen die Gefahr lediglich von der einen Person auf die andere, gleich gefährdete, oder von der einen Personengruppe auf die andere, ungefähr gleich große und gleich gefährdete, ablenken würde, z. B. wenn X. bei einem Schiffsuntergang den letzten Rettungsring dem A. entreißen und dem B. zuwerfen wollte. Hier befindet sich der Täter nicht in einer unentrinnbaren sittlichen Entscheidungssituation, sondern er maßt sich in unzulässiger Weise an, „Schicksal" zu spielen. Seine Handlung bleibt darum rechtswidrig und schuldhaft. Das gleiche muß für die Teilnahme an einer Notstandstat gelten, wenn X. dem B., der den Ring dem A. zu entreißen versucht, helfen wollte. Mag B. selbst durch § 54 entschuldigt sein, so Hegt für X. weder ein Rechtfertigungs- noch ein Entschuldigungsgrund vor. Anders wäre zu entscheiden, wenn ohne das Eingreifen des X. beide verloren wären und durch seine Hilfe sich wenigstens einer retten kann; so wenn X. dem beim Klettern abgestürzten A. ein Messer reicht, damit er das Seil kappen kann, an dem unter ihm der mitabgestürzte B. hängt. Wenn ohne das Kappen des Seiles beide Kletterer verloren gewesen wären, ist X. aus übergesetzlichem Notstand entschuldigt, während dem A. schon §54 zur Seite steht.
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Allgemeiner Teil
VgLEb. Schmidt, SJZ. 49 670; Härtung, NJW. 50165; Welzel,MDR. 49371; Z. 63 47; Schwur-G. Köln, NJW. 52 358; Gallas, Mezger-Festschr. 311ff.; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1965; abw. Peters, JR. 49 496; OGH. l 321; 2 117; BGH. NJW. 68 513; Rudolphi, Z. 78 76ff., der jede Teilnahme an einer wegen Notstands entschuldigten Tat straflos lassen will. Doch dürfte wegen des geringeren objektiven Unwerts einer Notstandstat nur eine obligatorische Strafmilderung für den Teilnehmer (insbesondere den Anstifter) nach Versuchsgrundsätzen anzunehmen sein; vgl. Rudolphi S. 90.
Zweiter Teil
Die Stufen der Verbrechensverwirklichung Der Versuch § 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch v. Gemraingen, Die Rechtswidrigkeit des Versuchs, 1932; Herbert Fiedler, Vorhaben und Versuch, 1967. I. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung
Jedes vorsätzliche Verbrechen ist Willens Verwirklichung. Die Willensverwirklichung kann in den Anfangsstadien steckenbleiben, und sie kann bis zur vollen Durchführung des Handlungsentschlusses gehen. Auch das vollendete Verbrechen durchläuft vom Handlungsentschluß bis zur vollen Verwirklichung eine kontinuierliche Stufenfolge von Teilverwirklichungen. — Wann beginnt in dieser Reihe das Verbrechen als strafwürdige Handlung und wann ist sein voller Verbrechensgehalt erreicht? 1. Der bloße Handlungsentschluß ist noch nicht strafbar: cogitationis poenam nemo patitur (Ulpian). Auch im Willensstrafrecht wird der böse Wille als solcher nicht bestraft, sondern nur der sich verwirklichende böse Wille; dies nicht nur deshalb, weil der bloße Wille noch nicht faßbar ist und Moralität nicht erzwungen werden kann, sondern auch wegen der tiefen Kluft, die den Gedanken letztlich von der Tat trennt. Von Goethe wird das Bekenntnis berichtet, von allen Verbrechen könne er sich denken, daß er sie begangen habe (H. G r i m m , Goethe, 7. Aufl. II 245). Die verbrecherische Energie zeigt sich eben nicht im verbrecherischen Gedanken, sondern in ihrer Umsetzung in die wirkliche Tat (vgl. auch Maximen u. Reflexionen, ed. Harnack, 371). „Die Bosheit vollendet sich erst in der Tat." Othello II1.
Vorsatz ist Verwirklichungswille, und zwar nicht nur i. S. des auf die Verwirklichung a b z i e l e n d e n Willens, sondern auch i. S. des der Verwirklichung mächtigen Willens. Der ohnmächtige Wille ist kein strafrechtlich relevanter Vorsatz. Welcher Wille aber der Tatverwirklichung mächtig ist, ergibt sich nicht aus seinem Inhalt, sondern aus der von ihm beherrschten wirklichen Tat. 2. Aber nicht jedes beliebige Tun, in das sich der böse Entschluß umsetzt, ist schon ein Verbrechen. Verbrechen ist die sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinsehaftsordnung. Daher beginnt das Verbrechen erst da, wo die besondere Anstößigkeit der Tat beginnt. Nicht immer setzt eich der Entschluß unmittelbar in ein solches Verhalten um, sondern vielfach geht letzterem ein Tun voraus, das die eigentlich verwerfliche Tat erst vorbereitet, z. B. das Auskundschaften der Verbrechensgelegenheit, das Bereitstellen von Verbrechensmitteln u. dgl. — Wer, um einen Wechsel zu fälschen,
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Allgemeiner Teü
sich Wechselformulare und die geeignete Tinte und Feder kauft, setzt seinen Entschluß zwar schon in ein äußeres Tun um, aber dieses Tun ist noch farblos. Es ist als solches noch kein Verbrechen, gegen das man mit Strafe einschreiten könnte; einmal, weil es objektiv nicht (oder kaum) anstößig ist, vor allem aber, weil das Verweilen in diesen vorbereitenden Handlungen noch nicht eine wirkliche verbrecherische Macht des Willens, also einen Verbrechensvorsatz, manifestiert. Vorbereitungshandlungen sind daher wegen ihres unzulänglichen verbrecherischen Gehalts und ihrer geringen realen Faßbarkeit grundsätzlich straflos. Ausnahmen können sich aus dem Gedanken eines möglichst umfassenden Schutzes besonders wichtiger Güter ergeben (vgl. § 83). Ausnahmen bestehen ferner bei Bereitstellen bestimmter gefährlicher Verbrechens Werkzeuge im Hinblick auf bestimmte gefährliche Täter (§ 151: Besitz von Geräten zur Münzfälschung). 3. Ein strafbares Tun beginnt grundsätzlich da, wo der Täter mit der sozialethisch unerträglichen Handlung selbst beginnt, d. h. mit dem Versuch. Da das strafbare Unrecht nicht nur in der Herbeiführung einer Rechtsgutsverletzung, sondern gerade in der Begehungsart (dem Handlungsunwert) liegt, die im Tatbestand plastisch umschrieben ist, so beginnt das strafwürdige Tun mit der Tätigkeit, mit der der Täter unmittelbar zur tatbestandsmäßigen Handlung ansetzt. 4. Stets und in vollem Umfange strafbar ist das vollendete Verbrechen. Dabei ist zwischen formeller und materieller Vollendung zu unterscheiden. a) Wann ein Verbrechen formell vollendet ist, bestimmt sich nach dem Verbrechenstatbestand. Mit der vollen Erfüllung des Tatbestandes ist das Verbrechen vollendet. Dabei stellt das Gesetz die Vollendung überwiegend auf den Eintritt des Verletzungserfolgs ab. Jedoch läßt es die Vollendung vielfach auch schon früher eintreten, z. B. in §§ 146, 267 schon mit der Vornahme des Fälschungsaktes (verkümmert zweiaktige Delikte); vor allem gehört meist nicht mehr zum objektiven Tatbestand das, worauf es dem Täter ankommt, nämlich die Erreichung der Verbrechensvorteile oder sonstiger Verbrechensziele. Daß z.B. der Betrüger den erstrebten Vermögensvorteil wirklich erlangt, gehört nicht mehr zur Vollendung des Betruges (§ 263); es genügt vielmehr, daß er sein Opfer schädigt; gleiches gilt für die Erpressung (§ 253; für §§ 234ff., 257, 288 u. a. m.; sog. kupierte Erfolgsdelikte). b) Bei allen derartigen Vordatierungen der vollen Strafe hebt sich die formelle Vollendung von der materiellen ab, die erst mit der Erreichung der verbrecherischen Absicht eintritt. Die materielle Vollendung ist wichtig für die Frage der Teilnahme (s. oben § 16 11), für die Idealkonkurrenz (s. unten
§ 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch 189
§3011) und für die Verjährung (s. unten §35 IV); vgl. Jaguseh, LK. §43 Ille. 5. Es ist eine gesetzestechnische Frage, ob man bei der Fassung der Tatbestände den Versuch in den Tatbestand miteinbezieht, z. B. durch die Fassung: „Wer es unternimmt ...". Oder ob man die Tatbestände grundsätzlich nur als Vollendungsverbrechen formuliert und dann in einer Generalklausel den Versuch ebenfalls unter Strafe stellt: so in §43. Letzterer Weg ist technisch handlicher und sprachlich volkstümlicher. Dagegen ist es keine bloß technische Frage, a) ob man den Versuch grundsätzlich bei allen Delikten bestraft und b) ob man ihn mit der Vollendung grundsätzlich gleich bestraft. Zu a. Iin geltenden Recht wird der Versuch generell nur bei den Verbrechen bestraft, bei den Vergehen nur da, wo es ausdrücklich angegeben ist, § 43 Abs. 2 (bei den Übertretungen überhaupt nicht). Zu b. Während im deutschen Strafrecht bis 1939 der Versuch überall milder bestraft werden m u ß t e (§ 44 a. F.), sind (ähnlich wie in § 8 österr. StGB, und im code pe"nal) seitdem Versuch und Vollendung im Strafrahmen grundsätzlich gleichgestellt, jedoch kann der Versuch milder bestraft werden (§ 44 n. F.). In der Möglichkeit einer Minderbestrafung des Versuchs kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß bei der Tat, die im Versuchsstadium steckenbleibt, die verbrecherische Kraft des Willens grundsätzlich doch schwächer ist als bei einer Tatvollendung. In diesen Gedanken vermischen sich tief verwurzelte irrationale Anschauungen, daß zur vollen Tat doch auch der Erfolg gehört: Mörder ist eben nur, wer wirklich getötet hat. Vgl. auch Stratenwerth, Die fakultative Strafmilderung beim Versuch, Festgabe zum Schweiz. Jur. Tag 1963.
6. Die Tcilverwirklichung eines fahrlässigen Deliktes ist als schuldhafte Gefährdung von Rechtsgütern denkbar. Strafbar ist sie nach geltendem Recht grundsätzlich nicht, denn § 43 betrifft nur vorsätzliche Verbrechen. Nur in wenigen Fällen ist die fahrlässige Gefährdung unter Strafe gestellt (z. B. in § 97 II, §§ 315, 315 a—c StGB). . Der Begriff des Versuchs Versuch ist die Verwirklichung des Entschlusses, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, die einen Anfang der Ausführung des Deliktes bilden (§ 43). Der objektive Tatbestand ist beim Versuch nicht voll erfüllt. Dagegen muß der subjektive Tatbestand vollständig vorliegen, und zwar so, wie er beim vollendeten Delikt aussehen muß. Genügt daher zur Vollendung dolus eventualis, dann genügt er auch zum Versuch. RG. 68 341; vgl. dazu Jaguseh, LK. § 43 I; abw. Nagler, LK. (1944) I 278; Lampe, N JW. 68332.
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m. Die Abgrenzung der Yorbereltungahandlnngen vom Versuch Das Gesetz umschreibt (nach französischem Vorbild) den Punkt des Versuchsbeginns mit den Worten: „Anfang der Ausführung", also objektiv. Die sogenannte formell-objektive Theorie fordert hierzu, daß bereits ein Stück der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung selbst vorgenommen sein müsse (vgl. KG. 70 157). Dann müßte streng genommen das Wegnehmen erst mit dem Ausstrecken des Armes, das Töten mit dem Abdrücken des Hahnes beginnen. Eine Erweiterung bringen die materiell-objektiven Theorien, indem sie zum Versuch schon Handlungen rechnen, die vermöge ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tatbestandshandlung für die natürliche Auffassung als deren Bestandteil erscheinen ( s o F r a n k § 4 3 I I 2 b ; RG. 73 143; BGH. NJW. 65 594 u. a.) oder die eine u n m i t t e l b a r e Gefährdung des Rechtsgutes herbeiführen (RG. 59 386; 69 328; BGH. 20150; 22 81). Während die letztere Erweiterung wegen der Unbestimmtheit des Gefahrbegriffs sehr bedenklich ist, führt die erstere (von Frank entwickelte) meist zu befriedigenden Ergebnissen. Jedoch dürfte es eindeutiger sein, den Anfang(!) der Ausführung nicht von innen (der Tatbestandshandlung) her, sondern von außen her als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandshandlung zu bestimmen. Wichtig ist dabei stets, daß die Beurteilung des Anfanges auf der Grundlage des individuellen Täterplanes erfolgt. Der Versuch beginnt mit derjenigen Tätigkeit, mit der der Täter nach seinem Verbrechensplan unmittelbar zur Verwirklichung de? Verbrechenstatbestandes ansetzt (vgl. BGH. 7 291; JZ. 59 28; § 22 i, d. Fass, d. 2. StrRG.). Auszugehen ist stets von der Tatbestandshandlung des einzelnen Verbrechenstatbestandes (Wegnehmen, Einbrechen, Töten usw.); vgl. RG. 53 339. Hieran schließt sich die individuelle Prüfung, ob der Täter nach der Anlage seines Verbrechensplanes zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt hat. Beispiel: A. fälscht einen Wechsel und präsentiert Um zur Einlösung: Urkundenfälschung (§267) beginnt mit dem Anfang des Fälschungsaktes (und ist mit Fertigstellung des Falsifikats vollendet; § 267 n. F. ist kein zweiaktiges Delikt mehr!). Betrug (§ 263) beginnt erst mit der Täuschungshandlung, also mit dem Vorlegen des Wechsels zur Einlösung (s. u. § 64 V). 1. Das Ansetzen zur Tötungshandlung (§ 212) und damit der Tötungsversuch beginnt nicht erst mit dem Abdrücken der Schußwaffe, sondern schon mit dem Zielen und dem Anlegen (RG. 59 386), ja sogar u. U. schon mit dein Herausziehen des geladenen Revolvers, sofern der Täter nach seinem VerbrecUensplan unmittelbar zur Tötung ansetzt (RG. 68 336; auch wenn das unmittelbar erwartete Opfer — der Erwartung des Täters zuwider — ausbleibt, RG. 77 1), nicht aber mit dem Kaufen, Bereitstellen oder Laden der Waffe. Einbruchsversueh (§ 243 Ziff. 1) ist schon das Beschmieren des einzudrückenden Fensters mit Seife, um das Klirren zu verhindern (RG. 54 36). Diebstahlsversuch (§ 242) ist das diebische Hinaufsohleichen vor die fremde Boden-
§ 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch 191 kammer (RG. 54 254), das Hinaufschleichen in den Oberstock (KG. 70 201), das Entfernen des Hofhundes, um im unmittelbaren Anschluß daran ungestört stehlen zu können (RG. 53 217; BGH. bei Dallinger, MDR. 66 892; dagegen enger RG. 54 42; vgl. auch RG. 65 191). Raubversuch (§ 249) ist das angriffsmäßige Bereithalten des Pfeffers, der dem Opfer in die Augen gestreut werden sollte, bei gleichzeitigem Anlaufenlassen des zur Flucht bereitstehenden Autos, auch wenn das unmittelbar erwartete Opfer — der Erwartung zuwider — ausbleibt, BGH. NJW. 52 514 (m. abl. Anm. Mezger); vgl. auch BGH. NJW. 54 567; 62 645; LM. § 211 Nr. 22. Sehr weitgehend wird im Rahmen der Sittlichkeitsdelikte, vor allem beim „Verleiten" zur Unzucht, der Versuch ausgedehnt: RG. 52 184; 69 142; BGH. 6 303 (Auffordern zum Zusammentreffen als Versuch des § 176 Ziff. 3); dagegen Bockelmann, JZ. 55 194; bedenklich weit auch BGH. 20 150. 2. Beim qualifizierten (und erschwerten) Delikt beginnt der Versuch schon mit der Vornahme der qualifizierenden (bzw. erschwerenden) Handlung, z. B. mit dem Einbrechen oder Einsteigen in § 243 Ziff. 1. Folgt jedoch im Tatbestand des qualifizierten Delikts die qualifizierende Handlung der Handlung des Grunddelikts nach, so beginnt der Versuch des qualifizierten Delikts erst mit Vornahme der Qualifikation, also der Versuch des Meineids (§ 154) erst mit dem Sprechen der Eidesworte, der Versuch des räuberischen Diebstahls (§ 252) erst mit der Gewaltanwendung. Ein fortgesetzter Mundraub (§ 370 Ziff. 6) geht erst dann in einen Diebstahl (§ 242) über, wenn die zusammengerechnete Beute die Grenze des §370 Ziff. 6 überschreitet; erst dann beginnt der Diebstahlsversuch. RG.63273; Bremen NJW. 591839; a. A. Stuttgart, JR. 63 470 m. abl. Anm. Mittelbach. 3. Wichtig ist stets, daß die Beurteilung des Anfangs der Ausführung auf der Grundlage des individuellen Täterplanes (individuell-objektive Theorie), nicht aber vom Standpunkt eines hypothetischen Zuschauers aus, der den Verbrechensplan nicht kennt (gener e ll-o bjektive Theorie), erfolgt. Denn da die Wege zur Verbrechensverwirklichung unbegrenzt vielgestaltig sind, hängt der Anfang der Ausführung stets auch vom individuellen Täterplan ab. Instruktiv RG. 66 142: Täter verfertigt eine Brandstiftungsanlage, die mit Einschalten der Lichtleitung durch einen Dritten betätigt werden soll. Sollte dieser Dritte nach dem Täterplan ein gutgläubiges Werkzeug sein, so hatte der Täter bereits mit Fertigstellung der Anlage die Tat aus der Hand gegeben, um sie durch das blinde Werkzeug vollenden zu lassen, und damit den Anfang der Ausführung der Brandstiftung begonnen. Sollte dagegen ein als Mittäter handelnder Dritter die Anlage in Gang setzen, so begann nach dem gemeinsamen Tatplan der Anfang der Ausführung erst mit dem Einschalten des Lichte durch den Mittäter, während die Anbringung der Anlage nur Vorbereitungshandlung war (kritisch: Bö ekel m a n n, JZ. 54 468; 65193). 4. Grundsätzlich anders beginnt nach der mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringenden subjektiven Theorie der Versuch dann, wenn sich aus der Handlung die verbrecherische Zielsetzung unzweideutig ergibt. Hierunter fallen u. U. schon weit entfernte Vorbereitungshandlungen; so wäre auch §151 überflüssig, da stets Versuch nach § 146 anzunehmen wäre! 6. Bei mittelbarer Täterschaft ist zu unterscheiden: wird ein doloses Werkzeug benutzt, so beginnt der Versuch erst, wenn der Gehilfe zur Tatausführung ansetzt; in den übrigen Fällen beginnt er, wie bei der Anwendung mechanischer Werkzeuge, bereits in dem Zeitpunkt, da der Täter die Tat aus der Hand gibt, um sie durch das Werkzeug zur Vollendung bringen zu lassen. So RG. 66 141; 70 212,386; BGH. 4271; Jagusch, LK. II If.; Maurach, AT. §41 IJI B 1; a. A. Frank §43 II 2a; v. Hippel II 476, 6.
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IT. Der untaugliche Versuch 1. Mit der Versuchsbestrafung wird die auf die volle Deliktsverwirklichung zielende Willensbetätigung bestraft, und zwar in dem Stadium, in dem diese Betätigung nicht mehr unverbindliche Vorbereitung ist, sondern unmittelbar zur Verbrechensverwirklichung ansetzt, in dem also die \Villensbetätigung für die Rechtsordnung ernstlich gefährliche Bedeutung hat. Was heißt hier ernstlich gefährlich? Hierüber bestehen zwei Auffassungen: a) Ernstlich gefährlich muß die äußere Willensverwirklichung selbst sein. Erforderlich ist eine objektive, im äußeren Geschehen selbst liegende Gefährlichkeit (objektive Theorie). Sie entspricht der früheren h. L. in der Wissenschaft. Sie wurde vor allem in zwei Spielarten vertreten: a) Die ältere o b j e k t i v e Theorie ( F e u e r b a c h , M i t t e r m a i e r , heute aufgegeben). Sie unterscheidet den absolut untauglichen vom relativ untauglichen Versuch. Nur letzterer ist gefährlich und strafbar. (Relativ untauglich für ein Tötungsdelikt ist z. B. eine zu geringe Giftmenge.) Maßstab für die Unterscheidung von absoluter und relativer Untauglichkeit ist der Standpunkt ex post, d. h. der des Richters. ß) Die neuere o b j e k t i v e Theorie (Gefährlichkeitstheorie; v. Liszt, v. Hippel II425). Ein Versuch ist gefährlich, wenn ein einsichtiger Mensch zur Zeit der Tat den Erfolg für wahrscheinlich gehalten hätte. Der Beurteilungsstandpunkt ist hier ex ante! Beispiel: Tötungsversuch mit Schußwaffe, die ein Dritter heimlich entladen hatte. Nach der Gefährlichkeitstheorie: gefährlicher Versuch; nach der älteren obiektiven Theorie: absolut untauglicher Versuch! — Eine Weiterentwicklung der Gefährlichkeitstheorie unternimmt Spendel, Stock-Festschr. S. 89ff.: er will nur für die „Handlung", nicht aber für die „vom Täter unabhängigen Tatumstände" das exante-Urteü entscheidend sein lassen; zu den kaum behebbaren Abgrenzungsschwierigkeiten vgl. Spendel 107.
b) Nach der subjektiven Theorie (RG. l 439, BGH. 11 327; st. Rspr.) braucht nicht die äußere Willensverwirklichung als solche gefährlich zu sein, sondern ist für die Rechtsordnung ernstlich gefährlich schon der Wille, der mit seiner Betätigung unmittelbar zur Verbrechensverwirklichung anzusetzen glaubt. Daher wird ohne Rücksicht auf die objektive Ungefährlichkeit der Versuch mit untauglichen Mitteln oder am untauglichen Objekt bestraft, wenn der Täter sie für tauglich hielt. RG. 1439; 17 168: Abtreibungs versuch mit untauglichen Mitteln. RG. 8 198; 47 65: Abtreibungsversuch an Nichtschwangerer. RG. 84 217: Abtreibungsversuch an Nichtschwangerer mit untauglichen Mitteln. RG. 1461: Mordversuch an Leiche. RG. 42 92: Betrugsversuch bei bestehendem Anspruch; vgl. auch RG. 75 92. Hierher gehören auch der Diebesgriff in die leere Tasche; der Schuß ins leere Bett, in dem das Opfer vermutet wurde.
§ 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch 193
Die objektive Theorie ist der Ausfluß des Kausaldogmas in der Versuchslehre. Wie nach ihm das vollendete Verbrechen eine kausale Rechtsgutsverletzung ist, so ist das versuchte eine kausale Rechtsgutsgefährdung. Sie stellt den strafrechtlichen Unwert zu stark auf die äußerlich-objektive Seite der Rechtsverletzung ab. Dagegen sieht die subjektive Theorie die Rechtsordnung in einem umfassenderen Sinne als eine das Volksleben gestaltende geistige Macht. Die Realität und Geltung dieser geistigen Macht wird aber schon durch einen Willen verletzt, der Handlungen vornimmt, die er für eine taugliche Ausführungshandlung eines Verbrechens hält. Hier bewegt er sich nicht mehr in bloßen Vorbereitungshandlungen, sondern setzt unmittelbar zur Verbrechensverwirklichung an. Schon eine solche Handlung ist für die Rechtsordnung als gestaltende Ordnungsmacht unerträglich. Das verkennt S pen del (NJW. 66 1881), der daher der subjektiven Theorie zu Unrecht eine Bestrafung der Gesinnung unterstellt; s. auch oben §11.
Immerhin gelten für das Unwertverhältnis zwischen dem untauglichen und dem tauglichen Versuch die gleichen Grundsätze wie für das Unwertverhältnis zwischen Versuch überhaupt und Vollendung (s. oben 15): Wie die Größe der Tatverwirklichung grundsätzlich ein Maß für die Stärke des verbrecherischen Willens ist, so auch die Tauglichkeit des Versuches innerhalb des Versuchsrahmens. Je tauglicher der Versuch, desto stärker ist grundsätzlich auch die verbrecherische Energie. Wo daher die Versuchshandlung jeden Boden der Realität verläßt, wie z. B. beim abergläubischen Versuch, da fehlt dem Willen grundsätzlich jede Strafwürdigkeit. Ein solcher Wille kann die Realität des Rechtes als geistiger Macht nicht erschüttern. Daher lehnt mit Recht RG. 33 321 die Strafbarkeit eines abergläubischen Versuches ab. Über einen Grenzfall s. BGH. LM. § 49 a Nr. 10.
Nach § 23 III i. d. Fass. des 2. StrRG. kann das Gericht bei einem Versuch, der „aus grobem Unverstand" untauglich ist, von Strafe absehen oder die Strafe nach seinem Ermessen mildern. 2. Stets muß auch beim untauglichen Versuch objektiv ein Anfang der Ausführung vorliegen, d. h. die Handlung muß, wenn sie tauglich wäre, einen Anfang der Ausführung darstellen. Beispiel: Kauft die Schwangere einen harmlosen Tee im Glauben, es sei ein Abtreibungsmittel, so liegt Vorbereitungshandlung vor. Versuch beginnt wie beim tanglichen Mittel erst mit der Einnahme. Trotz der subjektiven Auffassung hinsichtlich der Tauglichkeit des Versuchs bleibt die objektive Abgrenzung von Versuch und Vorbereitungshandlung also unberührt. 3. Der sog. Mangel am Tatbestand Aus dem Versuchsbegriff überhaupt wollte eine Lehre (Frank § 43 I, Dohna 49) als Mangel am Tatbestand alle Fälle ausscheiden, in denen dem Objekt oder dem tatbestandlich besonders genannten Mittel die vom Gesetz verlangten Eigenschaften Welzel, Strafrecht, 11. Auf).
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fehlen. Hält der Täter die eigene Sache, die er wegnehmen will, irrigerweise für eine fremde, so nahm diese Lehre keinen Versuch, sondern einen Tatbestandsmangel an. — Nun ist jedoch Versuch die Umsetzung des Willens, ein Verbrechen zu begehen, in eine äußere Tat; das erfüllt der Täter auch in diesen Fällen; darum liegt auch in ihnen ein (untauglicher) Versuch vor, dessen Strafbarkeit sich aus oben Ib ergibt; so auch RG. und BGH. in st. Rspr., z. B. RG. 42 92.
Y. Das Watinverbrechen und die Untauglichkeit des Subjekts 1. Das Wahn verbrechen ist nach keiner Theorie strafbar (s. RG. 66 126). Beim Mangel am Tatbestand bezieht sich der Irrtum auf ein objektives Tatbestandemerkmal; z. B. der Täter hält einen toten Menschen für lebend und schießt auf ihn (umgekehrter Tatbestandsirrtum). Sein Tun erfüllt so, wie er es vorhatte (Tötung eines Menschen), den objektiven Tatbestand der §§ 211/12. Beim W a h n v e r b r e c h e n bezieht sich dagegen der Irrtum nicht auf die Tatbestandsmäßigkeit des Tuns, sondern allein auf die R e c h t s w i d r i g k e i t . Der Täter hält das in seinen sachlichen Merkmalen richtig erkannte Tun irrigerweise für rechtswidrig (umgekehrter Verbotsirrtum); z. B. eine Frau hält homosexuelle Handlungen unter Frauen für rechtswidrig. Der Täter glaubt irrig, eine erlaubte Tat sei verboten. Der irrige Glaube kann natürlich die objektiv erforderliche Rechtswidrigkeit nicht erzeugen. Die positive Regelung eines Wahndelikts findet sich in § 22 Abs. l S. 2 des Wehrstrafges. v. 30. 3. 67: Straflösigkeit, wenn der Soldat einen nicht verbindlichen Befehl nicht befolgt, den er irrig für verbindlich hält; das gleiche gilt für den Anstifter gemäß § 109 b Abs. 5 StGB. (s. unten § 72 13). Hierher gehört auch der umgekehrte S u b s u m t i o n s i r r t u m : jemand glaubt, eine Urkundenfälschung zu begehen, weil er ein Schriftstück auch dann für eine „Urkunde" hält, wenn es nicht für den Rechtsverkehr bestimmt ist (Vgl. RG. 66 126; BGH. 13 235 m. Anm. Traub, JuS. 67 113; 14 350; a. A. Foth, JR. 65 366). Vgl. hierzu eingehend Maurach, NJW. 62 716, 767.
2. Ein Unterfall des Wahnverbrechens ist die vermeintliche Verletzung einer nicht bestehenden speziellen Rechtspflicht des Täters. Für zahlreiche Tatbestände ist die Verletzung einer Sonderpflicht des Täters konstitutiv. Zu diesen Delikten gehören außer der großen Gruppe der Amtsdelikte Straftaten von Personen, denen durch ihren Beruf oder ihre Stellung eine besondere Rechtspflicht auferlegt ist, wie Soldaten im WehrStG., Rechtsanwälten in §§300, 352, 356, Notaren, Ärzten, Apothekern in § 300, Erziehungs- und Betreuungsverpflichteten in §§ 174, 175 Nr. 2, Redakteuren in § 22 der landesrechtlichen Pressegesetze, Kaufleuten in §§ 34—38 des Depotges. vom 4. 2. 37 usf. Eine Amtspflichtverletzung und damit ein Amtsdelikt kann nur der begehen, dem eine Amtspflicht wirklich obliegt, nicht aber auch der, der sie nur irrtümlich annimmt, gleichgültig ob sein Irrtum auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruht. Die irrige Annahme einer Sonderpflichtverletzung ist ein Wahndelikt.
§ 24. Die Stufen der Verbrechensverwirklichung, insbesondere der Versuch 195 RG. 8 199; 29 420 (unzutreffend RG. 72 109); RG. 68 33; BGH. 10 8 („Meineid" des Beschuldigten im Strafprozeß als Wahndelikt; s. u. § 7 7 I I l c ) ; vgl. auch GA. 32 243; Kiel, SchlHA. 49 279 und oben § 13 I 6; im Ergebnis wie hier, aber mit bedenklicher Begründung (Ähnlichkeit mit abergläubischem Versuch) Foth, JR. 65 371. Keine Untauglichkeit des Subjekts liegt vor, wo die Untauglichkeit lediglich auf dem Mangel oder der Untauglichkeit des Objekts beruht. Die Nichtschwangere, die Abtreibungshandlungen vornimmt, begeht strafbaren Versuch am untauglichen Objekt. Der Unterschied zwischen beiden Fallgruppen liegt in folgendem: Bei der ersten (den eigentlichen Sonderdelikten) richten sich die Nonnen ausschließlich an einen bestimmten Personenkreis; nur dieser ist zur Vornahme oder Unterlassung der tatbeetandsmäßigen Handlung verpflichtet; darum kann die irrige Annahme einer PflichtenStellung die objektiv nicht bestehende Pflicht nicht ersetzen. Bei der zweiten Gruppe wendet sich die Norm (z. B. das Abtreibungsverbot) an jeden; die Tathandlung wird für die Schwangere lediglich privilegiert. Die abweichende Auffassung von B runs (D. untaugliche Täter im Strafrecht, 1955), das Wesen der Sonderdelikte bestehe lediglich darin, daß nur die im Gesetz bezeichnete Person diese Delikte im Stadium der Vollendung begehen könne, setzt gerade das voraus (die Möglichkeit einer Versuchsbegehung durch eine untaugliche Person), was sie erst beweisen muß. Daß (nur) Anstiftung und Beihilfe von Nichtqualifizierten an der Tat des Qualifizierten möglich sind, spricht nicht für, sondern gegen Br. Anstiftung und Beihilfe sind Strafausdehnungsgründe: jemand, der nicht Täter ist, wird bestraft, weil er zu einer rechtswidrigen Tat angestiftet oder geholfen hat; darum kann Teilnehmer auch jeder sein, der selbst niemals die Tat als Täter begehen könnte (s. o. § 16 13). Umgekehrt spricht die Tatsache, daß der Nichtqualifizierte nicht Täter (auch nicht Mittäter oder mittelbarer Täter) des Sonderdelikts sein kann, gegen Br.: denn auch der Täter eines versuchten Sonderdelikts muß Täter (also Qualifizierter^ seinl (Die Norm des § 336 trifft nur den Richter, nicht auch den, der sich für einen Richter hält!) YI. Die Strafbarkeit des Versuches 1. Der Versuch ist strafbar bei allen Verbrechen, bei Vergehen nur da, wo es ausdrücklich bestimmt ist, straflos bei allen Übertretungen (§ 43). Er kann milder bestraft werden (§ 44). An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren, in den übrigen Fällen kann die Strafe bis auf ein Viertel des angedrohten Mindestbetrages ermäßigt werden. 2. Eine Ausnahme von § 44 bilden die Unternehmensdelikte (s. § 46 a). Sie stellen den Versuch mit der Vollendung im Strafrahmen gleich, so daß eine Milderung nach § 44 unstatthaft ist. Da sie den Versuch bereits enthalten, ist der „Versuch" des Unternehmens, d. h. der Versuch des Versuches, straflos, daher ebenso auch der „Versuch" bloßer Vorbereitungsdelikte wie des § 49 a (BG. 58 392; BGH. 6 87; abw. BGH. 6 387). 3. Im übrigen ist der Versuch auch bei den erfolgsqualifizierten Delikten möglich, wenn der schwerere Erfolg schon durch die Versuchshandlung eintritt 13*
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und der Tatbestand die Qualifizierung durch den schwereren Erfolg an die Tatbestands h an dl u ng, nicht aber nur an den tatbestandlichen Erfolg anknüpft. Ersteres ist bei § 178 (RG. 69 332) und bei § 307 Ziff. l (BGH. 7 39; einschränkend BGH. 20 230, der mit Recht entsprechend dem Wortlaut Tötung durch Brand verlangt) der Fall; letzteres bei § 226 (a. A. BGH. 14110;Stree, GA. 60 289; dagegen Deubner, NJW. 60 1068; Maurach, AT. § 41 II 3). Vgl. zum Ganzen Ulsenheimer, GA. 66 257. Über den „Versuch" von Unterlassungsdelikten s.u. § 27 IV, § 28 IV.
§ 25. Der Bücktritt vom Versuch § 46 gewährt dem Täter Straffreiheit, wenn er vom Versuch freiwillig zurücktritt. Nach der h. L. enthält die Bestimmung einen auf kriminalpolitischen Gründen beruhenden persönlichen Strafaufhebungsgrund (BGH. 7 299). Das Gesetz wolle einen Anreiz für den Täter schaffen, seine begonnene Tat nicht zum Erfolg kommen zu lassen; es baue dem Täter „goldene Brücken zum Kückzug" (Liszt). Diese auf Feuerbachs Straftheorie zurückgehende Auffassung, der Täter werde in letzter Minute durch die Aussicht auf Strafbefreiung von der Vollendung seiner Tat zurückgehalten, ist lebensfremd und vermag den § 46 nicht zu tragen. Der wahre Sinn der Privilegierung des Zurücktretenden liegt in der Geringfügigkeit seiner Schuld, die sich im Rücktritt zeigt. Von hier aus muß die bisherige Interpretation des § 46 überprüft werden. Vgl. dazu Bockelmann, NJW. 551417; Giffhorn, Über Bedeutung und Begriff d. „Freiwilligkeit" beim Rücktritt vom Versuch u. bei d. tätigen Reue. Ungedr. Gott. Diss. 1948; Mayer 294ff.; Jescheck, MDR. 55 562; Lb. § 51; Heinitz, JR. 56248; Schröder, MDR. 66321; jetzt auch BGH. 952; — kritisch dazu Platzgummer, Jur. Blätter 1957 Iff. Vgl. auch Arzt, GA. 641. I. Voraussetzungen des etrafbefreienden Rücktritts
Sie sind verschieden, je nachdem ob der Versuch beendet oder nichtbeendet ist. 1. Wie in der Versuchslehre allgemein (vgl. oben § 24 III zur Abgrenzung von Vorbereitungshandlung und Versuch) entscheidet sich die Frage, ob der Versuch beendet oder nicht beendet ist, nach der Vorstellung des Täters auf Grund seines individuellen Tatplans. Schönke-Schröder, §46IV6; LK-Jagusch, §4612; Maurach, §41VA, B au m an n, § 33 II; auch BGH. JR. 69,105; BGH. 10129; 21 319; LG. Berlin, MDR. 641023; BGH. GA.66208.
Dabei ist zu differenzieren: «) Hat der Täter bei Tatbeginn die Vorstellung, er könne den Erfolg mit einer bestimmten Handlung erreichen und geht er entsprechend vor, so ist der Versuch beendet, wenn er diese Tätigkeit ausgeführt hat.
§ 25. Der Rücktritt vom Versuch
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ß) Hat der Täter dagegen bei Tatbeginn noch keinen festumrissenen Plan, sondern will er so lange handeln, bis der Erfolg eingetreten ist, so bemißt sich die Abgrenzung danach, welche Wirksamkeit er seinem Tun im Zeitpunkt des Ablassens von weiteren Handlungen zuerkennt: hält er jetzt sein Tun für noch nicht genügend zur Herbeiführung des Erfolges und unterläßt er weitere Maßnahmen, so liegt ein unbeendeter Versuch vor. BGH. 1475; Martin in LM. Nr. 14a zu §46, BGH. 22330; Maurach, § 41 V A. Wenn Dreher davon abweichend in dem Fall BGH. 22176 = JR. 69 107, wonach es dem Täter auf die Benutzung eines bestimmten Mittels ankommt und er dann von weiteren, von ihm für erforderlich gehaltenen Handlungen Abstand nimmt, sich für einen unbeendeten Versuch ausspricht, so wird damit der Täter dieser Fallgruppe, der gegenüber dem der zweiten (ß) größere verbrecherische Energie gezeigt hat, ungerechtfertigt privilegiert. Vielmehr muß ein noch nicht bestimmtes Wollen unter erleichterten Voraussetzungen Straffreiheit verschaffen können. Wenn Dreher auf Grund des Zusammenhanges mit dem Problem der Tatidentität dazu kommt, einen unbeendeten Versuch immer anzunehmen, wenn die neuen Handlungsakte mit dem alten eine „natürliche Handlungseinheit" bilden, so dominieren objektive Momente im Rahmen der Versuchslehre. Die „natürliche Handlungseinheit" —(als Prinzip oder als Korrektiv im Rahmen der Abgrenzung — gibt zu neuen Zweifeln Anlaß. ) Die oben genannten Abgrenzungsgrundsätze gelten entsprechend, wenn der Täter mit dolus eventualis handelt: Stellt er es auf eine bestimmte Handlung ab, so ist der Versuch beendet, wenn diese Handlung ausgeführt ist; hat er sich nicht auf bestimmte Mittel festgelegt, dann kommt es darauf an, welche Wirkung er dem bisherigen Geschehen beilegt. Die Abgrenzung im Rahmen des § 46 folgt dem Zweck dieser Vorschrift, wie er in Ziff. l und 2 von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgeht; die Abgrenzung ist unabhängig davon, wie sich die Finalität der Handlung — ob als dolus directus oder als dolus eventualis — darstellt. BGH. 22 330; vgl. Hruschka, JZ 69 495. Zur Frage eines noch bedingten Entschlusses und Rücktritts vgl. Ar z t in JZ. 69 56f. 2. Beim Rücktritt vom beendeten Versuch ist der Täter straffrei, wenn er die weitere Tätigkeit freiwillig aufgibt (§ 46 Ziff. 1). Freiwillig ist die Aufgabe, wenn sie unabhängig von zwingenden Hinderungegründen erfolgt; sie ist freiwillig, wenn der Täter sich sagt: Ich will nicht, obwohl ich kann; unfreiwillig, wenn er sich sagt: Ich kann nicht, selbst wenn ich wollte (Frank § 46 II; dazu BGH. 7 298). Maßgebend ist dabei stets, was der Täter beabsichtigt hatte. Beispiele: Steht er wegen Geringfügigkeit der Beute vom Diebstahlsversuch ab, dann freiwillig bezüglich der geringfügigen, unfreiwillig bezüglich der erwarteten größeren Beute (RG. 701; BGH. 4 66; 18 166 gegen RG. 55 66). Allgemein ist Unfreiwilligkeit anzunehmen, wenn der Täter sein Verhalten nicht durchführt, weil der erreichbare
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Erfolg vom vorgestellten wesentlich abweicht (vgl. BGH. 20 279; dazu für den konkreten Fall kritisch Lackner, JR. 66 106). Gibt er sein Vorhaben ans Reue, Mutlosigkeit, Furcht vor Strafe auf, dann ist der Rücktritt freiwillig. BGH. 4 129. Ist er jedoch entdeckt oder befürchtet er bevorstehende Entdeckung, so ist die Aufgabe unfreiwillig, wenn durch die Entdeckung der Erfolg vereitelt würde (RG. 66 149; BGH. 9 48, NJW. 57 190; Gelle, JR. 65 316). Gleichgültig ist dabei, ob das Hindernis ein wirkliches oder nur vermeintliches ist. Unter diesen Umständen kann der Täter auch von einem fehlgeschlagenen Verbrechen freiwillig zurücktreten, nämlich wenn er nicht weiß, daß es schon fehlgeschlagen ist (RG. 68 82). Vgl. zum Ganzen Dohna, Z. 59 641. Methodisch und sachlich undurchführbar ist die Unterscheidung der Praxis danach, ob der Beweggrund zum Rücktritt psychisch zwingend war (dann unfreiwillig) oder ob er dem Täter noch die freie Wahl gelassen hat (dann freiwillig); RG 47 78; 75 393; BGH. 7 299; 9 62; 21 216, dazu Dreher, MDR. 67 934; Heinitz, JR. 56 248. Echter kausaler „Zwang" mit Ausschluß jeder Willenstätigkeit besteht nur bei völliger seelischer Lähmung; jede sonstige Abstufung nach der Starke des Motivs ist willkürlich (vgl. auch Dohna, a. a. 0.). b) Der Täter muß den Tatplan endgültig aufgeben, denn nur dann bestellt Grund dafür, den Täter Straffreiheit v e r d i e n e n zu lassen. Abstehen bloß von konkreter Ausführungsart genügt nicht. RG. 72 360; BGH. 7 297; NJW. 57 190; abw. Mezger 406; Heinitz, JR. 56 262. In dieser Einschränkung zeigt sich die von Bockelmann, DR. 42 430, NJW. 551417, beobachtete Tendenz der Praxis, von einem rein psychologisch verstandenen Begriff der Freiwilligkeit zu einerBewertungdes Rücktritts überzugehen (vgl. auch Jescheck, MDR. 55 662; abw. Heinitz, JR. 56 251). Natürlich fehlt es überhaupt am „Rücktritt", wenn der Täter das Ziel, das er strafbar zu erreichen versuchte, plötzlich ohne weitere strafbare Tätigkeit erhält oder erhalten zu können glaubt; so wenn beim Notzuchtsversuch die Frau den Widerstand aufgibt und in den Beischlaf positiv einwilligt (RG. JW. 1935 2734); anders dann, wenn die Frau ihre freiwillige Hingabe für die Nacht verspricht und der Täter darum von der weiteren Durchführung der Notzucht hie et nunc absieht. Bockelmann, NJW. 55 1417 gegen RG. 75 393; Maurach, AT. § 41 V B 2; vgl. auch BGH. 7 296; BGH. bei Dallinger, MDR. 69 15; GA. 68 279. 3. Hat der Täter nach seiner Vorstellung alles getan, was zur Erfolgeherbeiführung erforderlich ist (beendeter Versuch), so verdient er sich Straffreiheit, wenn er den Erfolg abwendet, bevor die Tat entdeckt ist (§ 46 Ziff. 2). „Entdeckt" ist die Handlung, wenn sie als kriminelle Tat solchen Personen bekannt wird, von denen die Verhinderung des Erfolgs oder die Veranlassung der Strafverfolgung zu erwarten ist (RG. 38 402; 71242). Die Entdeckung des Täters ist nicht erforderlich (RG. 3 93). Die Tat ist daher auch dann entdeckt, wenn der Verletzte Kenntnis von ihr erlangt (RG. 66 61), allerdings nur dann, falls er in der Lage ist, den Erfolg zu vereiteln (BGH. JR. 52 414), dagegen nicht dann, wenn Tatbeteiligte, begünstigende Angehörige oder die zur Erfolgsabwendung vom Täter zugezogenen Personen, wie z. B. der Arzt (RG. 15 44), Kenntnis haben. Streitig ist, ob für die Frage des Entdecktseins die objektive Lage oder die Vorstellung des Täters von der Entdeckung maßgeblich ist (vgl. Schröder, Mayer-
§ 25. Der Rücktritt vom Versuch
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Festschr. S.385Ö.; Baumann, §34II2). Da der Gesetzeswortlaut auf die objektive Entdeckung abstellt, dürfte eine Abweichung zuungunsten des Täters im folgenden Falle unzulässig sein: Der Täter hält sich zu Unrecht für entdeckt, dann verdient er sich — als obj. unentdeckt — durch die Erfolgsabwendung Straffreiheit. Anders, wenn der Täter sich zu Unrecht für unentdeckt halt; hier kann zugunsten des Täters berücksichtigt werden, daß die Nichtentdeckung als Objektivierung der Freiwilligkeit verstanden werden kann; abw. Maurach, AT. § 41 V C la; Warda, JuS. 65 448: maßgebend sei stets die subj. Vorstellung. Bei einem untauglichen oder fehlgeschlagenen beendeten Versuch kann zwar kein Erfolg „abgewendet werden", doch ist dem Täter, der von der Untauglichkeit oder dem Fehlschlag nichts weiß und sich ernsthaft um Erfolgsabwendung bemüht, in analoger Ergänzung des § 46 Ziff. 2 durch § 49 a Abs. 4 Straffreiheit zuzubilligen. BGH. 11 324; NJW. 69 1073; Maurach, AT. § 41 V C 3; Schönke-Schr. N. 32b; vgl. auch Otto, GA. 67144. . Wirkungen des Rücktritts Der Rücktritt bewirkt persönliche Straflösigkeit für den Versuch als aolchen. 1. Nur das Versuchsdelikt ist straflos, nicht das in ihm enthaltene vollendete Delikt (sog. qualifizierter Versuch). Z.B.: freiwilliger Rücktritt vom Raubversuch läßt eine Bestrafung wegen vollendeter Nötigung unberührt! Das gilt sowohl bei Ideal- wie bei Gesetzeskonkurrenz des vollendeten mit dem versuchten Delikt. Denn konsumierende Kraft hat nur das zu S t r a f e führende Verbrechen; außerdem kann ein vollendetes Verbrechen nicht deshalb straflos bleiben, weil der Täter ein noch schwereres beabsichtigt hatte. Bei der Strafzumessung für das übriggebliebene Delikt kann der straflose Versuch auch zur Strafschärfung nicht mehr herangezogen werden (BGH. MD R. 65 839 m. abL Anm. Dreher; dazu Dallinger, MD R. 66 726). 2. Rücktritt ist persönlicher Strafaufhebungsgrund und wirkt daher nur zugunsten des Beteiligten, der wirksam zurücktritt. Tritt der Täter zurück, so werden darum die Teilnehmer noch nicht straflos. Der einzelne Teilnehmer wird straflos nur dann, wenn alle zurücktreten oder er den Erfolg abwendet oder wenn er wenigstens seinen Beitrag völlig rückgängig macht. RG. 54 177; 70 295; BGH. 4 179; NJW. 56 30; GA. 66 209. Über Rücktritt beim Teilnahmeversuch 3. § 49 a Abs. 3 u. 4. m. Rücktritt vom vollendeten Delikt Vom (formell) vollendeten Delikt ist grundsätzlich kein Rücktritt möglich; Ausnahmen sind für die Brandstiftung (§ 310), die Herbeiführung einer Explosion (§ 311 b; § 44 Atomges.), die Verkehrsgefährdung (§§ 315 Abs. 6, 315b Abs. 6), die Falschaussage (§§ 158, 163 Abs. 2) u. a. m. vorgesehen. Von Vorbereitungs- und Unternehmungsdelikten, die zu selbständigen Tatbeständen erhoben sind, ist kein Rücktritt möglich; auch hier sieht das Gesetz Ausnahmen vor, z. B. beim Teilnahmeversuch, § 49 a Abs. 3 u. 4 (s. oben § 16 II7). § 49a III, IV ist auf § 234a III entsprechend anwendbar. BGH. 6 87.
Dritter Teil
Die strafbare Unterlassung § 26. Der Begriff der Unterlassung; Nagler, GS. Ill Iff.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959; ders., Unterlassung und Vorsatz, v. Weber-Festschr. S. 207; Grünwald, Z. 70 412ff.; Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963; Hardwig, Z. 7427; Galioni, Sul fondamento ontologico deU'omissione, Foro Penale 1963 S. 306. Menschliche Willensmacht erschöpft sich nicht in der Ausübung der Zwecktätigkeit, sondern umfaßt auch die Unterlassung einer solchen. Neben die Handlung tritt die Unterlassung als zweite, selbständige Form menschlichen, vom zweckgelenkten Willen beherrschbaren Verhaltens. Auch das Strafrecht befaßt sich in bestimmtem Umfange mit der Unterlassung von Handlungen. Denn, wie wir schon oben § 8 II3 sahen, gibt es Rechtsnormen, die die Vornahme von Handlungen zur Herbeiführung sozial-erwünschter oder zur Abwendung sozial-unerwünschter Erfolge gebieten. Diese Normen werden durch die Unterlassung der gebotenen Handlung verletzt. In bestimmtem Umfange ist die Verletzung dieser Gebotsnormen, die durch die Unterlassung der gebotenen Handlung geschieht, unter Strafe gestellt: sog. Unterlassungsdelikte. I. Die ontologische Struktur der Unterlassung Ontologisch gesehen ist die Unterlassung, da sie ja die Unterlassung einer Handlung ist, selbst keine Handlung. Handlung und Unterlassung verhalten sich insoweit wie A und non-A. Darum verwendet ein Sprachgebrauch, der die Unterlassung mit unter den Begriff der „Handlung" zieht, diesen Begriff doppeldeutig und führt dadurch zu sachlichen Unklarheiten, indem er Merkmale, die nur der Handlung im eigentlichen Sinne zukommen, unvermerkt auf die Unterlassung mitüberträgt (z. B. die Frage nach einer „Kausalität" der Unterlassung). In Wahrheit sind Handlung und Unterlassung einer Handlung zwei eigenständige Unterarten des menschlichen, vom zwecktätigen Willen beherrsch baren „Verhaltens" (s. oben § 7 II). Wohl aber ist die Unterlassung notwendig auf eine Handlung bezogen: es gibt keine Unterlassung „an sich", sondern nur die Unterlassung einer bestimmten Handlung. Unterlassung ist darum kein reiner Negations-, sondern ein „Limitationsbegriff": sie ist die Unterlassung einer dem Täter möglichen Handlung, die also der finalen Tatmacht (der potentiellen Finalität der Person) untersteht. Unterlassung ist die im Hinblick auf eine bestimmte Handlung nicht erbrachte, potentielle (mögliche) Finalität eines Menschen. Nur diejenige Handlung, die der finalen Tatmacht (Tatherrschaft) einer Person unterliegt, kann unterlassen sein. Die Einwohner von Berlin können nicht die
§26. Der Begriff der Unterlassung
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Rettung eines im Rhein Ertrinkenden „unterlassen". Unterlassen heißt nicht bloß: nichts tun, sondern eine der konkreten Person mögliche, ihrer finalen Tatmacht unterstehende Handlung nicht tun. Welche Anforderungen an die finale Tatmacht („Handlungsfähigkeit") zu stellen sind, ergibt eich aus der Struktur der finalen Steuerung der Handlung: Um das Handlungsziel zu erfassen, muß der Mensch die Situation kennen, in die hinein seine Handlung wirken soll; ferner muß er in der Lage sein, die Mittel zu erkennen und auszuwählen, die das Ziel herbeizuführen vermögen („Planungsfähigkeit"); schließlich muß er die physisch-reale Möglichkeit haben, die ausgewählten Mittel anzuwenden und den geplanten Akt durchzuführen. S. o. § 8 I ; K a u f m a n n , Unterlassungsdelikte, S. 35 ff., 59 ff. Erst die konkret mögliche oder potentiell-finale Tatherrschaft einer Person macht ein Nichtstun zur Unterlassung. Da das konstitutive Merkmal der Unterlassung die potentielle finale Tatherrschaft ist, ist für die Unterlassung kein aktueller Willensakt erforderlich, sondern ein der Person möglicher Willensakt ausreichend: wer eine Handlung vorzunehmen vergißt, die er bei größerer Konzentration sich hätte merken können, unterläßt sie! Der Unterlassung ist weder Kausalität noch (aktuelle) Finalität eigen. Deshalb fehlt ein auf Unterlassen gerichteter Verwirklichungswille und damit auch ein Tatvorsatz i. S. der Begehungsdelikte. Was wir als „gewollte" Unterlassung zu bezeichnen pflegen, ist in Wahrheit ein b e w u ß t e s Unterlassen, nämlich eine Unterlassung im Bewußtsein, handeln zu können: Der Unterlassende weiß, daß er den Ertrinkenden retten kann. Doch erfüllt auch die unbewußte Unterlassung, d. h. die Unterlassung in Kenntnis des Zieles der möglichen Handlung, aber o h n e K e n n t n i s der eigenen Tatmacht, den Unterlassungsbegriff ebenso: Der Untätige sieht den Ertrinkenden, macht sich aber nicht bewußt, daß er retten kann. Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 66f., 73ff., HOff., 314; ders., v. WeberFestachr. S. 207ff. Die Feststellung, daß jemand eine seiner Tatmacht unterliegende Handlung nicht vorgenommen (unterlassen) hat, ist ein rein objektives Urteil, d. h. es ist nicht davon abhängig, ob irgend jemand zur Zeit der Nichtvornahme der Handlung die Vornahme der Handlung „erwartet" hat. Die gegenteilige Behauptung, daß nur eine „erwartete" Handlung unterlassen werden könne (Mezger, 132; Gallas, Z. 67 8ff.), beruht auf einem Mißverständnis. Die möglichen Handlungen, die der Tatmacht einer Person in einem bestimmten Augenblick unterliegen und von ihr nicht vorgenommen werden, sind ihrer Art und Zahl nach grundsätzlich unbestimmt (wie es bei jedem limitativen Urteil der Fall ist). Darum setzt die Frage, ob die betreffende Person aus der unbestimmten Zahl von möglichen Handlungen eine bestimmte nicht vorgenommen hat, beim Fragenden ein Interesse (und insofern eine „Erwartung") hinsichtlich dieser Handlung voraus. Nur bezüglich solcher Handlung, an deren Vornahme oder Nichtvornahme der Fragende irgendwie interessiert ist, fragt man, ob der tatmächtige Täter sie unterlassen
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Allgemeiner Teil
habe. Hingegen ist die Beantwortung dieser Frage.ein rein objektives Urteil dahingehend, daß die betreffende Handlung der Tätmacht des Täters unterlag und von ihm nicht vorgenommen wurde. Dieses Urteil ist ganz unabhängig davon, ob zur Zeit der Nichtvornahme der Handlung irgend jemand die Vornahme der Handlung erwartet hat oder nicht. Noch viel weniger hängt der Unterlassungsbegriff davon ab, daß die unterlassene Handlung dem Täter geboten war (so Gallas, Z.6710ff.). Gewiß hat die Strafverfolgungsbehörde nur bezüglich solcher Handlungen, die rechtlich geboten sind, einen konkreten Anlaß zur Frage, ob sie unterlassen worden sind, d. h. ob sie der Tatmacht des Täters unterlegen haben und von ihm nicht vorgenommen worden sind. Aber unterlassen, und zwar im rechtlich relevanten Sinn, werden auch verbotene Handlungen: stellt doch das Recht seine Verbote gerade zu dem Zweck auf, die Bürger zur Unterlassung der betreffenden Handlung zu veranlassen. „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man läßt'1 (Wilhelm Busch). VgL dazu auch Kaufmann,v. Weber-Festschr., S. 216. . Die Unterlassung im Strafrecht
1. Echte und unechte Unterlassungsdelikte. Das Strafrecht befaßt sich mit der Unterlassung in verschiedener Weise: a) Eine Gruppe von Vorschriften stellt allein den Verstoß gegen eine Handlungspflicht unter Strafe, z. B. das Unterlassen der rechtzeitigen Anzeige von Verbrechensplänen (§138), der Hilfeleistung bei Unglücksfällen (§330c), der Brandsicherung von Feuerstätten (§ 368 Ziff. 4), des Raupens von Bäumen (§ 368 Ziff. 2) u. a. m. Diese Gruppe enthält die Hauptfälle der sogenannten „echten" Unterlassungsdelikte. b) In einigen Fällen wird in ein und derselben gesetzüchen Vorschrift sowohl eine Handlung, die einen Erfolg herbeiführt, als auch das Unterlassen, diesen Erfolg abzuwenden, unter Strafe gestellt, z.B. in §§121/347, 223 b, 354/355. Hier stehen ein Begehungsdelikt und ein echtes Unterlassungsdelikt, ein Verbotstatbestand und ein Gebotstatbestand in derselben Vorschrift nebeneinander. c) Neben diesen beiden vom Gesetz statuierten Handlungsgeboten gibt es eine weitere große Gruppe von Geboten, die zur Abwendung drohender Rechtsgutsverletzung verpflichten, ohne vom Strafgesetz ausdrücklich sanktioniert worden zu sein. Ihre Übertretung wird vielmehr aus dem Strafrahmen derjenigen Begehungsdelikte geahndet, die die H e r b e i f ü h r u n g derselben Rechtsgutsverletzung betreffen; so wird die Mutter, die ihr Kind verhungern läßt, aus den Strafbestimmungen der Tötungsdelikte (§§ 211 ff.) bestraft. Diese große Gruppe von Unterlassungsdelikten, die vom Strafgesetz nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt sind, nennt man „Begehungsdelikte durch Unterlassung" oder „unechte" Unterlassungsdelikte. Die unechten Unterlassungsdelikte unterscheiden sich von den beiden anderen Gruppen von Unterlassungsdelikten (a u. b) nur dadurch, daß sie vom Gesetz selbst nicht vertypt worden sind. Der Unterschied ist also ein rein
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poeitivrechtlicher, kein materialer. Vor allem besteht der Unterschied nicht darin, daß bei den echten Unterlassungsdelikten lediglich eine schlichte Tätigkeit, bei den unechten Unterlassungsdelikten dagegen die Abwendung eines Erfolges gefordert werden. Auch die Hilfspflicht des § 330 c (eines echten Unterlassungsdeliktes) geht auf die Abwendung des drohenden schädlichen Erfolges. Ferner ist bei allen Melde- und Anzeigegeboten (z. B. § 138) die vom Gesetz erstrebte Kenntnis der Behörde der Erfolg, den der Pflichtige herbeiführen soll. Vgl. dazu K a u f m a n n , Unterlassungsdelikte, S. 206ff., 275ff.; ders., JuS. 61173; Schönke-Schröder, Vor §1 N. 79; abw. Böhm, JuS. 61177; vgl. auch BGH. 14281. 2. Die B e s o n d e r h e i t e n der Unterlassungsdogmatik. Da das echte Unterlassungsdelikt erst in jüngerer Zeit größere praktische Bedeutung erlangt hat (§ 330c!) und da das u n e c h t e Unterlassungsdelikt als ein Sonderfall des Begehungsdeliktes betrachtet wurde, ist es nicht verwunderlich, daß die Lehren des Allgemeinen Teiles ausschließlich am Begehungsdelikt entwickelt worden sind. Doch können sie nicht unbesehen auf das Unterlassungsdelikt übertragen werden; denn die Unterlassung ist gerade keine Handlung. Unterhalb des b e i d e n Begriffen g e m e i n s a m e n Elementes der „finalen Tatmacht" verhalten sich Handlung und Unterlassung wie A und non-A. Der Unterlassung fehlt die Handlungsverwirklichung. Darum müssen sich bei der Anwendung der am Begehungsdelikt entwickelten Regeln auf das Unterlassungsdelikt die „Vorzeichen gleichsam umkehren". Vgl. zu diesem Umkehrprinzip K a u f m a n n , Unterlassungsdelikte S. 88ff. 3. Die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt richtet sich nach der Kausalität oder Nichtkausalität des Verhaltens: Hat der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig verursacht, ist ein Begehungsdelikt verwirklicht. Fehlt dagegen dem deliktischen Verhalten die Kausalität für den Erfolg, kommt nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht. Dagegen kommt es nicht darauf an, daß das „Schwergewicht" „meist" auf der Handlung liege (Schönke-Schröder, Vor § IN.95), daß „im Zweifel" positives Tun anzunehmen sei (Spendel, Schmidt-Festschr., S. 194; Arthur Kauf mann, SchmidtFestschr., S. 112) oder daß die Entscheidung durch „Wertung" zu treffen sei (MezgerBlei, I 78). Allerdings kann neben dem Begehungsdelikt ein zeitlich voran- oder nachgehendes Unterlassen der möglichen Abwendung des verursachten Erfolges den Tatbestand eines Unterlassungsdeliktes erfüllen. Diese Frage betrifft allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen, sondern wirft nur die Fragen der Garantenstellung und der Konkurrenz von Begehungs- mit Unterlassungsdelikt auf. Vgl. auch Roxin, Z. 74 415. Beseitigt der Täter eine von ihm zur Gebotserfüllung ins Werk gesetzte selbständig wirkende Rettungsmaßnahme wieder, so soll nach h. L. kein Begehungsdelikt vorliegen, sondern der Gebotstatbestand wieder eingreifen (Kaufmann, Unterlassungs-
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Allgemeiner Teil
delikte, S. 108; einschränkend Roxin, Engisch-Festschr. S. 386). Ein Dritter, der die Rettungsmaßnahme beseitigt, ist hingegen wegen eines Begehungsdelikts strafbar (differenzierend: Roxin a. a. 0., S. 386, 391).
§ 27. Die echten Unterlassungsdelikte A. Das sog. vorsätzliche echte Unterlassungsdelikt I. Der Tatbestand 1. Die t a t b e s t a n d s m ä ß i g e Situation. Sie umfaßt diejenigen tatbestandlich umschriebenen Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Rechtsordnung ein Eingreifen fordert; sie kennzeichnet regelmäßig das Ziel der gebotenen Handlung, das Objekt, auf das eingewirkt werden soll, sowie ggf. weitere Umstände, die für das Eingreifen vorausgesetzt werden. Die tatbestandsmäßige Situation ist in § 138 das Bestehen eines Verbrechensplanes, in §330c die Anwesenheit bei einem Unglücksfall, in §360 Z. 8 die Frage des Beamten nach den Personalien, in § 368 Z. 4 die Verfügungsgewalt über ein Haus. 2. Nichtvornahme einer Handlung, die das vom Gebot gesteckte Ziel zu erreichen sucht (Fehlen eines Handelns mit Gebotserfüllungstendenz). Beim vorsätzlichen Unterlassungsdelikt fehlt es an der Tatbestandsmäßigkeit nicht nur dann, wenn der Handlungspflichtige erfolgreich leistet (das Verbrechen rechtzeitig anzeigt, die Hufe wirksam bringt), sondern schon dann, wenn er sich erfolglos, aber ernstlich bemüht, das gesteckte Ziel zu erreichen; nimmt der Pflichtige irrig an, das zu tun, was zur Erfüllung sachgemäß ist, dann kommt nur Fahrlässigkeit in Betracht. Der Versuch, das Gebot zu erfüllen, kann fehlschlagen, weil der Pflichtige das richtige Mittel falsch einsetzt (der Rettungsring wird zu weit geworfen) oder weil er den falschen Weg zur Erfüllung einschlägt (statt des Nachbarn Telefon zu benutzen, läuft A unüberlegt zur Polizeiwache, um einen Verbrechensplan anzuzeigen, und kommt zu spät) oder weil er trotz Prüfens der Sachlage keinen Weg zum Eingreifen findet (der Nichtschwimmer sucht nach Möglichkeiten, den Ertrinkenden zu retten, übersieht jedoch den Rettungsring). 3. Die finale Tatmacht zur E r f ü l l u n g des Gebotes. Der Untätige u n t e r l ä ß t die vom Gebot geforderte Handlung nur dann, wenn er zu ihrer Vornahme mächtig war. Hierzu sind erforderlich (vgl. o. §261): a) die Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation; Rechnen mit ihrem Vorliegen genügt, bloßes Kennenmüssen reicht nicht aus; b) nach der überkommenen, aber erst neuerdings stärker überprüften Lehre die K e n n t n i s (das Bewußtsein) des Unterlassenden von seiner Tat-
§ 27. Die echten Unterlassungsdelikte
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macht zur Vornahme der unterlassenden Handlung (sog. Unterlassungs„vorsatz" in Analogie zum Tatvorsatz). BGH. 19 299; Grünwald, Mayer-Festschr. 281ff.; Baumann, § 26 I; Hardwig, Z. 7427; J es check, Lb. §59 VI2; noch weiter May er, 247: erforderlich sei nicht nur das Bewußtsein der Tatmacht, sondern auch ein Unterlassungsentschluß; dagegen Maurach, AT. § 46 II B2. Dabei wird unter „Bewußtsein der Tatmacht" nicht bloß reflektiertes Bewußtsein verstanden, sondern es genügt Bewußtsein „am Rande", „Mitbewußtsein", das jedoch stets eine irgendwie vorfindbare psychische Tatsächlichkeit sein muß. G r ü n w a l d a. a. 0. S. 294. — Daß diese Ansicht trotz ihrer Erweiterung des Bewußtseinsbegriffes an wenig überzeugende Grenzen kommen muß, zeigt der Fall BGH. 19 295: Ob der Angeklagten der Gedanke, ihren Mann anzuzeigen(!), überhaupt gekommen ist, ist nicht nur zweifelhaft, sondern sogar sehr unwahrscheinlich. Nur wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie „vorsätzlich" unterlassen; wenn ihr dagegen der geplante Raubüberfall ihres Mannes völlig gleichgültig oder sogar höchst erwünscht gewesen und ihr darum der Gedanke an eine Anzeige gar nicht gekommen wäre, wäre sie nach § 138 Abs. l straflos gewesen und hätte schlimmstenfalls wegen „Leichtfertigkeit" bestraft werden können (Abs. 3); vgl. Geilen, JuS. 66 428.
Darum wird man bei Kenntnis der die Handlungspflicht auslösenden Situation es genügen lassen, daß dem Untätigen der Weg zur Realisierung der gebotenen Handlung e r k e n n b a r war (Planungsfähigkeit). Er muß z. B. erkennen können, wie er rechtzeitig Anzeige erstatten oder wirksame Hilfe leisten kann. Vgl. K a u f m a n n , a.a.O. HOff., 148ff., 309Ü.; von Weber-Festschr., 207.
c) die physisch-reale Möglichkeit zur Durchführung der gebotenen Handlung. Der Untätige muß den ihm erkennbaren Weg zum Erreichen des vom Gebot gesteckten Zieles auch tatsächlich beschreiten können; der entwerf bare Handlungsplan muß realisierbar sein. Die Möglichkeit, das Gebot zu erfüllen, ist auch dann gegeben, wenn der Pflichtige zwar nicht persönlich in der Lage ist, die Leistung zu erbringen, sich aber eines — wissenden oder unwissenden, verpflichteten oder nicht verpflichteten — Dritten bedienen kann. Insoweit verlangt das Gebot auch, andere Pflichtige zur Erfüllung ihrer Pflicht anzuhalten, ihnen behilflich zu sein oder mit ihnen gemeinsam die Handlung vorzunehmen. . Die Rechtswidrigkeit
Auch beim Unterlassungsdelikt indiziert die Tatbestandsinäßigkeit die Rechtswidrigkeit. Die Pflicht zum Handeln ist weder ein Tatbestandsmerkmal (so Schönke-Schr., 10. Aufl. §59 III 8; jetzt 14. Aufl. N. 41—46 abw.; Hardwig, GA. 56373; Kielwein, GA. 55230) noch ein spezielles Eechtswidrigkeitselement(so Maurach, AT. § 461); sie tritt vielmehr an keiner Stelle des Deliktsaufbaus in Erscheinung — genausowenig wie die Unterlaseungspflicht im Aufbau des Begehungsdelikts. Die Rechtswidrigkeit kann durch eine entgegenstehende höher- oder gleichwertige Pflicht oder einen sonstigen Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen sein. VgL Kaufmann, a.a.O. 127ff., 306ff.
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Allgemeiner Teü . Die Schuld
Die pflichtwidrige Unterlassung ist schuldhaft, wenn dem Unterlassenden die Handlungspflicht erkennbar und ihre Erfüllung zumutbar ist. 1. Gebotsirrtum liegt vor, wenn der Täter trotz Kenntnis der tatbestandamäßigen Situation sich über die aus ihr ergebende Handlungspflicht (z. B. zur Hilfeleistung oder zur Verbrechensanzeige) irrt. BGH. 2297; 19295 (s. u. §281111). 2. Die Schuld ist ausgeschlossen, wenn dem Verpflichteten nicht zugemutet werden kann, ein ihm nahestehendes geringerwertiges Interesse zu opfern, um die Handlungspflicht zu erfüllen (vgl. § 330 c und BGH. 11135). Dazu Geilen, FamRZ. 64 385; Ulsenheimer, FamRZ. 68 573.
IT. Der sog. Unterlassungsvereuch Er ist nur als untauglicher (fehlgeschlagener) Versuch denkbar (wider Erwarten des untätigen Beamten wird der Gefangene durch einen anderen Beamten am Ent' weichen gehindert, § 347). In Wahrheit handelt es sich um die Unterlassung des Versuchs, die gebotene Handlung vorzunehmen. Beim echten Unterlassungsdelikt wird der sog. Versuch nur selten unter Strafe gestellt, z. B. in § 347 StGB., § 41 Abs. l S. 2 WehrStG.; die Problematik ist dieselbe wie beim unechten Unterlassungedelikt (s. u. § 28 IV). Ein Analogen zu den Versuchstatbeständen im Bereich der Begehungstatbestände enthält bei den Unterlassungen § 330 c (s. u. § 68 I). V. Täterachafteformen und Teilnahme 1. „Unterlassungsmittäterschaft" gibt es nicht (Kaufmann, Unterlassung?» delikte, S. 189; G r ü n w a l d , GA. 69 111; a. A. Maurach, AT. §49 III 2; Roxjn, Täterschaft u. Tatherrschaft, S. 469f.); ebensowenig „mittelbare Unterlassungs·» täterschaft" ( K a u f m a n n , a.a.O. 190; Roxin, a.a.O. 471f.; a. A. Maurapb, AT. § 48 III). Wenn A den B gewaltsam hindert, den Ertrinkenden C zu retten, so ist er nicht „mittelbarer Unterlassungstäter" nach §330 o, sondern unmittelbarer Täter nach §§ 211 ff. 2. Auch A n s t i f t u n g zum Unterlassungsdelikt ist nicht denkbar. Was als „Anstiftung" zum Unterlassen bezeichnet wird, ist in Wahrheit ein „Abstüten" von der Gebotserfüllung, nämlich das Verhindern des Zustandekommens oder der Ausführung des Handlungsentschlusses. Dieses Abhalten eines anderen vom Handeln ist eine Handlung, die nach den Tatbeständen der Begehungsdelikte zu beurteilen ist: Wer bei einem Unglücksfall durch Hingabe eines 100 DM-Scheinpg den Hilfspflichtigen veranlaßt, seinen Rettungsentschluß aufzugeben, ist nicht wegen „Anstiftung zu § 330 c" zu bestrafen, sondern wegen Totschlags oder Mordes (anderenfaUs müßte straflos bleiben, wer einen Rettungswilligen, aber nicht HandlungspfUchtigen zum Unterlassen der Lebensrettung veranlaßt: das wäre „Anstiftung*' zij einer tatbe» standslosen Unterlassung!). Ist der sog. „Anstifter" zum Unterlassungqdelikt selbst handlungspflichtig, so hat er sich außerdem wegen seiner eigenen Unterlassung gu verantworten (s. im einzelnen K a u f m a n n , a.a.O. 100ff,; abw. Roxln, a.a.O. 610ff.; Stree, GA. 63 1; Schönke-Schröder, Vor § 47 N. 103), 3. Ebensowenig ist B e i h i l f e zum Unterlassungedclikt denkbar. Dip gpg, „psychische Beihilfe zum Unterlassen" ist entweder ursächlich für das Niclifatustandekommen des Handlungsentschlusses; dann gilt das zur sog, „Anstiftung" sjum Unter-
§ 28. Die unechten Unterlassungsdelikte
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lassen Gesagte entsprechend. Oder sie ist nichtursächlich für das Nichthandeln des „Haupttäters"; dann hat der sog. „Gehilfe" es unterlassen, den „Haupttäter" zur Vornahme der gebotenen Handlung zu veranlassen; abw. Roxin, a. a. 0.626f.; Stree, GA. 68 Iff.; Schönke-Schröder, Vor § 47 N. 103.
B. Das (sog.) fahrlässige echte Unterlassungsdelikt Die Fahrlässigkeit ist auch bei echten Unterlassungsdelikten vielfach unter Strafe gestellt; so in §§ 223b/230; § 138 Abs. 3 (in der gesteigerten Form der Leichtfertigkeit), in §41WehrStG. und mehrfach im Nebenstraf recht. Wie das fahrlässige Begehungsdelikt erhält auch das fahrlässige Unterlaasungsdelikt seinen entscheidenden Unwertakzent durch den Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche objektive Sorgfalt. Der Sorgfaltsmangel kann in allen Stadien der Erfüllungshandlung auftreten. VgL oben A I 2; K a u f m a n n , a. a. 0. 109ff., 148 ff., 170ff. 1. Mangelnde Sorgfalt bei der A u s f ü h r u n g der gebotenen und richtig geplanten Handlung: Der zur Verbrechensanzeige Verpflichtete will den Bedrohten warnen, wählt aber beim Telefonieren falsch (strafbar, falls leichtfertig: § 138 Abs. 3). 2. Mangelnde Sorgfalt bei der Prüfung der Möglichkeit zur Gebotserfüllung: Der zur Anzeige eines Verbrechensplanes Verpflichtete schickt, statt selbst zu gehen, ein Kind, das die Polizeiwache nicht findet; oder er nimmt — vermeidbar irrend — an, daß überhaupt keine Möglichkeit mehr besteht, rechtzeitig Anzeige zu erstatten. 3. Sorgfaltsmangel bei Beurteilung der tatbestandsmäßigen Situation: Der gemäß §223b Sorgepflichtige rechnet nicht mit dem Eintritt einer Gesundheitsschädigung, obwohl ihm diese erkennbar war. Übereinstimmend Kaufmann, a. a. 0. S. 173,175. — Die Annahme Grünwalds (Mayer-Festschr. 8. 300ff.), Kaufmann fordere auch für das fahrlässige Unterlassungsdelikt stets die Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation, beruht auf einem Mißverständnis; außerdem hat Kaufmann beim fahrlässigen Delikt einen engeren, den Erfolg nicht umfassenden Tatbestandsbegriff (vgl. Z. f. Rechtsvergleichung 1964, S. 41ff.). — Damit entfallen auch die Einwände, die Grünwald insoweit gegen das „Umkehrprinzip" (vgl. o. § 26 II2) erhebt. § 28. Die unechten Unterlassungsdelikte Vorbemerkung: Die dogmatische und die staatsrechtliche Problematik der unechten Unterlassungedelikte 1. Die Tatbestände der Erfolgsdelikte beschreiben ihrem Wortlaut nach fast durchweg nur Rechtsgüterverletzungen durch eine Handlung, nicht auch die Nichtabwendung einer Rechtsgüterverletzung durch Unterlassen. Kann man die Nichtabwendung einer Rechtsgutsverletzung (also etwa die Unterlassung
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der Rettung eines Ertrinkenden) der Herbeiführung dieser Rechtsgutsverletzung (dem Töten) gleichstellen, so daß die erstere aus derselben Strafbestimmung (§ 211 ff.) wie die letztere bestraft werden kann, und unter welchen Voraussetzungen ist das möglich? Diese Frage enthält das entscheidende Problem der unechten Unterlassungsdelikte. Will man die Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte aus einer Umwandlung der Begehungstatbestände entwickeln, so zeigt sich eine empfindliche Lücke der gesetzlichen Tatbestandsbildung. Bei den Begehungstatbeständen ist grundsätzlich jeder, der die Tathandlung vornimmt, Täter des betreff enden Deliktes; er ist der namenlose „Wer" der meisten besonderen Tatbestände. Dagegen kann offensichtlich nicht jede tatmächtige Person, die den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht abwendet, schon dadurch allein als Täter i. S. des betreffenden unechten Unterlassungsdeliktes angesehen werden. Das folgt schon aus der Existenz der echten Unterlassungsdelikte, die bis auf einen geringfügigen Rest überflüssig wären, wenn jede Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges den Unterlassenden als Täter des betreffenden Begehungsdeliktes strafbar machen würde. Vielmehr zeigt das Vorhandensein des § 330 c, daß z. B. derjenige, der bei einem Unglücksfall den drohenden Schaden nicht abwendet, obwohl er es könnte, sich grundsätzlich nur nach §330c, nicht aber nach §§ 211, 223f. strafbar macht (BGH. 3 67; JR. 66 347). Die Nichtabwendung des i. S. eines Begehungsdeliktes tatbestandsmäßigen Erfolges durch eine tatmächtige Person reicht allein niemals zur Täterschaft i. S. des entsprechenden unechten Unterlassungsdelikts aus. Vielmehr muß hier die Täterschaft selbständig neben dem tatbestandlichen Verhalten durch spezielle täterschaftliche Merkmale begründet werden: Nur die Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges durch eine bestimmte tatmächtige Person macht diese Person zum Täter i. S. eines unechten Unterlassungsdeliktes. Die unechten Unterlassungsdelikte sind insofern echte Sonderdelikte. Auch bei diesen reicht das Tatverhalten abgelöst von einem bestimmten Täter nicht aus, um ein strafwürdiges Unrecht zu begründen. So ist z. B. der Verrat anvertrauter fremder Privatgeheimnisse grundsätzlich strafrechtlich irrelevant, aber für den Anwalt, Arzt oder Apotheker ist diese Handlung rechtswidrig (§ 300). Ebenso ist die einfache Unzucht strafrechtlich nicht erheblich, aber für Eltern, Vormünder, Lehrer gegenüber ihren Kindern, Mündeln, Zöglingen ist sie tatbestandsmäßig und rechtswidrig (§ 174). Als Täter kommen hier stets Personen in Frage, die zum verletzten Rechtsgut von vornherein in einer bestimmten nahen Beziehung stehen. In genau der gleichen Weise ist die Nichtabwendung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs für eine tatmächtige Person grundsätzlich strafrechtlich irrelevant (außer in den Fällen der echten Unterlassungsdelikte wie in §§138; 330 c, aber auch hier nur im Rahmen dieser Delikte). Tatbestandsmäßig i. S. eines unechten Unterlassungsdeliktes ist die Nichtabwendung des
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tatbestandsmäßigen Erfolges nur für bestimmte tatmächtige Personen, die zum Rechtsgut von vornherein in einer nahen Beziehung stehen. Die unechten Unterlassungsdelikte teilen also mit den echten Sonderdelikten die tatbestandliche Eigenart, daß die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens erst durch das Hinzutreten besonderer objektiv-täterschaftlicher Merkmale begründet wird. Während aber bei den gesetzlich geregelten echten Sonderdelikten (z. B. §§ 300, 334, 336 u. a. m.) die objektiv-täterschaftlichen Merkmale im gesetzlichen Tatbestand konkret umschrieben sind (z. B. Anwalt, Arzt, Richter usf.), lassen sich durch die Umwandlung der sonstigen Begehungstatbestände in unechte Unterlassungstatbestände in aller Regel keine speziellen täterschaftlichen Merkmale für die Bestimmung des Unterlassungstäters aus den gesetzlichen Tatbeständen gewinnen, da die meisten Begehungsdelikte nur den namenlosen Wer als Täter kennen. Nur in den seltenen Tatbeständen, in denen ausnahmsweise neben der Erfolgsherbeiführung auch die Nichtabwendung des Erfolges aufgeführt ist, wird der Unterlassungstäter durch objektiv täterschaftliche Merkmale konkret umschrieben. So kann der Haftbruch (§§ 121/347) nicht nur durch Beförderung der Befreiung, sondern auch durch Entweichenlassen verwirklicht werden; Täter ist aber nur eine solche Person, die mit der Beaufsichtigung oder Begleitung des Gefangenen beauftragt oder betraut ist. Mißhandlung Wehrloser (§ 223 b) kann auch durch Unterlassen begangen werden, aber nur von einer Person, die den Wehrlosen in Obhut, in seinem Hausstand, in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis u. dgl. hat. Die Verletzung des Post- und Telegrafengeheimnisses kann durch Gestattung der Brief- oder Telegrammeröffnung begangen werden, aber nur durch einen Postbeamten oder eine mit der Beaufsichtigung oder Bedienung des Telegrafen betrauten Person.
Bei den unechten Unterlassungsdelikten muß der Richter die objektiv-täterschaftlichen Merkmale durch Tatbestandsergänzung selbst finden. Aus den gesetzlichen Tatbeständen der Begehungsdelikte kann er nur das tatbestandsmäßige Verhalten (nämlich die Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges) unmittelbar entnehmen, wogegen er die Merkmale des Unterlassungstäters selbst herausarbeiten muß. Die Tatbestände der unechten Unterlassungsdelikte sind darum nur zum Teil gesetzliche, zum Teil dagegen richterlich zu bildende Tatbestände. Hierin liegt die entscheidende Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, sowohl in staatsrechtlicherwie in dogmatischer Beziehung. Der Satz nulla poena sine lege erfährt hier eine tiefgreifende Einschränkung; nur das Täterverhalten, nicht die täterschaftlichen Merkmale sind bei den unechten Unterlassungsdelikten „gesetzlich bestimmt". Aus diesem Grund sind immer wieder verfassungsrechtliche Bedenken gegen die unechten Unterlassungsdelikte geltend gemacht worden (dazu oben §5II4). Dogmatisch folgt aus derLücke der gesetzlichen Tatbestandsbeschreibung für den Richter die Unsicherheit, die ungeschriebenen Tatbestandselemente des Unterlassungstäters mit hinreichender Bestimmtheit zu umschreiben. Diese dogmatische Schwierigkeit liegt nicht etwa in Mängeln eines bestimmW e l z e l , Strafrecht, 11. Aufl.
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ten Gesetzes, sondern in der Natur der Sache. Es ist prinzipiell unmöglich, in gesetzlichen Tatbeständen die unübersehbare Mannigfaltigkeit möglicher Unterlassungstäter erschöpfend und konkret zu umschreiben. Immerhin gibt auch bereits das geltende Recht dem Richter wenigstens tatbestandliche Anhaltspunkte für die Bildung der objektiven Merkmale des Unterlassungstäters. Sowohl aus Tatbeständen, in denen echte Unterlassungsdelikte gesetzlich normiert sind, wie den oben erwähnten §§ 121/347,223 b, 354/355, als auch aus den Tatbeständen der echten Sonderdelikte ergibt sich, daß als Unterlassungstäter nur eine solche tatmächtige Person in Frage kommt, die zu dem bedrohten Rechtsgut in einer engen Beziehung steht, aus der heraus sie für das betreffende Rechtsgut zu sorgen hat, wie z. B. der Anwalt für die Interessen seiner Klienten, der Vormund für das Mündel, der Aufseher für die Aufrechterhaltung der Haft usf. Diese gesetzlichen Anhaltspunkte mildern die dogmatische und staatsrechtliche Problematik der unechten Unterlassungsdelikte. Aus dem geschriebenen Recht folgt, daß als Unterlassungstäter nur eine solche tatmächtige Person in Betracht kommt, die mit dem bedrohten Rechtsgut durch ein enges und spezielles Lebensverhältnis verbunden ist, aus dem heraus diese Person der „Garant" für die Unversehrtheit des Rechtsguts ist. Unterlassungstäter ist nur derjenige, der eine tatsächliche Garantenstellung gegenüber dem bedrohten Rechtsgut innehat und in dieser Stellung den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht abwendet, obwohl er dies könnte. Demgemäß macht sich der Bademeister, der einen Ertrinkenden in seiner Anstalt vorsätzlich oder fahrlässig nicht rettet, wegen Verletzung einer Garantenpflicht zur Lebensrettung (aus tatsächlicher Übernahme der vertraglichen Pflicht — s. unten A 14 a —·) gemäß §§ 211/2 oder § 222 strafbar, während ein Spaziergänger, der einem Ertrinkenden die ihm mögliche Hufe nicht leistet, nur aus § 330 c strafbar ist, da er keine Garantenstellung zum bedrohten Rechtsgut hat. Zur verfassungsrechtlichen Problematik vgL weiter Kaufmann, Unterlassungsdelikte 280ff.; ders., JuS. 61173; Böhm, JuS. 61177; Busch, v. Weber-Festschr., 192ft; Engisch, JZ. 62192; Grünwald, Z. 70 412. 2. Die Umwandlung der Begehungsdelikte in Garantenpflichtverletzungen schafft neue Tatbestände, Gebotstatbestände, die dogmatisch selbständig neben den entsprechenden Verbotstatbeständen stehen, verbunden mit diesen durch die Gemeinsamkeit des Schutzgutes und des Strafrahmens. Die unechten Unterlassungsdelikte sind deshalb nicht nur ontologisch echte Fälle des Unterlassene, sondern sie folgen auch dogmatisch den besonderen Regeln des Unterlassungsdeliktes (Kaufmann, a.a.O. S. 252ff., 274f.). Dagegen versuchen h. M. und Rechtsprechung, die Problematik des unechten Unterlassungsdelikts dadurch zu lösen, daß sie es auch dogmatisch dem Begehungsdelikt einverleiben und als dessen Unterfall betrachten. Fast 200 Jahre lang hat man die Lösung des Problems in der Kausalität gesucht. Beling und M. E. Mayer sahen in der Erfolgsabwendungspflicht eine Frage
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der Rechtswidrigkeit des Begehungsdelikts. Die heute herrschende, von Nagler (GS. 1111) begründete Tatbestandslösung hält die Garantenstellung für ein zusätzliches, ungeschriebenes Merkmal des Begehungstatbestandes. Wenn aber die unechte Unterlassung ein zusätzliches Merkmal auf weisen muß, um tatbestandsmäßig zu sein, dann ist der in Bezug genommene Tatbestand eben ein anderer, nicht der des Begehungsdelikts: ein Garantengebotstatbestand. Es bleibt jedoch das Verdienst N agier s, den Sitz des Problems in der Tatbestandsmäßigkeit, und zwar in der Garantenstellung des Unterlassenden, aufgedeckt zu haben, wenn er auch noch verkannte, daß der Standort innerhalb des Tatbestands nicht in der Tatbestandshandlung (so GS. 111 51), sondern in dem täterschaftlichen Merkmal liegt und daß es sich nicht um den Verb o tstatbestand, sondern um einen speziellen Gebotstatbestand handelt. Kaufmann, a.a.O. S. 2610.; JuS. 61175; Grünwald, Z. 70412; Busch, v. Weber-Festschr. 192; abw. Böhm, JuS. 61178; Engisch, JZ. 62192; SchönkeSchröder, Vor§lN85. Gegen die von H. Mayer, 111 ff., entwickelte Theorie der Unterlassungsdelikte siehe die 4. Aufl. S. 161 und Kaufmann a. a. 0. 8. 269ff. Bedeutsam bleiben jedoch Mayers verfassungsrechtliche Bedenken (die auch seine Theorie nicht behebtl). Über die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte im deutschen und aus· ländischen Strafrecht vgl. Jescheck, Z. 77 109.
A. Das (sog.) vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt I. Der Tatbestand
Der Tatbestandsaufbau des unechten Unterlassungsdeliktes stimmt mit demjenigen des echten überein (s. o. § 27 I). Seine besondere Prägung erhält er durch das täterschaftliche Merkmal der Garantenstellung. 1. Die tatbestandsmäßige Situation. Sie besteht im Eintritt einer Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung, d. h. im Eintritt des i. S. eines Begehungsdelikts tatbestandsmäßigen Erfolges, also des Todes, der Körperbeschädigung, der Freiheitsentziehung, des Brandes usw. (§§ 211ff., 223ff., 239, 306ff.). Der Erfolg kann auch in einer qualifizierten Rechtsgutsverletzung bestehen, z. B. in der schweren Folge der §§ 224f. oder in einer sich in grausamer oder gemeingefährlicher Weise vollziehenden Todesverursachung, § 211. 2. Die Nichtvornahme einer Handlung mit Erfolgsabwendungstendenz. An diesem negativ gefaßten Tatbestandserfordernis fehlt es, wenn der Garant sich ernstlich bemüht hat, den Erfolgseintritt zu verhindern (Handeln mit ErfolgsabWendungstendenz; s. o. § 27 I 2). 14*
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Ein solcher Versuch, den Erfolg abzuwenden, kommt dem Unterlassenden auch dann zugute, wenn das Fehlschlagen vermeidbar war; in diesen Fällen ist Fahrlässigkeit in Betracht zu ziehen. Die Fehlleistung kann beruhen auf einem falschen Einsatz der Rettungsmittel (der Rettungswillige bringt das Boot durch Ungeschicklichkeit zum Kentern) oder auf einem Irrtum bei der Tatplanung und Mittelauswahl (der Nichtschwimmer hält das seichte Wasser, in dem ein Kind ertrinkt, für zu tief; der Bademeister hält es für ausreichend, dem Ertrinkenden einen Rettungsring zuzuwerfen.^statt selbst nachzuspringen). VgL Kaufmann, a. a. 0. S. 109ff., 133f.. 310. 3. Die finale Tatmacht (die Fähigkeit zur Erfolgsabwendung). Im einzelnen setzt die Fähigkeit zur final gesteuerten Erfolgsabwendung voraus (s.o. §261 u. §2713): a) Die Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation, d. h. des drohenden Erfolgseintritts. Kechnen mit dem Eintreten des Erfolges genügt; Kennenmüssen reicht nicht aus. fc^b) Die E r k e n n b a r k e i t des Weges zur E r f o l g s a b w e n d u n g (Fähigkeit zum Planen der Erfolgsabwendung). Der Untätige muß die Wege und Mittel zur Kettung des bedrohten Rechtsgutes erkennen können. Darüber hinaus fordert die herrschende Lehre ein — wenn auch nur am Rande liegendes — Bewußtsein von der Tatmacht; vgl. dazu oben § 27 13b. Zu dem von Grünwald, Mayer-Festschr. S. 293 angeführten Beispiel s. Vorauü.;S. 205.
c) Die physisch-reale Möglichkeit der Erfolgsabwendung. Hierfür ist ein hypothetisches Kausalurteil darüber abzugeben, ob die betreffende Person durch ihr Tätigwerden den Erfolg hätte abwenden können. Da dieses Urteil keine Realität, sondern nur eine Möglichkeit betrifft, kann es meist nur Wahrscheinlichkeitswerte erbringen. Dabei kann die Nichtabwendung des Erfolgs n e b e n w e i t e r e n Voraussetzungen nur dann der Erfolgsherbeiführung gleichgestellt werden, wenn sich mit einer praktisch an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit voraussagen läßt, daß der Erfolg durch Vornahme der unterlassenen Handlung verhindert worden wäre. Die Nichtabwendung des Erfolges durch eine Unterlassung liegt also nur dann vor, wenn die Vornahme der unterlassenen Handlung den Erfolg mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte (RG. 75 49, 372; unzutreffend RG. 75 324). Die Praxis benutzt hierfür folgende heuristische Kausalformel: „Der Unterlassungstäter hat den Erfolg dann nicht abgewendet, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele" (RG. 75 50). Der Unterlassungstäter wird nicht dafür bestraft, daß er den tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht, sondern dafür, daß er ihn nicht abgewendet hat. Die schon gerügte Verwechslung der Unterlassung mit der Handlung und die Identifizierung mit dieser haben die Strafrechtswissenschaft fast zwei Jahrhunderte lang nach dem Phantom
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einer Kausalität der Unterlassung jagen lassen, welche der Kausalität der Handlung entsprechensollte. Die Unterlassung als Nichtvomahme einer Handlung verursacht schlechterdings nichts. Die einzige legitime Frage innerhalb der Unterlassungsdelikte geht dahin, ob die Vornahme der unterlassenen Handlung den Erfolg abgewendet hätte. 4. Das t ä t e r s c h a f t l i c h e Merkmal: die G a r a n t e n s t e l l u n g des Unterlassenden zum verletzten Rechtsgut (der außergesetzliche, vom Richter zu bildende Tatbestandsteil). a) Die Garantenstellung enthält die entscheidenden täterschaftlichen Elemente, die denjenigen, der einen tatbestandsmäßigen Erfolg abzuwenden unterläßt, zum Unterlassungstäters i. S. des dem Begehungsdelikt gleichgestellten Garantengebotstatbestandes macht. Diese Garantenstellung ist ein enges und spezielles Lebensverhältnis naher Verbundenheit mit dem verletzten Rechtsgut. Rechtslehre und Rechtsprechung haben in jahrhundertelanger Arbeit folgende Arten der Garantenstellung herausgearbeitet. a) Eine Garantenstellung kann unmittelbar in einem Rechtssatz anerkannt sein, so vor allem in den Rechtsinstitutionen der Ehe, Familie, elterlichen Gewalt, Vaterschaft usf. Hieraus ergeben sich Garantenrecht s pflichten i. e. 8.; zu ihnen gehören vor allem die durch das BGB. begründeten familienrechtlichen Pflichten der §§ 1353,1601,1626,1631,1705,1707,1800 BGB. Anfangs hatten Rechtsprechung und -lehre vornehmlich an solche gesetzlich positivierte Regelungen angeknüpft, vor allem die frühe Judikatur des Reichsgerichts (vgl. RG. 39 397). Doch sind die im Gesetz ausdrücklich aufgeführten Pflichten nur Ausschnitte aus einem dahinterstehenden, umfassenderen Pflichtenkreis. So darf etwa die strafrechtliche Garantenpflicht zur Lebensrettung mit der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflicht nicht identifiziert werden (vgl. BGH. 19 167). Auf der anderen Seite droht durch die „Entpositivierung" der Handlungspflichten die Scheidung zwischen einer nur sozialethischen und einer auch rechtlich verfestigten Pflicht verloren zu gehen; die alte, formale Rechtspflichtbegründung wird in wachsendem Umfange durch die Figur der „engen Lebensgemeinschaft" ersetzt (vgl. dazu unten ). Auch wenn man nicht mehr zu dem ursprünglich engen Ausgangspunkt einer im Gesetz ausdrücklich formulierten Rechtspflicht zurückkehren kann, so muß man doch die rechtliche Verfestigung der Garantenpflicht verlangen; d. h. die Garantenhaftung muß sich aus dem Gesetz, wenn auch nicht unmittelbar ablesen, so doch jedenfalls nachweisen lassen. Vgl. dazu Nowakowski, JZ. 58 381; Kohlrausch-Lange, Vorbem. IIB II 3e; Geilen, FamRZ. 61 152 und 64 389; Blei, Mayer-Festschr. S. 166ff.; Bärwinkel, Z. Struktur d. Garantieverhältnisse bei d. unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 134ff. ) Der wichtigste Unterfall der ersten Garantengruppe ist die Schutzund Beistandspflicht unter nahen Verwandten, wobei der Pflichteninhalt nach der Verwandtschaftsbeziehung variiert. Am weitesten geht sie bei den ehelichen Eltern: Sie umfaßt nicht nur die Fürsorge für Leib und Leben (BGH. 7 272), sondern — gegenüber Minderjährigen — auch die Fürsorge für Vermögen und Wohlverhalten, also auch die Verhinderung strafbarer oder schadenstiftender Handlungen (Schönke-Schröder, Vorb. 88). Dagegen be-
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schränkt sich sonst die Garantenpflicht unter nahen Verwandten auf die Abwendung einer Gefahr für Leib oder Leben, allerdings hier auch wechselseitig; vgl. BGH. 19165 (Garantenpflicht des Sohnes zur Rettung des Vaters; dazu Geilen, FamRZ. 64385; Schröder, JR. 64227). In dieser Richtung auf Rettung von Leib oder Leben ist auch die Garantenpflicht des Ehegatten unproblematisch (vgl. § 1353 BGB.; RG. HRR. 33 Nr. 1624; RG. 71187 (189); BGH. 2150; BSozG. FamRZ. 58 27). Bedenklich ist dagegen die weitergehende Rechtsprechung, die den Ehegatten zum Garanten für die Verhinderung von Straftaten des anderen Ehegatten macht (vgl. RG. 74 285; BGH. NJW. 63 591; 641818; FamRZ. 66 81; GA. 67 115; Bremen NJW. 67 73; offen gelassen in BGH. NJW. 641330; dazu Geilen, FamRZ. 61157; abw. Bärwinkel, S. 154ff.). Unter besonderen Umständen kann die Garantenstellung erweitert sein: so bei Geisteskrankheit des Ehegatten (vgl. RGZ. 70 48; BGH. FamRZ. 61115. — Bedenklich ist umgekehrt die Einschränkung der Garantenrechtspflicht im Falle der Ehezerrüttung oder der tatsächlichen Trennung; vgl. BGH. 6322; 7278, dazu kritisch Geilen, FamRZ. 61148; 64 390; s. dazu unten