Recht - Wirtschaft - Kultur: Herausforderungen an Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung. Festschrift für Hans Hablitzel zum 60. Geburtstag [1 ed.] 9783428517473, 9783428117475

Prof. Dr. iur. utr. Dr. phil. Hans Hablitzel, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr, I

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German Pages 379 Year 2005

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Recht - Wirtschaft - Kultur: Herausforderungen an Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung. Festschrift für Hans Hablitzel zum 60. Geburtstag [1 ed.]
 9783428517473, 9783428117475

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Wollenschläger/Kreßel/Egger

(Hrsg.)

Recht - Wirtschaft - Kultur

Recht - Wirtschaft - Kultur Herausforderungen an Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung Festschrift für Hans Hablitzel zum 60. Geburtstag

Herausgegeben von

Michael Wollenschläger Eckhard Kreßel Johann Egger

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-11747-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @ Internet: http://www.duncker-humblot.de

„... Le cose tutte quante hann'ordine tra loro; e questo ё forma che l'universo a Dio fa simigliante. Qui veggion Г alte creature Гогта delVeterno valore, il quale e fine al quale e fatta la toccata norma. NelVordine ch'io dico sono accline tutte nature , per diverse sorti piü al principio loro e men vicine;" Dante Alighieri, La Divina Commedia, Paradiso, Canto primo

Zum Geleit Dr. iur. utr. Dr. phil. Hans Hablitzel, Professor an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt und Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie, vollendet am 20. April 2005 das 60. Lebensjahr. Freunde und Kollegen gratulieren mit dieser Festschrift dem Jubilar, der in seinem weit gespannten Wirken stets Theorie und Praxis, Philosophie und Jurisprudenz, Wirtschaft und Ethik zu verbinden suchte und sucht. Hans Hablitzel hat Grundsätzliches für die Jurisprudenz geleistet. Mit seinen Studien zu den öffentlich-rechtlichen Willenserklärungen von Privaten hat er nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zum Staat beleuchtet, sondern auch im Anschluss an seinen Lehrer, den Würzburger Ordinarius Prof. Dr. Günther Küchenhoff (1907-1983), einen wichtigen Beitrag zur Dogmatik des Verwaltungsrechts geliefert. Wiederum anknüpfend an Günther Küchenhoff hat er mit seinen Untersuchungen zum Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip im Völker-, Staats- und Verfassungsrecht sowie im Arbeits- und im Europarecht dazu beigetragen, sozialethischen Prinzipien rechtliche Dimensionen zu verleihen. Dem Verhältnis von Tarif- und Betriebsautonomie und damit dem Spannungsverhältnis von Kollektivgewalt und Individualwillen im Arbeitsrecht galt und gilt sein besonderes Augenmerk. Die staats- und verfassungsrechtlichen Arbeiten wie auch seine Überlegungen zum nationalen und europäischen Bildungsrecht weisen ihn als überzeugten Föderalisten aus, der den freiheitssichernden Charakter bundesstaatlicher Strukturen ebenso betont wie die staatsbegrenzende Funktion individueller Freiheitsrechte. Die philosophischen Interessen des Jubilars gelten vor allem der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts, in Besonderheit Jean-Marie Guyau (1854-1888),

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Zum Geleit

dem „französischen Nietzsche", dessen Werk „La Genese de Γ Idee de temps" er dem deutschen Sprachraum erschließen half. Die wissenschaftsgeschichtlichen Studien von Hans Hablitzel befassen sich mit dem Begründer der Keltologie und Historiker Johann Kaspar Zeuss (1806-1856) und dem Begründer der Kartographiegeschichte Konrad Miller (1844-1933). Zahlreiche Rezensionen und historische Artikel runden das weit verzweigte Schaffen des Jubilars ab, das auf einen „homme de lettres" hindeutet, der sich nie auf das „Juristische" einengen ließ. Hans Hablitzel wurde am 20. April 1945 in Kronach/Oberfranken als Sohn des Dipl.-Ing. Hans Hablitzel und dessen Ehefrau Dorothea, geb. Haun, geboren. Nach dem Besuch der Lucas-Cranach-Volksschule in Kronach (1951-1955) und des Kaspar-Zeuss-Gymnasiums in Kronach (1955-1964), wo er im Jahre 1964 das Abitur ablegte, folgte das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Philosophie an den Universitäten Würzburg, Tübingen, Heidelberg und Bonn. Dem mit Prädikat nach acht Semestern abgelegten Ersten Juristischen Staatsexamen schlossen sich ab 1969 Referendardienst, wissenschaftliche Assistentenzeit bei Prof. Dr. Günther Küchenhoff, Universität Würzburg, und schließlich im Jahre 1970 die Promotion durch die Juristische Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit einer Abhandlung zum Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung zum Dr.iur.utr. an. Der ebenfalls mit Prädikat vor dem Landesjustizprüfungsamt München abgelegten Zweiten Juristischen Staatsprüfung folgte im Jahre 1972 der Eintritt in das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr. Schon 1973 wurde er als damals jüngster Ministerialreferatsleiter zum Vertreter des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr beim Bayerischen Staatsminister für Bundesangelegenheiten und Bevollmächtigten des Freistaates Bayern beim Bund in Bonn berufen. Weitere Stationen seiner Ministerialtätigkeit waren als Referatsleiter die Bayerische Staatskanzlei und wiederum das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie. Im Jahre 1987 wurde er durch die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit einer Arbeit über den französischen Philosophen Jean-Marie Guy au zum Dr. phil. promoviert. Hans Hablitzel ist es gelungen, den anspruchsvollen Ministerialdienst und seine vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten mit großem Gewinn für beide Bereiche zu verbinden. Nach langjähriger Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde er im Jahre 1993 zum Honorarprofessor für Arbeitsrecht und Kulturverwaltungsrecht bestellt - ein Amt, das er mit Begeisterung und hohem Verantwortungsbewusstsein wahrnimmt. Die wissenschaftlichen Aktivitäten und das weit gespannte Engagement des Jubilars sind ungebrochen und versprechen weiter reichen Ertrag. Mit der Thematik der vorliegenden Festschrift soll nicht nur sein breit gefächertes juristi-

Zum Geleit

sches und ideengeschichtlich interdisziplinär angelegtes Wirken gewürdigt werden, sondern auch auf sein Bemühen hingewiesen werden, vor dem Hintergrund des europäischen Bildungskanons die kulturelle Einheit Europas zu betonen. Auf die gegenseitige Bedingung und Bedingtheit von Staat, Kultur und Religion, ganz im Sinne von Jacob Burckhardt, hat er immer wieder hingewiesen. Die Beiträge der Festschrift sind nicht in eine an die Themenvorgabe feste Gliederung eingepasst, was vom Umfang her zu unterschiedlichen Abschnitten geführt hätte, sondern in alphabetischer Reihenfolge aneinandergereiht. Dies bereitet der Überschaubarkeit und Zuordnung der Beiträge aber keinen Abbruch. Herausgeber und Autoren wünschen dem liebenswürdigen und hilfsbereiten Jubilar noch viele Jahre guter Gesundheit, ungebrochener Schaffenskraft und Lebensfreude. Würzburg und Innsbruck, den 20. April 2005

Michael Wollenschläger Eckhard Kreßel Johann Egger

Inhaltsverzeichnis English as an International Language By Rüdiger Ahrens

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Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e IV GG im Bereich des Schienenpersonenfernverkehrs Von Rainer Arnold 33 Verfassungssystematische und verfassungspolitische Überlegungen zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union Von Siegfried Broß

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Technische Sicherheit, menschliche Zuverlässigkeit und juristische Bewertung Von Heiner Bubb

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The Reception of Johann Kaspar Zeuss's Grammatica Celtica in Ireland and Britain, and on the Continent: Some New Evidence By Däibhi О Croinin 83 Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU Von Johann Egger

95

Freude am Eigenen. Zur aristotelischen Begründung des Privateigentums aus der recht verstandenen Selbstliebe Von Reto Luzius Fetz 119 Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in der gemeindlichen Bauleitplanung in Bayern Von Herbert von Golitschek 137 Россия и Глобализация (Russland und Globalisierung) А. H. Голубев (von Alexander Goloubev)

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Zwischen Heimat und Welt. Positionen der Volkskunde/Europäischen Ethnologie als Kulturwissenschaft Von Klaus Guth 163 Verfassungsauslegung und meta-konstitutionelle Interpretationsreserven Von Matthias Herdegen

177

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus („Elagabal") Von Manfred Just

185

Zum Versicherungsschutz von Künstlern in der gesetzlichen Unfallversicherung Von Otto Ernst Krasney

211

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Inhaltsverzeichnis

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität. Seine Bedeutung im geltenden Gemeinschaftsrecht und seine Entwicklungsperspektiven in einer Europäischen Verfassung Von Helmut Lecheler 225 Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie Von Erich Poppe

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El problema cosmopolita de la Repüblica universal De Jordi Riba

251

Vertreibung und Aussiedlung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten Von Andrzej Sakson 261 Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung von Johann Caspar Zeuss „Grammatica Celtica" (1853) und Rudolf Thurneysen „Handbuch des Altirischen" (1909) Von Karl Horst Schmidt 277 Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"? Von Otto Schober

293

Asyl und EU-Erweiterung. Eine Modellstudie der komplexen Relation zwischen Österreich und Ungarn Von Peter Stiegnitz 309 Die Rolle der nationalen Parlamente in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union Von Albrecht Weber 325 Die Vorstellungen des Würzburger Weihbischofs Gregor Zirkel (1762-1817) zur Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der Säkularisation Von Wolfgang Weiß 335 Integratives Denken und die Eigenständigkeit von Systemen Von Karl-Friedrich Wessel

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Schriftenverzeichnis von Hans Hablitzel

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Autorenverzeichnis

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English as an International Language By Rüdiger Ahrens I. English as a World Language The spread of English around the world began with the pioneering voyages to America, Asia, and the southern parts of the world. In 1582, Richard Mulcaster wrote in his The First Part of the Elementarie which entreateth chefelie of the right writing of our English tung: It [the English tongue] is of small reatch, it stretcheth no further than this Island of ours, naie not there ouer all [...] But our state is no Empire to hope to enlarge it by commanding ouer cuntries [...] Tho it be neither large in possession, nor in present hope of great encrease, yet where it rules, it can make good lawes [.. .].* According to Peter Strevens, Mulcaster's characterization of the English language falls into the first period, when English was practically confined to England. He calls the time-span between 1350 and 1600, i.e. from Chaucer to Shakespeare, the "founding and consolidating phase."2 During these years English grammar evolved and was stabilized through Gutenberg's invention of the printing press and through the introduction of organized public education. Also the English language became an import and export article borrowing from French, Latin, Italian, etc. and also anglicizing continental languages. The second phase (1600-1750) is called the adventurer's period when English was spread over the globe by buccaneers, traders and settlers. This is true for the settlements in North America, where Jamestown on the shores of Virginia was founded in 1607. In the subsequent decades thousands of English settlers flooded into Maine, New Hampshire, Massachusetts, and Connecticut. Due to the social hardships in their homeland many Englishmen also flocked to the Caribbean islands (Barbados, St. Christopher, Antigua) or to Central America (Honduras) where they began to cultivate sugar cane. Winston Churchill writes in his History of the English-Speaking Peoples : 1 Cf. R. Mulcaster, The First Part of the Elementarie. London, repr. Menston, 1970, p. 256. Cf. M. Polifke, Richard Mulcasters Elementarie. Eine kultur- und sprachpolitische Untersuchung. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999. 2 P. Strevens, "World English and the World's Englishes - or whose language is it anyway?" in: The Royal Society for the Encouragement of Arts Manufacturers and Commerce Journal, vol. 130, No. 5311 (1982), 418-431, 426.

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Piecemeal and from many motives the English-speaking communities in North America were founded. For there were troubles in England. People reduced to beggary and vagabondage were many, and new outlets were wanted for the nation's energies and resources.3 In Africa, Gambia was the first English settlement established in 1651. Gibraltar has been under English rule since 1704. These English settlers and adventurers brought vast numbers of borrowings into the language as a result of their isolation, their linguistic needs, and their overseas contacts with the native population. According to Peter Strevens these settlements developed into independent colonies during the years 1750 to 1900, which is the third phase when large populations of native speakers of English outside Britain expanded. Some of these populations, notably the newly independent United States, then Australia, Canada and New Zealand, found it important to stress their innovations in the language and to be proud of the differences from British Isles English. At the same time they strove to maintain an essential mutual intelligibility. As these new nations also relied upon immigrants from other countries, this became the period when learning English as a foreign language (EFL) first came into being in America, India and other colonies. The effect of consolidating the diaspora of English and of establishing homogeneous populations of many tens of millions of speakers of English as their mother tongue was a major advancement. The fourth phase, 1900-1950, witnesses the introduction of English as a second language in the educational and social systems of the colonies, together with the beginnings of effective teaching of English as a foreign language, in Europe and elsewhere. For the first time the English language was linked with several cultures outside even the British-based or American-based native speaker cultures. This period, according to Peter Strevens, was superseded by a fifth one, which saw the cultural independence of the former colonies from 1950 to the present day. These countries, first in Asia and then in Africa, faced a need for an English essentially different from the purposes for which English had been used in those same countries in colonial times. Now they required English not as a link with the British Isles or even less as a pathway to studying English literature, but for instrumental purposes and activities, above all for international trade and communication. In some countries the post-colonial expansion of English teaching, particularly beginning in primary schools, led to a diminished presence for the local languages and cultures. Out of this situation there arose a reaction against English, whose place became more and more limited.

3 W. Churchill , A History of the English-Speaking Peoples, Vol. 2, The New World. London, 1956, p. 128.

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The development of English was reduced to a zero cultural valency which restricted it only to the economic and technological sector. With a view to this historical development of English we might ask ourselves whether English as an international means of communication has a future or whether its diversity might bring about a decline similar to that of Latin, which during the Middle Ages disintegrated in a very slow process into many dialects and different tongues like Spanish, French, Italian and Rumanian. Peter Strevens very strongly believes in the subsistence of English as an international lingua franca , a view which is underlined by three points:4 Firstly, he confirms that it is in the nature of all languages to exist in numerous forms. If we look at French, Arabic, Chinese or German for that matter, we very soon realize that for communities of speakers of a language some varieties of that same language are unintelligible. Secondly, what is required in these days is a dialogical competence of the individual speaker of English, i.e. that he or she should understand and be understood by those he encounters and needs to communicate with. An individual speaker when joining a new social group with a different form of English will almost certainly adapt his own English to the changed needs. Sometimes, however, the process might also end in a failure. Thirdly, English is one of the many languages with a standard dialect, which will be discussed later in this essay. The dialect which we call Standard English is spoken in any and just about every accent. The variety of Standard English incorporates a grammar and a vocabulary which can be mastered everywhere, above all by educated English users. A preliminary conclusion to be made from these deliberations might be that English at the present time does not belong exclusively to one nation, community or individual. A native speaker of English has no special claim to his language but shares it with many speakers all around the globe. The fact of being born a native speaker of English does not bestow any moral virtue on the individual concerned. This point of view is in complete opposition to that of Dorothy Sayers, who in 1936 wrote: The birthright of the English is the richest, noblest, most flexible and sensitive language ever written or spoken since the age of Pericles. Every day sees it sold, not only to Brother Jack and Brother Paddy, and young Brother Jonathan, but to the sob-sisters of Fleet Street, to the aged and doddering Mother of Parliament, to the wicked Uncles of the B.B.C., to the governors, teachers, spiritual pastors and masters of the Board of Education, and to all the myopic old women of both sexes who cannot tell a purposeful hawk from an ill-regulated handsaw. And a nice mess they make of it among them; which mess we greedily and gratefully gulp down.5 4

P. Strevens, loc. с it., p. 427. D. L. Sayers, "The English Language" (1936), in: Unpopular Opinions. London: Gollancz, 1946, 89-97, 89. Cf. Rüdiger Ahrens, "The International Development of English and Cross-cultural Competence", in: R. Ahrens and H. Antor, eds., Text-Cul5

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This opinion, however, can no longer stand the test of time. English is not only the language of Shakespeare, Milton or Dickens, but it is also the language of Nadine Mortimer, Chinua Achebe, Salman Rushdie, Herman Melville and V. S. Naipaul. It is the language of e.e. cummings and Margaret Atwood and of one billion living human beings who do not possess English as their mother tongue. English is not just the language of the English in the sense in which the Japanese language belongs to the Japanese, but it is the language of the world. The English language is truly a world possession. IL The Spread of English The present-day world status of English is primarily the result of two factors: The expansion of British colonial power, which peaked towards the end of the 19 th century, and the emergence of the United States as the leading economic and military power of the 20 t h century. 6 England and the U.S.A. comprise about 70% of all native speakers of English - much to the discomfiture of many Britons who regret the loss of historical linguistic pre-eminence. But it is true that the U.S.A. contains nearly four times as many English mother tongue speakers (EMT) as the U.K. Such dominance gives the Americans a controlling interest in the way the English language is going to develop. This can be proved by the prevailing youth and media culture, but also by the political and economic developments. According to David Crystal the following reasons account for the spread of English as an international lingua franca'? 1. Historical reasons: Because of the legacy of British or American imperialism, the country's main institutions may carry out their proceedings in English. These include governing bodies (e.g. parliament) or courts, national religious bodies, educational institutions along with their related publications. 2. Internal political reasons: Here English may have a role in providing a neutral means of communication between its different ethnic groups. A variety of English may also become a symbol of national unity or emerging nationhood. The same can be true for English in newspapers, or on radio or television. ture-Reception. Cross-cultural Aspects of English Studies. Heidelberg: C. Winter Universitätsverlag, 1992, 3-23. 6 Cf. D. Crystal , The Cambridge Encyclopedia of the English Language. Cambridge: UP, 1995, p. 106. 7 Cf. D. Crystal ibid. Cf. K. Hansen, "British English and International English Two Debatable Terms", in: E. Schneider , ed. Englishes Around the World, 2 vols, Vol. 1. Amsterdam: Benjamins, 1997, 59-69.

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3. External economic reasons: The dominant economic position of the U.S.A. acts as a magnet for international business and trade. Therefore organizations wishing to develop international markets are under pressure to work with English. Above all tourist agencies and advertising depend on English as do many multinational companies. 4. Practical reasons: International air traffic control is in English. So are international maritime, policing and emergency services. English is also the chief language of international business and academic conferences. 5. Intellectual reasons: Most scientific, technological and academic information is provided in the English language. Over 80% of all the information stored in electronic retrieval systems is in English. Access to the philosophical, literary, cultural and religious heritage is given either directly or through the medium of an English translation. Such authors as Goethe or Dante are accessible to readers world-wide not in their original language but only through English translations. English has taken over the role of Latin in Western Europe and other parts of the world. 6. Entertainment reasons: Popular music is presented mainly in the English language which permeates all areas of culture. It is also the main language of satellite broadcasting, personal computers and video games. Sometimes people think that English has achieved its world-wide status because of its intrinsic linguistic features, e.g. that it is a more logical or more beautiful language than all others, easier to pronounce, simpler in grammatical structure or larger in vocabulary. But one must be conscious of the fact that there are no objective standards of logic or beauty for the comparison of different languages. Questions of phonetic, grammatical, or lexical complexity can never be answered in a simple way. To show the arbitrariness of such judgements one could quote Emperor Charles V (1500-58), King of Spain (known there as Charles I) who reportedly said that he spoke Spanish to God, Italian to women, French to men and German to his horse.8 English is now the predominant official language in over 60 countries and is represented in every continent and in the three major oceans Atlantic, Indian and Pacific. With such a spread, it is difficult to generalize about the range of social functions with which English has come to be identified. The problem is not so much in relation to those countries where English is the first language, or where by definition it is available for all communications situations, but for those where it has a status as a second foreign language, and where its role is

8

Cf. Th. Berchem, "If only we had the words, we would not need weapons" "Deliberations on a European Language Policy", in: Rüdiger Ahrens , ed., Europäische Sprachenpolitik - European Language Policy, Heidelberg: Winter, 2003, 23-32, 23.

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often defined by a conscious process of language planning, and not by the natural course of linguistic evolution. In order to differentiate the various sections of English, whether global, glocal or international, it has become customary to go back to the visualized three circles first mentioned by Braj Kachru, which have proved to be a very good illustration of the functions of English on a global scale.9 These three concentric circles which represent different ways in which the English language has been acquired or is currently used, are the following: 1. The inner circle: It refers to the traditional basis of English, where it is used as a primary language. It includes the United Kingdom, the U.S.A., Canada, Australia, Ireland and New Zealand. As Anne Pakir writes, it has been the leading light for 'global English' and set the standard in many ways for all varieties, but it loses its validity: Already dictionaries, the hallmark of establishment acceptance, produced by Inner Circle publishing companies, have begun to accept new words contributed by Outer and Expanding Circle users. The de-standardization process is accelerating at a pace that has already transformed the ways that corpora are collected. For example, in the world's bank of English, international corpora of computerized English are being deposited from around the world. 10 Although these countries consider English to be their mother tongue, English does not fulfil this function a hundred percent, as the following survey shows:11 Great Britain 98% Ireland 97% Australia 91% 86% U.S.A. Canada 88% The countries of the inner circle have about 400 million speakers. 2. The outer circle: It involves the earlier phases of the spread of English in non-native settings. Here English is used as a second or official language which dominates the native dialects as in India, Singapore, Sri Lanka, Malawi, South Africa, Tanzania, Ghana, and over 50 other territories (ESL). The English language has become part of a country's chief institutions and plays an important second language role in a multilingual setting. The func9 Braj B. Kachru , The Alchemy of English. The Spread, Functions and Models of Non-Native Englishes. London: Pergamon, 1986. Cf. also Anne Pakir: "Which English? The Nativization of English and the Negotiations of Language Choice in Southeast Asia," in: R. Ahrens et al, Anglophone Cultures in Southeast Asia. Appropriations, Continuities, Contexts. Heidelberg: Winter, 2003, 73-84, 76 f. 10 A. Pakir, op. cit., 76. 11 Cf. J. A. Fisherman et al., The Spread of English: The Sociology of English as an Additional Language. Rowley/Mass., 1977, 57.

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tion is visible in more than 30 other countries, which nowadays are still part of the Commonwealth of Nations. In all these countries, English serves as a real lingua franca , which is described by Peter Strevens in the case of India with more than 1600 languages and dialects: The best-known example is on the Indian sub-continent, where the immense system of railways, and the posts and telegraphs, and some other federal services, are operated in and through English, but wholly by Indians for whom English is not the mother tongue [...] There are signs that similar populations of English-users for intra-national purposes are emerging elsewhere: in Singapore and Malaysia, in Hong Kong and in the Philippines, to name only the most obvious examples.12 If one includes the future of English in the European Union, one could consider the evolving "Euro-English" to belong to this category. This new variety will have a strong impact on the enlarged European Union, which will increasingly use Euro-English as a second language in its institutions and its Member States.13 3. The expanding circle: This group of nations recognizes the importance of English as an international language, though they do not have a history of colonization by members of the inner circle, nor have they given English any special status in their language policy. It includes China, Japan, Russia, Israel, Greece, Poland and an increasing number of other states, where English is taught as a foreign language (EFL). Within these nations, the English language functions, as termed by S. N. Sridhar, as a "link language between linguistically separated native populations."14 As distinctions are not always watertight, the role of English varies in the last two groupings, which contain a mixture of second and foreign language features. The model of these three circles draws the attention to the different historical and socio-linguistic issues which are raised by the notion of world English and by the indication of trends in the language's growth. If we follow the general estimates of English speakers in this variety of linguistic functions, one may certainly say that English is used in all countries of the world by at least one billion speakers of some kind or other. Their English competence is developed to a very varied degree so that we must ask which standard of English is desirable within the English-speaking global community. 12

P. Strevens , op. cit. 1982, 422. Cf. R. Ahrens, ed., Europäische Sprachenpolitik - European Language Policy. Heidelberg: Winter, 2003, above all the contribution by Sir Paul Lever, "The Future of Europe: Will We All Speak English?", 101-112. 14 S. N. Sridhar, "Non-native English Literatures: Context and Relevance," in: Braj B. Kachru, ed., The Other Tongue. English Across Cultures. Oxford: UP, 1982, 291307, 293. 13

2 FS Hablitzel

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I I I . World Standard English In a globalized world, where English is taught and learned as an international language (EIL), one must ask which standard of English is to be considered valid. The notion of a Standard English is especially relevant among professional people who do not speak the language as their mother tongue or do not come from a particular category, such as business people or scientific, political and academic communities. A World Standard of English (WSE) represents the unity, but also the diversity of the English-speaking world, because the common core of this world's English is more and more questioned by the speakers around the world. Standard English is the variety of English which carries most prestige within a country. It is a social concept whereas some people have a high standing in the eyes of others deriving from social class, material wealth, political strength or popular acclaim. The English that these people choose to use will by this very fact become the standard within their community. People who use Standard English in the community are sometimes worried by the spread of non-standard varieties. So to some degree code-mixing takes place everywhere when English is spoken alongside another language. It is a normal feature of bilingualism. Mixed varieties are sometimes called Japlish, Gerlish, Frenglish, Spanglish, Swedlish, etc. 15 There are no precedents for such a world-wide presence of any language to the extent that English has, as far as the geographical spread, or the number of speakers, are concerned. Also the speed at which it has evolved is also unprecedented and incredible: although the history of world English can be traced back 400 years, the current growth in the language has a history of less than fifty years. In view of the overwhelming growth in world population from 2.5 billion in 1950 to about 7 billion in 2000, the world language English is faced with great responsibilities. The two chief issues connected with this spread are internationalism and identity. Internationalism implies intelligibility. If any nation wishes to promote English in order to have access to what the broader English-speaking world has to offer, then it is crucial for its people to understand the English of that world or be understood in their turn. Therefore internationalism requires an agreed standard in the area of grammar, vocabulary and pronunciation. The same is true for identity. If a nation wishes to preserve its uniqueness or to establish its presence in the world, then it must search for ways of expressing its difference from the rest of the world. In the context of the English language, identity demands linguistic distinctiveness in all fields of the language. The future of the

15 Cf. M. Görlach , "And is it English?", in: id., ed. Even More Englishes. Studies 1996-1997. Amsterdam: Benjamins, 1998, 1-18.

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world English depends on how the tension between these two principles will be resolved in the years to come. In order to know where modern Standard English originates from, one has to investigate the history of England back to the 15 th century when a written standard first existed. It first appeared in the last part of the 14 th century, based on the dialects of the Central Midlands counties, i.e. Northamptonshire, Huntingdonshire and Bedfordshire and was then spread by the different versions of the Wycliff Bible, which the adherents of John Wycliff (died 1384), the so-called Lollards, carried as far as into south-west England. This Midland variety was later superseded by the London dialect, which at the beginning was a hybrid mix of Essex and Middlesex dialects, but which, in the 15 th century, gained influence because of the increased standing of Geoffrey Chaucer's (ca. 13401400) writings. With the emergence of London as the political and commercial centre of the country, its administrative and cultural influence became more and more obvious also in terms of the linguistic standard. The final factor in the development of a southerly literary standard was the invention and the rapid spread of printing, which fostered the acceptance of a single standard. The advent of printing began as early as 1476 when William Caxton introduced Gutenberg's invention and set up his press in Westminster to print the Bible and other works. Over the centuries the London accent established itself as the standard accent because it conveyed associations of respectable social standing and good education. This prestige accent is known as Received Pronunciation (RP) because it reveals a speaker's social or educational background. David Crystal stresses that during the 19 th century, "RP became the accent of the public schools, such as Eton, Harrow, and Winchester, and soon became the main indication of a good education. It spread rapidly throughout the Civil Service of the British Empire and the armed forces, and became the voice of authority and power." 16 But RP is not a regional variety since it is spoken all over England. The development of a modern linguistic science, above all phonetics, promotes the canonization of this dialect form in the late 19 th century. One of the forefathers of English pronunciation and its codification was Daniel Jones (1881-1967), who originally studied mathematics at Cambridge, and trained as a lawyer, but never practised. When learning French at the age of 17, he discovered his linguistic skills and went to a language institute in Germany. He studied the subject under Paul Passy in Paris and after his return to London, taught phonetics at University College in 1907 where he built up the Department of Phonetics and became professor in 1921. His name is chiefly associated with two books, An English Pronouncing Dictionary (1917) and An Out16

2*

D. Crystal , The English Language. London: Penguin, 1990, p. 62.

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line of English Phonetics (1918). The Dictionary was revised in its 14 th edition by A.C. Gimson in 1977. While still retaining its south-eastern English characteristics, its speech-style, as Gimson asserts in the editor's preface, is "applicable to a wider sample of contemporary speakers, especially those of the middle generations." 17 For this reason this type of pronunciation was originally adopted by the BBC for use by its newsreaders. In recent times the structure of British society has lost much of its rigidity rendering it more difficult to correlate a certain pronunciation exclusively with one section of society. Another attempt at canonizing English pronunciation was undertaken by John C. Wells, the present chair of Phonetics at University College, in his Pronunciation Dictionary , in which he presents "a modernised version of the type known as Received Pronunciation or R. P." 1 8 His standard pronunciation is based on "educated formal speech" which was traditionally used by BBC newsreaders. But as the BBC admits more regional variants into the media, John Wells sets the standard in "teaching English as a foreign language, in all countries where the model is BrE (British English) rather than AmE (American English)." This redefinition of RP places an emphasis on the teaching and learning of English as a foreign language, i.e. as an international lingua franca (EIL). This is somewhat surprising, as RP has several features which add to the difficulties for a foreign learner. As British English becomes increasingly a minor dialect of World English, and as new second-language norms of pronunciation emerge, and fewer British teachers of English as a foreign language come themselves to speak RP naturally, it is likely that the special world status of RP will diminish. It will be fascinating to see whether the Royal Family and the British establishment have enough prestige as in the past to the accent to enable it to survive. What are the distinctive features of a World Standard English (WSE)? We come across this variety of English when listening to newscasters all around the English-speaking world. As David Crystal confirms, there is with WSE "a strongly unifying force among the vast range of variation which exists." 19 A great deal of evidence to be drawn from the Internet and other telecommunications supports the impression that such a standard already exists. But at closer look, a totally uniform and regionally neutral standard is not yet in view worldwide. On the contrary, we seem to be far from it. What are the stumbling blocks in the way of this kind of World Standard English?

17 D. Jones, English Pronouncing Dictionary, rev. and ed. by A. C. Gimson, 14th ed., London: Dent, 1977, VII. 18 J. C. Wells, Pronunciation Dictionary, London: Longman, 1990, XIII. 19 D. Crystal, op. cit., 1995, 111.

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1. Each country where English is a first language, as in Canada, Australia, New Zealand, South Africa, is aware of its linguistic identity. In Sydney, for example, many linguists work hard on the Macquarie Dictionary of English in order to establish a new standard norm of English for the Pacific Rim which is clearly opposed to the Oxford English Dictionary (OED). New Zealanders do not want to be Australians, Canadians do not want to be Americans, and Americanisms are perceived to be a danger signal everywhere, except of course in the U.S.A. 2. All countries outside the U.K. and the U.S.A. can be grouped into those which follow the American English or the British English model. The most noticeable feature of this divide is spelling: AmE: program, skeptical, pediatrics, panelist as opposed to BrE programme, sceptical, paediatrics, panellist, just to mention a few examples. Here the dividing forces are certainly much stronger than the uniting ones. 3. The gap is even wider in the lexical distinctiveness of specialized terms of local politics, business, culture and natural history. This applies even more to domestic columns of national newspapers. 4. The concept of a standard pronunciation is useful in the international setting of English as a second or foreign language (ESL or EFL), but here too several models like General American (GA) or Australian English (AustrE) compete with British RP as in the pronunciation of derby, missile, leisure, clerk, tomato, etc. 5. The question of prestige is not easy to determine, above all at an international level, because of the different histories which coexist. News from a national or an international body carry a different level of prestige, also with news agencies. Written messages or oral news very much depend on the reputation of their source. In view of these obstacles which have to be overcome all around the world every day, Anne Pakir writes: When speakers of English from the Inner Circle find speakers of English from the Outer Circle encroaching on their territorial and established management of English, a phenomenon akin to 'varieties in competition' arises. In these areas of overlap and intersection at one level, we see a new differentiating variety of English that tries to serve its users on the international scene. The developing phenomenon GLOCAL ENGLISH - arose out of my observation of English as a glocal language.20 This "Glocal English", which she predicts, is driven by a strive for autonomy and creativity, when speakers try to cope with the contradictions and ambiguities of negotiating different social conditions in different parts of the world. 20

A. Pakir , op. cit., 19.

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The variety of "Glocal English" demands an international status in this global spread, but at the same time it is anchored in a local identity. So its speakers must have a high degree of linguistic competence in negotiating meanings and must at the same time master dialogical techniques and strategies in order to come to terms with their communicative counterparts. IV. The Social Variety of Scientific English 1. General Features Social variation is also reflected in particular linguistic consequences. Age, sex, and socio-economic class have been repeatedly shown to be of importance when it comes to explaining the way sounds, constructions and vocabulary vary in the English language. A particular variety of English is the language of science which is especially distinct with regard to its lexicon. There is a great quantity of technical terms within scientific English. The scientific nomenclature comprises most of the English vocabulary, but no one understands more than a part of it. 2 1 This situation should not lead us to ignore the grammatical features of scientific expression. It is possible to grasp the vocabulary of an area of scientific enquiry, yet the scientist can have a major difficulty in comprehension because of the way the sentences and discourses have been structured. A particularly important aspect of scientific and technological language is the subject-neutral vocabulary which cuts across different specialised areas. A great deal of scientific work involves giving instructions. Lexical categories can therefore be identified within the language of scientific instruction or narrative: 1. Verbs of exposition: For example: ascertain, assume, compare, construct, describe, determine, estimate, examine, explain, labour, plot, record, test, varify. 2. Verbs of warning and advising: For example: avoid, check, insure, notice, prevent, remember, take care. Also in the negative: not drop, not spill. 3. Verbs of manipulation: For example: adjust, align, assemble, begin, ball, clamp, connect, cover, decrease, dilute, extract, fill, immerse, mix, prepare, release, rotate, switch on, take away. 21

Cf. D. Crystal , op. cit., 1995, p. 372 f.

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4. Adjectival modifiers: For example: careful, final, clockwise, continuous, gradual, moderate, periodical, secure, subsequent, vertical and their adverb varieties. 2. Specific Linguistic Features Scientific English displays many grammatical features, which characterise the style of scientific English. Most of the words in scientific writing are lexical and content-related (nouns), only very few, about one third, are grammatical, that is functional. 1. Sentence and style: In academic scientific writing the sentences are very long, about 22 words as an average. The style is impersonal and in the passive voice, used in two thirds of the sentences. 2. Noun phrases: Noun phrases with complex structure are usual, for example "the transparent removable alignment grid for drawing external landmarks on the skin". There is a completeness of structure, illustrated by the use of parenthesis and by descriptive passages. Narrative style is avoided. Items which connect sentences like however, secondly are also avoided. The logic governing the order of topics is not supported by linguistic sequencing features such as then, by contrast etc. 3. Textual Structure and Discourse In well-written scientific texts there is a balance between abstract and concrete points. General discussion alternates with accounts of experiments. The problems are explained as they arise in time. Clauses have short subjects with most of the information left until after the verb. See the following sentence by Stephen Hawking: "The quantum hypothesis explained the observed rate of emission of radiation from hot bodies very well." Over half of the noun phrases consist of a simple determiner plus noun, for example the particle, or a pronoun alone. Noun phrases are generally uncomplicated, typically with compound like "x-rays" or using non-technical modifiers like "fundamental". In superior scientific writing passive constructions are usually banned but seventeen percent of the verb phrases are passive. The passive voice can evidently be a helpful way of ensuring a smooth flow of ideas. It allows objects to receive prominence in a sentence structure, for example: "Some of the waves of light will be scattered." The discourse structure is very explicit by many cross-references to preceding sentences or clauses. This makes it clear that a given topic is to be discussed

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and reduces the scope for vagueness using words such as: "so, in other words, moreover, now, however, in order to" etc. V. Technical Writing Technical writing is most strongly associated in our culture with the various fields of science. In broad terms science is concerned with how the world is organized and how it came to be that way. Secondary education textbooks deal with both these concerns. 22 The two most relevant genres will be referred to here as report (how the world is organized) and explanation (why it is organized that way). The main difference is that reports focus on things while explanations focus on processes. Science textbooks shift from report to explanation as appropriate when building up chapters. 7. Reports Reports in science focus on classification and description. Consider the following section from Our Changing World, a geography textbook used in some Australian junior-secondary schools (generally Year 8) (approximately 13-14 years old). Fifteen per cent of the world's land area consists of deserts. The true hot deserts straddle the Tropics in both hemispheres. They are found on all continents between the latitudes of approximately 15 to 10 degrees, and they extend inland from the west coasts to the interiors of these continents. They are never found on east coasts in these latitudes as all east coasts receive heavy rains from either on-shore trade winds or monsoons. Cool deserts are found further polewards in the deep interiors of large continents like Eurasia or where mountains form rain-shadows, which keep out rain-bearing winds that might otherwise bring wet conditions. There are five major hot desert belts in the world. The largest hot desert extends from the west coast of North Africa eastwards to Egypt and the Red Sea - this is the great Sahara that covers 9 million square kilometres. The Sahara spreads eastward beyond the Red Sea into Arabia - a desert of 2.5 million square kilometres - and beyond the Persian Gulf in to Iraq and Pakistan (Thar Desert). This report sets forth a classification of deserts, one of the world's major ecosystems. In this quotation technical terms are highlighted in bold face (hot deserts, cool deserts , rain-shadows). The taxonomy is organized as shown in Figure 1.

22 Cf. J. R. Martin, "Technicality and Abstraction", in: A. Bums and C. Coffin , eds: Analysing English in a Global Context, A Reader. London and New York: Routledge, 2001, 214-217.

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- rainforests - tundra

ι—hot

- Sahara - Arabia -Thar - Kalahari - Atacama -etc.

I— cool-

- Patagonia - (circa Mongolia) - (Great Basin USA)

deserts -

ecosystems -

-etc. Figure 1: Taxonomy of Ecosystems

So far we have only considered taxonomies which organize the world into classes and sub-classes, but reports are also commonly used to establish relations between parts and wholes. The following report examines the distinctive parts of cacti: The conservers are those plants which store their own supplies of moisture for use during drought. These include the one thousand varieties of cacti and succulents. The cacti have extensive root systems spreading in all directions - sideways and downwards - to soak up as much water as possible when it does rain. They are able to swell to store water, and they then use this water over long periods of drought. A thick waterproof covering protects these desert water-tanks with their soft pulpy cells, and their leaves are often reduced to thorns to cut down on water-loss and protect the plant from animals that might otherwise eat it for its moisture. The giant saguaro (pronounced say-w'are-oh) of south-west USA is a good example. As is the case with this report, part-whole relations are often illustrated with a labelled diagram. The relevant taxonomy is as in Figure 2.

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cacti conservers ...

ρ extensive root systems —thick waterproof covering —pulpy cells —thorns

• succulents Figure 2: Taxonomy of Conservers: Cacti

2. Explanations Explanations focus on processes - on how things come to be. In the geography text from which examples are taken here they tend to occur now and again in the middle of reports. Their purpose is not directly to classify phenomena but to outline an activity. The following paragraph illustrates the genre: We saw that leaching was a very prominent process in all hot, wet, forest lands; in deserts, because the rainfall is so low, it hardly occurs at all. Instead, a reverse process may develop called calcification. Water may soak into the ground after rains and dissolve mineral salts in the usual way, but as the surface dries out, this water is drawn upwards like moisture rising through blotting paper. The salts then accumulate in the surface soil as this moisture evaporates; thus desert soils are often rich in mineral salts particularly calcium, sodium and potassium. Provided the salts are not too concentrated (and their concentration is reduced under irrigation), they contain a plentiful supply of plant foods and can therefore be considered as fertile soils. This explanation focuses on the technical process of calcification, breaking it down into steps: (1) rain falls, (2) water soaks into ground, (3) water dissolves mineral salts, (4) surface dries out, (5) water drawn upward, (6) salts accumulate as moisture evaporates. In geography, phenomena may be classified according to the processes which gave rise to them. Desert landforms for example are organized as in Figure 3.

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Explanations are very common when phenomena are classified in this way. Consider abrasion in the following explanation, noting once again the steps in the process: Abrasion occurs when lots of hard sand particles are carried by desert winds and are thrown with great force against all solid objects in their paths. Stones, rocky outcrops, and all natural and man-made objects are subjected to this sand-blast action. Within a metre or two of the ground, objects are cut, smoothed and polished by abrasion. Where winds are funnelled through gaps and valleys, this sand-blast action affects all rock surfaces. Stones and rocks have their sides smoothed and rocky outcrops gradually become honeycombed with sand blasted caves and windows during successive sand storms. Mushroom rocks , window rocks and natural arches are produced. — deflation abrasion desert landforms — wind deposits — deposition I— water deposits Figure 3: Taxonomy of Desert Landforms

As these four examples show, the distinctiveness of the language of science lies in its lexicon. On the background of our present-day technological development, scientific nomenclature comprises most of the English vocabulary. No normal speaker understands more than a fragment of it. One can easily grasp the vocabulary of a scientific enquiry, but can still have a major problem in comprehending because of the way the sentences and the discourse have been structured. The same is true for legal language, which shares with science a concern for coherence and precision. No other variety of English has to carry such a responsibility. That is why legal language has developed such a complex grammatical structure.

VI. The Future of English The future of the English language raises much emotional rhetoric or wild exaggeration. In a paper written in 1970, Randolph Quirk, then Professor of

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Linguistics at University College, London, predicted an expansion of English in the next twenty years not only in Europe but all around the world. What will be the main features of English in the future? 7. Hybridization As David Crystal confirms in many of his publications already cited, English is now spoken by more people than any other language and is recognised by more countries as a desirable lingua franca than any other language. It is however important to recognise that the unprecedented scale of the growth in usage, which approaches a quarter of the world's population, has resulted in an unprecedented growth in regional varieties and in many Englishes for specific purposes (ESP). Invariation, of course, has always been part of the language, but in recent decades, chiefly since the independence arose since the 1960s, it is clear that the diversity has become so dramatic, generating a huge literature on World Englishes, that one raises the question of linguistic identity in fresh and intriguing ways. Tom McArthur, for instance, in his famous book The English Languages, draws our attention to the complexity and diversity of English worldwide and the remarkable "messiness" which characterises the current world English situation, especially in second language contexts.23 Typically, a new English is not a homogeneous entity with clear-cut boundaries and an easily definable phonology, grammar, and lexicon. On the contrary, communities which are putting English to use as in many European countries are doing so in several different ways. As McArthur puts it, stability and flux go side by side, centripetal and centrifugal forces operating at one and the same time and when actual examples of language in use are analysed, in such multilingual settings as Malaysia and Singapore, all kinds of unusual hybrids come to light. Different degrees of language mixing are apparent: At one extreme a sentence might be used which is indistinguishable from Standard English. At the other extreme a sentence might use so many constructions from a contact language that it becomes unintelligible to those outside a particular community. Inbetween there are varying degrees of hybridization, ranging from the use of a single lexical borrowing within the sentence to several borrowings and from the edition of a single borrowed syntactic construction to a reworking of entire sentence structures. In addition of course, the pronunciation shows similar degrees of variation.

23

T. McArthur, The English Languages, Cambridge: UP, 1998.

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2. New Developments : Interferences Linguistic chains have in store for us many novel kinds of hybrid forms. Consider for example the situation which is appearing with increasing frequency around the world in regions where there are a high immigration or guest worker populations. The same holds true for the corridors of power in such multinational settings as Brussels. Although several languages are co-official in the European Union, pragmatic linguistic realities result in English being the most widely used language in these corridors. What kind of common English emerges, when Germans, French, Greeks and others come into contact, each using English with its own pattern of interference from the mother tongue? There will be the usual socio-linguistic accommodation, and the result will be, as mentioned above, a novel variety of Euro-English - a term which has been used for over a decade with reference to the distinctive vocabulary of the Union with its Eurofighters, Eurodollars, Eurosceptics, etc. Common features of this Euro-English are: to accommodate with increasing syllable-timed rhythm, others include the use of simplified sentence-constructions and the avoidance of colloquial vocabulary, a slower rate of speech, the use of clearer patterns of articulation, avoiding some of the elisions which would be natural in a first-language setting. It is important to stress that this is not the same as the "foreigner talk" which was common in earlier EFL (English as a foreign language) learning. 3. WSPE and WSSE There is a need to maintain international intelligibility. This demands the recognition of a standard variety of English, at the same time as the need to maintain a local identity, the kind of "glocal English" already mentioned earlier in this essay. This again demands the recognition of local varieties of English. Many linguists therefore talk about a dialogical English which has to be negotiated between the communicative partners in a dialogue. Again this implies of course pedagogical proceedings and models which comply with a social and linguistic environment of the communicative partners. David Crystal makes a distinction in a situation where we seem to be moving towards a global situation in which English-speakers will have to operate with two levels of spoken standards.24 This is not something which people have had to cope with before. Standard English, as it currently exists, is a global reality only with reference to the written language. It might more accurately be called World Standard Printed English (WSPE). The comparison of international writ24 Cf. D. Crystal, op. cit. (1995), 308 ff. Cf. also B. Bryson, The Mother Tongue. English and How it got That Way. New York: Avon, 1990, 239 ff.

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ten varieties as in scientific or legal English shows WSPE to be pretty well the same wherever it is encountered. This is what one should expect. That is what a standard is for. It would not be able to fulfil its role as an international written lingua franca if it were riddled with regional idiosyncracies. And apart from a few instances of literature and humour, which involve the representation of regional dialects, WSPE has no regional manifestations. There is, however, a spoken equivalent to WSPE, World Standard Spoken English (WSSE). This is an international spoken standard, which is neutral and which acts as a stabilising force on global spoken diversity. There is uncertainty about the eventual character of WSSE. It will dominate a world which will be a multidialectal one. Many of us will have three dialects at our disposal and unlike the WSPE situation two of these will have the status of educated standards. Using the proper WSPE standard is a question of the pedagogical future. It might be true that a Standard Spoken English will develop into an international communication in an increasingly diversified world which includes also technical and scientific English. In further due cause, the different kind of standard may evolve the written equivalents and there might be two linguistic competences a high and a low functionality of English. The situation may not be unlike the kinds of shift which learners of English have to make these days when they visit Britain. They find that the standard British English they were taught needs adapting if it is to work to the best effect in different parts of the United Kingdom. The world in which there are two educated standards of spoken English seems to be inevitable. VII. The Trend Towards Plain English25 One of the most important trends in contemporary English is the move towards developing a plain English in official speech and writing. The main aim of the plain English campaigns in Britain and the U.S.A. is to attack the use of unnecessarily complicated language by government, departments, business and any other group whose role puts them in linguistic contact with the general public. Campaigners agree that documents such as application forms, safety instructions, official letters, licenses, contracts, insurance policies, hire-purchase documents, guarantees should be presented clearly, using English that people are likely to understand. The movements which originated in the late 1970s are comparatively recent but already have played an important role in promoting public awareness of problems and have helped to form a climate of opinion leading several organizations to change their practices. In the U.K., the campaign was launched in 25

Cf. D. Crystal , op. cit., 1990, 266 ff.

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1970 by a ritual shredding of government forms in Parliament Square in London. By 1985, over 21 000 forms had been revised and a further 15 000 withdrawn. In the U.S.A., President Carter issued an order in 1978 requiring that regulations be written in plain English. The order was revoked by President Reagan in 1981, but nonetheless promoted a great deal of local legislation throughout the country, and an increase in plain English among co-operations and consumers. The future of any language is closely bound up with the influence and prestige of its speakers. What will be the balance of power among the major nations of the world a century from now? Will American supremacy continue to underwrite the role of English? Or will some momentous political or economic event motivate people to look elsewhere for their world language? The role of English has developed to such an extent unprecedented in world history that it is difficult to see how it could ever be toppled. But the same must also once have applied to the status of Latin. No one wishes to lose their identity in a world melting-pot. It therefore seems likely that we will see the emergence of a more universal bi-dialectism on the part of those who play a role in the international community. People will use one variety of the language at home and slip into another variety when they communicate with those from different communities. It already happens, of course, when people with different regional dialect-backgrounds meet. So maybe in a century or so, we shall all be bilingual in our own language, with an English international lingua franca. In the course of time, bilingual maybe will not be so strong a word. But it is likely that the home varieties will develop along different lines from those followed by this lingua franca. There could well come a day when the whole languages of Indians, Americans, Jamaicans and others are mutually unintelligible but the whole community is bound together by the continuing existence of the lingua franca. Such a situation is not a fantasy. There is an analogy today in China where the several spoken Chinese dialects are mutually unintelligible, but written Chinese is understood by all. 2 6

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Cf. Larry E. Smith, "English as an International Language: No Room for Linguistic Chauvinism", in L. E. Smith, ed., Readigs in English as an International Language. Oxford: Pergamon, 1983, 7-11. Also Robert McCram, W. Cran and R. MacNeil, The Story of English. London: Faber, 1986.

Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e I V GG im Bereich des Schienenpersonenfernverkehrs Von Rainer Arnold I. Problemstellung Eine der wichtigsten gemeinsamen Entwicklungen im Europäischen Verfassungsrecht ist die sich verstärkende Tendenz zur „Differenzierung" der Staatsgewalt.1 Die Verlagerung von Staatsgewalt auf supranationale Gemeinschaften ist ebenso wie die territoriale Dezentralisierung ein Phänomen solcher Aufgliederung. Aber auch die Überführung hoheitlich organisierter Aufgabenerfüllung auf private Träger ist ein Fall der Differenzierung. Zahlreiche Rechtsfragen sind mit dieser hochkomplexen Thematik verbunden, nicht zuletzt mit den im Grundgesetz vorgesehenen Privatisierungsvorschriften. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Garantenpflicht des Bundes im Rahmen des Schienenpersonenverkehrs nach Art. 87 e IV GG. Besonderes Interesse richtet sich dabei auf die verbleibende Rolle des Staates in seinem Verhältnis zum privaten Träger. II. Die materiell-rechtliche Würdigung des Art. 87 e IV GG 1. Der normative Charakter des Art. 87e IV GG als Grundlage der Rechtspflicht des Bundes zur Sicherstellung einer adäquaten Verkehrsleistung im Schienenpersonenfernverkehr Wichtig ist, die rechtliche Qualität des Art. 87 e IV GG zu klären. Davon hängt ab, (1) ob eine Rechtspflicht des Bundes besteht, die in dieser Verfassungsvorschrift ausdrücklich genannten oder implizit verankerten Anforderungen zu erfüllen und ein dem öffentlichen Wohl, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen entsprechendes Verkehrsangebot zu garantieren. Es stellt sich, falls der normative Charakter bejaht wird, weiterhin die Frage, (2) ob es sich dabei um eine konkrete, inhaltlich detailliert bestimmbare Rechtspflicht handelt, und (3) ob diese Rechtspflicht nur in einem objektiven Sinne gegenüber der Allgemeinheit besteht oder auch eine entsprechende subjektive Berechtigung der Bundesländer begründet. 1 R. Arnold, Interdependenz im Europäischen Verfassungsrecht, in: Festschrift für G. Kassimatis, Athen 2004, 733, 744 ff. 3 FS Hablitzel

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Wäre Art. 87 e IV GG dahin auszulegen, dass er nur eine politisch unverbindliche Leitlinie darstellte, könnten aus ihm weder eine generelle Pflicht noch konkrete Einzelpflichten des Bundes noch eine subjektive Rechtsposition abgeleitet werden. Hätte Art. 87 e IV GG zwar normativen, aber doch nur programmatischen Charakter in einem weiteren Sinn (als verfassungsrechtlicher Programmsatz) oder einem engeren Sinn (als verfassungsrechtliche Zielbestimmung)2, so könnten aus ihm zumindest keine konkreten Einzelpflichten und auch keine einklagbaren Berechtigungen resultieren. 2. Art. 87e IV GG kein bloßer politischer Programmsatz Das Programm der Privatisierung der Bundeseisenbahnen ist in Art. 87 e GG normativ festgelegt. Wortlaut, Zusammenhang und ratio dieser Verfassungsvorschrift geben keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass es sich um eine bloße politische Absichtserklärung nichtnormativen Charakters 3 handelt. Mag damit auch eine politische Zielsetzung von besonderem Gewicht verbunden sein, so hat sie doch in Art. 87 e GG ihren normativen Ausdruck gefunden. Auch die Tatsache, dass es sich dabei um eine in das GG aufgenommene Regelung handelt, widerspricht der Vorstellung ihres nur politischen Gehalts. Das GG besteht aus einer Gesamtheit von normativen Festlegungen; gerade durch Aufnahme in den Text der Verfassung sollte ihre Verbindlichkeit, ja ihr besonderer Rang und ihre erhöhte Bestandskraft bewirkt werden. Es ist dem GG fremd, rein politische Programme zu formulieren, denen keine verbindlichen Rechtspflichten entsprechen. Aus dem historischen Kontext ergibt sich klar, dass das Grundgesetz sich von nichtnormativen Äußerungen mit nur politischem Aussagegehalt freihalten wollte. Überdies wäre es nicht möglich gewesen, den Vorgang der Privatisierung eines Verkehrsmittels von zentraler Bedeutung ohne rechtliche Absicherung zu belassen und sich auf einen rechtlich unverbindlichen Hinweis zu beschränken. Institutionelle Veränderungen von einer Tragweite, wie sie die Privatisierung der Bundeseisenbahnen darstellt, müssen normativ - gesetzlich oder, wie hier, verfassungsgesetzlich - abgesichert sein. Dies liegt dem auch hier relevanten Konzept der Wesentlichkeitslehre zu Grunde, das einen institutionellen Gesetzes-, ja Verfassungsvorbehalt für solche grundlegenden Veränderungen im Organisationsgefüge des Staates umfasst. 2 Zur Terminologie, die keineswegs als feststehend bezeichnet werden kann, vgl. K. P. Sommermann , Staatsziele und Staatszielbestimmung, 1997, 5 f., 347 ff. 3 So Fromm , DVB1. 1994, 187,192, freilich ohne nähere Begründung; ders., Int. Verkehrswesen 46 (1994), 97,101 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, 8. Aufl. 1995, Art. 87e Rn. 6. Vgl. auch P. Lerche , Infrastrukturelle Verfassungsaufträge (zu Nachrichtenverkehr, Eisenbahnen), in Festschrift für K. H. Friauf, 1996, 251, 256 f.

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Als Teilergebnis kann zunächst festgehalten werden: An dem normativen Charakter des Art. 87 e IV GG kann kein Zweifel bestehen. 3. Art. 87e IV GG: Keine Übergangsvorschrift Die Überführung der Bundeseisenbahn in Handelsgesellschaften ist ein Vorgang des Übergangs von einer Rechtsform in die andere. Nach Auffassung von Schmidt-Aßmann/Röhl4 ist Art. 87 e IV GG nur eine in der Umstellungsphase des Transformations Vorgangs relevante Norm; eine darüber hinaus reichende Garantieverpflichtung des Staates würde das wirtschaftliche Denken, das Ziel der Bahnstrukturreform gewesen sei, auf Dauer verhindern oder zumindest behindern 5. Die Sicherungsklausel des Art. 87 e IV GG besitze eine „degressive Tendenz". Nach Abschluss der Privatisierung entfalle die Gewährleistungspflicht des Bundes in dieser Hinsicht ganz. Nach dieser Auffassung fehlt es zwar nicht an einem normativen Charakter des Art. 87 e IV GG, doch wird von ihr der normative Effekt dieser Vorschrift durch die Erreichung des Privatisierungszieles begrenzt. Diese Auffassung widerspricht dem klaren Wortlaut des GG; auch wird dadurch die ratio des Art. 87 e IV GG nicht zutreffend erfasst. Das GG geht nicht, wie diese Autoren unterstellen, davon aus, dass die Beförderungsaufgabe keine genuine Staatsaufgabe sei, sondern vielmehr von der Gesellschaft selbst wahrgenommen werde. Ein adäquates Eisenbahnverkehrsangebot im Bundesgebiet ist von solcher Bedeutung für die Bevölkerung, für die Funktionserfüllung der Wirtschaft und für das Staatsleben als Ganzes6, dass es zu den grundlegenden Daseinsvorsorgeaufgaben des Staates gezählt werden muss. Ähnlich wie die Grundversorgung mit Rundfunkleistung als Ausfluss des Demokratieprinzips und des Art. 5 GG eine genuine Aufgabe des Staates ist, ist dies auch die Verkehrsversorgung, die für die Mobilität des Individuums im Rahmen seiner Freizügigkeit (Art. 11 GG) und überhaupt seiner allgemeinen Freiheit (Art. 2 I GG) 7 sowie für die Entfaltung der Wirtschaft als Grundlage von individuellem und allgemeinem Wohlstand von überragender öffentlicher Bedeutung ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ja auch im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 12 I GG die Existenz der Bundesbahn als grundsätzliches und hauptsächliches Verkehrsmittel zu Recht als ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut eingestuft 8. 4 DÖV 1994, 577 ff.; so auch B. Metzler, Die Privatisierung von Personenbahnhöfen, 1999, 124; J.-Chr. Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung: Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts sowie des französischen und des deutschen Rechts unter besonderer Berücksichtigung der Elektrizitätswirtschaft, 2001, 547. 5 Schmidt-Aßmann/Röhl, a.a.O., 584. 6 Hierzu treffend U. Steiner, Recht der Verkehrswirtschaft in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 2, 1996, § 10 = S.127 ff., 131 f. 7 Vgl. M. Ronellenfitsch, JöR 1996, 168 ff.

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Diese Qualifizierung der Aufgabe des Schienenpersonenverkehrs als essentielle Staatsaufgabe verbietet es, der Überlegung von Schmidt-Aßmann!Röhl zu folgen 9. Es kann deshalb nicht angenommen werden, das GG habe die grundsätzlich der Gesellschaft, nicht dem Staat zukommende Erfüllung des öffentlichen Verkehrsbedürfnisses lediglich in einem Teilstück konstitutionalisieren wollen, nämlich nur bezüglich der Phase der Rückverlagerung der vom GG durch besondere Verfassungsvorschrift dem Staat zugewiesenen Verkehrsaufgabe auf die Gesellschaft. Hieraus ergäbe sich sonst die Konsequenz, dass eine auf Dauer bestehende Garantie des Bundes für die von privaten Unternehmen zu erfüllende Verkehrsaufgabe gar nicht bestehe, sondern in Art. 87 e IV GG nur für diese Rückverlagerungsphase angeordnet sei. Die Garantiepflicht entfällt auch nicht, wenn der Bund das Eigentum an seinen Eisenbahnen aufgibt; eine funktionelle, am Fortbestehen der Staatsaufgabe Personenbeförderung orientierte Betrachtungsweise verbietet eine enge Wortlautinterpretation des Art. 87 e IV GG. Deshalb kann auch unter diesem Aspekt keine nur temporäre Geltung der Garantiepflicht angenommen werden. 10 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Die Garantiepflicht des Bundes ist nicht auf die Phase bis zur vollständigen Privatisierung, die (trotz der Stellung des Bundes als Alleinaktionär der DB-AG) bereits jetzt erreicht ist, beschränkt. Sie ist also bisher nicht entfallen und wird auch nicht entfallen, sondern als Dauerpflicht unbefristet fortbestehen. 4. Art. 87e IV GG: Weder Programmsatz mit nur allgemeinem Inhalt noch bloße verfassungsrechtliche Zielbestimmung Nicht selten gebraucht die Literatur den Terminus „Staatszielbestimmung", um die Rechtsqualität des Art. 87e IV GG zu bestimmen11. Dieser Begriff ist terminologisch höchst unscharf und sollte in unserem Zusammenhang vermieden werden.

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Ε 11, 168, 184; 40, 196, 218 f. Kritisch auch B. Burger, Zuständigkeit und Aufgabe des Bundes für den öffentlichen Personennahverkehr nach Art. 87e GG, 1998, 128-133. 10 Im Ergebnis ebenso L. Wachinger, M. Witteman, Regionalisierung des ÖPNV. Der rechtliche Rahmen in Bund und Ländern nach der Bahnreform, 1996,49; J. Wieland, in H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, Art. 87e Rn. 15; Ε. Μ Gabler, Öffentlicher Nahverkehr in Bayern, 2000, 52 (betreffend Eisenbahninfrastruktur) und die meisten Autoren, die einen konkreten Gewährleistungsauftrag im Rahmen des Art. 87 e IV GG bejahen. 11 M. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, 198 (vgl. auch S. 208); K. Stem, DVB1. 1997, 309, 313 (zur parallelen Problematik im Bereich der Post); M. Rottmann, ArchivPT 1994, 193, 194 (dagegen D. Müller-Using, ArchivPT 1995, 46). 9

Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e IV GG

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Soweit mit „Staatsziel" ausgedrückt werden soll, dass Art 87e IV GG nur ein politisches, aber normativ unverbindliches Programm darstellt, geht dies, wie bereits dargelegt, fehl. Soweit mit diesem Terminus eine „programmatische Direktive für den Staat" 12 mit nur allgemeinem Inhalt zum Ausdruck kommen soll, trifft dies ebenfalls auf Art. 87 e IV GG mit seinem konkreten Inhalt nicht zu. Soweit der Begriff „Staatsziel" eine grundsätzliche Bindung des Gesetzgebers und der übrigen Staatsgewalten ausdrückt, ist dies bei Art. 87 e IV GG im Ansatz der Fall, doch greift auch dies zu kurz. Charakteristisch für ein solches Verständnis einer Staatszielbestimmung ist, dass sie eine nur allgemeine, nicht konkrete Verbindlichkeit besitzt: Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber zwar das Staatsziel in bindender Weise zu verwirklichen hat, aber kein konkretes Gesetzgebungsprogramm kraft Verfassung vorgegeben ist, da es ihr an einer ausreichenden inhaltlichen Bestimmtheit fehlt. 13 Dies ist aber bei Art. 87e IV GG nicht der Fall: Die hier relevante Garantieklausel ist konkret 14. Sie nimmt zwar auf die unbestimmten Rechtsbegriffe des öffentlichen Wohls und der Verkehrsbedürfnisse Bezug, doch reduziert sie diese Vorschrift nicht auf eine allgemeine verfassungsrechtliche Zielbestimmung. Diese Begriffe sind notwendigerweise „unbestimmt", können im Einzelfall, jedenfalls in hinreichender Weise, konkretisiert werden. Art. 87 e IV GG ist also weder eine allgemeine verfassungsrechtliche Programmnorm noch eine verfassungsrechtliche Zielbestimmung (Staatszielbestimmung). Eine zusätzliche Überlegung bestätigt dieses Ergebnis: Staatszielbestimmungen als solche stellen keine konkreten Kompetenznormen dar und ersetzen sie auch nicht. Staatszielbestimmungen legen Grundorientierungen des Staates fest, beziehen sich also auf modale Ziele, nicht auf substantielle Vorgaben für konkretes Staatshandeln. Hierher gehören die bekannten Staatszielbestimmungen der Rechtstaatlichkeit, der Sozialstaatlichkeit, der Umweltstaatlichkeit usw. Diese Ziele sind im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzen zu erfüllen. Über Kompetenzen werden substantielle Aufgabenbereiche verwirklicht. Dass Art. 87 e IV GG unter diesem Aspekt keine bloße Staatszielbestimmung sein kann, ergibt sich dabei aus Folgendem:

12

So allgemein zu diesem Begriff Merten, DÖV 1993, 368, 370. Vgl. Isensee, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, §57 Rn. 121. 14 Z.B Burgi, a.a.O., 208; Lerche, a.a.O., 257; Wachinger/Wittemann, a.a.O., 49; Wieland, a.a.O., Rn. 12a. 13

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Diese Verfassungsvorschrift umfasste früher die Verantwortung des Bundes für den gesamten Eisenbahnbereich einschließlich des Schienenverkehrs, bis der Schienenpersonennahverkehr auf die Länder verlagert wurde. Wäre Art. 87 e IV GG (nur) als Staatsziel zu qualifizieren, müsste man annehmen, dass ein bestimmter Teil dieser Staatszielbstimmung, nämlich das Ziel der Gewährleistung des Schienenpersonennahverkehrs, auf die Länder übertragen worden sei: Die Übertragung eines Staatsziels auf die autonome Verfassungsordnung der Länder ist aber nicht, auch nicht partiell, möglich. Die Eigenständigkeit der Länderverfassungsräume verbietet es, dass der Bund den Ländern Staatsziele zuordnet. Art. 28 I GG setzt diese Eigenständigkeit der Verfassungsräume voraus, so dass alle Fundamentalnormen der Länder, zu denen auch und gerade die Staatszielbestimmungen gehören, ihren Ursprung in ihrem eigenen Verfassungsraum haben müssen. Dass Art. 28 I GG die Homogenität wesentlicher Staatsziele in den verschiedenen Verfassungsräumen des Bundes und der Länder fordert, ist Konsequenz dieser Eigenständigkeit und bestätigt sie. Die Staatszielbestimmungen eines Landes müssen also aus der Verfassungsordnung des Landes selbst erwachsen. Dies führt zu der Erkenntnis, dass mit der Zuweisung der Aufgabe Personenschienennahverkehr an die Länder eine Aufgaben- und Kompetenzübertragung stattgefunden hat, nicht aber eine (partielle) Übertragung eines Staatszieles. Dies wäre eben wegen der grundsätzlichen Verfassungsautonomie der Länder nicht möglich gewesen. Man kann des weiteren auch nicht davon ausgehen, dass Art. 87 e IV GG Doppelnatur besitze, Aufgaben- und Kompetenznorm und auch Staatsziel zugleich sei. Wäre dies der Fall, könnte man die Übertragung des Schienenpersonennahverkehrs auf die Länder als Aufgaben- und Kompetenzübertragung deuten, während der Staatszielcharakter des Art. 87 e IV GG auf Seiten des Bundes weiterhin erhalten geblieben wäre. Dann wäre das oben angeführte Argument nicht schlüssig. Eine solche Doppelnatur von Verfassungsnormen ist dem GG aber fremd. Somit muss auch aus dieser Perspektive die Natur des Art. 87 e IV GG als bloße verfassungsrechtliche Zielbestimmung verneint werden. Auch die systematische Stellung des Art. 87 e IV im Grundgesetz spricht gegen seine Natur als bloße Staatszielbestimmung. Er befindet sich unter den Vorschriften über die Bundesverwaltung und ist auch aus dieser Perspektive als Aufgabenzuweisungsnorm, nicht als Staatszielbestimmung zu qualifizieren. Dieses Ergebnis impliziert auch, dass nicht von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass diese Vorschrift auch den Charakter einer subjektive Berechtigung besitzen kann. Dies wird weiter unten noch zu prüfen sein.

Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e IV GG

5. Art. 87e IV GG als konkrete verfassungsrechtliche

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Verpflichtung

Art. 87 e IV GG enthält eine konkrete, klar abgegrenzte Verpflichtung. Als ein nur programmatisch formuliertes Ziel kann der Inhalt dieser GrundgesetzVorschrift nicht erfasst werden. Die Gewährleistungspflicht ist eindeutig als eine aktuelle, ohne zeitliche Begrenzung andauernde Pflicht formuliert: „Der Bund gewährleistet, dass ... Rechnung getragen wird". Die eindeutige Aussage „gewährleistet, dass ..." wird nicht dadurch relativiert, dass sie mit dem Begriff „Rechnung getragen wird" gekoppelt ist. Die Wendung „Rechnung tragen" lässt zwar offen, welche konkreten Maßnahmen zu treffen sind. Sie stellt aber auf die allgemeine Modalität des Verhaltens ab, nämlich alles zu unternehmen, was im Ergebnis zur Erfüllung dieses Auftrags führt. „Rechnung tragen" im Sinne dieser Verfassungsvorschrift heißt auch, dass das Gewährleistungsziel erreicht werden muss. Der Auftrag selbst ist konkret. Bei der Analyse des Art. 87 e IV GG wird klar, worauf sich die Gewährleistungspflicht bezieht: auf das „Wohl der Allgemeinheit", „insbesondere auf die Verkehrsbedürfnisse", auf den „Ausbau und den Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes" sowie auf „deren Verkehrsangebote auf diesem Schienennetz". Dass das „Wohl der Allgemeinheit" und auch der Inhalt des Begriffs „Verkehrsbedürfnisse" unbestimmte Rechtsbegriffe sind, die der Konkretisierung bedürfen, ist ein notwendigerweise häufig anzutreffendes Phänomen und stellt keinen Grund dar, die Verpflichtungsintensität der betreffenden Vorschrift als reduziert zu betrachten. Auch dass, wie dies häufig im GG vorgesehen ist, „das Nähere durch Bundesgesetz geregelt wird" (so Art. 87 e IV 2 GG), spricht nicht gegen die Eindeutigkeit der Verpflichtung 15. Verfassungsrechtliche Verpflichtungen in Form von Verfassungsaufträgen, die sich auf komplexe Sachverhalte beziehen, bedürfen notwendig der Konkretisierung durch den Gesetzgeber, um die Modalitäten für die Realisierung der Gewährleistungspflicht des Bundes im Einzelnen festzulegen. Zusammenfassend ist somit festzuhalten: Auch wenn in Art 87e IV GG ein permanent zu verwirklichendes Ziel enthalten ist, nämlich den genannten Gewährleistungsauftrag auszuführen, so handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine konkrete verfassungsrechtliche Verpflichtung, deren Inhalt klar fixiert werden kann. Um ein bloßes verfassungsrechtliches Ziel in Form eines Staatszieles handelt es sich hingegen nicht. 15

Zur Gewährleistungspflicht Lerche, a.a.O. 257; P. Hommelhoff/E. Schmidt-Aßmann, ZHR 160 (1996), 551 ff.; ausführlich (allerdings mit besonderem Bezug zur Infrastruktursicherung) Gabler, a.a.O., 49-53. Allgemein zur Garantiepflicht im Rahmen von Privatisierungen Chr. Gusy, Privatisierung als Herausforderung an Rechtspolitik und Rechtsdogmatik, in Chr. Gusy (Hrsg.) Privatisierung von Staatsaufgaben: Kriterien-Grenzen-Folgen, 1998, 330 ff., 342; vgl. auch 344 ff.

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6. Art. 87e IV GG: Nur objektive Verpflichtung oder auch subjektiver Norminhalt? Wäre Art. 87 e IV GG nur Programmnorm oder Staatszielbestimmung, käme ihm lediglich objektiver Normcharakter zu. Das Ziel wäre objektiv verbindlich und wäre von den Staatsorganen, insbesondere vom Gesetzgeber bei Konkretisierung des Ziels durch einfache Gesetze zu beachten. Dabei wäre der Spielraum der Zielverwirklichung groß. Eine subjektive Berechtigung aus der Staatszielbestimmung könnte daraus dann nicht abgeleitet werden. Anders verhält es sich mit einer konkreten Verfassungspflicht wie im vorliegenden Fall: Sie ist zum einen objektive Verfassungsverpflichtung des Bundes und muss von den Staatsorganen, insbesondere vom Gesetzgeber, umgesetzt werden. Zum anderem kann sie aber, was im Folgenden zu prüfen ist, auch eine subjektive Rechtsstellung der Länder begründen, mit dem Anspruch, die Erfüllung dieser konkreten verfassungsrechtlichen Gewährleistungspflicht des Bundes geltend machen zu können. Methodischer Ausgangspunkt zur Klärung dieser Frage ist die Feststellung, dass subjektiv-öffentliche Rechte - zu denen auch verfassungsrechtliche Rechte gehören - immer dann vorliegen, wenn die betreffende Norm (zumindest) auch im Interesse der betreffenden Rechtsträger, nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen worden ist. Die Vorschrift des Art. 87 e IV GG enthält keinen ausdrücklichen Texthinweis auf die subjektive Berechtigung eines bestimmten Rechtsträgers, z.B. eines Bundeslandes oder anderer Rechtsträger. Das prioritäre Prinzip der teleologischen Auslegung erfordert, den Sinn der Vorschrift dahin zu erforschen, ob diese Verfassungsnorm (zumindest) auch im Interesse eines Rechtsträgers erlassen worden ist. (1) Dies ist zunächst objektiv aus dem Sinngehalt des Art. 87 e IV GG zu erschließen. Es stellt sich die Frage, wieweit die Interessenlage der Bundesländer dadurch berührt wird. Dabei ist die Funktion der Gewährleistungspflicht nach Abs. IV zu untersuchen und die damit verbundene Frage zu klären, ob davon Schutzwirkungen gegenüber den Bundesländern ausgehen, die so gewichtig sind, dass sie nicht nur einen Rechtsreflex zu Gunsten dieser Rechtsträger darstellen, sondern auch deren subjektive verfassungsrechtliche Berechtigung begründen. In dem rechtsstaatlichen System der Bundesrepublik entspricht ein rechtlich (ausdrücklich oder implizit) anerkanntes Interesse von einigem Gewicht einer eigenen Berechtigung, die durch diese Rechtsträger eigenständig geltend gemacht und auch gerichtlich verfolgt werden kann. Dies gilt nicht nur für die Individuen, auf die das ursprüngliche Konzept des subjektiven öffentlichen Rechts zugeschnitten ist, sondern auch für öffentliche Rechtsträger wie die Bun-

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desländer. Die Staatlichkeit der Bundesländer, die sie in die gesamtföderative Gemeinschaft eingebracht haben, bildet die Plattform solcher Berechtigungen. Je mehr ein Vorgang, hinsichtlich dem das Grundgesetz dem Bund bestimmte Verpflichtungen auferlegt werden, föderative Rückwirkung auf die Länder hat, umso eher muss deren Berechtigung anerkannt werden, diese Verpflichtung gegenüber dem Bund geltend machen zu können. (2) Um den Sinn und Zweck einer Norm objektiv zu ergründen, dürfen in Fällen, in denen es um die Frage geht, ob die Norm (auch) im Interesse eines bestimmten Rechtsträgers erlassen worden ist, die Beweggründe des Gesetzgebers nicht außer Acht gelassen werden, im konkreten Fall des verfassungsändernden Gesetzgebers, als er 1993 die Verfassung insoweit reformierte 16. Die sonst subsidiäre historische Auslegungsmethode gewinnt in solchen Fällen verstärkt an Bedeutung. Darauf wird sogleich näher einzugehen sein. Bezogen auf Art. 87 e IV GG kann folgendes festgestellt werden: Analysiert man die Funktion dieser Vorschrift, die wesentlich über deren - objektiv zu ermittelnde - ratio Aufschluss gibt, so stellt man eine sachimmanente Verknüpfung einerseits des Schienenpersonenfernverkehrs, für den der Bund verantwortlich ist, und der jetzigen Länderaufgabe des Schienenpersonennahverkehrs andererseits fest. Der Schienenpersonenverkehr im Bundesstaat ist ein miteinander verbundenes Ganzes, dessen Gesamtfunktion notwendig von dem ordnungsgemäßen Funktionieren der Teilfunktionen abhängt. Wird der Fernverkehr über das adäquate Maß hinaus reduziert, wird der regionale Nahverkehr empfindlich gestört. Wird der Fernverkehr nicht gewährleistet, kann dieses Defizit nicht dadurch entschärft werden, dass die Bundesländer sich selbst helfen könnten. Es ist weder Aufgabe noch Kompetenz der Länder, einen fehlenden Fernverkehr durch regionalen Nahverkehr zu substituieren. Die Trennung der Kompetenzräume im Bundesstaat verbietet dies. Auch aus Gründen der Funktionsfähigkeit des Gesamtverkehrs im Bundesstaat ist eine solche Ersetzung in adäquater Weise nicht möglich. Das Nahverkehrsangebot weist andere Sachcharakteristika auf als das Fernverkehrsangebot und ist, was die Befriedigung der jeweiligen spezifischen und unterschiedlichen Verkehrsbedürfnisse angeht, nicht substituierbar. Es bleibt also bei der sachnotwendigen Interdependenz von Schienenpersonenfernverkehr und Schienenpersonennahverkehr. Diese sachimmanente Verknüpfung führt zur Annahme, dass die Verpflichtung des Art. 87 e IV GG nach ihrem funktionellen Gehalt ganz wesentlich auch zentrale Interessen der Bundesländer mitumfasst. Dies bedeutet, dass den Bundesländern die verfassungsmäßige Berechtigung zukommt, die Erfüllung diese Verpflichtung einzufordern. 16

Gesetz vom 20.12.1993, BGBl. I S. 2089.

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Die historische Betrachtungsweise stützt dieses Ergebnis ab: Wie die Materialien zur Entstehung der heutigen Rechtslage zeigen, ist die Einführung des Art. 87 e IV GG auf Drängen der Länder veranlasst worden. Wegen der Übernahme der Aufgabe und Kompetenz für den Schienenpersonennahverkehr durch die Länder wurde die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Bundes für die Erfüllung des Schienenpersonenfernverkehrs in das Grundgesetz eingefügt. Im ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung war die Gewährleistungsvorschrift nicht enthalten. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme die Einfügung einer solchen Klausel für notwendig erachtet 17. Der Bundesrat forderte eine Klarstellung, dass „der Bund bei Wahrnehmung seiner gesamtstaatlichen Aufgaben, insbesondere im Bereich der Verkehrspolitik' 4 das Gewährleistungsziel zu beachten habe. Besonders hervorgehoben wird dabei die Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Absicherung, damit der Bund insbesondere während der Zeit des Übergangs bis zum Abschluss der Neuordnung die ihm anvertrauten Belange des Gemeinwohls wahre. Die verbleibende gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes, insbesondere im Bereich der Verkehrspolitik, wird in der Begründung des Bundesrates auch ganz allgemein (also nicht nur für die Übergangszeit) 18 hervorgehoben 19. Der Bundesrat drückt unmissverständlich aus, dass er seine Zustimmung zur geplanten Verfassungsänderung nicht gebe, „wenn ... nicht die folgenden Bedingungen erfüllt (würden)" 20 . Diese Bedingungen werden dann allgemein formuliert: insbesondere die Anerkennung seitens des Bundes, dass er „in der Pflicht zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Aufgaben im Schienenverkehr (bleibe)" 21 . Die „Interessen- und Zuständigkeitsverflechtung zwischen Bund und Ländern" werde künftig nämlich noch enger 22. Die Bedingungen des Bundesrates für seine Zustimmung werden dann in Form von Textformulierungen für die Grundgesetzreform im Einzelnen konkretisiert, u.a. mit dem Ziel der Einfügung eines neuen Absatz IV des Art. 87e GG, der die Gewährleistungsverpflichtung des Bundes für den Ausbau und die Vorhaltung des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes und auch für die Verkehrsangebote auf diesem Schienennetz entsprechend den „Verkehrsbedürfnissen und dem Wohl der Allgemeinheit" festlegen soll. 23 Es wird daraus ersichtlich, dass die Gewährleistungspflicht des Bundes einem sachgebotenen, dringenden Bedürfnis des Bundesrates und damit der Länder entsprach, die nur 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages (BT-Drs.) 12/50115, 11. So aber Schmidt-Aßmann/Röhl, a.a.O. BT-Drs. a.a.O., 11. BT-Drs. a.a.O., 9. BT-Drs. a.a.O., 9. BT-Drs. a.a.O., 9. BT-Drs. a.a.O., 11.

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unter dieser Bedingung bereit waren, die Grundgesetzreform durch ihre Zustimmung zu ermöglichen. In ihrer Erwiderung lehnt die Bundesregierung auch diese Forderung des Bundesrates ab 24 . Mit einer allerdings zu kurz greifenden Argumentation bezeichnet die Bundesregierung die Forderung des Bundesrates als nicht sachgerecht 25 . Bericht und Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages26 greifen dann den Vorschlag, einen Abs. IV in Art. 87 e GG einzufügen, wieder auf. Im Bericht der Abgeordneten Scholz und Stiegler 27 wird Abs. IV des Art. 87 e GG als Ausdruck der „Sicherstellung einer politischen Verantwortung des Bundes für die Infrastruktur der Eisenbahn des Bundes und dem Gemeinwohl dienende Verkehrsangebote der Eisenbahn des Bundes" bezeichnet28. Dass es sich dabei aber nicht nur um eine politische, sondern um eine verfassungsrechtliche Verantwortung des Bundes handelt, wird, worauf schon hingewiesen wurde, dadurch klar, dass diese Gewährleistungsverpflichtung des Bundes in das Grundgesetz selbst aufgenommen wurde. Somit wird aus der Entstehungsgeschichte des Art. 87 e IV GG klar, dass zwischen Bund und Ländern im Verkehrswesen eine synallagmatische Verzahnung besteht. Der Aufgabenbereich Schienenverkehrswesen ist einheitlich, im Bereich Personenfernverkehr und Personennahverkehr untrennbar verknüpft, jedoch in der Trägerschaft aufgeteilt. Das Gebot der Bundestreue wird hier relevant. Es knüpft an die bestehenden Kompetenzen von Bund und Ländern an und verpflichtet beide Aufgabenträger, Bund und Land, ihre jeweilige Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit und zugleich im Interesse des bundesstaatlichen Gesamtkörpers und seiner Teile zu erfüllen. Das Prinzip der Bundestreue gebietet dem Bund, als Träger der Aufgabe seiner Kontroll- und Gewährleistungspflicht nach Art. 87 e IV GG adäquat nachzukommen. Nur so kann die mit der Erfüllung der Bundesaufgabe verknüpfte Aufgabe der Länder ausreichend erfüllt werden. Das verfassungsrechtliche Band der Bundestreue, das heißt des loyalen Verhaltens einerseits der Länder gegenüber dem Bund, andererseits des Bundes gegenüber den Ländern, fordert, dass bei einer solchen Verknüpfung der beiden Aufgabenbereiche beide Aufgabenträger im Interesse des anderen Teils alles unternehmen, um dessen Aufgabenerfüllung sicher zu stellen und nicht zu behindern.

24 25 26 27 28

BT-Drs. BT-Drs. BT-Drs. BT-Drs. BT-Drs.

a.a.O., 16-17. a.a.O., 17. 12/6280 vom 30. 11. 1993. a.a.O., 7-9. a.a.O., 8.

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Die Bundestreue, die akzessorisch zu schon bestehenden Verfassungspositionen (Aufgabe, Kompetenz, Verpflichtung) ist, bewirkt, dass der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Bundes eine Berechtigung der anderen Seite, also der Länder, diese Verpflichtung einzufordern, gegenüber tritt. Als Ergebnis ist festzuhalten: Wegen der sachimmanenten Verknüpfung des Schienenpersonenfernverkehrs und Schienenpersonennahverkehrs besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch der einzelnen Bundesländer darauf, dass der Bund seine Verpflichtung aus Art. 87 e IV GG erfüllt. Diese Berechtigung der Länder bzw. eines Landes kann demnach auch im Wege des Bund-LänderStreits nach Art. 93 I Nr. 3 GG vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden. III. Die aus Art. 87e IV GG fließenden konkreten Pflichten des Bundes Die Gewährleistungspflicht des Bundes umfasst folgende verfassungsrechtliche Einzelpflichten: 1. Die Planungspflicht Aus Art. 87 e IV GG resultiert zunächst eine Planungspflicht des Bundes , um den gegenwärtigen und zukünftigen überregionalen Verkehrsbedürfnissen gerecht werden zu können. Dazu bedarf es der Erfassung und Bewertung aller hierfür relevanten Faktoren unter besonderer Berücksichtigung der regionalen Verkehrsplanung der Länder und darüber hinaus der Länderplanung generell. Datenerfassung, Datenanalyse und Datenbewertung der relevanten Faktoren müssen zu einer umfassenden verkehrswissenschaftlichen Aufbereitung führen. In die Planung einbezogen werden müssen alle Aspekte des „Wohls der Allgemeinheitsoweit diese im Zusammenhang mit dem Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie mit den Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz stehen. Rechnung getragen werden muss dabei insbesondere den „Verkehrsbedürfnissen". Es kann sich dabei um Verkehrsbedürfnisse handeln, die individualisiert sind (Notwendigkeit der Beförderung zur Verwirklichung der personalen privaten Wünsche oder der individuellen wirtschaftlichen Betätigung, im Rahmen zum Beispiel der beruflichen Tätigkeit oder von Unternehmenstätigkeit), und um solche, die auf das allgemeine Wohl im engeren Sinne bezogen sind: Verkehrsanbindung zur Entwicklung einer wirtschaftlich förderungsbedürftigen Region, Bedienung von Oberzentren und von großen Städten in ausreichender Taktrate und viele Konstellationen mehr.

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Der Begriff des Wohls der Allgemeinheit umfasst auch Anliegen, die über eine enge wirtschaftliche Betrachtungsweise deutlich hinausgehen und die die Beförderung einerseits als Befriedigung individueller Bedürfnisse ansehen, andererseits aber auch als Instrument der Wirtschaftspolitik, ja auch anderer Politikbereiche, erfassen, so zum Beispiel der Außenpolitik (Aufrechterhaltung transnationaler Strecken aus Gründen besonderer außenpolitischer Zielsetzungen, wie transnationale Aufgabenerledigung, grenzüberschreitende Wirtschaftsentwicklung, notwendige Symbolik als Zeichen des Verständigungswillens usw.). Die staatliche Gesamtplanung ist in diesem Begriff „Wohl der Allgemeinheit" einbezogen. Eine Berechtigung zu einer solchen Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ergibt sich daraus, dass die Beförderung als essentielle Dienstleistung für das private Leben der Bürger (sozialer Kontakt, Pflege der kulturellen Dimension des Individuums, Persönlichkeitsverwirklichung durch Freizeit usw.) ebenso wie für die Durchführung und Entfaltung von Wirtschaftstätigkeit ein wesentliches Mittel der politischen Steuerung und der individuellen Bedürfnisbefriedigung ist. Beförderung ist elementare Aufgabe der Daseinsvorsorge und der Staatsvorsorge. Ähnlich wie die Telekommunikation ist die physische Kommunikation im Sinne der Fortbewegung mit Verkehrsmitteln der Schiene (als für den Massenverkehr geeignetes, von der Allgemeinheit erschwingliches und flächendeckend am besten einsetzbares Verkehrsmittel), die das Staatsgebiet nach regelmäßigen Fahrplänen in adäquatem Takt mit adäquater technischer Ausrüstung und adäquatem Komfort umfassend bedienen, ein Rückgrat der modernen Gesellschaft, deren Aufrechterhaltung eine der wesentlichen Aufgaben des Staates ist. „Verkehrsbedürfnis" ist also hier nicht schematisch an den Passagierzahlen zu messen, sondern muss gesamtstaatliche Gesichtspunkte notwendig miteinbeziehen. So wird deutlich, dass die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Wohl der Allgemeinheit" und in dem gebotenen umfassenden Rahmen auch des Begriffs „Verkehrsbedürfnisse" nicht nur durch juristische Konkretisierung erfolgen kann, sondern dass auch im Rahmen politischer Prioritätensetzung verkehrspolitische, wirtschafts- und strukturpolitische sowie gesamtpolitische Aspekte hierbei einzubringen sind. Dabei besteht ein politischer Gestaltungsspielraum bezüglich der Prioritätenwahl, der Akzentsetzung und der Durchführungsmodalitäten; der Gestaltungsspielraum ist aber durch den verfassungsrechtlichen Rahmen begrenzt. Dies bedeutet, dass die Zielsetzung des Art. 87 e IV GG erreicht werden muss, nämlich ein adäquates Verkehrsangebot sicherzustellen. Die Gewährleistungspflicht bedeutet somit „Ergebnisverantwortung". Die Festlegung des Art. 87 e III 1 GG, die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen zu führen, beschränkt nicht die Garantieklausel des Abs. I V . 2 9 Diese verlangt vielmehr vom Bund, für die notwendige Vervollstän-

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digung der Verkehrsleistung durch ergänzende Verkehrsdurchführungsverträge zu sorgen. Dies bedeutet für den Bund, dass die Aspekte des Verkehrsbedürfnisses und des Gemeinwohls gegenüber dem Wirtschaftlichkeitsaspekt vorrangig sind. Allerdings wird man versuchen müssen, beides in Einklang zu bringen. Bei deutlicher Beeinträchtigung der Verkehrsbedürfnisse oder gewichtiger sonstiger Gemeinwohlinteressen muss der Aspekt der Wirtschaftlichkeit zurücktreten. Schon in der Planungsphase sind, soweit möglich, alle diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Soweit sie sich erst später in der Konkretisierungsphase stellen, ist ihnen dann Rechnung zu tragen. Insoweit ist dann die existente Planung mit Hilfe der dort vorgesehenen Mechanismen zu korrigieren bzw. zu ergänzen. Die in der Planungsphase einzubeziehenden Bereiche sind das Verkehrsangebot (außer des Schienenpersonennahverkehrs), aber auch der Erhalt, die Bereitstellung und der Ausbau des Schienennetzes. Die Sicherstellungsklausel erfasst beides in gleicher Weise. Eine Differenzierung, gar zu Ungunsten der Gewährleistung des Verkehrsangebots, verbietet sich. 30 Dass die Gewährleistungspflicht nur bei Eisenbahnen des Bundes, also solchen Verkehrsunternehmen, die mehrheitlich in der Hand des Bundes sind, gelten soll 31 , ist mit der ratio des Art. 87 e IV GG nicht vereinbar. Das Grundgesetz verbietet anders als bei der Infrastruktur einen Transfer an Private nicht. Doch muss auch beim Einsatz von anderen Eisenbahnen als denjenigen des Bundes eine Gewährleistungspflicht des Bundes angenommen werden. Art. 87 e IV GG will ein adäquates Verkehrsangebot generell sichern. Daraus ergibt sich das Bedürfnis einer funktionellen Auslegung des Begriffs „Eisenbahnen des Bundes" 32 . Die Pflicht zur Gewährleistung eines adäquaten Verkehrsangebots ist unabhängig von den Eigentumsverhältnissen an den Eisenbahnunternehmen. Sie bezieht sich umfassend auf alle Eisenbahnen, die die Verkehrsleistungsaufgabe des Bundes (die, wie oben dargestellt, diesem als Träger der Aufgabe verblieben ist) erfüllen. Daraus ergibt sich, dass auch nichtbundeseigene Eisenbahnen zur Aufgabenerfüllung beitragen können bzw. bei Notwendigkeit herangezogen werden müssen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob Infrastruktur von nichtbundeseigenen Eisenbahnen betrieben wird. 29

So wohl auch B. Burger , a.a.O., 130. So mit Recht auch Burger , a.a.O., 136 f. 31 So aber Burger , a.a.O., 109 f. 32 Vgl. auch St. Studenroth, Kompetenzverteilung und -Wahrnehmung im Bereich der Eisenbahnen des Bundes, in W. Blümel/H.-J. Kühlwetter (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts II, Speyerer Forschungsberichte 175, 1997, 329 ff., 334 ff. zum funktionalen Verständnis des Art. 87 e GG (allerdings bezogen auf die Verwaltungskompetenz) . 30

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Den freien Kräften des Marktes eine so vitale Aufgabe des Staates zu überlassen und eine unter Umständen defizitäre Versorgung in Kauf zu nehmen, kann das Grundgesetz nicht wollen. Diese Feststellung widerspricht keineswegs dem Ziel der Bahnreform, den freien Wettbewerb zwischen den verkehrsleistungserbringenden Unternehmen zu sichern. Die Modalität der Verwirklichung einer adäquaten Verkehrsleistung ist der freie Wettbewerb; die Verpflichtung des Staates, diese zu gewährleisten, wird dadurch in ihrer inhaltlichen Dimension nicht berührt, sondern nur in der modalen Dimension festgelegt, nämlich die Mittel des freien Wettbewerbs einzusetzen. Auch über Art. 87 e IV GG hinaus ergibt sich eine (ungeschriebene) Verfassungspflicht 33 für den Staat als Garanten des Wohls der Gesamtheit und des Individuums, diese überragend wichtige Aufgabe funktionell zu überwachen und sicher zu stellen. Die einfachgesetzliche Konkretisierung ist Pflicht des Bundes, was noch näher unter III. 5. dargelegt wird. 2. Die Kontrollpflicht Des Weiteren resultiert aus Art. 87 e IV GG eine verfassungsrechtliche Kontrollpflicht, inwieweit die privaten Leistungserfüller die nach der Planung erforderliche Verkehrsleistung quantitativ oder qualitativ auch tatsächlich erbringen. Die Kontrolle besteht in dem Vergleich zwischen Planungsergebnis und tatsächlicher Entwicklung. Die Kontrolle muss umfassend sein und darf nicht nur punktuell stattfinden, sondern muss stetig vorgenommen werden. Notwendig ist, dass sie möglichst präventiv ausgerichtet ist, um Fehlentwicklungen zu erkennen und zu vermeiden. Um die Kontrollpflicht hinreichend ausüben zu können, bedarf es einer Kooperationspflicht der Unternehmen, die die Verkehrsleistungen erbringen. Sie sind verpflichtet, die entsprechenden Daten zu liefern, jedenfalls zu dulden, dass staatliche Stellen Akten einsehen und Daten erheben. Diese Informations- bzw. Duldungspflicht hat ihre Grenze im Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen. 3. Die Ausgleichs- und Korrekturpflicht Der Kern der Pflichten des Staates nach Art. 87 e IV GG ist die Ausgleichsund Korrekturpflicht des Bundes: Sobald die tatsächlich angebotenen Verkehrsleistungen hinter den objektiven Verkehrsbedürfnissen, wie sie durch die Planung festgestellt wurden, zurückbleiben, tritt diese Pflicht ein. Sie besteht darin, 33

So auch Pielow, a.a.O., 546.

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Defizite auszugleichen. Der Ausgleich muss realisiert werden durch die Mobilisierung neuer Verkehrskapazität im Wege des Abschlusses von Verträgen über Verkehrsdienste mit privaten Schienenverkehrsunternehmen. Solche Verträge können vom Bund mit der DB Reise & Touristik AG, aber auch mit anderen Verkehrsunternehmen abgeschlossen werden. Eine (zumindest unmittelbare) Einwirkungsmöglichkeit auf die Aktiengesellschaften (DB AG oder speziell auf die DB Reise & Touristik AG) kommt wegen der im Aktienrecht angelegten Selbständigkeit der Gesellschaftsorgane nicht in Betracht 34. Auch über das Europarecht ist - aufgrund der RL 91/440/ EWG vom 29.7.1991 - eine solche Einflussnahme verboten 35. Deswegen kann auch die Korrekturpflicht nicht eine Pflicht zur Einwirkung auf die die Verkehrsleistungen erfüllenden Aktiengesellschaften sein. Auch der Abschluss eines (im Kommunalrecht zur Sicherung des kommunalen Einflusses auf Wirtschaftsunternehmen häufig zwischen Kommune und aufgabenerfüllender Unternehmen vereinbarten) „Beherrschungsvertrages" oder Ingerenzvertrages ist nicht möglich, da dies die EG-rechtlich geforderte wirtschaftliche Unabhängigkeit der Verkehrsunternehmen unzulässigerweise einschränken würde. Somit resultiert aus der Ausgleichspflicht auch keine Pflicht, ja gar nicht die Möglichkeit zum Abschluss eines solchen Vertrages. Auch wurde ein solcher Vertrag nicht mit den in der jetzigen DB AG zusammengeschlossenen Gesellschaften abgeschlossen, wäre also ohnehin nur bei Einbeziehung neuer Eisenbahnunternehmen, gerade in Ausübung der Ausgleichspflicht, denkbar, wegen EG-Rechts aber unzulässig. Besonders schwierig kann sich die Realisierung der Ausgleichs- und Korrekturpflicht gestalten, wenn weder ein inländisches noch ein ausländisches Unternehmen mit adäquatem Leistungsvermögen zum Beispiel eine unrentable, aber unter Gemeinwohlaspekten wünschenswerte Verkehrslinie aufrechterhalten will. Der Bund muss dann den Defizitausgleich vertraglich zusichern und eine angemessene Gewinnspanne sichern. Der Bund kann jedenfalls nicht durch partielle „Rückgliederung" Eisenbahndienstleistungen selbst übernehmen. Er müsste nach erfolgloser Ausschreibung Unternehmen (außerhalb der DB AG) gründen und mit ihnen Verkehrsdurchführungsverträge abschließen, die aber die vom EG-Recht geforderte wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht in Frage stellen. Hier wird deutlich, dass der Bund sich dafür einsetzen sollte, dass er nach EG-Recht das Instrument der einseitigen Verpflichtung von Verkehrsunternehmen zur Erfüllung von Verkehrsleistungen auch im Schienenpersonenfernverkehr erhält. 36

34 35

Vgl. insbesondere § 76 I AktG. ABl. der EG Nr. L 237 vom 24.8.1991 S. 25.

Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e IV GG

4. Zur Garantiepflicht

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bei Unterversorgung

Aus Art. 87e IV GG kann grundsätzlich keine Verpflichtung des Bundes abgeleitet werden, die Erhaltung bestimmter einzelner Zugverbindungen zu sichern. Auf Grund einer besonderen Situation kann aber das Auswahl- und Gestaltungsermessen aus wichtigen verkehrlichen Gründen dahin eingeschränkt sein, dass nur eine bestimmte Art der Verkehrsbedienung möglich ist. Auch können Vertrauenstatbestände, die aus der Planung zum Beispiel für ein Bundesland oder Teilregionen entstehen, zu einer Reduzierung dieser Gestaltungsfreiheit führen. Zur Begründung eines Vertrauenstatbestandes können nur objektiv in dieser Hinsicht zu verstehende Umstände, Zusagen oder sonstige spezifische Verhaltensweisen führen. Unzulässig ist es sicher, ganze Regionen deutlich unterzuversorgen oder bestimmte Städte von den Verkehrsleistungen abzukoppeln. Insofern ist das Ermessen, die Verkehrsleistung frei zu gestalten, beschränkt. Dem Staat obliegt, wie oben festgestellt, die Planung unter verkehrlicher und - diese zwingend ergänzend - unter übergreifender, Gesamtstaatsbelange erfassender Perspektive. Hierbei ist der Staat nicht nur auf die Grundsatzplanung beschränkt, sondern kann auch in seine Planung Einzelfragen aufnehmen. Die Garantiefunktion des Bundes umfasst die Realisierung der „Grundplanung' 4 und der (vom Verkehrsunternehmen vorgenommenen) Detailplanung, letztere jedoch immer unter Respektierung der von den Verkehrsunternehmen angestrebten vertretbaren Lösungen. Wenn sich Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit im obigen Sinn ergeben, bezieht sich die Gewährleistung des Bundes auch auf sie. Man kann zusammenfassend feststellen, dass eine Pflicht des Bundes zur Sicherung der Verkehrsbedienung dann eingreift, wenn eine klare Unterversorgung eines bestimmten Gebietes durch die Verkehrsunternehmen droht. Die relevanten Vorgaben sind in der Regel in einem Plan 37 festzulegen, wie noch darzulegen sein wird; wird dieser Plan rechtsverbindlich, sind dessen Festlegungen zu befolgen. Lässt der Plan Spielräume offen oder sind Abweichungen von ihm zulässig, so sind auch die soeben dargestellten Grundsätze der Beschränkung der Gestaltungsfreiheit zu beachten. Gleiche Überlegungen gelten für die Frage, ob bestimmte Zughalte aufrecht erhalten bleiben müssen. Es ist jeweils di& funktionelle Betrachtungsweise angebracht: Erweist sich die Streichung einer Zugverbindung oder eines Zughaltes als ein Fall der Unterversorgung mit Verkehrsleistungen, so muss der Bund seine Kontroll- und Korrekturpflicht nach Art. 87 e IV GG ausüben. 36 Vgl. VO (EWG) Nr. 1191/61, ABl. Nr. L 156 vom 28.6.1969 S. 1, geändert u.a. durch VO (EWG) Nr. 1893/1991, ABl. Nr. L 169 vom 29.6.1991 S. 1, insbesondere Art. 1 V. 37 Zum Schienenpersonenfernverkehrsplan s. auch u. S. 52. 4 FS Hablitzel

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Dabei muss der Begriff Unterversorgung in einem umfassenden Sinne verstanden werden, der auch dann gegeben ist, wenn das spezifische Bedürfnis, eine Linie oder einen Zughalt aufrechtzuerhalten, sich primär aus regionalen Strukturbedürfnissen, insbesondere aus der Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung dieser Region, nicht dagegen aus dem Gesichtspunkt des Verkehrsbedürfnisses im engeren Sinne ergibt. Eine strikt ökonomische Betrachtungsweise ist jedenfalls zu eng, da der Begriff „Wohl der Allgemeinheit", der dem Art. 87 e IV GG zugrunde liegt, nicht allein hierauf abstellt. 5. Der Erlass eines Ausführungsgesetzes

nach Art. 87e IV 2 GG

Art. 87 e IV 2 GG überlässt die Regelung näherer Einzelheiten dem Gesetzgeber. Eine solche Regelung ist aber keineswegs in das zeitliche und inhaltliche Belieben des Gesetzgebers gestellt. Maßgeblich für die Detailregelung nach S.2 ist die inhaltliche Vorgabe nach S.l: Die Gewährleistungspflicht des Bundes, die sich in die oben behandelten Einzelpflichten aufgliedert, ist eine aktuelle, permanente Pflicht, die verfassungsrechtlicher Natur ist. Sie kann nur erfüllt werden, wenn dem Staat die nötigen Instrumente zur Planung, Kontrolle, zum Ausgleich und zur Korrektur von Verkehrsleistungsdefiziten zur Verfügung stehen. Darüber hinaus müssen die relevanten Sachkriterien festgelegt sein. Kriterien und Instrumente müssen in gesetzlicher Form vorgesehen werden. Dies verlangt die Wesentlichkeitslehre, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat. 38 Sie besagt, dass alle wesentlichen Vorgaben für die Regelung einer Materie durch Parlamentsgesetz bestimmt werden müssen. Wegen der überragenden Bedeutung der Verkehrsleistungen für das Allgemeinwohl kommt sowohl den Kriterien als auch den Instrumenten der Planung, der Kontrolle und des Ausgleichs bzw. der Korrektur wesentliche Bedeutung zu; sie müssen deshalb gesetzlich fixiert werden. Eine Festlegung mit bloßen verwaltungsrechtlichen Mitteln reicht nicht aus. Im Bereich der Planung müssen die Erhebung von Daten und die Datenauswertung bestimmten Behörden gesetzlich zugewiesen werden, sie selbst ist nach einem gesetzlich fixierten Verfahren abzuwickeln, muss sich im Rahmen einer gesetzlich determinierten Planungsdichte vollziehen und muss durch Kooperationspflichten, Informationspflichten und Pflichten zur Duldung von Nachforschungen, die gleichfalls nach Art und Umfang gesetzlich zu bestimmen sind, ergänzt werden. All dies kann auf Grund der Wesentlichkeitslehre nur durch formell-gesetzliche Regelung geschehen.

38 Vgl. nur BVerfGE 40, 237, 248 ff., 250; 47, 46, 79 f.; 58, 257, 268 ff.; vgl. auch Ε 33, 125, 158; 33, 301, 346.

Das Sicherstellungsgebot des Art. 87 e IV GG

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Gleiches gilt für die Kontrollpflicht, da auch hier Kontrollmodalitäten und Kontrollmaßstäbe von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der gesamtstaatlichen Verkehrsaufgabe sind. Auch sie können nur durch formelles Gesetz festgelegt werden. Die Instrumente, die für die Durchführung der Ausgleichs- und Korrekturpflicht des Bundes vorzusehen sind, sind gleichfalls von zentraler Bedeutung, da sie den Kern der Zielverwirklichung, nämlich das Mittel der Erfüllung der Gewährleistungspflicht, darstellen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass alle drei Einzelbereiche der Gewährleistungspflicht, der Planungs-, der Kontroll- und der Korrektur- bzw. Ausgleichsbereich inhaltlich und instrumental in den wesentlichen Ausformungen formellgesetzlich geregelt werden müssen. Dies verlangt die Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts. Da die Gewährleistungspflicht nicht erst ansetzt, wenn das Ausführungsgesetz mit Regelungen zu den genannten Aspekten erlassen ist, sondern infolge konkreten verfassungsrechtlichen Auftrags derzeit bereits existiert, muss das Ausführungsgesetz unverzüglich erlassen werden. Das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) mit seinem auf die Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 verweisenden § 15 ist eine Zuständigkeitsvorschrift, die keine ausreichenden verfahrensrechtlichen und keinerlei inhaltliche Maßstäbe liefert. Sie kann deshalb nicht als eine den Gewährleistungsauftrag des Art. 87 e IV GG in ausreichender Weise konkretisierende Norm betrachtet werden. Erst ein instrumental, verfahrensrechtlich und inhaltlich aussagekräftiges Gesetz ist ein ausreichendes Ausführungsgesetz zu dieser Verfassungsvorschrift. Aus der Wesentlichkeitslehre ergibt sich eindeutig eine Handlungspflicht des Bundesgesetzgebers, die schon längst hätte erfüllt werden müssen. Eine adäquate Durchführung der Gewährleistungspflicht durch den Gesetzgeber ist nur mit Konkretisierung durch ein adäquates Ausführungsgesetz möglich. Da ein solches bisher nicht erlassen wurde, liegt ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers vor. Dieses muss er unverzüglich beenden. Die zur Gesetzgebung berufenen Verfassungsorgane, der Bundestag und der Bundesrat, sind verpflichtet, am Gesetzgebungsverfahren insofern mitzuwirken. Ein von einem Bundesland über den Bundesrat eingereichter Gesetzentwurf darf nicht auf unbestimmte Zeit an einen Ausschuss überwiesen bleiben; vielmehr müssen Sachdebatte und Beschlussfassung hierüber stattfinden. Dies muss in einem für ein dringliches Gesetzgebungsverfahren angemessenen Zeitraum erfolgen. Zusammenfassend kann man feststellen: Art. 87 IV 1 GG beinhaltet eine konkrete verfassungsrechtliche Verpflichtung mit Gewährleistungsauftrag an den Bund, die seit Übernahme der Verkehrsleistungen durch Unternehmen zwingend zu erfüllen ist. Die zur Erfüllung erforderlichen Instrumente, Mechanismen und 4*

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Sachkriterien der Planung, Kontrolle und Korrektur von Verkehrsleistungsdefiziten seitens dieser Unternehmen müssen unverzüglich durch formelles Gesetz festgelegt werden. Aus dem vorher Gesagten ergeben sich die Grundinhalte, die ein Durchführungsgesetz nach Art. 87e IV 2 GG aufweisen soll bzw. muss: (1) Zunächst soll als Grundsatz die einfachgesetzliche Wiederholung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Bundes zur Sicherstellung der Verkehrsangebote erfolgen; dabei ist zum Ausdruck zu bringen, dass der Umfang des Gewährleistungsauftrags sich aus dem Unterschied zwischen Planungsergebnis und tatsächlicher Verwirklichung der Verkehrsleistungspflicht ergibt. Unerlässlich sind auch die Definition des Begriffs Schienenpersonenfernverkehr und dessen nähere Charakterisierung. (2) Die Kriterien und Modalitäten für die Planung (Aufstellung eines Schienenpersonenfernverkehrsplans), für die Kontrolle (Informationspflichten der Verkehrsleister; Nachprüfungsrechte des Bundes; Kontrollbericht und seine Veröffentlichung) und für die Konkretisierung der Einstandspflicht des Bundes durch VerkehrsdurchführungsVerträge sind festzulegen. Um eine sachgerechte Planung, die im Bereich der Personenbeförderung anders als im Infrastrukturbereich vorzunehmen ist, zu ermöglichen, müssen, soweit dies möglich ist, Sachkriterien eingeführt werden. Dabei könne Untergrenzen für die jährlich zu bedienenden Zugkilometer gesetzlich genannt werden. Dass solche Untergrenzen nur ungefähre Zahlenangaben enthalten können, schadet nicht; Typisierungen und Pauschalierungen sind, wenn sie innerhalb einer gesetzlich gerechtfertigten Marge liegen, zulässig.39 Die Details der Planung des Bundes können allerdings nur im Plan selbst genauer bezeichnet werden. Diese ergeben sich aus der konkreten Plansituation und können nicht abstrakt durch Gesetz bestimmt werden. Im Übrigen enthält Art. 87 e IV GG selbst die generellen Direktiven, wonach sich die Planung auszurichten hat und welche Gesichtspunkte in die Planung einzustellen sind: das öffentliche Wohl, insbesondere die Verkehrsbedürfnisse, darüber hinaus aber die verkehrsbezogene und verkehrsbedingte Gestaltung des Staatswohls, die die ökonomische Entwicklungsperspektive insoweit einzubeziehen hat. Die Notwendigkeit der Zustimmung des Bundesrates zu einem solchen Schienenpersonenfernverkehrsplan kann im Gesetz festgelegt werden; dies erscheint sinnvoll, da die Verknüpfung zwischen Personenfernverkehr und Personennahverkehr und damit von Bund- und Länderaufgaben eine intensive Beteiligung der Länder über den Bundesrat erforderlich macht. Dass der Bundesrat dem 39

Vgl. dazu L. Osterloh, in M. Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 3 Rn. 104 ff.

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Plan als einer Exekutivhandlung zuzustimmen hat, ist nicht unzulässig, da der Bundesrat gemäß Art. 50 GG auch bei der Verwaltung des Bundes mitwirkt. Im Übrigen ist dies kein ungewöhnlicher Fall, da z.B. bestimmte Verordnungen des Bundes (vgl. Art. 80 II GG) der Zustimmung des Bundesrates kraft Grundgesetzes bedürfen oder auch nichtnormatives Verwaltungshandeln, so der Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften durch die Bundesregierung, an die Zustimmung des Bundesrates gebunden sein kann (vgl. Art. 84 II GG). Bedenken, die Zustimmung des Bundesrates bei der Aufstellung eines Planes zu verlangen, bestehen demnach nicht. Wegen der überragenden Bedeutung der Verkehrsbedienung kann das Durchführungsgesetz auch die Zustimmung des Bundestages zur Planaufstellung fordern. Damit wird nicht in unzulässiger Weise die Planung, eine genuine Funktion der Exekutive, in den Bereich der Legislative einbezogen. Es handelt sich nicht um die Planaufstellung durch Gesetz, die verfassungsrechtlich bedenklich wäre und nur in außerordentlichen Fällen und unter engen Voraussetzungen als zulässig betrachtet werden könnte. Eine solche Funktionsauswechslung wäre grundsätzlich aus Gründen der Gewaltenteilung und wegen der damit verbundenen Verkürzung des Rechtsweges unzulässig, wie das Bundesverfassungsgericht im Stendal-Fall bekräftigt hat. 40 IV. Ergebnisse41 1. Art 87e IV GG stellt die verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes fest, ein dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen entsprechendes Verkehrsangebot im Schienenpersonenfernverkehr zu gewährleisten. Die Bereitstellung von Transportmitteln und -kapazität von gebotener Qualität ist wesentlicher Teil der staatlichen Daseinsfürsorge, deren Erfüllung originäre Aufgabe und Pflicht des Staates ist. Art. 87 e IV GG konkretisiert dies für den Bereich des SchienenpersonenfernVerkehrs. Auch aus den überragenden Verfassungsgrundsätzen des Sozial- und Umweltstaatsprinzips (Art. 20 I, 20 a GG) ergibt sich die Verpflichtung des Bundes, gerade den Schienenpersonenfernverkehr in adäquatem Umfang aufrechtzuerhalten. Das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 I GG) fordert, die zwischen den Bundesländern und deren Verkehrsknoten in den Regionen notwendige Verkehrskommunikation zu schaffen und aufrechtzuerhalten sowie die durch das

40

Ε 95, 1, 16, 17 ff. Die EG-rechtliche Dimension der Fragestellung wurde aus Platzgründen in der vorliegenden Abhandlung ausgeklammert. 41

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Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) und nicht zuletzt auch durch die Grundrechte auf berufliche und persönliche Entfaltung (Art. 12, 2 I GG) geforderte Mobilität zu gewährleisten. 2. Wie festgestellt, handelt es sich bei der Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs um eine Aufgabe des Bundes, die wegen der Trennung der Aufgabenbereiche von Bund und Ländern weder von den Bundesländern autonom wahrgenommen noch vom Bund (ohne Verfassungsänderung) den Bundesländern überlassen werden kann. 3. Die Gewährleistungspflicht des Bundes als weiterhin verbleibender Träger der Aufgabe des Schienenpersonenfernverkehrs ist eine konkrete Verfassungspflicht aus Art. 87 e IV GG, die sachimmanent mit der Aufgabe der Länder im Bereich Schienenpersonennahverkehr verknüpft ist. Eine Nichterfüllung der Gewährleistungspflicht kann von einem Bundesland im BundLänder-Streit gemäß Art. 93 I Nr. 3 GG geltend gemacht werden.

Verfassungssystematische und verfassungspolitische Überlegungen zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union Von Siegfried Broß I. Im Prozess der europäischen Integration hat in Deutschland die Frage eines Referendums zum jeweils erreichten Stand allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. Bis in die jüngste Zeit ging die allgemeine Meinung dahin, das Grundgesetz erteile einem Referendum aus wohlerwogenen Gründen eine unmissverständliche Absage. Die eindeutige Haltung des Grundgesetzes unterstreiche die Regelung des Art. 29, der lediglich für die Neugliederung des Bundesgebietes nach Maßgabe seines Absatzes 2 Satz 1 die Mitwirkung der Bevölkerung über einen Volksentscheid vorsehe. Für die Weiterführung des europäischen Integrationsprozesses wird Art. 23 GG als einschlägig, abschließend und ausschließlich regelnd gesehen1, so dass für eine Mitwirkung der Bevölkerung kein Raum sei2. Eine solche Betrachtungsweise verharrt an der Oberfläche und wird der Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses schon unter allgemein politischen Gesichtspunkten nicht gerecht. Es gibt bisher kein gesamteuropäisches Volk. Vielmehr bilden die nationalen Bevölkerungen der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit das europäische Volk. In meinen Augen geht es nicht darum, staatstheoretisch die Elemente eines Staates zu bestimmen, welche erfüllt sein müssen, damit man von einem Staat sprechen kann. Bei meiner Betrachtung steht im Mittelpunkt die Zusammengehörigkeit der Menschen innerhalb einer staatlichen Verbindung, wie sie im europäischen Integrationsprozess unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung erreicht ist. Hierzu bedarf es identitätsstiftender Elemente, weil ansonsten die Rechtskonstruktion ohne belebenden Inhalt bleibt und damit eines tieferen Sinnes entbehrt. Ein Referendum ist deshalb hervorragend geeignet, die verbindende Kraft zu entfalten. Man mag darüber nachdenken, ob es sich um ein ge1 So namentlich P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 2004, § 21 Rn. 60. 2 So insbesondere Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 146 Rn. 29.

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samteuropäisches Referendum handeln sollte, um die übergreifende identitätsstiftende Wirkung zu vergrößern. Immerhin würde auf diese Weise die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsebene und ihrer Institutionen unterstrichen. Man müsste überlegen, ob durch eine solche Maßnahme nicht schon der Übergang und Abschluss der Bildung eines europäischen Bundesstaates vollzogen würde. Anders verhielte es sich bei nationalen Referenden, weil dies die Position jedes einzelnen Vertragsstaates als Handelnder bei der Fortentwicklung und als Herr der Verträge für sich allein noch nicht in Frage stellen würde. Selbst die Auffassung, die ein Referendum in Deutschland unter Hinweis auf so verstandene verfassungsrechtliche Regelungen ablehnt, müsste jedenfalls wegen der vorgenannten Gründe ein deklaratorisches Referendum akzeptieren. Hierfür spricht zudem, dass es keine gemeineuropäischen Parteien gibt (mit Ausnahme der Neugründung der GRÜNEN), die bei der Vorformung des politischen Willens der Bevölkerung mitwirken könnten. Die Regelungen des Art. 23 GG über die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat ist vom politischen Willen der Bevölkerung bis zur europäischen Ebene eine sehr mittelbare. Eine direkte Verbindung besteht nicht. Das Thema hat durch die Entscheidung des britischen Premierministers Blair unerwartet Konjunktur bekommen und es ist nunmehr aktuell. Die Diskussion wird breiter und gewinnt an Fahrt, wenn man nur die Entwicklung in Frankreich betrachtet. Deutschland kann sich ihr nicht entziehen. Unabhängig vom jeweils vertretenen Standpunkt muss von vornherein auch nur der Anschein vermieden werden, man fürchte diese Diskussion. Schon allein dadurch könnte der europäische Integrationsprozess von Deutschland aus geschwächt werden. Es ist unabdingbar, die Diskussion ernsthaft und vertieft zu führen, damit die politische Position Deutschlands gestärkt wird.

II. 1. Der Hinweis auf Art. 29 GG und der daraus gezogene Schluss, ein Referendum sei im Rahmen der europäischen Integration unzulässig, erschließt sich nicht so ohne weiteres. Formal ist hiergegen nichts zu erinnern. Nur sollte man nicht bei einer formalen Betrachtung stehen bleiben, sondern sich jedenfalls über einen Teil des materiellen Gehalts und der hinter der Regelung stehenden Erwägungen des Verfassungsgebers vergewissern. Art. 29 GG mit der Möglichkeit einer Neugliederung des Bundesgebietes korrespondiert mit dem Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und des Art. 28 Abs. 1 GG. Mit der Neugliederung gehen zwangsläufig Länder in Deutschland unter und neue werden gebildet. Das hat zur Folge, dass insoweit die Identität der jeweiligen Bevölkerung eine Änderung erfährt. Neben anderem gebietet gerade dieser Umstand die

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Mitwirkung der betroffenen Bevölkerung, weil sie andernfalls nicht mehr Subjekt, sondern Objekt einer staatlichen Gewalt wäre. Der fortschreitende Integrationsprozess lässt die Grenzen der Vertragsstaaten unverändert bestehen. Eine Neugliederung des Vertragsgebietes findet nicht statt. Das allerdings ist nur der formale Befund. Materiell hingegen ist durch die fortwährende Übertragung von Zuständigkeiten von der nationalen auf die Gemeinschaftsebene eine Veränderung der staatlichen Grenzen zwangsläufig und eine solche ist auch gewollt. Für diese Sicht sind Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit innerhalb der Gemeinschaft für deren Angehörige und gleichsam eine Gemeinschaftsstaatsbürgerschaft nicht ausschlaggebend. Es geht um anderes. Soweit Zuständigkeiten für die Rechtssetzung auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden, sind die nationalen Grenzen zwangsläufig und uno actu beseitigt. Das so entstehende Gemeinschaftsrecht gilt ungeachtet der Grenzen der Vertragsstaaten innerhalb der Gemeinschaft einheitlich. Sie wird insofern zwar nicht territorial neu gegliedert, doch von der Rechtsordnung her neu bestimmt, weil es im Bereich der Gemeinschaftsrechtsordnung keine verbindlichen nationalen Teilrechtsordnungen mehr gibt. Verbindlich ist insoweit die Gemeinschaftsrechtsordnung. Da die jetzt schon erreichte Entwicklung weit über den Bereich der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der Ursprungsform hinausgeht, sprechen vor dem Hintergrund des Art. 29 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG verfassungssystematische Gesichtspunkte eher für als gegen ein Referendum. Man ist gehalten, in diese Betrachtung die Aufgabe der nationalen Währung, ein nicht unwesentliches Element der Staatlichkeit gerade wegen der damit verbundenen politischen Gestaltungsfähigkeit ebenso einzubeziehen wie den europäischen Haftbefehl. Die Abkehr vom herkömmlichen Auslieferungsverfahren bedeutet nicht nur Aufgabe der staatlichen Souveränität in diesem Bereich, sondern auch Entzug der nationalen Gewährleistungen und der Fürsorgepflicht eines jeden Staates für seine Bürgerinnen und Bürger. Ist schon die Änderung des Art. 16 Abs. 2 GG, wonach kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden darf, mit der Aufhebung des Auslieferungsverbotes durch Satz 2 für die Europäische Union nicht unproblematisch, ist mit dem europäischen Haftbefehl eine neue und bisher nicht für möglich gehaltene Dimension erreicht. Auch insofern wird das Gemeinschaftsgebiet rechtlich neu gegliedert, indem die Sperrwirkung der Grenzen der Vertragsstaaten für bestimmte Rechtsbereiche aufgehoben wird. Betrachtet man lediglich diese wenigen Teilbereiche in ihrer Gesamtheit, drängt sich die Überlegung auf, ob die Europäische Union nicht in Teilen schon heute ein Bundesstaat oder zumindest ein Teilbundesstaat3 ist, dessen 3

Siehe hierzu bereits Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses - Probleme, Risiken und Chancen, EuGRZ 2002, S. 574 (579).

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Bildung nicht auf Art. 23 GG hätte gestützt werden dürfen, weil Art. 79 Abs. 3 GG entgegen steht. Ein Denken in diese Richtung ist aus verschiedenen Gründen unausweichlich. Der europäische Integrationsprozess leidet bereits jetzt daran, dass es an der Definition des angestrebten Endzustandes und dessen Offenlegung in einem transparenten und für die Gesamtbevölkerung in der Gemeinschaft fassbaren Prozess mangelt. Trotz Grundrechte-Charta hat bisher noch keine Debatte über die gemeinsamen und die Gemeinschaft verbindenden Grundwerte stattgefunden4. Eine solche wäre schon vor Schaffung der Grundrechte-Charta angezeigt gewesen, mit der Osterweiterung zum 1. Mai 2004 war sie aber unausweichlich. Da die Gemeinschaft im Zuge ihrer Erweiterung an immer neue Außengrenzen stößt, bedarf es vorab der Bestimmung der verbindenden Inhalte, damit immer neue Beitrittsgesuche sachgerecht und überzeugend qualifiziert werden können. Der allgemein favorisierte Hinweis auf einen „unumkehrbaren dynamischen Prozess" ist zur Beruhigung und zur Vergewisserung über den materiellen Gehalt des Vorgangs und seiner rechtlichen Legitimation ungeeignet. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob die Europäische Union trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht schon heute in Widerspruch zu den stetig weiter Raum greifenden Maßnahmen ihrer Vertiefung im rechtlichen Bereich steht, mit anderen Worten eine Kluft zwischen Handeln und Erklären entstanden ist, die wieder geschlossen werden muss. Aus diesem Grunde sollte über die Regelung des Art. 146 GG verstärkt nachgedacht werden. Sie könnte sich als notwendig erweisen, um bereits dem gegenwärtig erreichten Stand der europäischen Integration die erforderliche verfassungsrechtliche Legitimation zu vermitteln. 2. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Diskussion über unser Thema in der Literatur - wie auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts5 - seit Anfang der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen wird, aber letztlich in Bezug auf den europäischen Integrationsprozess ohne griffige Folgerungen bleibt. Eine sehr schöne und farbenreiche Übersicht über den Meinungsstand in der Literatur gibt Baldus 6. Im Zentrum der seinerzeitigen Diskussion und hiervon sind auch andere Darstellungen aus jener Zeit geprägt 7, standen die Geltung des Grundgesetzes nach der Vereinigung und die 1990 durch den Einigungsvertrag vorgenommenen Verfassungsänderungen. Diesen Darstellungen kommt sonach allenfalls begrenzter Erkennt4 Vgl. hierzu Broß , Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, S. 429 (430 ff.). 5 BVerfGE 89, 155 - Maastricht-Vertrag. 6 Baldus, Eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung - Zum Schicksal des Art. 146 GG nach Vorlage des Abschlussberichts der Gemeinsamen Verfassungskommission, KritV 1993, S. 429 ff. 7 Z.B. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, Rn. 62 ff. m.N.

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niswert zu. Bemerkenswert ist jedoch, dass Baldus 8 als Ergebnis der Übersicht über den Meinungsstand zutreffend festhalten kann, dass es der Staatsrechtslehre nach wie vor nicht gelungen ist, mit unausweichlicher Argumentation die These zu widerlegen, dass Art. 146 GG die Tür zu einer Ablösung des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit aufstoße. Hingegen sind für unser Thema Stellungnahmen in der Literatur ergiebig, die den europäischen Integrationsprozess mit in die Betrachtung einbeziehen. So muss sich etwa nach Huber 9 die Frage stellen, ob die Europäische Gemeinschaft den qualitativen Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat, von der völkerrechtlichen zur staatsrechtlichen Ebene, schon gegangen ist. Allerdings sieht Huber den 1991 erreichten Zustand noch vor der entscheidenden qualitativen Schwelle zum Bundesstaat. Gleichwohl hat Huber 10 den springenden Punkt erkannt. Schon 1994 hält er fest, dass sich beim nächsten Schritt zur Ausgestaltung der Europäischen Union wiederum die Frage stellen wird, ob er mit Art. 79 Abs. 3 GG noch zu vereinbaren ist oder nicht. Er sieht die durch diese Bestimmung gezogenen Grenzen für eine Integration Deutschlands in die Europäische Union anlässlich der Maastricht-Debatte gezogen und erblickt diese im Beitrittsverbot, dem Verbot, der Europäischen Union Verfassungsautonomie oder die Kompetenz-Kompetenz einzuräumen, dem Einfrieren der Unionsbürgerschaft auf dem aktuellen Zuschnitt, dem Verbot einer „positiven demokratischen Kompetenz" für das Europäische Parlament, der verbleibenden Kündigungsmöglichkeit des Vertrages durch die Mitgliedstaaten und dem Verbot einer umfassenden Übertragung von Hoheitsrechten, als den wesentlichen Eckpfeilern, die Art. 79 Abs. 3 GG als tragende Säulen des Staates errichtet. Hieraus zieht er zutreffend den Schluss, dass politische Entscheidungen, die in der Sache auf eine Überwindung der grundgesetzlichen Ordnung hinauslaufen, mit anderen Worten an der Existenz des durch das Grundgesetz verfassten Staates rühren, nur mit einem Rückgriff auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes getroffen werden können. Die Defizite hinsichtlich der Beteiligung der Bevölkerung am europäischen Integrationsprozess zeigt eingehend und eindrucksvoll Schmitz 11 auf. Er hält eine führende Beteiligung des Unionsvolkes im Verfahren der Verfassungsgebung in der Union für unerlässlich 12. Nach seiner Auffassung bedarf es am Ende des politischen Prozesses der Verfassungsgebung der Annahme der Ver8

Baldus, a.a.O. (Fußn. 6), S. 429 (430) m.N. P. M. Huber, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, AöR 116 (1991), 210 (221 f.). 10 P. M. Huber, Die Anforderungen der Europäischen Union an die Reform des Grundgesetzes, ThürVBl 1994, 1 (6 f.). 11 Schmitz, Das europäische Volk und seine Rolle bei einer Verfassunggebung in der Europäischen Union, EuR 2003, S. 217 ff. 12 Vgl. Schmitz, a.a.O. (Fußn. 11), S. 238 ff. 9

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fassung in einem einheitlich organisierten, unionsweiten Referendum. Nur so sei zu erreichen, dass die Unionsverfassung, wenn auch rechtlich den Staaten zuzurechnen, doch jedenfalls politisch unmittelbar auf den Willen des Unionsvolkes zurückzuführen sei 13 . Bemerkenswert ist - und darin entsprechen sich unsere Auffassungen hierzu - , dass er hierfür auch eine Initiative des Europäischen Konvents für angezeigt hält, weil die Mängel des gegenwärtigen Verfahrens, die in der problematischen Zusammensetzung des Konvents begründet sind, nur durch eine maßgebliche unmittelbare Rückkoppelung der Verfassung an den Willen des europäischen Unionsvolkes so weit wie möglich auszugleichen sind. Darüber hinaus allerdings ist zu fragen, ob der Übergang zu einem europäischen Bundesstaat schon stattgefunden hat oder - im Falle der Verneinung - mit der im Entwurf befindlichen Verfassung erreicht sein wird. Hierzu könnte eine neue Verfassung auf der Grundlage von Art. 146 η. F. GG erforderlich sein 14 . Dies würde in einem ersten Schritt ein Referendum voraussetzen, in dem das deutsche Volk auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 GG frei darüber zu entscheiden hätte, ob es überhaupt in seiner Eigenschaft als Träger der verfassungsgebenden Gewalt tätig werden und einer Europäischen Verfassung durch eine (partielle) Ablösung des Grundgesetzes den Weg bereiten will. Erst in einem zweiten Schritt wäre es sodann möglich, in die eigentliche Sachentscheidung über eine Abänderung oder Aufhebung von Art. 79 Abs. 3 GG einzutreten und diese entweder durch einen zweiten Volksentscheid, die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung oder auf andere Weise vorzubereiten 15. III. 1. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag 16 ist im vorliegenden Zusammenhang nicht allzu ergiebig. Das Bundesverfassungsgericht hatte in Verfahren über Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, so dass von daher die Fragestellungen eingeengt waren. Im Mittelpunkt standen Fragen der demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsebene; auch die Frage eines Volksentscheides wurde anhand des gerügten Art. 38 GG wie auch des Art. 79 Abs. 3 GG geprüft, während Art. 146 GG nur am Rande und zu Recht als nicht rügefähiges Recht behandelt wurde 17 . Im Zentrum der Überlegungen stand letztlich die Neuregelung des Grundgesetzes in Art. 23. Dagegen wurde der Gesichtspunkt, ob mit den von den Beschwerdeführern angegriffenen Vereinbarun13

Siehe Schmitz, a.a.O. (Fußn. 11), S. 241 ff. Vgl. hierzu z.B. Zuleeg, AK-GG, 2001, Rn. 7 zu Art. 146. 15 Siehe hierzu umfassend P. M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 146 Rn. 16 f. 16 BVerfGE 89, 155. 17 BVerfGE 89, 155 (180) u. (213). 14

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gen nicht zumindest schon der Übergang zu einem Teilbundesstaat vollzogen worden ist, nicht problematisiert. Eine nähere Betrachtung der Vertragslage unter diesem Gesichtspunkt hätte jedenfalls zu einer Schärfung der Sichtweise und zu einer gesteigerten Sensibilität gegenüber der Entwicklung des Integrationsprozesses führen müssen. Immerhin hat Huber x% festgestellt, dass der zwischenstaatlichen Einrichtung „Europäische Gemeinschaft" erkennbar bundesstaatliche Züge eigen seien. Als Beleg hierfür führt er in besonderem Maße die partielle Kompetenz-Kompetenz des Art. 308 EGV an. Sie ermöglicht es der Gemeinschaft, ihre Zuständigkeit auf immer neue Politikfelder auszudehnen, wenn dafür im Hinblick auf die vor allem in Art. 2 EUV getroffenen Ziele der Gemeinschaft ein Bedürfnis bestehe. Als problematisch sieht er in diesem Zusammenhang vor allem an, dass die Gemeinschaft ihre Beschränkung auf eine eng wirtschaftliche Zielsetzung mehr und mehr aufgegeben habe, und zunehmend wirtschaftsfremde Bereiche wie den Gesundheitsschutz oder den Rundfunk, den Naturschutz oder die Denkmalpflege unter Anknüpfung an wirtschaftliche Randbereiche dieser Materien einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung zu unterwerfen versuche 19. Schon für die von Huber festgehaltene Vertragslage kann man darüber nachdenken, ob die Gemeinschaft nicht schon ein Teilbundesstaat ist. Denn sie hat sich in einem weiteren abstrakten Sinne durch Lücken in den Vertragstexten mittelbar eine Kompetenz-Kompetenz verschafft. Das Gemeinschaftsrecht genießt Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht und dieser gilt entgegen Huber 20 nicht nur grundsätzlich. Der Anwendungsvorrang erfasst die gesamte nationale Rechtsordnung mit allen ihren Ebenen, also auch das Verfassungsrecht. Das hat der Europäische Gerichtshof schon 1964 in der Rs. Costa/ Enel näher dargelegt. Ausdrücklich hat er auch den Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht festgeschrieben 21. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof angeführten Gründe sind überzeugend und können ernsthaft nicht in Frage gestellt werden 22. Es geht darum, dass den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vollumfänglich Rechnung getragen werden muss. Diese Forderung kann nur erfüllt werden, wenn die Auslegung der Gemeinschaftsverträge in einer Hand monopolisiert ist und dafür kommt eben nur der Europäische Gerichtshof in Frage. Der Europäische Gerichtshof nimmt auf diese Weise für die europäische Ebene eine Kompetenz-Kompetenz in Anspruch, weil er die letztendliche und 18

P. M. Huber, a.a.O. (Fußn. 9), S. 210 (211). P. M. Huber, a.a.O. (Fußn. 9), S. 210 (211). 20 P. M. Huber, a.a.O. (Fußn. 9), S. 210 (216). 21 Slg. 1964, 1251/1269 ff.; ständige und weiter geführte Rechtsprechung, siehe z.B. auch EuGH, Slg. 1978, 629/644 - Simmenthai; Slg. 1988, 4689/4722. 22 Einzelheiten hierzu bei Broß, Bundesverfassungsgericht - Europäischer Gerichtshof - Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwArch 92 (2001), 425 ff. 19

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abschließende Definitionsmacht darüber hat, welche Kompetenzen auf die Gemeinschaftsebene übertragen worden sind. Eine solche Definitionsmacht schließt die Möglichkeit des Irrtums und auch des Überschreitens der Zuständigkeit eines Rechtsprechungsorgans mit ein. Aus diesem Grunde war es von Anfang an unabdingbar, in die jeweiligen Gemeinschaftsverträge eine Klausel aufzunehmen, wie zum einen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht zu sehen ist (z.B. kein Vorrang gegenüber bestimmten Kern- und Strukturprinzipien des nationalen Verfassungsrechts), auch wenn nach der Schilderung von Huber 23 eine diesbezügliche deutsche Forderung abgelehnt worden war. Die Bundesrepublik Deutschland hätte dann eben die entsprechenden Verträge nicht ohne eine solche Klausel abschließen dürfen. Des Weiteren habe ich an anderer Stelle 24 darauf hingewiesen, dass spätestens mit dem nunmehr vorliegenden Entwurf einer Gemeinschaftsverfassung die Einrichtung eines Kompetenzkonfliktgerichts zur Klärung der Frage, ob und in welchem Umfang Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen sind, unabdingbar ist. Der Europäische Gerichtshof ist als Gemeinschaftsorgan hierzu untauglich. Schon dieser Umstand muss in eine verstärkte Prüfung einmünden, ob nicht die Schwelle zum Teilbundesstaat bereits mit dem Vertrag von Maastricht überschritten wurde, weil den Verträgen immanente materielle Beschränkungen über die Definitionsmacht des Europäischen Gerichtshofes im Sinne einer Kompetenz-Kompetenz fehlten. Damit wäre aber der von Art. 23 GG zur Verfügung gestellte Rahmen für eine Beteiligung Deutschlands an der Integration bereits gesprengt. 2. Da schon der frühere Art. 235 EWGV (jetzt 308 EGV) keine Sperrwirkung gegen eine Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft in umfassendem Sinn entfaltete, weil der Europäische Gerichtshof die Definitionsmacht seit jeher nicht wirksam konturiert in Händen hielt, kann nun auch nicht einfach davon ausgegangen werden, dass der dem Entwurf einer Verfassung zu Grunde liegende Vertragstext hinter der bereits damals erreichten materiellen Vertragslage zurückbleiben könnte. Es bedarf schon großer Anstrengungen, um der Flexibilitätsklausel in Art. 17 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs keine Kompetenz-Kompetenz in materieller Hinsicht beizumessen. Schließlich handelt es sich von der textlichen Fassung her um eine Generalklausel. Erscheint ein Tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche erforderlich, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen, und sind in dieser Verfassung die hierfür erforder23

P. M. Huber , a.a.O. (Fußn. 9), S. 210 (216) mit Fußn. 40. Vgl. Broß , Bundesverfassungsgericht - Europäischer Gerichtshof - Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwArch 92 (2001), 425 ff. 24

Erfordernis eines nationalen Referendums

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liehen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Ministerrat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften. Wenn man nun Teil III des Entwurfs durchmustert, handelt es sich gegenüber dem früheren Art. 308 EGV und der dortigen eingeschränkten Generalklausel um eine ganz andere Qualität 25 . Es sind dort der Union folgende Politikbereiche zugewiesen: Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft (Titel II), Verwirklichung des Binnenmarkts (Titel III, interne Politikbereiche und Maßnahmen Abschnitt 1), Freizügigkeit und freier Dienstleistungsverkehr (Titel III Abschnitt 2 Unterabschnitt 1 - Arbeitnehmer), Niederlassungsfreiheit (Unterabschnitt 2), freier Dienstleistungsverkehr (Unterabschnitt 3), freier Warenverkehr (Abschnitt 3, Unterabschnitt 1 die Zollunion), Zusammenarbeit im Zollwesen (Unterabschnitt 2), Kapital- und Zahlungsverkehr (Abschnitt 4), Wettbewerbsregeln (Abschnitt 5, Unterabschnitt 1 - Vorschriften für Unternehmen), Beihilfen der Mitgliedstaaten (Unterabschnitt 2), steuerliche Vorschriften (Abschnitt 6), Angleichung der Rechtsvorschriften (Abschnitt 7). In Kapitel II von Titel III werden weitere Bindungen der Mitgliedstaaten für Wirtschafts- und Währungspolitik festgelegt. Die Wirtschaftspolitik wird in Abschnitt 1 ausführlich reglementiert, die Währungspolitik in Abschnitt 2. Abschnitt 3 weist institutionelle Bestimmungen für die Europäische Zentralbank aus und Abschnitt 3a umfasst Regelungen für die dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten. Dabei hat es aber nicht sein Bewenden. Vielmehr werden in Kapitel 3 andere Einzelbereiche, in denen die Union und die Mitgliedstaaten zusammenarbeiten und damit auch Bindungen für die Mitgliedstaaten entstehen, ausgewiesen, so etwa über Beschäftigung (Abschnitt 1), Sozialpolitik (Abschnitt 2), wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt (Abschnitt 3), Landwirtschaft und Fischerei (Abschnitt 4), Umwelt (Abschnitt 5), Verbraucherschutz (Abschnitt 6), Verkehr (Abschnitt 7), Transeuropäische Netze (Abschnitt 8), Forschung und technologische Entwicklung und Raumfahrt (Abschnitt 9), Energie (Abschnitt 10). Kapitel IV dieses Titels behandelt den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und Kapitel V die Bereiche, in denen die Union beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs- oder Unterstützungsmaßnahme durchzuführen. Wenn man diesen Zuständigkeitskatalog für die Gemeinschaft etwa mit den Gesetzgebungszuständigkeiten nach Maßgabe der Art. 70 ff. des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vergleicht, kann man schlechterdings nicht darüber hinwegsehen, dass sich die nationale Souveränität allenfalls noch auf marginale Bereiche erstreckt. Spätestens mit der Umsetzung dieses Entwurfs in ein verbindliches Vertragswerk wird nicht nur eine Europäische Verfassung geschaffen, vielmehr entsteht insoweit zugleich ein Teilbundesstaat von ganz neuer Qualität. Anders als unter der Geltung des Art. 308 EGV, der nur einen 25

Zu Grunde gelegte deutsche Fassung vom 18. Juli 2003 - 2003/C 169/01 -.

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Ausschnitt des einen Staat konturierenden gesamten Staatswesens betraf, verhält es sich nun gerade umgekehrt. Bei den Vertragsstaaten verbleibt nur noch ein geringer Rest von Souveränität, so dass insoweit nur noch Teilvertragsstaaten bestehen. An der Letztentscheidungskompetenz und abschließenden Definitionsmacht des Europäischen Gerichtshofes würde sich nach dem Entwurf nichts ändern. Er hätte also nach wie vor die Kompetenz-Kompetenz, die er schon vormals hatte, nun aber für wesentlich mehr Zuständigkeiten der Gemeinschaft. Man vermag nicht mehr zu erkennen, inwiefern der Europäische Gerichtshof insofern noch kontrolliert und in seiner Macht- und Kompetenzfülle eingeschränkt werden könnte. Es hilft auch nicht weiter, dass ein Austritt aus der Gemeinschaft möglich ist. Unabhängig davon, ob völkerrechtlich die Kündigung eines Vertragswerks oder der Austritt aus einer überstaatlichen Organisation vorgesehen ist, hat jeder Mitgliedstaat kraft seiner staatlichen Souveränität, seiner Eigenständigkeit selbstverständlich jederzeit die Macht, sich solcher völkerrechtlichen Bindungen zu entledigen. Eine andere Frage ist dann die, ob und gegebenenfalls welchen Repressalien er ausgesetzt ist. Aus diesem Grunde ist die Frage, ob ein Austritt aus der Gemeinschaft vertraglich vorgesehen ist, kein Argument für oder gegen einen Bundesstaat auf europäischer Ebene. Vielmehr ist materiell danach zu fragen, was auf nationaler Ebene verbleibt, und das ist - wie im Einzelnen nachgewiesen - reichlich wenig. Es kommt aber selbst auf diese Summe nicht an, weil über Art. 17 des Verfassungsentwurfs mit der Flexibilisierungsklausel in Verbindung mit der sachlichen Ausweitung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft eben nicht mehr zu erkennen ist, wie weit sich die Gemeinschaft über die Definitionsmacht des Europäischen Gerichtshofs in die Mitgliedstaaten hinein ausdehnt. Das Fehlen eines Kompetenzkonfliktgerichts untermauert die hier vertretene Position, weil allein ein solches noch in der Lage wäre, die Qualität eines Bundesstaates in Frage zu stellen. Ein Kompetenzkonfliktgericht würde unterstreichen, dass die Vertragsstaaten tatsächlich noch die Herren der Verträge sind und damit auch über die Frage verbindlich und abschließend entscheiden, in welchem Umfang sie sich supranational gebunden haben. In dem Augenblick, in dem diese Entscheidungsbefugnis auf ein Gemeinschaftsorgan übertragen wird und diese Entscheidung der Vertragsstaaten mit einer enormen Ausweitung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft einhergeht, begeben sich diese ihrer Souveränität. Derzeit bestehen keine Anhaltspunkte dafür, wie in dieser Hinsicht wirksam Schranken gezogen werden könnten. Schließlich schafft der Entwurf ein weiteres Einfallstor für die Gemeinschaft zu Lasten der Mitgliedstaaten. Das in seinem Art. 9 Abs. 3 geregelte Subsidiaritätsprinzip bildet genau betrachtet keine Schranke für ein Tätigwerden der Gemeinschaft, sondern ermuntert diese, umfassend zu agieren; denn mit der Über-

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tragung von Zuständigkeiten auf die Gemeinschaftsebene setzen die Vertragsstaaten schon ein deutliches Signal dahingehend, dass sich eine gemeinschaftsweite Regelung jedenfalls aufdrängt. Andernfalls bedurfte es einer solchen Übertragung auf die Gemeinschaftsebene von vornherein nicht. Das habe ich an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen und vor allem auch, dass die Subsidiarität wirksam nur auf nationaler Ebene als Integrationsschranke eines jeden Vertragsstaates die ihr zugedachte Wirkung entfalten kann, aber dass sie deshalb auch dort geregelt werden muss 26 . Unabhängig hiervon besteht nach dem nationalen Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland eine weitere Integrationsschranke, die ebenfalls einer uneingeschränkten Ausweitung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft entgegengesetzt ist. Es handelt sich um das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, das über Art. 79 Abs. 3 GG nicht aufgegeben werden darf. An anderer Stelle habe ich nachgewiesen27, dass diese Schranke nach dem schon bisher erreichten Stand des Integrationsprozesses überschritten ist. Die gegenwärtige Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland über die Grenzen des Sozialstaates28 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch vielerlei staatliche Maßnahmen auf Grund des Integrationsprozesses den Verpflichtungen aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG zuwidergehandelt wird und insoweit eine Integrationsschranke besteht, die nicht überwunden werden kann.

IV. Vor diesem Hintergrund wird heute zu Recht von vielen Autoren die Frage nach einem nationalen Referendum in Bezug auf den vorliegenden Entwurf einer europäischen Verfassung gestellt 29 . Auch wenn zum Teil Zurückhaltung geübt wird, tritt doch die diesbezügliche Position deutlich zu Tage 30 . Andere Autoren beziehen noch deutlicher Stellung, was zum Teil auch zeitbedingt ist, weil wegen des dynamischen Prozesses nur die jeweils aktuelle Vertragslage Gegenstand der Betrachtung war 31 . Die Ablösung des Grundgesetzes auf der 26

Vgl. hierzu Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses - Probleme, Risiken und Chancen, EuGRZ 2002, S. 574 (575 ff.). 27 Siehe Broß, Daseinsvorsorge - Wettbewerb - Gemeinschaftsrecht, JZ 2003, S. 874 ff. 28 Siehe hierzu auch Hauptpodium des Deutschen Katholikentages in Ulm vom 19. Juni 2004 - Teilnehmer u.a. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Chefvolkswirt der Deutschen Bank Prof Dr. Walter und der Verfasser. 29 Statt aller zunächst Huber, ThürVBl 1994, S. 1 (7 f.). 30 Beispielhaft Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration - Maastricht ad in finitum?, DVB1 1996, S. 1073 (1081 f.). 31 So wie hier etwa auch Dreier, GG-Kommentar, Bd. III, Tübingen 2000, Rn. 16 zu Art. 146; wiederum Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl. 2003, 5 FS Hablitzel

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Grundlage des Art. 146 kann nur als letzter Lösungsweg mit einem noch nicht festliegenden Verfahren angesehen werden. Als „Sofortmaßnahme" liegt ein anderes Vorgehen nahe: Art. 23 GG vermag selbst bei Ausblendung des Art. 146 GG nicht das zu leisten, was bisher unter seiner Inanspruchnahme vertraglich gestaltet wurde. Aus diesem Grunde muss der Integrationsprozess der geltenden Verfassungsrechtslage angepasst werden. Die Grenzen für Art. 23 GG ergeben sich aus Art. 79 Abs. 3 GG und diese inzwischen überschrittenen Grenzen gelten auch für den „unumkehrbaren dynamischen Prozess".

Art. 146 Rn. 18; Kirn, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, 5. Aufl. 2003, Art. 146 Rn. 9 ff. jeweils mit zahlreichen Nachweisen aus der Literatur.

Technische Sicherheit, menschliche Zuverlässigkeit und juristische Bewertung Von Heiner Bubb I. Zielsetzung Man kann mit den Überlegungen zu dem Thema sehr früh in der Geschichte der Menschheitsentwicklung anfangen: ein Charakteristikum, in dem sich der Mensch von den anderen Lebewesen ganz essentiell unterscheidet, ist neben der Entwicklung der Sprache der Gebrauch und die Weiterentwicklung von Werkzeugen. Paläontologische Funde werden dem Menschen zugeordnet, wenn dort Werkzeuge gefunden wurden und der Zeitpunkt wird nicht zuletzt nach dem Entwicklungstand dieser Werkzeuge festgelegt. Das griechische Wort τέχνη (techne) hat ursprünglich die Bedeutung: 1. Kunst, Wissenschaft, Handwerk, Gewerbe, 2. Kunstfertigkeit, Kunstverständnis, wiss. Tätigkeit, Einsicht, Verständnis, 3. Kunstwerk und drückt damit praktisch das ganze Spektrum dessen aus, was wir heute unter „Technik" verstehen. Von Anfang an ist mit dem Werkzeug aber auch verbunden, dass es nicht nur zum Nutzen des Menschen angewendet werden kann, sondern auch zu dessen Schaden, wie es die biblische Parabel des Bruderzwistes von Kain, der seinen Bruder Abel mit der Axt erschlägt, drastisch zum Ausdruck bringt. Der unter ethischen Gesichtspunkten ambivalente Charakter der Technik kommt hier bereits zum Ausdruck: nicht das Werkzeug als solches ist gut oder schlecht, sondern die Absicht, die mit seinem Einsatz verbunden ist. Aber nicht nur die beabsichtigte schädliche Anwendung des Werkzeuges hat für die Beteiligten schlimme Folgen, sondern fatalerweise auch die unbeabsichtigte Wirkung des unbedachten Einsatzes oder von zufälligen, nicht vorausbedachten Abläufen. Technik zeigt also grundsätzlich, auch unabhängig von den Absichten des operierenden Menschen einen ambivalenten Charakter: sie dient dem Menschen - zu diesem Zweck hat er sich ja die Werkzeuge geschaffen - und sie kann dem Menschen schaden. Wenn letzteres der Fall ist, sucht man zumindest im Nachhinein einen Verantwortlichen, der das Werkzeug geführt hat und der mittels dieser Tätigkeit den Schaden herbeigeführt hat. Unter diesem Blickwinkel 5=

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ist es also kein Wunder, dass der Einfluss menschlichen Handelns für die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit von technischen Anlagen, Geräten und ganz allgemein jeder technischen Einrichtung von herausragender Bedeutung ist. Häufig wird angegeben, dass zwischen 70% und 80% aller Fehlfunktionen auf sog. menschliches Versagen zurückzuführen wäre. Dies ist in gewisser Weise eine Trivialaussage, weil in den meisten problembehafteten Abläufen im technischen Umfeld letztendlich eine menschliche Handlung notwendig war, die den fraglichen Vorgang in irgendeiner Weise initiierte. Selbst bei vollautomatisch ablaufenden Vorgängen ist durch eine menschliche Handlung der Programmablauf bestimmt worden oder es hätte durch den richtigen menschlichen Eingriff im letzten Moment der unerwünschte Ablauf vermieden werden können. Eigentlich sind nur ganz wenige Abläufe denkbar, bei denen nicht eine letzte Verantwortung einem in den Prozess in irgendeiner Weise involvierten Menschen zugesprochen werden kann. Dies entspricht auch der juristischen Praxis, die im Strafprozess die schuldhafte Verwicklung des Verursachers zu klären versucht und im Zivilprozess die Ansprüche und Wiedergutmachung des/der Geschädigten festlegen möchte. In diesem Zusammenhang kommt noch eine weitere Problematik ins Blickfeld: wenn durch einen unglücklichen Ablauf unter Beteiligung von Technik Schaden entstanden ist, erfordert es das Gerechtigkeitsgefühl der Geschädigten, dass in irgend einer Form Genugtuung erfolgt: es muss ein Schuldiger gefunden werden, der zur Rechenschaft gezogen wird und der vor allem der „gerechten" Strafe zugeführt wird. Das steht aber oft im Widerspruch zu der juristischen Forderung, einerseits, dass überhaupt ein individuelles schuldhaften Verhalten der Verursachers gefunden werden kann und anderseits, dass nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" dieses auch nachgewiesen werden kann. Die jüngsten Gerichtsentscheide in Verbindung mit dem Seilbahnunglück von Kaprun und dem sog. „Autobahnraser" auf der Autobahn bei Karlsruhe machen dieses Dilemma offensichtlich: Im ersten Fall konnte nach dem (vorläufigen) Urteil der ersten Instanz seitens der involvierten Ingenieure kein schuldhaftes Verhalten gefunden werden, da die verunglückte Seilbahn nach allen Regeln der Technik gestaltet war. Eine unglückliche Verkettung von Umständen ließ eine Ölleitung ausgerechnet über einem Heizlüfter undicht werden. Wieder durch einen Zufall wurde das austretende Öl in Brand gesetzt und das ausgerechnet in einem Bergtunnel, der durch den Kamineffekt den Schwelbrand erst richtig entfachte. Die dicht gedrängten Passagiere in der Seilbahnkabine hatten keine Chance zu entkommen und verbrannten fast ohne Ausnahme. Keine technische Vorschrift verbot die Installation des Heizlüfters unter der Ölleitung und es musste in der Urteilsfindung abgewogen werden, ob die Ingenieure diese Verkettung der Einzelereignisse hätten voraussehen können. Im zweiten Fall fuhr ein Werksfahrer einer Automobilfirma mit hoher Differenzgeschwindigkeit mit sehr dichtem Abstand auf ein mit mittlerer Autobahngeschwindigkeit (ca. 130-150 km/h)

Sicherheit, Zuverlässigkeit und juristische Bewertung

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fahrendes Kleinfahrzeug, das sich zu diesem Zeitpunkt auf der linken Fahrspur befand, auf. Die Fahrerin dieses Fahrzeugs erschrak dadurch offensichtlich so sehr, dass sie die Lenkung verriss und dadurch das Fahrzeug ins Schleudern brachte. Diesen Fahrfehler mussten sie und ihre kleine Tochter mit dem Leben bezahlen, da der Vorgang an einem Baum eines Waldstückes endete. In erster Instanz wurde der Fahrer zwar relativ hoch bestraft; gegenwärtig ist aber fraglich, ob das Urteil einer Berufung standhalten wird, da der Beweis, dass dieser Fahrer tatsächlich der Verursacher des Vorgangs war, nur auf einer recht schwachen Zeugenaussage beruht. Überhaupt zeigt dieser Vorgang das ganze Problem der „gerechten" Urteilsfindung: hätte die verunglückte Fahrerin nicht so heftig reagiert, wäre nichts geschehen und das gleiche, zweifellose frevelhafte Verhalten des Verursachers wäre vollkommen straflos geblieben („Wo kein Kläger, da kein Richter"). Hätte diesen hypothetisch folgenlosen Vorgang eine Polizeistreife beobachtet, so wäre der Fahrer zwar - womöglich mit einem vorübergehenden Entzug der Fahrerlaubnis - verwarnt worden, seine persönlichen Konsequenzen stünden aber in keinem Verhältnis zu den gegenwärtigen Folgen. Das bedeutet: das gleiche Verhalten wird in Abhängigkeit von den Folgen unterschiedlich beurteilt. Die Beispiele aus dem Straßenverkehr sind besonders gut geeignet, das Dilemma der Schuldfindung aufzuzeigen. Wenn ein Autofahrer beispielsweise, abgelenkt durch einen unsicher erscheinenden Fahrradfahrer, der die eigene Fahrt beeinträchtigen könnte, eine rote Ampel übersieht (in diesem Zusammenhang ist auf die physiologische Tatsache aufmerksam zu machen, dass unser Auge nur einen Winkelbereich von ca. 2°-3° scharf und bewusst wahrnehmen kann; im peripheren Bereich existiert nur Bewegungssehen) und weiter nichts geschieht, so bleibt dieses „Vergehen" folgenlos. Beobachtet den gleichen Vorgang einen Polizeistreife, bzw. ist eine scharf geschaltete Überwachungskamera im Einsatz, so sind 4 Punkte in Flensburg und ein einmonatiger Entzug der Fahrerlaubnis fällig. Wenn ein Autofahrer absichtlich die rote Ampel missachtet, um dadurch schneller vorwärts zu kommen, so ist, wenn dies keine weiteren Folgen nach sich zieht, die Konsequenz für den Fahrer die gleiche; d.h. es wird bei einem derartigen Verstoß der Straßenverkehrsordnung immer davon ausgegangen, dass sie absichtlich erfolgt. Für den Fall von Folgen, die eine Gerichtsverhandlung nach sich ziehen würde, würde die individuelle Schuld genauer abgewogen werden. Wieder anders liegt der Fall, wenn es um die Wiedergutmachung eines eventuell entstandenen Schadens geht. Der Straßenverkehr mag in gewisser Weise einen besonderen Bereich darstellen, da hier äußerst schnelle Entscheidungen den Akteuren abverlangt werden, die gegebenenfalls erhebliche Folgen haben können. Allerdings sind eine Menge weiterer Praxisfälle denkbar, die eine ähnliche Charakteristik aufweisen (z.B. Verhalten von Piloten und Lotsen im Luftverkehr). Wenn technische Anlagen und die Interaktion der betroffenen Beteiligten konzipiert werden, steht

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für Überlegungen im Allgemeinen mehr Zeit zur Verfügung. Es ist eine ganz selbstverständliche Absicht dabei, unnötige Risiken für die eventuell Betroffenen zu vermeiden und sich selbst vor unangenehmen Rechtfertigungsaufwänden zu sichern. Trotz aller Vorkehrungen geschehen dennoch Abläufe, die Sachgüter und Beteiligte oder auch Unbeteiligte schädigen. In all diesen Zusammenhängen, in denen es einen, wie auch immer definierten Verursacher gibt, sprechen wir von „menschlicher Zuverlässigkeit", ohne zunächst genauer zu definieren, was damit im Detail gemeint sein soll. Tatsächlich werden unter diesem Begriff zwei unterschiedliche Tatbestände verstanden, was häufig auch zu den mit den obigen Beispielen angeführten Missverständnissen führt: - Zum einen ist damit gemäß dem eher allgemeinen Sprachgebrauch eine positive Grundhaltung gemeint, die sich in der individuellen Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für eine den Anderen nicht schädigende, ja dessen Wohlergehen herbeiführende Handlungsweise zeigt. - Zum anderen ist damit in der im Folgenden näher beschriebenen, eher technisch orientierten Denkweise die Wahrscheinlichkeit dafür gemeint, dass nicht durch zufällige oder durch auf unzulängliche Gestaltung der sog. Mensch-Maschine-Schnittstelle zurückzuführende Fehlhandlungen die Funktionsfähigkeit eines technischen Systems beeinträchtigt wird. Wenn es darum geht, die Einstellung, die Kenntnisse und die Fähigkeiten der verantwortlichen Akteure zu beeinflussen, so kommen dafür im Wesentlichen erziehende Maßnahmen wie Schulungskurse, Trainingskurse u.ä. aber auch die Auswahl des geeigneten Personals in Frage. Die Erfahrung lehrt, dass unspezifische erzieherische Maßnahmen zur Verbesserung der Zuverlässigkeit oft wenig Auswirkung zeigen. Spezifische, bestimmte Verhaltensformen beeinflussende Maßnahmen sind demgegenüber häufig auf unterschiedliche Weise zu wiederholen, damit sie ihre Wirksamkeit nicht verlieren (Hoyos, 1980). Die oben genannten hohen Prozentzahlen für „menschliches Versagen" als Ursache für unerwünschte Betriebsabläufe sind aber zu einem nicht geringen Teil auf unzulängliche Gestaltung der Interaktion zwischen Mensch und Maschine zurückzuführen. Verwechslungen, Übersehen und Fehlinterpretationen kommen so zustande, obwohl der Operateur im moralischen Sinne „die beste Absicht" hatte. Hier liegt noch ein weites Verbesserungspotential brach. Oft wird in diesem Zusammenhang zwar die Ansicht vertreten, ergonomische Gestaltung würde nicht viel bringen und in vielen Fällen wäre die Kosten-NutzenRelation ungünstig. Diese ungünstige Meinung ist aber zum einen darauf zurückzuführen, dass unter Ergonomie häufig eine gewisse sehr konventionelle „Einfachergonomie" verstanden wird, wie z.B. richtige Knopfgestaltung, die Beantwortung der Frage Analog- oder Digitalanzeigen oder die rein körpergerechte Gestaltung von Armaturenträgern und nicht Aspekte des gesamten Infor-

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mationsflusses, wie dies in der Systemergonomie geschieht. Zum anderen liegt die Schwierigkeit der Beantwortung des Kosten-Nutzen-Aspektes darin, dass sich bei einer ungünstigen Gestaltung das entsprechende Fehlverhalten nicht unmittelbar z.B. im Rahmen eines Erprobungsversuches zeigt. Ganz im Gegenteil: Durch geeignete Schulungsmaßnahmen können ungünstige Gestaltungen scheinbar kostengünstig kompensiert werden. Das Problem besteht darin, dass das ungünstige Ereignis bzw. der Unfall prinzipiell ein seltenes Ereignis ist. Reichart (2001) rechnet vor, dass bei Zugrundelegen einer menschlichen Fehlerwahrscheinlichkeit von 10~3, einem typischen Wert für das Nichterfolgen einer Fehlerkorrektur von 10"2, einer Auftretens Wahrscheinlichkeit von 10"5 eines Ereignisses im Straßenverkehr der typische Wahrscheinlichkeitswert von sog. Fahrunfällen von 10" 10 zustande kommt (siehe auch Abbildung 6). Geht man in dem erwähnten Beispiel davon aus, dass durch eine geeignete ergonomische Maßnahme (z.B. verbesserte Rückmeldung) die Wahrscheinlichkeit für das Nichterfolgen einer Fehlerkorrektur auf 10"3 erhöht werden könnte, so würde die Unfallwahrscheinlichkeit für den Fahrunfall auf 10"11 abnehmen. Das würde immerhin eine Reduktion der entsprechenden Unfälle um den Faktor 10 bedeuten! Das Problem dabei ist, dass man die Wirkung einer solchen Maßnahme nicht unmittelbar in einem einzelnen Fahrversuch beobachten kann, sondern bei Berücksichtigung der erwähnten kleinen Zahlen nur durch die statistische Unfallanalyse, wobei im Falle des Beispiels des Verkehrsunfalls die große Anzahl der Einzelereignisse für eine derartige Beobachtung von Vorteil ist. II. Begriffe Menschliches Verhalten im hier interessierenden Sinne bezieht sich, wie einschränkend bereits bemerkt, ausschließlich auf Situationen in Verbindung mit Maschinen bzw. Anlagen und in Organisationen im technischen Umfeld. Als innerster Kern für die Betrachtung dieses Verhaltens kann das sog. Mensch-Maschine-System herangezogen werden. Es wendet den Gedanken des Regelkreises auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine an: Die Information, die eine Aufgabe darstellt, wandelt er in eine entsprechende Stellung des sog. Bedienelementes um, in der Absicht dadurch die erwünschte Aufgabenerfüllung zu bewerkstelligen. Diese bewirkt aber aufgrund der Bedienelementbetätigung und auf der Basis des ihr eigenen Wirkungsprinzips das Ergebnis. Indem dem Menschen diese Aufgabenerfüllung rückgemeldet wird, kann er so ggf. korrigierend eingreifen, wenn ihm die Abweichung zwischen Aufgabenstellung und Aufgabenerfüllung zu groß erscheint. Der beschriebene Prozess kann durch Wirkungen beeinflusst werden, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem beschriebenen Wirkungsgefüge stehen. Sie werden als Umwelteinflüsse bezeichnet (siehe Abb. 1).

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Belastung Umgebung

4

Mensch

Aufgabe

Ergebnis

individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten:

Beanspruchung

Rückmeldung . , . .. Arbeitsqualitat

=

Ergebnis _—;— ж Aufgabe

л ι , · Arbeitsleistung

=

Arbeitsqualität —7 Zeit

Abbildung 1: Das Strukturschema menschlicher Arbeit

In Übereinstimmung mit den Definitionen in entsprechenden Normen wird der Grad der Aufgabenerfüllung, also das Verhältnis von Ergebnis Ε zu Aufgabe Α als Arbeitsqualität Q bezeichnet.

0)

ß=

f

Die in der Zeit t erreichte Qualität ist die Arbeitsleistung L. Der hier aufgezeigte Zusammenhang ist allgemein gültig, wenn es auch in der praktischen Anwendung Probleme macht, ihn zahlenmäßig zu belegen (siehe Kapitel 3). (2)

L= ^

Bezüglich der Qualität lassen sich Toleranzgrenzen festlegen. Werden diese Toleranzgrenzen überschritten, spricht man von einem Fehler. Ist dieser Fehler durch eine menschliche Handlung bedingt, so wird dies als Fehlhandlung (Human Error) bezeichnet. Bezüglich dieser Toleranzgrenzen sind aber unterschiedliche Stufungen denkbar, die die Wahrscheinlichkeit des Übertretens wesentlich beeinflussen: - Physikalisch vorhandene Akzeptanzgrenzen stellen reale Barrieren dar, wie Hindernisse, Sperren, Leitplanken, Nagelbänder oder Sperrklinken, deren Nichteinhaltung deutlich wahrnehmbar ist (Aufprallgeräusch, Kratzen, Schleif-

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geräusche, Nagelbandrattern, Ruck oder Erschütterungen, Überwinden eines deutlich spürbaren mechanischen Widerstandes) und meist zu Sachschäden oder ggf. zu Personenschäden führen kann. - Warngrenzen sind Akzeptanzgrenzen, die im Sinne vorbeugenden Schutzes aus physikalisch-technischen Gründen erlassen worden sind. Ihre Überschreitung ist zwar ohne Aufwand möglich, wird aber aktuell durch Warnsignale aktiv rückgemeldet oder ist eindeutig anhand von Markierungen oder sonstigen Zeichen erkennbar. Dazu gehört ganz allgemein der „rote Bereich" in Anzeigeinstrumenten, die eine Rückmeldung über den aktuellen Betriebszustand liefern, auch visuell wahrnehmbare Zeichen, wie Lichtsignalanlagen oder Verbots- oder Gebotsschilder. - Empirische Akzeptanzgrenzen beruhen auf der Erfahrung einzelner Operateure oder auf der Bildung von Normen aufgrund der Erfahrung Vieler als soziale Konventionen. Allerdings ist es nicht möglich, die Überschreitung dieser Grenzen unmittelbar sinnlich wahrzunehmen. Ihre Wahrnehmung setzt die Interpretation der Situation anhand von Erfahrung, Erinnerungsvermögen und Bereitschaft zur Einsicht in die technisch-betrieblichen oder verhaltenspsychologischen Zusammenhänge, mit anderen Worten zum „Mitdenken" und sicherheitsgerichteten Verhalten, voraus. Zu diesen Grenzen gehören u.a. empirische „Wenn-dann-Vorschriften" (z.B.: das geforderte Verhalten im Straßenverkehr bei der Vorbeifahrt an Kleinkindern oder alten Personen). - Forensische Grenzen sind Akzeptanzgrenzen, die sich vor allem auf Rechtsvorschriften bzw. Vorschriften beziehen, die aus Normen, Regelwerken u.ä. erwachsen (z.B. Geschwindigkeitsgrenzen). Das Problem ihrer Beachtung liegt zum Teil in der mangelnden Einsichtigkeit ihrer Gültigkeit (Handybenutzungsverbot ohne Frei Sprecheinrichtung) und/oder der Unschärfe ihrer Definition (Geschwindigkeitswahl in Abhängigkeit vom Fahrbahnzustand) zum Teil auch darin, dass es oft mehr Aufwand bedeutet, ihnen zu entsprechen, als die Vorschrift zu umgehen. Ein klassisches Beispiel stellt die mangelnde Akzeptanz zum Anlegen des Sicherheitsgurtes oder das Tragen von Schutzkleidung im Arbeitsbereich dar. Um die Möglichkeit von menschlichen Fehlhandlungen in technischen Konzepten kalkulatorisch zu berücksichtigen, definiert man die menschliche Fehlerwahrscheinlichkeit (Human Error Probability , HEP), wobei man sich dafür auf die übliche mathematische Wahrscheinlichkeitsdefinition nach Laplace bezieht: Anzahl fehlerhaft durchgeführter Aufgaben eines Typ i Anzahl aller durchgeführten Aufgaben des Typs i In der praktischen Anwendung dieser Formel ergeben sich nicht nur Probleme mit der genauen Definition dessen, wann eine Aufgabe eines Typs i als

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„fehlerhaft durchgeführt" zu bezeichnen ist (s.o.), sondern auch in der Definition der Anzahl der durchgeführten Aufgaben. Diese ist prinzipiell nur bei der Erfüllung diskontinuierlicher, sozusagen einmaliger Aufgaben möglich (z.B. „korrekte Reaktion auf ein diskretes Signal"), nicht aber bei kontinuierlichen Aufgaben (z.B. „Halten eines Fahrzeugs auf der Straße" oder „kontinuierliche Überwachung einer Anlage bezüglich des Auftretens kritischer Signale"). In den zuletzt genannten Fällen behilft man sich mit der Definition der Fehlerrate Anzahl der fehlerhaft durchgeführten Aufgaben des Typs i

Mit Hilfe eines mathematischen Modells bezüglich der zu unterstellenden Verteilungsform des jeweiligen Fehlertyps lässt sich daraus dann die Fehlerwahrscheinlichkeit berechnen. Im Zusammenhang mit dem menschlichen Fehler hat sich die Annahme einer logarithmischen Normalverteilung sehr bewährt (Swain und Guttman, 1983, Sträter, 1997). In Anlehnung an die allgemeine Definition der Zuverlässigkeit wird unter Berücksichtigung obiger Überlegungen speziell festgelegt (Definition der VDIATZ, 1989): Die menschliche Zuverlässigkeit ist die Fähigkeit des Menschen, eine Aufgabe unter vorgegebenen Bedingungen für ein gegebenes Zeitintervall im Akzeptanzbereich durchzuführen. Die Definition der menschlichen Zuverlässigkeit fordert für einen gegebenen Betrachtungszeitraum eine bestimmte Qualität (Einhaltung der Akzeptanzgrenzen). Da eine Fähigkeit eine generelles „in der Lage sein" bezeichnet, wird implizit eine Aussage über eine wiederholt nachgewiesene Fähigkeit getroffen, also letztlich ein Häufigkeitsbezug gegeben. Die Definition charakterisiert die relative Häufigkeit (a posteriori) bzw. Wahrscheinlichkeit (a priori), mit der eine definierte Leistung vom Menschen über einen gegebenen Zeitraum hinweg erbracht wurde bzw. werden kann. Die menschliche Zuverlässigkeit kann qualitativ festgestellt werden („Die Person ist sehr zuverlässig, d.h. sie erfüllt nahezu immer die Aufgaben"). Sie kann quantitativ durch statistische Zuverlässigkeitskenngrößen, z.B. als Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Aufgabenerfüllung, beschrieben werden (siehe Formel 3). Hinsichtlich der Zuverlässigkeit besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Mensch und Maschine: maschinelle Systeme üben bestimmte Funktionen aus, demgegenüber erfüllt der Mensch Aufgaben durch zielgerichtetes Handeln, wobei ihm hierfür in aller Regel ein Freiraum in der Wahl der Wege und Mittel zur Zielerreichung bleibt. Für die menschliche Zuverlässigkeit ist das Ergebnis des Handelns von Bedeutung. Eine erfolgreiche Aufgabenerfüllung setzt dabei voraus, dass entweder keine fehlerhaften Handlungen mit Auswirkung auf die

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Aufgabenerfüllung begangen oder dass sie rechtzeitig korrigiert werden. Fehler und Fehlerkorrektur müssen für menschliches Handeln also zusammen betrachtet werden. Als Kenngröße für die Zuverlässigkeit wird die Zuverlässigkeitswahrscheinlichkeit (Human Reliability Probability; HRP) herangezogen. Sie lässt sich als mathematisches Komplement zur menschlichen Fehlerwahrscheinlichkeit definieren. (5)

HRP = 1 - HEP .

Grundsätzlich besteht das Problem, den Fehler zu beobachten (siehe Abb. 2); denn im Allgemeinen kann nur die unerlaubte Abweichung des Ergebnisses von der Aufgabe (meist sogar nur in Form des unerwünschten Unfalls) beobachtet werden (Beobachtungsstelle „2"). Aufgrund des bekannten Funktionsprinzips der Maschine muss dann auf die initiierende Fehlhandlung geschlossen werden. Nur in seltenen Fällen gelingt die Beobachtung unmittelbar bei der menschlichen Handlung (Beobachtungsstelle „1"). Aber selbst in diesem Fall kann auf die Ursache, die letztlich in der Informationsverarbeitung durch den Menschen liegt, nur geschlossen werden, wobei man hier immer von einer Modellvorstellung menschlichen Verhaltens ausgehen muss. In Abhängigkeit von diesem Modell wird in beiden Fällen die „Erklärung" einer Fehlhandlung unter Umständen unterschiedlich ausfallen.

©

Aufgabe

Ergebnis

Mensch 0

Abbildung 2: Mögliche Beobachtung einer menschlichen Fehlhandlung innerhalb des Mensch-Maschine-Systems

1. Normatives Verhalten Voraussetzung für die Festlegung von Toleranzgrenzen ist, wie bereits dargelegt, die Definition eines Sollverhaltens. Nur wenn ein solches normatives Verhalten festgelegt ist, kann auch das fehlerhafte Verhalten definiert werden.

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Wie im Folgenden zu zeigen ist, liegt aber genau darin ein eigenes Problem. Als Beispiel sei zunächst eine sehr einfache Aufgabe gewählt, nämlich das Ablängen eines Metallstabes. In diesem Fall ist das Sollverhalten, die Norm, durch die Angabe der Sollänge festgelegt. Wie im technischen Bereich üblich, werden nun noch Genauigkeitsforderungen in Form von Toleranzgrenzen gestellt. Diese können symmetrisch oder asymmetrisch um die Sollgröße angeordnet sein und es können sogar Toleranzklassen gebildet werden, welche die Einordnung in unterschiedlicher Qualitätsklassen ermöglichen (siehe Abb. 3).

Qualität unzureichend

Qualität unzureichend

Qualitätsforderungen erfüllt Abbildung 3: Festlegung von Toleranzgrenzen und damit eines Qualitätsmaßstabes bei einer eindimensionalen Aufgabe

Erweitert man nun die Aufgabenstellung vom eindimensionalen ins dreidimensionale, so erscheint bereits eine bestimmte Willkür notwendig: Das Zurechtfeilen eines Metallwürfels beispielsweise enthält nicht nur die Forderung nach Maßgenauigkeit der jeweiligen Längen, sondern zusätzlich noch die Forderung nach jeweils planen Flächen. Es ist zwar kein Problem, für die sog. Balligkeit ein sinnvolles mathematisch beschreibendes Maß zu finden (siehe auch Abb. 4), mit welcher jeweiligen Gewichtung aber nun die Erfüllung der Aufgabe in den drei Raumdimensionen und die insgesamt sechs Balligkeitsmaße in ein Qualitätsmaß eingehen sollen, setzt eben diese gewisse Willkür voraus. Noch deutlicher wird diese Problematik, wenn es um die Beurteilung eines künstlerischen Entwurfes geht (siehe Abb. 5). Nun ist die Norm in keiner Weise mehr mit technisch-mathematischen Maßen beschreibbar. Dennoch geht der Prüfer bzw. Kritiker bei seinem Urteil - im Einzelfall womöglich völlig unbewusst - von der Vorstellung der Gleichung 1 aus: er setzt das beobachtete Ergebnis zu seiner Vorstellung eines gewünschten Solls in Relation und leitet daraus sein Qualitätsurteil ab.

Sicherheit, Zuverlässigkeit und juristische Bewertung

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„Mittlere Qualität" 12

Rb QlI>~

l

b 0 = τ^ VlI -Balligkeit: mögliche Definition:

Xql Ql:

i=l

12

Q B = 1 - a/b mit Q B h , Q B b , Q B 1 , -

„Mittlere Qualität" -Gesamtqualität: Frage der Gewichtung z.B.: Q

=

3QL + QB

%

XQBi QB

i=l

Abbildung 4: Qualitätsbestimmung für die Ausführung eines dreidimensionalen Körpers (hier Würfel)

Abbildung 5: Qualitätsurteil bei einer mit technisch-mathematischen Maßen nicht quantifizierbaren Aufgabe

Diese scheinbar unpräzise Vorgehensweise ist nun aber in der täglichen Praxis wahrscheinlich viel häufiger vertreten als die zuvor genannten eher abstrakten Maßdefinitionen. Das kommt auch in der DIN 55350, Teil 11 zum Qualitätsbegriff zum Ausdruck: dort wird unter Qualität die Beschaffenheit einer Einheit (was auch das Ergebnis von Tätigkeiten und Prozessen sein kann)

78

Heiner Bubb

bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Forderungen (sog. Qualitätsforderungen) zu erfüllen, verstanden. D.h., es ist im Einzelfall überhaupt nicht notwendig, die Norm genau qualitativ und quantitativ festzulegen, wenn man von allgemein vorausgesetzten Erwartungen ausgehen kann. Dies ist aber bei den meisten Tätigkeiten menschlichen Verhaltens in seiner Wechselwirkung mit Maschinen der Fall, man denke hier nur an die große Variationsbreite zu fordernden Verhaltens im Aufgabenbereich des Straßenverkehrs. Es macht gerade das Spezifikum des Einsatzes des Menschen aus, dass man davon ausgeht, dass er in der Lage ist, kreativ ein Verhalten situationsgerecht zu definieren. Gerade in betrieblichen Situationen, die per se durch ihre Unbestimmtheit und Nicht-Vorhersehbarkeit charakterisiert sind, versagt somit das Vertrauen in einen Automaten und man kann auf den Einsatz des Menschen nicht verzichten.

Abbildung 6: Fehlbaum für ein durch menschliche Handlung mit verursachtes unerwünschtes Ereignis (Top-Event)

Dies macht aber die Bestimmung eines normativen Verhaltens schwierig und damit auch die Festlegung eines möglichen Fehl Verhaltens. Dazu kommt, dass selbst bei Abweichungen von gewünschtem Verhalten das rechtzeitige Erkennen eines Fehlers zu - meist sogar unbemerkt bleibenden - Korrekturen führt. Erst die Kombination aus Fehlverhalten, gefährlicher Konfliktsituation und ausbleibender Korrektur führt zu dem zu vermeidenden unerwünschten Ereignis. In der Fehlerbaumanalyse wird dies als „Top-Event" bezeichnet. Abbildung 6 gibt die

Sicherheit, Zuverlässigkeit und juristische Bewertung

79

prinzipielle logische Verknüpfung dieses Ablaufes wieder. Das Zusammentreffen einer bestimmten Situation, eines Konfliktobjektes und einer menschlichen Fehlhandlung wird als „ K o n f l i k t " bezeichnet (Durth, 1987 bzw. Zimolong, 1982).

I I I . Interessenskonflikt Es entspricht nicht nur dem Interesse des Herstellers eines Produktes bzw. des Betreibers einer Anlage, sondern auch dem des in der aktuellen Situation verantwortlichen Nutzers (Fahrer), die juristische Bewertung der Handlungen zu beachten. Das Problem ist, dass die juristische Behandlung i m Allgemeinen eine „ i m Nachhinein-Behandlung" darstellt, wobei die zuvor erwähnte „unscharfe" Definition der Qualität eine wesentliche Rolle spielt. Das juristische Ziel bei einem eingetretenen Schaden (= hier meist Unfall) besteht darin, einen dafür Verantwortlichen dingfest zu machen. I m Gegensatz zu der technischen Betrachtungsweise, die die Sicherheit bzw. die Gefahr als eine Wahrscheinlichkeitsgröße betrachtet, ist der jeweilige Fall für den Juristen ein eindeutiges, „sicheres" Ereignis, d.h. es war also Gefahr gegeben oder nicht. U m sich vor juristisch begründeten Strafdrohungen und Schadensansprüchen zu sichern, ist es deshalb wichtig, auch die juristische Sicht auf die Wirkung von technischen Systemen zu beachten. Nach dem Produkthaftungsgesetz

(ProdHG) von 1989, zuletzt geändert durch

Gesetz vom 2.11.2000 (BGBl. I S. 1478), das nunmehr auch europaweit gilt, wird zusätzlich zu der üblichen Haftung aufgrund von Verletzung der Sorgfaltspflicht und von Fahrlässigkeit von einer verschuldensunabhängigen

Haftung

ausgegangen. Sie tritt neben die bereits bisher bestehende Verschuldenshaftung nach den Vorschriften des BGB: Gem. § 1 Abs. 1 Produkthaftungsgesetz. Danach muss der Hersteller dem Geschädigten denjenigen Personen- und Sachschaden ersetzen, der durch die Fehlerhaftigkeit des Produktes entstanden ist. A u f ein Verschulden des Herstellers kommt es dabei nicht an. I m Rahmen dieser Gefährdungshaftung

ist eine Exkulpation des Ersatzpflichtigen grundsätzlich

nicht mehr möglich, und zwar auch dann nicht, wenn nachgewiesen werden kann, dass alle zumutbaren Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen getroffen wurden. Insbesondere wird auch für sog. „Ausreißer" gehaftet. Diese Aussage bezieht sich sozusagen auf die Qualität des Produktes. Die Produkthaftung wird also durch die Fehlerhaftigkeit (mindere Qualität, siehe Qualitätsdefinition in Formel 1) des Produktes ausgelöst. Der Fehlerbegriff des Produkthaftungsrechts unterscheidet sich jedoch von demjenigen des kaufrechtlichen Mängelanspruchs. Der Fehler liegt hier nicht in der mangelnden Gebrauchsfähigkeit der Sache, sondern gem. § 3 Produkthaftungsgesetz

darin, dass die unter

Berücksichtigung aller Umstände berechtigten Sicherheitserwartungen

des Ver-

brauchers nicht erfüllt werden. Diese Sicherheitserwartung orientiert sich insbesondere an:

Heiner Bubb

80

- der Art und Weise, in der das Produkt dargeboten wird, also an Werbung, Gebrauchsanweisung und ggf. Warnhinweisen, - dem Gebrauch, mit dem billigerweise gerechnet werden kann und - dem Zeitpunkt des In-Verkehr-Bringens. Werden z.B. in der Gebrauchsanweisung für den Laien missverständliche Formulierungen verwendet, die zu Schäden führen, ist in der Regel bereits von einer Fehlerhaftigkeit auszugehen. Soweit es auf die Art des Gebrauchs ankommt, bildet der bestimmungsgemäße Gebrauch den Ausgangspunkt. Darüber hinaus erstreckt sich die Haftung aber auch auf den vorhersehbaren oder üblichen Fehlgebrauch durch den Verbraucher. Letzteres charakterisiert die sog. Gebrauchssicherheit, mit der billigerweise gerechnet werden kann (reasonability safety), wobei die Orientierung an dem „am geringsten informierten Verbraucher" zu erfolgen hat. Insbesondere die ISO/DIS 12100-1 (Sicherheit von Maschinen) legt genau fest, wogegen sich der Hersteller von Produkten abzusichern hat: nämlich gegen - vorhersehbares

Fehlverhalten

infolge

Unachtsamkeit

und

Konzentrations-

mangel, - Fehler, die durch Umlern- und Gewöhnungsprozesse entstehen, - das Phänomen des „testing of limits" und - unvorhersehbares Fehlverhalten bestimmter Risikogruppen. Eine Haftung entfällt, u.a. wenn der Fehler auf Entwicklungsrisiken beruht, d.h. der Fehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bei In-VerkehrBringung nicht erkannt werden konnte. Die Haftung ist darüber hinaus gem. § 6 Produkthaftungsgesetz

ausgeschlossen oder zumindest verringert,

wenn der

Schaden durch den Geschädigten selbst verursacht wurde, weil er z.B. Warnhinweise oder die Gebrauchsanweisung nicht beachtet hat. Die Beweislastverteilung nach dem Produkthaftungsgesetz folgt allgemeinen Regeln. Der Geschädigte muss die ihm ungünstigen Umstände vortragen und ggf. auch beweisen. Das sind hier Fehlerhaftigkeit, Schaden und der dazwischen bestehende Ursachenzusammenhang (§ 1 Abs. 4 Satz 1 Produkthaftungsgesetz). Der Hersteller muss diejenigen Umstände beweisen, die zu seiner Entlastung dienen können. Dabei genügt der so genannte Anscheinsbeweis. Der hier vorgebrachte juristische Anspruch an den Hersteller resultiert ausschließlich aus dem europäischen Recht. Wie der Sachverhalt i m amerikanischen Recht, das i m Gegensatz zum europäischen (außer dem englischen) ein rein tradiertes Recht ist, entzieht sich der Kenntnis des Autors. Aber selbst der Wortlaut und die Kommentare des europäischen Rechtes veranlassen den Hersteller zu äußerster Zurückhaltung bei der Einführung von innovativen Systemen, die sich auf die Sicherheit beziehen. Diese vom Juristen zum Schutze

Sicherheit, Zuverlässigkeit und juristische Bewertung

81

des Verbrauchers gedachten Gesetze verkehren sich so leider in ihr Gegenteil, indem sie zumindest den Anlass dafür liefern, neuartige, die Sicherheit erhöhende Systeme nicht oder nur mit entsprechender Zurückhaltung einzuführen. Es wäre schon etwas gewonnen, wenn in das juristische Denken die Vorstellung der Wahrscheinlichkeit Eingang finden würde, wie es de facto bereits bei der Beurteilung der Wirkung von Sicherheitsgurten und Airbags i m Bereich der Verkehrsjustiz der Fall ist: es geht um eine Abwägung von Nutzen- und Schadenswahrscheinlichkeit, wie sie mit der in Abbildung 6 angedeuteten Technik möglich ist. Wenn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass durch eine menschliche Fehlhandlung ein Unfall geschieht, höher ist als die Wahrscheinlichkeit für einen durch die Systemmissfunktion verursachten Unfall, so ist nach Ansicht des Autors nicht von einer Produkthaftung i m Sinne des Produkthaftungsgesetzes auszugehen. Würde man nicht so argumentieren, würde jeglicher technische Fortschritt verhindert werden, j a bei konsequenter Anwendung dieses Gesetzes hätte in der Vergangenheit nahezu kein neues technisches System (insbesondere das Auto!) eingeführt werden dürfen. Jüngst wurden in verschiedenen europäischen Forschungsprojekten die dargestellten Fragenkomplexe erörtert, wie zum Beispiels i m EU-Projekt RESPONSE (2001). Bei Produkthaftungsfällen werden Fragen der Beweisführung eine wichtige Rolle spielen. Die Beweislast wird dabei oft wichtiger als die Interpretation der Gesetzeslage hinsichtlich des defekten Produkts sein. Bisher liegt die Beweislast bei Schäden, Defekten und der Klärung des Kausalzusammenhangs bei der geschädigten Partei. Allerdings könnten Gerichte die Verschiebung der Beweislast, abhängig von den Umständen des konkreten Falls, auf den Hersteller erlauben, wenn sie dies als gerechtfertigt und angemessen halten. Gerichte mehrerer europäischer Staaten sind bereit, die Beweislast zu erleichtern, wenn es sich um Fehlerhaftigkeit bei typischen Unfallhergängen handelt. Es läge dann am Hersteller, zu beweisen, dass der Unfall durch etwas anderes als durch einen Systemdefekt hervorgerufen wurde. Es wäre ein für die möglichen Sicherheitsgewinne und für den technischen Fortschritt fatale Entwicklung, wenn man aus Furcht vor den juristischen Folgen auf die Einführung von i m Ganzen hilfreichen neuartigen informationsverarbeitenden, sog. „intelligenten Systemen" verzichten wollte. Wenn man die Schadensforderungen, die sich aus solchen zu erwartenden Abläufen ergeben können, so gering wie möglich halten w i l l , so muss man eine Bedienung schaffen, die zweifelsfrei und unter allen Umständen die Einbindung des Menschen in den assistierten Prozess garantiert, jederzeit dessen Eingriff kompatibel zu den natürlichen Verhaltensmustern macht und ihm immer den vollkommenen Überblick über die Situation gewährt. Aus dieser Forderung erwächst ein hoher Anspruch an die ingenieurmäßige Gestaltung von neuartigen Mensch-MaschineSchnittstellen unter Einbeziehung der Kenntnisse von den Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Menschen. 6 FS Hablitzel

82

Heiner Bubb

Literatur Durth, W./Breuer, В./Bernhard, ΜJUnger, S./Bachmann, T./Boehlau-Godau, R./ Gorol, Th. (1987): Überprüfung des Bemessungsmodells für die Haltesichtweite im Straßenentwurf. Forschungsauftrag FE 02.164 G95E der Bundesanstalt für Straßenwesen, Darmstadt. Hoyos, C. Graf (1980): Psychologische Unfall- und Sicherheitsforschung. Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz. Produkthaftungsgesetz (ProdHG) von 1989. Reichart, G.: Menschliche Zuverlässigkeit beim Führen von Kraftfahrzeugen. Fortschritt-Berichte VDI, Reihe 22 Mensch-Maschine-Systeme, VDI-Verlag, Düsseldorf, 2001. Sträter, O. (1997): Beurteilung der menschlichen Zuverlässigkeit auf der Basis von Betriebserfahrung. Dissertation an der Technischen Universität München. GRS138. GRS. Köln/Germany. (ISBN 3-923875-95-9). Swain, A. DJGuttmann, Η. E. (1983): Handbook of Human Reliability Analysis with emphasis on nuclear power plant applications. Sandia National Laboratories, NUREG/CR-1278. Washington DC. VDI-ATZ (1989): Report of Working Group 4.2 „Human reliability" ESRA Newsletter, Vol. 6, No. 1, 1989. Zimolong, B. (1982): Verkehrskonflikttechnik, Grundlagen und Anwendungsbeispiele, Unfall- und Sicherheitsforschung Straßenverkehr, Heft 35, Bergisch Gladbach.

The Reception of Johann Kaspar Zeuss's Grammatica Celtica in Ireland and Britain, and on the Continent: Some New Evidence By Däibhi 0 Croinin* The first half of the nineteenth century was a happy-hunting-ground for cranks and dilettantes in the areas of language-study and philology, nowhere more so than in the field of Celtic Studies. Ever since the publication in 1762 of Macpherson's notorious Ossian forgeries, the 'Celtomania' that was the almost universal fruit of that strange literary phenomenon spawned a vast array of books and articles, each one more bizarre than the previous, but all of them distinguished by one common trait: complete ignorance of the rules of modern philology. It was for that reason that Colonel Charles Vallancey (1721-1812), one of the founders of the Royal Irish Academy, could publish a study in which he compared the Irish language with most of the other languages of the world, and declared it to have an affinity with them all. 1 'But the truth has at length been established by J. C. Zeuss, a native of Bavaria, in his great work entitled Grammatica

Celtica , printed in Leipsic in 1853. This is the work that

contains the solution of the famous Celtic problem. It made its appearance entirely unexpected. No one knew of Zeuss's great plan, nor had any one, even when the title of the work was advertised, the slightest idea of its importance'. 2 This was the verdict of one of Ireland's greatest scholars, John O'Donovan, and O'Donovan's ecstatic reaction to the appearance of Zeuss's magnum opus has been endorsed by every reputable Celtic scholar since then without exception. Thus the Danish linguist Holger Pedersen, one of the two foremost comparative philologists of the last century and himself the author of a standard handbook of Celtic philology, 3 remarked: 'in a masterly manner, and w i t h no preliminary

* I am grateful to Dr. Anthony Harvey, Dictionary of Medieval Latin from Celtic Sources, the Royal Irish Academy, for bibliographical assistance. 1 An Essay on the antiquity of the Irish language, being a collation of the Irish with the Punic language (Dublin 1772). 2 John O'Donovan, 'Zeuss's "Grammatica Celtica'", Ulster Journal of Archaeology 7 (1859) 11-32, 79-92. O'Donovan was himself the author of A grammar of the Irish language (Dublin 1845), which was known to and used by Zeuss in his studies. For O'Donovan, see further below (n. 33). 6*

84

Däibhi О Cröinin

publications as an indication of what was to come, there appeared, like Athena springing fully armed from Zeus's brow, his great achievement,

Grammatica

Celtica . By this work the foundations of Celtic linguistics were laid, and to this day it is the starting-point for all scholarly investigation in the Celtic languages'. 4 Pedersen was not altogether correct, however, in his comment, that none of Zeuss's previous publications had give any indication of what was in store with the Grammatica Celtica. Already in 1837, Zeuss's epoch-making study, Die Deutschen und die Nachbar Stämme, had appeared in Munich, printed at his own expense. 5 The excellent reviews that the book received from linguists of the eminence of Johann Andreas Schmeller (founder of the Bayerisches Wörterbuch) and the Halle philologist August Friedrich Pott, launched Zeuss immediately into the circle of these eminent scholars, and the doyen of Germanic philology, Jakob Grimm, later added his name to the list of those who had praised Zeuss's work. In the unpublished Zeussiana now deposited in the Bayerische Staatsbibliothek in Munich there is a handwritten addition made to Zeuss's own personal copy of the book, in which he proposed a subtitle to be added to the projected reprint: 'Herkunft und Ausbreitung der mitteleuropäischen Völker nach geschichtlichen Nachrichten und sprachlichen Andeutungen dargelegt'. 6 In fact, it was Zeuss's innovative use of philological methods in the analysis and elucidation of placename and other literary evidence (in Greek, Latin, and German) that marked out Die Deutschen und die Nachbarstämme as a work of pioneering scholarship, particularly in the realm of historical studies. His 1838 monograph, Die Herkunft der Baiern von den Markomannen, gegen die bisherigen Muthmaßungen bewiesen von Dr. K. Zeuß, demonstrated the same mastery of philological methods, but this time based on a first-hand familiarity with the oldest surviving manuscript materials from Bavaria. This trend towards the use of original manuscript sources, and Zeuss's easy mastery of such materials, was again demonstrated in his 1842 study, based principally on the monastic charters from the abbey of Weißenburg dating from the period 661 to 855. Traditiones possessionesque Wizenburgenses is still regarded by historians today as a model study of such source materials. 7

3

Vergleichende Grammatik der celtischen Sprachen, 2 vols (Göttingen 1909, 1913). Holger Pedersen, The discovery of language. Linguistic science in the nineteenth century (Bloomington, Indiana 1931; 1962) 59. The appearance of the Grammatica Celtica occasioned the famous punning encomium of Whitley Stokes, Three Irish glossaries (Calcutta 1862) lxxv: Ζ ευς άρχή, Ζ ευς μέσσα, Λιός δ'έκ πάντα τέτυκται. On Stokes, see further below (n. 19). 5 See Hans Hablitzel, 'Kaspar Zeuß (1806-1856), Philologe', Fränkische Lebensbilder 17 (1998) 165-84: 167. This is only one of our honorand's many valuable and important contributions to the story of Zeuss's life and legacy. See further below (n. 15). 6 Hablitzel, 'Kaspar Zeuß', 168. [My italics]. 4

The Reception of Johann Kaspar Zeuss's Grammatica Celtica

85

It was after his appointment to a teaching position in Speyer in 1839 that Zeuss first showed signs of a serious interest in Celtic studies. 8 He began a series of research trips to libraries in Würzburg, Karlsruhe, Milan, Turin, St Gallen, London and Oxford in order to examine at first hand the oldest manuscript remains of the Celtic languages (principally Old Irish and Old Welsh). In a note written in his own hand now preserved among the Zeussiana he recorded the details of his travels: he was in Würzburg from November 1843 to February 1844, in St Gallen from 30 March to 13 A p r i l 1844, in Karlsruhe from the 3 r d to the 5 t h of May 1844, in M i l a n from the end of August to the beginning of September 1844 (and again in August 1846), and in London and Oxford from the 5 t h to the 11 t h of October 1844. 9 In less a than a year, Zeuss had copied (with an altogether remarkable degree of accuracy, it must be said) the many thousands of vernacular glosses in these libraries; given the often tiny size of the glossing scripts, and Zeuss's relative unfamiliarity with the peculiarities of the Irish and Welsh hands, it was an astonishing achievement. On 8 June 1850 he wrote to his friend, the hymnological scholar Franz Joseph Mone, that his studies were coming gradually to the point where he was beginning to be able to formulate the grammatical rules of the older Celtic languages. 10 Shortly thereafter he began to seek a publisher for his work, and after two further years the Grammatica

Celtica appeared in two volumes of 1219 pages in total.

The scholarly reception for Zeuss's work in Germany was immediate and unanimously ecstatic. A n anonymous reviewer in the Litterarisches Deutschlands

Centralblatt

(possibly Moritz Haupt) expressed his amazement at the book,

and voiced as his only regret that it had been written in Latin. August Friedrich Pott, himself a Celticist of sorts, wrote in the Deutsche Wochenschrift

(1854):

O h n e Übertreibung glaube ich versichern zu können, zwar einigermassen in dem Sinne, aber nicht mit dem zu schäbig gewordenen Worte der durch Buchhändler-Panegyriken in Verruf gekommenen Phrase von befriedigsten Bedürfnissen: Das Buch füllt ein Loch, nein vielmehr einen wahren Abgrund aus auf der grossen Heerstrasse der historisch-philologischen Wissenschaft und auf der

7 Dr. Hablitzel has pointed out ('Kaspar Zeuß', 172) that 'Die rechts- und kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Traditionscodex wird auch dadurch evident, daß dieser als Exponat ... auf der deutsch-französischen Ausstellung Die Franken - Wegbereiter Europas im Jahre 1997 in Mannheim und Berlin gezeigt wurde'. 8 For this and what follows, see esp. Hablitzel, 'Kaspar Zeuß', 172 ff. 9 See Whitley Stokes , Review of Edward Schröder, 'Zeuss, Johann Kaspar', Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 45 (1899), in Zeitschrift für celtische Philologie [hereafter ZCP] 3 (1901) 199-202: 200-201. 10 There is a valuable collection of 30 Zeuss letters, addressed by him to Ch. W. Glück, edited by Ludwig Christian Stem in ZCP 3 (1901) 334-76. See also Sabine Ziegler, 'Geschichte und Aufbau der Grammatica Celtica', in Bernhard Fossman (ed.), Erlanger Gedenkfeier für Johann Kaspar Zeuß. Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, Bd. 49 (Erlangen-Nürnberg 1989) 155-66.

Däibhi

86

Crinin

Seitenbahn der Sprachdisciplin insbesondere'. 11 Immediately after its publication, and in the years that followed, the Grammatica

was praised to the skies

also by Irish, English, and Welsh, as well as Italian and French philologists (the latter not normally noted for their enthusiasm for German scholarship, according to Zeuss's later editor, Hermann E b e l ) . 1 2 Thus a reviewer in a Welsh journal wrote: 'Truly it is an unparalleled acquisition to Celtic literature, whether we regard the importance of its object - the plan on which it has been conducted - or the consummate skill and sound learning which are displayed in its composition ... Professor Zeuss has adopted the right method; and he has accomplished for the Celtic what Diez has done for the Romanic, and Miklosich for the Slavonic languages, following the example of the great Jacob Grimm. ... Too much praise cannot be awarded the Professor for his untiring zeal and diligence in bringing the glosses to light, and making them available for his purpose. He must have met with some difficulty in distinguishing the particular dialect in which each was written; but the result of his inquiry has been very satisfactory. ... In the name of our countrymen we beg to thank Professor Zeuss for this invaluable work - a work which no Irish, Breton, or Welsh scholar should be w i t h o u t ' . 1 3 The Irish scholar, Standish Hayes O'Grady, anticipating John O'Donovan's later encomium, in the Transactions

of the Ossianic So-

ciety for 1855 wrote: 'To Zeuss belongs the honour of having exhumed and printed the oldest known specimens of our language ... The unique philological training of Germany alone could produce such a w o r k ' . 1 4 Another lengthy review, in another Welsh journal, the Archaeologia Cambrensis for 1854, begins thus: 'The infancy of philology has passed away', and after making favourable comparison with, amongst others, the great Jakob Grimm, the author continues: 'but those busy Germans, having used up all the work at hand, are now roaming to the ends of the earth and foraging for new materials'. Finally the reviewer concludes: 'We own to having profited much by Professor Zeuss's labours, and it is with regret that we now take leave of a work which has advanced the light of science to those outermost members of the Indo-European family, which dwell by the verge of the ocean where the sun goes d o w n ' . 1 5 The review is unsigned, and no scholar has ever managed to 11

Cited by Stokes , art. cit., ZCP 3, 201. See Ebel's prefatory remarks in the 2 n d rev. ed. of the Grammatica, ä propos of the contributions of French scholars: 'quibus ostenderunt, quid illius gentis homines profecturi fuerint si tandem aliquando litterarum studiis Germanos aemulari mallent quam malis artibus impugnare et aspergere sanie, imbuti invidia insana'! (cited and criticised by Henri d'Arbois de Jubainville in his review of the work, Revue Celtique 1 (1870-72) 468 ff.: 469. 13 Gwir yn Erbyn у Byd, The Cambrian Journal 1 (1854) 291-94. 14 Cited by Ziegler, art. cit., 158-59. 15 Archaeologia Cambrensis, a record of the antiquities of Wales and its marches, and the journal of the Cambrian Archaeological Association, new series, 5 (1854) 12

The Reception of Johann Kaspar Zeuss's Grammatica Celtica

87

identify its author - not even the indefatigable Prof. Dr. Hablitzel, who has done more than any other modern author to elucidate the history of Zeuss's great enterprise. However, it is now possible (and, we hope, appropriate in a Festschrift to honour Prof. Dr. Hablitzel) to reveal the identity of that writer, and to introduce at the same time another contemporary of Zeuss's who has been overlooked in previous discussion of the Grammatica

Celtica , but one

whose esteem for the great philologist was on a par with everything that has been known to date, and perhaps even greater. Percy Ellen Frederick Smythe, eighth Viscount Strangford, was a remarkable individual. A linguistic genius, he had been sent, while still a student at Oxford in 1845, to Constantinople, as an attache at the British embassy there. He played a part of some importance in the Crimean War, and between 1857 and 1861 he lived, it seems, among dervishes in the Turkish capital. He later undertook extensive travels in the Balkans, but died prematurely in 1869. 1 6 In that time he had acquired what was said to be a perfect command (both spoken and written) of Turkish, 1 7 modern Greek, and Persian (Old and Modern), besides a good knowledge also of the various Indian, Slavic, and Celtic languages. Unlike most of his contemporaries, he correctly deduced that the Gaelic of Scotland was a mere dialect of Irish, that Maltese was a dialect of Arabic, the correct philological relationship between Albanian and Greek, and much else besides. In a notice of Strangford' s death that appeared in one of the newspapers of the day, the remark was made: 'We feel sure that no correspondent of Lord Strangford ever burned a letter of h i s ' . 1 8 He was a keen student of all the linguistic publications of his time, and in all his letters there is a constant refrain: 'When w i l l people read Zeuss?' 1 9 A mer219 ff.; cited by Hans Hablitzel, 'Prof. Dr. Johann Kaspar Zeuss, begründer der Keltologie und Historiker aus Vogtendorf/Oberfranken, 1806-1856', Archiv für Geschichte von Oberfranken 66 (1986) 313-65: 335 (pr. sep. Kronach 1987) [the sep. pr. has valuable additional material]. 16 For this and what follows, see Arnaldo Momigliano, 'Uno storico liberale fautore del Sacro Romano Impero: E. A. Freeman', Rivista Storica Italiana 92 (1980) 152-63; rev. ed. Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, 3 r d ser., 11/2 (1981) 309-22; repr. in Momigliano's Settimo Contributo alia storia degli classici (Rome 1984) 187200; English translation in A. D. Momigliano, Studies on modern scholarship, ed.G. W. Bowersock & T. J. Cornell (Berkeley 1994) 197-208: 203. 17 The first chapter in his reprinted Original letters and papers of the late Viscount Strangford upon philological and kindred subjects, ed. by Viscountess Strangford (London 1878) 3-10, is entitled 'Observations on the Turkish language'. I have not seen his Selected writings, which were published in two volumes in 1869. 18 Saturday Review, 16 Jan. 1869; cited, Original letters and papers, v. Readers of George MacDonald Fräser's amusing Flashman historical novels might be forgiven for seeing more than a passing resemblance between their hero and Strangford - at least in so far as concerns his travels and linguistic prowess. 19 E.g., in a letter of 7 Nov. 1863 addressed to the English historian (Regius Professor of History at Oxford from 1884) E. A. Freeman; Original letters and papers,

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Cröinin

ciless critic of all the romantic nonsense peddled by contemporary pseudoscientific Celtophiles, both insular and continental, Strangford in his correspondence (which was both prolific and wide-ranging) again and again returns to the dire need (as he saw it) for would-be students of the modern and older languages to heed the rules of comparative philology. Following the example of the great Sir W i l l i a m Jones, who, in 1786, in his 'third anniversary discourse' delivered as President of the Bengal Society in Calcutta, had expressed the opinion that Gothic and Celtic, as well as Greek and Latin, were related to Sanskrit, 2 0 Strangford pursued this line of reasoning with an astonishing array of linguistic facts gleaned from an extraordinary number of languages, most of which he appears to have known at first-hand; and at all times it is an erudition lightly worn. 2 1 In all his writings he reiterates the view that 'what Diez is in Romanics, and Grimm in Teutonics, Zeuss [is] in Celtics - the father of true philological method and c r i t i c i s m ' . 2 2 The following remarks may be taken as typical of his powers of polemic as well as of his philological method: Scotland is a geographical term, or a political term; but not an ethnological term, except under certain limitations, exluding all reference to ultimate descent. It may become one in the future, as may Switzerland; and this analogy of ours is one which has long struck me. Ethnically, Scotland is simply made up of Northumbrian English and Scotian Gael; to these must be added, as elements historically known, certain people called Picts, and certain true Cambrian Britons. But as these people were all politically united for hundreds of years, their descendants want to reduce

26-29: 28. Strangford was even more acute than this statement would suggest, for the second half of it reads: 'and when will Whitley Stokes reprint his Celtic articles in the Saturday [Review]?'. Stokes (1830-1909) has been described as 'the greatest scholar in philology that Ireland has produced' by James F. Kenney, Sources for the early history of Ireland 1: ecclesiastical (New York 1929; repr. Dublin 1993) 74. A bibliography of his publications (ZCP 8 [1912] 351^06) extends to over 50 pages. There is a memoir, by Kuno Meyer, in Proceedings of the British Academy 4 (1909-10) 36337. Sadly, Stokes's successors in Celtic studies (in Ireland, at any rate) have not bothered to answer Strangford' s call. 20 See his Asiatic Researches, or Transactions of the Society instituted in Bengal ... 1 (Calcutta 1788) 422-23. That said, Strangford was not averse to correcting Jones when he thought it necessary, as, e.g., in his view that Pushtu was a Semitic language; see Original letters and papers, 56-57. 21 He remarked drolly in one letter that 'Maori orthography is my strongest point but seven', and described one German scholar's Tschetschenische Studien as 'a nice light work for summer wear'!; Original letters and papers, 72. Being taxed on one occasion by a critic with linguistic inaccuracy, he closes his response thus: 'The last thing I did was the drawing-room edition of Halyudha's Abhidhanaratnamäla (having previously glanced at the bell-tent edition for the use of subalterns), just published at Ahmednuggur for the festivities held there by so many millions of our dusky fellowsubjects in honour of the ter-millenary of that sweet swan of Nerbuddha. I daresay I missed many of the best points, in humour and pathos, of the mighty Sanskrit tragedian ... but at least I put my horse at the fence boldly'! The Realm, 15 & 22 June 1864. 22 Original letters and papers, 133-34, in a letter to Freeman dated 17 Jan. 1865.

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them to uniformity of race as far as they can do with safety, and without sinning in the light of day. The Picts are taken up as ther stalking-horse of this theory, as alone furnishing the necessary obscurity. The Irish connection is disliked in Scotland, as the Lappish is disliked in Hungary; so that when [W. F.] Skene 23 was the first to proclaim the identity not only of the Picts with the old Caledonii, but the direct representation of these by the modern Highlanders both in blood and in language, he was crowned a prizeman, and met the wish of the national mind so exactly, that he founded a school in the long-run. ... Its doctrines are now almost a fixed article of faith north of the Tweed, so far as I can see. You do not contradict them, but I do not believe a word of them. They stultify the whole application of comparative philology to Celtic; and, whatever may have been the case at the time Skene wrote his treatise, there is no excuse for them since Zeuss and Whitley Stokes. 24 His verdict on this 'Scottish School' was damning: Ί think Skene very poor ..., and now, with Zeuss's school, worth little'. It was a view that Strangford reiterated in a letter to the eminent German philologist, Max Müller: I believe the book [by Robertson] 25 maintains a pestilential provincial Scotch heresy, that the Gael of Scotland are co-ordinate with, and not subordinate to, the Gael of Ireland; that their language, at any rate, descent apart, is Proto-Gaelic, not transplanted Irish. I paid much attention to this when in Ireland last year, and am sure that there is not a single form in the whole language which is not either actual Irish or decayed Irish. Such a view simply stultifies the whole work of Zeuss and his school. Scotch Gaelic is merely good as Yankee English is good. But is it not astonishing how the dwellers in Scotland have robbed the Irish of the word Scot in old days, and have all but succeeded in depriving them of the word Gaelic for their language?26 Strangford was in no doubt about the political purpose to which this pseudophilology of the 'Scottish School' (which he described as 'entirely pre-scientific in character') was being put, and further remarked: 'But is it not wonderful how these reiving loons north of the Tweed have reft Ireland of the name Scotia to begin with, and are in a fair way of monopolising the word Gaelic as w e l l ? ' 2 7 . 23 William Forbes Skene (1809-92) published his Celtic Scotland: a history of ancient Alban in three volumes (Edinburgh 1876, 1877, and 1880); vol. 1 was devoted to 'History and Ethnology'. 24 Original letters and papers, 154-55, in another letter to Freeman dated 1865. It might be remarked here that in this analysis Strangford was remarkably prescient of present-day political (and academic!) trends in Scotland. 25 I have, unfortunately, failed to identify this work. 26 Original letters and papers, 168 (letter dated 11 Jan. 1866). 27 It is perhaps worth pointing out in this context that Strangford shared none of his contemporary Englishmen's disdain for the 'mere Irish', but greatly sympathised with (and what is more important, understood) the feelings of nationalist Irishmen of the time. Thus he sardonically remarks how 'not only the Times, but all Englishmen, wonder why the Irish should be so fractious and perverse under the nursing of our good and reforming generation of English'. The reason, he wrote, was obvious: One thing is certain, that the English nation of a hundred and fifty years ago did wilfully

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Strangford contributed a note to Matthew Arnold's famous book, The study of Celtic literature

(London 1867) which gives a further insight into his per-

spective on Celtic philological matters, and his estimation of Zeuss's contribution to the 'new learning': When the Celtic tongues were first taken in hand at the dawn of comparative philological inquiry, the tendency was, for all practical results, to separate them from the Indo-European aggregate, rather than to unite them with it. The great gulf once fixed between them was narrowed on the surface, but it was greatly and indefinitely deepened. Their vocabulary and some of their grammar was seen at once to be perfectly Indo-European, but they had no case-endings to their nouns, - none at all in Welsh, none that could be understood in Gaelic; their phone sis seemed primeval and inexplicable, and nothing could be made out of their pronouns which could not be equally made out of many wholly un-Aryan languages. They were therefore coordinated, not with each single Aryan tongue, but with the general complex of the Aryan tongues, and were conceived to be anterior to them and apart from them, as it were the strayed vanguard of European colonisation or conquest from the East. The reason of this misconception was, that their records lay wholly uninvestigated as far as all historical study of the language was concerned, and that nobody troubled himself about the relative age and the development of the forms, so that the philologists were fain to take them as they were put into their hands by uncritical or perverse native commentators and writers, whose grammars and dictionaries teemed with blunders and downright forgeries. One thing, and one thing alone, led to the truth: the sheer drudgery of thirteen long years spent by Zeuss in the patient investigation of the most ancient Celtic records, in their actual condition, line by line and letter by letter. Then for the first time the foundation of Celtic research was laid; but the great philologist did not live to see the superstructure which never could have been raised but for him. Prichard was first to indicate the right path, and Bopp, in his monograph of 1839, displayed his incomparable and masterly sagacity as usual, but for want of any trustworthy record of Celtic words and forms to work upon, the truth remained concealed or obscured until the publication of the Grammatica Celtica. 2* In a letter of 2 Jan. 1866, addressed again to Freeman, Strangford made reference to the anonymous - and hitherto unidentified - review of the Grammatica Celtica that appeared in the Archaeologia Cambrensis for 1854. It was, Freeman had informed him, the English scholar John Earle (Rawlinson Professor of English at Oxford), though Strangford - in a droll fashion - commented: Ί had no idea it was he who reviewed Zeuss, and am sorry to hear i t ' ! But he went on to explain his remark: 'This seems a very ungracious thing to say; but what I mean is, that when I read the paper, as I did about eight months ago, I rejoiced overmuch in the thought of its being by a really wise and strong Celt at last, one who not only would walk straight himself, but would know the

and deliberately murder, in a national sense, the old Gaelic nation'; Original letters and papers, 152-53, in another letter to Freeman dated 1865. 28 Original letters and papers, 170-71.

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reason why i f his countrymen did not do likewise. A n d of course my j o y has become damped upon hearing that it is by a mere Englishman after a l l ' ! 2 9 Strangford had been told by another scholar that the review was the work of the Archaeologia

editor, Longueville Jones: 'But I think it is much above the

strength of any Celt going, except Whitley Stokes'. Strangford' s dim view of contemporary Scottish and Welsh 'philology' contrasted with his verdict on Irish scholars of the time: 'The Irish, on the other hand, warmly adopting the doctrines of the new school in philology, hold a position, it seems to me, of sound criticism and of hearty concession where concession is due, not of carping vindication'. The reason was not far to seek: The mischief done by Macpherson is quite incalculable. He is thoroughly incorporated into Scotch national vanity, and I suppose even the most liberal Scotchmen can hardly be got to say anything stronger of him now than of Wallace or Mary ... Some of these days I shall throw up house and home and go north, and preach to the Scotch how much nobler is truth than Scotland; how, properly speaking, there is no such thing as a Scotchman; and if I am martyred and lapidated, as of course I shall be, I shall say with my dying breath to the foremost of my persecutors (who will probably be called Blackie): Majorum primus quisquis fuit ille tuorum, Aut Anglus fuit, aut illud, quod dicere nolo - which last is a very pretty expression for an Irishman'. 30 He described his humour towards 'the latest school of Scotch writers on Celtic matters' as 'more feline than canine; I am perfectly playful, bitterly cruel, and wholly relentless towards them'. In March of 1866 Strangford received an invitation from Wales to be one of three judges at the Eisteddfod (the annual Welsh festival of 'native' culture) 'to decide upon the merits of the prize essay on the amount of British blood in the modern English'. 3 1 His initial reaction was to refuse the invitation, on the grounds that the essays were to be written in Welsh, but upon hearing that the really serious contenders would be allowed submit their efforts in English, he relented, but added: Between you and me, the prize, or rather the animus which led to the foundation of the prize, looks horribly like a bribe to prove that we are all half Welshmen; but for goodness' sake don't go and let out that I say so. Last year they seem to have been a pack of fools who wrote, one and all; but as the prize is well worth trying for, I am in a state of dread lest I should be called upon to decide among half-a-dozen German Gelehrten , each no better and no worse than the other, and all knowing and saying the same thing. 29

Op. cit., 175-76. The references are to the 13 th -c. Scottish national hero William Wallace (of 'Braveheart' fame!), and to Mary Queen of Scots. 31 Original letters and papers, 183 ff. 30

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Crinin

Scots and Welsh were joined together in their ignorance, Strangford felt, based in the former instance on the farrago of nonsense that surrounded Macpherson's 'Ossianic' poems, in the case of the Welsh, by an exaggerated notion of their antiquity. O f the Scots he wrote: 'The idea of calling the vast mass of Ossianic remains found in Irish MS. of the twelfth and thirteenth centuries "copies of the originals", meaning Scotch originals, is one of the most delectable pieces of provincial coolness I ever read. 3 2 In this Strangford was, needless to say, perfectly correct, and Skene's view that the (genuine) Ossianic poems 'illustrate the language and literature of the Scotch Highlands at an early date' is rightly dismissed as absurd: Now the fallacy in this is to suppose that these had any appreciable separate existence at that date apart from the Irish. The language and literature were the same in each, and Ireland was the metropolis. No Scotchman has done anything for his Gaelic, nor ever will do anything, if he looks at it from the solely Scotch point of view; which is wholly inadequate to explain any single one of its phenomena. If he wants to explain it he must go to the Zeussian or Stokesian Irish of the eighth and ninth centuries, or else sit down content with the old pre-scientific belief that it is now more or less as it always was; in which last case he simply remains out in the cold - out of the philological running altogether, like a mere Welshman of the old school. 33 This is in stark contrast to what he has to say about the state of contemporary archaeological and philological studies in Ireland: Yet the modern Hibernologists, if we may be allowed such a word, stand not only foremost, but stand unapproached as a co-operative and working body of archaeologists among the antiquarian societies of the Empire. It may be strange, but is no less true, that they are equal to the best Germans in massiveness and depth of erudition, in width of view, and severity of criticism. This is true of Protestant and Catholic alike - of Reeves and Todd as well as of O'Donovan and O'Curry; and if there is one thing that gives more unmixed satisfaction than the method and result of their work, it is the spectacle of Protestant and Catholic here labouring harmoniously together upon the common ground of their country's past. There is nothing like them in England, where there is no school, and where antiquarians work piecemeal and separately. 34 Throughout all of these discussions, Zeuss's name is everywhere to the forefront. 'The first work of the Zeussian school', Strangford explained, 'was to restore conjecturally, by means of comparison of all existing or recorded forms 32

Another letter to Freeman from 1866; Original letters and papers, 191. Original letters and papers, 191-92. 34 A 'Fugitive Piece', published in the Pall Mall Gazette, Jan. 1866; Original letters and papers, 212-13. James Henthorn Todd (1805-69) was Professor in Trinity College Dublin and President of the Royal Irish Academy; William Reeves (1815-92) was Bishop of Down, Connor and Dromore from 1886, but is best known as editor of the Latin Life of St Columba (1857); John O'Donovan (1806-61) and Eugene O'Curry (1794-1862) were the two leading native Irish scholars of Irish manuscript materials. 33

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found in the Celtic languages, the older speech from which they were held to have been derived. ... Next to the resurrection of the ancient language of Persia, this is surely the greatest triumph of comparative philology yet achieved'. 3 5 Sadly, however, as Strangford remarked, Zeuss did not live long enough to enj o y the fruits of his well-earned fame. He died on 10 November 1856, just three years after the Grammatica

Celtica was published, exhausted by a combination

of his herculean travels and labours, the climate of Munich, and his innately poor health. O'Donovan remarked of Zeuss after his death: Germany regrets in him one of those men who have raised to its present height her position among learned nations in this age; and Ireland ought not to think of him without gratitude, for the Irish nation has had no nobler gift bestowed upon them by any continental author for centuries back than the work which he has written on their language. It is pleasing to record that the greatest acknowledgement ever made to him came from Ireland. A short time before his death, an invitation to visit Dublin was sent to him by Dr. [James Henthorn] Todd, President of the Royal Irish Academy, in a manner which could not fail to be most gratifying to him, and which was done with the ultimate intention of conferring deserved honours on him. 3 6 It is therefore an honour for me, as an Irishman, to be asked to contribute to a Festschrift to honour the life and work of Prof. Dr. Hans Hablitzel, a proud native of Kronach in Vögtendorf, and the man who has done more than anyone else in our time to honour the memory of another famous son of Kronach, Johann Kaspar Zeuss, author of the Grammatica Celtica and founder of Celtic philology.

35 'Mr. Arnold on Celtic Literature', Pall Mall Gazette, 19 March 1866; Original letters and papers, 223-30: 230. 36 O'Donovan , Ulster Journal of Archaeology 7 (1859) 12.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU Von Johann Egger In seiner Antrittsvorlesung i m Jahre 1994 hatte sich der Jubilar mit dem Thema „Subsidiaritätsprinzip und Bildungskompetenzen i m Vertrag über die Europäische Union" beschäftigt. 1 Europäische Ausbildungspolitik und EG-Freizügigkeit hängen eng zusammen. Deshalb wird dieser Beitrag gewidmet.

I. Die Stellung der Freizügigkeit im EGV Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gem. Art. 39 ff. (ex-Art. 48 ff.) E G V 2 dient mit dem Niederlassungsrecht 3

und bestimmten Bereichen des freien

1 Vgl. auch H. Hablitzel, Harmonisierungsverbot und Subsidiaritätsprinzip im europäischen Bildungsrecht, Die öffentliche Verwaltung 2002, S. 407. 2 Vgl. dazu S. Alber, Vom Diskriminierungs- zum Benachteiligungsverbot, in: Tomandl (Hrsg.), Der Einfluss europäischen Rechts auf das Arbeitsrecht, Wien 2001, S. 1; P. Clever/B. Schulte (Hrsg.), Bürger Europas, Bonn 1995; M. Coester/W. Denkhaus, Die Verordnungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS) В 2100, Heidelberg 1996 ff.; S. Conrad, Auf dem Weg zu einer europäischen Bürgerschaft - Dimensionen und Entwicklung, in: Schulte/Mäder (Hrsg.), Die Regierungskonferenz Maastricht II, Bonn 1996, S. 5; M. A. Dauses (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, Heidelberg 1998; H. Fahls, Die Auswirkungen der Freizügigkeit gemäß Art. 48 EG-Vertrag auf Beschäftigungsverhältnisse im nationalen Recht, Frankfurt/M. 1995; R. Feik (Hrsg.), Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Österreich, Wien 1998; ders, Unionsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht. Speziell: Das Aufenthaltsrecht der nichterwerbstätigen Unionsbürger, in: Wiederin (Hrsg.), Neue Perspektiven im Ausländerrecht, Wien 1996, S. 7; M. Fuchs/ F. Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, Wien 2001, S. 23 ff.; P. Hanau in: Hanau/ Steinmeyer/Wank (Hrsg.), Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, München 2002, S. 391 ff.; M. Heinze, Reichweite und Grenzen der Freizügigkeit als Grundfreiheit für Arbeitsuchende, in: Zöllner-FS, Köln 1998, S. 769; Helping Hands (Hrsg.), Fremdenrecht in der EU, Wien 1998, S. 89 ff.; G. Herzig, Kompetenzen der Europäischen Union im Hochschulbereich und Freizügigkeitsrechte von Studenten im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Wien 1995; R. Lippert, Soziale Vergünstigungen und Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa, Aachen 1995; H. Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, München 2003; St. Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Berlin 2003; A. Randelzhof er, Marktbürgerschaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: Grabitz-GS, München 1995, S. 581; M. Roishoven, „Beschränkungen" des freien Dienstleistungsverkehrs, Berlin 2002; H. Rothfuchs, Die traditionellen Personenverkehrsfreiheiten des EG-Vertrages und das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger, Frankfurt/M. 1999; U. Runggaldier, Die Freizügigkeit der Arbeit-

Johann Egger

96

Dienstleistungsverkehrs 4 der Verwirklichung einer der vier Grundfreiheiten des EGV, der Freiheit

des Personenverkehrs;

sie gehört zu den „Grundlagen der

Gemeinschaft". 5 Der freie Verkehr von Personen ist gem. Art. 14 E G V Bestandteil des Binnenmarktes,

Art. 3 Abs. 1 lit. с E G V schreibt hiefür die Besei-

tigung aller Hindernisse des innerstaatlichen Rechts, die einer grenzüberschreitenden Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der Gemeinschaft entgegenstehen, vor. Hierzu dient auch das arbeitsrechtliche Abs. 2 EGV. Diese unmittelbar

Diskriminierungsverbot

anwendbaren

Bestimmungen 6

nach Art. 39

sehen für den Be-

reich der Freizügigkeit die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit

beru-

henden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen vor. Bspw. steht Art. 39 Abs. 2 E G V der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften entgegen, nach denen die Stellen von Fremdsprachenlektoren (das sind überwiegend Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten) mittels befristeter Arbeitsverträge besetzt werden, während der Abschluss derartiger Verträge mit sonstigen Lehrkräften für besondere Aufgaben i m Einzelfall durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein muss. 7 Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 39 Abs. 2 konkretisiert und verdrängt als lex specialis das allgemeine Diskriminierungsverbot

des Art. 12 E G V , 8 wel-

ches jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet; es gilt nehmer im EG-Vertrag, in: Oetker/Preis (Hrsg.), EAS В 2000; Η. Schneider, Die öffentliche Ordnung als Schranke der Grundfreiheiten im EG-Vertrag, Baden-Baden 1998; W. Schrammel/G. Winkler, Arbeits- und Sozialrecht der Europäischen Gemeinschaft, Wien 2002, S. 7 ff.; G. Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, Frankfurt/M. 1997; U. Wölker/G. Grill in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag 6, Baden-Baden 2003, S. 1275 ff.; J. Ziekow/A. Guckelberger, Die Richtlinien zur Regelung des Aufenthaltsstatus, in: Oetker/Preis (Hrsg.), EAS В 2200. 3 Art. 43 ff. EGV. 4 Art. 49 ff. EGV. 5 EuGH, Rs. C-139/85, Kempf, Slg. 1986, 1741 (1750), Tz. 13. 6 Vgl. EuGH, Rs. C-41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337 (1352); Rs. C-13/76, Dona, Slg. 1333 (1341), Tz. 20. 7 EuGH, Rs. C-33/88, Allue I, Slg. 1989, 1591; vb. Rs. C-259/91, C-331/91 und C-332/91, Allue II, Slg. 1993, 1-4309; Rs. C-272/92, Spotti, Slg. 1993, 1-5185. Bezüglich polnischer Fremdsprachenlektoren besteht die gleiche Situation (unmittelbare Wirkung) gem. dem Europaabkommen mit Polen, vgl. EuGH, Rs. C-162/00, Pokrzeptowicz-Meyer, Slg. 2002, 1-1049 = EuZW 2002, 374; vgl. dazu W. Holzer/G.-P. Reissner, Zur arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungspflicht in EU-Assoziationsabkommen, DRdA 2003, S. 476. Eine Regelung, nach der nur beamtete Professoren und in einem Verfahren bestätigte wissenschaftliche Mitarbeiter Vertretungen an Hochschulen übernehmen können, nicht aber Fremdsprachenlektoren, ist mit Art. 39 EGV aber grundsätzlich vereinbar; vgl. EuGH, Rs. C-90/96, Petrie u.a., Slg. 1997, 1-6527. 8 EuGH, Rs. C-305/87, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 1461 (1476), Tz. 12; Rs. C-186/87, Cowan, Slg. 1989, 195 (220), Tz. 14.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU auch für Privatpersonen:

97

der Freizügigkeit der Arbeitnehmer kommt nach der

neuesten Rechtsprechung des EuGH volle Drittwirkung Dabei werden auch alle indirekten

zu. 9

Formen der Diskriminierung erfasst. Dabei

handelt es sich um benachteiligende Regelungen, die auf den Herkunfts- oder den Wohnort des Betroffenen abstellen oder die differenzieren, ob sich bestimmte Tatbestände i m Inland oder i m Ausland ereignet haben; 1 0 dabei sind durch die Benachteiligungen meistens nur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten betroffen. 11 Das Verbot

der Diskriminierung

aufgrund

der Staatsangehörigkeit

gem.

Art. 39 Abs. 2 E G V - und Art. 7 Abs. 1 und 4 V O (EWG) Nr. 1612/68 - ist auch auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der ständig in einem Drittland

lebt und somit eine Berufstätigkeit außerhalb des Gemeinschaftsge-

biets für einen anderen Mitgliedstaat (Botschaft) ausübt, anwendbar, wenn das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaats und damit zu den einschlägigen Regeln des Gemeinschaftsrechts besitzt. 1 2 Nach Art. 17 Abs. 2 E G V haben die Unionsbürger die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten (Unionsbürgerschaft).

13

Damit wurde eine

9 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, 1-4139 (4173), Tz. 36 = RdA 2001, S. 180 (C. Weber); vgl. dazu krit. R. Streinz/St. Leible, EuZW 2000, S. 459. Vgl auch Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, München 2003. 10 Vgl. EuGH, Rs. C-419/92, Scholz, Slg. 1994, 1-505 (521), Tz. 7 ff. = DRdA 1994, S. 436 (R.-M. Kirschbaum) betreffend Nichtanrechnung ausländischer Vordienstzeiten im öffentlichen Dienst; bezüglich Dienstalterszulagen vgl. EuGH, 30.9.2003, Rs. C-224/01, Köbler/Österreich = EuZW 2003, S. 718 (W. Obwexer); vgl. dazu R. Beiser, Beinhaltet die Freizügigkeit nach Art 39 EGV eine Maximalgehaltsgarantie? RdW 2003, S. 330; W. Dobrowz, Rechtssache Köbler - Neues zur Staatshaftung in Österreich, WB1 2003, S. 566; B. Jud, Staatshaftung für judikatives Unrecht, ecolex 2003, S. 385; P. Schwarzenegger, Neue Herausforderungen im Staatshaftungsrecht, in: Funk-FS, Wien 2003, S. 501; G. Wilhelm, Staatshaftung für judikatives Unrecht oder Saturalien des Schadenersatzes, ecolex 2003, S. 733. 11 Vgl. EuGH, Sotgiu, Rs. C-152/73, Slg. 1974, 153; Rs. C-33/88, Allue I, Slg. 1989, 1591 (1601), Tz. 15; vb. Rs. C-259/91, C-331/91 und C-332/91, Allue II, Slg. 1993, 1-4309; Rs. C-212/99, Kommission/Italienische Republik, Slg. 2001, 1-4923. 12 Vgl. EuGH, Rs. C-214/94, Boukhalfa, Slg. 1996, 1-2253 (2273), Tz. 15. 13 Vgl. dazu M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die europäische Union unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechts, DÖV 1993, S. 749; R. Feik, Unionsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht, in Wiederin (Hrsg.), Neue Perspektiven im Ausländerrecht, Wien 1996, S. 7; P. Fischer, Die Unionsbürgerschaft: Ein neues Konzept im Völker- und Europarecht, in: Winkler-FS, Wien 1997, S. 237; M. Haag in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag 6 , Art. 17 ff. m.w.N.; P. Hilpold, Unionsbürgerschaft und Sprachenrechte in der EU, JB1 2000, S. 93; St. Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, Der Staat 1993, S. 245; R. Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, Baden-Baden 1994; H. U. Jessurun d'Oliveira, European Citizenship: Its Meaning, its Potential, in: Dehousse (Hrsg.), Europe After Maastricht: An Ever Closer Union? München 1994, S. 126; Ch.

7 FS Hablitzel

Johann Egger

98

lang andauernde Entwicklung von Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechten zu europäischen

Bürgerrechten

- losgelöst von rein wirtschaftlicher Ausrichtung

(„Marktbürgerschaft") und angereichert mit politischen Rechten - vorläufig abgeschlossen. Die Unionsbürgerschaft wird gem. Art. 17 Abs. 1 S. 2 E G V durch die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten vermittelt; sie tritt ergänzend neben die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt diese also n i c h t . 1 4 Für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit sind die Mitgliedstaaten

zuständig; von dieser Zuständigkeit ist unter Beachtung des

Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen. 1 5 Zu den einzelnen nunmehr auch primärrechtlich abgesicherten Unionsbürgerrechten gehört gem. Art. 18 Abs. 1 E G V das elementare und persönliche Recht jedes Unionsbürgers, sich i m Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen frei zu bewegen und aufzuhalten («allgemeines Recht auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit,

losgelöst von einer wirtschaftlichen Tätigkeit).

Diese unmittelbar

Vorschrift

anwendbare

16

umfasst das Recht, aus einem M i t -

gliedstaat auszureisen, das Recht, in einen Mitgliedstaat einzureisen, sich innerhalb eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten 1 7 und besteht ohne zeitliche Begrenzung. 1 8

Koenig/M. Pechstein, Die Europäische Union, Tübingen 1995, S. 169 ff.; G. Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, Frankfurt/M. 1997. 14 Vgl. R. Feik, Unionsbürgerschaft 10; M. Haag in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag 6 , Art. 18 Rdn. 5. 15 Vgl. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti u.a., Slg. 1992, 1-4239 (4262), Tz. 10. 16 Aus dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 und 2 EGV folgt, dass das Bewegungsund Aufenthaltsrecht subjektiv-öffentliche Rechte begründet. Wenn schon Durchführungsbestimmungen als inhaltliche Beschränkungen und Bedingungen des allgemeinen Aufenthaltsrechts erlassen werden können, setzt dies voraus, daß allgemeine Rechte bereits bestehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit befürworten zu Recht auch U. Becker, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, ZESAR 2002, S. 8; U. Everling, Auf dem Weg zu einem europäischen Bürger? Aspekte aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, Baden-Baden 1994, S. 49 (54); R. Feik, Unionsbürgerschaft 18 ff.; M. Haag in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag 6 , Art. 18 Rdn. 7; Ch. Koenig/M. Pechstein, Die Europäische Union, Tübingen 1995, S. 178 und v.a. G.A. La Pergola in seinen Schlussanträgen zu EuGH, Rs. C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1997, 1-2691 (2701) ff.; a.A. W. Kaufmann-Bühler in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Kommentar, Köln 1994, Art. 8 a Rdn 1. Vgl auch Erwägungsgrund 11 zur RL 2004/38/EG. 17 Bezüglich des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen und eines Ex-Wanderarbeitnehmers, welches sich unmittelbar aus Art. 18 EGV ergibt und insofern die Bestimmungen der Aufenthaltsrichtlinie 90/364/EWG (Nachweis der Krankenversicherung) korrigiert, vgl. EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R., Slg. 2002, 1-7091 = EuZW 2002, S. 761 (St. Bode); vgl. dazu auch St. Bode, Von der Freizügigkeit zur sozialen Gleichstellung aller Unionsbürger? EuZW 2003, S. 552. 18 M. Haag in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag 6 , Art. 18 Rdn. 12.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU I m Verhältnis zum allgemeinen E G V ist die Freizügigkeit

Recht auf Freizügigkeit

der Arbeitnehmer

99 nach Art. 18 Abs. 1

nach Art. 39 E G V als lex specialis

anzusehen. 19 Ein dem Art. 18 Abs. 1 entsprechendes Recht wurde auch in Art. 11-45 Abs. 1 E V aufgenommen. Auch Drittstaatsangehörigen,

die sich rechtmäßig in der E U

aufhalten, kann dann gem. Art. 11-45 Abs. 2 E V Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden. Erscheint zur Erreichung dieses Ziels ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich und sieht dieser Vertrag hierfür keine Befugnisse vor, so kann gem. Art. 18 Abs. 2 E G V der Rat Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung der Rechte nach Abs. 1 erleichtert wird. Er beschließt gemäß dem Verfahren des Art. 251 EGV. Diese Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit steht gem. Art. 18 Abs. 1 E G V unter dem Vorbehalt der i m Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Dies betrifft vor allem den ordre public

(Art. 39 Abs. 3 E G V ) und die Bestimmungen der drei speziellen Aufent-

haltsrichtlinien

betreffend Studenten, Pensionisten und sonstige Nichterwerbstä-

t i g e , 2 0 welche noch zwei Jahre nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Aufenthaltsrichtlinie 2004/38/EG in Geltung bleiben. 2 1 Letztgenannte Personengruppen haben j a nur eine begrenzte Rechtsstellung.

Eine einheitliche Gleich-

stellung aller Unionsbürger (Arbeitnehmer, Selbständige, Familienangehörige, Dienstleistungserbringer

und

-empfänger,

Studenten,

Pensionisten,

sonstige

Nichterwerbstätige und deren Angehörige) ist i m Gemeinschaftsrecht eben nicht vorgesehen. So fallen i m Einzelnen Unterschiede bei der Gewährung von sozialen Vergünstigungen i.S.v. Art. 7 Abs. 2 V O (EWG) Nr. 1612/68 (Sozialhilfe, Beihilfen, Stipendien), 2 2 beim Verbleiberecht, i m Ausbildungsbereich (Ausbildungsförderung) und bei der Gleichstellung hinsichtlich der allgemeinen Lebensbedingungen auf. 2 3

19 U. Wölker/G. Grill in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/ EG-Vertrag 6, Vorbem. zu den Art. 39-41 EG, Rdn. 11. 20 Vgl. dazu R. Feik, Unionsbürgerschaft 7. 21 Vgl. EuGH, Rs. T-66/95, Kuchlenz-Winter/Kommission, Slg. 1997, 11-637; vgl. auch Ch. König/M. Pechstein, Die Europäische Union, Tübingen 1995, S. 177. 22 Vgl. dazu J. M. Martinez Soria, Die Unionsbürgerschaft und der Zugang zu sozialen Vergünstigungen, JZ 2002, S. 643. 23 Vgl. dazu detailliert G. Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, Frankfurt/M. 1997.

7*

100

Johann Egger

II. Weiterentwicklung der Rechte von Wanderarbeitnehmern Bezüglich einer Weiterentwicklung der Rechte von Wanderarbeitnehmern wurden zahlreiche Initiativen gesetzt. Ein von der Europäischen Kommission i m Februar 1996 unter dem Vorsitz von Simone Veil beauftragtes Hochrangiges Gremium für Fragen der Freizügigkeit (Veil-Gruppe) hatte der Kommission i m März 1997 einen umfangreichen Bericht über die Freizügigkeit in der EG vorgelegt, 2 4 der 80 Empfehlungen enthält, um bestehende Freizügigkeitsmängel zu beheben - vor dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten lebten nur ca. 5 Millionen Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat; weniger als 2 % der Erwerbstätigen arbeiten in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Diese Empfehlungen betreffen eine große Zahl von Initiativen, wie eine vom Heimatstaat ausgestellte, ein Jahr gültige europäische Aufenthaltsgenehmigung, welche bestätigt, dass der Inhaber sozialversichert ist und über ein für den Lebensunterhalt genügendes Einkommen verfügt; die Umsetzung des Prinzips der Unionsbürgerschaft; eine größere Öffnung des Zugangs zur Beschäftigung i m öffentlichen Dienst; die Modernisierung des freizügigkeitsspezifischen Sozialrechts (z.B. bei betrieblichen Zusatzrenten); die Anpassung des Rechts auf Familienzusammenführung; eine Weiterentwicklung der Gleichbehandlung in steuerlichen Angelegenheiten und die Verbesserung der Situation von Angehörigen von Drittländern, die sich in einem Mitgliedstaat legal aufhalten. A u f der Grundlage dieses Berichts erarbeitete die Kommission eine integrierte Studie in Form eines Weißbuchs, welches spezifische Vorschläge dafür enthielt, wie die bestehenden Probleme angegangen werden können. A m 12.11.1997 verabschiedete die Kommission einen Aktionsplan zur Förderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, 25 der weitgehend auf dem Veil-Bericht basierte. Die Kommission legte dann i m Jahre 1998 aktualisierte Vorschläge zum Ausbau der Rechte von Wanderarbeitnehmern v o r . 2 6 Weiters zu nennen sind noch die Entschließung des Rates und der Vertreter der Mitgliedstaaten über einen Aktionsplan zur Förderung der M o b i l i t ä t , 2 7 die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Mobilität von Studierenden, 28 die Mitteilung der Kommission über eine Mobilitätsstrategie für den Europäischen Forschungsraum, 29 die Mitteilung über neue europäische Arbeitsmärkte, 3 0 der Aktionsplan der Kommission für Qualifikation und M o b i l i 24

Zusammenfassung in: EuroAS 1997, S. 46. К О М (1997) 586 endg. 26 Vgl. auch die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Folgemaßnahmen zu den Empfehlungen der hochrangigen Sachverständigengruppe zu Fragen der Freizügigkeit, К О М (1998) 403 endg. 27 ABl. 2000, Nr. С 371, 4. 28 ABl. 2001, Nr. L 215, 30. 29 К О М (2001) 331 endg. 30 К О М (2001) 116 endg. 25

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

101

t ä t 3 1 und die Mitteilung der Kommission „Freizügigkeit der Arbeitnehmer

-

volle Nutzung der Vorteile und Möglichkeiten". 3 2 Das Recht, sich i m Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten aufzuhalten und frei zu bewegen, das nunmehr auf alle Unionsbürger ausgedehnt wurde, musste daher aus oben angeführten Gründen in einem gemeinsamen Sockel weiterentwickelt und letztlich in einem einzigen Rechtsakt geregelt werden, durch den ein einheitliches System geschaffen wird, das für alle Personenkategorien (Arbeitnehmer, Studenten, Nichterwerbstätige) gilt. Bisher enthielt j a der gemeinschaftliche Besitzstand in zwei Verordnungen und neun Richtlinien

die Bedingungen,

unter denen bestimmte Personengruppen ihr Recht auf Einreise und Freizügigkeit ausüben konnten. Dies hatte zu einer Differenzierung

der Begünstigten

ge-

führt, die weder den modernen Formen der Mobilität angemessen noch mit der Einführung der Unionsbürgerschaft vereinbar w a r . 3 3 Die früheren Regelungen, die hauptsächlich auf den Arbeitnehmer ausgerichtet waren, der mit seiner Familie umzieht, um sich dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, entsprachen nicht den Merkmalen der Mobilität der Menschen in den vergangenen Jahren. 3 4 In einer Kommissionsmitteilung 3 5 wurden daher Leitlinien

für ei-

nen rechtlichen Rahmen genannt, in dem das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt weiterentwickelt werden sollte.

I I I . Die neue Aufenthaltsrichtlinie Die auf Art. 12, 18, 40, 44 und 52 E G V gestützte Richtlinie Europäischen bürger

und ihrer

Familienangehörigen,

staaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Nr. 1612/68 72/194/EWG,

2004/38/EG

des

Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 über das Recht der Unions-

und zur Aufhebung 73/148/EWG,

EWG und 93/96/EWG

36

sich im Hoheitsgebiet zur Änderung

der Richtlinien

75/34/EWG,

64/221/EWG,

75/35/EWG,

der

Mitglied-

der Verordnung (EWG) 68/360/EWG,

90/364/EWG,

90/365/

regelt die Modalitäten für die Ausübung des Grund-

rechts auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit, das jedem Unionsbürger unmittelbar aus dem Vertrag erwächst. In dieser Hinsicht stellt die Richtlinie - so die einleitende Begründung des Rates - einen wichtigen Schritt bei der Festlegung eines konkreten Inhalts der Unionsbürgerschaft dar, wie auch das der Richtlinie zugrunde liegende Konzept belegt: So sollten Unionsbürger in den verschiede-

31

К О М (2002) 72 endg. К О М (2002) 694 endg. 33 Vgl. К О М (1998) 403 endg. 34 Stellungnahme des WSA zu К О М (2001) 257 endg., ABl. 2002, Nr. С 149, 46, 47, 1.7. 35 К О М (1998) 403 endg. 36 ABl. 2004, Nr. L 158, 77; ber. ABl. 2004, Nr. L 229, 35. 32

Johann Egger

102

nen Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit mutatis

mutandis

unter ähnlichen Bedingungen ausüben können wie sie für die Bürger eines M i t gliedstaats gelten, die sich innerhalb des eigenen Landes bewegen und ihren Wohnort wechseln. U m die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist also ein einziger Rechtsakt erforderlich, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft 3 7 geändert und die folgenden Rechtsakte aufgehoben werden: 3 8 die Richtlinie 64/221/EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt s i n d ; 3 9 die Richtlinie 68/360/EWG des Rates zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der M i t gliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, 4 0 die Richtlinie 72/194/EWG über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Richtlinie 64/221 / E W G auf die Arbeitnehmer, die von dem Recht, nach Beendigung einer Beschäftigung i m Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbleiben zu können, Gebrauch machen 4 1 die Richtlinie 73/148/EWG des Rates zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs, 42 die Richtlinie 7 5 / 3 4 / E W G über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit i m Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben, 4 3 die Richtlinie 7 5 / 3 5 / E W G über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Richtlinie 6 4 / 2 2 1 / E W G , 4 4 die Richtlinie 90/364/EWG des Rates über das Aufenthaltsrecht 4 5 die Richtlinie 90/365/EWG des Rates über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen 4 6 und die Richtlinie 93/96/EWG des Rates über das Aufenthaltsrecht der Studenten

47

Daneben enthält R L 2004/38/EG nach der Ratsbegründung noch folgende Schwerpunkte: 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

ABl. 1968, Nr. L 257, 2 i.d.F. ABl. 1992, Nr. L 245, 1. Vgl. Erwägungsgrund 4; Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG. ABl. 1964, Nr. L 56, 850. ABl. 1968, Nr. L 257, 13 i.d.F. Beitrittsakte ABl. 2003, Nr. L 236. ABl. 1972, Nr. L 121, 32. ABl. 1973, Nr. L 172, 14. ABl. 1975, Nr. L 14, 10. ABl. 1975, Nr. L 14, 14. ABl. 1990, Nr. L 180, 26. ABl. 1990, Nr. L 180, 28. ABl. 1993, Nr. L 317, 59.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

103

- Straffung der geltenden Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH und der Bestimmungen der Charta der Grundrechte der E U in Bezug auf das Recht auf Einheit der Familie und den Schutz des Familienlebens; - Vereinfachung der Bedingungen und Verwaltungsformalitäten, die mit der Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit und der Ausübung des Aufenthaltsrechts in den Mitgliedstaaten verbunden sind; - Erleichterung der Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts durch Familienangehörige eines Unionsbürgers ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit.

1. Allgemeine

Bestimmungen

Gemäß Art. 1 regelt diese Richtlinie dreierlei: - Erstens werden die Bedingungen definiert, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Recht auf Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten ausüben können. - Das zweite Ziel ist eine Neuerung: Festschreibung des Rechts auf Daueraufenthalt nach fünf Jahren regelmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts i m Aufnahmemitgliedstaat; danach ist das Aufenthaltsrecht des Betroffenen an keine Bedingung mehr geknüpft und frei von jeder Beschränkung. Die einschlägigen Bestimmungen entsprechen i m Wesentlichen - mit Anpassungen denjenigen der V O (EWG) Nr. 1251/70 4 8 und der R L 7 5 / 3 4 / E W G 4 9 betreffend das Verbleiberecht von Arbeitnehmern und Selbständigen. - Und drittens

regelt diese Richtlinie die Beschränkung dieser Rechte aus

Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit; die jeweiligen Bestimmungen ersetzen die der R L 64/221/EWG betreffend die öffentliche Ordnung. In Art. 2 R L 2004/38/EG wird eine Ausdehnung des nunmehr einheitlichen Begriffs des „.Familienangehörigen" auf die Verwandten in gerader aufsteigender Linie und in absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats diese der Ehe gleichgestellt ist und die vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, vorgenommen. Dies bedeutet, dass in einigen Mitgliedstaaten auch gleichgeschlechtliche Paare von der Richtlinie erfasst sein werden. Allerdings wird

48 49

ABl. 1970, Nr. L 142, 24. ABl. 1975, Nr. L 14, 10.

Johann Egger

104

leider immer noch darauf abgestellt, ob Verwandte minderjährig (unter 21) oder unterhaltsberechtigt sind. Art. 3 R L 2004/38/EG definiert die Begünstigten

der Richtlinie: alle Unions-

bürger, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben oder sich dort aufhalten, sowie ihre Familienangehörigen,

die sie begleiten oder ihnen nachziehen.

Ferner erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen: jedes nicht unter die Definition in Art. 2 Nr. 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger i m Herkunftsland Unterhalt der mit ihm i m Herkunftsland in häuslicher wenn schwerwiegende

gesundheitliche

Gemeinschaft

gewährt oder

gelebt hat, oder

Gründe die persönliche Pflege des Fami-

lienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen; des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen i s t . 5 0 Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen. Art. 3 R L enthält keine Hinweise auf den Zweck der Einreise oder des Aufenthalts. Der Unionsbürger kann sich j a in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort entweder einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit nachzugehen oder unentgeltlich tätig zu sein, an einer Berufsbildungsmaßnahme teilzunehmen oder als Nichterwerbstätiger, Rentner, Student oder auch als Erbringer bzw. Empfänger von Dienstleistungen. Gem. Erwägungsgrund 31 steht diese Richtlinie i m Einklang mit den Grundrechten und -freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Bei der Umsetzung der Verpflichtungen aus der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten das in der Charta enthaltene Diskriminierungsverbot

51

beachten. Dies betrifft Diskriminie-

rungen insbesondere wegen des Geschlechts, der geschlechtlichen Identität, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.

50 51

Vgl. Art. 10 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1612/68; Art. 1 Abs. 2 RL 73/148/EWG. Siehe Art. 11-21 EV.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

105

2. Recht auf Ausreise und Einreise Art. 4 R L schreibt das Recht des Unionsbürgers fest, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Dieses Recht auf Ausreise wird auch auf Familienangehörige ausgedehnt, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. 5 2 Für die Ausreise darf weder ein Visum (Sichtvermerk) noch eine gleichartige Formalität verlangt werden; es genügt das ,Mitsichfiihren"

eines gültigen

Personalausweises

oder

eines Reisepasses. 53 Die Mitgliedstaaten stellen ihren Bürgern einen Personalausweis

oder einen

Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente. 5 4 Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten

und die unmit-

telbar zwischen den Mitgliedstaaten liegenden Durchreiseländer

gelten. Sieht

das Recht eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern. 5 5 Art. 5 R L regelt das Recht auf Einreise. Die Mitgliedstaaten gestatten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis 56 oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienmitgliedern, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise. Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden. 5 7 Der Aufnahmemitgliedstaat bringt i m Reisepass eines Familienangehörigen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines M i t gliedstaats besitzt, 5 8 keinen Einreise- oder Ausreisestempel an, wenn der Betroffene die Aufenthaltskarte gem. Art. 10 mit sich führt. 5 9 Ansonsten kann von diesem ein Einreisevisum 52

gefordert werden, 6 0 welches so bald wie möglich

Vgl. Art. 2 Abs. 1 RL 68/360/EWG. Vgl. Art. 2 Abs. 4 RL 68/360/EWG. 54 Vgl. Art. 4 Abs. 3 RL 2004/38/EG; Art. 2 Abs. 2 RL 68/360/EWG. 55 Vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2004/38/EG; Art. 2 Abs. 3 RL 68/360/EWG. 56 Der Personalausweis kann auch vor dem Beitritt des ausstellenden Mitgliedstaats zu den Gemeinschaften ausgestellt worden sein; vgl. EuGH, Rs. C-376/89, Giagounidis, Slg. 1991, 1-1069. 57 Vgl. Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 2004/38/EG; Art. 3 Abs. 1 RL 68/360/EWG. 58 Bezüglich des Einreise- und Aufenthaltsrechts von Ehegatten aus Drittstaaten vgl. EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002,1-6279 = EuZW 2002, S. 595 (A. Egger) und Rs. C-459/99, MRAX, Slg. 2002, 1-6591; bezüglich des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen aus Drittstaaten vgl. EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R., Slg. 2002, 1-7091 = EuZW 2002, S. 761 (St. Bode). 59 Vgl. Art. 5 Abs. 3 RL 2004/38/EG. 60 Siehe VO (EWG) Nr. 539/2001 des Rates v. 15.3.2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, ABl. 2001, Nr. L 81, 1. 53

Johann Egger

106

nach einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt w i r d . 6 1 Der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gem. Art. 10 entbindet diese Familienangehörigen von der Visumpflicht. Gem. Art. 6 Abs. 1 R L beträgt der Zeitraum, während dem für Unionsbürger ein Aufenthalt ohne weitere Bedingungen

oder Formalitäten (lediglich Reise-

pass bzw. gültiger Personalausweis) in einem anderen Mitgliedstaat möglich ist, drei Monate. Allerdings kann bestimmt werden, dass der Aufenthalt innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums anzumelden

ist.62

Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit nicht diskriminierenden und verhältnismäßigen verwaltungsrechtlichen

Sanktionen

geahndet werden. Diese

Bestimmungen finden gem. Art. 6 Abs. 2 R L auch Anwendung auf Familienangehörige i m Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaat besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. 3. Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate In Art. 7 R L werden die Voraussetzungen festgeschrieben, an die die Ausübung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate geknüpft ist. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich für einen Zeitraum von über drei Monaten in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger i m Aufnahmemitgliedstaat ist oder für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel in solcher Höhe verfügt, dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen einen umfassenden Krankenversicherungsschutz i m Aufnahmemitgliedstaat genießen, oder wenn er in einer anerkannten privaten oder öffentlichen Bildungseinrichtung zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz i m Aufnahmemitgliedstaat verfügt und ausreichende Existenzmittel glaubhaft macht. Das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen

des Unionsbürgers, die selbst

nicht Unionsbürger sind, leitet sich aus dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers ab, d.h. es ist an die familiäre Bindung geknüpft und sie müssen ihn in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten bzw. ihm nachziehen. Ausnahmen von dieser Regel sind aber i m Falle des Todes oder des Wegzugs des Unionsbürgers oder bei Scheidung, Aufhebung der Ehe oder Beendigung der eingetragenen Partnerschaft vorgesehen. 63 61 62

EWG.

Vgl. Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 5 Abs. 5 RL 2004/38/EG; Art. 8 RL 68/360/EWG; Art. 4 RL 73/148/

107

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

Gem. Art. 7 Abs. 3 R L bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten: wenn er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist, oder er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt oder er eine Berufsausbildung beginnt, die mit der früheren beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang steht. Für Aufenthalte von über drei Monaten kann der Aufnahmemitgliedstaat gem. Art. 8 R L den Unionsbürgern auferlegen, sich bei den zuständigen Behörden anzumelden.

Die für die Anmeldung vorgesehene Frist muss mindestens

drei Monate ab dem Zeitpunkt der Einreise betragen. Es wird unverzüglich eine Anmeldebescheinigung

ausgestellt. Die Bescheinigung gibt Aufschluss

über

Name und Anschrift des Unionsbürgers; sie hat keine zeitliche Gültigkeit und vermerkt nur den Zeitpunkt der Anmeldung. Sie bestätigt lediglich, dass eine Verwaltungsformalität erledigt wurde (rein deklaratorische

Wirkung). Bei seiner

Anmeldung weist der Unionsbürger nach, dass er entweder Arbeitnehmer oder Selbständiger ist (Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit) oder, wenn dies nicht der Fall ist, dass er über ausreichende Existenzmittel

in solcher Höhe ver-

fügt, dass keine Sozialhilfeleistungen i m Aufnahmemitgliedstaat in Anspruch genommen werden müssen und er über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Diese Eigenerklärung ist eine einfache eidesstattliche die vom Mitgliedstaat nicht nachgeprüft

Erklärung,

wird. Auch dürfen die Mitgliedstaaten

keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, die sie als ausreichend betrachten, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Dieser Betrag darf gem. Art. 8 Abs. 4 R L in keinem Fall über dem Schwellenwert liegen, unter dem der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen Sozialhilfe gewährt, oder, wenn dieses Kriterium nicht anwendbar ist, über der Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaats. Familienmitglieder eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und einen Aufenthalt von über drei Monaten planen, müssen gem. Art. 9 R L eine Aufenthaltskarte beantragen, welche fünf Jahre bzw. für die geplante Aufenthaltsdauer des Unionsbürgers gültig ist. Der Antrag muss binnen drei Monaten nach der Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gestellt werden. 6 4 Die Nichterfüllung der Pflicht zur Beantragung der Aufenthaltskarte kann mit verwaltungsmäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden. Die Gültigkeit der Aufenthaltskarte wird weder berührt durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu sechs Monaten i m Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer 63 64

6591.

Siehe Art. 12 und 13 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2004/38/EG; EuGH, Rs. C-459/99, MRAX, Slg. 2002, I-

108

Johann Egger

Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Entbindung, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat. 6 5 Art. 12 R L betrifft die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts für die Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers.

Familienangehörige,

die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, haben ein eigenständiges Recht auf Aufenthalt. Der Tod oder Wegzug des Unionsbürgers berührt das Aufenthaltsrecht solcher Familienangehörigen nicht. Bevor die Betreffenden das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie persönlich eine der Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. a - d R L für die Ausübung des Aufenthaltsrechts erfüllen. Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, leiten ihr Aufenthaltsrecht vom Unionsbürger ab, von dem sie abhängen. Verstirbt dieser, können sie ihr Aufenthaltsrecht behalten. Zieht der Unionsbürger weg, müssen sie mit ihm wegziehen. Art. 12 Abs. 3 R L lässt eine Ausnahme für Kinder zu, die sich i m Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und eine Ausbildung an einer weiterführenden oder darauf aufbauenden Bildungseinrichtung absolvieren. Solche Kinder haben ein auf die Dauer der Ausbildung begrenztes Aufenthaltsrecht. 66 Der Wegzug eines Unionsbürgers hat also weder für seine studierenden Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, 6 7 ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit den Verlust des Aufenthaltsrechts zur Folge. Das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen eines verstorbenen Unionsbürgers, die selbst nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist an die Voraussetzung geknüpft, dass sie bis zum Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt eine Erwerbstätigkeit ausüben oder über ausreichende Existenzmittel verfügen. Anders als bei Unionsbürgern reicht eine einfache Erklärung nicht aus; die Betreffenden müssen nachweisen , dass sie die Voraussetzungen erfüllen. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Art. 8 Abs. 4 vorgesehenen Beträge. 6 8 Art. 13 R L regelt die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts für die Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der eingetragenen

Partnerschaft.

der Ehe oder bei Beendigung

Rechtskräftige Scheidungsurteile oder die Be-

endigung der eingetragenen Partnerschaft gem. Art. 2 Nr. 2 lit. b R L berühren nicht das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Die Familienmitglieder müssen aber eine der Vo-

65 66 67 68

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Art. 11 Abs. 2 RL 2004/38/EG; Art. 6 Abs. 2 RL 68/360/EWG. EuGH, vb. Rs. C-389 und 390/87, Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723. EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast und R, Slg. 2002, 1-7091. Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2004/38/EG.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

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raussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. a - d R L für die Ausübung des Aufenthaltsrechts persönlich erfüllen, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben. Damit das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, gewahrt bleibt, muss gem. Art. 13 Abs. 2 R L eine der folgenden Voraussetzungen vorliegen: Damit die Aufenthaltsbestimmungen nicht durch den Abschluss einer Scheinehe umgangen werden können, muss die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft drei Jahre bestanden haben, davon mindestens ein Jahr i m Aufnahmemitgliedstaat; oder die elterliche Sorge über die Kinder des Unionsbürgers ist dem Ehegatten oder dem Lebenspartner übertragen worden oder das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen K i n d ist durch Gerichtsentscheidung zugesprochen worden oder wenn es aufgrund besonders schwieriger Umstände erforderlich ist, wie etwa bei Opfern von Gewalt i m häuslichen Bereich während der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft. Die Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts und der Nachweis der Eigenmittel sind gleich wie i m Falle des Todes des Unionsbürgers geregelt. Leben die Ehegatten getrennt, berührt das nicht das Aufenthaltsrecht. 69 Art. 14 R L präzisiert die Umstände, unter denen ein Mitgliedstaat Unionsbürger ausweisen kann, wenn sie die Bedingungen für das Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllen. Dabei wurde die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Grzelczyk 70 miteinbezogen, nach der gem. Art. 12 und 17 E G V einem ausländischen Studenten, der während der ersten Studienjahre für seinen Unterhalt selbst aufgekommen ist, die Gewährung des Existenzminimums (Sozialhilfe) wie inländischen Studenten zu garantieren ist; das allgemeine Diskriminierungsverbot umfasst nunmehr auch die Bereiche Ausbildungsförderung, Unterstützung für den Lebensunterhalt, Wohnbauförderung und etwaige Fahrkostenzuschüsse. Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. 7 1 Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen i m Aufnahmemitgliedstaat darf gem. Art. 14 Abs. 3 R L nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Gem. Erwägungsgrund 16 sollte der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorüberge69

Vgl. EuGH, Rs. C-267/87, Diatta, Slg. 1985, 567 (590), Tz. 20. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, 1-6193 = SozSi 2001, S. 817 (F. Urlesberger) = EuZW 2002, S. 52 (W. Obwexer); vgl. dazu U. Becker, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, ZESAR 2002, S. 8; J. M. Martinez Soria, Die Unionsbürgerschaft und der Zugang zu sozialen Vergünstigungen, JZ 2002, S. 643; Ch. Ruhs, Zugang zur Bildung und Gleichbehandlung - der EuGH als Motor der Europäischen Bildungspolitik, ÖJZ 2002, S. 281. 71 Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG. 70

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hende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen. In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbständige oder Arbeitsuchende in dem vom E u G H definierten Sinn erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. 7 2 Art. 15 R L schreibt die Verfahrensgarantiert

i m Falle der Beschränkung der

Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, gegen die ein Mitgliedstaat aus anderen als Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eine Ausweisungsverfügung

erlässt, fest. Es handelt sich um

die gleichen Garantien, die auch bei einer aus Gründen der öffentlichen Ordnung verfügten Ausweisung gelten (Art. 30 und 31). Ein derartige Ausweisungsverfügung darf kein Einreiseverbot

enthalten. 7 3

4. Recht auf Daueraufenthalt a) Erwerb Da nach der alten Verbleibe Verordnung (EGW) Nr. 1251/70, welche zu gegebener Zeit aufgehoben werden wird, das Verbleiberecht sehr eingeschränkt und an restriktive Bedingungen geknüpft war, sollen nunmehr gem. Art. 16 R L alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen - auch wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen - das Recht auf Daueraufenthalt einem fünfjährigen

ununterbrochenen

Aufenthalt

werben können, verbunden mit einem Anspruch auf umfassende behandlung.

nach

i m Aufnahmemitgliedstaat erInländergleich-

Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende

Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten i m Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Entbindung, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat berührt. Der Aufenthalt gilt als unterbrochen, wenn eine rechtskräftige Ausweisungsverfügung gegen den Aufenthaltsberechtigten erlassen wurde. 7 4 Wer das Recht auf Daueraufenthalt erworben hatte, dem kann es gem. Art. 16 Abs. 4 R L nur nach mehr als zweijähriger ununterbrochener Abwesenheit vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aberkannt werden.

72 73 74

Vgl. Art. 14 Abs. 4 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 21 Satz 2 RL 2004/38/EG; Art. 4 VO (EWG) Nr. 1251/70.

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Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

Art. 16 R L soll die bereits geltenden Bestimmungen über das Verbleiberecht und gegenüber der allgemeinen Regelung des Art. 14 günstigere Bestimmungen aufrechterhalten.

Das Recht auf Daueraufenthalt

im

Aufnahmemitgliedstaat

wird auch vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren erworben: Wollen ehemalig Erwerbstätige (Arbeitnehmer oder Selbständige) in ihrem früheren Beschäftigungsstaat bleiben, so ist Voraussetzung die Erreichung des Rentenalters

oder

die Beendigung der Erwerbstätigkeit i m Rahmen einer Vorruhestandsregelung, wenn sie die Erwerbstätigkeit i m Hoheitsgebiet dieses Staates mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. Bei Arbeitnehmern, die dauernd erwerbsunfähig

geworden sind, genügt eine Mindestaufenthaltsdauer von zwei

Jahren. Ist die dauernde Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitsunfall krankheit

oder Berufs-

eingetreten und wurde hiedurch ein Rentenanspruch gegen einen in-

ländischen Versorgungsträger erworben, entfällt die Voraussetzung der Aufenthaltsdauer. 75 Erwirbt der Erwerbstätige das Recht auf Daueraufenthalt, erwerben auch seine Familienangehörigen

dieses Recht - ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit

und ohne dass es an einen vorherigen Aufenthalt geknüpft wäre. 7 6 Ein Grenzgänger

erwirbt i m Beschäftigungsstaat kein Verbleiberecht. Er er-

wirbt jedoch i m Aufenthaltsstaat ein solches, wenn er dort vor seinem Arbeitsplatzwechsel mindestens drei Jahre gewohnt und gearbeitet hat und regelmäßig jeden Tag oder mindestens einmal pro Woche an seinen Wohnsitz zurückgekehrt i s t . 7 7 Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäß festgestellt werden, oder vom W i l l e n des Betreffenden unabhängige Arbeitsunterbrechungen sowie unfall- oder krankheitsbedingte Fehlzeiten oder Unterbrechungen gelten als Zeiten der Erwerbstätigkeit. 7 8 Stirbt der Erwerbstätige, bevor er das Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, haben seine Familienangehörigen das Recht, sich dort dauerhaft aufzuhalten, wenn der Erwerbstätige sich zum Zeitpunkt des Todes seit zwei Jahren i m Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ununterbrochen aufgehalten hat, oder infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit gestorben ist, oder sein überlebender Ehegatte die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats durch Eheschließung mit dem Arbeitnehmer oder dem Selbständigen verloren hat. 7 9 75 Vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. b RL 2004/38/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. a und b VO (EWG) Nr. 1251/70. 76 Vgl. Art. 17 Abs. 3 RL 2004/38/EG; Art. 3 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1251/70; Art. 3 Abs. 1 RL 75/34/EWG. 77 Vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. с RL 2004/38/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. с VO (EWG) Nr. 1251/70. 78 Vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. с Unterabs. 3 RL 2004/38/EG.

Johann Egger

112

b) Verwaltungsformalitäten Das Recht auf Daueraufenthalt Sozialhilfe

beinhaltet wichtige Rechte wie das Recht auf

i m Aufnahmemitgliedstaat für alle Begünstigten der Richtlinie oder

das Verbot der Ausweisung.

Die Mitgliedstaaten stellen daher auf Antrag den

zum Daueraufenthalt berechtigten Unionsbürgern nach Überprüfung der Dauer ihres Aufenthalts so bald wie möglich ein Dokument zur Bescheinigung ihres Daueraufenthalts aus (Daueraufenthaltskarte).

80

Familienangehörigen, die nicht

die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen und die zum Daueraufenthalt berechtigt sind, wird gem. Art. 20 R L binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Daueraufenthaltskarte ausgestellt, welche automatisch alle zehn Jahre verlängerbar ist. Nur Abwesenheiten von über zwei aufeinander folgenden Jahren berühren die Gültigkeit der Daueraufenthaltskarte eines solchen Familienangehörigen. 81 Die Kontinuität des Aufenthalts kann gem. Art. 21 R L durch verschiedene Beweismittel nachgewiesen werden, insbesondere durch die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder die Vorlage von Mietquittungen. Jede rechtmäßig

voll-

streckte Ausweisungsverfügung stellt eine Unterbrechung des Aufenthalts dar.

5. Gemeinsame Bestimmungen über das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt Das Recht auf Aufenthalt und das Recht auf Daueraufenthalt erstrecken sich auf das gesamte Hoheitsgebiet

des Mitgliedstaats. 8 2 Die Mitgliedstaaten können

das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt nur in den Fällen räumlich beschränken, in denen sie eine derartige Beschränkung auch für ihre eigenen Staatsangehörigen vorsehen (Gleichbehandlungsgebot)

,83

Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers haben ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit das Recht, i m Aufnahmemitgliedstaat einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nachzugehen. Diese Regelung des Art. 23 R L stellt eine Neuerung dar, da keine Beschränkung auf den Ehegatten oder die minderjährigen oder unterhaltspflichtigen Kinder mehr vorgenommen wird.

79 Vgl. Art. 17 Abs. 4 RL 2004/38/EG; Art. 3 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1251/70; Art. 3 RL 75/34/EWG. 80 Vgl. Art. 19 RL 2004/38/EG. 81 Vgl. Art. 20 Abs. 3 RL 2004/38/EG. 82 Vgl. Art. 22 S. 1 RL 2004/38/EG; Art. 6 Abs. 1 lit. a RL 68/360/EWG; Art. 5 RL 73/148/EWG. 83 Vgl. Art. 22 S. 2 RL 2004/38/EG; EuGH, Rs. C-36/75, Rutiii, Slg. 1975, 1219 (1234), Tz. 50.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU Dementsprechend werden die Art.

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11 und 12 der Freizügigkeitsverordnung

(EWG) Nr. 1612/68 mit Wirkung vom 30.4.2006 aufgehoben. 84 Art. 24 R L schreibt die Gleichbehandlung

von Unionsbürgern und Inländern

fest und stellt einen direkten Bezug zwischen dem Diskriminierungsverbot (Art. 12 EGV) und dem Aufenthaltsrecht (Art. 18 EGV) her. Das Recht der Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und i m Aufnahmemitgliedstaat das Recht auf Aufenthalt oder auf Daueraufenthalt genießen. Gem. Art. 24 Abs. 2 R L ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht gehalten, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenfalls während eines längeren Zeitraums Sozialhilfe,

oder Personen, die sich in erster

Linie zum Studium in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, Studienbeihilfen

in Form

eines Stipendiums oder Studiendarlehens zu gewähren. Andere Beihilfen müssen aber auf Grund des Diskriminierungsverbots des Art. 21 Abs. 1 R L gewährt werden. Diese Situation gilt bis zum Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt; dann gilt Inländergleichstellung. Der Besitz einer Anmeldebescheinigung, antragung

einer Aufenthaltskarte

enthaltskarte

einer Bescheinigung über die Be-

für Familienangehörige

oder einer Dauerauf-

ist, wie Art. 25 Abs. 1 R L klarstellt, keine Voraussetzung für die

Ausübung eines Rechts oder die Erledigung von Verwaltungsformalitäten (deklaratorische

Wirkung)*

5

wenn das Recht durch ein anderes Beweismittel nach-

gewiesen werden kann. Die genannten Dokumente werden von den Mitgliedstaaten kostenlos oder zum gleichen Preis wie die entsprechenden Dokumente für die eigenen Staatsangehörigen ausgestellt. Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 26 R L kontrollieren, ob die sich gegebenenfalls aus ihrem Recht ergebende Verpflichtung eingehalten wird, ständig die Anmeldebescheinigung oder die Aufenthaltskarte mit sich zu führen, sofern sie diese Verpflichtung ihren eigenen Staatsangehörigen in Bezug auf deren Personalausweis auferlegen (Festschreibung der Gleichbehandlungspflicht). 86

84

Siehe Art. 38 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Vgl. EuGH, Rs. C-48/75, Royer, Slg. 1976, 497 (514), Tz. 50/51. 86 Vgl. EuGH, Rs. C-321/87, Kommission/Belgien, Slg. 1989, 997 (1010), Tz. 12; Rs. C-265/88, Messner, Slg. 1989, 4209 (4225), Tz. 14; Rs. C-24/97, Kommission/ Deutschland, Slg. 1998, 1-2133 (2145), Tz. 13. 85

8 FS Hablitzel

Johann Egger

114 6. Beschränkungen

des Einreise- und des Aufenthaltsrechts

aus Gründen der öffentlichen

Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit

Art. 27 Abs. 1 R L schreibt in unmittelbarem Zusammenhang mit Art. 39 Abs. 3 E G V fest, dass jede Entscheidung, die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen (ungeachtet deren Staatsangehörigkeit) einzuschränken (Ausweisung, Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet bzw. der Ausreise), nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit

oder Gesundheit erlaubt ist. Diese Gründe dürfen nicht zu

wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden. 8 7 Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

gewahrt werden und darf ausschließlich

das persönliche Verhalten der betreffenden Person ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. 88 Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. 8 9 Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Das persönliche Verhalten kann nicht als hinreichend schwere Gefahr betrachtet werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat gegen eigene Staatsangehörige, die die gleiche Art von Verstoß begehen, keine schweren Sanktionen verhängt. In den Fällen Adoui und Cornuaille

ging es um

die Ausweisung zweier „Serviererinnen", welche in einer anrüchigen Bar der Prostitution nachgingen. Die Ausweisung wurde deswegen als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen, weil i m betreffenden

Mitgliedstaat die Prostitution

nicht generell verboten w a r . 9 0 Angesichts der enormen Bedeutung der Freizügigkeit sind an den Nachweis einer derartigen Gefahr strenge Anforderungen zu stellen: Zahl, Art und Schwere der begangenen Straftaten sowie die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts sind abzuwägen. 91 Bei entsprechenden Entscheidungen werden die Dauer des vorangegangenen Aufenthalts, das Alter, der Gesundheitszustand, die familiäre und wirtschaftliche Lage, die soziale und kulturelle Integration in den Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß der Bindungen zum Heimatstaat berücksichtigt. 9 2 Der Aufnahmemitglied87 88

Vgl. Art. 27 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38/EG; Art. 2 Abs. 2 RL 64/221 /EWG. Vgl. Art. 27 Abs 2 Satz 2 RL 2004/38/EG; Art. 3 Abs. 1 und 2 RL 64/221/

EWG. 89 Vgl. schon EuGH, Rs. C-30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999 (2013), Tz. 35; nunmehr Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2004/38/EG. 90 EuGH, vb. Rs C - l 15/81 und C - l 16/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665 (1707), Tz. 8; vgl. auch Rs. C-249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263 (1292), Tz. 19. 91 Vgl. U. Wölker in: v.d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag , Art. 39 Rdn. 136. Vgl. Art. Abs. RL 2004/38/EG.

Die neue Aufenthaltsrichtlinie der EU

115

Staat kann gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, letztere ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt erlangt haben, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen. 9 3 Gem. Art. 28 Abs. 3 R L darf gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den M i t gliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren i m Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig. Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit

oder Gesundheit

aus einem anderen Mitgliedstaat

ausgewiesen

wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird

94

Bei der Erteilung der Anmeldebescheinigung oder der Aufenthaltskarte kann der Aufnahmemitgliedstaat, wenn er dies für unerlässlich hält, spätestens drei Monate nach der Einreise den Herkunftsmitgliedstaat und gegebenenfalls die anderen Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Antragstellers in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen

95

Das Auftreten von Krankheiten

nach Ablauf von sechs Monaten nach der

Einreise kann die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet nicht rechtfertigen. 96 Jedoch kann eine die Freizügigkeit einschränkende Maßnahme wegen Krankheiten gesetzt werden, welche als Krankheiten mit epidemischem Potenzial i.S.d. einschlägigen

Rechtsinstrumente

der Weltgesundheitsorganisation

aufgeführt

sind und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern i m Aufnahmemitgliedstaat Maßnahmen zum Schutz der eigenen Staatsangehörigen gegen diese Maßnahmen getroffen

werden. 9 7

Liegen ernsthafte Anhaltspunkte vor, können die Mitgliedstaaten für Personen, die Aufenthaltsrecht genießen, binnen drei Monaten nach der Einreise eine kostenlose ärztliche Untersuchung anordnen, um feststellen zu lassen, dass sie nicht

93 94 95 96 97

8*

Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 27 Abs. 4 RL 2004/38/EG; Art. 3 Abs. 3 RL 64/221/EWG. Vgl. Art. 27 Abs. 3 RL 2004/38/EG; Art. 5 Abs. 2 RL 64/221/EWG. Vgl. Art. 29 Abs. 2 RL 2004/38/EG; Art. 4 Abs. 2 RL 64/221/EWG. Vgl. Art. 29 Abs. 1 RL 2004/38/EG.

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an einer der angeführten Krankheiten leiden. Diese ärztlichen Untersuchungen dürfen nicht systematisch durchgeführt werden. 9 8 Gem. Art. 30 Abs. 1 R L muss jede Entscheidung gem. Art. 27 Abs. 1 dem Betreffenden schriftlich

in einer Weise mitgeteilt

werden, dass er deren Inhalt

und Wirkung nachvollziehen kann 9 9 Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen. 100 In der Mitteilung ist ferner anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls innerhalb welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden

Fällen muss die Frist

zum

Verlassen des

Hoheitsgebiets

mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen. Die Bestimmungen des Art. 29 R L („Verfahrensgarantiert") zielen darauf ab, den Aufenthaltsberechtigten den Zugang zu Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln und somit einen lückenlosen Rechtsschutz zu sichern. W i r d neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn, die Ausweisungsverfügung stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung oder die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder die Ausweisungsentscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Art. 28 Abs. 3 . 1 0 2 Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen zwar verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönlichen Verhalten ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise ins Hoheitsgebiet. 1 0 3

98

Vgl. Art. 29 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 64/221/EWG; EuGH, vb. Rs. C - l 15/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665 (1709), Tz. 13. 100 Vgl. Art. 30 Abs. 2 RL 2004/38/EG; Art. 6 RL 64/221/EWG; EuGH, Rs. С-36/ 75, Rutiii, Slg. 1975, 1219 (1232), Tz. 37/39; vb. Rs. C - l 15/81 und 116/81, Adoui und Cornuaille, Slg. 1982, 1665 (1709), Tz. 13. 101 Vgl. Art. 30 Abs. 3 RL 2004/38/EG; Art. 7 Abs. 2 RL 64/221/EWG. 102 Vgl. Art. 31 Abs. 2 RL 2004/38/EG. 103 Vgl. Art. 31 Abs. 4 RL 2004/38/EG. 99

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Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht

ordnungsgemäß

erlassenen

endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben; der betreffende Mitgliedstaat muss dann binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags entscheiden. 1 0 4 Allerdings dürfen die betreffenden Personen während der Prüfung ihres Antrags nicht in das Hoheitsgebiet des betreffenden

Mitglied-

staats einreisen. 1 0 5 Der Aufnahmemitgliedstaat kann eine Ausweisungsverfügung als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe nur erlassen, wenn die Voraussetzungen der Art. 27, 28 und 29 eingehalten werden. 1 0 6 W i r d eine Ausweisungsverfügung mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt, so muss der Mitgliedstaat überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten i s t . 1 0 7 Da die Richtlinie neue Rechte und Pflichten hinsichtlich der Personenfreizügigkeit und des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen einführt, ist es angemessen, dass die Mitgliedstaaten dazu Informationen verbreiten, insbesondere durch Sensibilisierungskampagnen über nationale und lokale Medien und andere Kommunikationsmittel. 1 0 8 Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte i m Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehen von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Art. 30 und 3 1 .

sein

109

Gem. Art. 36 R L legen die Mitgliedstaaten Bestimmungen über Sanktionen1 1 0 fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur

104 Vgl. Art. 32 Abs. 1 RL 2004/38/EG; EuGH, Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I11 (31), Tz. 29. 105 Vgl. Art. 32 Abs. 2 RL 2004/38/EG. 106 Vgl. Art. 33 Abs. 1 RL 2004/38/EG. 107 Vgl. Art. 33 Abs. 2 RL 2004/38/EG. 108 Vgl. Art. 34 RL 2004/38/EG. 109 Vgl. Art. 35 RL 2004/8/EG. 110 Sanktionen wie Gefängnisstrafen bei Zuwiderhandlung gegen die Ausweispflicht sind unverhältnismäßig, da diese eine Behinderung der freien Personenverkehrs darstellen, EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, 1-6207.

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Johann Egger

Umsetzung der Richtlinie zu verhängen sind, und treffen die zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam und verhältnismäßig sein. Die Mitgliedstaaten müssen dieser Richtlinie bis zum 30.4.2006 nachkommen.

Freude am Eigenen Zur aristotelischen Begründung des Privateigentums aus der recht verstandenen Selbstliebe Von Reto Luzius Fetz Wie eine gerechte Eigentumsordnung hergestellt, das Eigeninteresse des Individuums auf das Gemeinwohl abgestimmt werden könne, das gehört seit jeher zu den am heftigsten umstrittenen menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Besitz und Eigentum bilden deshalb auch ein Thema, mit dem sich die meisten Humanwissenschaften in irgendeiner Form zu befassen haben. Präskriptive und deskriptive Wissenschaften, von der Rechtswissenschaft und Ökonomie über die Soziologie und Psychologie bis hin zur philosophischen Anthropologie, Ethik und politischen Philosophie, sind hier ebenso gefragt wie die verschiedenen Disziplinen der Geschichtswissenschaft, die dem historischen Wandel der Besitzverhältnisse und der Eigentumsbegründung nachgehen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit jenem Aspekt des Eigentums, den man den psychologischen oder besser den anthropologischen nennen kann. Es geht hier um die Einordnung und Fundierung des Eigentums in jenem Bezug des Habens, den die Menschen allgemein zu Sachgütern unterhalten. Dieser Bezug des Habens, der die Form des Eigentums annimmt, muss in einem Verhältnis begründet sein, in dem die Menschen zu sich selbst stehen. Welche Form der Selbstbezogenheit erklärt, dass wir uns bestimmte Sachen aneignen wollen? Nach Aristoteles ist es die Selbstliebe, die verständlich macht, warum wir Güter für uns haben, sie unser eigen nennen wollen. Dass zwischen der Selbstliebe und der Liebe zu Eigenem ein Zusammenhang besteht, leuchtet unmittelbar ein. Aber damit entsteht auch sogleich der Verdacht, dass das Besitzstreben einfach Ausfluss des Egoismus sein könnte. Wer also die Liebe zum Eigenen faktisch von der Selbstliebe herleiten w i l l , der muss ihnen normativ auch Schranken setzen. Aristoteles hat beides getan, wenn auch in knapper Form, bei der vieles unausgesprochen bleibt. Die Kommentatoren des Aristoteles - insbesondere Thomas von Aquin und die ihm folgenden Vertreter einer naturrechtlichen Begründung des Privateigentums - haben seine Herleitung des Eigentums aus der Selbstliebe zwar immer wieder zitiert, sie aber kaum eigenständig weiterentwickelt. 1 Dabei liefert - das ist nun die hier vertretene These - gerade dieses aristotelische Begründungsmo-

120

Reto Luzius Fetz

ment einen Ansatz, von dem aus man nicht nur allgemein das menschliche Besitzstreben gut verstehen und kritisch beurteilen kann, sondern sich auch überraschende Verbindungen zu unserem modernen Verständnis von Eigentum herstellen lassen, und zwar wiederum sowohl faktisch als auch normativ. Doch bevor wir solche weiterreichenden Überlegungen anstellen, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, wie und warum Aristoteles in der recht verstandenen Selbstliebe das menschliche Sinnesfundament für das Besitzstreben sehen konnte.

I. Selbstliebe als Eigentumsbegründung bei Aristoteles Aristoteles gilt gemeinhin als einer der ersten Vertreter einer naturrechtlichen Begründung des Eigentums. Er betrachtet in der Tat i m ersten Buch seiner Politik den Besitz als etwas, was „allen von der Natur selber gegeben" 2 ist. A u f Besitz ist der Mensch aufgrund seiner Bedürfnisnatur angewiesen. Das sprechendste Beispiel dafür ist die Sorge um die Nahrung, denn „ohne Nahrung ist Leben unmöglich" 3 . Bezüglich der Ernährung lassen sich schon bei den Tieren unterschiedliche Lebensformen feststellen, weil die einen Pflanzenfresser, die anderen Tierfresser, noch andere Allesfresser sind. Erst recht gilt für den Menschen, dass aus unterschiedlichen Formen der Nahrungsbeschaffung

unter-

schiedliche Lebensformen hervorgehen. Vom Jagd- und Fischfang über das Nomadentum bis hin zum Ackerbau können wir eine Entwicklung verfolgen, bei der der Mensch zunächst der Nahrung nachgeht, seine Nahrungsträger dann eigens kultiviert und sich so einen zunehmend sicheren und reichlichen Vorrat an Lebensmitteln verschaffen kann. Für Aristoteles ist es die Natur, die dafür sorgt, dass jedes Lebewesen das für seinen Lebensunterhalt Notwendige erhält. Diese Naturordnung lässt sich sowohl i m Einzelnen wie i m Ganzen beobachten. Bei den einzelnen Lebewesen zeigt sie sich zunächst i m ersten Lebensabschnitt, wo die Nahrung gleichsam dem entstehenden Lebewesen mitgegeben wird, wie dies bei jenen Tieren der Fall ist, die Eier legen, oder wo das Jungtier auf natürliche Weise von seinem Muttertier mit M i l c h versorgt wird. Aber auch nach diesem ersten Lebensabschnitt hat die Natur durch eine entsprechende Umwelt Vorsorge dafür getroffen, dass sich das Lebewesen das für seinen Unterhalt Notwendige aneignen kann. Aufs Ganze gesehen erweist sich die Natur durch ihre Stufenordnung als

1 Vgl. etwa H. Meyer, Thomas von Aquin. Sein System und seine geistesgeschichtliche Stellung, Paderborn 1961, S. 609; J. Messner, Das Naturrecht, Innsbruck 1960, S. 949 f. 2 Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 8, 1256 b 8. Übersetzung von E. Schütrumpf, Darmstadt 1991. 3 A.a.O. 1256 a 20.

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ein geordnetes, den Unterhalt sicherstellendes Gefüge, weil „die Pflanzen um der Tiere da sind, die übrigen Tiere um der Menschen w i l l e n " 4 . Dieser Stufenkosmos mit seiner anthropozentrischen Teleologie ergibt sich für Aristoteles ganz selbstverständlich aus dem Wesen der Natur: „Wenn nun gilt, dass die Natur nichts unvollendet und nichts umsonst tut, dann folgt daraus zwingend, das die Natur dieses alles um der Menschen willen geschaffen hat." 5 Die christliche Philosophie des Mittelalters brauchte nur an die Stelle der „Natur" „ G o t t " zu setzen - was schon bei Aristoteles vorgezeichnet ist - , um dieser naturphilosophischen Eigentumsbegründung ihr metaphysisches Fundament zu geben: Gott, der Schöpfer und damit der Ureigentümer der Welt, hat diese so eingerichtet, dass das Niedere dem Höheren, das Unvollkommene dem Vollkommenen zu dienen hat, und so sind auch die äußeren Güter auf die Lebensausstattung und Lebenserhaltung des Menschen hin geordnet, der aufgrund seiner Vernunft und Ebenbildlichkeit mit Gott die Verfügungsgewalt über sie hat. Die naturrechtliche Begründung des Eigentums, wie Aristoteles sie versteht, teilt einem einzelnen Hauswesen den Besitz maßvoll zu; es genügt vollauf, wenn ein reichlicher Vorrat an Gütern vorhanden ist, die für das Leben unerlässlich sind und mit denen sich dieses angenehm gestalten und zubringen lässt. Darin besteht der wahre Reichtum, denn der Besitz soll nicht ins Grenzenlose gehen; wie ihm eine natürliche Berechtigung zukommt, so ist ihm auch eine natürliche Grenze gesetzt. 6 Für die falsche Auffassung, dass Reichtum und Besitz grenzenlos seien, macht Aristoteles jene Erwerbsweise verantwortlich, die er die gewinnsüchtige nennt. Sie entstand dadurch, dass an die Stelle des Naturaltausches das Geld als Zahlungsmittel trat, womit der Gewinn zum eigentlichen Ziel des Warenumschlags und Handels wurde. Aus dem Gewinn entstand die Tendenz, das dabei herausspringende Geld bis ins Unendliche vermehren zu wollen. Ein solcher gewinnsüchtiger Handel darf nach Aristoteles mit Recht getadelt werden, weil er nicht entsprechend der Natur ausgeübt wird und leicht dazu führt, dass die Menschen ihren ganzen Eifer in die bloße Bereitstellung der Mittel setzen, die zum Leben dienen, nicht aber ihr Leben selbst möglichst vollkommen zu gestalten suchen. 7 Hier wird bereits deutlich, dass das rechte Streben nach und der rechte Umgang mit Besitz für Aristoteles nicht etwas selbstverständlich Gegebenes ist, sondern vielmehr eine Tugend darstellt, die es zu erwerben gilt. Bei der i m ersten Buch der Politik

vorgelegten Begründung des Eigentums

denkt Aristoteles offensichtlich an ein Hauswesen und an den Hausherrn als Träger des Besitzes. 8 Die Frage der Eigentumsform ist damit aber noch nicht 4 5 6 7

A.a.O. 1256 b 16 f. A.a.O. 1256 b 20-23. Vgl. a.a.O. 1256 b 31-36. Vgl. a.a.O. Kap. 9-10.

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entschieden. Sie bedarf um so mehr einer eingehenden Erörterung, als Aristoteles' einstiger Lehrer Piaton in seinem Alters werk Politeia

für den Idealstaat

postuliert hatte, dass die Klasse der Herrschenden Frauen und Kinder gemeinsam haben und dabei ohne Privatbesitz sein sollten. 9 Somit stellt sich für Aristoteles die Frage, ob Gemeinsamkeit des Besitzes als Eigentumsform der i m allgemeinen üblichen vorzuziehen sei, bei der Privatbesitz und Gemeinbesitz sich wechselseitig ergänzen. 10 Dieser Frage widmet Aristoteles die ersten fünf Kapitel des zweiten Buches seiner Politik. Die Forderung nach Frauen- und Kindergemeinschaft weist Aristoteles grundsätzlich mit dem Argument zurück, sie verkenne sowohl das Wesen des Staates als auch die Eigenart von Liebesbeziehungen. Das Typische eines Staates wird in ihr verkannt, weil dieser auf einer zahlenmäßigen Vielheit beruht, die nicht zugunsten einer übermäßigen Einheit aufgegeben werden darf. 1 1 Die Eigenart von Liebesbeziehungen aber geht in ihr verloren, weil diese wesentlich Paarbeziehungen sind, die aus zweien eins machen. 1 2 Auch wenn jedoch feststeht, dass Frauen und Kinder jeweils Einzelnen gehören sollen, so bleibt damit die Eigentumsfrage immer noch offen, weil auch unter diesen Bedingungen eine Vergesellschaftung des ganzen Besitzes denkbar ist. Was also spricht dafür, dass es neben dem gemeinschaftlichen Besitz des Staates an den für das Gemeinwohl unabdingbaren Gütern auch den Besitz in der Form des Privateigentums gibt? Die verschiedenen Vorteile des Privateigentums arbeitet Aristoteles in dem sachlich für uns zentralen fünften Kapitel des zweiten Buches der Politik heraus. Ein erstes und grundlegendes Argument für das Privateigentum erblickt Aristoteles in der gesteigerten Sorge, die wir dem Eigenen entgegen bringen. Dieses Argument stellt also auf die Motivation ab, die uns veranlasst, mit äußeren Gütern sorgsam bzw. sorglos umzugehen. Wenn alles allen gehört, herrscht die Tendenz vor, dass wir uns nicht besonders um die Güter kümmern. Umgekehrt wird die Sorge um den Besitz gesteigert, wenn jeder sich seinem Eigentum widmen kann. 1 3 Aus der besseren Sorge um den Besitz resultiert eine bessere Fürsorge für die anvertrauten Menschen. Dazu gehören für Aristoteles nicht nur die Familienangehörigen, sondern auch die Freunde. Der Nutzen des Privateigentums erstreckt sich also bei einer guten Charakterhaltung weit über den privaten Eigentümer hinaus, und es ist Sache des Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass dieser Nutzen möglichst allen zugute k o m m t . 1 4 8

Vgl. a.a.O. Kap. 7. Vgl. Piaton, Politeia (Der Staat), Buch III, 416 с ^ 1 7 b; Buch V, 457 d, 461 e 464 d. 10 Vgl. Aristoteles, Politik, Buch II, Kap. 1. 11 A.a.O. Kap. 2. 12 A.a.O. Kap. 4. 13 A.a.O. Kap. 5, 1263 a 27-29. 9

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Nach der Herausarbeitung dieser mit der Sorge um die Sachgüter und die Fürsorge für die Mitmenschen verknüpften Vorteile des Privateigentums erfolgt nun eine überraschende Wendung hin zum Privat-Persönlichen des eigenen Ichs und seines Gefühlslebens, die wir zunächst i m vollen Wortlaut wiedergeben: „Außerdem trägt es auch unbeschreiblich viel zum Wohlbehagen bei, wenn man etwas als sein Eigentum betrachten kann. Denn es ist gewiss nicht ohne Grund, dass ein jeder Liebe zu sich selber hegt, sondern diese Haltung ist naturgegeben. Selbstsucht findet dagegen mit Recht Verachtung, und sie ist nicht Selbstliebe, sondern deren Übertreibung, wie auch Habsucht (als Übertreibung des naturgemäßen Verlangens nach Besitz verachtet ist), während doch so ziemlich alle Menschen jede Art von Besitz schätzen und lieben." 15 Halten wir die einzelnen Momente fest. Erstens wird dem Bewusstsein, dass etwas uns gehört, ein hoher emotionaler Wert zugeschrieben. Zweitens wird diese positive Emotion mit der Liebe in Zusammenhang gebracht, die ein jeder sich selbst entgegen bringt. Für Aristoteles scheint dieser Zusammenhang unmittelbar einsichtig zu sein, denn er wird nicht näher erläutert. W i r dürfen annehmen, dass sich dieser Zusammenhang i m damaligen Griechischen schon rein semantisch aus der Wortbedeutung der „Liebe zu sich selbst" ergab, insofern das „Eigene" eben etwas dem Ich Zugehöriges ist - so wie wir i m Deutschen die „Eigenliebe" mühelos als die „Liebe zum Eigenen" (und damit auch zum „Eigentum") verstehen können. Jedenfalls leuchtet unmittelbar ein, dass die Selbstliebe auch das mit einschließt, was zum eigenen Interessenkreis gehört, und darunter fällt in erster Linie das Eigentum. Ein drittes Moment ist die Charakterisierung der Selbstliebe als „naturgegeben" (physikon) 16. Damit ist für Aristoteles eine grundsätzlich positive Wertung der Selbstliebe ausgesprochen, denn das, was die Natur vorgibt, kann an sich nach seiner allgemeinen Überzeugung (die er mit der ganzen Antike teilt) niemals schlecht sein. Zudem ist hier anzumerken, dass Aristoteles mit der Zurückführung des Privateigentums auf die als naturgegeben charakterisierte Selbstliebe wiederum „auf eine gleichsam naturrechtliche Begründung des Privateigentums z i e l t " 1 7 . Diese positive Wertung der Selbstliebe bringt es aber mit sich, dass Aristoteles sie viertens von ihren negativ zu wertenden Fehlformen abgrenzen muss. Die maßlosen Übertreibungen der Selbstliebe manifestieren 14

A.a.O. 1263 а 33-40; vgl. schon Kap. 4, 1262 b 22-24. A.a.O. Kap. 5, 1263 a 40-b 5. - In der hier benützten Übersetzung von E. Schütrumpf (vgl. Anm. 2) steht statt „Selbstliebe" „Eigenliebe". Wie unten deutlich wird, ist jedoch gemäß einer langen Tradition auch terminologisch zwischen der positiv zu wertenden „Selbstliebe" und der negativ besetzten „Eigenliebe" zu unterscheiden. Vgl. H. J. Fuchs, Entfremdung und Narzissmus. Semantische Untersuchung zur Geschichte der „Selbstbezogenheit" als Vorgeschichte von französisch „amour-popre", Stuttgart 1977. 16 A.a.O. 1263 b 1. 17 Kommentar von E. Schütrumpf zur zit. Stelle (Politik, Teil II, S. 199). 15

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sich als Selbstsucht und Habsucht, wobei gerade die letztere als die Pervertierung des naturgemäßen Besitzstrebens anzusehen ist. I m Zentrum dieses ganzen Argumentationsganges steht offensichtlich

die

Selbstliebe, wobei deutlich geworden ist, wie sehr es Aristoteles daran liegt, diese Selbstliebe in der Naturordnung zu verwurzeln und sie gleichzeitig von ihren Auswüchsen abzuheben. M i t der Habsucht benennt Aristoteles das eine Extrem, dass das aus der Selbstliebe hervorgehende Besitzstreben i m Menschen annehmen kann. W i e bei ihm sonst üblich, hätte er dabei auch das andere Extrem erwähnen können, nämlich die Verschwendung. Wenn sich aber der Umgang mit Besitz in der rechten Mitte zwischen Habsucht und Verschwendung zu halten hat, dann ist die dabei einzunehmende Haltung das, was Aristoteles als атё

bezeichnet, nämlich eine spezielle Trefflichkeit menschlichen Verhaltens,

mit dem traditionellen Ausdruck eine Tugend.

18

Das Gleiche muss dann auch

von dem Grundakt gelten, aus dem die rechte Beziehung zum eigenen Besitz hervorgeht, nämlich von der Selbstliebe: auch sie ist in ihrer anzustrebenden optimalen Form, die ebenso Abstand von einem Zuviel wie von einem Zuwenig hält, eine Tugend, j a sogar eine Grundtugend des Menschen. Die i m zitierten Text sichtbar werdende Bemühung des Aristoteles, der Selbstliebe die ihr angemessene Stellung und Form zu geben, kommt in der Tat nicht von ungefähr. Sie ist in Verbindung mit dem großangelegten Versuch zu sehen, den Aristoteles in der Nikomachischen

Ethik unternommen hat, um die

schon damals als Egoismus verpönte Selbstliebe zu rehabilitieren und sie gleichzeitig in eine Idealform zu bringen. Die Auffassung von Selbstliebe, die Aristoteles dabei vorträgt, gilt allgemein und zu recht als einer der schönsten und tiefsten Gedanken, die bei ihm zu finden sind. Das Außergewöhnliche dieser Denkleistung müssen wir uns nun vor Augen führen, um zu verstehen, welche Auswirkung die i m Sinne des Aristoteles aufgefasst Selbstliebe auf die Einstellung zu Besitz hat. Aristoteles entwickelt seine Auffassung der Selbstliebe i m neunten Buch seiner Nikomachischen

Ethik, das, wie schon das achte, von der Freundschaft han-

delt. Die Freundschaft ist für Aristoteles nach der Gerechtigkeit die zweite große Tugend, die es i m Umgang mit den Mitmenschen anzustreben gilt. Gerechtigkeit und Freundschaft unterscheiden sich dadurch voneinander, dass die Gerechtigkeit einforderbar ist und ausnahmslos allen Menschen entgegengebracht werden muss - deshalb gilt sie auch traditionell als eine Kardinaltugend. 1 9 Die Freundschaft hingegen bezieht sich nur auf wenige, die w i r uns frei auswählen können, und in ihrer höchsten Ausprägung, der Liebe, insbesondere der Liebe zwischen Mann und Frau, nimmt sie die Form einer Zweierbeziehung 18 19

Zur Tugend allgemein vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I. Zur Gerechtigkeit vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V.

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an. Die Freundschaft und besonders die Geschlechterliebe beruhen zwar für Aristoteles auf einer Naturgegebenheit, weil der Mensch ein geselliges und auf eine Paarbeziehung angelegtes Wesen ist. Sie bedürfen aber nichts desto weniger der Kultivierung und Pflege, um eine möglichst vollendete Form zu erlangen, und darum ist die rechte Disposition zu Freundschaft und Liebe für Aristoteles eine eigens einzuübende Tugend. Für Aristoteles zeigt sich die Werthaftigkeit echter Freundschaft darin, dass sie nicht bloß auf einen Nutzen oder einen Lustgewinn abzielt, den man von anderen haben kann, sondern sich um die Person des anderen selbst und ihr Wohlergehen sorgt, d.h. um das, was der andere als einmaliges Individuum mit den ihm gegebenen positiven Möglichkeiten ist und sein k a n n . 2 0 Aber wie kann ein Mensch eine Freundschaft mit anderen eingehen? Aristoteles weist in einer subtilen Analyse nach, dass das freundschaftliche Verhalten zu anderen nicht unabhängig von dem Verhältnis ist, in dem w i r zu uns selbst stehen. Vielmehr geht es geradezu aus der Übertragung einer ursprünglichen Freundschaft mit uns selbst hervor - nur darum kann der Freund ein „zweites I c h " 2 1 , ein „alter ego" genannt werden. Für diese Annahme sprechen laut Aristoteles verschiedene Entsprechungen, die wir i m freundschaftlichen Verhalten zu anderen und i m Verhalten zu uns selbst ausmachen können. 2 2 So wollen w i r für uns selbst spontan das Gute - aber auch in einer echten Freundschaft ist das Wohlergehen des Freundes unser erstes Anliegen. Von dem, was dem Freund glückt oder ihm widerfährt, von seinem Freud und Leid fühlen wir uns unmittelbar betroffen

-

Betroffenheit spüren wir aber zu allererst, wenn es um uns selbst geht. Kennzeichnend für die Freundschaft ist schließlich das vertraute und geschätzte Zusammensein der Freunde. Das Urbild davon ist aber wiederum der Friede und die innere Übereinstimmung einer Person mit sich selbst, sofern eine Person nicht ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst hat. Hier wird besonders deutlich, dass das Verhältnis zu sich selbst und das Verhältnis zu anderen einander bedingen: Nur wer mit sich selbst in Einklang lebt, kann auch eine harmonische Beziehung mit anderen eingehen. Darum die lapidare Aufforderung, mit der Aristoteles diese Überlegungen schließt: Man „muss versuchen, ein guter Mensch zu sein. Denn nur so kann man zu sich selbst ein freundschaftliches Verhältnis haben und einem anderen Menschen Freund werden." 2 3 Sobald man über die Liebe zu einer anderen Person und die Liebe zu sich selbst reflektiert, erhebt sich die Frage des Vorrangs: wen darf oder soll man mehr oder in erster Linie lieben, sich selbst oder den anderen? Aristoteles hat 20

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VIII, Kap. 3. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IX, Kap. 4, 1166 a 32. Übersetzung von F. Dirlmeier, Stuttgart 1983. 22 Vgl. а. а. O. Kap. 4, passim. 23 A.a.O. 1166 b 28 f. 21

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diese Frage explizit gestellt und in einem eigenen K a p i t e l 2 4 beantwortet, das an Tiefe des Gedankens und auch an Schönheit der Form i m Werk des Aristoteles kaum seinesgleichen hat. Das Problem, um das es dabei geht, ist in neuzeitlicher Terminologie

der Gegensatz von Egoismus und Altruismus.

Dieses

Problem stellte sich Aristoteles deshalb, weil es schon zu seiner Zeit die dem modernen Ausdruck (philautos)

„Egoismus" entsprechende Wortbildung

„selbstliebend"

gab, die wie „Egoismus" negativ besetzt war. Der „Selbstliebende"

ist jener, dem es letztlich immer nur um seine eigenen Interessen geht und der sich nicht wirklich für einen anderen zu engagieren vermag. 2 5 Und Piaton hatte in seinem letzten Werk, den Gesetzen, die Selbstliebe als das allerschlimmste Übel gebrandmarkt 2 6 - ein Urteil, das verschiedene Kirchenväter aufgreifen werden, das allerdings Thomas von Aquin wieder i m Sinne des Aristoteles korrigieren

wird.

Diese pauschale Verurteilung der Selbstliebe kann jedoch für Aristoteles nicht stimmig sein. Denn sie passt nicht zu seiner oben entwickelten Annahme, dass das Freundschaftsverhältnis zu einem anderen als die Erweiterung des ursprünglichen Freundschaftsverhältnisses zu sich selbst anzusehen ist und dass beide nicht nur analoge Merkmale aufweisen, sondern sich auch bedingen. 2 7 Die Selbstliebe kann somit nicht immer und notwendig schlecht sein, auch wenn sie ohne Zweifel ihre Fehlformen hat. Also kommt alles darauf an, welchen Sinn man sowohl positiv als auch negativ mit dem Ausdruck „Selbstliebe" verbindet28 Was mit dem Ausdruck „selbstliebend" in seiner negativen Wertung verbunden wird, liegt auf der Hand: Es ist die Tendenz, sich exzessiv Sachgüter, Geld, Ehre und Genüsse zu verschaffen, und zwar auf Kosten der anderen. Eine solche „Selbstliebe" ist Ausdruck einer ungezügelten Begehrlichkeit, der, wie Aristoteles urteilt, leider die Mehrzahl der Menschen nachlebt. Weil die durchschnittliche Verfassung der Menschen dieses B i l d bietet, hat sie auch die gängige Bedeutung von „selbstliebend" i m Sinne des Egoismus geprägt. Diese Form von „Selbstliebe" wird mit Recht negativ bewertet und ist entsprechend zu verwerfen. 2 9

24

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IX, Kap. 8. Die jüngste Monographie (mit Bibliographie) zum Thema ist von P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe bei Piaton und Aristoteles, Freiburg 2000. 25 Aristoteles, a.a.O. 1168 a 29-35. 26 Piaton, Gesetze, Buch V, 731 e-732 b; vgl. K. Gantar, Zur Entstehungsgeschichte des aristotelischen Begriffs der philautia. In: J. Harmatta (Hg.): Studien zur Geschichte und Philosophie des Altertums, Amsterdam 1968, S. 90-97. 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IX, Kap. 8, 1168 b 3-10. 28 A.a.O. 1168 b 12-15. 29 A.a.O. 1168 b 15-25.

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Nun weist Aristoteles auf einen eigenartigen Sachverhalt hin: Wenn jemand sich voll und ganz bemüht, das Rechte zu tun, besonnen zu sein und mit seinem tiefsten sittlichen Wesen i m Einklang zu leben, wird ihn niemand einen Egoisten nennen. 3 0 Und doch, argumentiert nun Aristoteles, hat gerade dieser Mensch Selbstliebe, und zwar in viel höherem Maße als der vorhin beschriebene Typus: „Was er sich zuteilt, ist j a auf jeden Fall das Edelste und die höchsten Güter, und es ist gerade der entscheidende Bereich seines Wesens, für dessen Pflege er lebt [...]. Und so hat denn die größte Selbstliebe, wer diesen Teil liebt und für ihn l e b t . " 3 1 Somit kommt Aristoteles zum Schluss, dass es zwei Typen von Selbstliebe gibt, einen negativ und einen positiv zu bewertenden. 32 Der negative - den wir fortan in Übereinstimmung mit einer langen Tradition als „Eigenliebe" bezeichnen w o l l e n 3 3 - ist geprägt von der menschlichen Triebstruktur, ist Ausdruck ungezügelten Begehrens und Für-sich-haben-Wollens und damit von Grund auf egoistisch. 3 4 Der positive Typus hingegen - der nun allein den Namen „Selbstliebe" erhalten soll - ist von dem getragen, was das eigentliche Selbst des Menschen ausmacht, nämlich vom Geist. Und so stehen sich Eigenliebe und Selbstliebe gegenüber wie begehrendes und besonnenes Ich, uneigentliches

und

eigentliches Selbst. 3 5 Die Frage, ob es zulässig ist, sich selbst zu lieben, ist also zu einfach gestellt und bedarf der Differenzierung. „Selbstliebend" sollen

wir

sein, sofern mit dem „Selbst" der eigentliche Teil unseres Wesens gemeint ist, die nach den sittlichen Idealen strebende geistige Kraft in uns; nicht aber dürfen wir „selbstliebend" sein, sofern die nicht vom Geist durchformte Triebhaftigkeit und Begehrlichkeit die Stelle des „Selbst" einnehmen. „Der ethisch hochstehende Mensch soll sich also selbst lieben - denn von seinem edlen Handeln wird er selbst Gewinn haben und auch die anderen fördern - , der Minderwertige dagegen darf keine Selbstliebe haben, denn er wird sich selbst und auch den anderen schaden, da er seinen schlechten Trieben f o l g t . " 3 6 Es ist das Paradox der i m aristotelischen Sinn verstandenen echten Selbstliebe, dass sie sich in jenen Akten verwirklicht, die wir als „selbstlos" charakterisieren, weil es dabei scheinbar nur um den anderen und nicht um uns selbst 30

A.a.O. 1165 b 25-28. A.a.O. 1168 b 29-34. 32 A.a.O. 1169 a 5 f. 33 Vgl. Anm. 15. Eine dezidierte Unterscheidung von „Selbstliebe" und „Eigenliebe" oder „Egoismus" in unserem Sinn und mit Berufung auf Aristoteles hat Max Scheler vorgenommen. Vgl. M. Scheler, Vom Umsturz der Werte, Bern 1955 (Ges. Werke Bd. 3), S. 82, Anm. 3; ders., Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1973 (Ges. Werke Bd. 7), S. 154, Anm. 2. 34 A.a.O. 1169 a 5 f. 35 A.a.O. 1168 b 34-1169 a 3. 36 A.a.O. 1169 a 11-15. 31

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geht. Das Beispiel, das Aristoteles immer wieder anführt, ist die Großzügigkeit beim Schenken, und dieses Beispiel ist für uns besonders bedeutsam, weil es wieder zu dem zurückführt, was unser eigentliches Thema ist, nämlich zum Umgang mit äußeren Gütern. Maßvoll und großzügig zu sein sind laut Aristoteles die beiden Tugenden, die gegenüber Besitz gefordert sind. 3 7 Dabei macht das rechte Maß, d.h. die Mitte zwischen Verschwendung und Habsucht, gewissermaßen die Basistugend aus. Die Großzügigkeit hingegen drückt das freie Verhältnis zum eigenen Besitz aus und ist damit generell Ausdruck eines freien und noblen Wesens. 38 So kommt es nicht von ungefähr, dass Aristoteles der Beschreibung des Großzügigen in seiner Nikomachischen

Ethik mehrere Kapitel

gewidmet h a t . 3 9 Die Großzügigkeit besteht in der rechten Mitte zwischen Verschwendungssucht und kleinlichem Knausern. Der Verschwendungssüchtige hat den schlechten Hang, sein Hab und Gut zu ruinieren. Der Knauserige hingegen vermag von ihm nicht den rechten Gebrauch zu machen, weil er sich nicht vom Eigenen trennen kann. Was den Großzügigen auszeichnet, ist somit seine Freigebigkeit, seine Bereitschaft zu geben und damit zum Helfen - eine Bereitschaft, die er sich bewahren w i l l und die ihn darum auch davon abhält, sein Gut achtlos hinzugeben, d.h. zu verschwenden. 40 Den wirklich und innerlich Großzügigen erkennt man daran, dass er geben kann, ohne dabei Unlust zu empfinden. Denn die Unlust beim Schenken ist das Zeichen dafür, dass der Wert dessen, was er hingibt, ihm am Ende mehr am Herzen liegt als die edle Tat des Schenkens selbst. Durch seine Freigebigkeit beweist also der Großzügige letztlich seine Unabhängigkeit von Geld und Geldeswert. Darum ist für Aristoteles in Besitzfragen allein die Großzügigkeit die eines Freien würdige Haltung. 4 1 Nicht umsonst hat sich deshalb für diese Tugend das lateinische Wort liberalitas,

„Libe-

ralität" eingebürgert. Achten wir nun darauf, was der Beschenkte beziehungsweise der Schenkende jeweils vom Geschenk haben. Der Gewinn scheint zunächst allein auf der Seite des Beschenkten zu liegen, denn er ist es, der am Ende das Geschenk hat. Aber das ist eine rein materielle Betrachtungsweise. Denn das Geschenk ist und bleibt das Geschenk des Schenkenden, es ist Ausdruck seiner

Großzügigkeit.

Für Aristoteles ist damit das Fazit eindeutig: „So bekommt denn der Freund den äußeren Gewinn, er selbst [der Schenkende] aber die Ehre der schönen Tat, und somit gibt er sich das größere G u t . " 4 2 Durch das echte Schenken wird man

37 38 39 40 41 42

Aristoteles, Politik, Buch II, Kap. 6, 1265 a 36 f. A.a.O. 1265 a 33. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IV, Kap. 1-3. A.a.O. Kap. 1. A.a.O. Kap. 2. A.a.O. Buch IX, Kap. 8, 1169 a 27-29.

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zu einem großzügigen Menschen und formt einen noblen Charakter, und deshalb kann Aristoteles behaupten, dass der Schenkende letztlich mehr von seiner Tat hat als der Beschenkte. W i r verstehen nun zweierlei: Erstens, dass gerade ein solcher Mensch die wahre Selbstliebe i m Sinne des Aristoteles hat, und zweitens, dass diese Selbstliebe nicht primär auf das eigene Selbst bezogen ist. Der echt Schenkende schenkt „selbstlos", er denkt an die Freude des Beschenkten und nicht an sich selbst. Und doch wird er dabei nolens volens zum großzügigen und noblen Menschen. W i r haben hier das gleiche Implikationsverhältnis vor uns, das wir in jedem noch so „altruistischen" Liebesakt ausmachen können. Ich kann nicht jemand anderen lieben, ohne mich dabei selbst als Liebenden zu bejahen, was letztlich einem A k t der Selbstliebe gleichkommt. Damit ist jede Liebe zu einem anderen einschlussweise Liebe zu sich selbst, ohne dass das i m geringsten etwas mit „Egoismus" i m üblichen Sinn zu tun hätte. Die Liebe zu anderen und die wohlverstandene Selbstliebe bilden also für Aristoteles keinen Gegensatz, sondern schließen sich wechselseitig ein. Das macht verständlich, warum Aristoteles in dem für uns zentralen Text aus der Politik,

in dem er die Freude am Eigentum aus der Selbstliebe begründet, mü-

helos diese Selbstliebe mit einer generösen Haltung anderen gegenüber verbinden kann. Denn nicht nur zum eigenen Wohlbehagen trägt der Privatbesitz sehr viel bei, wie wir früher gesehen haben; „es bereitet auch das größte Vergnügen, Verwandten, Gästen aus der Fremde und Nahestehenden einen Gefallen zu erweisen und sie zu unterstützen, was aber nur bei Privatbesitz möglich i s t . " 4 3 Privatbesitz ist also für Aristoteles die materielle Bedingung dafür, dass man Freundschaften großzügig leben und pflegen kann. Nur wer etwas besitzt, kann es auch mit anderen teilen und so das Sprichwort „Freundesgut, gemeinsam Gut" in die Tat umsetzen. 4 4 Die aristotelische Begründung des Privateigentums aus der recht verstandenen Selbstliebe läuft somit in keiner Weise auf ein Plädoyer für Egoismus und Eigennutz hinaus. Sie spricht nicht einem zügellosen Für-sich-haben-wollen das Wort, sondern setzt eine Regelung aller Verhaltensweisen voraus, in denen wir zu uns selbst, zu den Sachgütern und zu den Mitmenschen stehen. Richtiges Besitzen-können ist, mit einem Wort, eine Tugend, j a ein ganzer Komplex von Tugenden. Es schließt ebenso die Habsucht aus, wie die richtig verstandene Selbstliebe die Selbstsucht. Der rechte Umgang mit Besitz sucht die maßvolle Mitte zwischen Habsucht und Verschwendung und vollendet sich in der Tugend der Großzügigkeit, die als liberales Verhältnis zu Geld und Sachgütern auch den Menschen selbst freimacht. Der Privatbesitz wird dabei nicht nur als die materielle Basis für die freie Wahl der eigenen Lebensgestaltung, sondern auch für das Zusammenleben in Freundschaft und für Hilfeleistungen aller Art begriffen. 43 44

Aristoteles, Politik, Buch II, Kap. 5, 1263 b 5-7. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VIII, Kap. 11, 1159 b 29-32.

9 FS Hablitzel

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Klugheit in schwierigen Situationen wird ebenso verlangt wie Gerechtigkeit bei Fragen der Verteilung, Gelassenheit bei unverdienten herben Verlusten, M u t zu neuen Besitz- und Lebensformen. Es gibt keine der aristotelischen Tugenden, die sich nicht direkt oder indirekt mit der rechten Haltung zu Besitz verknüpfen lässt. Aristoteles hat daraus gegen Piaton die Konsequenz gezogen, dass die Missstände, die mit einer privaten Eigentumsordnung einher gehen können, nicht i m Privateigentum selbst ihren Grund haben, sondern auf der Schlechtigkeit der Menschen beruhen. 45 Entsprechend sind sie auch nicht dadurch zu beheben, dass Besitz zum Gemeineigentum gemacht wird, sondern durch eine möglichst ausgewogene Gesetzgebung und die i m aristotelischen Sinn verstandene Tugendhaftigkeit des Einzelnen. Was Unrecht erzeugt, ist vor allem die grenzenlose Begehrlichkeit, für deren Befriedigung die Masse lebt. Durch die Gesetze ist dafür zu sorgen, dass sich Leute von schlechter Wesensart nicht unrechtmäßig einen materiellen Vorteil verschaffen können, durch die Einübung der Tugend, dass die Guten das gar nicht wollen

46

Gegen grenzenloses Besitzstreben hilft am besten die Einsicht, dass die lebensnotwendigen Bedürfnisse begrenzt und damit auch durch Arbeit

sowie

einen Besitz mäßigen Umfangs abgedeckt werden können. Und schließlich erinnert hier Aristoteles daran, dass es auch Genüsse gibt, die der Mensch ohne größere äußere Mittel aus sich selbst schöpfen kann, und darunter zählt in erster Linie die Philosophie als die über dem Materiellen stehende reine Freude an der Erkenntnis des Wahren. 4 7 Aber auch der Sinn für Schönheit schafft eine Distanz zu einem rein materiellen Profitstreben. Das führt Aristoteles vor Augen, wenn er von jenem Menschentypus spricht, der für ihn das Ideal des trefflichen und noblen Menschen schlechthin darstellt: der Großmütige und Hochsinnige (megalopsychos), der nicht nur auf seine Weise alle Tugenden verkörpert, sondern auch in allem das große Format z e i g t 4 8 „Er hat lieber Dinge um sich, die schön sind, auch wenn sie keinen Gewinn abwerfen, als solche, die Profit und Nutzen gewähren. Denn dies entspricht eher der Haltung des innerlich unabhängigen Mannes." 4 9

45 46 47 48 49

Aristoteles, Politik, Buch II, Kap. 5, 1263 b 22 f. A.a.O. Kap. 7 1267 b 1-8. A.a.O. 1267 a 2-14. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IV, Kap. 7-9. A.a.O. Kap. 9, 1125 a 11 f.

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II. Selbstliebe als Eigentumsbegründung unter den Bedingungen der Moderne Die modernen Autoren haben von der naturrechtlichen Eigentumsgründung des Aristoteles vor allem jenen Teil übernommen, der auf die Bedürfnisnatur des Menschen rekurriert. Die Begründung von der Selbstliebe her wird zwar manchmal zitiert, ist aber nicht weiterentwickelt worden. 5 0 Und doch - das ist die These, die wir nun vertreten wollen - vermag gerade der Rekurs auf die Selbstliebe zu erklären, was Menschen unter den Bedingungen einer liberalen Konsumgesellschaft als ihr Eigenes für sich haben wollen, auch über die Abdeckung ihrer bloßen Bedürfnisse hinaus. Erläutern wir das zuerst an Beispielen. Man kann von der Bedürfnisnatur des Menschen her erklären, warum Menschen ein Dach über dem Kopf, d.h. ein Haus oder eine Wohnung brauchen, um in den kälteren Regionen zu überleben. Aber der Rekurs auf die Bedürfnisnatur lässt uns nicht verstehen, warum unter verschiedenen möglichen und allesamt zweckmäßigen Haustypen eine Person gerade diese - traditionelle oder moderne, regional oder von wo anders her geprägte - Hausform für sich auswählt. In einem noch stärkeren Maße gilt das für die Einrichtung eines Hauses oder einer Wohnung. Der Mensch braucht in seinen vier Wänden Möbel, er braucht eine Küche und ein Bad. Das kann man wiederum von der Bedürfnisnatur des Menschen her erklären. Aber wie der Mensch der Moderne sich einrichtet - ob traditionell bürgerlich oder mit Design-Möbeln, ob i m so genannten Landhausstil oder ob er sich mit Antiquitäten umgibt und welche Epoche er dabei bevorzugt - das alles ist nicht mehr eine Frage der Bedürfnisse, denn diese können durch die eine Art der Einrichtung ebenso gut abgedeckt werden wie durch eine andere. Vielmehr ist es eine Frage des persönlichen Geschmacks und Lebensstils. Es geht hier darum, was man gerne um sich hat, in welchem Ambiente man leben möchte und damit generell um die Frage, was man am liebsten für sich hat. Darin steckt aber genau jenes Moment, mit dem Aristoteles die Freude am Eigenen begründete, nämlich die Selbstliebe. Und es bedarf keiner langen Erläuterungen, um einsichtig zu machen, dass die Kleiderwahl - dass wir Kleider haben müssen, ist ein Naturbedürfnis, welche es sein sollen hingegen nicht mehr - entscheidend davon bestimmt wird, wie wir uns selbst gerne sehen und zur Geltung bringen wollen. Bei dem Meisten schließlich, das wir uns für die Freizeit anschaffen, geht es überhaupt nicht mehr u m die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, sondern um die Bereitstellung von Mitteln, die wir - tatsächlich, in unserer Einbildung oder weil die Werbung es uns suggeriert - brauchen, um uns in den freien Stunden so zu geben, wie wir, befreit von den Zwängen der Arbeitswelt, „eigentlich" sein möchten. Das, was wir über die Bedürfnisbefriedigung hinaus für uns

50

9*

Vgl. Anm. 1.

132

Reto Luzius Fetz

haben wollen, kann also nur noch als Ausdruck unserer Selbstliebe verstanden werden. Wenn wir die Selbstliebe heranziehen, um die individuellen Eigentumspräferenzen zu begründen, so erreichen wir mittels der Selbstliebe ein modern-subjektives Verständnis des Privateigentums, wie es wohl als erster Hegel formuliert hat. „ D i e Person", schreibt Hegel, „muss sich eine äußeres Sphäre ihrer Freiheit geben." 5 1 Diese ist „der Besitz, durch welchen einerseits Ich äußerlich werde und andererseits, was dasselbe ist, eine äußerliche Sache die meinige wird und meinen W i l l e n zu ihrer Bestimmung und ihrem substanziellen Zweck erhält". 5 2 Das Entscheidende beim Eigentum liegt für Hegel, ähnlich wie wir oben argumentierten, „nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, dass sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt". 5 3 Die freie Person „an und für sich" ist für Hegel etwas Abstraktes, Unverwirktlichtes; erst mit dem Eigentum tritt sie konkret nach außen hin in Erscheinung, und darum ist das Eigentum „die erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache" 5 4 . Noch subtiler als Hegel hat Sartre die Wahl der Gegenstände, die man sich aneignen w i l l , als Wahl einer Existenzform und damit als Selbstwahl analysiert. In der Linie Hegels begreift er das, was einem zu eigen ist, als ein Mittleres zwischen der absoluten Innerlichkeit des Ichs und der absoluten Äußerlichkeit der materiellen Sachwelt. Was ich besitze, ist zwar von mir verschieden, aber mir doch zugehörig; es ist Ich, aber nicht bloß auf eine rein subjektive Weise, sondern objektiviert. Was man haben möchte, ist darum der Spiegel dessen, was man sein möchte. Die Gegenstände, die man sich aneignet, haben deshalb Symbolcharakter. Sie zeigen an, unter welchem Aspekt man die Welt besitzen möchte, und sie verdeutlichen darüber hinaus, wie man mit der Wahl einer Welt eine Lebensform wählt. Insofern liegt i m Geschmack, den man an bestimmten Gegenständen findet, nicht nur eine ganze Weltanschauung verborgen, sondern auch eine Anzeige, wie und wer man eigentlich sein möchte. 5 5 In diesem „ I c h möchte gern haben" um eines „Ich möchte gern sein" willen kann man unschwer die Selbstliebe als das tragende Moment der Aneignung erkennen, wie es Aristoteles sah, auch wenn Sartre keinen Bezug zu Aristoteles herstellt. Sartre illustriert seine Analyse mit wenigen Beispielen, aber man kann diese mühelos um weiteres Anschauungsmaterial aus dem Alltagsleben vermehren. 51 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt 1976 (Werke 7), S. 102. 52 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft, Hamburg 1983, S. 19. 53 G. W. F. Hegel, Grundlinien, S. 102. 54 Ebd. 55 Vgl. J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, S. 986-1026.

Freude am Eigenen

133

Beginnen wir mit einem eher ungewöhnlichen Beispiel. Wer einen Cowboyhut und vielleicht dazu noch eine Lederjacke mit Fransen und entsprechende Lederstiefel trägt, gibt deutlich zu erkennen, dass seine Traumwelt der Wilde Westen und sein Traumbild eines Mannes der Wildwestheld ist - und vermutlich wird eine solche Person auch an Country-Festivals zumindest temporär das Wunschbild seines Lebens zu verwirklichen suchen. Das ist gewiss ein ausgefallenes Beispiel, das aber nicht allein steht - man denke nur an das Outfit eines Harley-Davidson-Fans u. ä. Weniger auffällig zeigen sich unsere Wunschwelten und unser Wunsch-Selbstbild in Übersteigerungen, die nicht aus dem Rahmen fallen: Wer einen Jeep oder Landrover mit Allradantrieb fährt, obwohl er einen solchen Wagentypus gar nicht nötig hat, dem darf man wohl unterstellen, dass der Wildnisse und Wüsten durchquerende Abenteurer oder der Gutsherr mit schlecht zu befahrenden Ländereien sein Wunschbild von sich selbst ist. Und wer hat sich selbst nicht schon dabei ertappt, dass er mit einem besonders schön gearbeiteten Jagdmesser, einer besonders sportlichen Uhr oder was immer geliebäugelt hat, obwohl man doch genau weiß, dass man nie auf die Jagd gehen noch sich als Taucher betätigen wird? Es gibt unzählige absonderlich und ganz normal erscheinende Gegenstände, durch deren Anschaffung - oder durch den bloßen Wunsch, sie zu besitzen - wir bekunden, welche Welt und welche Lebensform wir für uns wählen würden, wenn wir das wirklich könnten - auch wenn dann die Realität vermutlich nicht so schön sein würde wie unsere Traumwelt. Dinge wie die eben aufgeführten sind meistens teuer. Sie kosten viel, und nur wenn man über das nötige Geld verfügt, kann man sie sich aneignen. A n dieser Stelle müssen wir auf die besondere Rolle des Geldes eingehen. Geld ist das Mittel, das uns die Möglichkeit verschafft, uns nach Belieben etwas anzueignen. Wenn ich vor dem Schaufenster eines Geschäftes stehe und mich eines der ausgestellten Dinge lockt, dann ist dieses schon potentiell mein, wenn ich das Geld für den Kaufpreis (oder eine Kreditkarte) in der Tasche habe; es genügt, in den Laden zu treten und das Geld hinzulegen, damit ich der wirkliche Besitzer des Gewünschten werde. Simmel hat darum in seinem Klassiker über das Geld das Geld-haben zutreffend als ein Haben in der zweiten Potenz beschrieben: „Geld-haben" heißt „das Haben haben", weil Geld jenes Mittel ist, mit dem ich das Haben von Dingen und Leistungen in der Hand habe. Einfacher gesagt: Wer Geld hat, kann Dinge oder Leistungen aller Art haben. So liegt i m Geld die besondere Kraft, sich in alles und jedes verwandeln zu können. M i t Geld können wir uns ausstatten und ausstaffieren wie wir wollen. Die Wahl einer besonderen Lebensweise wird so gerade durch das neutrale und universelle Zahlungsmittel Geld möglich. Es sind das Geld und die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des Konsums, die es uns erlauben, die objektivierte Außenseite unser subjektiven Sphäre - und damit die äußerliche Art unseres Selbstseins - nach Lust und Laune zu gestalten. 56

134

Reto Luzius Fetz

W i e aber kommen wir zu Geld? Wenn w i r nicht das Glück haben, ein Vermögen zu erben, so gibt es darauf unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft nur eine generelle Antwort: W i r müssen das Geld verdienen, und zwar durch unsere eigene Arbeit. Damit sind wir auf den Punkt gestoßen, an dem eine Eigentumsbegründung ansetzt, wie sie als erster John Locke gegeben hat. Locke hat in der Eigentumsbegründung einen eigentlichen Paradigmenwechsel vollzogen, in dem er an die Stelle einer Zuteilung von Besitz durch eine höhere politische Instanz, wie sie für den Feudalismus typisch war, die Erwirtschaftung von Eigentum durch Arbeit gesetzt hat. Locke verankert seine Eigentumsbegründung in dem „Eigentum an seiner eigenen Person" 5 7 , das er jedem Menschen zugesteht. „ D i e Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, so können wir sagen, sind i m eigentlichen Sinne sein." 5 8 Indem nun der Arbeitende seine Arbeit auf etwas Materielles verwendet, fügt er diesem das hinzu, was sein Ureigentum ist, und dadurch macht er es zu etwas, was ihm gehört. Was Locke, der als politischer Denker an der Schwelle von der Scholastik zur Neuzeit steht, hier vollzieht, ist eine Säkularisierung der theologischen Eigentumsbegründung. W i e für das Mittelalter die Welt letztlich Gott zu eigen war, weil sie, wie der Psalmist sagt, das „Werk seiner H ä n d e " 5 9 ist, so wird nun dem Menschen in der Welt das als sein Eigentum zugesprochen, worin er die Arbeit seiner Hände gelegt hat. Und nur aufgrund einer solchen Voraussetzung konnte Marx die Aneignung eines Produkts durch den kapitalistischen Unternehmer als Ausbeutung und „Entfremdung" des Arbeiters brandmarken. 6 0 Die moderne Arbeitswelt beruht auf der Verallgemeinerung eines solchen Prinzips. W i r setzen nicht bloß unsere Hände, sondern unsere Intelligenz, unser gelerntes berufliches Können, kurz unsere Fähigkeiten bei der Arbeit ein, um Geld zu verdienen. Das Geld ist die Gegenleistung für unseren Einsatz. Damit können wir aufs Ganze gesehen zwei Kreise unterscheiden, wobei der erste die Voraussetzung für den zweiten ist. W i r arbeiten, um dafür Geld zu bekommen. W i r geben das verdiente Geld aber auch wieder her, um uns das anzueignen, was wir brauchen oder uns wünschen. Der erste Kreis wird durch die mehr oder weniger öffentliche Arbeitswelt gebildet, in der wir den von außen an uns herangetragenen Zwängen unterworfen sind. Der zweite Kreis macht unsere Privatwelt aus. Hier sind wir weitgehend frei, uns das Leben so einzurichten, wie wir es wollen, hier liegt auch der eigentliche Freiraum unseres Lebens, den wir als „Freizeit" bezeichnen. In unserer Privatsphäre können wir uns mit dem um56

Vgl. G. Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt 1989 (Gesamtausgabe Bd. 6), bes. S. 263 ff., 273, 413. 57 J. Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), Stuttgart 1999, S. 22. 58 Ebd. 59 Psalm 19, 2; 102, 26. 60 Vgl. K. Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1968, S. 226-316.

Freude am Eigenen

135

geben und das leben und erleben, was uns gefällt. Hier liegt kurz gesagt der Ort der Freude am Eigenen, die Aristoteles aus der Selbstliebe hervorgehen lässt. Der Kreis von Arbeit und Lohn wird weitgehend durch die Gesetze des Arbeitsmarktes geregelt, so dass der Einzelne hier nur beschränkte Einflussmöglichkeiten hat. Anders ist es beim zweiten Kreis, der ebenfalls der Regelung bedarf, wo aber die Regelung zur Hauptsache eine private ist. W i e viel Steuern von unserem Lohn weggehen, können wir zwar nicht selbst bestimmen, und auch andere Posten in unserem Budget sind mehr oder weniger fest vorgegeben. Aber es bleibt i m Normalfall immer ein Spielraum übrig, innerhalb dessen w i r frei über das Geld verfügen und uns unsere Wünsche erfüllen können. Auch hier sind jedoch in den allermeisten Fällen Einschränkungen nötig, und so bedarf auch dieser Freiraum der Regelung. W i r sehen es z.B. als selbstverständlich an, dass ein guter Familienvater eigene Wünsche zurückstellt, wenn es um das Wohl und die Ausbildung seiner Kinder geht. Wie sollen wir uns hier die Regelung denken? Ich möchte zu zeigen versuchen, dass hier wiederum die i m Sinne des Aristoteles verstandenen Selbstliebe greift, aber nicht mehr wie vorhin als ein deskriptives Prinzip, sondern nunmehr als ein regulatives , präskriptives Prinzip verstanden. Hier kommt jene Funktion der Selbstliebe zum tragen, die Aristoteles ihr zuweist, wenn er sie als eine Tugend begreift. Wie bei jeder aristotelisch verstandenen Tugend gilt es auch in diesem Fall die rechte Mitte zu finden, nämlich die Mitte zwischen den eigenen Wünschen und den berechtigten Ansprüchen anderer. Und gerade die aristotelische Unterscheidung zwischen falscher Eigenliebe und echter Selbstliebe vermag hier die ganze Bandbreite dessen abzudecken, was als Fehlform zu vermeiden oder als Idealform anzustreben ist. Wer auf Kosten anderer übermäßig seinen eigenen Wünschen frönt, dessen Haltung fällt wie schon bei Aristoteles unter das Verdikt falscher Eigenliebe. Wer hingegen zurückstehen und generös zugunsten anderer verzichten kann, der verwirklicht gemäß Aristoteles durch seine großzügigen und noblen Akte das Beste an ihm - und ihm kommt eben dadurch die Selbstliebe in ihrer höchsten und reinsten Form zu. Die Spannweite dessen, was hier durch die falsche Eigenliebe einerseits und die echte Selbstliebe andererseits abgesteckt wird, können wir uns am besten mittels einer Alternative vor Augen führen, die in den letzten Jahrzehnten viel zu reden gegeben hat: die von Erich Fromm aufgestellte Alternative zwischen Haben und Sein. Fromm versteht das „Haben" als die in der modernen Konsumgesellschaft vorherrschende Mentalität, für die sich das Selbstwertgefühl nach dem Umfang dessen bemisst, was einer haben und konsumieren kann. Ihr stellt Fromm die Existenzweise des „Seins" entgegen, wo man von Besitz und Konsum Abstand gewinnt und damit Gelassenheit und ein neues Freiheitsgefühl erlangt, so dass das Leben selbst zum Höchstwert wird - ein Leben kommuni-

136

Reto Luzius Fetz

kativen Tätigseins mit den anderen. 61 Man hat Fromm vorgeworfen, dass er bei aller berechtigten Kritik an den Auswüchsen der Konsumgesellschaft es sich mit seiner Alternative zu leicht gemacht habe. Auch wenn das „Haben" auf der Werteskala zurückzustufen ist, so gilt zumindest für unseren westlichen Gesellschaften, dass das „Sein" ohne das „Haben" nicht zu haben ist, wie man es auf ein Paradox zugespitzt formulieren kann. W i r brauchen nun einmal Mittel, um überhaupt existieren und einigermassen angenehm leben zu können, und damit ist das „Haben" nicht mehr jene Seite einer Alternative, die einfach ausgeschlossen werden kann, sondern wird zu einer Frage des Maßes. Die Selbstliebe, auf die Aristoteles zur Begründung und Regelung des Eigentums zurückgeht, erweist sich nun gerade dadurch als ein überlegenes und aktuelles Konzept, dass sie über solchen Einseitigkeiten steht. Sie verpönt den Besitz nicht, sondern lässt uns durchaus unsere Freude daran haben. Gleichzeitig wehrt sie mit dem Begriff der falschen Eigenliebe jede egoistische Maßlosigkeit ab. Insofern wird das „Haben" legitimiert, aber auch in die Schranken gewiesen. Indem nun Aristoteles die echte Selbstliebe letztlich an den guten und großzügigen Akten festmacht, die in keiner Weise mehr Akte des eigennützigen Besitzstrebens, sondern des Teilhabenlassens und Schenkens sind, übersteigt er das „Haben" auf ein „Sein" i m Sinne Fromms hin. Das scheint mir das Große, Umfassende und Überlegene der i m aristotelischen Sinn verstandenen Freude am Eigenen zu sein: dass sie die Freude am Haben - am maßvollen eigenen Besitz - ebenso einschließt wie die nicht mehr materiell begründete Freude am eigenen Sein und Tätigsein in seiner nobelsten Form.

61 Vgl. E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 1979.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in der gemeindlichen Bauleitplanung in Bayern Von Herbert von Golitschek

Grundsätzlich können auch bauleitplanerische Entscheidungen Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, ob dies auch dann gilt, wenn es sich um bauleitplanerische Entscheidungen mit Abwägungscharakter handelt 1 .

I. Der kommunale Bürgerentscheid 1. Einführung

des kommunalen Bürgerentscheids

in Bayern

M i t Volksentscheid vom 1. Oktober 1995 wurde das Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids beschlossen. Es ist am 1. November 1995 in Kraft getreten 2 . Dadurch wurden Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Bayerischen Verfassung 3 verankert. Art. 7 Abs. 2 erhielt durch die Einfügung der Worte: „Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sowie" folgenden Wortlaut:

1 Nach dem „Sieben-Jahresbericht bayerischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide", hrsgg. von „Mehr Demokratie e.V.", Stand: Juli 2003, S. 14 Tabelle 11: Erhobene Daten zu „Themenbereiche bayerischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide" wurden die meisten Verfahren auf dem Themengebiet der öffentlichen Infrastruktur registriert, „dicht gefolgt von der Kategorie Bauleitpläne" [insoweit] gemäß folgender Ubersicht:

1996

1997

1998

1999

Themengebiete Bauleitpläne

51 28 15,46% 20,9995b 16,18%

22%

Öffentliche Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen

29 79 45 24,92% 18,52% 16,76%

32%

2

49

22 32

2000

2001

2002

Summe

233 29 35 19 34,12% 34,65% 26,39% 21,36% 13

23

20

241

15,29% 22,77% 27,78% 22,09%

GVB1. S. 730, Bay RS 2027-1-1. Vom 2.12.1946 (BayRS 100-1-S), seinerzeit zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.6.1984 (GVB1. S. 223). 3

138

Herbert von Golitschek

„(2) Der Staatsbürger übt seine Rechte aus durch Teilnahme an Wahlen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie Volksbegehren und Volksentscheiden". A n Art.12 wurde angefügt: „(3) Die Staatsbürger haben das Recht, Angelegenheiten des eigenen W i r kungskreises der Gemeinden und Landkreise durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu regeln. Das Nähere regelt ein Gesetz". In der Gemeindeordnung 4 wurde nach Art. 18 ein neuer Art. 18a eingefügt. Dieser hat in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Gemeindeordnung und Landkreisordnung vom 26. März 1999 5 auszugsweise folgenden Wortlaut 6 : 4

In der seinerzeitigen Fassung der Век. vom 6.1.1993 (GVB1. S. 65, BayRS 20201-1-1), seinerzeit zuletzt geändert durch § 1 des Gesetzes vom 26.7.1995 (GVB1. S. 376). 5 GVB1. S. 86, BayRS 2020-1-1-1, 2020-3-1-1. 6 Die Gesetzesänderung war notwendig geworden durch die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 29.8.1997, VerfGH 50, 181 ff. = BayVBl. 1997, 622 f. = Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, Kommentar mit Rechtsprechung und Hinweisen für die Praxis, Stand: 1.6.2004 (im Folgenden: Kommentar), Kennzahl 12.10. In dieser Entscheidung hat der BayVerfGH die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids festgestellt. Allerdings hielten nach Auffassung des BayVerfGH einzelne Bestimmungen des Art. 18a GO a. F. einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand und zwar Absatz 8 a. F. (Suspensiveffekt) und - jedenfalls in der Kombination dieser beiden Elemente - das Fehlen eines Abstimmungs- oder Zustimmungsquorums (Art. 18a Abs. 12 GO a.F.) sowie die dreijährige Bindung an einen Bürgerentscheid (Art. 18a Abs. 3 Satz 2 GO a. F.); insoweit bejahte der BayVerfGH einen Verstoß gegen das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht. Zur Nichtzulassung des darauf initiierten Volksbegehrens über den „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz und zur Stärkung der Mitwirkungsrechte der bayerischen Bürgerinnen und Bürger in Städten, Gemeinden und Landkreisen" siehe BayVerfGH vom 13.4.2000, VerfGH 53, 81 = BayVBl. 2000, 460; Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 12.40; dazu auch Brechmann, Die Grenzen der Volksgesetzgebung zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden, KommP BY 2000, 308. Zur Entstehungsgeschichte von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid s. Knemeyer, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Demokratiewert, Politikbedeutung, erste Erfahrungen, BayVBl. 1996, 545; Wegmann, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Zwischenbilanz und aktuelle rechtliche Fragen, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Kommunalpolitik in Bayern, 1997, S. 75 sowie BayVerfGH vom 29.8.1997, VerfGH 50, 181/184 ff. (in BayVBl. 1997, 622 ff. insoweit nicht abgedruckt); siehe ferner auch Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide im kommunalen Verfassungsgefüge - Zum Umgang mit einem neuen Bürgerrecht, BayVBl. 1997, 225 ff.; ders., Rechtspolitische Überlegungen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, BayVBl. 1998, 193 ff. sowie Wehr, Rechtsprobleme des Bürgerbegehrens (Art. 18 a Bay GO), BayVBl. 1996, 549; Schmitt Glaese r/Horn, Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs - Anmerkungen zu ausgewählten Entscheidungen aus jüngster Zeit - , BayVBl. 1999, 353 ff., 391 ff.; Hofmann-Hoeppel/ Weible, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Rechtstradition und Rechtspraxis eines plebiszitären Elements unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Bayern, BayVBl. 2000, 577 ff., 617 ff.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

139

„Art. 18a (Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) (1)

Die Gemeindebürger können über Angelegenheiten des eigenen W i r kungskreises der Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren).

(2)

Der Gemeinderat kann beschließen, dass über eine Angelegenheit des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet.

(3)

Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem ersten Bürgermeister obliegen, über Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, über die Rechtsverhältnisse der Gemeinderatsmitglieder, der Bürgermeister und der Gemeindebediensteten und über die Haushaltssatzung.

(4)

Das Bürgerbegehren muss bei der Gemeinde eingereicht werden und eine mit Ja oder Nein zu entscheidende Fragestellung und eine Begründung enthalten. . . .

(5) ... (6) (7) ... (8)

Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats nach Einreichung des Bürgerbegehrens. . . .

(9) (10) ... (11) . . .

(12) ... (13) Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats. Der Bürgerentscheid kann innerhalb eines Jahres nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden, . . . (14) Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. . . . (15) ...

(16) ... (17) . . . 7 . Zum Änderungsgesetz vom 26.3.1999 siehe Deubert, Das Gesetz zur Änderung der Gemeindeordnung und Landkreisordnung vom 26. März 1999 - Ein weiteres Kapitel der Geschichte im Freistaat, aber wohl nicht das letzte, BayVBl. 1999, 556 ff.

Herbert von Golitschek

140

2. Kommunaler

Bürger entscheid und

bundes(verfassungs-Rechtliche

Vorgaben

a) Kommunalrechtliche Bürgerbeteiligung, bauleitplanerische Bürgerbeteiligung und Gesetzgebungskompetenz des Bundes Art. 18a GO statuiert eine kommunalrechtlich begründete Bürgerbeteiligung. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BauGB, einer Vorschrift der Bauleitplanung, sind die Bürger andererseits grundsätzlich möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung, sich wesentlich unterscheidende Lösungen, die für die Neugestaltung und Entwicklung des Baugebiets in Betracht kommen, und die voraussichtlichen Auswirkungen der Planung öffentlich zu unterrichten; ihnen ist Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben. Es stellt sich die Frage, ob dieses Nebeneinander bürgerschaftlicher

Beteiligung

verfassungs-

rechtlich zulässig ist. Nach Art. 74 Nr. 18 GG erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes u. a. auf das Bodenrecht. I m Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1 GG). Da der Bund unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG die Zuständigkeit zur Regelung u.a. des Rechtes der städtebaulichen Planung hat 8 , könnte argumentiert werden, der Bundesgesetzgeber habe von dieser Kompetenz hinsichtlich des Bodenrechts durch den Erlass des (nunmehr) Baugesetzbuchs 9 umfassend Gebrauch gemacht; die Länder seien daher für eine eigene Gesetzgebung entsprechend Art. 72 Abs. 1 GG „gesperrt" 1 0 . Für Art. 18a GO bedeute dies, dass der Landesgesetzgeber wegen der in § 3 BauGB geregelten Bürgerbeteiligung gar keine Vorschrift erlassen dürfte, die i m Zusammenhang mit

dem Bauplanungsrecht

eine weitere

Beteiligung

der Bürger

vorsehe;

Art. 18a GO verstoße deshalb gegen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Nr. 18 GG.

7 Ebenfalls geändert wurde durch das Gesetz vom 27.10.1995 (GVB1. S. 730) die Landkreisordnung für den Freistaat Bayern seinerzeit i.d.F. der Век. vom 6.1.1993 (GVB1. S. 93, BayRS 2020-3-1-1), zuletzt geändert durch § 2 des Gesetzes vom 26.7.1995 (GVB1. S. 376); siehe hierzu ferner § 2 des in Fußn. 5 angeführten Änderungsgesetzes vom 26.3.1999 (GVB1. S. 86). 8 Rechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts vom 16.6.1954 - 1 PBvV 2/52 über die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass eines Baugesetzes (BVerfGE 3, 407/ 439). 9 Siehe nunmehr die Bekanntmachung der Neufassung des Baugesetzbuchs vom 23.9.2004 (BGBl. I S. 2414 [hier nicht mehr berücksichtigt]). 10 Vgl. auch Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 8. Aufl. 2002, Einl. RdNr. 10.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

141

Einer solchen Argumentation kann im Hinblick auf den unterschiedlichen Charakter der Bürgerbeteiligung nach § 3 BauGB und der Bürgerbeteiligung nach Art. 18a GO nicht gefolgt werden. Wenn der (erfolgreiche) Bürgerentscheid nach Art. 18a Abs. 13 Satz 1 GO die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats hat, bedeutet dies in formeller Hinsicht letztlich nichts anderes, als dass die (positiv) abstimmenden Bürger - anders als in § 3 BauGB - nicht, zumindest nicht nur in gleichsam passiver Weise auf die planungsrechtlichen Vorstellungen der Gemeinde reagieren und sich insoweit nur „einbringen", sondern dass sie in einer der Gemeinde zurechenbaren Weise ihre eigenen planungsrechtlichen Vorstellungen zum Ausdruck bringen und diese der Gemeinde (wertneutral zu verstehen) „aufdrängen" wollen. Eine solche „Initiativ-Beteiligung" der Bürger nach Art. 18a GO unterscheidet sich essenziell von der „Reaktions-Beteiligung" der Bürger nach Maßgabe des § 3 BauGB; letztgenannte kann die erstgenannte folglich auch nicht ausschließen. Anders gewendet bedeutet dies: Nach Maßgabe eines (erfolgreichen) Bürgerentscheids werden Kompetenzen, die an sich dem Gemeinderat (und dem ersten Bürgermeister) zustehen (vgl. Art. 30, 36, 37 GO) - zudem zeitlich beschränkt (s. Art. 18a Abs. 13 Satz 2 GO) - auf einen in Konkurrenz zum Gemeinderat stehenden Entscheidungsträger verlagert 11 . Diese Verlagerung ist dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) zuzurechnen; die Beteiligung nach § 3 BauGB wurzelt hingegen i m Rechtsstaatsprinzip 12 . Ein Blick auf den Kreis der jeweils Beteiligten bestätigt diesen Befund. Nach Art. 18a Abs. 1 GO können (nur) „die Gemeindebürger" (Art. 15 Abs. 2 GO) abstimmen, also nur die begrenzte Zahl von Bürgern, die ohnehin in einem besonderen Verhältnis zu „ihrer", durch das Abstimmungsergebnis „verpflichteten" Gemeinde stehen. Ihre Beteiligung wurzelt in der örtlichen Gemeinschaft und hat einen spezifischen Bezug zu ihr. Nur ihnen stehen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als „direktdemokratische Ergänzung einer vordem überwiegend repräsentativ geprägten Kommunal Verfassung" 13 zu. Anderes gilt für die Bürgerbeteiligung nach § 3 Abs. 1 BauGB - und auch deshalb scheidet die Annahme aus, Art. 18a GO sei durch eine abschließende 11 Siehe Becker/Bomba, Die Auslegung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, BayVBl. 2002, 167/170; ferner Jaroschek, Formen des Rechtsschutzes bei kommunalen Bürgerbegehren, BayVBl. 1997, 39/40; Schmitt Glaeser, Grenzen des Plebiszits auf kommunaler Ebene, DÖV 1998, 824/827. 12 Ritgen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Dargestellt am Beispiel des § 26 der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung, 1997, zugleich Diss. iur. Bonn 1996/ 97, S. 204 und Gebhardt, Direkte Demokratie im parlamentarischen System. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern. Würzburger rechtswissenschaftliche Schriften, hrsgg. von der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg, Band 22, zugleich Diss. Würzburg 2000, S. 185. 13 Ritgen, Zu den thematischen Grenzen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, NVwZ 2000, 129/130.

142

Herbert von Golitschek

bundesrechtliche Regelung „gesperrt": Dort ist der Begriff des Bürgers gerade nicht i m „engen" kommunalrechtlichen Sinn zu verstehen, sondern als Synonym für Öffentlichkeit schlechthin 1 4 . Und eine solche „Öffentlichkeit" ohne Beschränkung auf Gemeindebürger ist von vorneherein auch nicht geeignet, zu der о. a. „Kompetenzverlagerung" auf gemeindlicher Ebene zu führen. Angesichts der unterschiedlichen Zielsetzungen und Folgen von Bürgerbegehren (Art. 18a GO) und Bürgerbeteiligung (§ 3 BauGB) kann auch nicht angenommen werden, in förmlichen Verwaltungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung zu behandelnde Gegenstände eigneten sich von vorneherein nicht für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid 15 . Die Gefahr einander widersprechender Ergebnisse, die etwa darin begründet sein könnte, dass eine nach erfolgreichem Bürgerentscheid zu beschließende bauleitplanerische Entscheidung sich möglicherweise gerade aufgrund der Ergebnisse der Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 3 BauGB als nicht verwirklichbar herausstellen sollte 1 6 , berührt nicht die Rechtmäßigkeit des Rechtsinstituts Bürgerbegehren/Bürgerentscheid,

sondern allenfalls

dessen

Zweckmäßigkeit.

Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte beeinflussen den Bestand des Rechtsinstituts „Kommunaler Bürgerentscheid" indes nicht. Die Gefahr solcher sich widersprechender Entscheidungen liegt auch außerhalb (verfassungs-)gerichtlicher

Kon-

trolldichte. Die Verfassungsgerichte haben nicht zu prüfen, ob das „Nebeneinander" der Bürgerbeteiligungen nach Art. 18a GO und nach § 3 BauGB die bestmögliche Lösung darstellt und ob der (Volks-)Gesetzgeber insoweit die zweckmäßigste Lösung getroffen h a t 1 7 .

b) Bürgerbegehren/Bürgerentscheid und Nichtbestehen eines Anspruchs auf Bauleitplanung (§ 2 Abs. 3 BauGB) Auch nicht schon grundsätzlich gegen die Zulassung eines Bürgerbegehrens mit bauleitplanerischem Inhalt spricht § 2 Abs. 3 BauGB, wonach auf die Aufstellung von Bauleitplänen kein Rechtsanspruch besteht. Diese Vorschrift verneint nur Rechtsansprüche (außenstehender) Dritter 1 8 . Beim Bürgerentscheid 14 Vgl. Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, BauNVO. Kommentar, 3. Aufl. 2002, RdNr. 1 zu § 3 BauGB; zur Bürgerbeteiligung vgl. auch Fackler, Die Bürgerbeteiligung gemäß § 3 BauGB als subjektives öffentliches Recht, BayVBl. 1993, 353. 15 Siehe dazu aber auch Streinz, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Zur Einführung von Plebisziten in die Kommunal Verfassung, in: Die Verwaltung 1983, S. 292/ 315; ferner Ossenbühl, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, in: Seiler, Gelebte Demokratie. Festschrift für Manfred Rommel, 1997, S. 247/262 f. 16 Siehe Ritgen, a.a.O. (Fußn. 12); aber auch Spies, Bürgerversammlung, Bürgerbegehren, Bürgerentscheid. Elemente direkter Demokratie, dargestellt am hessischen Kommunalrecht. Marburger Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 13, 1999, S. 220. 17 Zur Verpflichtung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, gesetzgeberische Spielräume zu achten, vgl. etwa BayVerfGH vom 10.10.2001, BayVBl. 2002, 11/14.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

143

handelt es sich hingegen um einen i m Konkurrenzverhältnis zum Gemeinderat stehenden Entscheidungsträger. M i t der Frage der Begründung eines Rechtsanspruchs eines Einzelnen haben Bürgerbegehren/Bürgerentscheid nichts zu tun, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der Erwägung, dass viele solche „Einzelne" erforderlich sind, um einem Bürgerbegehren/Bürgerentscheid

zum

Erfolg zu verhelfen (s. Art. 18a Abs. 6, Abs. 12 GO). Deren Zusammenwirken bewirkt nicht entgegen § 2 Abs. 3 BauGB das Entstehen bauleitplanerischer Rechtsansprüche, sondern nur - entsprechend Art. 18a Abs. 13 Satz 1 GO das Entstehen gemeindlicher (Handlungs-/Unterlassungs-)Pflichten. 3. Die gesetzlichen Vorgaben des Art. 18a GO und ihr Bezug zur gemeindlichen

Bauleitplanung

im Allgemeinen

a) Der eigene Wirkungskreis (Art. 18a Abs. 1 GO) Nach Art. 18a Abs. 1 GO können die Gemeindebürger über Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). Ein solcher Antrag kann grundsätzlich auch die gemeindliche Bauleitplanung zum Gegenstand haben. Diese stellt eine „eigene Angelegenheit" i.S. des Art. 18a Abs. 1 GO dar. Der Begriff der „Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises" in Art. 18a Abs. 1 GO ist derselbe wie der der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft 1 9 . Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und - wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen 2 0 . Sie kann die Gemeinde i m Rahmen ihres durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 B V garantierten Selbstverwaltungsrechts nach eigenem Ermessen (Art. 7 Abs. 2 Satz 1 GO) selbstständig und eigenverantwortlich regeln. Die Planungshoheit ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverwaltungsrechts 21 . Die Gemeinden sind danach wie auch in § 1 Abs. 1 und 2 BauGB normiert - ermächtigt, die bauliche und 18

Siehe allgemein BVerwG vom 11.3.1977, DVB1. 1977, 529; vom 9.10.1996, BayVBl. 1997, 154; BayVGH vom 3.4.2000, BayVBl. 2001, 272/274; ferner BayVGH vom 9.10.2003, BayVBl. 2004, 178; hierzu ferner aber auch Loomann, Bürgerbegehren auf Aufstellen oder Unterlassen von Bebauungsplänen - Verstoß gegen die kommunale Planungshoheit?, NVwZ 1998, 1271/1272. 19 Vgl. dazu im Einzelnen auch Hölzl/Hien/Huber, Gemeindeordnung mit Verwaltungsgemeinschaftsordnung, Landkreisordnung und Bezirksordnung für den Freistaat Bayern. Kommentar, Stand: November 2003, Anm. I. 1 zu Art. 57 GO. 20 Bauer/Böhle/Masson/Samper, Bayerische Kommunalgesetze. Kommentar. Stand: September 2003, RdNr. 2 zu Art. 18a GO; BVerfGE 79, 127/151 = BayVBl. 1989, 269/271.

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sonstige Nutzung der Grundstücke in der Gemeinde durch Bauleitpläne vorzubereiten und zu leiten. b) Der Negativkatalog des Art. 18a Abs. 3 GO I m Unterschied zu Regelungen in anderen Bundesländern 22 hat der bayerische Gesetzgeber die Bauleitplanung in Art. 18a Abs. 3 GO nicht in den Katalog der Angelegenheiten aufgenommen, in denen ein Bürgerentscheid nicht stattfindet. Dieser Katalog ist abschließend. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid i m Rahmen der Bauleitplanung sind deshalb durch den Negativkatalog in Art. 18a Abs. 3 GO als solchen nicht ausgeschlossen 23 . c) Die Bestimmtheit der Fragestellung des Bürgerbegehrens nach Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO Nach Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO muss das bei der Gemeinde einzureichende Bürgerbegehren eine mit Ja oder Nein zu entscheidende Fragestellung und eine Begründung enthalten. Zu seinen (ungeschriebenen) materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört demnach auch, dass die in ihm enthaltene Fragestellung ausreichend bestimmt formuliert i s t 2 4 .

21 Vgl. VerfGH 37, 59/66 = BayVBl. 1984, 528; 39, 17/24 = BayVBl. 1986, 298/ 300; 40, 53/56 = BayVBl. 1987, 555; BayVerfGH vom 15.7.2002, BayVBl. 2003, 109/110 (siehe auch Art. 83 Abs. 1 BV: Ortsplanung). Vgl. auch die Zusammenfassung der gemeindlichen Aufgaben des eigenen Wirkungskreises bei Bauer/Böhle/Masson/Samper, a.a.O. (Fußn. 20), RdNrn. 1 ff. zu Art. 57 GO. 22 Vgl. dazu etwa Wefelmeier, Unzulässige Gegenstände eines Bürgerbegehrens Zur Auslegung des § 22b Abs. 3 Satz 2 NGO - , NdsVBl. 2000, 261/264; Geitmann, Volksbegehren „Mehr Demokratie in Baden-Württemberg", VB1BW 1998, 441/442; Klenke, Rechtsfragen zum Bürgerbegehren nach dem nordrhein-westfälischen Kommunalverfassungsrecht, NWVB1. 2002, 45/46ff.; Muckel, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - wirksame Instrumente unmittelbarer Demokratie in den Gemeinden?, NVwZ 1997, 223/226; Fischer, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Kommunalverfassung von Nordrhein-Westfalen, NWVB1. 1995, 366/367; dazu auch Hofmann-Hoeppel/Weible, a.a.O. (Fußn. 6), S. 620 f.; ferner VG Köln vom 3.9.1999, NWVB1. 2000, 269/270 und OVG NRW vom 5.2.2002, NWVB1. 2002, 346/348. 23 Siehe auch Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 13.01 Erl. 2 e zu Art. 18a GO. Allgemein zum Negativkatalog siehe auch Widtmann/Grasser, Bayerische Gemeindeordnung, Stand: Mai 2003, RdNrn. 13-17 zu Art. 18a und Bauer/ Böhle/Masson/Samper, a.a.O. (Fußn. 20), RdNr. 3 zu Art. 18a GO. 24 BayVGH vom 19.2.1997, VGH n.F. 50, 42 = BayVBl. 1997, 276 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 41.01; VG Hannover vom 23.2.2000, NdsVBl. 2001, 101/102; Becker/Bomba, a.a.O. (Fußn. 11), S. 168 und Bauer/Böhle/ Masson/'Samper, a.a.O. (Fußn. 20), RdNr. 11 zu Art. 18a GO; Hofmann-Hoeppel/ Weible, a.a.O. (Fußn. 6), S. 619; Sapper, Rechtliche Probleme bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der kommunalen Praxis Baden-Württembergs, VB1BW 1983, 89/91; Ritgen, Die Zulässigkeit von Bürgerbegehren - Rechtspraxis und rechtspoliti-

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern Aus dieser Verengung der Abstimmung auf eine

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„Ja/Nein-Entscheidung"

folgt, dass über den Negativkatalog des Art. 18a Abs. 3 GO hinaus solche Entscheidungen nicht Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein können, bei denen gegenläufige öffentliche und private Interessen erkundet und i m Ergebnis miteinander abgewogen und in einen gerechten Ausgleich miteinander gebracht werden müssen. Diesen Anforderungen kann ein Bürgerbegehren grundsätzlich nicht gerecht werden; schon die allein zulässige (einfache) Fragestellung i.S. des Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO fördert und fordert eine solche Abwägung nicht. Und würde - rein hypothetisch - (jemals) diesen (Abwägungs-)Anforderungen seitens einzelner, seitens der überwiegenden Zahl der Abstimmenden oder gar seitens aller Abstimmenden materiell genügt, ließe sich dieser Umstand angesichts der bloßen Unterzeichnung des Bürgerbegehrens ohne jegliche Begründung für die getroffene Entscheidung nicht hinreichend nachvollziehbar dokumentieren 2 5 . Gegenstand eines kommunalen Bürgerbegehrens kann demnach - wie i m Einzelnen noch aufzuzeigen ist (nachstehend Tz. III) - nur die Grundsatzentscheidung sein, ob ein gemeindlicher Bauleitplan erlassen oder geändert werden soll. Bezieht sich das Bürgerbegehren auf das „ W i e " dieser Planung, deren inhaltliche Ausgestaltung i m Einzelnen und damit auf Entscheidungsprozesse mit Abwägungscharakter, ist es unzulässig 2 6 .

sehe Desiderate, NWVB1. 2003, 87/90; ferner VG Dresden vom 5.11.1997, SächsVBl. 1998, 90/92 und SächsOVG vom 28.7.1998, SächsVBl. 1998, 272/273. 25 Siehe zu alldem auch BayVGH vom 14.3.2001, BayVBl. 2002, 184; VG Augsburg vom 18.6.1997, Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.11 und vom 21.3.2002, BayVBl. 2003, 91/92; VG Würzburg vom 8.5.2002, BayVBl. 2003, 87/88 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.26; siehe ferner Seckler, Das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit in Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - dargestellt am Beispiel der Bayerischen Gemeindeordnung, Diss. Bayreuth 2000, Schriften zur Rechtswissenschaft, Band 45, S. 353 mit weiteren Hinweisen in Fußn. 1646-1648. 26 Vgl. auch Thum, Zulässigkeit und Rechtsfolgen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden im Bauplanungsrecht, KommP BY 1996, 251; Metzner, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Bauleitplanung, KommP BY 1998, 163; Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide im Bauplanungsrecht, KommP BY 1998, 411; Thum/ Wagner, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide im Bauplanungsrecht, bau intern 1998, 202; Wegmann, a.a.O. (Fußn. 6), S. 75/93 ff.; Neusinger, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, Aktuelle Fragen des Volksentscheids in Bayern, 1999, S. 111 ff.; VG Würzburg vom 8.5.2002, a.a.O. (Fußn. 25) und vom 2.7.2003, BayVBl. 2003, 758 = Thum (Kommentar), а. а. O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.29. 10 FS Hablitzel

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IL Bauleitplanerische Entscheidungen ohne Abwägungscharakter als zulässiger Gegenstand eines Bürgerbegehrens - dargestellt am Planaufstellungsbeschluss 1. Allgemeines Aufgabe der Bauleitplanung ist es, die bauliche und sonstige Nutzung der Grundstücke in der Gemeinde nach Maßgabe des Baugesetzbuches vorzubereiten und zu leiten (§ 1 Abs. 1 BauGB). Bauleitpläne sind der Flächennutzungsplan (vorbereitender Bauleitplan) und der Bebauungsplan (verbindlicher Bauleitplan) (§ 1 Abs. 2 BauGB). Die Gemeinden haben die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (§ 1 Abs. 3 BauGB). Die Bauleitpläne sind den Zielen der Raumordnung anzupassen (§ 1 Abs. 4 BauGB). Sie sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung und eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozial gerechte Bodennutzung gewährleisten und dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern und die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln (siehe i m Einzelnen § 1 Abs. 5 BauGB). Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 Abs. 6 BauGB; zur Abwägung umweltschützender Belange vgl. i m Einzelnen § 1 a BauGB). Die Bauleitpläne sind gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB von der Gemeinde in eigener Verantwortung aufzustellen (Planaufstellungsbeschluss). Die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden sind aufeinander abzustimmen (§ 2 Abs. 2 BauGB). Nach Bürgerbeteiligung (§ 3 BauGB; s. dazu vorstehend Tz. I. 2.a) und Beteiligung der Träger öffentlicher Belange (§ 4 BauGB) beschließt die Gemeinde den Bebauungsplan als Satzung (§ 10 Abs. 1 BauGB). 2. Der Planaufstellungsbeschluss

im Einzelnen

(§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB) Über die Frage, ob das Verfahren zur Aufstellung eines Bauleitplanes (Bebauungsplanes) eingeleitet werden soll, kann ein Bürgerbegehren stattfinden. A n den Aufstellungsbeschluss werden - für sich allein betrachtet - keine besonderen Anforderungen gestellt 2 7 . Eine Abwägung findet insoweit nicht statt. Die Fragestellung etwa „Sind Sie dafür, dass die Gemeinde ein Bauleitplan verfahren mit dem Ziel einleitet, die Grundstücke Fl.Nrn. ... als , . . . ' auszuweisen", also der Auftrag des erfolgreichen Bürgerbegehrens/Bürgerentscheids an die Verwaltung, ein Planaufstellungsverfahren einzuleiten, lässt sich noch ohne weiteres mit „Ja" oder „ N e i n " beantworten; diese Fragestellung ist darauf angelegt, al27

Jade, a.a.O. (Fußn. 14), RdNr. 3 zu § 2 BauGB.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

147

lein zwischen zwei Alternativen eine Entscheidung i m Sinne eines „Dafür" oder eines „Dagegen" herbeizuführen 28 . Dass es sich insoweit (nur) um eine Grundsatzentscheidung handeln kann, die noch der Ausführung und Ausfüllung durch Detailentscheidungen bedarf - hier nach Maßgabe der §§ 1 ff. BauGB, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Abwägungsgebots (§ 1 Abs. 6 BauGB und nachstehend III.) - , steht der Zulässigkeit eines solchen Bürgerbegehrens nicht entgegen. Es ist nicht erforderlich, dass die Fragestellung des Bürgerbegehrens so konkret ist, dass nur noch der Vollzug der Entscheidung durch den ersten Bürgermeister zur Umsetzung des Bürgerentscheids notwendig ist. Bedarf an weiteren ausführenden Entscheidungen, die nach der Zuständigkeitsverteilung der Art. 29, 36 und 37 GO dem Gemeinderat obliegen, schließen eine ausreichende Bestimmtheit und damit Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens nicht aus 2 9 . Die Erwägung, dass der Aufstellungsbeschluss erkennen lassen muss, auf welches Gebiet sich die Planung beziehen s o l l 3 0 , führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung, zumal dadurch keine Selbstbindung der Gemeinde erzeugt wird31. Ein entsprechender erfolgreicher Bürgerentscheid, der nach Art. 18a Abs. 13 Satz 1 GO die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats hat, enthielte nur den Auftrag an die Gemeinde, ein derartiges Verfahren durchzuführen. Stellte sich i m Laufe dieses Verfahrens heraus - etwa aufgrund der Anhörung der Träger öffentlicher Belange (§ 4 BauGB)

dass ein solcher Bebauungsplan aus

materiellrechtlichen Gründen nicht aufgestellt werden kann, ist der Gemeinderat trotz des erfolgreichen Bürgerentscheids nicht gehindert zu beschließen, dass ein entsprechender Bebauungsplan nicht aufgestellt w i r d 3 2 . 3. Die Erledigung

eines solchen Bürgerbegehrens

durch entsprechende Befassung und Beschlussfassung im Gemeinderat In dem dem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. M a i 2 0 0 2 3 3 zugrunde liegenden Fall lautete die Frage des Bürgerbegehrens: 28

Gebhardt, a.a.O. (Fußn. 12), S. 181 ff. Nach Hölzl/Hien/Huber, a.a.O. (Fußn. 19), Anm. 2 zu Art. 18a GO soll entscheidend sein, ob ein Gemeinderat einen Beschluss gleichen Inhalts fassen könnte. Siehe auch BayVGH vom 19.2.1997, BayVBl. 1997, 276/277; siehe ferner BayVerfGH vom 29.8.1997, VerfGH n.F. 50, 181/206 = BayVBl. 1997, 622/626; BayVGH vom 19.2.1997 Az. 4 В 96.2928 und vom 23.4.1997, NVwZ 1998, 423/424 sowie Schmitt Glaeser/Horn, a.a.O. (Fußn. 6), BayVBl. 1999, 353 ff., 391/394. 30 Jade, a.a.O. (Fußn. 14). 31 Jade, a.a.O. 32 Wegmann, a.a.O. (Fußn. 6), S. 94. 33 BayVBl. 2003, 87 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.26. 29

10*

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148

„Sind Sie dafür, dass der Flächennutzungsplan H. und der Bebauungsplan ,L. geändert werden soll, um eine Ausweisung eines allgemeinen Wohngebietes (WA) auf dieser Fläche für eine maximal zweigeschossige Bebauung mit Einzel- bzw. Doppelhäusern zu ermöglichen?" Die beklagte Gemeinde ließ den beantragten Bürgerentscheid aufgrund Beschlusses vom 17. Oktober 2001 mit folgender Begründung nicht zu: Das Begehren entspreche zwar den formellen Anforderungen des Art. 18a GO; allerdings bestünden durchgreifende materiellrechtliche Bedenken. Aus Sicht der Baubehörden sei eine Bebauung in diesem Bereich aufgrund möglicher Altlastenprobleme bedenklich. Die Verfüllung der bestehenden Sandgrube könne zu Problemen der Standsicherheit für eine zukünftige Bebauung bzw. zu erhöhten Straßenunterhaltskosten führen. Durch eine Erweiterung der Baufläche könne möglicherweise eine Erweiterung der Grundschule und anderer öffentlicher Einrichtungen

wie Kanalleitungen und Wasserversorgungsanlagen erforderlich wer-

den. Der Umfang dieser Auswirkungen könne erst abgeschätzt werden, wenn eine konkrete Planung vorliege und alle maßgeblichen Umstände erkennbar seien. Das Landratsamt habe dargelegt, dass eine Erweiterung der Bauflächen jenseits der Bundesstraße 27 einer organischen städtebaulichen Entwicklung zuwiderlaufe. Darüber hinaus trenne das vorhandene Gewerbegebiet die neuen Bauflächen von der bisherigen Ortslage. - Die Klage der Vertreter des Bürgerbegehrens blieb erfolglos. Das Gericht entnahm dem Bürgerbegehren das Ziel einer bloßen Anweisung an den Gemeinderat der Beklagten, sich mit der Frage zu befassen, ob auch er grundsätzlich die erstrebten Änderungen i m Rahmen des nach wie vor bei ihm verbleibenden bauleitplanerisehen Gestaltungsspielraums und auf der Grundlage der nach wie vor nur ihm zustehenden Würdigung des einschlägigen Abwägungsmaterials (§ 1 Abs. 6 BauGB) wollte oder ob er sie - von vorneherein nicht wollte. Dementsprechend habe sich auch der Auftrag eines erfolgreichen Bürgerentscheids, der die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats hätte (Art. 18a Abs. 13 Satz 1 GO), darin erschöpft, dass die Beklagte zu entscheiden hat/hätte, ob sie die Planänderungsverfahren einleite oder ob sie dies nicht tue. Ein Anspruch auf einen bestimmten Inhalt der Entscheidungen des Gemeinderats bestünde demnach auch bei Zulassung des Bürgerbegehrens oder beim Erfolg des Bürgerentscheids nicht. Beinhalte das Bürgerbegehren aber „ergebnisneutral" - nur die Aufforderung zur Befassung des Gemeinderats mit den erstrebten Planänderungsverfahren als solche, habe es sich durch den Gemeinderatsbeschluss vom 17. Oktober 2001 erledigt (Art. 18a Abs. 14 Satz 1 GO). Die Wirkung des Art. 18a Abs. 14 Satz 1 GO trete ein, wenn der Beschluss des Gemeinderats die mit dem Bürgerbegehren verlangte Maßnahme auch tatsächlich in vollem Umfang erfasse 34 . Ob dies der Fall sei, sei anhand eines Ver-

34

Siehe Widtmann/Grasser,

a.a.O. (Fußn. 23), RdNr. 50 zu Art. 18a.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

149

gleichs zwischen dem vom Bürgerbegehren Gewollten und dem vom Gemeinderat Beschlossenen zu eruieren. Ergebe dieser Vergleich eine „Kongruenz zwischen Gewolltem und Beschlossenem", sei der Zweck auch des Bürgerbegehrens und des (erfolgreichen) Bürgerentscheids bereits erreicht. Vorliegend sei eine solche Kongruenz festzustellen: Der Gemeinderat der Beklagten sei dem ihm von einem (erfolgreichen) Bürgerentscheid zu erteilenden „Befassungsauftrag" ausweislich des Auszugs aus dem Beschlussbuch des Gemeinderats H. über die öffentliche Sitzung vom 17. Oktober 2001 vollinhaltlich gerecht geworden (wurde i m Einzelnen ausgeführt). Dass das Ergebnis der gemeindlichen Befassung mit der streitgegenständlichen Planung (aus der Sicht der seinerzeitigen Kläger) „negativ " gewesen sei, stehe der Annahme einer (bloßen) Befassung i m Sinne des „Bürgerbescheids - Auftrags" nicht entgegen; dieser „Befassungsauftrag" sei „ergebnisoffen" gewesen. 4. Die Einstellung

einer begonnenen

Bauleitplanung

Ebenso wie der Aufstellungsbeschluss kann auch ein (bauleitplanerischer) Einstellungsbeschluss zulässiger Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Die entsprechende Frage des Bürgerbegehrens kann grundsätzlich ebenfalls mit „Ja" oder „ N e i n " beantwortet werden 3 5 . In dem dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. März 2 0 0 1 3 6 zugrundeliegenden Fall zielte die Frage des Bürgerbegehrens darauf ab, die die Bereitstellung dreier Baugrundstücke bezweckenden Änderungsplanungen dahin zu korrigieren, dass eine Bebauung mit einhergehender Rodung nicht in Betracht komme, sowie darauf, die Planänderungsverfahren nicht weiter zu betreiben. Der erste Teil dieses Ziels erschiene - so das Gericht - für sich genommen rechtlich bedenklich, wenn er als auf eine Negativplanung mit bestimmtem Inhalt gerichtet verstanden würde; insoweit könnte ein durch § 2 Abs. 3 BauGB ausdrücklich ausgeschlossenes Recht auf Aufstellung von bestimmten Bauleitplänen in Anspruch genommen sein, die auch eine zu missbilligende Verkürzung der nach § 1 Abs. 6 BauGB gebotenen Abwägung der öffentlichen und privaten Belange bewirke 3 7 . Da aber die Änderungsplanungen bisher nicht wirksam geworden seien, sie also der ins Auge gefassten Korrekturen gar nicht bedürften, hielt der B a y V G H nach dem aktuellen Erklärungsgehalt der Fragestellung die Auslegung für sachgerecht, dass jetzt ausschließlich die Fortführung der laufenden Planungen durch einen Bürgerentscheid unterbunden werden solle. Ein solcher Stopp von Bauleitplan verfahren durch ein Bürgerbe-

35

Wegmann, a.a.O. (Fußn. 6), S. 94; Thum, a.a.O. (Fußn. 26), KommP BY 1998 411/412. 36 BayVBl. 2002, 184 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 41.20. 37 Vgl. BayVGH vom 24.7.1998, FSt. 1998 RdNr. 273.

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150

gehren sei rechtlich grundsätzlich möglich, soweit dem § 1 Abs. 3 BauGB nicht entgegenstehe 38 . Gleiches gilt für eine Kombination aus Planaufstellungs- und Planeinstellungsverfahren 39 . 5. Planungspflicht

der Gemeinde und Planeinstellungsbeschluss

Eine Planungseinstellung kann dann nicht Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein, wenn eine der Einstellung entgegenstehende gemeindliche (Erst-)Planungspflicht besteht. Eine solche Planungspflicht kann sich aus § 1 Abs. 3 BauGB ergeben, wonach die Gemeinden die Bauleitpläne aufzustellen haben, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung oder Ordnung erforderlich ist. Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass sich das planerische Ermessen der Gemeinde aus städtebaulichen Gründen objektivrechtlich zu einer strikten Planungspflicht verdichten kann; das gilt grundsätzlich für die erstmalige Planung i m Innen- und Außenbereich ebenso wie für die inhaltliche Änderung oder Aufhebung eines bestehenden Bauleitplans 4 0 . Und auch § 1 Abs. 4 BauGB begründet eine gemeindliche Erstplanungspflicht, wenn die Verwirklichung von Zielen der Raumordnung bei Fortschreiten einer „planlosen" städtebaulichen Entwicklung auf unüberwindbare tatsächliche oder rechtliche Hindernisse stoßen oder wesentlich erschwert w ü r d e 4 1 . Aus der Perspektive des Raumordnungsrechts stellt sich die Entscheidung der Gemeinde zur Nichtplanung als negative Planungsentscheidung dar, die ebenso wie die städtebaulichen Vorstellungen der Gemeinde, die in ihrer Bauleitplanung eine positiv-rechtliche Form gefunden haben, zu korrigieren ist, sobald und soweit dies aus raumordnerischen Gründen erforderlich i s t 4 2 . Diese Grundsätze sind auch zu beachten, wenn es um die Frage „Bürgerbegehren zur Einstellung einer begonnenen Bauleitplanung" geht. Beruht diese Bauleitplanung auf gemeindlicher Planungspflicht, darf ein gegenläufiges Bürgerbegehren diese Pflicht nicht unterlaufen. Es wäre wegen Verstoßes gegen diese Pflicht unzulässig und dürfte vom Gemeinderat nicht zugelassen werden (Art. 18a Abs. 8 Satz 1 GO und nachstehend unter I V . ) 4 3 .

38 Siehe auch BayVGH vom 7.10.1997, BayVBl. 1998, 85; ferner BayVGH vom 14.10.1998, VGH n.F. 52, 12/20. 39 Neusinger, a.a.O. (Fußn. 26), S. 116. 40 Siehe BVerwG vom 17.9.2003, BayVBl. 2004, 376/377; ferner BVerwG vom 30.3.1995 und vom 9.10.1996, Buchholz 406.11 § 2 BauGB Nrn. 38 und 39. 41 BVerwG vom 17.9.2003, a.a.O. (Fußn. 40), S. 379. 42 BVerwG vom 17.9.2003, a.a.O. (Fußn. 40), S. 380; Schmidt-Aßrrmnn, Fortentwicklung des Rechts im Grenzbereich zwischen Raumordnung und Städtebau, 1977, S. 21 zu § 1 Abs. 3 BauGB.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

151

I I I . Bauleitplanerische Entscheidungen mit Abwägungscharakter und ihre „Nichteignung" für ein Bürgerbegehren 1. Der Abwägungscharakter

des Planbeschlusses

Die nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 BauGB aufzustellenden Bauleitpläne, vornehmlich also auch die Bebauungspläne i m Sinne der § 8 ff. BauGB, haben sich einerseits nach den Planungsleitsätzen des § 1 Abs. 5 BauGB zu

richten;

sie müssen andererseits in dem dadurch gezogenen Rahmen gemäß § 1 Abs. 6 BauGB auf einer gerechten Abwägung der öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander beruhen. Den Inhalt des in dem zuletzt genannten Absatz normierten Abwägungsgebots hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 12. Dezember 1969 4 4 - seinerzeit in Bezug auf § 1 Abs. 4 Satz 2 BBauG - und seither in ständiger Rechtsprechung näher umschrieben. Danach ist das Gebot gerechter Abwägung verletzt, wenn eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet. Es ist verletzt, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss. Es ist ferner verletzt, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot jedoch nicht verletzt, wenn sich die zur Planung berufene Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Diese Anforderungen an die Abwägung richten sich, wie das BVerwG ebenfalls wiederholt dargelegt hat, sowohl an den Abwägungsvorgang als auch an das Abwägungsergebnis. Die damit gemachte Differenzierung folgt aus der Erkenntnis, dass bei der Aufstellung und der Beurteilung von Plänen allgemein zwischen dem Planen als Vorgang und dem Plan als dem Ergebnis dieses Vorgangs zu unterscheiden ist und dass sich das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB seinem Wortlaut wie seinem Zweck nach sowohl auf das Abwägen selbst als auch auf das Abgewogensein erstreckt 4 5 . 43 Wegen der Frage „Drohende Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche bei Bürgerbegehren im Zusammenhang mit laufenden Bauleitplanverfahren bzw. bei Bürgerbegehren zur Änderung oder Aufhebung bestehender Bebauungspläne" wird auf Thum, a.a.O. (Fußn. 35), S. 413 f. und Thum/Wagner, a.a.O. (Fußn. 26), S. 204 f. verwiesen. 44 BVerwGE 34, 301/309 = BayVBl. 1970, 180/182. 45 Vgl. etwa auch BVerwGE 45, 309 = BayVBl. 1974, 705 (amtliche Leitsätze); 47, 144/146 = BayVBl. 1975, 538; BVerwG vom 6.6.2002, BayVBl. 2003, 181; ferner BayVGH vom 7.6.2000, BayVBl. 2001, 175/179; vom 7.12.2000, BayVBl. 2001, 564; vom 5.3.2001, BayVBl. 2002, 465/467; vom 3.9.2002, BayVBl. 2003, 273/274; vom 14.11.2002, BayVBl. 2003, 722; vom 14.8.2003, BayVBl. 2004, 180 und vom

152

Herbert von Golitschek 2. „Nichteignung " von bauleitplanerischen Abwägungsentscheidungen

für ein Bürgerbegehren

-

dargestellt am Satzungsbeschluss (§ 10 Abs. 1 BauGB) Eine solchermaßen zu definierende Abwägung findet in einem Bürgerbegehren grundsätzlich nicht statt. Die in diesem gestellte, mit „Ja" oder „ N e i n " zu beantwortende Frage ist - wenn es um die i m Satzungsbeschluss zu entscheidende Frage des „ W i e " gemeindlicher Bauleitplanung geht - auf ein bestimmtes Ergebnis gerichtet, ohne dass dabei die öffentlichen und privaten Belange untereinander und gegeneinander abgewogen werden (§ 1 Abs. 6 BauGB). Dies gilt in Sonderheit für die abschließende Beschlussfassung in einem Bebauungsplanverfahren gemäß § 10 Abs. 1 BauGB. Dieser Beschluss erfordert einen dynamischen Planungsprozess, aufgrund dessen die i m Verlauf des Verfahrens auftretenden vielfältigen öffentlichen und privaten Interessen ständig ermittelt, abgewogen, ausgeglichen und erst mit der abschließenden Beschlussfassung nach § 10 Abs. 1 BauGB geklärt werden. Und dass etwa § l a BauGB, insbesondere also der sparsame und schonende Umgang mit Grund und Boden und die Begrenzung von Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß bedacht wurde, kann in der nach Maßgabe des Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO zu stellenden Frage wiederum ebenso wenig zur Abwägung der Abstimmenden gestellt werden wie etwa die Verpflichtung aus § 2 Abs. 2 BauGB, die Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander abzustimmen 4 6 . Nicht ersichtlich ist auch, wie ein Bürgerbegehren etwa dem Gebot entsprechen könnte (s. § 8 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BauGB), den Bebauungsplan aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln 4 7 . Die Abstimmenden verfügen grundsätzlich nicht über das Informationsmaterial, dessen Kenntnis sie in die Lage versetzte, eine umfassend abgewogene Entscheidung zu treffen; sie wägen nicht ab, sondern sie stimmen nur ab 4 8 . 3.3.2003, BayVBl. 2004, 239; ferner BVerwG vom 26.11.2003, BayVBl. 2004, 276/ 277, und BayVGH vom 17.12.2003, BayVBl. 2004, 726/727. 46 Zum interkommunalen Abstimmungsgebot im Einzelnen siehe etwa BVerwG vom 1.8.2002, BayVBl. 2003, 279/280 und BayVGH vom 2.4.2003, BayVBl. 2003, 661; Jäde, Nochmals: Prinzipale Normenkontrolle planreifer Bebauungspläne?, BayVBl. 2003, 449/453 sowie Uechtritz, Interkommunales Abstimmungsgebot und gemeindliche Nachbarklage, NVwZ 2003, 176. 47 Siehe hierzu allgemein etwa Bielenberg/Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB. Kommentar. Stand: Oktober 2003, RdNr. 5 zu § 8; ferner BayVGH vom 16.5.1997, BayVBl. 1997, 759. 48 Vgl. auch SächsOVG vom 8.6.2000, SächsVBl. 2000, 265/266. Zu den Abwägungsanforderungen vgl. im übrigen etwa auch BayVGH vom 14.8.2003, BayVBl. 2004, 180 (Umwandlung eines Grundstücks, das bisher als reines Wohngebiet ausgewiesen war, in eine Aufforstungsfläche durch die Änderung des Bebauungsplans) oder BayVGH vom 3.3.2003, BayVBl. 2004, 239 (zur Nichtigkeit einer Veränderungssperre wegen schlechthin nicht behebbarer Mängel der beabsichtigten Planung und zum be-

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

153

Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn das Bürgerbegehren eine „ v o l l ausgereifte", eine sachgerechte Abwägungsentscheidung

ermöglichende

Begründung enthielte. Eine solche Planung wird das Bürgerbegehren

indes

schon deshalb nicht zur Abstimmung vorlegen können, weil kraft bundesgesetzlicher Vorgabe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 BauGB) - nur - „die Gemeinde" die Stellungnahmen der Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange, deren Aufgabenbereich durch die Planung berührt wird, einholen kann, diese (erfahrungsgemäß) überdies auf entsprechende Bitte eines Bürgerbegehrens nicht tätig werden (können) und auch nicht festgestellt werden kann, dass die Gemeinde bzw. der Gemeinderat verpflichtet, zumindest aber bereit wäre - zumal bei deren Einstufung als „eigentlicher Gegner des Bürgerbegehrens" 49 - , sich eine bestimmte Planung des Bürgerbegehrens schon in diesem Verfahrensstadium zu eigen zu machen und - diese zugrundelegend - nunmehr die Träger öffentlicher Belange von sich aus einzuschalten. Soweit eine andere Auffassung mit der Begründung vertreten wird, dass schließlich auch der Gemeinderat eine Abstimmung mit „Ja" oder „ N e i n " vornehme, die eigentliche Abwägung - durch die Bürger oder durch den Gemeinderat - vollziehe sich vor der Abstimmung 5 0 , wird die unterschiedliche „Verantwortungslage" bei den Gemeinderatsmitgliedern einerseits und bei den Gemeindebürgern andererseits verkannt. Ehrenamtlich tätige Gemeindebürger sind verpflichtet, ihre Obliegenheiten gewissenhaft wahrzunehmen (Art. 20 Abs. 1 GO). Zu diesen „Obliegenheiten" gehört es auch, sich über „Sinn" und „ U n sinn", Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit gemeindlicher Bauleitplanung „Gedanken zu machen" - anders gewendet: sich nicht nur mit dem „ O b " , sondern gerade auch mit dem „ W i e " dieser Planung i m Einzelnen abwägend zu befassen 51 . Gleiches wird von den an einem Bürgerbegehren teilnehmenden Bürgern nicht erwartet: Zwar ist Art. 18a GO, insbesondere dessen Absatz 4 Satz 1, nicht darauf „angelegt", dass sich die abstimmenden Bürger „keine Gesonderen Gewicht der Pflicht des Betreibers eines Kernkraftwerks zur Errichtung eines standortnahen Zwischenlagers für bestrahlte Kernbrennstoffe bei der Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB); ferner BayVGH vom 14.11.2002, BayVBl. 2003, 722 = BauR 2003, 657: Wird aufgrund der Festsetzung eines Bebauungsplans für ein Gewerbegebiet der freie Blick von einem Wohngrundstück an der Grundstücksgrenze durch die Erweiterung einer Betriebshalle unmittelbar an der Grundstücksgrenze fast völlig zugebaut, kann im Rahmen der Abwägung der Verpflichtung, auf den betroffenen Nachbarn Rücksicht zu nehmen, mehr Gewicht zukommen als dem Interesse des Betriebsinhabers an der Erweiterung des vorhandenen Betriebs in das Wohngebiet hinein. 49 Siehe Thum, a.a.O. (Fußn. 6), BayVBl. 1997, 225/227; VG Würzburg vom 2.12.1998, BayVBl. 1999, 282/284 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 47.08; ferner Becker/Bomba, a.a.O. (Fußn. 11), S. 176 sowie OVG NRW vom 16.12.2003, NWVB1. 2004, 151/152. 50 Vgl. Hölzl/Hien/Huber, a.a.O. (Fußn. 19), Anm. 4 zu Art. 18a GO und Groh/ Haubelt/Raithel, Der Bürgerentscheid in Bayern. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Unmittelbare Demokratie auf kommunaler Ebene, 1999 (aus: Rezension von Gebhardt , BayVBl. 2001, 543).

154

Herbert von Golitschek

danken machen" müssten. Er ist aber (zwangsläufig) doch so konzipiert, dass „fehlende Folgenverantwortung und fehlende Folgenfühlbarkeit", insbesondere auch in finanzieller Hinsicht, eben gerade keine Folgen für den/die Abstimmenden nach sich z i e h e n 5 2 ' 5 3 . 3. „Nutzanwendung mit dem Ziel „Freihaltung

Unzulässigkeit

eines Bürgerbegehrens

eines Mindestabstandes

zwischen Windkraftanlagen

und nächster

von (hier) 2000 m Luftlinie Ortsbebauung"

In dem dem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 2. Juli 2 0 0 3 5 4 zugrunde liegenden Fall lautete eine Frage des Bürgerbegehrens: „Sind Sie dafür, dass in dem Flächennutzungsplan ... ein Mindestabstand von 2000 m Luftlinie zwischen Windkraftanlagen und nächster Ortsbebauung freigehalten werden muss?" Die Gemeinde hielt diese Frage für unzulässig. Das Gericht wies die dagegen gerichtete Klage der Vertreter des Bürgerbegehrens als unbegründet ab. Die Frage des Bürgerbegehrens sei unzulässig. Die Entscheidung darüber, welche (Mindest-)Abstände Konzentrationsflächen für Windkraftanlagen zur Ortsbebauung einhalten müssten, sei eine Planungsentscheidung mit Abwägungscharakter. Sie könne deshalb nicht zulässiger Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Zur Begründung führte das Gericht u. a. aus: Die Steuerung der Windenergienutzung i m Außenbereich durch die Darstellung von Konzentrationszonen i m Flächennutzungsplan, die gemäß § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB als öffentlicher Belang der Errichtung einer Windenergieanlage entgegenstünden, fordere eine sachgerechte Abwägung nicht nur bezüglich der positiven Standortfestlegung für die Windenergienutzung, sondern auch bezüglich der Ausschluss Wirkung für die übrigen Flächen 5 5 . Die gemeindliche Entscheidung müsse nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 56 51 Ob dies stets geschieht und welche Folgen dies verneinendenfalls für die Gültigkeit der gemeindlichen Planung hat, soll hier offen bleiben (zur Nichtigkeit von Bebauungsplänen wegen Abwägungsmängeln siehe auch Fußn. 59). 52 Zur zivilrechtlichen bzw. gar strafrechtlichen Verantwortung von Gemeinderatsmitgliedern siehe demgegenüber Hölzl/Hien/Huber, a.a.O. (Fußn. 19), Anm. 4.2 und 4.3 zu Art. 20 GO und Anm. 2 zu Art. 51 GO. 53 Zur „Amtspflicht zur Berücksichtigung gesunder und sicherer Wohn- und Arbeitsverhältnisse" (bei erfolgreichen Bürgerentscheiden: wessen Amtspflicht?) siehe Beyer, Amtspflichtwidrige Bauleitplanung in überschwemmungsgefährdeten Gebieten, NWVB1. 2004, 48/49 f. 54 VG Würzburg vom 2.7.2003, BayVBl. 2003, 758/760 = Thum (Kommentar), a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.29. 55 So schon OVG Rheinland-Pfalz vom 20.2.2003 - 1 A 11406/01. OVG - , BayVBl. 2003, 669 = DVB1. 2003, 820 (jeweils nur amtliche Leitsätze). 56 BVerwG vom 17.12.2002, BayVBl. 2003, 664 = NVwZ 2003, 733/736.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

155

nicht nur Auskunft darüber geben, von welchen Erwägungen die positive Standortzuweisung getragen werde, sondern auch deutlich machen, welche Gründe es rechtfertigten, den übrigen Planungsraum von Windkraftanlagen freizuhalten. Das folge schon daraus, dass es die Aufgabe des Flächennutzungsplans sei, ein gesamträumliches Entwicklungskonzept für das Gemeindegebiet zu erarbeiten. Die Ausweisung an bestimmter Stelle müsse Hand in Hand mit der Prüfung gehen, ob und inwieweit die übrigen Gemeindegebietsteile als Standort ausschieden. Die öffentlichen Belange, die für die negative Wirkung der planerischen Darstellung ins Feld geführt würden, seien mit dem Anliegen, der Windenergienutzung „an geeigneten Standorten eine Chance zu geben", die ihrer Privilegierung gerecht werde 5 7 , nach Maßgabe des § 1 Abs. 6 BauGB abzuwägen. Ebenso wie die positive Aussage müssten sie sich aus den konkreten örtlichen Gegebenheiten nachvollziehbar herleiten lassen. Z u den von dieser

„Aus-

schlusswirkung" erfassten Flächen gehörten vorliegend auch die Flächen, die nach Maßgabe des strittigen Bürgerbegehrens als „Mindestabstand von 2000 m Luftlinie zwischen Windkraftanlagen und nächster Ortsbebauung" dienen sollten und demzufolge für die Bebauung mit Windenergieanlagen grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommen könnten. Die privaten Belange der von dieser Ausschlusswirkung betroffenen Grundstückseigentümer seien in die Abwägung auch über die Festlegung des größenmäßig vorgegebenen „Abstandes" (mindestens 2000 m Luftlinie) einzubeziehen. Das Gericht hat (a. a. О.) nicht feststellen können, dass das Bürgerbegehren dies - sei es in der Fragestellung, sei es in seiner Begründung - bedacht hätte (dies in einer dem § 1 Abs. 6 BauGB genügenden Weise überhaupt hätte bedenken können). Das Bürgerbegehren enthalte nur die Fragestellung. Und die Begründung zeige letztlich nur die aus Sicht der (seinerzeitigen) Kläger „unvermeidlichen [negativen] Folgen" der Errichtung von Windkraftanlagen auf. Private Belange betroffener Grundstückseigentümer schienen überhaupt nicht auf.

IV. Versagung der Zulassung des Bürgerbegehrens bei materiellrechtlich unzulässiger Fragestellung (Art. 18a Abs. 8 Satz 1 GO) Hat ein Bürgerbegehren eine bauleitplanerische Abwägungsfrage zum Gegenstand, kann es (bei Teilbarkeit: insoweit) nicht zugelassen werden. Nach Art. 18a Abs. 8 Satz 1 GO entscheidet der Gemeinderat über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Diese Zulässigkeitsprüfung erstreckt sich auch auf die Frage, ob die Maßnahmen, die mit dem Bürgerbegehren erreicht werden sollen, mit der Rechtsordnung in Einklang stehen 58 . Dies hat zur Folge, dass ein auf ein rechtswidriges Ziel gerichtetes Bürgerbegehren unzulässig ist. Nicht mit der 57

Vgl. den Ausschussbericht vom 19.6.1996, BT-Drs. 13/4978, S. 6.

156

Herbert von Golitschek

Rechtsordnung in Einklang steht auch ein Bürgerbegehren, dessen Fragestellung den bundesrechtlichen inhaltlichen Vorgaben zur Bauleitplanung, insbesondere auch denen des § 1 Abs. 6 BauGB, nicht gerecht w i r d 5 9 . Dass Abwägungsgesichtspunkte, die für die Aufstellung eines Bebauungsplanes maßgeblich waren, in den Aufstellungsakten jedoch nicht dokumentiert sind, noch etwa i m Normenkontrollverfahren ermittelt werden können 6 0 , führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. In Fällen der vorliegenden Art geht es nicht um die spätere Ermittlung der schlussfassung auch bedachten -

vom Gemeinderat schon bei Be-

ursprünglichen

Abwägungsgesichtspunkte 61 .

Es ginge vielmehr um die spätere erstmalige „Erforschung" der Gesichtspunkte, die die jeweiligen Befürworter des Bürgerbegehrens veranlasst haben, so und nicht anders zugunsten des Bürgerbegehrens abzustimmen. Es mag angehen, etwa den Bürgermeister in der mündlichen Verhandlung des (Normenkontroll-) Gerichts über die die (Bebauungsplan-)Entscheidung tragenden Erwägungen des Gemeinderats anzuhören 62 . Ein vergleichbares Vorgehen i m Falle eines in Bezug auf eine inmitten stehende Abwägungsentscheidung erfolgreichen Bürgerbegehrens erscheint indes schon angesichts der Vielzahl der (evtl.) zu vernehmenden Abstimmenden und des Umstandes, dass sie - aus welchen Gründen auch immer - „schlicht und einfach" mit „Ja" gestimmt haben (werden), weder praktikabel noch - was die einzustellenden bzw. von ihnen (nicht) eingestellten Abwägungsgesichtspunkte angeht - erfolgversprechend. Und schließlich hilft auch der Umstand nicht weiter, dass Mängel dieser Art nur dann erheblich sind, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergeb58 Bauer/Böhle/Masson/Samper, a.a.O. (Fußn. 20), RdNr. 18 zu Art. 18a GO; Hofmann-Hoeppel/Weible, a.a.O. (Fußn. 6), S. 620 m.w.N.; BayVGH vom 10.11.1997, VGH n.F. 51, 11 = BayVBl. 1998, 209; vom 10.12.1997, BayVBl. 1998, 242; vom 18.3.1998, BayVBl. 1998, 402/403; vom 31.3.1999, BayVBl. 1999, 729; vom 22.12.1999, BayVBl. 2000, 564/565; VG Würzburg vom 2.12.1998, BayVBl. 1999, 282 = Thum (Kommentar) a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 47.08 und vom 2.7.2003, BayVBl. 2003, 758/769 = Thum, a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.29; VG Augsburg vom 21.3.2002, BayVBl. 2003, 91 = Thum, a.a.O. (Fußn. 6), Kennzahl 44.25. Zur Frage ob die Prüfung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens durch den Gemeinderat „einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der funktionsgerechten Organstruktur" darstelle, siehe Ritgen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 92 m.w.N. 59 Zur Nichtigkeit von Bebauungsplänen wegen Fehlern im Abwägungsvorgang siehe etwa BayVGH vom 5.3.2001, BayVBl. 2002, 465/468; vom 19.9.2001, BayVBl. 2002, 526/529 und vom 3.3.2003, BayVBl. 2004, 239/240 ff.; ferner BVerwG vom 20.6.2001, BayVBl. 2002, 471/473. 60 Vgl. etwa BayVGH vom 29.4.1997, VGH n.F. 50, 160. 61 Vgl. dazu auch BVerwG vom 25.2.1988, NVwZ 1989, 152/153 und vom 27.3.1980, BayVBl. 1980, 440 = Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 34. 62 Vgl. den der Entscheidung des BayVGH vom 29.4.1997, a.a.O. (Fußn. 60) zugrunde liegenden Sachverhalt.

Grenzen der Zulässigkeit von Bürgerbegehren in Bayern

157

nis von Einfluss gewesen sind ( § 2 1 4 Abs. 3 Satz 2 BauGB). Denn das durch Art. 18a Abs. 4 Satz 1 G O 6 3 vorgegebene Schweigen letztlich aller Abstimmenden zu den zu bedenkenden Abwägungsgesichtspunkten bedeutet einen solchen „offensichtlichen" Abwägungsmangel.

V. Ergebnis Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Gegenstand eines kommunalen Bürgerbegehrens kann nur die Grundsatzentscheidung sein, ob ein gemeindlicher Bauleitplan erlassen oder geändert werden soll. Bezieht sich das Bürgerbegehren auf das „ W i e " dieser Planung, deren inhaltliche Ausgestaltung i m Einzelnen und damit auf Entscheidungsprozesse mit Abwägungscharakter, ist es unzulässig.

63

Siehe oben Ziffer I.3.c).

Россия и Глобализация А . Н . Голубев

Начало процесса глобализации нередко связывается с эпохой Великих географических

открытий

и

возникновением

колониальных

империй,

хотя глобализация как форма международной жизни, безусловно, явление последних

десятилетий.

Основа возникновения

и развития

механизма

глобализации в современном ее понимании лежит в становлении глобальной информационной системы, осуществляющейся благодаря

компьютерной

революции и связанных с ней наукоемких и компьютерных технологий. Эти технологии вместе с составляющими и сопутствующими

науками

необычайно ускорили процессы интеграции общества, что, естественно, породило

потребность

надгосударственного

уровня

управления

нацио-

нальных экономик. Иначе говоря, глобализация стала необходимостью пока лишь ограниченного числа промышленно развитых стран. Однако информационная система - это лишь только часть мировой экономики, хотя и очень важная. Процесс глобализации носит многоаспектный характер. С некоторой долей условности можно выделить следующие основные сферы глобализации: мировая экономика, коммуникационная глобализация, экспансия западной культуры и технологий, военно-политические отношения, экологическая проблема, миграция населения. Развитие процесса глобализации прошло ряд стадий в значительной мере совпавших с геополитическими эпохами. В X I X веке российские мыслители

уже

осознавали

экономическую

взаимозависимость

стран

как основу мира и еще за 100 лет до образования Л и г и наций предлагали создать Совет представителей всех стран. В это же время разрабатываются глобальные концепции панславизма. В конце X I X века появились работы, где рассматривался глобальный процесс переселенческой колонизации. На рубеже X I X - X X веков усиливаются воззрения универсалистского направления. Глобализация экономических связей нашла отражение в работах о роли Атлантического и Тихого океанов и т. д. С образованием СССР глобальный масштаб приняла идея мировой революции. Следует упомянуть, что были работы и о влиянии солнечной активности на мировую политику и др.

160

Α. Η. Голубев

Глобальному политическому прогнозированию новый импульс придал распад СССР. Появились многочисленные, иногда

взаимоисключающие

прогнозы в оценке мирового порядка, геоэкономики, возможностей создания многополярного мира. Некоторые российские политологи полагают, и не без основания, что процесс глобализации в мире в значительной мере связан с глобальными задачами С Ш А . Известно, что эти задачи были сформулированы еще в X I X веке под названием «очевидное предназначение». В них идет речь об «избранности» С Ш А ,

о роли С Ш А

в качестве главного

мирового

арбитра, образца «демократии» и «свободы». По сути эти задачи, ныне уже в значительной мере воплощенные, продолжают решаться и дальше. Независимо от того, какая партия в С Ш А стоит у власти, принятие всем миром американских ценностей и американского образа жизни является основой американской политики. Как следствие этого - оккупация Ирака, создание новых военных баз в Азии, на Кавказе, наличие трений с Евросоюзом и т. д. Среди сфер глобализации экономическая представляется наиболее важной и многогранной. Здесь можно выделить несколько направлений, на которых сегодня сосредоточено наибольшее внимание исследователей. Это финансовая глобализация, образование глобальных Т Н К , мировая торговля, тенденции к конвергенции и регионализации экономики. Финансовая глобализация обладает негативной чертой, проявляющейся в международной денежной и финансовой нестабильности. Поэтому неслучайно одной из задач этого столетия является нахождение метода, способного совместить национальный суверенитет с финансовой унификацией мира. Экономисты выделяют две тенденции, направленные на подрыв традиционных позиций государства. С одной стороны это серьезные изменения в мировой социально-экономической системе под воздействием глобализации, с другой - проявление различных последствий регионализации. По этой причине государство как форма политической и территориальной организации мирового сообщества стало постепенно терять свое первоначальное значение. Регионализм в России пока носит неустойчивый характер. Ощущается недостаток опыта, традиций, что сказывается на качестве осуществляемых преобразований. Вопросы взаимодействия центра и регионов достаточно сложны, особенно для России с ее гигантской территорией, особенностями административнотерриториального деления, многонациональным составом населения, наличием разных конфессий. Большое количество субъектов Федерации, особенности политической трансформации, сложность проведения экономической реформы и т. п. тем не менее позволяют России приобщиться к глобализирующейся мировой экономике.

161

Россия и Глобализация

Перспективы дальнейшей глобализации оцениваются политологами и государственными деятелями далеко неоднозначно: одними глобализация признается

как

объективный

процесс

эволюции

мировой

экономики,

основанный на техническом прогрессе и сопровождающийся усилением мирохозяйственных различных

связей.

альтернативных

Сторонники моделей

этой

трактовки

глобализации,

не

связанных,

отрицают в

свою

очередь, с геополитическими структурами. Вместе с тем, на Саммите тысячелетия в Нью-Йорке (2000 г.) отмечалось, что «выгоды от глобализации асимметрично распределяются между развивающимися и развитыми странами. Эта асимметрия еще больше обострила различия в доходах, увеличив масштаб раздоров и конфликтов, усилив неустойчивость глобально-региональных ситуаций». Лидеры азиатских стран неоднократно заявляли в последние годы, что все больше и больше наций, особенно тех, чья цивилизация возникла тысячелетия назад, начинают выражать обеспокоенность по поводу возникающих конфликтов между глобальными рыночными ценностями и национальными ценностями, основанными на культурной специфике. По мнению некоторых российских политологов, в современном мире глобализация - это глобальная гегемония. И в этом ее порочность. С другой стороны, глобализация - это игра. Существует три вида игроков: первый - транснациональные корпорации; второй - наднациональные организации, созданные на основе этих Т Н К (Всемирный банк, ВТО, М В Ф и т. д.); третий - семерка ведущих стран и НАТО. Глобализация в России ведет к заимствованию из Западной Европы и С Ш А новых институциональных и технико-экономических форм, способствует, а нередко и заставляет, экономику страны менять свою ресурсную и пространственную базу. В результате могут быть реформированы и институты власти, приспособленные к этим изменениям. Не менее сложным представляется и вопрос о том, как процесс глобализации соотносится с развитием тех или иных регионов, использованием природных ресурсов. К сожалению, сегодня Россия идет в основном по пути вовлечения в экономический оборот естественных ресурсов, способных дать значительную и быструю отдачу, по пути, ведущему к одностороннему хозяйственному росту северных и сибирских районов и деградации староосвоенных промышленных районов. Таким образом на вновь осваиваемых территориях создается экономический уклад, практически не связанный с непосредственными интересами региона, а в основном с потребностями внешнеэкономических связей, зачастую в ущерб стратегическому направлению экономики государства. Влияние глобализации на экономику России или точнее реакция экономики на глобализацию еще проявилась далеко не полностью. На это есть ряд 11 FS Hablitzel

162

Α.Η. Голубев

объективных причин. Среди них и низкий уровень экономического развития, в частности уровень В В П на душу населения, в основном получаемый за счет эксплуатации сырьевых источников, незначительная доля России в мировом товарообороте, серьезное отставание в развитии радиоэлектроники и компьютерной техники от ведущих промышленных стран, недостаточно надежное функционирование финансовой системы, значительный

отток

финансового и интеллектуального капитала за пределы страны. По мнению известного политолога М.Г. Делягина, по мере углубления глобальной интеграции развитые страны мира, и в первую очередь С Ш А , все более склонны воспринимать единообразие внутреннего устройства и

внешнего поведения других

стран, их национальных

психологий

и

господствующих в них мировоззрений как признак и неотъемлемое условие собственного комфорта и безопасности. Россия, национальная специфика которой оказалась весьма устойчивой, мешает этим ощущениям. В силу своей недостаточной похожести

на

европейские и американские образцы, Россия вне зависимости от своих субъективных желаний и усилий, воспринимается и все в большей степени будет восприниматься развитым миром как потенциальная угроза. Именно этими опасениями, а также ее глубокой внутренней слабостью, и будет прежде всего определяться место нашей страны в мире в течение первых 20 лет этого века. В

заключение

отметим,

что

все

более

широко

распространяется

демократическая модель глобализации «снизу», которая нередко трактуется как

«антиглобализм». Мировым сообществом признается, что

процесс

глобализации необходимо направлять таким образом, чтобы содействовать укреплению экономического роста и устойчивого развития во всех странах и более широкому распространению его благоприятного воздействия.

Zwischen Heimat und Welt Positionen der Volkskunde/Europäischen Ethnologie als Kulturwissenschaft Von Klaus Guth

I. Begriffe und Zugänge 1. Lebenswelten Ein Schweizer Rückwanderer aus British Columbia/Kanada hat jüngst das Beziehungs- und Gefühlsgeflecht, das mit dem Sinn-Symbol „Heimat" verknüpft ist, treffend auf den Begriff gebracht: „Es spielt keine Rolle, wo man lebt, solange man fähig ist zu lieben - das ist die Heimat, nach der wir uns sehnen, und wer sie gefunden hat, ist mit sich und seinem Leben zufrieden." 1 In dieser anthropologischen Reduktion auf die Liebe als Grund und Antrieb menschlichen Zusammenlebens in der Nähe und Ferne sind die

Anfänge

menschlicher Kultur zu suchen. Liebe, Phantasie und die Zwänge der Natur gestalteten die frühen Lebens weiten der Menschen i m Großen wie i m Kleinen. Sie ganzheitlich zu erfassen und i m Einzelnen zu analysieren, ob als vergangenes oder gegenwärtiges menschliches Leben, ist Kernaufgabe volkskundlichen Arbeitens. Dieses erfasst dabei kulturelle Lebensäußerungen kleiner und großer Lebenseinheiten in Sprache und Literatur, Lebens- und Brauchformen, in der Vergesellschaftung von Familie, Dorf, Stadt, Land und Schicht, i m Zusammenleben kleiner und größerer Berufsgruppen, in freiwilligem Zusammenschluss durch Vereine, Institutionen und Religion. I m Erfinden und Verwenden der notwendigen und zweckfreien Dinge, die das menschliche Leben ermöglichen, erleichtern und verschönern, entsteht Kultur vor Ort, eben bei den Menschen einer Region, eines Landes oder vergleichbarer Länder eines Kulturkreises. Schon der Pädagoge J. H. Pestalozzi (1746-1827) hat die Lebenskreise

der

Menschen von den engeren Beziehungen in der Familie bis zu den weiteren Bindungen in Beruf, Staat und Nation verfolgt. I m Kennenlernen aus der Nähe bildet sich Vertrautheit, eben Heimat. Für Eduard Spranger (1882-1963), einen Epigonen in der Reihe bedeutender Philosophen und Pädagogen als Vertreter der Lebensphilosophie, wurde der Begriff Heimat zum wissenschaftlichen Prin1

11

Rolf Studer, in: Rheinischer Merkur (2. Januar 2003), S. 8.

164

Klaus Guth

zip erhoben. Es erfasst Leben aus der Nähe, ob in der Schule (in der Heimatkunde) oder in den Geisteswissenschaften. Dabei richtete sich der interessierte Blick auf die eigene wie fremde Welt, auf das Diesseits und Jenseits der eigenen Kultur. Die spätere Minderheiten- und Auswanderer-Volkskunde hat die Annäherung an das Fremde i m Prozess von Assimilation, Integration oder A k kulturation zum Ausdruck gebracht. 2. Volk und Bevölkerung Volkskunde als analytisch vorgehende Kulturwissenschaft erfasst den Menschen in seinen (materiellen) Objektivationen ebenso wie in den geistigen Äußerungen. Die menschliche Entfaltung in Spiel und Kult, i m Rhythmus von Tanz und Musik, i m Ausschmücken der eigenen Lebenswelt durch Erzählen, Singen und bildnerisches Gestalten, bindet Menschen gemeinschaftlich zusammen, formt Kultur. Den Menschen als Mitte jeder Kultur und dessen Handlungen hat das Fach Volkskunde seit seinem Entstehen i m Blick. „ V o l k " fungierte in der Wissenschaftsgeschichte des Faches stets als Träger und Erfinder kultureller Phänomene und Tätigkeiten, die vom Fest- und Brauchleben bis zum Wohnen, Arbeiten, Verehren und Schmücken reichen. Die Missverständnisse des Wortes „ V o l k " , dessen Perversionen i m Verständnis des Dritten Reiches, sind in der Fachgeschichte aufgelistet. Träger kulturellen Lebens werden heute in der Forschung durch die Benennung kleinerer Lebenswelten und ihrer Gruppen erfasst. Sie reichen von der Arbeitswelt einzelner Bevölkerungsschichten bis zur Feier- und Festkultur städtischer oder ländlicher Bevölkerung; diese kann auch einzelne Gruppen in der Bindung durch Vereine, Gilden, Verbände und Kirchen umfassen. Das traditionelle Begriffsinstrumentarium „Volkskultur" und „Volksleben" wurde in der Moderne durch den Begriff „Alltagskultur" ersetzt. Doch auch dieser Begriff benennt nicht nur die „Welt der kleinen Leute", sondern kennzeichnet schichtenübergreifend das Dasein der Menschen eines Berufes, einer Gruppe oder einer Institution. Beispiele aus dem Bereich der Erzählformen, wie Märchen, Sage, Legende und Lied, dann Spiel, Reim, Rätsel und Witz, hatten i m alltäglichen Leben ihren Sitz; heute erfüllen sie jeweils eine spezielle Funktion. In der Weitergabe profaner und religiöser Erzählstoffe erhalten sie regionale traditionelle Kultur. Diese wird durch Erzählen von neuen Themen und Stoffen (z.B. „sagenhafte" Geschichten aus dem Bereich Kfz-Verkehr, Luftfahrt, Straßenbau), durch religiöse Erlebnisliteratur, Mirakel- und Reiseberichte erweitert. Als kollektive Erinnerung bestimmen sie das kulturelle Gedächtnis eines Ortes, einer Region oder eines Landes und verkörpern in ihren „einfachen Formen" (A. Jolles) „gesunkenes Kulturgut" (Hans Naumann) aus der Hochkultur.

Zwischen Heimat und Welt

165

3. Kultur des Alltags Gerade die Kategorie „Alltagskultur" bestimmt knapp den funktionalen Bereich materieller Kultur. Deren Objekte, ob aus dem Bereich des Hausbaus, der Landwirtschaft, des Handwerks, des Kunstgewerbes oder aus dem des künstlerischen Gestaltens entnommen, stehen immer in Korrelation zum jeweiligen Menschen und seiner produktiven Kräfte. Geräte, geschmückte Gegenstände und Maschinen erleichtern menschliches Zusammenleben i m Umkreis

von

Wohnen, Arbeiten, Essen, Kleiden oder Erholen. In der modernen Gesellschaft von heute sind die Dinge des Alltags meist Massengüter, die, in Serie produziert, sich in Form und Farbe wiederholen und speziellen Lebensbedürfnissen dienen. Deren Funktion ist es, das Zusammenleben in der Familie zu erleichtern, Freiräume für das „Humanum" zu schaffen und den täglichen Lebensraum schön und angenehm zu gestalten. Gebrauchsgüter der Technik sind als Massenware in industrieller Produktion entstanden und befriedigen die notwendigen oder durch Werbung geweckten Bedürfnisse i m individuellen Arbeitsleben in Haus und Hof, am Arbeitsplatz, i m Büro, in der Fabrik oder in der Freizeitgesellschaft. Sie erleichtern menschliches Leben mit Hilfe von Geräten und Maschinen. Diese technischen Gebrauchsgüter vereinheitlichen Arbeitsabläufe, erzwingen den Rhythmus täglich gleicher Handlungen und erreichen durch die Regelmäßigkeit der Arbeitsvorgänge, eben durch Wiederholungen, Überschuss und Gewinn bei der Produktion von „Waren". Alltägliche Güter sind ersetzbar, reproduzierbar und für den täglichen Ge- und Verbrauch bestimmt. Die Objekte der Alltagskultur unterscheiden sich von Kunstwerken der Hochkultur, die als individuelle Schöpfungen einer Kunstepoche zuzuordnen sind. Das gilt jedoch nur zum Teil für die Gebrauchsgüter der Vergangenheit in bäuerlicher oder handwerklicher Tradition, aber nicht für die Massenware der Moderne. Gerade diese kennzeichnen Gleichförmigkeit, Wiederholbarkeit und dienen dem Verbrauch. In ihrer Summe charakterisieren die Gegenstände i m Lebensvollzug der Menschen den „Prozess der Zivilisation" (Norbert Elias) und spiegeln die Kultur einer Massengesellschaft, eben deren „Kulturgüter" und Lebensformen i m Alltag. Volkskunde und Geschichtswissenschaft haben ihre „Schwierigkeiten mit dem Alltag" (K. Tenfelde). Sie lassen sich lösen, wenn dieser als Kategorie zum Erfassen des Alltäglichen verstanden wird, also als Klammerbegriff für all die Dinge und Handlungen, die das menschliche Leben Tag für Tag bestimmen. Der Alltag ist das menschliche Leben selbst. Die Konkretisierung der Untersuchungsfelder so verstandener Alltagsgeschichte greift Standardinhalte der frühen Kulturgeschichte wieder auf und trifft sich mit den Themen gegenwärtiger Volkskundeforschung. Bereiche wie Wohnen, Essen, Kleiden, Arbeiten, Erholen, Spielen, in-Gemeinschaft-Leben, Feiern und Verehren erfassen Grundmuster menschlichen Lebens. Sie sind vor dem Hintergrund der die Menschen be-

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schäftigenden Vorstellungen (Mentalitäten) und der Lebensäußerungen zu buchstabieren, eben als deren ganzheitlich zu erfassende „Lebenswelt" 2 (Edmund Husserl). So umgreift die Formel „alltägliche Lebenswelt" alle Schichten der Bevölkerung und ist keineswegs nur der Darstellung einer „Geschichte von unten" verpflichtet. 4. Methoden und Verfahrensweisen Seit ihren Anfängen in der älteren Germanistik und bei den Staatswissenschaften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war die Volkskunde eine Wissenschaft, die Methoden, Verfahrensweisen und Arbeitsfelder verwandter Fachdisziplinen aufgriff und eigentümliche Zugänge und Methoden entwickelte, um damit die „landläufige" Kultur eines Ortes, einer Region oder eines Landes zu erfassen und zu analysieren. Heute benutzt sie dabei die Vorgehensweisen der Geschichtswissenschaft für die Aufbereitung der meist seriellen Quellen vornehmlich des 18. bis 20. Jahrhunderts, übernimmt bei der Bestandsaufnahme der Dialekte oder der Volksliteratur die Arbeitsweisen der Sprach- und Literaturwissenschaft, beschreibt und analysiert mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen Methode die Sozialstrukturen arbeitausübender Schichten, eben die der Handwerker, der Angestellten und Arbeiter oder erfasst die der Mitglieder in kulturellen Gruppierungen, Vereinen und Verbänden. Die in diesen Sozialgruppen vorhandene materielle Kultur, also deren Geräte, Maschinen, Wohnungsgegenstände, Kleidung, Schmuck, Vereinsinventar u.v.a.m. untersucht sie in ihrer Funktion und Bedeutung für das Leben der jeweiligen Nutzer- oder Herstellergruppe. Dabei werden vorhandene Lebens- und Brauchformen gerade kleinerer Gruppierungen nicht ausgeklammert. Diese reichen von Schaustellern auf Jahrmärkten bis zur Jugend- und Migrantenkultur der Moderne vor Ort. Was solch unterschiedliche wissenschaftliche Unternehmungen eint, ist das Ziel , die historische oder gegenwärtige Volkskultur einer Region, eines Landes oder einer Sondergruppe zu erfassen, zu analysieren und darzustellen. Dabei wird i m Begriff „Volkskultur" die Breite der Objekt- wie immateriellen Kultur verstanden, in der bewusst oder unbewusst die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer Region lebte oder noch lebt. Aus Gründen wissenschaftlicher Ökonomie nähert sich die volkskundliche Forschung den einzelnen Arbeitsfeldern meist in der Form der Mikroanalyse. Sie ist das Markenzeichen des Faches, um unterschiedliche Lebenswelten und deren Trägergruppen mit unterschiedlichen Objekt- und Sozialstrukturen in 2 Zuerst bei Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in: Husserliana 3/1, Den Haag 1976, S. 57 ff. Zentrale Bedeutung des Begriffs „Lebenswelt" im Gesamtwerk ab 1930. Vgl. ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie, in: Husserliana 6, Den Haag 1962, S. 18 ff., 105 ff., 349 ff.

167

Zwischen Heimat und Welt

Vergangenheit und Gegenwart zu erfassen. Ergebnisse solcher Untersuchungen sind die Grundlage für den Vergleich auf regionaler oder überregionaler Ebene. Der Vergleich verdeutlicht die Konstanten oder Varianten der eigentümlichen Kultur einer Gruppe oder einer Region. I m Beispiel gesprochen kann dieser die Strukturen der Festkultur i m deutschsprachigen Raum ebenso bestimmen wie Grundelemente materieller Kultur, etwa des Hausbaus, der Geräte- oder der Siedlungsformen. A u f der Gegenseite, auf dem Feld immaterieller Kulturäußerungen, verdeutlicht der Vergleich Formen der Tradierung von Erzählstoffen in einem bestimmten Sprachgebiet. Mikroanalysen fordern die Zusammenschau der Ergebnisse durch den Vergleich in großräumigen

Untersuchungen.

Diese

werden in der Terminologie der Zunft unter Bezeichnungen wie Kulturraumforschung, Kulturgeographie, Kultlandschaften, Stadt-Land-Beziehung, ländliches Wohnverhalten oder Arbeiterkulturen kenntlich gemacht. In der religiösen

Völkskunde haben Großbereiche wie Wallfahrtskultur, Pil-

gerwesen i m europäischen Raum, Volksreligiosität, Bilder, Zeichen und Symbole u.a.m. ihre Eigendynamik entwickelt. Gemeinsames Kennzeichen dieser Forschungsfelder ist der Methodenpluralismus , der aus unterschiedlichen Disziplinen Vorgehensweisen übernimmt und an den Untersuchungsgegenstand anpasst. M i t Hilfe der Kombination von Verfahrensweisen aus unterschiedlichen Fächern der Kulturwissenschaft nähert sich die Volkskunde/Europäische Ethnologie i m Einzelbereich dem gestellten Thema. Sie kann je nach Ziel der Untersuchung eine Vorgehensweise auswählen, etwa die empirischen Arbeitsweisen der Sozialforschung, u m mit so genannten „weichen Methoden" oder mit Formen der Objekt- und Dokumentenanalyse, die der Geschichtswissenschaft entliehen sind, sich dem wissenschaftlichen Gegenstand adäquat zu nähern. Die Analyse der Überlieferungsgüter bei Vertriebenen und Flüchtlingen zum Beispiel i m Umkreis der Volksdichtung und des Volksliedes benutzt die traditionelle historisch-philologische Methode ebenso wie die der empirisch abgesicherten Rezeptionsforschung. Diese umfasst auch die Inhalts- und Funktionsanalysen „populärer" Lesestoffe i m sozialen Umfeld. A m Beispiel einzelner Forschungsfelder wird i m Folgenden die Vernetzung gegenwärtiger Volkskunde i m Wissenschaftsbetrieb der Moderne verdeutlicht.

II. Forschungsfelder und Paradigmen (in Auswahl) Die Vielfalt der Arbeitsfelder in der Volkskunde der Gegenwart ist zugleich eine Warnung, das Fach auf wenige Methoden einzugrenzen. Die Geschichte des Faches weist i m Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts allein schon durch den Wandel der Bezeichnungen auf neue Schwerpunkte hin. Von der Altertumswissenschaft wechselten sie über den Diskurs „Volkskunde als Wissenschaft" (W. H. Riehl/E. Hoffmann-Krayer), über ihre Nachbarschaft zur Germanistik

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und zu Fächern der Geschichtswissenschaft, über ihren Praxisbezug zu Museen und Vereinen, zu einer national ausgerichteten Volkskunde, die auch Feldforschungen bereits durchführte.

Nach den Verirrungen als

„Volkstumswissen-

schaft" erreichte sie erst in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Selbstverständnis als Kulturwissenschaft

, indem sie die unterschiedlichen Arbeits-

felder der Vergangenheit mit neuen zu einer Einheit i m Begriff verknüpfte:

Literatur-

und Erzählforschung,

„Kultur"

Dokumentation der Sach-

und

Brauchkultur, Probleme der Museologie und Kulturgeschichtsforschung standen, Institutionen- und personenzentriert, gleichberechtigt neben der Analyse von Gruppenkulturen

und der

Bearbeitung

kultureller

Verhaltensformen.

Diese

Schwerpunkte schlossen Sonderbereiche nicht aus. Gerade letztere benutzten ein Begriffsinstrumentarium,

das zumeist den Sozialwissenschaften

entlehnt,

neue Theorien und Thesen stützte. Das schillernde und vieldeutige Wort „ K u l tur" ist die Klammer, um die Antithetik

von Natur

und Kultur

zu umreißen.

Doch wie kann man der Vielfalt möglicher Definitionen entgehen? M i t Helge Gerndt sei „ K u l t u r " nur als allgemeiner Verständigungsbegriff rezipiert. Er umschreibt Arbeitsfelder, die von Fall zu Fall „unter bestimmten Aspekten (jedoch, d. Verf.) genau gefasst, das heißt modellhaft formuliert werden". 3 Der Bezug zum Menschen ist dabei unverzichtbar. Kulturelle „Dinge und Erfindungen" entspringen seinem Geist und seiner Hand. Sie dienen dem Zusammenleben der Menschen zweckhaft oder zweckfrei. Die gegenwärtige Volkskunde benutzt für ihre Forschungen unterschiedliche Schlüsselbegriffe

. Sie wurden zum Teil bereits angesprochen. Neben den Kate-

gorien Heimat, Lebenswelt(en), Lebensform(en), Volkskultur, Alltagskultur stehen so unterschiedliche Zugriffe wie Ethnie, Identität, Schicht, Geschlecht, der Andere/Fremde, Prozess, Tradition, Kontinuität, Wandel, Transformation, Zeichen, Ritual, Übergang, Grenze und viele andere mehr. U m die Methoden-Vielfalt in volkskundlichen Forschungsfeldern zum Abschluss noch anzudeuten, sei auf die Bereiche Gemeindestudien (1), Auswandererforschung (2) und Wallfahrtswesen (3) hingewiesen. Sie regten die Forschung an, unterschiedliche Vorgehensweisen zu kombinieren.

1. Gemeindestudien Als kleine soziale Einheit zog bereits in einer pejorativ bezeichneten „Bauern-Volkskunde" die Gemeinde auf dem Land das Interesse der Forschung auf sich. I m Konstrukt des natürlichen, ursprünglichen Lebens auf dem Land diente die Forschung in diesem Verständnis auch der Bewahrung von „alter Sitte und Art". Der soziale Wandel als langsamer Prozess stand außerhalb des ethnogra-

3

Helge Gerndt , Kultur als Forschungsfeld, München 1981, 1986, S. 11 f.

Zwischen Heimat und Welt

169

phischen Blicks. Gemeindeuntersuchungen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gingen jetzt davon aus, dass die kleine Lebenswelt „ D o r f 4 die sozialen Veränderungen der größeren Einheit Land und Stadt wie ein feiner Seismograph anzeige. Daher wurde mit der Bestandsaufnahme der Institutionen vor Ort, wie der Kirche, Schule und Gemeindeverwaltung, welche Siedlungsformen, Hausbau, Brauch und Vereinsleben aus der Mikroanalyse nicht ausschloss, nicht mehr die dörfliche Idylle registriert, sondern die Realität der sozialen Lebenswelt, also der Alltag, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Epochale Zäsuren, durch Mechanisierung und Industrialisierung in der Landwirtschaft angedeutet, veränderten die Lebensformen der Kinder und Erwachsenen auf dem Dorf und führten in stadtnahen Randgemeinden zu einer Urbanisierung. Inwieweit dadurch die Identität mit dem Heimatort oder Wohnsitz erzeugt, neue Beziehungen aufgebaut bzw. alte gestört wurden, kann nur die empirische Erhebung verifizieren. Sie wird neben den einschlägigen archivalischen Quellen gerade biographische Daten, Statistiken und Unterlagen zu den Arbeits-, Berufsund Freizeitverhältnissen erfassen und auswerten. Diese Fakten sind eingebunden in ein Netzwerk

von Beziehungen,

das durch Verwandtschaft, Nachbar-

schaft, kirchliche und weltliche Gemeinde angedeutet wird und eigentümliche Sozialstrukturen entstehen lässt. Schlüsselbegriffe wie Bindung, Beharrung, Ablösung, Entfremdung, Mobilität und Identität werden in derartiger

Feldfor-

schung nicht fehlen. Sie halten ein Abbild ländlicher Lebensformen fest, das unterschiedliche Wahrnehmungen von Männern, Frauen und Institutionen etwa am Beispiel von „Beheimatung" und Ablösung, Entfremdung und Integration beschreibt. Der Alltag dient dabei als Folie, vor dem sich der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Wandel zeigt. I m Vergleich mit den erfassten Ergebnissen aus Dörfern einer ganzen Region, eines politischen Verwaltungsbezirks, wird der sprunghafte oder auch verzögerte Prozess der soziokulturellen Veränderung gültig bestätigt.

2. Auswandererforschung Auch die Migration ist ein Bereich volkskundlichen Forschens, das die Kombination unterschiedlicher Vorgehens weisen voraussetzt, um ein adäquates Ergebnis zu erreichen. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert kennen wir Binnenund Überseewanderungen. Sie erfolgten in Schüben und registrierten als treibende Kräfte die Sozialverhältnisse in unterschiedlichen Herrschaftsbereichen Europas. Dieses Phänomen verband sich mit der Abenteurerlust einzelner Personen und dem Willen, das „kleine Glück" in absehbarer Zeit zu erreichen. Der Drang nach politischer Freiheit, nach Mobilität und die Sehnsucht, sich von den Fesseln der Armut und bedrückender politischer Verhältnisse zu lösen, veranlassten gerade jüngere Menschen ländlicher Regionen i m nachbarschaftlichen Miteinander (Kettenwanderung) oder seltener als Einzelne, die Heimat zu ver-

170

Klaus Guth

lassen. Sie suchten vor allem i m Osten der Vereinigten Staaten bzw. in Südamerika (Brasilien) ihr Glück. Erhellung von Einzel- wie Gruppenwanderungen erfordert

Methoden der

Volkskunde wie der Geschichtswissenschaft. Letztere hat dafür eine Sonderdisziplin entwickelt. Die historischen Zeugnisse am Auswanderungsort wie für die Überfahrt wiederholen sich: Auswanderungsanträge bei der unteren Behörde, Nachweis der Ablösung von Verpflichtungen (durch Schulden und Militärdienst), Quittungen der bezahlten Fahrkarten für die Überfahrt, Eintrag in Passagierlisten am Einschiffungshafen, Spiegelung der Ankunft in Abbildungen, Briefen und Tagebüchern der Auswanderer, dazu Notizen in der lokalen Presse. In ihrer Vielfalt dokumentieren sie das Entstehen einer neuen Bevölkerungsschicht. Etwa 80 Prozent der bayerischen Auswanderer des 19. und 20. Jahrhunderts zog es in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada. Der Auswanderungsdrang setzte auf der Heimatseite einen Behördenapparat, Werbung aus Übersee (Plakate, Reiseberichte, Briefe) und Mundpropaganda voraus (pull-Faktoren). Vor allem aber wirkten die regionalen politischen und sozialen Verhältnisse als „push-Faktoren" und führten zur Auswanderung. I m Ausland angekommen, konnten nur Einzelne (z.B. Levi Strauss, „Erfinder" der Jeanshose, oder Eisenbahnkönig Henry Villard) eine Erfolgsstory schreiben. Die Mehrheit der Auswanderer sah sich gezwungen, etwa durch den „ V e r k a u f ihrer Arbeitskraft, die Kosten der Überfahrt zu begleichen oder sich eine ausreichende Existenz zu erwerben, indem sie den Zug von der Ostküste der U S A in den „ W i l d e n Westen" wagten. Die Volkskunde hat ihre liebe Mühe, Formen der Akkulturation oder der Assimilation vor Ort zu rekonstruieren. Über Zeitungen, Clubs, kirchliche Gemeinden, über zentrale amerikanische Einwanderer-Archive und Befragungen in den Einwanderungsorten (z.B. Frankenmuth/Michigan) können Spuren von Auswanderergruppen erfasst und der Prozess des Sesshaftwerdens in Einzelschicksalen festgehalten werden. Dabei setzt die volkskundliche Forschung stärker auf Ergebnisse durch die Mikroanalyse in einem begrenzten Feld als auf die Auswertung serieller Quellen. Sie verfolgt dabei die Stufen der „Verwurzelung" in der Fremde, sucht nach Faktoren der Identität in einer homogenen Auswanderergruppe aus einem Ort wie aus unterschiedlichen Dörfern oder beschreibt das Scheitern i m Phänomen der Rückwanderung. Die Identität einer Siedlergruppe äußert sich i m Erhalt der Muttersprache, der Lieder und der Erzählüberlieferung, i m Feiern der Feste, i m gemeinsamen Kirchgang, i m Brauchtum, i m Familienleben, in der Schule und Selbstverwaltung. Siedlungsformen, Kleidung und Hausbau erinnern zumeist in der ersten und zweiten Generation noch an die alte Heimat. Anpassung, teilweiser Erhalt oder Festhalten an hergebrachten Lebensformen zeigen i m Prozess der Generationenfolge Stufen der Akkulturation bis zur Integration oder Assimilation. Letzteres bedeutet den Verlust der

Zwischen Heimat und Welt

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kulturellen Identität einer Gruppe, auch wenn Einzelfamilien noch verwurzelt in ihrer hergebrachten kulturellen „Heimat" leben.

3. Wallfahrtswesen Die kulturelle Einheit, die Lebenswelt einer Auswanderergruppe, ist weder an politische noch an landschaftliche oder herrschaftliche Grenzen gebunden. Siedlungsbewegungen in der europäischen Geschichte, wie etwa die deutschen Siedlungen in Territorien des europäischen Ostens und Südostens, waren deshalb von längerer Dauer, weil sie i m Verband vor Ort als Großgruppe ihre politische und kulturelle Einheit bewahrten und die Verbindung zum Herkunftsland aufrecht erhielten. Zugleich bildete das Hl. Römische Reich deutscher Nation gerade an den Grenzen einen Vielvölker-Staat; auf der anderen Seite umfassten die Habsburger Länder unterschiedliche Territorien und Kulturen in einer Herrschaft. Die kulturelle Vielfalt Osteuropas bereicherte die habsburgische Herrschaft gerade in der Neuzeit ihrer Geschichte. Das politische System der Habsburger Lande wurde aber ebenso durch die überwiegend konfessionell einheitliche Kultur vor allem des Barocks stabilisiert. A m Beispiel Grenzen überschreitender Wallfahrtsstraßen

und Wallfahrtszüge

mit gleichen

kirchlichen

Brauchformen und liturgischen Handlungen offenbaren sich Boten einer universalen barocken Kultur.

Sie können bereits als Zeichen vorweggenommener Glo-

balisierung gedeutet werden. Wallfahrtskultur in unterschiedlichen europäischen Ländern und Orten zu erforschen, ist ein altes und wieder modernes Anliegen der Volkskunde/Europäischen Ethnologie. Religiöse Kultur bündelt i m Anliegen der Forschung das Bestreben, die unterschiedlichsten Formen der Analyse von Objekten, Handlungen und Bräuchen, von religiöser Literatur, Abbildungen und Andachtsgegenständen einem Ziel unterzuordnen, eben Wallfahrt als Gesamtkunstwerk zu interpretieren. Sie erfasst i m epochalen Zugriff eigentümliche Objekte, Instrumente und Mentalitäten. Sie charakterisiert Höhepunkte konfessioneller Kultur einer Epoche und „verortet" an großen und kleinen Wallfahrtszentren die Einheit einer universalen Religion und Kultur. Sie kann aber auch den Rückgang oder den Wandel der Mentalität der Teilnehmer und neue religiöse Inhalte in der alten Form des „Unterwegs-Seins" registrieren. Wallfahrt als Forschungsanliegen fordert die Kombination aller volkskundlichen Verfahrensweisen. Das Ergebnis der Inventarisierung der Objektkultur, d.h. der kirchlichen Räume, des Gnadenbildes, der Requisiten auf dem Weg (Fahnen, Standarten, Stäbe, Tafeln, Vortragskreuze) verlangen nach historischer, kunsthistorischer wie volkskundlich-funktionaler Bestimmung. Legendenbilder, Votivgaben (aus Edelmetall, Eisen, Wachs und Holz), Andachtsliteratur, Mirakelbücher u.a.m. sind Teil einer religiösen universalen Kultur. In den Handlungen (im Opfern,

172

Klaus Guth

Berühren, Umschreiten, Bitten und Danken) am Gnadenbild (Gnadenort), i m sogenannten Votivbrauchtum, offenbaren sich kollektive wie individuelle mentale Einstellungen. Sie sind nur über unterschiedliche Vorgehensweisen der Befragung am Gnadenort oder auf dem Weg zum Wallfahrtszentrum zu erfassen. Die Gegenwart der Bildstöcke und der Wege in der Landschaft wurzelt in der Geschichte. Wallfahrten verweisen meist auf traditionelle Wallfahrtsgelöbnisse eines Fürsten und seines Landes, oder auf die einer Stadt bzw. eines Dorfes. Wallfahrer haben unterschiedliche Motive und Anlässe, sich auf den Weg zu machen; Wallfahrtszüge erinnern an spätmittelalterliche, barocke oder moderne Ursprünge und Formen. Wallfahrer werden durch gleiche menschliche Grundbedürfnisse geeint: eben zu loben, zu danken, zu bitten und zu sühnen; diese führen die Wallfahrer in geregelten Ablaufformen zu Gnadenorten in der Nähe oder in der Ferne. I m gleichen Glauben verehren und bitten sie am Gnadenort Heilige, die Mutter Gottes oder Christus um Hilfe. Wallfahrtskultur offenbart ein komplexes Gebilde. Selbst in der Bus-Wallfahrt zu europäischen Wallfahrtszentren verdeutlicht sie die temporäre

Einheit

einer religiösen Lebenswelt aus dem Glauben. Sie zeigt vorübergehend die mögliche Tiefe persönlicher Identität mit sich selbst und bestätigt Formen der Vergemeinschaftung einer Gruppe, trotz unterschiedlicher Herkunft,

Bildung

und verschiedenen Geschlechts. Ist sie eine Form der Beheimatung und Sinnerfüllung auf Zeit? Der historisch und sozialwissenschaftlich interessierte Volkskundler wird dabei auch die wirtschaftlichen und touristischen Aspekte vor Ort und unterwegs nicht aus den Augen verlieren. Aber das wäre schon ein neues Thema.

4. Fest- und Brauchkultur

- statt eines Rückblicks

Volkskunde/Europäische Ethnologie als eine Wissenschaft von der Alltagskultur erfordert

unterschiedliche Zugriffe,

Verfahrensweisen

und Methoden.

Durch sie werden erst klar abzugrenzende Forschungsfelder in der Erzähl-, Objekt- und Brauchkultur erschlossen. Diese können miteinander bereits in der Problemstellung verschränkt werden oder ganz neue Sonderforschungsbereiche bilden. I m Rahmen der Brauchkulturforschung sind Alltag und Fest das Feld, auf dem soziales Tun in Gemeinschaft sich nach traditionellen oder neuen Formen vollzieht. Durch überlieferte Arbeitsformen kommunizierten i m Beispiel von Erntebräuchen die Menschen rhythmisch miteinander und erreichten i m Gleichklang der Sensen und Lieder ein gemeinsames Ziel. Das Brauchtum vom Anfang und Ende bei der Ernte, beim Hausbau (Grundsteinlegung, Richtfest) oder i m Umkreis der großen Zäsuren des menschlichen Lebens, eben bei Geburt, Hochzeit und Tod, kennt rituelle,

brauchtümlich-traditionelle und neue

Handlungsabläufe. Auch wenn der Brauchapparat dabei oft folkloristisch erstarrt, erinnert er in seinen Feier-, Trauer- und sinnenfällig fröhlichen Aus-

Zwischen Heimat und Welt

173

drucksformen an die Hinfälligkeit menschlichen Daseins, an Abschied und Verlust, doch ebenso auch an Freude und Dank über und für das Geschenk des Lebens. Hochzeitsbräuche feiern die ambivalente Kraft der Liebe, die ein gemeinsames Leben wagt. Ob Jahres- oder Lebenslaufbräuche, ob konfessionelle Riten oder Sonderbräuche, ob Familienfeste oder öffentliches Feiern, sie spiegeln in allen Phasen die Vielfalt des Lebens i m Kleinen wie i m Großen. Das Fach kennt unterschiedliche Zugänge, sich dem „Brauchleben" wissenschaftlich zu nähern. Der phänomenologische Ansatz (Josef Dünninger) deutet dabei das Brauchgeschehen stärker vor dem Hintergrund der Tradition, der Verortung in Raum und Zeit, des Ablaufs und der selbstverständlichen Akzeptanz durch Sinngebung. I m kommunikativen Aspekt (Ingeborg Weber-Kellermann) werden Bräuche als Zeichen interpretiert, in denen sich das gesellschaftliche Leben von Gruppen ausdrückt. Sie sind ein Teil des (kulturellen) Kommunikationsprozesses in der sozialen Gruppe. Der von der Handlungstheorie geleitete Zugang versteht Bräuche als soziale Kontrolle, als sozialen Zwang innerhalb der Brauchträgergruppe. Bräuche stabilisieren das Leben der Trägerschicht i m Ablauf der normierten Handlung (Martin Scharfe). Doch lassen wir es mit dieser Positionierung bewenden. Sie kann den Blick für das Gesamtphänomen Brauch nur schärfen, auch wenn in gegenwärtiger Mediengesellschaft gerade die Schauseite öffentlicher Bräuche von der Politik instrumentalisiert wird. Doch auch Missbrauch verdeckt nicht den Sinn. Bräuche gestalten menschliches Zusammenleben in tradierten und neuen Formen. Sie ermöglichen die Identitätssuche und kulturelle Selbstdarstellung der Bevölkerung vor Ort. Indem Bräuche Erinnerung gestalten oder Zäsuren i m menschlichen Leben ausschmücken, entsprechen sie dem humanen Grundbedürfnis, innezuhalten und den Augenblick dem Ablauf der Zeit durch Gedenken, Danken und spielerisches Gestalten zu entreißen. Durch verstehbare Handlungen und eigentümliche Requisiten transportieren sie für Zuschauer und Akteure Symbole und deutbaren „Eigen-Sinn". So sind festliche Brauchhandlungen neben Erzählen, Singen oder Spielen, die andere Seite menschlichen Lebens. Sie erleichtern die Freude am Dasein wie so viele andere „schöne Dinge" i m täglichen Leben. Gerade die Synthese des „ W i e " , also wie man lebt, bestimmt nach Martin Heidegger 4 die „Alltäglichkeit" menschlichen Daseins. U m „schöne Dinge" kümmerte sich die Volkskunde seit ihren Anfängen. I m Kosmos der Anforderungen an die Volkskunde als Wissenschaft überwiegen heute andere Themen. Sie entstammen den sozialen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Wirklichkeiten. Durch sie werden in der M o derne Strukturen vergangener oder gegenwärtiger Alltagskultur bestimmt. Diese gestalten in der Gegenwart vornehmlich Forschungsfelder der Volkskunde/Europäischen Ethnologie. 4

Martin Heidegger,

Sein und Zeit, 9. Aufl., Tübingen 1960, S. 370 ff.

174

Klaus Guth Literatur

in Auswahl*

Brednich , Rolf Wilhelm: Quellen und Methoden. In: Ders. (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, Berlin 1988. Brückner , Wolfgang: Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Schriften, 12 Bde., Würzburg 2000-2002.

Gesammelte

Daxelmüller, Christoph: Zwischen Biergarten und Internet. Heimat in einer globalisierten Welt. In: Bayerische Blätter für Volkskunde. NF 3 (2001/2), S. 131-165. Gerndt , Helge: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten, München 1981, 1986. -

Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen, Münster u.a. 2002 (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 31).

Götsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2001. Guth , Klaus: Volk. Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung in gegenwärtiger Volksforschung. In: Ders.: Kultur als Lebensform. Aufsätze und Vorträge. Bd. I: Volkskultur an der Grenze. Beiträge zur Volkskunde, Kultur- und Sozialgeschichte, St. Ottilien 1995, S. 15-26. -

Volkskultur des Alltags? Anfragen an Kategorien der Volkskunde. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. I, ebenda, S. 37-47.

-

Über den Umgang mit Kultur. Eine Einführung. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. I., ebenda, S. 49-55.

-

Alltag und Fest. Aspekt und Probleme gegenwärtiger Festkulturforschung. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. I, ebenda, S. 59-74.

-

Wanderungsbewegungen in und aus Franken im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. I., ebenda, S. 407-431.

-

Die Wallfahrt - Ausdruck religiöser Volkskultur. Eine vergleichende phänomenologische Untersuchung. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. I, ebenda, S. 271-289.

-

Wallfahrten im Christentum. Zur Kulturgeschichte, Phänomenologie und Theologie eines religiösen Brauches. In: Ders.: Kultur als Lebensform. Aufsätze und Vorträge, Bd. II: Kontinuität und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Kultur-, Bildungsgeschichte und Volkskunde, St. Ottilien 1997, S. 281-289.

-

Geschichtlicher Abriss der marianischen Wallfahrtsbewegungen im deutschsprachigen Raum. In: Handbuch der Marienkunde, hg. von Wolfgang Beinert und Heinrich Petri, Bd. II, 2. Aufl., Regensburg 1997, S. 321^148.

* Die im Text vorgestellten Positionen der Volkskunde werden vom Verf. in seinen Einzelarbeiten belegt (s. Literaturverzeichnis). Diese sind in Fachzeitschriften erschienen, neuerdings in den Bänden „Kultur als Lebensform" (1995 und 1997) gesammelt herausgegeben.

Zwischen Heimat und Welt -

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Über die Alltäglichkeit von Kultur. Annäherungen an eine ganzheitliche Kategorie in gegenwärtiger Kulturforschung. In: Ders.: Kultur als Lebensform, Bd. II, ebenda, S. 385-394.

Harvolk , Edgar (Hg.): Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch, München/ Würzburg 1987. Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie, München 1999. Menne, Albert: Einführung in die Methodologie, Darmstadt 1980. Roth, Elisabeth: Heimat. Beiträge zur Neubesinnung, Bamberg 1990.

Verfassungsauslegung und meta-konstitutionelle Interpretationsreserven Von Matthias Herdegen

I. Die Verfassungsauslegung als Problem der Gewaltenbalance Die methodische Rückbindung der Verfassungsinterpretation 1 ist eine Kernfrage des demokratischen Verfassungsstaates. Sie prägt die Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit oder eines anderen autoritativ entscheidenden Verfassungsinterpreten gegenüber den anderen Organen der Staatsgewalt, insbesondere gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber. Die Weite der Verfassungsinterpretation bestimmt auch die Elastizität der Verfassungsordnung und die Möglichkeit der schleichenden Verfassungsänderung durch Auslegung. Auch in der deutschen Verfassungsordnung mit ihrer beispiellosen „Konstitutionalisierung" des gesamten Rechts lässt das Wechselspiel zwischen methodischer Bindung und Flexibilität kaum Konstanten erkennen. 2

II. Interpretationsreserven als Katalysator dynamischer Verfassungsauslegung Ihre Dynamik schöpft die Verfassungsinterpretation aus Interpretationsreserven, die weit über den Text einzelner Verfassungsnormen und die Systematik des verfassungsrechtlichen Gefüges hinausweisen. Die Spannbreite der Verfassungsinterpretation der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Ländern entfaltet sich zunächst durch die Inanspruchnahme verfassungsimmanenter Aus1 Hierzu E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 ff.; R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: ders. (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 ff.; H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff.; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, Festgabe 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 333 ff.; Starch, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, 1992, § 164; P. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff. 2 Hierzu P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, Festgabe 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 333 ff.

12 FS Hablitzel

Matthias Herdegen

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legungsdirektiven. Hierzu gehört neben den Staatsziel- und Strukturbestimmungen vor allem die Deutung der Verfassung, insbesondere des Grundrechtskatalogs als „Wertordnung" 3 . Dabei hat die wertende Relation zwischen Verfassungswerten bereits eine stark meta-juristische Dimension, soweit es um das relative Gewicht in Abwägungsprozessen geht 4 . Eine geradezu explosive Ausweitung erfährt der Kreis der Auslegungsparameter durch meta-konstitutionelle Interpretationsreserven, d. h. durch Maßstäbe, deren Entstehung und Inhalt außerhalb der Verfassungsordnung liegt. Zu diesen meta-konstitutionellen Interpretationsreserven gehören: - völkerrechtliche Standards, - die Rechtsvergleichung, - das Selbstverständnis der die verfasste Gemeinschaft prägende Geschichte, - die Empirie und schließlich, - das Menschenbild des Interpreten. Die meta-juristische Prägung gibt der Mobilisierung solcher Maßstäbe bei der Verfassungsinterpretation eine kaum zu überschätzende Brisanz. Dabei liegt die Gefahr einer ins Beliebige abgleitenden Verfassungsexegese auf der Hand. Die hermeneutische Leistungsfähigkeit meta-konstitutioneller Standards hängt an zwei Bedingungen: (1) einer verfassungsimmanenten Brücke zwischen diesen Maßstäben und der Verfassung und (2) einer hinreichenden Objektivierbarkeit.

I I I . Völkerrechtliche Standards Unter den außerverfassungsrechtlichen Wertmaßstäben liefern universell oder zumindest regional anerkannte Standards ein Höchstmaß an Transparenz und intersubjektiver Vermittelbarkeit. Dies rechtfertigt es, dass Grundrechte und Verfassungsprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip i m Lichte menschenrechtlicher Entwicklungen (insbesondere i m Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs) konkretisiert werden. Für das Grundgesetz liefert die Vorschrift des Art. 1 Abs. 2 GG hierfür eine eigene normative Brücke. 5 A u f der anderen Seite liefern völkerrechtliche Standards eine unzureichende Basis für die Durchbrechung strikt formaler Garantien (wie dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot) i m Dienste der Vergangenheitsbewältigung von Geschehnissen unter einer fremden Staatsordnung. 6 3

Grundlegend BVerfG 7, 198 (205). Zu diesem Problem jüngst U. Di Fabio, Grundrechte als Wertentscheidungen, JZ 2004, S. 1 ff. 5 Hierzu M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 1 Abs. 2, Rdnr. 1. 4

Meta-konstitutionelle Interpretationsreserven

179

Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts rekurriert bei der Verfassungsauslegung immer wieder auf die Europäische Menschenrechtskonvention 7 . Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass das Bundesverfassungsgericht auch den „Entwicklungsstand" der Konvention i m Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt 8 . Dass das Bundesverfassungsgericht

seine Rechtsprechung

(zur

Feuerwehrabgabe)

unter dem Eindruck einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs

für

Menschenrechte geändert hat 9 , ist ein weiterer Beleg für einen „osmotischen" Prozess

zwischen

Verfassungsgerichtsbarkeit

und

gerichtlichem

Menschen-

rechtsschutz. Die Verfassungsrechtsprechung vieler Länder Lateinamerikas, etwa von Costa R i c a 1 0 und Kolumbien, nimmt in erheblichem Umfang auf menschenrechtliche Gewährleistungen Bezug, wie sie sich etwa aus der amerikanischen Menschenrechtskonvention ergeben. Die normative Grundlage hierfür liefern namentlich Verfassungsbestimmungen, die menschenrechtlichen Verträgen einen besonderen Rang in der Normenhierarchie oder bei der Verfassungsinterpretation

einräu-

men. 1 1 Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von Costa Rica haben menschenrechtliche Verträge wie die amerikanische Menschenrechtskonvention sogar Überverfassungsrang 12 . Der Verfassungstext von Costa Rica bietet dabei keine sich dem unbefangenen Betrachter ohne weiteres erschließenden „Brücke" für diesen gesteigerten Geltungsrang von Völkervertragsrecht. Allerdings gibt es gerade in Lateinamerika rational fassbare (aber eben doch metakonstitutionelle) Gründe für die Reverenz vertraglicher Standards zum Menschenrechtsschutz: Hierzu gehört einmal die nicht selten anzutreffende Konturenarmut von Grundrechten. Z u m anderen hat der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof in recht mutiger Manier bei Verstößen von Verfassungsrecht gegen

die

Amerikanische

Menschenrechtskonvention

Pflicht zur Verfassungsänderung

die

daraus

folgende

angemahnt 1 3 und sogar konventionswidrige

Gesetze für nichtig erklärt 1 4 .

6

Vgl. BVerfGE 95, 96 (Mauerschützen). BVerfGE 35, 311 (320); 74, 358 (370); 94, 115 (136 f.). 8 BVerfGE 74, 358 (370); jüngst BVerfG, EuGRZ 2005, S. 741 (746 ff.). 9 BVerfGE 92, 91. 10 Siehe etwa Verfassungssenat des Obersten Gerichts von Costa Rica, Urteil Nr. 1739-92 zum fairen Verfahren. 11 Siehe etwa Art. 25 Abs. 2 der Verfassung von Griechenland; Art. 2 der Verfassung von Italien; Art. 11 Abs. 3 der Verfassung von Luxemburg; Art. 23 Abs. 2 der Verfassung von Kolumbien; Art. 16 Abs. 2 der Verfassung von Portugal; Art. 5 der Verfassung von Polen; Art. 10 Abs. 2 der Verfassung von Spanien; Art. 19 der Verfassung von Venezuela. 12 Urteil 3435-92 zur Diskriminierung im Staatsangehörigkeitsregime der Verfassung. 7

12*

180

Matthias Herdegen

Die Leistung völkerrechtlicher Parameter bei der Verfassungsinterpretation liegt auch darin, dass sie dem auch heute noch gängigen Rückgriff auf naturrechtliche Vorstellungen die Grundlage entzieht, die höchst subjektive Wertungen zur Geltung bringen. Diese naturrechtlichen Vorstellungen entfalten in einer pluralistischen Gesellschaft mit einer unübersehbaren Fülle religiöser und weltanschaulicher Vorstellungen eine nicht mehr beherrschbaren Sprengkraft. Wer etwa aus einem überpositiven Menschenbild Gewissheiten für den Schutz der Menschenwürde schöpfen w i l l , setzt entweder das eigene Menschenbild einschließlich aller subjektiven Ableitungen absolut oder ignoriert die soziale Wirklichkeit mit all ihren rivalisierenden Ansprüchen an überzeitliche Wahrheiten. I m Übrigen sind die menschenrechtlichen Standards, wie sie sich aus dem Völkergewohnheitsrecht und universellen oder regionalen Verträgen ergeben, längst schärfer profiliert als naturrechtliche Postulate.

IV. Rechtsvergleichung Der rechtsvergleichende Befund erlaubt über das Medium der richterlichen Entscheidungspraxis einen „osmotischen" Austausch unter Verfassungsordnungen vergleichbarer Entwicklungsstufe. 1 5 Vor allem Verfassungssätze, die leicht subjektive Wertungen zu mobilisieren drohen (wie die Garantie der Menschenwürde), verdanken dem rechtsvergleichenden Diskurs konturenschärfende Einsichten. 1 6 Umgekehrt unterliegt etwa das Postulat eines genuin deutschen Verständnisses von Menschenwürde einem gesteigerten Begründungszwang. Gerade durch Abstützung in unterschiedlichen rechtlichen „Biotopen" und die Vielzahl einzelfallgestützter Analysen birgt der rechtsvergleichende Befund ein beachtliches „Verifikationspotential". Bemerkenswert ist, dass selbst ein traditionell eher binnenorientiertes Gericht wie der amerikanische Supreme Court in neuerer Zeit zunehmend rechts vergleichend argumentiert. 1 7 Ebenso bemerkenswert ist eine Initiative i m amerikanischen Kongress, die i m rechtsvergleichenden Rekurs eine Bedrohung für die Eigenständigkeit richterlicher Interpretation und eine Gefahr für die Unabhängigkeit der amerikanischen Richter sieht.

13 IAGMR, 5. Februar 2001, Serie С No. 75 - La Ultima Tentation de Cristo; hierzu M. Gomez Perez , Anuario de Derecho Constitutional Latino Americano 2002, S. 361 ff. 14 IAGMR, Chambipuma Aquirre ./. Peru, I L M 4 [2002], S. 93 - Barrios Altos. 15 Zur rechts vergleichenden Methode etwa P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. 16 Hierzu M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 39 f. 17 Rezeption der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Entscheidung Supreme Court of the United States vom 26. Juni 2003, 539 U.S. {Lawrence et al. v. Texas).

Meta-konstitutionelle Interpretationsreserven

181

V. Das Selbstverständnis der die verfasste Gemeinschaft prägende Geschichte Jede Verfassung ist auch Reaktion auf geschichtliche Erfahrungen der rechtlich verfassten Gemeinschaft, wie die Präambeln der meisten Verfassungen bekunden. A u f das Trauma der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft rekurriert die Auslegung des Grundgesetzes vor allem beim Grundrechtsschutz des Lebens 1 8 und bei modal ausgeformten Tabus i m Lichte der Menschenwürde 1 9 . Die „Brücke" zum geschichtlichen Erfahrungshorizont als Auslegungsparameter schlagen hier neben der Präambel die Beratungen des Parlamentarischen Rates. Auch die unter der Geltung einer Verfassung gemachten Erfahrungen sind eine legitime Interpretationsreserve jenseits der genetischen Auslegung. Die Leistungskraft dieser historischen Anschauung hängt ganz an der Nähe zum jeweiligen Normgehalt und den jeweiligen Begründungszusammenhängen, in die eine Auslegung gestellt wird. Die größte Überzeugungskraft entfaltet eine historisch gestützte Auslegung dort, wo die Verfassungsexegese unmittelbar der Wiederkehr bestimmter traumatischer Vorgänge wehrt. Generalisierende Schlüsse aus der Vergangenheit bedürfen besonderer Begründung. Das Ende eines tragfähigen historischen Begründungszusammenhanges ist dann erreicht, wenn bei einer Zweck-Mittel-Relation die Finalität i m modernen Rechtsstaat ganz ausgeblendet wird und nur auf den möglichen Missbrauch einer staatlichen Kompetenz abgestellt wird.

VI. Empirie Die Empirie, das heißt die falsifizierbare Annahme von Wirkungszusammenhängen liefert zwar keine Letztbegründungen. Sie sichert aber die verlässliche Überprüfung

deduktiver Zwischenschritte.

So rechtfertigt

der erfahrungsge-

stützte Zusammenhang zwischen der Unabhängigkeit von Zentralbanken und einer stabilitätsorientierten Währungspolitik für sich allein noch keine Durchbrechung des Demokratieprinzips. 2 0

Dieser Zusammenhang liefert

aber die

Brücke zwischen der Durchbrechung des Demokratieprinzips i m Interesse der Währungsstabilität

(wertende Abwägung) einerseits und der

Rechtfertigung

einer unabhängigen Zentralbank mit dem Interesse an einer stabilen Währung (empirischer Konnex) andererseits.

18 BVerfGE 39, 1 (36 f.) - zur Abtreibung; siehe auch BVerfGE 18, 112 (117) zur Auslieferung bei drohender Todesstrafe; BVerfGE 39, 1 (36 f.). 19 M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 36 m. w. Nachw. 20 BVerfGE 89, 155 (208 f.).

Matthias Herdegen

182

VII. Der Rekurs auf ein bestimmtes Menschenbild Ein Höchstmaß an Vorsicht ist bei dem Versuch geboten, für die Verfassungsinterpretation ein bestimmtes Menschenbild fruchtbar zu machen. Die Verfassung des freiheitlichen Rechtsstaates zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und der Entwicklung eines eigenen Lebensentwurfes nicht durch ein in sich geschlossenes Menschenbild vorgreift. Auch das Menschenbild des Grundgesetzes ist daher notwendig blass. 2 1 A l l e Versuche einer schärferen Konturierung laufen in das Netz subjektiv gefärbter, weltanschaulich oder religiös geprägter Wertvorstellungen, in denen die Distanz zwischen verfassungsrechtlich verbürgter Freiheit und ethischer Verhaltenserwartungen aufgehoben i s t . 2 2 Ihre Weisheit zeigt die Selbstbeschränkung des Interpreten bei der Mobilisierung seines eigenen Menschenbildes etwa bei aktuellen Auseinandersetzungen über die Menschenwürdeimplikationen bestimmter Aspekte der modernen Biomedizin oder religiöse Symbole wie das islamische Kopftuch, das die einen als würdebewahrenden Schutz der Frau und andere als Kampfansage an das freie Menschenbild mit freiem Antlitz deuten. Gerade die Sorge vor der Instrumentalisierung des (Verfassungs-)Rechts für individuell konstruierte Weltbilder hat letztlich den Parlamentarischen Rat davon abgehalten, sich ausdrücklich zu naturrechtlichen Vorstellungen zu bekennen 2 3 . Der Aussprache i m Parlamentarischen Rat zum Bekenntnis zu überpositiven Rechten und GerechtigkeitsVorstellungen und die Gefahr subjektiver Deutungsmuster haben neuere Debatten, etwa zu einem überpositiven Verständnis der Menschenwürde als Grundlage der Verfassungsauslegung, nichts an Substanz hinzugefügt. Dieser Verzicht auf Verfassungsauslegung nach überpositiven Vorstellungen muss all diejenigen Exegeten schmerzen, die i m hinter dem Verfassungstext die Verankerung meta-juristischer Gehalte sehen, mit denen sie sich identifizieren und die sich letztlich nur für einen bestimmten Anschauungshorizont zuverlässig erschließen. Aber eben die Deutung der Verfassung als positives Recht schützt die Verfassungsauslegung davor, zum Kampfplatz unterschiedlicher Menschenbilder der Verfassungsexegeten zu werden.

21 BVerfGE 4, 7 (15 f.): „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." 22 Eindrücklich zu diesem Gegensatz im Zusammenhang mit dem Verbot des Selbstmords Verfassungsgericht von Kolumbien, sentencia C-239 (1997). 23 JöR n.F. 1 (1951), S. 48 f.

Meta-konstitutionelle Interpretationsreserven

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V I I I . Ausblick Auch für den Verfassungsinterpreten gilt die berühmte Wendung von Benjamin Cardozo zur Zeitgefangenheit des Richters: „The great tides and currents which engulf the rest of men do not turn aside in their course and pass the judges b y . " 2 4 Analytische Erkenntnisphilosophie und Psychologie lehren uns immer wieder, wie unsere Wahrnehmungen der objektiven Wirklichkeit von der Brille unserer subjektiven Vorverständnisse und dem eigenen Erfahrungshorizont

abhängig

sind. U m so mehr muss das Bewusstsein für die subjektive Färbung der Wahrnehmung beim Umgang mit dem Verfassungstext als einer rein normativen Realität gelten, der überhaupt erst durch die intersubjektiv vermittelbare Deutung Leben gewinnt.

24

B. Cardozo , The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 168.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus („Elagabal") Von Manfred Just

I. Zugehörigkeit zum „Horrorkabinett"? I m „Horrorkabinett" der römischen Kaisergeschichte der bis zur Mitte des 3. Jhs. n. Chr. Geb. reichenden klassischen Zeit bildet der junge Kaiser Marcus Aurelius Antoninus 1 , den die Historiographie seit jeher mit Rücksicht auf seine Stellung als oberster Priester des Baal von Emesa „Elagabal" 2 nennt und der mit knapp 17 Jahren 218 inauguriert, i m 18. Lebensjahr 222 umgebracht wurde, die Schlussfigur in der Reihe der der damnatio memoriae verfallenen Kaiser Gaius („Caligula"; geb. 12; reg. 37-41), Nero (geb. 37; reg. 54-68), Domitian (geb. 51; reg. 81-96) und Commodus (geb. 161; reg. 180-192). Doch diese Einordnung des Elagabal ist objektiv in keiner Weise gerechtfertigt. Sie beruht auf der nachhaltigen, hasserfüllten Verleumdung in der antiken Geschichtstradition.

1. Caligula,

Nero

Caligula, i m Alter von 25 Jahren inauguriert und 4 Jahre später beseitigt, war gewiss ein Fall für die geschlossene Psychiatrie. Seine Beseitigung war eine für den Staat folgenlose nur auf Rom bezogene „innerstädtische Angelegenheit". Ganz anders lag der Fall bei Nero, der von ungleich schwererem Kaliber als Caligula war. Nero, mit 17 inauguriert und erst 14 Jahre später beseitigt, war nicht nur ein „Verrückter", sondern ein - wenn auch exaltierter - Gangster, ein veritabler Verbrecher, der sich mit einer Gruppe gleichgesinnter Banditen sukzessiv der Staatsgewalt bemächtigte und dann, gestützt auf die Elitetruppe der Prätorianer, den Staat und die Gesellschaft Roms so lange terrorisieren konnte, bis es schließlich selbst dem Militär und den mächtig gewordenen Statthaltern 1

Vgl. zu ihm Lamberti, Art. Varius Nr. 10, Pauly-Wissowa RE (= Real Encyclopädie) V I I I A 1 (1955) Sp. 391^-04. Bengtson, Grundriss der römischen Geschichte, München, 2. Aufl. 1970, 374 f.; Pietrzykowski, Die Religionspolitik des Kaisers Elagabal, in: Temporini/Haase, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, II. Prinzipat; Bd. 16, 3, Berlin/New York 1986, 1806-1825. 2 Von Elah-Gabal = der Gott des Berges; die Bezeichnung „Heliogabalus" für den Kaiser folgte aus der auf einem Missverständnis beruhenden Gleichsetzung mit dem Kult des Sol invictus; s. Lamberti (Fn. 1) 393.

186

Manfred Just

in den Provinzen zu viel wurde. Neros Beseitigung - und darin liegt seine eigentliche nachhaltige, freilich negative Bedeutung für das römische Staatswesen - erfolgte durch den Zugriff aus der Provinz. Dabei handelte es sich nicht mehr um eine auf Rom beschränkte interne Angelegenheit, sondern es wurde ein erstmals in der Kaiserzeit - Italien und die Provinzen erfassende zweijährige Staatskrise ausgelöst.

2.

Domitian

Aus anderen Wurzeln erwuchs das Schreckensregiment des Kaisers Domitian, der erst i m reifen Alter von 30 Jahren an die Macht kam. Ihm fehlten das praktische Geschick des Vaters Vespasian und die Überlegenheit seines Bruders Titus. Argwohn, Misstrauen und Heimtücke motivierten sein Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Er war eine wahrer Tyrann, ein antiker Vorläufer Stalins. Seine Beseitigung nach 15jähriger Herrschaft blieb, da er beim Militär nicht unbeliebt war, nur dank des Geschicks des vom Senat inaugurierten Nachfolgers Nerva gegenüber dem Militär eine kurze, folgenlose Krise.

3. Commodus V i e l schlimmer waren Regierung und Ausgang des Kaisers Marcus Aurelius Commodus (Antoninus), der mit 19 Jahren inauguriert und nach 12 Jahren Herrschaft beseitigt wurde. Ausgerechnet der Sohn und gewünschte Nachfolger des noch heute wegen seines unbedeutenden philosophischen Erbauungsbüchleins „Eis heauton" hochverehrten Kaisers Marcus Aurelius (Antoninus) verursachte die schwerste Erschütterung des römischen Staates in der klassischen Kaiserzeit. Commodus - hierin L u d w i g II. von Bayern nicht unähnlich - interessierte sich nicht für die Führung der Staatsgeschäfte. Die überließ er zwölf Jahre lang seinen nicht zimperlichen Prätorianerpräfekten Publius Taruttienus Paternus, Sextus Tigidius Perennis (er war der gnadenloseste Henker) und Marcus Aurelius Cleander, die ein Schreckensregiment entfalteten, das alles bisher Erlebte - Sejan unter Tiberius eingeschlossen - weit in den Schatten stellte. Die gesamte Führungsschicht des damaligen Staates wurde liquidiert; einzelne Persönlichkeiten - wie Lucius Septimius Severus - hatten Glück und wurden in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet. Die berühmtesten Juristen der späten Hochklassik aus der Zeit des Marcus Aurelius sind spurlos aus der Geschichte verschwunden. Es handelte sich hier um „Säuberungen", wie sie die Sowjetunion in den dreißiger Jahren des 20. Jhs. erlebte. Vor diesem Geschehen steht man fassungslos und fragt sich: Wie konnte der so sorgfältig von Hadrian und Antoninus Pius erzogene und auf das kaiserliche A m t vorbereitete Vater, der Kaiser Marcus Aurelius, einem so jungen, unausgebildeten Mann in der damaligen Krisenzeit den Staat ausliefern, der längst nicht mehr als Privatsache, son-

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

187

dem als dienstliche Pflicht des Kaisers verstanden wurde? Die Beseitigung des Commodus löste denn auch die schwerste - Rom, Italien sowie die Provinzen in Ost und West erfassende - Erschütterung des Staates aus, der schon damals 200 Jahre vor der endgültigen Spaltung - in zwei Teile (West- und Ostreich) zu zerbrechen drohte. Der Nachfolger Lucius Septimius Severus, Elagabals Großonkel, brauchte vier Jahre, bis der letzte „Separatist 4 ' beseitigt war. 4.

Elagabal

Wie wir nun sehen werden, war der „ F a l l " des Elagabal ganz anders gelagert: die innenpolitischen Gegner wurden nicht - gemessen an den damaligen Verhältnissen - überdurchschnittlich hart verfolgt; die Krise war eine ideologische i m profunden Sinne, eine i m Namen des Kaisers ausgelöste „Kulturrevolution"; die Beseitigung des Kaisers und seines Regimes war eine Angelegenheit, die den Bereich der Stadt Rom, ja, enger noch, des Palatins nicht überschritt. Das Reich wurde überhaupt nicht erschüttert. Dennoch überschüttete die damalige „öffentliche Meinung" und daran anknüpfend die spätere Historiographie den Kaiser und seine Anhänger mit einer Schmutzkampagne, wie sie den früheren Übeltätern nicht zuteil wurde. Das erweckt Misstrauen in die Motivation dieser Tradition. Als Quellen kommen in Betracht Cassius Dio, 78, 30-79; Herodian. 5, 3 - 8 ; Zonar. 12, 13 (Ρ I 615), 14 (Ρ I 616-618), Vict. Caes. 23, 1; und Hist. Aug. (Lampridius) Antoninus Heliogabalus; Alexander Severus (Capitolinus); Opellius Macrinus. Keiner dieser Historiographen kannte den Kaiser; keiner hat ihn jemals gesehen. Keiner hatte Einblick in die politischen Geschäfte. Diese Quellen beruhen auf Hören-Sagen aus dritter oder vierter Hand. Die sog. Quellen über die vier Jahre Amtszeit Elagabals erschöpfen sich in der Wiedergabe von angeblichen Skandalaffären um die Person des jungen Kaisers. Die mehrfachen Gründe dieser Verächtlichmachung sind offensichtlich: Die Historiker wollten damit insbesondere den syrischen Einfluss des Kaiserhauses, die intendierte Frauenemanzipation und die in Elagabal personifizierte orientalische Religion treffen. Zu diesem Zweck war ihnen offensichtlich keine Verleumdung und keine schmutzige Darstellung niedrig genug 3 .

3

s. Lamberti (Fn. 1) 403 f.

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II. Der Prinzipat des Elagabal 7. Leben vor dem Prinzipat a) Herkunft Elagabal ist der einzige Kaiser der klassischen Zeit, dessen Geburtsdatum (Ende 203 oder Anfang 204) und Geburtsort (Emesa, heute Horns, in Syrien 4 , oder Rom) nicht genau bekannt sind; auch dies ein Resultat der hasserfüllten damnatio memoriae. Vor seiner Proklamation als Kaiser hieß er Varius Avitus Bassianus. Er war der Sohn des Sextus Varius Marcellus, der aus dem Ritterstand hervorgegangen war und eine beachtliche Karriere i m Staat der Severer gemacht hatte, und der syrischen Prinzessin Julia Soemias Bassiana 5 . I m Folgenden ist nur noch deren Linie von historischem Interesse. Julia Soemias Bassiana und ihre Schwester Julia Avita Mamaea stammten aus der Ehe ihrer Mutter Julia Maesa 6 mit dem Senator Gaius Julius Avitus 7 . Julia Maesa war eine in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Severerzeit (1. Hälfte des 3. Jhs. n.) sehr einflussreiche Frau. Ihre Schwester war die Kaiserin Julia Domna, die um 184 den damals in den Ruhestand versetzten, späteren Kaiser Lucius Septimius Severus (geb. 146; reg. 193-211) geheiratet hatte. Aus der Ehe des Severus mit Julia Domna waren die späteren Kaiser Marcus Aurelius Antoninus („Caracalla"; geb. 186; reg. 211-217) und Publius Septimius Geta (geb. 188; reg. 211-212) hervorgegangen. Julia Domna und Julia Maesa waren die Töchter des syrischen Fürsten (Königs) und Baal-Oberpriesters von Emesa Julius Bassianus 8 . Elagabal war also bis zu seiner fiktiven Adoption, die 218 die agnatische Verwandtschaft begründete, mit dem Severer-Haus nur durch Verschwägerung verbunden. Eine auf Kognation beruhende Verwandtschaft gab es nie. Julia Maesas zweite Tochter Julia Avita Mamaea war mit Gessius Marcianus verheiratet. Aus dieser Ehe ging der Nachfolger Elagabals, der spätere Kaiser Marcus Aurelius Severus Alexander (geb. 208; reg. 222-235), hervor.

b) Erziehung Elagabal lebte bis zu seinem 13. Lebensjahr (217) in Rom am Hofe der Kaiser Severus und Antoninus, i m prächtigen Septizonium auf dem Palatin. Was er von den politischen Wirren der Endzeit des Severus und von dem Parteienkonflikt zwischen Antoninus und Septimius Geta miterlebt hat, ist nicht mehr fest-

4 5 6 7 8

So die h.M. in Anschluss an Ammian. 26, 6, 20; Lambertz (Fn. 1) 392. Cass. Dio 78, 30; Herodian. 5, 3. Stein, Art. Julia Nr. 579, RE X Sp. 940. Stein, Art. Julius Nrn. 105, 107, RE X Sp. 173, 174. Stein, Art. Julius Nr. 116, RE X Sp. 176.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

189

stellbar; wahrscheinlich nichts. Die erzieherische Aufsicht übten Mutter und Großmutter aus, möglicherweise auch die Großtante, die Kaiserin. Die Kaiser waren administrativ, politisch und militärisch viel zu beschäftigt. Sie haben sich mit Sicherheit nicht um die beiden Kinder aus der syrischen Nebenlinie gekümmert, die als einzige männliche Nachkommen des Severerhauses i.w.S. sehr bald zu wichtigen politischen „Instrumenten" werden sollten. Auffälligerweise haben der Vater und seine Linie sowie der Großvater mütterlicherseits und dessen Linie i m Leben des jungen Elagabal keine Rolle gespielt. Der i m römischen Familienrecht

dominierende

Grundsatz

der agnatischen Verwandtschaft

hat

jedenfalls faktisch, d.h. familiär und gesellschaftlich, keine relevante Bedeutung gehabt. Das sollte später politisch nicht ohne böse Folgen bleiben. Die syrische Nebenlinie hatte ihre Beziehungen zu Emesa nie abgebrochen. Der junge Elagabal war als nächster männlicher Erbe nach dem Urgroßvater Julius Bassianus Fürst (König) von Emesa und Oberpriester des Baal-Kults geworden; wahrscheinlich schon vor 218 9 . M i t dieser Herrschaft über das Fürstentum (Königreich) Emesa war ein sehr großes Vermögen verbunden, dessen Verfügungsbefugnis offensichtlich bei Julia Maesa lag. Sie hat davon dann auch für die Inauguration Elagabals nachhaltig Gebrauch gemacht. Ein schwerer Schlag für das severische Kaiserhaus war die Ermordung des 31jährigen Kaisers Antoninus „Caracalla" nach 6jähriger durchaus erfolgreicher Regierung i m A p r i l 217 i m nördlichen Mesopotamien durch die Prätorianergarde auf Betreiben des aus Mauretanien stammenden und aus dem Ritterstand hervorgegangenen 53jährigen Prätorianerpräfekten Marcus Opellius Macrinus, der sofort i m östlichen Truppenlager zum Kaiser proklamiert wurde und alsbald vom Senat bestätigt wurde. Noch i m selben Jahr verstarb die Kaiserin- Wit we Julia Domna. Damit war die Hauptlinie des severischen Kaiserhauses erloschen. Die nur durch die Verschwägerung über die Schwester der Kaiserin, Julia Maesa, vermittelte syrische Nebenlinie wurde aber durch die einzigen noch verbliebenen männlichen Mitglieder, Elagabal (13 Jahre alt) und Alexander (9 Jahre alt) repräsentiert. Der neue Kaiser Macrinus verkannte den Ernst der Lage völlig, als er großzügigerweise Julia Maesa, die von nun an faktisch die Familienchefin war, gestattete, mit der gesamten Familie, deren Personal und Anhängern in das heimatliche Emesa auszureisen. Dort erhielt Elagabal den Eutychianus (Gannys) als Erzieher; zugleich fand nun seine Weihe als sacerdos amplissimus dei solis Elagabali statt 1 0 ; eine Würde, die er auch später als Kaiser behielt.

9 10

Cass. Dio 78, 31, 1; Herodian. 5, 3 ff.; Pietrzykowski Herodian. 5, 3, 6; Lamberti (Fn. 1) 393 m.w.N.

(Fn. 1) 1814.

Manfred Just

190

с) Staatsreich Die Großmutter Julia Maesa betrieb alsbald von Syrien aus die Rückkehr des ehemaligen Kaiserhauses an die Macht. Sie versammelte die ehemaligen Anhänger - darunter auch die hochkarätigen und einflussreichen Spitzenjuristen Julius Paulus und Domitius Ulpianus. Z u diesem Zweck setzte sie das große Vermögen und den verbliebenen politischen Einfluss der Dynastie ein. Insbesondere nutzte sie das große Prestige, das die Severer gerade i m Heer genossen, und die zwischenzeitlichen militärischen Misserfolge des in jeder Hinsicht mittelmäßigen Kaisers Macrinus geschickt aus und baute in knapp einem Jahr den jungen Elagabal zum Thronprätendenten auf. Mitte 218 ging dann alles sehr schnell: A m 16.5.218 gelang es ihr, die bei Emesa stehende 3. Legion zur Revolte zu bewegen. Die Legion nahm die kaiserliche Familie in ihr Lager und proklamierte noch am selben Tag Elagabal zum neuen Kaiser, der den offiziellen Namen des „Caracalla": Marcus Aurelius Antoninus annahm 1 1 . Die Prätorianer töteten ihren Präfekten Ulpius Julianus und liefen über 1 2 . A m 8.6.218 schließlich verlor Macrinus die Entscheidungsschlacht und auf der Flucht sein Leben 1 3 . Unter Gewährung der Straflosigkeit wechselten die letzten dem Macrinus verbliebenen Truppen die Seite. Drei Wochen nur hatte der Staatsstreich bis zu seinem erfolgreichen Ende gedauert!

2. Die Prinzipatszeit a) Juristische Fundierung des Prinzipats Seit Augustus, aber insbesondere bei den Regierungsantritten von Vespasian (69), Hadrian (117) und Severus (193) war den Römern bewusst, dass die Proklamation eines neuen Kaisers durch die Truppen i m Lager zwar von großer faktischer und damit politisch nicht zu ignorierender Bedeutung war, dass sie aber andererseits keine tragfähige staatsrechtliche Grundlage für den Prinzipat des neuen Kaisers war. Zur entsprechenden Legitimation mussten vielmehr zwei Voraussetzungen gegeben sein: die familienrechtliche Beziehung zum Vorgänger entweder auf Grund natürlicher Abkunft oder Adoption und das entsprechende Ermächtigungsgesetz des Senats, das senatus consultum (lex) de imperio. Beide Voraussetzungen haben Julia Maesa und ihre Anhänger genau beachtet. Hierbei wird deutlich, dass Juristen als Ratgeber tätig waren. Man denkt dabei an Julius Paulus.

11 12 13

Cass. Dio 78, 31; Herodian 5, 3, 12. Hist. Aug. Macrin. 10; Herodian. 5, 3, 10. Cass. Dio 78, 38 f.; Herodian. 5, 4, 5 ff.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

191

aa) Zur familienrechtlichen Beziehung zum Vorgänger Als Vorgänger kam selbstverständlich der bisher legitimierte Kaiser Macrinus nicht in Frage, der j a der damnatio memoriae überantwortet worden war. Vorgänger konnte nur - wie die Wahl des offiziellen Namens des Elagabal ausdrückt - nur der nun als divus Antoninus Magnus bezeichnete Kaiser Marcus Aurelius Antoninus („Caracalla") sein. Zur Darlegung der familienrechtlichen Beziehung musste behauptet werden, dass Elagabal entweder ein leiblicher Abkömmling des Caracalla oder jener von diesem adoptiert worden war. Die nicht juristisch geprägte Historiographie geht i m Ton moralischer Entrüstung davon aus, dass Julia Maesa Elagabal als natürlichen Sohn von Caracalla ausgegeben und propagandistisch geschickt den Truppen empfohlen haben s o l l 1 4 . Die juristisch korrekten offiziellen Inschriften, die von Elagabal insbesondere auf Meilensteinen erhalten geblieben sind, weisen ihn aus als „Marcus Aurelius Antoninus D i v i Magni Antonini filius D i v i Severi nepos" 1 5 . Diese offizielle Bezeichnung musste in der römischen Kaisertradition aber keineswegs bedeuten, dass Elagabal tatsächlich als natürlicher oder von Caracalla selbst adoptierter Sohn anzusehen war. Zumal die Adoption als Instrument der Legitimation - ohnehin in wichtigen Fällen, z.B. Augustus nach Caesar (44 v.) und Hadrian nach Trajan (117 п.), mehr als fraglich - posthum i.S. eines juristisch anerkannten gleichsam fiktiven Vorganges nachgeholt werden konnte, so z.B. 195, als Severus sich als „filius" des 180 verstorbenen Kaisers Marcus Aurelius proklamieren ließ und damit auf den Inschriften seine Legitimation als „filius", „nepos", „pronepos" u.s.w. bis zu Nerva fortsetzen konnte. Unerwünschtes Nebenprodukt war allerdings, dass Severus nun „frater" des Commodus wurde, dessen damnatio memoriae stillschweigend aufgehoben wurde. Diese Praxis fiktiver posthumer Adoptionen ist kein historischer Einzelfall. Sie spielte z.B. in der QingDynastie nach dem Tod des kinderlosen Tong Zhi-Kaisers 1874 bei der Proklamation von Guang X u und 1908 bei der Inthronisation von Xuan Tong (bekannt unter seinem Prinzennamen Pu Y i ) als unerlässliche Sukzessionsvoraussetzung eine wichtige R o l l e 1 6 . Staatsrechtlich hatte also die Bezeichnung „filius" bzw. „hyios" eine ganz andere Bedeutung, als uns die moralisierende Historiographie weismachen will.

bb) Z u m Senatus consultum de imperio Elagabal -

richtigerweise

die in seinem Namen handelnden führenden M i t -

glieder der „severischen Partei", die Julia Maesa um sich versammelt hatte, 14

Herodian. 5, 3, 10: Hyios physei. Vgl. den Meilenstein bei Sitifis/ Africa, CIL (= Corpus Inscriptionum Latinarum) 8, 10347; Lamberti (Fn. 1) 394. 16 Just, Die Kaiserin-Witwe Ci Xi, Berlin 1997, 14 Fn. 8, 73 f., 117. 15

192

Manfred Just

denn der Vierzehnjährige konnte weder juristisch noch politisch die Lage überblicken - reklamierte noch i m Juni/Juli 218 von Antiochia, der Hauptstadt der Provinz Syrien, in mehreren Schreiben an den Senat in Rom die Anerkennung als Princeps. Insbesondere das Schreiben, das in Cass. D i o 80, 2, 2 bruchstückhaft wiedergegeben ist, deutet darauf hin, dass dieses Schreiben offensichtlich von den Juristen der „severischen Partei" verfasst worden ist, denn der Inhalt dieses Schreibens orientiert sich am Wortlaut des senatus consultum de imperio, wie es seit Augustus üblich w a r 1 7 . In diesem Schreiben nahm Elagabal Bezug auf die entsprechenden Vollmachten, die dem bei seinem Eintritt in die Politik ebenfalls jugendlichen Augustus und später seinen Vorgängern bis zu Antoninus (Caracalla) vom Senat verliehen worden waren. M . E. bezog sich Elagabal hier auf die sog. diskretionäre Klausel i m senatus consultum de imperio 1 8 . Noch vor dem 14.7.218 1 9 erließ der Senat das beantragte senatus consultum de imperio, in dem die entsprechenden Befugnisse dem neuen Kaiser zuerkannt wurden. M i t der Titelverleihung consul, proconsul, pontifex maximus und pater patriae erhielt der Kaiser das imperium consulare, proconsulare und zugleich die tribunicia potestas. Seiner Großmutter und der Mutter wurde der Titel Augusta verliehen. Zugleich - in der Rechtsfigur der Fiktion entsprechend der severischen Tradition geübt - teilte der neue Kaiser dem Senat mit, dass er (Antoninus) anstatt des Ende 217 für 218 bestimmten Macrinus als eponymer consul zusammen mit Oclatinius Adventus in Frage komme. Auch dies bestätigte der Senat noch vor dem 14.7.218 2 0 . Auch dieser Vorgang des nachgereichten senatus consultum de imperio war nicht neu. Abgesehen von der nachfolgenden lex de imperio für Vespasian (70), gab es ca. 100 Jahre vorher am selben Ort einen entsprechenden Vorgang 2 1 : A m 11.8.117 empfing der damalige Statthalter von Syrien, Hadrian, in seiner Residenz Antiochia die Nachricht vom am 8.8. eingetretenen Tod des Kaisers Trajan, der angeblich kurz vorher am 6./7.8. Hadrian adoptiert hatte. Daraufhin ließ sich Hadrian von seinen Truppen zum Kaiser ausrufen, ohne das hierzu erforderliche senatus consultum de imperio abzuwarten. In einem entsprechenden Schreiben ersuchte Hadrian den Senat um den Erlass des Ermächtigungsgesetzes. Er begründete sein Vorgehen unter Hinweis auf die negative Entwicklung des Partherkrieges. Der Senat reichte diese Legitimation nach. 17 Vgl. die lex de imperio für Vespasian ν. 70 in FIRA I (= Fontes Iuris Romani Antiqui) Nr. 15. 18 FIRA I Nr. 15, Z. 16 ff. 19 Vgl. die auf den 14.07.218 datierten fasti sodalium Antoninianorum, die Antoninus bereits als consul führten; Lamberti (Fn. 1) 395. 20 CIL 6, 2001; 2009; Cass. Dio 79, 8. 21 Just , Der Regierungsantritt des Kaisers Hadrian, in: FS für Philipp Eggers, Berlin 1994, 430, 435, 440.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

193

b) Regierungspolitik aa) Festigung der Macht A u f Grund des senatus consultum de imperio kooptierten die sodales Antoniniani, das Priesterkollegium i m Tempel des divus Pius und der Faustina, am 13.7.218 den neuen Kaiser als collega; dem schlossen sich die Priester des Jupiter Propugnator an. A m 14.7.218 nahmen ihn die fratres Arvales vor dem Tempel der Concordia als Mitglied a u f 2 2 , und vor dem Tempel der Iuno Regina auf dem Kapitol brachten sie die vota annua auf das Wohl des Kaisers und seines Hauses aus 2 3 . Der Kaiser, seine Familie und sein übriges Gefolge trafen erst ein Jahr später im Juli 219 in Rom ein. Bis zum Herbst 218 blieben sie in Antiochia/Syrien 2 4 . Vom Winter 218 bis Sommer 219 befand sich der H o f in Nikomedia am Bosporus, wo der junge Kaiser schwer erkrankte 2 5 . Inzwischen sicherte das Kaiserhaus seine Macht auch in den Provinzen, indem die Gefolgsleute des Macrinus beseitigt bzw. abgelöst wurden, z.B. die Statthalter von Syria Coele, Arabien, Cypern und Pannonia inferior (Ungarn) 2 6 . Noch 219 wurden zwei Soldatenaufstände in Syrien und Phönizien niedergeschlagen, und die Kommandeure, die sich bereits zu Kaisern hatten proklamieren lassen, wurden hingerichtet. I m gleichen Jahre wurden in Rom die beiden Senatoren Silius Messala und Pomponius Bassus wegen des Vorwurfs der Verschwörung vom zuständigen Senatsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, also nicht - wie 118 die vier consulare auf Betreiben Hadrians - ohne formal ordnungsgemäßes Verfahren ermordet 2 7 . Damit war dem severischen Kaiserhaus die Rückgewinnung der Macht ohne nennenswerten Widerstand in Rom und in den Provinzen gelungen. Eine Staatskrise - wie in den Jahren 68/69 und 192 bis 196 - gab es nicht. Jedoch, die Repräsentanten des Severerhauses verstanden diesen Glücksfall nicht zu nutzen. Nach knapp vier Jahren hatten sie ihre Chance verspielt. bb) Regierung, Administration, Jurisdiktion Sieht man von der bald eintretenden Krise in Rom ab, so waren die wenigen Jahre der offiziellen Regierungszeit des jungen Kaisers in Italien und in den 22 23 24 25 26 27

CIL 6, 2104. Vgl. Lamberti (Fn. 1) 395. Cass. Dio 79, 1. Herodian. 5, 5, 3; Cass. Dio 79, 7; Hist. Aug. Heliog. 5, 1. Vgl. Lamberti (Fn. 1) 395 f. zu den Quellen. Vgl. Lamberti (Fn. 1) 396 m.w.N.

13 FS Hablitzel

Manfred Just

194

Provinzen, ferner militär- und außenpolitisch eine ausgesprochen ruhige Zeit. Die Verhältnisse waren nicht so schlecht, wie man auf Grund der Schauergeschichten um die Person des Kaisers glauben machen w i l l . (1) Die Konsulate Die Konsulatsliste weist folgende E p o n y m o i 2 8 aus, die zusammen mit Kaiser Antoninus Elagabal das A m t des consul Ordinarius ausübten und damit offensichtlich der severischen Partei angehörten: 218 Antoninus (an Stelle von Macrinus) und Adventus; 219 Gaius Tineius Sacerdos; 220 Marcus (Publius?) Valerius Comazon Eutychianus; 221 war der Kaiser nicht consul; daher wurden Gaius Vettius Gratus Sabinianus und Marcus Flavius Vitellius Seleucus nominiert; 222 schließlich Antoninus und sein Vetter Severus Alexander. (2) Einflussreiche

Persönlichkeiten

A l l e m Anschein nach hatten, ohne der Regierung anzugehören („hinter dem Vorhang", wie i m alten China der Kaiserin-Witwe Ci X i geflüstert wurde) folgende Personen auf die Innenpolitik einen entscheidenden Einfluss: die Großmutter Julia Maesa; die Mutter Julia Soemias; vielleicht bis Anfang 219 auch der Erzieher Eutychianus (Gannys), dessen schon in Nikomedia erfolgte abrupte Beseitigung -

wenig glaubhaft -

mit seinen Beanstandungen bezüglich des

Lebenswandels des Kaisers in Verbindung gebracht wurde; ferner der consul von 220 M./P. Valerius Comazon Eutychianus 2 9 und vielleicht als praefectus praetorio bis 220 auch Julius Paulus 3 0 . (3) Die kaiserliche

Zentralverwaltung

Ein in der an Sensationsgeschichten interessierten Historiographie wenig beachteter, die kaiserliche Macht sichernder Faktor war die kaiserliche Zentralverwaltung, d.h. die in ihrer bienenfleißigen Arbeit und ungestörten Kontinuität tätigen Kanzleien in Rom, deren Arbeitsfeld vom Atlantik bis zum Euphrat, von Britannien bis Nordafrika und Ägypten reichte. Es waren die vielen uns heute unbekannten Beamten, die ungeachtet der wiederholten Fehlbesetzungen in den Spitzenpositionen des Kaiserreichs, die „Staatsmaschine" administrativ zuverlässig in Bewegung hielten. Diese „Kärrner des Systems" haben entscheidend dazu beigetragen, dass mehr als 300 Jahre der Staat von Rom aus gelenkt 28

Cass. Dio 79 pr., wo bezeichnend für die mangelnde Objektivität dieser Quelle ist, dass der Kaiser durchgehend „Pseudo-Antoninus" genannt wird. 29 Cass. Dio 79, 6; Herodian. 5, 3, 3 f.; vgl. Lamberti (Fn. 1) 396 m.w.N. 30 s. dazu u. c) aa).

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus und zusammengehalten werden konnte. Die Zentralverwaltung

195 funktionierte

auch - dank des Verständnisses und Interesses der großen Juristen der Spätklassik - in der gelegentlich unruhigen Severerzeit ungestört weiter. (4) Die Reskriptenkanzlei Ein signifikantes Beispiel für die Kontinuität der kaiserlichen Zentralverwaltung war die Reskriptenkanzlei, die procuratura a libellis, die für die kaiserlichen Rechtsweisungen zuständig w a r 3 1 . Jeder Bürger und jede private und öffentlich-rechtliche Körperschaft konnten sich in Rechtsfragen an den Kaiser wenden, der diese Fälle (gebührenfrei!) entschied und die Entscheidung als Reskript zurückschicken ließ. Das Verfahren dauerte zwar angesichts der damaligen Kommunikations- und Verkehrsverhältnisse, die jedoch besser als i m europäischen Mittelalter waren, länger als heute. Diese Kanzlei arbeitete auch ungestört in der Regierungszeit des Kaisers Antoninus Elagabal 3 2 . Da der Kaiser 222 der damnatio memoriae verfiel, sind die in seinem Namen ergangenen constitutiones auf den Namen seines Nachfolgers umgeschrieben worden 3 3 . Erhalten geblieben sind nur vier Reskripte, die den Kaiser Antoninus (Elagabal) als Urheber zitieren: C. 2, 18, 8 v. 27.7.218 zur actio negotiorum gestorum der curatores bzw. tutores und zur Unzulässigkeit der praecriptio longi temporis propter occupationes militares 3 4 ; Paul., 1. 2 de censibus, D. 50, 15, 8, 6 zur Erhebung von Emesa in den Stand einer colonia civium Romanorum und zur Verleihung des ius Italicum; Paul., 1 1 respons., D. 48, 19, 43 p r . / l zur zeitlichen Zuständigkeit des Statthalters und zu den Wirkungen des strafweisen Verlustes der Dekurionen würde 3 5 . 31

Käser, Römische Rechtsgeschichte, Göttingen, 2. Aufl. 1967, 197. Aus der Severer-Zeit (193-235) sind ca. 880 Reskripte erhalten geblieben (vgl. Krüger, Corpus Iuris Civilis, vol. 2: Codex Iustinianus, Zürich, 15. Aufl. 1970, 489492) . 33 Haenel, Corpus legum, Leipzig 1857, 156 f. 34 Krüger (Fn. 32) 490 Fn. 4; 491. 35 Zur Zuweisung dieser Reskripte zu Elagabal zutreffend Fitting, Alter und Folge klassischer Juristen, Halle, 2. Aufl. 1908, 97 f.; a.A. für Caracalla nicht überzeugend Gualandi, Legislazione imperiale e giurisprudenza, vol. 2, Milano 1963, 198, 200 f. Für die Zuweisung spricht die Zitierweise des Paulus, der Chefjurist dieses Kaisers war: In D. 50, 15, 8, 6 sprach er vom „Imperator noster Antoninus", womit er den regierenden Kaiser, also Elagabal, meinte. Dagegen in der vorangegangenen Stelle desselben Fragments D. 50, 15, 8, 5, d.h. im Zusammenhang zitierte er den verewigten Caracalla als „Divus Antoninus". - Im Codex Iustinianus finden sich ferner 43 Reskripte mit der einfachen inscriptio „Imperator Antoninus Augustus" ohne Datumsangabe, womit unklar bleibt, welcher Kaiser hier gemeint ist. Denn den offiziellen Namen „Antoninus" haben fünf Kaiser geführt: Titus Aurelius Antoninus Pius (138161); Marcus Aurelius Antoninus (161-180); Marcus Aurelius Commodus Antoninus (180-192); Marcus Aurelius Antoninus („Caracalla"; 211-217); Marcus Aurelius Antoninus („Elagabal"; 218-222). 32

13*

Manfred Just

196 (5) Die Finanzverwaltung

In der Literatur wird vor allem die Finanzverwaltung unter dem Gesichtspunkt der recht umfangreichen Ausgaben des Hofes behandelt 3 6 . Aus verständlichen Gründen hat der H o f i m Namen des Kaisers Volk und Armee ausgiebig dotiert, um auf diese Weise die Hauptstadt in Ruhe und die Armee, die wichtigste Stütze der severischen Macht, bei Laune zu halten. In ihrer kurzen Regierungszeit hatte die Elagabal-Regierung vier liberalitates, d.h. Volksdotationen, veranstaltet, die das Finanzwesen zwar erheblich belasteten 37 , aber in der Kaisergeschichte üblich waren. (6) Das Bauwesen Gemessen an der kurzen Regierungszeit Elagabals entfaltete sich in diesen vier Jahren in der Hauptstadt und in den Provinzen eine beachtliche Bautätigkeit; auch diese ein Zeichen dafür, dass die inneren Verhältnisse i m Zeichen des Friedens standen. So wurden der kaiserliche Palast auf dem Palatin erweitert, die Caracalla-Thermen fertiggestellt und das durch Brand zerstörte Colosseum z.T. restauriert 38 . In den Bauinschriften und auf den Straßenmeilensteinen, z.B. in Spanien, Pannonien, Asien (Ancyra), Britannien, Africa und Germanien taucht der kaiserliche Name Elagabals noch heute sehr häufig auf - ein Zeichen dafür, dass die Herrschaft dieses Kaisers in allen Teilen des Reiches anerkannt w a r 3 9 . c) Verehelichungen - Familienpolitik i m Dienste der Tagespolitik Der junge Kaiser wurde dreimal verheiratet. Es ist kaum anzunehmen, dass die Auswahl der drei Ehefrauen von ihm selbst bestimmt wurde. Vielmehr ist zu vermuten, dass hier die kaiserliche Familie und ihre „Hofpartei" entscheidenden Einfluss ausübten und dass diese Verbindungen tagespolitischen Charakter hatten. Damit kann auch etwas von dem sonst verschütteten politischen Hintergrund dieser vier Jahre aufgedeckt werden. Kinder sind aus keiner dieser Ehen hervorgegangen. aa) Julia Cornelia Paula Die erste Ehefrau war Julia Cornelia Paula 4 0 , mit der er 219 kurz nach seiner Ankunft in Rom verheiratet wurde. Bei diesem Anlass erhielt sie den Titel Au36 37 38 39

Hist. Aug. Heliog. 8, 3, 19; 20, 4-33. Hist. Aug. Alex. 22, 1 f.; 39, 3. Hist. Aug. Heliog. 8, 6; 17, 8 f. Vgl. Lambertz (Fn. 1) 399 m.w.N. zu den Inschriften im CIL.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

197

gusta 4 1 . Nach Herodian 5, 6, 1 soll sie aus einer sehr vornehmen römischen Familie hervorgegangen sein. Dies ist nicht unglaubwürdig, da eine solche Verbindung durchaus i m Interesse der ursprünglichen Politik des severischen Hauses lag, die wiedererlangte Macht familien- und gesellschaftspolitisch zu festigen. Diese Ehe wurde jedoch 220 wieder aufgelöst; nach Cass. Dio 79, 9, 1/2 wegen eines Muttermals am Körper der Frau. Das ist auch so ein Märchen, erzählt von Historiographen, die nicht dabei gewesen sind. Interessanter ist die seit langem diskutierte Frage, ob diese Frau die Tochter des Juristen Paulus gewesen ist. Kunkel

42

hat dies insbesondere unter Hinweis

auf die sehr vornehme Herkunft der Kaiserin, also aus dem senatorischen Adel, verneint, da Julius Paulus dem Ritterstand - wenn auch in der Oberschicht angehörte. Kariowa

43

und später Liebs 44

hielten es dagegen durchaus für mög-

lich, dass der Jurist als Schwiegervater des Kaisers in Frage kam, und zwar u. a. mit folgender Begründung: für Herodian, einen Provinzialen von einfacher Herkunft, war eine Frau aus der Oberschicht des Ritterstandes eine „Eugenestätes". Schon seit Hadrian waren Ritter in den Chefstellungen der Zentralverwaltung und i m Consilium principis tätig. Severus selbst hat 170 seine Laufbahn i m Ritterstand begonnen; der Schwiegervater von Antoninus Caracalla war der 205 entmachtete Prätorianerpräfekt Gaius Fulvius Plautianius, auch ein Ritter. Der Nachfolger Aemilius Papinianus, mit Severus möglicherweise verschwägert, gehörte ebenfalls dem Ritterstand an. Der „Interims-Kaiser" Macrinus, vorher Prätorianerpräfekt, war Ritter. Die Scheidung dieser Ehe in der Mitte der Regierungszeit des Elagabal könnte mit der Entlassung des Paulus aus seinem A m t und der anschließenden Verbannung in Verbindung gestanden haben. Diese Vorgänge wiederum könnten zeitlich mit der kulturpolitischen Radikalisierung des Elagabal-Regimes zusammenfallen. Zu diesem Zeitpunkt dürften sich dann auch innerhalb des kaiserlichen Hauses und am Hofe die beiden Fraktionen herausgebildet haben, nämlich einerseits die um den Kaiser (und seine Mutter Julia Soemias), die die „Kulturrevolution" vertrat, und andererseits die konservative Richtung um den Prinzen Severus Alexander (und um seine Mutter Julia Mamaea). Paulus war, wie sich aus seiner Tätigkeit in der spätklassischen Rechtswissenschaft deutlich erkennen lässt, ein konservativer Traditionalist, dem auf Dauer die kulturpolitische Entwicklung nicht gefallen konnte. Sein Sturz als Prätorianerpräfekt und die Auflösung der Ehe sind vielmehr Indizien dafür, dass die Elagabal-Tradi40

Lackeit, Art. Julia Nr. 564, RE X 1 (1918) 925. CIL 10, 4554. 42 Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, 2. Aufl. Graz/Wien 1967, 245 Fn. 505. 43 Römische Rechtsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1885, 745. 44 Töchter klassischer Juristen, in: FS v. Caemmerer, Tübingen 1978, 22, 35 ff.; Römisches Recht, Heidelberg, 3. Aufl. 1987, 60. 41

198

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tion auf Widerstände stieß, aber noch die stärkere Gruppierung war und deshalb glaubte, die Widerstände durch einen Personenwechsel an der Spitze der Regierung zu überwinden. Damit hätte man dann aber auch den juristischen Ratgeber beseitigt, der noch vor nicht zu ferner Zeit in den Briefen des neuen Kaisers Antoninus Elagabal an den Senat präzise in Übereinstimmung mit der traditionellen Praxis die juristische Begründung für die Legitimation dieses Kaisers formuliert hatte. Dieser Vorgang war für den Kaiser nicht günstig; aber die Verstrickung in die erste Hälfte des Elagabal-Regimes blieb an Paulus hängen. Er hat den Kaiser lange überlebt und war schriftstellerisch noch sehr fruchtbar, nachdem er aus der von Elagabal verhängten Verbannung 222 zurückgerufen worden war. Ein Regierungsamt jedoch hat er nicht mehr bekleidet. Hierin könnte auch sein auffälliges „NichtVerhältnis" zu dem Zeitgenossen Ulpian eine Erklärung finden. Ulpian, der die gleichen juristischen Werke wie Paulus publizierte und - wie Paulus - am chaotischen Ende der Elagabal-Ära verbannt wurde, war der Chefjurist der Alexander-Fraktion. Er hatte naturgemäß gegenüber Paulus keine guten „Gefühle". Aber das Schicksal entschied anders: Ulpian, der seine große schriftstellerische Karriere vor seiner Prätorianerpräfektur gemacht hatte, übte dieses höchste A m t nur kurz aus und wurde 223 von den Prätorianern ermordet, die ihn partout nicht als Präfekten akzeptieren wollten. Paulus, der seine große schriftstellerische, aber nicht mehr politische Karriere bis in die Zeit nach seiner Prätorianerpräfektur ca. 230 erlebte, hatte dieses höchste Regierungsamt auch nur kurz ausgeübt. Paulus aber blieb kompromittiert und endete ohne politische Rehabilitation. bb) Julia Aquilia Severa Diese 220 geschlossene Ehe des Kaisers hatte offensichtlich ideologischen, d.h. religionspolitischen Charakter. Sie reflektierte einerseits die unverständliche Tendenz der Elagabal-Regierung, den „Staatskultus" von Grund auf neu zu ordnen, andererseits offenbarte sich in der kurzen Dauer dieser Verbindung das schnelle Scheitern der hochgespannten Pläne. Die neue Kaiserin war vor der Eheschließung Vestalin; sie wurde als Augusta alsbald offiziell akzeptiert. Die möglicherweise i m Volke kursierende Begründung für die Ehe der beiden streng religiös gebundenen Personen soll die Erwartung „gottähnlicher" Kinder gewesen sein. Die Verhältnisse entwickelten sich allerdings dann chaotisch. Diese Ehe wurde schon 221 wieder aufgelöst mit Rücksicht auf die dritte Verehelichung. Jedoch soll der 18jährige Kaiser 222 vor seinem Tode wieder zu seiner zweiten Ehefrau zurückgekehrt sein 4 5 .

45

Cass. Dio 79, 9, 3 f.; Herodian. 5, 6, 2; Lackeit (Fn. 40) Nr. 557, Sp. 915.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

199

cc) Annia Faustina Diese offiziell 221 bis 222 dauernde dritte Ehe wurde mit einer jungen Frau geschlossen, die über ihre Großmutter Arria Fadilla (geb. 150/1) aus jener Familie stammte, an die der Großonkel des Kaisers, L. Septimius Severus, 195 durch posthume Adoption nach dem 180 verstorbenen Kaiser Marcus Aurelius seine Legitimation angeknüpft hatte. Arria Fadilla war das vierte K i n d des Kaisers Marcus Aurelius und seiner Frau Faustina, der Tochter des Kaisers Antoninus Pius (138-161). Allerdings war für Annia Faustina er Verbindung mit dem Kaiser Antoninus Elagabal die zweite Ehe, nachdem 219 der erste Ehemann, Pomponius Bassus, unter dem Vorwurf der Verschwörung gegen den Kaiser hingerichtet worden war. Der staatspolitische Aspekt dieser Ehe war offensichtlich: die Elagabal-Fraktion innerhalb des kaiserlichen Hauses „ruderte zurück". Es handelte sich um den Versuch, durch diese Ehe die Legitimation des Kaisers, der j a selbst, vermittelt durch zwei fiktive Adoptionen als Urenkel des Kaisers Marcus Aurelius galt, in den Augen der Traditionalisten zu verstärken. Doch dafür war es zu spät. 3. Die „Kulturrevolution"

im Namen des Elagabal

a) Religionspolitik: Einführung des Baal-Kults in Rom Einer der beiden schwerwiegenden Fehler der Elagabal-Regierung war nach Ansicht der römischen Konservativen, also der Traditionalisten, die immer noch i m Senat und in der Gesellschaft den Ton angaben, neben der „Frauenpolitik" die Religionspolitik, d.h. die Einführung des Baal-Kults in Rom. Dass das eben erst an die Macht zurückgekehrte severische Kaiserhaus - insoweit freilich die Elagabal-Fraktion - diese Einführung mit Nachdruck und ohne Rücksicht auf die schnell erkennbare Opposition der Römer, also letztlich gegen das eigene Machterhaltungsinteresse betrieb, beweist, dass es jedenfalls dieser Gruppe um den jungen Kaiser nicht nur um Wiedergewinn und Erhalt der Macht ging, sondern dass sie mit dieser Machtausübung auch eine ideologische Mission verband. Die Einführung des Baal-Kults wurde mit großem Nachdruck und größtmöglicher Konsequenz betrieben 4 6 . Der „heilige Stein" von Emesa, also der zentrale Verehrungsgegenstand dieser Religion, wurde nach Rom überführt. Zugleich wurden i m ältesten Stadtteil Roms, auf dem latinischen Palatin, der Zentraltempel, das Heliogabalium, und in der Vorstadt A d Spem Veterem sowie auf dem Forum in der Nähe des Vesta-Tempels noch zwei weitere Tempel errichtet, letzterer wohl zu Ehren von Baal und Vesta aus Anlass der zweiten Vermählung des Kaisers. 46

Vgl. Pietrzykowski

(Fn. 1) 1816 ff.

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200

Entsprechend der henotheistischen und synkretistischen Konzeption dieser Religion sollten alle übrigen Kulte, also auch die der traditionellen Götter Roms, diesem höchsten Gott untergeordnet werden 4 7 , j a mehr noch, alle Kulte sollten in dem des Heliogabal aufgehen 48 . Es wurde ein Staatspriestertum für den Baal geschaffen, dessen oberster Priester (sacerdos amplissimus) die Gegeninstanz zum pontifex maximus, der der oberste Priester des bisherigen Staatskultes war, darstellte. Z u m Zeichen der Vereinheitlichung vollzog man einen „hieros gamos" des Gottes Baal mit der Iuno Caelestis von Karthago (Tank)49 A u f diese Weise wurde 50 Jahre vor Kaiser Aurelian (270-275) der Sol-Kult und ca. 100 Jahre früher der Henotheismus des Christentums antezipiert. Man kann sich vorstellen, wie die Priesterschaften in Rom, deren Existenz auch i m wirtschaftlichen Sinne vom Fortbestand der traditionellen Religion abhing, auf diese angeordneten Veränderungen reagierten: sie leisteten Widerstand mit allen Mitteln. Zu diesen gehörte auch die Aufwiegelung des Volkes und der Truppen durch Verbreitung von übler Nachrede und von Verleumdungen, die als „bare Münze", also als Wahrheiten, die Historiker uns überliefert haben. b) Frauenpolitik aa) Die traditionelle Situation Die Frau spielte i m römischen Rechts- und Gesellschaftsleben - abgesehen von der Zeit der Vorklassik und den wenigen bekannten, oft unglaubwürdig verleumdeten Frauen der kaiserlichen Familien - eine ausgesprochen benachteiligte Rolle. Sie war seit alter Zeit nicht voll geschäftsfähig und auch nicht vermögensfähig. Befand sie sich nicht in der patria potestas (manus) ihres Vaters, ihres Bruders (bei Nichtverehelichung) oder ihres Mannes, dann war sie zwar „sui iuris" (selbständig), aber dann musste doch wenigstens aus formellen Gründen ein tutor (Vormund) bestellt werden. Dieser musste ihre Rechtsgeschäfte genehmigen (auctoritas). Wurde die Frau nicht gleich durch die Eheschließung i m Wege eines formellen Verkaufs (coemptio) in die manus ihres Ehemannes gegeben, dann wurde die Frau (genauer die manus-Gewalt über die Frau) zum Nachteil ihres Vaters, der die manus über seine Tochter zurückbehalten hatte, mit Ablauf eines Jahres vom Ehemann analog XII-t. 6, 3 f. ersessen 50 . Beachte zum Vergleich: Dieser Ersitzungstatbestand mit der Frist von einem Jahr be-

47

Cass. Dio 79, 11, 1. Hist. Aug. Heliog. 3, 4; „Id agens, ne quis Roma deus nisi Heliogabalus coleretur." 48

49

Lamberti

50

Käser, Das Römische Privatrecht, 1. Abschn. München 2. Aufl. 1971, 78.

(Fn. 1) 397, Pietriykowski

(Fn. 1) 1817.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

201

traf alle beweglichen Gegenstände (Sachen, Tiere, Sklaven). Grundstücke und grundstücksgleich

behandelte

Servitutes

(Wege-

und

Wasserleitungsrechte)

konnten dagegen erst nach A b l a u f von zwei Jahren ersessen werden. Kreditgeschäfte, Bürgschaften, Verpfändungen, Schuldein- und Schuldbeitritte für ihre Ehemänner waren seit Augustus verboten 5 1 . Von der Inhaberschaft öffentlicher Ämter waren Frauen zu allen Zeiten ausgeschlossen.

bb) Eingriffe in die Tradition Vor diesem Hintergrund erscheinen die beiden frauenpolitischen Maßnahmen der Elagabal-Regierung nun allerdings wie ein schwerer Bruch m i t der römischen Tradition. Das war naturgemäß ein psychologisch heute leicht erklärbarer Anknüpfungspunkt für den Widerstand der römischen „Paschas". Hier liegt aber auch die Wurzel für die perfiden auf das angeblich exzessive Sexualleben des 14- bis 18jährigen Kaisers abzielenden Angriffe, die den Kaiser in die Richtung der Transvestiten und der Transsexualität abdrängen sollten. I n diesem „sexualbestimmten M i l i e u " kannte sich die mittelmeerische A n t i k e seit frühester Zeit sehr gut aus. Die leichtfertig unkritische Übernahme dieser erbärmlich primitiven Anwürfe durch die angeblich ernsthafte Historiographie 5 2 ist einfach beschämend.

(1) Senatsteilnahme

der

Kaiserin-Mutter

D i e erste exorbitante Neuerung der Elagabal-Regierung war, dass sogleich i n der ersten Senatssitzung, an der der 15jährige Kaiser teilnahm, auf seinen Wunsch die Kaiserin-Mutter Julia Soemias beigeladen und zur ständigen Teilnahme an den künftigen Sitzungen aufgefordert wurde. Z u diesem Z w e c k erging ein entsprechendes senatus consultum. Von nun an saß die Kaiserin-Mutter (wohl an Stelle des jungen Kaisers) w i e einst Augustus herausgehoben neben den eponymen Konsuln gegenüber den Senatoren i m Senat. D a m i t unterschrieb und ratifizierte sie aber auch als testis senatus consulti conficiendi die Senatsbeschlüsse 5 3 . Das war i n der Tat ein einmaliger Vorgang. Antoninus Elagabal war der einzige klassische Kaiser, in dessen Regierungszeit die Augusta als „clarissima", also wie ein Senator, den Senat besuchte und an seinen Sitzungen m i t Ratifikationsbefugnis bezüglich der senatus consulta teilnahm.

51

Just, Die restriktive Interpretation des Normzwecks des SC. Vellaeanum seit der Hochklassik, in: FS Laufke, Würzburg 1971, 33^19. 52 Bengston, Grundriss der römischen Geschichte, 1. Bd., München 2. Aufl. 1970, 374. 53 Hist. Aug. Heliog. 4, 2; Lamberti (Fn. 1) 398.

202

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(2) Der „Kleine

Senat für

Frauenfragen"

Die zweite außergewöhnliche Maßnahme war die Gründung des sog. senaculum (= mulierum senatus). Das war eine Frauen Versammlung, die auf dem Quirinal unter dem Vorsitz der Kaiserin-Mutter Julia Soemias tagte. Dieses Gremium war zuständig zur Beschlussfassung bzw. Stellungnahme in Bezug auf Gesetze, die die Frauen betrafen, z.B. Kleidungs-, Etikette-, Luxusfragen, Auftreten in der Öffentlichkeit. Das war gewiss ein bescheidener Anfang, aber angesichts der Renitenz der tonangebenden Öffentlichkeit trotzdem schwer und mutig. Lampridius,

der kolportierende Schmutzautor der Historiae Augustae He-

liogabali, nannte die Entscheidungen des Frauensenats „senatus consulta c u l a " 5 4 . Diese Äußerung des Lampridius

ridi-

zeigt noch heute deutlich, wie unpopu-

lär die Maßnahmen der Elagabal-Regierung waren. Es war daher nur konsequent, dass nach dem Sturz des Kaisers der Senat die beiden frauenpolitischen Maßnahmen der Elagabal-Regierung sofort aufhob. In diesem Sinne beschloss der Senat, dass in Zukunft keine Frau den Senat betreten dürfe 5 5 . Auffälligerweise hat 50 Jahre später der Kaiser Aurelian den Frauen ihren Senat zurückgegeben. Es muss schon seit langem eine politisch relevante Forderung in dieser Hinsicht gegeben haben. 4. Krise und Ende a) Spannungen in der Gesellschaft; Fraktionenbildung i m Kaiserhaus Die kaiserliche Regierung erlebte mit ihren ungewöhnlichen Maßnahmen alsbald den Widerspruch der römischen Gesellschaft, die in ihren oberen Kreisen konservativ und daher dieser Neuerung völlig abgeneigt war. Allerdings musste jedem damals Einsichtigen unverständlich erscheinen, dass das Kaiserhaus, das eben erst die Macht wiedergewonnen hatte, diese so leichtsinnig aufs Spiel setzte. Darüber kam es schließlich gegen Ende der ElagabalRegierung 221/222 offensichtlich auch zu Spannungen innerhalb des Kaiserhauses und damit zur Bildung zweier Fraktionen: die „kulturrevolutionäre" Gruppierung, die den jungen Kaiser Antoninus Elagabal für sich reklamierte, und die konservative Fraktion, die den noch jüngeren (208 geborenen) Vetter, den späteren Kaiser Severus Alexander zu ihrem Repräsentanten erkor. Die Vertreter der Elagabal-Fraktion sind mit Ausnahme der Mutter des Kaisers, Julia Soemias, für diese letzte Phase nicht mehr feststellbar. Julius Paulus, der ehemalige Chefjurist, gehörte schon nicht mehr dazu. Das rettete i h m das

54 55

Hist. Aug. Heliog. 18, 3. Hist. Aug. Heliog. 18, 3.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

203

Leben. Aber auch von den Mitgliedern der Alexander-Fraktion wissen w i r nicht viel. Hierher gehörten wohl die weniger einflussreiche Mutter des Alexander, Julia Mamaea, und der spätere Prätorianerpräfekt und Chefjurist des Kaisers Alexander, Gnaeus Domitius Ulpianus. Das Pendel schlug aber zu Gunsten der Alexander-Fraktion erst aus, als die offensichtlich immer noch politisch wichtigste Person des Kaiserhauses, die Kaiserin-Großmutter Julia Maesa, sich von der Elagabal-Fraktion distanzierte und in Erkenntnis der drohenden Gefahr den jungen Severus Alexander in den Vordergrund rückte. Möglicherweise führte sie nicht nur diese Fraktion nunmehr an, sondern sie hat diese erst zu einem politisch einsetzbaren Faktor gemacht.

b) Die Entmachtung des Antoninus Elagabal aa) Wiederholter „Kurswechsel" I m Gegensatz zu den gewaltigen Erschütterungen des Reiches, die die Beseitigung Neros (68) und des Commodus (192/3) nach ihren chaotischen Regierungen verursachten, blieben die Krise und die Beseitigung des Elagabal eine auf die Stadt Rom beschränkte interne Angelegenheit, die das Reich i m Fortgang von Administration und Jurisdiktion überhaupt nicht berührte. Der „Regierungswechsel" war so unspektakulär, dass nicht einmal die auswärtigen Feinde eine Gelegenheit zum Zugriff erkennen konnten. So, wie wir die beteiligten Personen kaum feststellen können, lassen sich auch die Abläufe der Jahre 220 bis 222 schwer verifizieren und deuten. Ein gewisses Indiz bilden die dem Kaiser „auferlegten", schnell wechselnden offiziellen Verehelichungen. A u f die aus dem konservativen Lager stammende Julia Cornelia Paula folgte nach der Scheidung dieser Ehe 220 die Verehelichung mit der (ehemaligen?) Vestalin Julia Aquilia Severa, die bis 221 offiziell dauerte. Dieser Zeitraum von 220 bis 221 entsprach wohl dem Höhepunkt des umstrittenen neuen kulturpolitischen Kurses, der Widerspruch und Empörung in der römischen Gesellschaft hervorrief und das publizistische Kesseltreiben gegen den Kaiser eröffnete. 221 wurde der Kaiser von seiner zweiten Frau geschieden und mit Annia Faustina, der Urenkelin des Kaisers Marcus Aurelius, der j a offiziell als (fiktiver) Adoptivvater des Gründers des severischen Hauses, des Kaisers Septimius Severus, galt, verheiratet. Der offizielle Kurswechsel ist leicht erkennbar: Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (Elagabal) galt selbst in der offiziellen Genealogie über die Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (Caracalla) und Lucius Septimius Severus auf Grund der fiktiven Adoptionsfolge als (fiktiver) Urenkel des Kaisers Marcus Aurelius. Es handelte sich hier um einen letzten, allerdings vergeblichen Versuch, der konservativen Richtung entgegenzukommen. Dieser Kurswechsel erschien aber nicht mehr glaubwürdig, zumal berichtet wird, der Kaiser persönlich habe die Verbindung zu seiner zweiten Frau

204

Manfred Just

nicht gelöst, sondern sei gegen 221/2 zu ihr zurückgekehrt. Immerhin scheint die treibende Kraft hinter dem letzten Kurswechsel in Richtung zur konservativen Tradition noch die Kaiserin-Großmutter Julia Maesa gewesen zu sein.

bb) Adoption und Senatus consultum de imperio für Severus Alexander Julia Maesa, hier offensichtlich von den Juristen des kaiserlichen Hofes beraten, sorgte dafür, dass Antoninus Elagabal den Severus Alexander adoptierte und damit als seinen Nachfolger designierte. Noch i m gleichen Jahr, also um 221, erwirkte er auf Veranlassung der Julia Maesa beim Senat ein senatus consultum de imperio (minore), in dem der Kaiser seinem Vetter gewisse Imperialbefugnisse übertragen l i e ß 5 6 . Hier wurde an die Tradition seit Kaiser Hadrian angeknüpft, der 136 auf den - dann allerdings vorverstorbenen - designierten Nachfolger Lucius Ceionius Commodus entsprechende Befugnisse übertragen ließ. Auch Kaiser Septimius Severus bereitete die Nachfolge seiner Söhne über die Caesarenstellung 196/198 vor. Das Endziel dieser Konzeption aber lief wie bei der zweiten (Nach-) Erbfolgebestimmung Hadrians zu Gunsten der divi fratres von 138, Marcus Aurelius und Lucius Verus (161-169), und der Nachfolgeregelung des Septimius Severus von 209 zu Gunsten seiner Söhne Antoninus Caracalla und Septimius Geta (211/212) - auf ein Doppelprinzipat hinaus. Damit sollte der nicht mehr leicht zu haltende Elagabal wenigstens partiell „eingerahmt" und so entmachtet werden, um die Herrschaft des severischen Kaiserhauses zu erhalten.

cc) Machtkampf zwischen den Fraktionen Die Ironie des Schicksals war es, dass sich nun die Spannungen zwischen den beiden Fraktionen erst recht verschärften. Jede von beiden wollte die andere ausschalten. Es begann ein Kampf um Sein oder Nichtsein, d. h. es wiederholte sich ein Scenarium, wie es während des kurzen Doppelkaisertums zwischen Antoninus Caracalla und Septimius Geta nach dem Tode des Kaisers Septimius Severus (Februar 211 bis Februar 212) existierte. In der damaligen Auseinandersetzung verlor nicht nur Geta, sondern auch dessen Anhänger

-

darunter der Chefjurist des verstorbenen Severus, Aemilius Papinianus, dem die Ziviljuristen sich noch heute verpflichtet fühlen - das Leben. In dem sich nun verschärfenden Machtkampf folgten die Stützen der politischen Macht, also auch des Kaiserhauses, alsbald der längst publizierten Stimmung der römischen Gesellschaft. Der Senat und die Prätorianer wechselten auf die Seite der Alexander-Fraktion. 56

Cass. Dio 79, 17, 2; Herodian. 5, 7, 4.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

205

dd) Widerstand i m Senat Der Senat wird noch heute in der Historiographie wegen seiner häufig skandalösen Willfährigkeit gegenüber den „missratenen" Kaisern verächtlich behandelt. Eine solche Bewertung verstellt aber den Blick. Der Senat war und blieb für jeden Kaiser ein nicht außer Acht zu lassender und - selbst für Hadrian schwierig zu behandelnder Machtfaktor. Denn nur der Senat konnte über das Instrument des Ermächtigungsgesetzes, das senatus consultum de imperio, die Herrschaft des Kaisers legitimieren, und nur der Senat konnte juristisch korrekt dem Kaiser diese Legitimation auch wieder entziehen. Die Römer aber waren seit frühester Zeit davon überzeugt, dass politische Macht ohne technisch einwandfreie juristische Legitimation keinen Bestand habe. So haben sie - insbesondere in der republikanischen Zeit - auch die gröbsten machtpolitischen Maßnahmen in ein einigermaßen tragbares juristisches Gewand gekleidet. Hier nun - und konsequent - versuchte die Elagabal-Fraktion, allerdings vergeblich, das vorangegangene senatus consultum de imperio (minore) zu Gunsten des Severus Alexander wieder rückgängig zu machen. Ein entsprechender Antrag auf Erlass eines entsprechenden senatus consultum, i m Namen des Kaisers von einem Quaestor i m Senat vorgetragen, scheiterte am „ingens silentium" der Senator e n 5 7 , d.h. in Aufsehen erregender Weise wiesen sie den Antrag des Kaisers ab. I m Grunde war damit „die Sache" des Kaisers politisch schon verloren. ее) Die Einbeziehung der Prätorianer Das physische Ende besorgten die Prätorianer, die von der offensichtlich völlig verblendeten Elagabal-Fraktion in die Auseinandersetzung hineingezogen wurden. (1) Die Prätorianer

als Machtfaktor

Die Prätorianer waren eine in der Nähe von Rom stationierte Elitetruppe, deren ursprüngliche Aufgabe der Schutz der Person des Kaisers war. Aber der Befehlshaber dieser Garde, der Prätorianerpräfekt, hatte seit früher Zeit (berüchtigtes Beispiel: Sejan unter Tiberius) so viele Machtbefugnisse i m politischen und administrativen Bereich - gleichsam i m Wege der Absorption - an sich gezogen, dass er inzwischen Chef der kaiserlichen Zentralverwaltung, d.h. i m Range eines Ministerpräsidenten, zum zweiten Mann i m Staate geworden war. Durch die miserable Regierung des Kaisers Commodus begünstigt, waren die Prätorianerpräfekten faktisch die entscheidenden Machthaber. Der Versuch des Kaisers Septimius Severus, durch Maßregelungen 193 die politische Macht

57

Hist. Aug. Heliog. 13.

206

Manfred Just

der Prätorianer einzuschränken, blieb ohne dauerhaften Erfolg. Der Prätorianerpräfekt blieb in seiner bisherigen Stellung der zweite Mann i m Staate. Bereits 204 mussten Severus und Antoninus Caracalla den übermächtig werdenden Prätorianerpräfekten

Gaius Fulvius

Plautianius,

Schwiegervater

des

Caracalla,

liquidieren. I m „historischen Gegenzug" liquidierten 13 Jahre später die Prätorianer den Kaiser Antoninus Caracalla und proklamierten ihren Präfekten Marcus Opellius Macrinus zum Kaiser; sie liefen allerdings schon ein Jahr später zu Antoninus Elagabal über und verhalfen diesem zur Machtübernahme (218). Nun, vier Jahre später, liquidierten sie diesen Kaiser und ebneten damit dem nächsten Kaiser Severus Alexander den Weg zur Macht. Die Prätorianer waren ein wegen ihrer militärischen Effizienz und wegen der administrativen Macht ihrer Präfekten politischer Machtfaktor, an dem kein Kaiser vorbeikam. Allerdings förderte dieses Selbstbewusstsein die Disziplin der Garde nicht. I m Gegenteil, die ersten Jahre der Alexander-Regierung waren gekennzeichnet von wiederholten Revolten der Prätorianer, die den ihnen vorgesetzten Gnaeus Domitius Ulpianus als Präfekten nicht akzeptierten. Sie rebellierten i m Angesicht der kaiserlichen Familie. Nach mehreren Attentatsversuchen gelang ihnen schließlich Ende 223 die Ermordung Ulpians, des Chefjuristen der Alexander-Regierung. A m Ende beseitigten sie 235 auch den Kaiser Severus Alexander und riefen ihren Präfekten Gaius Julius Verus Maximinus (Thrax) zum Kaiser aus, der sich aber nur drei Jahre halten konnte. M i t der Ermordung des Kaisers Severus Alexander jedoch beendeten sie nicht nur die 42jährige Herrschaft des Severer-Hauses, sondern das klassische Kaisertum, den Prinzipat, überhaupt. Damit hatten die Prätorianer allerdings zugleich den Ast abgesägt, auf dem sie selbst saßen. Die Entwicklung der Prätorianer von einer Elitetruppe zu einem staatliche Befugnisse absorbierenden Machtfaktor ist kein singuläres Phänomen. Die Geschichte kennt mehrere Beispiele hierfür: die Chilioi i m achaemenidischen Persien, die Strelitzen in Russland, die Janitscharen in der Türkei und schließlich die SS in Deutschland.

(2) Erste Revolte Hier nun versuchte die Elagabal-Fraktion, nachdem der juristische Eliminierungsplan gescheitert war, mit Hilfe der Prätorianer die Alexander-Fraktion physisch zu liquidieren. Doch dieser Schuss ging nach hinten los! Einige Truppenteile der Prätorianer begannen gegen den Kaiser zu meutern. Sie besetzten den kaiserlichen Palast auf dem Palatin. Zugleich schlossen sich dem Aufstand weitere Teile der Garde an. Die Prätorianer brachten Julia Mamaea und Severus Alexander in Sicherheit, nämlich in die Prätorianer-Kaserne

vor der Stadt.

Danach stürmten sie in der Vorstadt Ad-Hortos-Spei-Veteris die Residenz des

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

207

Kaisers und drohten ihn umzubringen. Nur der Eingriff des Prätorianerpräfekten Antiochianus und anderer Offiziere, die sich noch dem auf den Kaiser geleisteten Eid verpflichtet fühlten, verhütete (noch) das Schlimmste 5 8 . Der Prätorianerpräfekt übernahm nun die Vermittlung zwischen seinen Truppen und dem Kaiser, d.h. dessen Gruppierung. Die Prätorianer verlangten angeblich dreierlei (es ist offensichtlich, dass ihnen diese Forderungen zugespielt wurden): die Entfernung von fünf unliebsamen Personen aus dem Gefolge des Kaisers 5 9 , eine „schlichtere" Lebensführung und eine Garantie für die staatsrechtliche Stellung des Caesars Severus Alexander, d.h. die treibenden Kräfte der Elagabal-Fraktion sollten ausgeschaltet, die Regierungspolitik revidiert sowie die Stellung und der Einfluss der Alexander-Fraktion gesichert und verstärkt werden. Der Kaiser, d.h. seine Gruppierung musste diese Bedingungen akzeptieren, ganz offensichtlich, um das Leben zu retten.

(3) Das furiose

Finale

(a) Verweigerung der Sakralgelübde Die Elagabal-Fraktion war jedoch offensichtlich nicht zu belehren. Der nächste Eklat trug sich in der Senatssitzung vom 1.1.222 zu, als der Kaiser seinen eponymen Amtskollegen zum Entsetzen aller Anwesenden evident ignorierte. A n sich hätten an diesem Tage Antoninus Elagabal und Severus Alexander als eponyme Konsuln des Jahres 222 auf dem Kapitol die vota vollziehen müssen. Da der Kaiser die gemeinsamen Sakralgelübde verweigerte, musste entsprechend dem alten Staatsrecht, das aber einen echten Abwesenheitsfall voraussetzte, der praetor urbanus die Weihegelübde vollziehen. (b) Ausweisung der Opposition I m folgenden Vierteljahr verschärfte sich der Konflikt zwischen beiden Fraktionen deutlich, wobei doch feststellbar ist, dass die Elagabal-Fraktion nicht so schwach gewesen sein kann, wie man annehmen könnte. Denn sonst hätten sie doch nach dem gerade nur mühsam beigelegten Prätorianeraufstand ihre ideologisch geprägten Tendenzen endgültig aufgegeben. I m Gegenteil: Es wurde nun mit einem veritablen Staatsstreich versucht, den Senat und auch die Prätorianer auszuschalten. Der Kaiser - wohl richtiger seine Fraktion - putschte; allerdings ziemlich dilettantisch (Die gesamte Situation erinnert sehr an den Moskauer August-Putsch von 1991). Es gab aber kein Blutbad, sondern es erging nur eine

58 59

Hist. Aug. Heliog. 14, 8. Hist. Aug. Heliog. 15, 2.

Manfred Just

208

Aufforderung an den Senat und an die führenden Persönlichkeiten der Alexander-Fraktion, darunter auch an Ulpian, Rom unverzüglich zu verlassen 60 . (c) Verhaftung und Hinrichtung des Elagabal Gleichzeitig versuchte die Elagabal-Fraktion, die Prätorianer mit Hilfe anderer Truppen zu isolieren und die Meuterer aus den Reihen der Prätorianer zu verhaften. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Prätorianer machten nun kurzen Prozess. Ende der ersten März-Woche 222 verhafteten sie die gesamte kaiserliche Familie und überführten sie in den Tempel der Prätorianerkaserne, wo alle Beteiligten noch einige Tage und Nächte verbringen mussten. Die Prätorianer hatten damit die Vertreter der gesamten Staatsgewalt, das Kaiserhaus mit beiden Fraktionen, in ihrer Gewalt. Inzwischen riefen die Prätorianer Severus Alexander zum neuen Kaiser aus; danach ermordeten sie die Famiiiares des Kaisers Antoninus Elagabal, d.h. die Elagabal-Fraktion. Schließlich am 11.3.222 richteten sie den hilflos und verstört wirkenden Kaiser und seine Mutter durch Enthauptung hin. Die Körper wurden der Volksbelustigung überantwortet. Das Volk schleifte sie durch die Straßen und warf sie schließlich in den Tiber61.

I I I . „Nachruf" Der alsbald nach dem Tod des Elagabal einberufene Senat bestätigte in einem senatus consultum de imperio die vorweggenommene Proklamation des neuen Kaisers Marcus Aurelius Severus Alexander. Zugleich sprach er über den Vorgänger die nachhaltig beachtete damnatio memoriae aus. Die Erwähnung des früheren Kaisers wurde - wo immer dies möglich war - gelöscht. Der „heilige Stein" des Elagabal aber wurde von Rom nach Emesa zurückgebracht, wo er noch lange, als man den Kaiser längst vergessen hatte, Gegenstand der Anbetung w a r 6 2 . Doch ganz vergessen blieb der Kaiser nicht. Er tauchte in der deutschen Literatur des Ästhetizismus, parallel zum zeitgenössischen Jugendstil in der bildenden Kunst, noch einmal auf. Stefan George (1868-1933) erinnerte sich seiner und widmete ihm 1892 sein frühes Werk „Algabal". Unter dem Einfluss von Nietzsche „zeichnete" er den jungen Kaiser so, wie er natürlich auch nicht war, als einen Übermenschen, der jenseits der bürgerlichen, aus der Sklavenmoral

60 61

Hist. Aug. Heliog. 16, 1. Cass. Dio 79, 20 f.; Herodian. 5, 6, 8 ff.; Hist. Aug. Heliog. 17; Lambertz (Fn. 1)

403. 62

Cass. Dio 79, 21, 2; Heriodian. 6, 1,3; Pietrzykowski

(Fn. 1) 1822.

Der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus

209

stammenden Kategorien von Gut und Böse existiert, „ i n überlegener, einsamer Hoheit, großartig, grausam und verschwenderisch, einem Gott gleich, allein nach dem Gesetz der aristokratischen Schönheit lebend" 6 3 . Dieser für uns heute merkwürdig verstiegene Stil des Schriftstellers erinnert an die zeitgenössischen rein ästhetisch intendierten Illustrationen von Aubrey

Beardsley

(1872-1898).

Die antiken Verleumdungen konvertierten am fin de siecle in ihr Gegenteil, in den ersehnten Höhepunkt des ethoslosen Ästhetizismus als erstrebenswertes Ziel des „adlig schönen Menschen". Wer hätte das gedacht? Lampridius

am aller-

wenigsten.

63

Fricke,

14 FS Hablitzel

Geschichte der deutschen Dichtung, Hamburg 4. Aufl. 1954, 356-358.

Zum Versicherungsschutz von Künstlern in der gesetzlichen Unfallversicherung Von Otto Ernst Krasney Als eines der besonderen Interessengebiete des Jubilars haben die Herausgeber auch i m Titel der Festschrift das der Kunst angeführt. Dem die Kunst schaffenden Künstler - wobei hier immer Künstlerinnen und Künstler umfasst sind kann auch die gesetzliche Unfallversicherung ( U V ) schützen. Das Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) vom 27. Juli 1981 erfasst nach seinem § 1 zwar nur die Versicherung der Künstler in der gesetzlichen Renten-, Krankenund Pflegeversicherung. Es betrifft somit nicht die gesetzliche U V . Dies war und ist auch nicht notwendig, weil - wie noch zu zeigen ist - der Schutz von Künstlern in der U V ausreichend abgesichert ist oder abgesichert werden kann.

I. Versicherter Personenkreis 1. Pflichtversicherung Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB V I I sind in der U V kraft Gesetzes versichert Beschäftigte.

Unter diesen Tatbestand fallen alle die Personen, die ihre künstle-

rische Tätigkeit i m Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses

ausüben. Be-

schäftigung ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB I V - in allen anderen Sozialversicherungszweigen - die nicht selbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 dieser Vorschrift

sind Anhaltspunkte für eine

Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Arbeitgeber sowie die Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation sind auch in Rechtsprechung und Literatur zur Auslegung des Begriffes Beschäftigung bzw. Beschäftigungsverhältnis als das entscheidende Merkmal angesehen worden 1 . A u f die umfangreiche Kasuistik bei der Abgren1

s. u.a. BSG SozR 4-2700 § 2 Nr. 1; Wiester in Brackmann, Kurt/Krasney, Otto Ernst/Burchardt, KlausI Wiester, Wolfgang, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 3 Gesetzliche Unfallversicherung, § 2, RdNrn. 27-29a; Riebet, Jürgen in Hauck, Karl/ Nofiz, Woligang/Keller, Wolfgang, Sozialgesetzbuch, SGB VII, § 2 RdNrn. 9, 10; Kater, Horst/Leube, Konrad, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 1997, § 2 RdNrn. 7-9; Kreßel, Eckard/Wöllenschläger, Michael, Leitfaden zum Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 51-56; Schwerdtfeger, Ulrich in Lauterbach, Herbert, 14*

212

Otto Ernst Krasney

zung einer selbständigen Tätigkeit von einem Beschäftigungsverhältnis

kann

hier schon aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden 2 . Darauf hinzuweisen ist allerdings, dass es entscheidend auf die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles ankommt 3 . So sprechen z.B. die Arbeit auf einer fremden Arbeitsstätte und die Einhaltung bestimmter Arbeitszeiten für eine persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von dem Arbeitgeber. Jedoch schließt insbesondere bei Künstlern eine von der Art der Tätigkeit bedingte Arbeit auch i m häuslichen Bereich oder jedenfalls außerhalb der Betriebsstätte des Unternehmens ebenso wenig eine Beschäftigung aus wie die freie Einteilung der täglichen Arbeitsstunden durch den Beschäftigten. Gleiches gilt für die Weisungsgebundenheit, die vor allem bei der künstlerischen Tätigkeit nicht das allein entscheidende Merkmal bildet. So wird es viele Fallgestaltungen geben, in denen der Arbeitgeber dem bei ihm beschäftigten Künstler keine Weisungen hinsichtlich der Gestaltung des künstlerischen Werkes geben kann, ohne dass schon allein deshalb eine Beschäftigung zu verneinen wäre. Umgekehrt ist die „Eingliederung in die Arbeitsorganisation" eines Unternehmens nicht stets zwingend als entscheidend für ein Beschäftigungsverhältnis anzusehen. So hat das Bundesarbeitsgericht ( B A G ) in seinem Urteil vom 22. August 2001 4 bereits entschieden, dass - in dem dort maßgebenden Fall - die Tätigkeit als Orchestermusiker sowohl als Arbeitnehmer als auch als freier Mitarbeiter möglich ist, obgleich in beiden Fällen eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Orchesters durchaus jedenfalls in einem bestimmten Umfange erforderlich ist. Das B A G hat insbesondere die Wahrnehmung der einzelnen Orchesterdienste keinesfalls als typische Unterschiede zwischen einem Arbeitnehmer und einem freien Mitarbeiter angesehen 5 . Entsprechendes gilt für die bildenden Künste. So kann z.B. ein Künstler bei einer Werbeagentur sowohl als freier Mitarbeiter als auch als Beschäftigter tätig sein, ohne dass wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Arbeitszeit und einer inhaltlichen Weisungsgebundenheit bestehen müssen. Ein Sänger, der auf längere Zeit eine Gastspielverpflichtung eingegangen und dementsprechend in den fremden Betrieb eingegliedert ist, steht nach der Auffassung des Bundesfinanzhofes ( B F H ) 6 in einem Beschäftigungsverhältnis. Dafür wird insbesondere von Bedeutung sein, dass gerade bei einer Gastspielreise der Sänger nicht nur zeitlich vollkommen in das fremde Tournee-UnterUnfallversicherung, SGB VII, § 2 RdNrn. 57-60; Mehrtens, Gerhard, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl., § 2 SGB VII, RdNr. 6.3.; Schmitt, Jochem, SGB VII, 2. Aufl. 2004 § 2 RdNr. 6; Schlegel, Rainer in Schulin, Bertram, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 2, Unfallversicherungsrecht, 1996, S. 289; Waltermann, Raimund, Sozialrecht, 4. Aufl. 2004, RdNr. 108-116. 2 Vgl. die Ausführungen bei den in Fußn. 1 angeführten Autoren. 3 BSGE 87, 53, 55; SozR 4-2700 § 2 Nr. 1. 4 NZA 2003, 662; Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 2 RdNr. 133. 5 BAG AP Nr. 16 zu § 611 BGB. 6 BStBl I I 1971, 22.

Versicherungsschutz von Künstlern

213

nehmen eingegliedert ist, sondern auch hinsichtlich des Repertoires wohl kaum eigene Entscheidungsfreiheiten besitzt. Allerdings wird man hier gleichfalls die besonderen Umstände des Einzelfalles nicht unberücksichtigt bleiben lassen dürfen. Es ist durchaus möglich, dass es einen Unterschied macht, ob ein junger, noch unbekannter Sänger i m Rahmen einer Gastspielveranstaltung als Sänger engagiert ist oder ob als Star einer solchen Veranstaltung einer der schon weltbekannten Sänger auftritt. Entsprechendes gilt z.B. für die Schauspieler oder Sänger, die ein Engagement bei einem Theater haben. Dieses Engagement kann einerseits insbesondere durch den Umfang der Tätigkeit, die Eingliederung in das Ensemble und durch Beschränkungen hinsichtlich des Auftretens an anderen Bühnen i m Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses bestehen. Aber ebenso ist es - wiederum insbesondere bei sehr bekannten Künstlern - nicht selten der Fall, dass sie lediglich für wenige Gastrollen engagiert sind und deshalb es nur zu einer durch die Aufführung selbst bedingten Eingliederung in das Ensemble führt, i m Übrigen aber alle anderen Merkmale des Beschäftigungsverhältnisses fehlen. Insbesondere i m Hinblick auf Künstler ist darauf hinzuweisen, dass für den Versicherungsschutz in der U V und deshalb auch bereits für die Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreis die Staatsangehörigkeit des Künstlers grundsätzlich ohne Bedeutung ist 7 . Die Vorschriften über die Versicherungspflicht gelten nach § 3 Nr. 1 SGB I V , soweit sie eine Beschäftigung voraussetzen, für alle Personen, die i m Geltungsbereich des SGB beschäftigt sind. Dabei steht diesem Versicherungsschutz dann nicht entgegen, dass der Künstler aufgrund seines in Deutschland liegenden Beschäftigungsverhältnisses eine Auslandstournee unternehmen und deshalb seine künstlerische Tätigkeit jedenfalls zeitweise i m Ausland verrichten muss. Die Versicherungspflicht, soweit sie eine Beschäftigung voraussetzt, und damit der Versicherungsschutz umfassen gemäß § 4 SGB I V auch die Personen, die i m Rahmen eines i m Geltungsbereich des SGB bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb des Geltungsbereiches entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglichen i m Voraus zeitlich begrenzt ist. Dies gilt auch für Beschäftigungsverhältnisse, bei denen sich nach Beginn der Beschäftigung sogleich eine Auslandstournee anschließt. Allerdings wird nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur U V dabei vorausgesetzt, dass nach der Rückkehr nach Deutschland eine weitere Beschäftigung vorgesehen ist 8 . Dies kann dazu führen, dass es wiederum auf die besonderen Fallgestaltungen der jeweiligen Umstände der einzelnen Tournee ankommt.

7 BSGE 20, 69, 70; 36, 276, 278; Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 2 RdNr. 224; Kater/Leube, a.a.O. - Fußn. 1 - § 2 RdNr 10; Lauterbach/Schwerdtfeger, a.a.O. Fußn. 1 - § 2 RdNr. 7; s. die Ausnahme in § 2 Abs. 3 Satz 1 Buchst, a SGB VII. 8 BSGE 75, 232; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr. 5.

214

Otto Ernst Krasney

Liegt ein Beschäftigungsverhältnis vor, so gelten auch für die Künstler die Grundregeln der U V . Dazu gehört z.B., dass es für den Schutz in der U V nicht darauf ankommt, ob der Veranstalter für den Künstler tatsächlich Beiträge entrichtet hat. Ebenso ist es rechtlich unerheblich, ob i m Vertrag selbst die Tätigkeit als Beschäftigung oder als selbständige Tätigkeit bezeichnet ist 9 . Es kommt wesentlich auf die tatsächlichen Umstände und dabei insbesondere eben auf die gesamte Organisation einschließlich des Umfanges der Weisungsbefugnis und der Eingliederung in die Unternehmensorganisation an. Allerdings können sich aus der vertraglichen Gestaltung wesentliche Anhaltspunkte ergeben 10 . Auch für Künstler ist zu beachten, dass sie bereits vor der Aufnahme einer Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit als Studierende nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst с SGB V I I während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen unter dem Schutz der U V stehen können. 2. Freiwillige

Versicherung

Ist eine Beschäftigung und damit ein Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB V I I als Beschäftigter zu verneinen, so können sich Künstler bei einer selbständigen Tätigkeit als Unternehmer freiwillig in der U V versichern. Nach § 6 kommt eine freiwillige Versicherung für Unternehmer und ihre i m Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten in Betracht. Selbständig tätige Künstler und Künstlerinnen sind Unternehmer. Nach § 136 Abs. 3 Satz 1 SGB V I I ist derjenige Unternehmer, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Dies ist bei einem selbständig tätigen Künstler der Fall, da seine Auftritte oder seine Arbeiten als gestaltender Künstler unmittelbar ihm Vorteile oder Nachteile bringen. Auch ein in einem Beschäftigungsverhältnis stehender Künstler kann unabhängig von der Beschäftigung daneben als selbständiger Künstler tätig und insoweit Unternehmer sein. Der Versicherungsschutz in der U V aus seiner Beschäftigung erfasst nicht seine Tätigkeit als selbständiger Künstler. Z u beachten ist für die Künstler insbesondere, dass die freiwillige Versicherung einen schriftlichen Antrag voraussetzt. In diesem muss der Wille, eine freiwillige Versicherung zu den gesetzlichen oder satzungsgemäßen Bedingungen abzuschließen, unmissverständlich und ohne Vorbehalt erklärt sein. Sie beginnt gemäß § 6 Abs. 2 SGB V I I mit dem Tag, der dem Eingang des Antrags folgt. Die Versicherung erlischt, wenn der Beitrag oder Beitragsvorschuss binnen zwei Monaten nach Fälligkeit nicht gezahlt worden ist. Durch einen Zahlungsrückstand wird jedoch später eine erneute freiwillige Versicherung nicht

9 10

Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 2 RdNr. 22. BSG SozR 2200 § 165 Nr. 96.

Versicherungsschutz von Künstlern

215

ausgeschlossen. So lange allerdings der rückständige Beitrag oder Beitragsvorschuss nach Maßgabe der Beitragszahlungs-Verordnung nicht entrichtet worden ist, fällt der Wiederbeginn der Versicherung nicht auf den Tag, der dem Eingang des Antrags folgt, sondern die Neuanmeldung bleibt so lange schwebend unwirksam, bis die Rückstände vollständig getilgt sind. Entsprechend der Begründung der freiwilligen Versicherung auf schriftlichen Antrag endet auch die freiwillige Versicherung aufgrund einer dahingehenden Willenserklärung durch Kündigung. Die freiwillige U V kann sich auch für den i m Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten erstrecken. Die Mitarbeit des Ehegatten muss insoweit nicht i m Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses geschehen, sondern sie kann ihre M i t arbeit auch aufgrund der persönlichen Beziehungen ohne jede vertragliche Absprache mit dem Künstler selbst verrichten 1 1 . Allerdings ist zu beachten, dass weiterhin nur der Ehepartner, also der Partner in einer gültigen Ehe mit dem Unternehmer in die freiwillige Versicherung mit einbezogen werden können. Weder geschiedene Ehegatten noch der Partner einer nichtehelichen Gemeinschaft können sich nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 SGB V I I freiwillig versichert werden. Ob etwas anderes für die Lebenspartner einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft i m Sinne des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften v o m 16. Februar 2001 zu gelten hat, ist strittig 1 2 . Der Lebenspartner gilt nach § 11 Abs. 1 dieses Gesetzes als Familienangehöriger, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist. Der Ehegatte ist ebenfalls ein Familienangehöriger. Dies spricht dafür, i m Rahmen des § 6 SGB V I I den Lebenspartner in dem о. a. Sinne einzubeziehen. Dagegen ist anzuführen, dass anders als in § 2 Abs. 1 Nr. 5 Buchst, a und in den Nummern 6, 7 SGB V I I der Lebenspartner in § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V I I neben dem Ehegatten nicht mit aufgeführt ist. Fraglich ist, ob die Versicherung des mitarbeitenden Ehegatten des Unternehmers erlischt, wenn z.B. die Ehe durch Tod oder Scheidung aufgelöst wird, der bisherige Ehegatte jedoch weiterhin in dem Unternehmen des früheren Ehegatten arbeitet. In der Literatur 1 3 wird davon ausgegangen, dass dem versicherten früheren Ehegatten Vertrauensschutz in der Form des Bestandschutzes zuzubilligen ist und deshalb die Versicherung i m bisherigen Umfang fortgeführt wird. Allerdings wird dem Versicherungsträger das Recht zugebilligt, unter Berücksichtigung der schützenswürdigen Belange des betroffenen früheren Ehegatten gemäß den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben das Ende der Ver11 Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 39; Hauck/Noftz/Riebel, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 8, § 2 RdNrn. 59, 59a. 12 BGBl I 266; bejahend Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 38a; verneinend Schmitt, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 8. 13 Wiester, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 60; Kater/Leube, a.a.O. - Fußn. 1 - § 6 RdNr. 23.

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Sicherung festzustellen. Bis zu dem rechtmäßig festgestellten Beendigungszeitraum bleibt der Unfallversicherungsschutz somit bestehen. 3. Früheres Recht Vor Inkrafttreten des SGB V I I war die U V i m Dritten Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelt. Nach § 539 Abs. 1 Nr. 3 R V O waren Personen versichert, die zur Schaustellung oder Vorführung künstlerischer oder artistischer Leistungen vertraglich verpflichtet waren. Eine entsprechende Regelung enthält das SGB V I I nicht. Die frühere Regelung zwang zwar nicht dazu, zwischen einer selbständigen Tätigkeit und einer Beschäftigung des Künstlers unterscheiden zu müssen. Allerdings war diese Regelung insoweit enger als es die jetzigen Möglichkeiten zur Versicherung des Künstlers in der U V sind, weil lediglich solche künstlerische Leistungen versichert waren, zu denen sich der Künstler „vertraglich verpflichtet" hatte. Da jedoch die vertragliche Verpflichtung sowohl durch ein Beschäftigungsverhältnis als auch durch vertragliche Absprachen zwischen dem Künstler als Unternehmer und z.B. einer Agentur begründet werden konnte, blieben letztlich von § 539 Abs. 1 Nr. 3 R V O nur die Personen nicht umfasst, die als selbständige Unternehmer z.B. selbst die entsprechenden künstlerischen Auftritte und Darbietungen erst organisierten oder ohne vertragliche Verpflichtungen ihre Werke schufen, um sie zum Kauf anzubieten oder für spätere Verpflichtungen ihre Darbietungen übten. Für sie bestand dann wiederum die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung nach § 545 RVO.

II. Versicherungsfälle Versicherungsfälle SGB V I I ) .

sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1

Es bedarf sicherlich keiner besonderen Erwähnung, dass nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder § 6 SGB V I I versicherte Künstler sowohl bei einer abhängigen als auch einer selbständigen Tätigkeit Arbeitsunfälle erleiden können. Aber auch Berufskrankheiten kommen bei Künstlern durchaus in Betracht. So sind in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung ( B K V ) vom 31. Oktober 1997 u.a. folgende Krankheiten aufgeführt: Erkrankungen durch Quecksilber, durch Arsen, durch Phosphor und seine anorganischen Verbindungen, durch organische Phosphorverbindungen sowie Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel und deren Gemische sowie Erkrankungen durch mechanische Einwirkungen wie z.B. durch Erschütterungen bei Arbeiten mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen sowie die Lärmschwerhörigkeit. Schließlich können z.B. bei Künstlern, die sich i m Zusammenhang mit ihrer versicherten künstlerischen Tätigkeit einige Zeit in den

Versicherungsschutz von Künstlern

217

Tropen aufgehalten haben, Tropenkrankheiten und schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen als Berufskrankheiten auftreten. Nicht nur bei den kraft Versicherungspflicht, sondern auch bei den freiwillig Versicherten gilt der allgemeine Grundsatz der U V , dass ein Ausschluss von Vorerkrankungen und Vorschäden nicht zulässig ist. Zwar fallen diese Vorerkrankungen und Vorschäden selbst nicht als Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten in den Schutz der U V , aber sie können durch Arbeitsunfälle oder sonstige schädigende Einwirkungen bei der versicherten Tätigkeit Grundlage für eine Entschädigung i m Sinne der Verschlimmerung einer Vorerkrankung oder eines Vorschadens in Betracht kommen. Zwei Beispiele: Ein Künstler erkrankt durch von ihm bei seiner künstlerischen Tätigkeit benutzten chemisch-irritativen oder toxisch wirkenden Stoffen an einer obstruktiven Atemwegserkrankung. Diese Erkrankung kann, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, als Berufskrankheit i m Sinne der Nr. 4302 der Anlage zur B K V als Berufskrankheit anerkannt werden. Die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit ist die Folge der Berufskrankheit. Ist bei einem Künstler allerdings bereits i m jugendlichen Alter eine obstruktive Atemwegserkrankung anlagebedingt aufgetreten, so kann dennoch eine Berufskrankheit entstehen, wenn chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe, die bei seiner künstlerischen Arbeit aufgetreten sind, seine obstruktive Atemwegserkrankung verschlimmern. Dann wird allerdings nur der durch die Verschlimmerung bedingte Schädigungsanteil als Berufskrankheit entschädigt.

I I I . Den Versicherungsschutz begründende Tätigkeiten (versicherte Tätigkeiten) Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB V I I Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründeten Tätigkeiten (versicherte Tätigkeit). Die den Unfall verursachende

Verrichtung

muss i m inneren Zusammenhang mit der versicherten - hier der künstlerischen - Tätigkeit stehen. Eine Aufzählung aller Verrichtungen, die i m Rahmen der nicht überschaubaren unterschiedlichen künstlerischen Tätigkeiten i m inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen und deshalb auch Arbeitsunfälle verursachen können, ist offensichtlich nicht möglich. Maßgebend sind insbesondere bei Künstlern und der durch ihre Persönlichkeit und die Art ihrer Tätigkeit prägenden künstlerischen Tätigkeit die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Nur einige Grundsätze können hier aufgeführt werden. Schon aus dem erforderlichen inneren Zusammenhang ist ersichtlich, dass es insoweit nicht wesentlich allein auf Ort und Zeit der Verrichtung ankommt. Gerade die künstlerische Tätigkeit zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie insbesondere i m Rahmen einer selbständigen Tätigkeit, aber ebenso bei beschäftigten Künstlern zu den unterschiedlichsten Zeiten und an den unterschiedlichsten Ört-

218

Otto Ernst Krasney

lichkeiten erforderlich ist. So kann z.B. ein Kunstmaler in seinem Atelier oder in der landschaftlichen Umgebung arbeiten, er kann aber auch ohne direkte Anfertigung eines Werkes auf Motivsuche in der freien Natur oder in der Stadt selbst sowie in Gaststätten oder anderen öffentlichen Gebäuden tätig sein. Dies gilt vor allem, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, bei künstlerisch arbeitenden Fotografen. Aber auch Sänger werden an den verschiedensten Örtlichkeiten auftreten und ihre Proben absolvieren. Sowohl die Tätigkeit i m Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses auch die selbständige Tätigkeit sind dadurch gekennzeichnet, dass sie wesentlich den Zwecken des - bei Beschäftigten - fremden oder - bei selbständig Tätigen dem eigenen Unternehmen zu dienen bestimmt sind 1 4 . Es ist zwar ein wesentliches Zeichen, aber nicht unfallversicherungsrechtlich erforderlich, dass die Tätigkeit den Zwecken des Unternehmens tatsächlich gedient hat, entscheidend ist ob sie dazu bestimmt war, dem Unternehmen zu dienen. Die Tätigkeit an einem Werk, das dem Künstler misslingt oder das nicht den Erwartungen seiner Auftraggeber entspricht und deshalb für den Künstler jedenfalls zur Zeit nicht „verwertbar" ist, war doch dazu bestimmt, dem Unternehmen zu dienen. Entscheidend ist, dass der Versicherte von seinem Standpunkt aus aufgrund objektiver Anhaltspunkte der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, den Interessen des fremden oder eigenen Unternehmens zu dienen 1 5 . Gleiches gilt u.a. für die Erarbeitung von Entwürfen i m Rahmen eines Wettbewerbes, selbst wenn der Entwurf nicht angenommen wird und auch keinen Preis erhält. Das Kriterium der dem Unternehmen zu dienen bestimmte Verrichtung als Grundlage des Versicherungsschutzes lässt zugleich erkennen, dass dieser sich nicht nur auf Unfälle beschränkt, die sich bei Arbeiten ereignen, die den i m Arbeitsvertrag niedergelegten Aufgaben des abhängig beschäftigten Versicherten oder den künstlerischen Arbeiten des freiwillig als Unternehmer versicherten Künstlers entsprechen. Gerade ein Künstler kann sich oft auch Arbeiten in seinem Unternehmen oder in dem Unternehmen, in dem er beschäftigt ist, nicht entziehen, die nicht zur eigentlichen künstlerischen Tätigkeit gehören. So ist z.B. der Versicherungsschutz gegeben, wenn ein Künstler, der in einer Ausstellungshalle Kunstwerke zu präsentieren hat, Handwerkern hilft, den für ihn maßgebenden Ausstellungsraum entsprechend auszurichten. Bei beschäftigten Künstlern ist eine Weisung zur Durchführung einer bestimmten Arbeit nicht erforderlich, begründet aber den Versicherungsschutz selbst dann, wenn eine Weigerung des Versicherten zu keinen arbeitsrechtlichen Folgen führen könnten. Die Weisungsgebundenheit als Zeichen des Beschäfti14 BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 28, SozR 3-2700 § 8 Nr. 11; Krasney, a.a.O. Fußn. 1 - § 8 RdNr. 31 m.w.N.; Kreßel/Wollenschläger, a.a.O. - Fußn. 1 - S. 231. 15 BSGE 20, 215, 218; 52, 57, 59; BSG SozR 3-2700 § 8 Nr. 9; Schmitt, a.a.O. Fußn. 1 - § 8 RdNr. 12.

Versicherungsschutz von Künstlern

219

gungsverhältnisses sichert den Versicherungsschutz z . B . 1 6 , wenn der Künstler aufgrund der ihm zugänglichen objektiven Verhältnisse zu der Überzeugung gelangt, dass der Besuch einer bestimmten Ausstellung nicht dazu beitragen kann, dem Unternehmen zu dienen, der Unternehmer ihm jedoch dennoch die Anweisung gibt, die Ausstellung zu besuchen. Der Hinweis auf den Besuch von Ausstellungen führt in einen ebenfalls grundsätzlich dem Versicherungsschutz Künstler

regelmäßig

besonders

in der U V

bedeutsamen

unterliegenden und für

Bereich:

die

Geschäfts-

und

Dienstreisen. A u f Wegen und Reisen außerhalb der Betriebsstätte, die zur Ausführung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden und demnach i m inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, unterliegen die Versicherten - sowohl als Beschäftigte als auch freiwillig versicherte Unternehmer - dem Versicherungsschutz. Diese Wege und Reisen sind dann ein Teil der versicherten Tätigkeit und unterscheiden sich von den Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit i.S. des § 8 Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGB V I I . Betriebsweg und Geschäftsreise sind Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden. Sie sind Teil der versicherten Tätigkeit sind, zumindest aber stehen sie der Arbeitsarbeit gleich. Anders als der Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit werden sie i m unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und gehen nicht lediglich der versicherten Tätigkeit voran oder folgen ihr. Ist bei einer Dienst- oder Geschäftsreise der Weg sowohl betrieblichen als auch privaten Zwecken zu dienen bestimmt und ist er nicht eindeutig in einen - versicherten - unternehmensbedingten und einen - unversicherten -

unternehmensfremden

(privaten) Teil zu zerlegen, so gelten die zum Versicherungsschutz bei gemischten Tätigkeiten aufgezeigten Grundsätze. Entscheidend ist somit, ob der Weg dem Unternehmen, wenn auch nicht überwiegend so doch wesentlich zu dienen bestimmt i s t 1 7 . Wiederum ein Beispiel: Dem Versicherungsschutz auf dem Wege zu einer künstlerischen Veranstaltung steht nicht entgegen, dass der Versicherte am Veranstaltungsort auch einen nahen Verwandten besuchen w i l l . So lange sich der Weg zum Veranstaltungsort nicht von dem zum Verwandten unterscheidet, besteht Versicherungsschutz. Sobald aber der Versicherte -

z.B.

nach Aufsuchen des Hotels - sich zu dem Verwandten begibt, besteht kein Versicherungsschutz mehr, weil er sich dann auf einem anderen als dem unternehmensbedingten Weg befindet. Der Versicherungsschutz besteht auch bei den betriebsbedingten Reisevorbereitungen, wie z.B. das Lösen einer Fahrkarte oder das Aufgeben von Gepäck. Gleiches gilt z.B. für das Beladen eines Pkws oder

16

BSG Urteil vom 20.10.1983 - 2 RU 77/82 - USK 83164; Krasney, a.a.O. Fußn. 1 - § 8 RdNr. 35. 17 BSGE 3, 240, 245; BSG SozR 2200 § 548 Nrn. 17, 90; Krasney, a.a.O. Fußn. 1 - § 8 RdNr. 91; Lauterbach/Schwerdifeger, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 309; Mehrtens, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 SGB V I I RdNr. 7.15.2.

220

Otto Ernst Krasney

eines Lkws, um für den künstlerischen Beruf wesentliche Gegenstände mitzunehmen 1 8 . Während einer Dienstreise ist Unfallversicherungsschutz

allerdings

nicht

schon deshalb ohne weiteres gegeben, weil sich der Reisende an einem fremden Ort aufhalten muss. Es ist hier ebenfalls zu unterscheiden zwischen Betätigungen, die mit dem Beschäftigungsverhältnis oder der selbständigen Tätigkeit als Künstler rechtlich wesentlich zusammenhängen, und solche Verrichtungen, die der privaten Sphäre des Reisenden zuzurechnen sind. So besteht z.B. Versicherungsschutz nach der Ankunft beim „Erkunden" der Örtlichkeiten vor Beginn z.B. einer Ausstellung, oder das Suchen nach einer Unterkunft (einer Pension oder eines Hotels). Versicherungsschutz kann auch bestehen, wenn ein i m Ausland tätiger Versicherter bei der Erfüllung seiner betrieblichen Aufgaben von ausländischen Behörden verhaftet wird, die ihm zu Unrecht subversive Tätigkeit vorwerfen, und der Versicherte während der Haft verletzt wird. Der Versicherungsschutz entfällt aber, wenn der Reisende sich rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht mehr wesentlich beeinflussten Belangen widmet. So ist z.B. der Besuch der Hotelbar nach Beendigung der Dienstgeschäfte grundsätzlich nicht mehr versichert, sofern nicht besondere Umstände den inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit begründen. Das kann u.a. der Fall sein, wenn Künstler sich nach dem Ende der Besuchszeit einer Ausstellung noch treffen, um über weitere Ausstellungen oder sonstige konkret ihren Beruf wesentlich betreffenden Dinge zu diskutieren. Die Zusammenkunft muss aber wesentlich dazu bestimmt sein, diese Diskussionen zu führen. Ein lediglich gemütliches Beisammensein reicht nicht aus, selbst wenn dabei - wie auch bei allen anderen Berufen - gewisse berufliche Erfahrungen und Ereignisse angesprochen werden. Der Weg zur Nahrungsaufnahme während einer Dienstreise gehört zu den Verrichtungen, die i m inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, die den Versicherten in die fremde Stadt und damit außerhalb seines gewöhnlichen Wohnbereiches führt. A u f diesem Weg besteht Versicherungsschutz auch dann, wenn nicht das Hotel-Restaurant, sondern eine andere Gaststätte aufgesucht w i r d 1 9 . Bei Unfällen innerhalb eines Hotels oder eines Privatquartiers besteht Versicherungsschutz ebenfalls bei allen Verrichtungen, die dazu bestimmt sind, wesentlich der versicherten Tätigkeit zu dienen (z.B. Erledigung von Geschäfts-

18

Krasney, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 96; Keller, Wolfgang in Hauck/Noftz/ Keller, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 85; Lauterbach/Schwerdtfeger, a.a.O. - Fußn. 1 § 8 RdNr 291; Mehrtens, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 SGB V I I RdNr. 7.15; Ziegler, Eberhard in Lehr- und Praxiskommentar (LPK - SGB VII), 2000, § 8 RdNr 106. 19 BSGE 50, 100, 101; 63, 273, 274; Krasney, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr 104 m.w.N.

Versicherungsschutz von Künstlern

221

post und Telefonaten, Besprechungen i m Hotelzimmer). Während einer Dienstoder Geschäftsreise kann jedoch innerhalb eines Hotels oder eines Privatquartiers ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des Reisenden auch bei dem privaten unversicherten Bereich zuzurechnenden Verrichtungen gegeben sein, wenn gefahrbringende Umstände den Unfall wesentlich bedingt haben, die in ihrer besonderen Eigenart dem Beschäftigten während seines normalen Verweilens am Wohn- oder Beschäftigungsort nicht begegnet wären 2 0 . Allerdings genügt die Erwägung allein nicht, dass dem auf einer Dienstreise befindlichen Versicherten der Unfall nicht zugestoßen wäre, wenn er zu Hause geblieben wäre. Vielmehr muss, wie generell in der U V , zu der nicht hinwegzudenkenden Bedingung noch eine nähere Beziehung zur dienstlichen Sphäre treten, welche die Annahme eines wesentlichen inneren Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallergebnis rechtfertigt. A u f diesen Grundsätzen beruht die Rechtsprechung des BSG zum Versicherungsschutz bei Unfällen, die sich während einer Dienstreise durch Gefahrenmomente ereignet haben, denen der Versicherte durch Aufenthalt in einem Hotel oder einer anderen Übernachtungsstätte ausgesetzt war (z.B. Hotelbrand oder Sturz aus dem Fenster des Hotels wegen der das allgemeine Maß übersteigenden gefährlichen Bauart des - ganz niedrigeren -

Hotelfenstersim-

ses). A u f Reisen zu Ausstellungen und Messen besteht jedenfalls dann Versicherungsschutz, wenn der in einem Beschäftigungsverhältnis stehende Versicherte von seinem Unternehmen mit dem Besuch der Messe oder Ausstellung beauftragt ist oder aber ein versicherter Unternehmer selbst Aussteller ist. Bei Künstlern, die freiwillig als Unternehmer versichert sind oder bei beschäftigten Künstlern, die selbst über die Durchführung von Geschäftsreisen entscheiden können, ist der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und dem Besuch der Ausstellung oder Messe auch dann gegeben, wenn der Besuch keinen konkreten Vertragsabschluss bezweckt, da schon wegen der ständig erforderlichen Beobachtung des Marktes und z.B. der persönlichen Kontaktaufnahme zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit die Fahrt wesentlich den Interessen des Betriebes zu dienen bestimmt i s t 2 1 . Auch bei Verrichtungen, die nicht unmittelbar der künstlerischen Tätigkeit, sondern nebenher wesentlich zur mittelbaren Förderung des künstlerischen W i r -

20 BSG SozR 3-2200 § 539 Nr. 17; Hauck/Noftz/Keller, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr.83; Krasney , a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 107; Lauterbach/Schwerdtfeger , a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNrn. 303, 306; Mehrtens, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 SGB V I I RdNr. 7.15.4; Ricke in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 8 SGB V I I RdNr. 129; Schmitt , a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 44. 21 BSG SozR Nr. 29 zu § 548 RVO; Hauck/Noftz/Keller, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 134; Krasney, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 112; Lauterbach/Schwerdtfeger, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 193; Schmitt, a.a.O. - Fußn 1 - § 8 RdNr. 18.

222

Otto Ernst Krasney

kens vorgenommen werden, kann Versicherungsschutz bestehen. Allerdings ist der innere Zusammenhang zwischen der zum Unfall führenden Verrichtung und der versicherten Tätigkeit auch bei diesen Verrichtungen erforderlich. Es muss sich entsprechend den vorstehenden Ausführungen zum Besuch von Messen und Ausstellungen nicht um eine auf einen konkreten Geschäftsabschluss gerichtete Veranstaltung handeln. Es hat jedoch eine wesentliche Geschäftbeziehungen zu dienen bestimmte Tätigkeit und nicht nur eine Verrichtung zu sein, die i m Wesentlichen der Auflockung der Gesprächsatmosphäre dient. Deshalb ist auch der Besuch von Ausstellungen anderer Künstler oder sonstigen gesellschaftlichen Veranstaltungen, bei denen der Künstler sich mit allgemein die Kunst oder ihm sogar persönlich fördernden Persönlichkeiten treffen kann, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, wenn diese Handlungstendenz den Besuch der Ausstellung zumindest wesentlich mitbestimmt hat. Sie braucht nicht überwiegend der Grund für den Ausstellungsbesuch sein. Es gilt auch dann für Besuche von Veranstaltungen anderer Künstler, wenn sie deshalb getätigt werden, weil auch der Künstler, dessen Ausstellung man besucht, bei eigenen Ausstellungen ebenfalls zum Besucherkreis gehört. Die Teilnahme an der Beerdigung eines gegenwärtigen oder früheren Auftraggebers steht nach der Rechtsprechung des BSG nicht i m inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigk e i t 2 2 . Dieser Auffassung wird jedoch in dieser allgemeinen Aussage nicht gefolgt. Neben den vom BSG erwähnten Gründen der Pietät werden wesentlich auch berufliche und geschäftliche Anliegen berührt, wenn die Hinterbliebenen oder andere Trauernden oder auch nur Teilnehmer an der Beerdigung feststellen, dass der Künstler dem Auftraggeber oder Geschäftspartner nicht die letzte Ehre erweist. Ebenso kann die Teilnahme an der Beerdigung eines verstorbenen Kollegen wesentlich von der durch den Beruf mit geprägten kollegialen Verbundenheit bestimmt und deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sein. Beim Besorgen von Vermögensangelegenheiten eines Beschäftigten

oder

auch eines freiwilligen Versicherten ist gleichfalls zu unterscheiden zwischen solchen Angelegenheiten, die wesentlich allein dem privaten Bereich zuzurechnen sind, und denen, die aus der betrieblichen Tätigkeit entspringen und für diese getätigt werden 2 3 . So ist z.B. bei einem Beschäftigten das Besorgen einer Lohnsteuerkarte, das Eintragen eines Steuerfreibetrages und das Anlegen privaten Geldes bei einer Bank dem persönlichen Bereich zuzurechnen. Gleiches gilt für den Unternehmer. M i t der versicherten Tätigkeit eines Unternehmers steht aber i m inneren Zusammenhang z.B. das Aufsuchen des Finanzamtes oder eines Steuerberaters zur Klärung der Umsatzsteuer, die Verhandlungen mit einer Bank über die Gewährung von Krediten für das Unternehmen, Gespräche zur

22

BSGE 15, 193; BSG SozR Nr. 62 zu § 543 RVO aF. s. BSGE 11, 154; 17, 11, 13; BSG SozR Nr. 19 zu § 537 RVO aF.; Krasney, a.a.O. - Fußn. 1 - § 8 RdNr. 171 - hier Seite 90/91. 23

Versicherungsschutz von Künstlern

223

Erlangung einer Bürgschaft für das Unternehmen betreffende Kreditgeschäfte, Wege zur Besprechung und Verhandlung über den Erwerb eines Grundstückes für das Unternehmen. Der

Versicherungsschutz

von

Kunststudenten/Kunststudentinnen 24

bezieht

sich nicht nur auf die Teilnahme an den Vorlesungen, Übungen und Seminaren, sondern auch an von der Universität organisierten Besuchen z.B. von Musikaufführungen, Ausstellungen, Schauspiel Vorführungen, Konzerten. Der von der Universität durchgeführte Besuch von Studenten eines Künstlers in einem Atelier, um dort künstlerisches Arbeiten erfahren zu können, ist der versicherten Tätigkeit während des Studiums zuzurechnen.

IV. Zu empfehlender Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung Schon aus der dem Beitrag einer Festschrift eigenen Umfangbeschränkung konnten nur wenige Hinweise über den bestehenden und den möglichen Schutz in der U V gegeben werden. Sie lassen aber bereits erkennen, wie sehr gerade eine künstlerische Tätigkeit in ihren so vielschichtigen Bereichen dieses Schutzes bedarf.

Auch die hier nicht behandelten Leistungen

(Heilbehandlung,

Pflege, Verletzten- und Hinterbliebenenrente) entsprechen diesem Schutzbedürfnis.

24

Siehe oben unter I 1.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität Seine Bedeutung im geltenden Gemeinschaftsrecht und seine Entwicklungsperspektiven in einer Europäischen Verfassung Von Helmut Lecheler Subsidiarität und Solidarität - das sind die beiden beherrschenden Rechtsprinzipien, aus denen heraus die Zukunft der Europäischen Union zu gestalten ist. Ein Zusammenleben unabhängiger Staaten kann nach der Entwicklung der Rechtsstaatsidee und der Ausdifferenzierung des Sozialstaatsprinzips i m 19. und 20. Jahrhundert in einer erweiterten Union i m 21. Jahrhundert nur auf der Basis der Subsidiarität und der Solidarität gelingen. I m Bewusstsein dieser Tatsache hat sich der Jubilar seit langem in wissenschaftlichen Publikationen 1 wie auch in seiner praktisch-politischen Arbeit, vor allem i m Bundesrat 2 der Verwirklichung dieses Prinzips gewidmet. Das gibt mir Anlass, mich in seiner Geburtstagsgabe etwas näher mit der Frage zu beschäftigen, welche Bedeutung dem Subsidiaritätsprinzip heute in der Europäischen Union zugemessen wird und welche Perspektiven sich eröffnen.

I. Zum Begriff „Subsidiaritätsprinzip" Z u m Subsidiaritätsprinzip selbst 3 hier nur einige kurze Bemerkungen, um nicht die sprichwörtlichen Eulen nach Athen zu tragen. 1 Vgl. etwa H. Hablitzel, Subsidiaritätsprinzip und Bildungskompetenzen im Vertrag über die Europäische Union, Regensburg 1994; ders., Subsidiaritätsprinzip und Interdisziplinarität, in: FS H. J. Hahn, Baden-Baden 1997, 625 ff.; ders., Verhältnis von Tarif- und Betriebsautonomie im Lichte des Subsidiaritätsprinzips, NZA 2001, 467 ff. 2 Wo Hablitzel immer wieder aus dem fernen München auf Empfehlungen der Ausschüsse für Fragen der EU, für Kulturfragen und des Wirtschaftsausschusses des Bundesrats im Sinne einer Beachtung des Subsidiaritätsprinzips Einfluss genommen hat. Dabei kommt Hablitzel seine interdisziplinäre Weite und die Tiefe seiner philosophischen Bildung zugute, die sich in vielen die Rechtswissenschaft übergreifenden Beiträgen zeigt, zul. etwa in seiner Würdigung von Jean-Marie Guyau als interdisziplinären und soziologischen Denker, in: Corpus - Revue de philosophie n° 46, Jean-Marie Guyau: Philosophie de la vie, Centre d'Etudes d'Histoire de la Philosophie Moderne et Contemporaine, Universite Paris Χ, 2004, 17 ss. und die von ihm zusammen mit Jordi Riba, a.a.O., 7 ff. verfasste Bibliographie von J.-M. Guyau.

15 FS Hablitzel

Helmut Lecheler

226

Das Subsidiaritätsprinzip ist eigentlich ein schlichtes Vernunftprinzip. Es besagt i m Kern nichts anderes als den Vorrang der kleineren, der „nachgeordneten" Einheit vor der größeren - in der Gesellschaft wie i m Staat. Was der Einzelne oder die jeweils kleinere Personeneinheit selbst bewerkstelligen kann, das bleibt ihnen überlassen. I m deutschen Staatsrecht ist das Subsidiaritätsprinzip freilich sowohl i m Grundsatz (Verfassungsrectogrundsatz wertes Bauprinzip

oder verfassungspolitisch

wünschens-

von Gesellschaft und Staat 4 ) wie auch i m Detail (welche

Rechte für die nachgeordnete Einheit aus dem Subsidiaritätsprinzip abzuleiten sind) umstritten. Die Konzeption des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsgrundsatz muss bedeuten, dass die nachgeordneten Einheiten in Gesellschaft und Staat einen /tec/ztaanspruch darauf haben, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu erfüllen. Nur Aufgaben, zu deren Erfüllung die kleinere Gemeinschaft nicht in der Lage ist, darf die übergeordnete Gemeinschaft zur Erledigung an sich ziehen und auch das nur unter der Voraussetzung, dass sie dazu besser in der Lage ist als die nachgeordnete Gemeinschaft; sonst dürfen diese Aufgaben von den öffentlichen Händen nicht in Angriff genommen werden. Das Subsidiaritätsprinzip als Rechtsgrundsatz hat also ganz wesentlich einen Autonomie gehalt 5, indem es die Selbst Verantwortung der kleineren Einheit postuliert und stärkt. Daher müsste dieses Prinzip eigentlich „modern" sein, weil allenthalben die Rede ist von der Notwendigkeit einer Verstärkung der Selbstverantwortung in Staat und Gesellschaft. Die praktische Umsetzung dieses Prinzips ist freilich weit vom wünschenswerten Zustand entfernt. Immerhin hat das Subsidiaritätsprinzip inzwischen ausdrücklich (und nicht nur - wie in Art. 72 I I GG - materiell) Eingang gefunden

3 Aus der inzwischen überbordenden Literatur vgl. aus neuerer Zeit etwa P. Blickle/Th. O. Hilglin/D. Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft - Genese, Geltungsgrandlagen und Perspektiven an der Schwelle des 3. Jahrtausend, Berlin 2002; A. E. di Noriega , The EU Principle of Subsidiarity and its Critique (Oxford Studies in European Law) 2002 (bespr. v. H. Hablitzel, BayVBl. 2004, 224); P. de Pasquale , II Principio di Sussidiarita nella Comunitä Europea, Napoli 2000 (bespr. v. H. Hablitzel, BayVBl. 2002, 32); W. Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips - eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Studie, Berlin 2001 (bespr. v. H. Hablitzel, BayVBl. 2002, 648); J.-L. Clergerie, Le principe de subsidiarite, Paris 1997 (bespr. v. H. Hablitzel, BayVBl. 1999, 63); toute une serie des contributions ä la subsidiarite (approche generale et approche juridictionnelle) dans R. A. E. - L. E. A. 1998. 4 Vgl. dazu nähere Nachw. bei H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin 1993, 43, insbes. auf die Arbeiten von J. Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Aufl. Berlin 2001; R. Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, München 1968 sowie H. Kalkbrenner, Die rechtliche Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips, in: FS für G. Küchenhoff (hg. v. Hablitzel/ Wollenschläger), 2. Halbband, Berlin 1972, 529 ff. 5 Vgl. dazu näher H. Lecheler, a.a.O., 125 ff.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

227

in Art. 23 I GG als Grenze für die Mitwirkung des deutschen Ratifikationsgesetzgebers bei einer europäischen Einigung, die dieses Prinzip nicht beachten würde 6 . Das erschwert natürlich inzwischen die Argumentation der Vertreter der Auffassung von einer nur politischen Bedeutung des Prinzips. Einen relativ unbestrittenen Anwendungsfall für das Subsidiaritätsprinzip als Rechtsgrundsatz (mit freilich ungeklärter Drittschutzwirkung für den Bürger 7 ) kennen wir bei der Beschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Gemeinden in den deutschen Kommunalgesetzen 8 , wonach es Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Betätigung der Gemeinden ist, dass Private diese Aufgabe nicht ebenso oder sogar besser erfüllen können.

II. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in den Verträgen zur Europäischen Einigung 7. Der Ausgangspunkt

im EG-Umweltrecht

I n den Vertragstexten der europäischen Einigung tauchte das Subsidiaritätsprinzip expressis verbis 9 erstmals i m neuen Titel V I I „ U m w e l t " auf, der mit der am 1.7.1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) dem EGW-Vertrag eingefügt wurde. Art. 130 г I V lautete in der damaligen Fassung: „Die Gemeinschaft wird ... insoweit tätig, als die ... Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten". Man sprach von der sog. „Besser"-Klausel 1 0 .

6 Damit soll den beiden Vorbehalten des BVerfG Rechnung getragen werden, die Gemeinschaft müsse einen dem deutschen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten (vgl. BVerfGE 73, 339, 378 ff., 387) und die Anerkennung sog. „ausbrechender" Hoheitsakte (BVerfGE 89, 155/188) dürfe in der deutschen Rechtsordnung nicht gewährleistet werden. Zur in Art. 23 vorgeschriebenen Mitwirkung der Länder vgl. Ph. Kunig, Die Mitwirkung der Länder bei der europäischen Integration - Art. 23 GG in Zwielicht, in: FS Heymanns Verlag 1995, 591 ff. 7 Vgl. einerseits BGH Urt. v. 25.4.2002, NJW 2002, 2645 (Elektroarbeiten) und andererseits OVG Münster DB VI. 2004, 133 = NVwZ 2003, 1520, in dem erstmals ein OVG den gemeindewirtschaftlichen Schranken drittschützende Wirkung zuerkannte; vgl. zum Ganzen A. Faber, Aktuelle Entwicklungen des Drittschutzes gegen die kommunale wirtschaftliche Betätigung, DVB1. 2003, 761 ff. 8 Vgl. etwa Art. 89 BayGO. 9 Zu den Vorläuferversuchen einer rechtlichen Verankerung des Subsidiaritätsprinzips vgl. H. Lecheler, a.a.O., S. 21 ff. 10 Vgl. dazu H. Lecheler, Die umweltrechtlichen Kompetenzen der EG, in: Jahrbuch des Umweltsrechts- und Technikrechts, 1991 Bd. 15, 255 ff. m.w.Nachw.

15*

Helmut Lecheler

228 2. Die Verstärkung

des Subsidiaritätsprinzips

im Unionsvertrag

M i t dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union am 1.11. 1993 wurde diese Bestimmung aufgehoben. Der Grundsatz der Subsidiarität wurde aus der Isolierung des Umweltrechts herausgelöst und als Art. 3 b I I unter die allgemeinen Vorschriften des Vertrages eingereiht. Das Prinzip hat vor allem damals ein sehr reiches literarisches E c h o 1 1 gefunden, bei dem aber die Stimmen deutlich überwogen, die den Grundsatz für nicht justiziabel hielten 1 2 . Die Bestimmung wurde i m Amsterdam-Vertrag in Art. 5 I I E G V umnummeriert. Inhaltlich hat die Fassung des Maastricht-Vertrags die Verträge von Amsterdam 1 3 und Nizza unverändert überstanden. Bei einer näheren Analyse dieser Vorschrift fällt ihre innere Logik auf: - Abs. 1 normiert den Grundsatz der begrenzten Kompetenz, wonach die Gemeinschaftsorgane nur handeln dürfen, wenn und soweit die Verträge ihnen entsprechende Kompetenzen übertragen haben 1 4 . - Die Ausübung dieser Kompetenzen wird jedenfalls für den Bereich der nichtausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft an die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips gebunden. - Soweit die Gemeinschaft danach tätig werden kann unterliegt sie der Bindung der Verhältnismäßigkeit. 11 Vgl. etwa H.-J. Blanke , Das Subsidiaritätsprinzip als Schranke des Europäischen Gemeinschaftsrechts? ZG 1991, 133 ff.; VConstantinesco, „Subsidiarität": magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union? EuZW 1991, 561 ff.; M. Heintzen, Subisidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, 317 ff.; M. Emiliou, Subsidiarity: An Effective Barrier Against „the Enterprises of Ambition"? ELR 1992, 383 ff.; U. Everting , Über die Rolle des Subsidiaritätsprinzips, CML 1992, 1053 ff. J. Pipkorn, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union - rechtliche Bedeutung und gerichtliche Uberprüfbarkeit, EuZW 1992, 697 ff.; /. Hochbaum , Kohäsion und Subsidiarität - Maastricht und die Länderkulturhochheit, DÖV 1992, 285 ff.; W. Hummer , Subsidiarität und Föderalismus als Strukturprinzipien der Europäischen Gemeinschaften? ZfRV 1992, 81 ff.; W. Möschel, Zum Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht, NJW 1993, 3025 ff.; P. Schmidhuber , Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht, DVB1. 1993, 417; R. v. Borries , Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union - Deutscher Landesbericht für den XVI. FIDE-Kongress 1994 in Rom, EuR 1994, 263 ff.; Η D. Jarass, EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, EuGRZ 1994, 209 ff. 12 Besonders drastisch D. Grimm , Subsidiarität ist nur ein Wort, FAZ Nr. 217 v. 17.9.1992, 38. 13 Vgl. dazu etwa P.-A. Feral, Le principe de subsidiarite: progres ou status quo apres le traite d'Amsterdam? RevMC 1998, 95 ff.; ders.: Le principe de subsidiarite ä la lumiere de traite d'Amsterdam, RAE-LEA 1998, 76 ff.; F. Schaltiel, Le principe de subsidiarite - dix ans apres le traite de Maastricht, RMU 2003, 365 ff. 14 Grundlegend dazu H.-P. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrags, Berlin 1991.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

229

Die Verpflichtung auf das Subsidiaritätsprinzip beschränkt sich damit auf Bereiche, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen. Nur hier, in der Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenz zu den Mitgliedstaaten werden die Gemeinschaftsorgane von Vertrags wegen zur Zurückhaltung veranlasst. Was gilt aber, wenn die Gemeinschaft die ausschließliche Kompetenz zum Handeln hat? Eine Abgrenzung zum Tätigwerden der Mitgliedstaaten ist hier von vornherein gegenstandslos. Sind die Organe der Gemeinschaft in diesem Bereich aber dennoch zur Zurückhaltung nach dem Prinzip der Subsidiarität verpflichtet? 1 5 Nicht nach dem Vertragstext, so viel ist klar. Dahinter steht aber der Grundsatz der Subsidiarität als ein allgemeiner Rechtgrundsatz des Gemeinschaftsrechts 16 , der die Gemeinschaftsorgane auch dann bindet, wenn seine Beachtung nicht ausdrücklich i m geschriebenen Recht vorgesehen ist. Das lässt sich etwa bei der Ausübung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der Gemeinschaft darlegen 1 7 , bei der der EuGH - anders als gelegentlich in der Literatur vertreten 1 8 - nicht von einer schlichten Parallelität von Innen- und Außenkompetenz ausgeht, sondern für das Vorliegen einer ungeschriebenen Außenkompetenz verlangt, dass ein Tätigwerden der Gemeinschaft notwendig

ist,

um die internen Ziele der Gemeinschaft zu verwirklichen. In Bereichen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten wird die Gemeinschaft nach dem Vertrag nur tätig, wenn eine zwe/stufige Prüfung erfolgreich abgeschlossen worden ist: - die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen dürfen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können (diese Stufe ist neu gegenüber der alten „besser"-Klausel des Umweltrechts) und - sie müssen „daher" wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

15 Vgl. U. Everting , Subsidiaritätsprinzip und „ausschließliches Gemeinschaftsrecht" - ein „faux probleme" der Verfassungsauslegung, in: J. Burmeister (Hg.), FS für K. Stern, München 1997, 1227 ff.; Nach EUROPE-Dokumente Nr. 1804/05 v. 30.10.1992 über die Position der EG-Kommission zur Festlegung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips (S. 7) darf das Subsidiaritätsprinzip beim Kriterium der Zweckmäßigkeit gemeinschaftlichen Handelns im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten nicht angewendet werden. 16 Vgl. dazu H. Lecheler, Die allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Heidelberg, Bd. VI. 17 Vgl. dazu H. Lecheler, Einführung in das Europarecht, 2. Aufl. München 2003, 349 ff. 18 Vgl. dazu die Nachw. bei O. Dörr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, EuZW 1996, 41 Fn. 31.

230

Helmut Lecheler

Es stört das Wort „daher". Dieses Wort verknüpft in sachlich nicht korrekter Weise die beiden Prüfungsstufen, die getrennt voneinander gesehen werden müssen. Wenn eine Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann, dann ergibt sich daraus noch keineswegs, dass sie „daher" auf der Ebene der Mitgliedstaaten besser erreicht werden könnte. Diesem Fehlschluss scheint mir gelegentlich der Gerichtshof zu unterlaufen (vgl. unten III. 3.). Generell lässt sich sagen, dass das Subsidiaritätsprinzip durch den Amst-V und seine in ihm erfolgte Placierung unter die allgemeinen Vorschriften des Vertrags deutlich aufgewertet worden ist. 3. Das Subsidiaritätsprotokoll Der Anwendung des Subsidiaritätsgrundatzes ist das Protokoll Nr. 30 von 1997 1 9 gewidmet (zusammen mit der Erklärung Nr. 43 zum Vollzug durch die Mitgliedstaaten). Damit ist die andauernde Auseinandersetzung um das richtige Verständnis des Art. 3 I I EG fortgesetzt worden 2 0 . In Nr. 3 des Protokolls wird die Subsidiarität zunächst als „Richtschnur" und als „dynamisches Konzept" bezeichnet. Freilich sind dann nach Nr. 5 Maßnahmen der Gemeinschaft „nur gerechtfertigt, wenn" sie den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips entsprechen und zwar nur, wenn beide Bedingungen erfüllt sind. Letztere Formulierung spricht für den Rechtscharakter, den auch das EP in einer Entschließung vom 13.5.1997 21 unterstrichen hat: Das EP hat in dieser Entschließung daran erinnert, dass das Subsidiaritätsprinzip eine verbindliche Rechtsnorm von verfassungsmäßigem Charakter darstellt, die für die Institutionen der Union und die Mitgliedstaaten bindend ist".

19

Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, das sich im Anhang der Amsterdam-Schlussakte vom 2.10.1997 befindet. 20 Vgl. M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrags - Anmerkungen zum Begrenzungscharakter des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, NJW 1998, 2871 ff. 21 ABl. EG С 167/34, 35 Nr. 1; Bedeutsam für die Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips war auch die Entschließung des EP v. 12.7.1990 ABl. EG С 231/163.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

231

I I I . Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips in der Rechtsprechung des EuGH und des EuG 1. Das Subsidiaritätsprinzip als Rechtsgrundsatz

des Gemeinschaftsrechts

Das EuG stellte in einem Urteil von 1995 (SPO/Kommission) 2 2 lapidar fest: „Außerdem stellte das Subsidiaritätsprinzip im Gegensatz zu der Ansicht der Klägerinnen vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, anhand dessen die Rechtsmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen zu prüfen war". Der Umkehrschluss auf die Rechtskraft nach Inkrafttreten ist daraus allein noch nicht zu belegen. Der EuGH hielt in seinem Urteil Kellinghusen und Ketelsen 2 3 von 1998 aber ebenfalls fest: „Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 3 b I I EGV war im Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung Nr. ... und ... noch nicht in Kraft. Ihm kommt keine Rückwirkung zu". Damit scheint klar, dass die beiden Europäischen Gerichte das Subsidiaritätsprinzip jedenfalls seit Einfügung des Art. 3 b bzw. 5 I I E G V als geltendes Gemeinschaftsrecht

und nicht nur als rechtspolitisches Prinzip ansehen.

A u f diesem Hintergrund ist es konsequent, dass sich Generalanwalt Geelhoed in der Rs. C - 4 9 1 / 0 1 2 4 bei der Beurteilung der streitigen Richtlinie über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen darauf beruft, dass sich die R L an die Leitlinien des Subsidiaritätsprotokolls hielt. Dementsprechend hat der Gerichtshof auch Vorlagefragen des nationalen Gerichts in dieser Rechtssache akzeptiert, mit denen das Gericht den EuGH um Vorabentscheidung über die Frage ersucht, ob der beanstandete Rechtsakt der Gemeinschaft gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen h a t 2 5 . 2. Das Subsidiaritätsprinzip

als „dynamisches

Konzept"

Generalanwalt Geelhoed hat in der Rechtssache British American Tobbaco 2 6 den Subsidiaritätsgrundsatz als ein „dynamisches Konzept" bezeichnet 2 7 , das 22

Slg. 1995, 11-394 Tz. 331. Slg. 1998, 1-6363 Tz. 35. 24 British American Tobacco (Investments) Ltd., Slg. 2002, 1-11550. 25 Rn. 30 und 285 der Schlussanträge des GA L. A. Geelhoed. Der EuGH hat in seinem Urteil (Tz. 177-185) eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes dann verneint. 26 Vgl. Fn. 25 Rn. 285. 27 A.a.O., Rn. 285. 23

Helmut Lecheler

232

der Beurteilung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber den notwendigen Raum lässt. Dieser Gestaltungsraum, den der Gerichtshof den Gemeinschaftsorganen gerade bei wirtschaftlichen Sachzusammenhängen immer wieder zuerkannt h a t 2 8 , war auch bei der Anwendung des Subsidiaritätsmaßstabs zu berücksichtigen. Klagen, die auf die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips gestützt sind, können daher nur dann Erfolg haben, wenn die Beurteilung der Gemeinschaftsorgane eklatant bzw. offensichtlich gegen die Prüfungsmaßstäbe des Subsidiaritätsprinzips verstoßen hat. 3. Anforderungen subsidiaritätskonformen

an die Begründung

Handelns der Gemeinschaftsorgane

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Erfolg einer Klage davon abhängt, welche Anforderungen der Gerichtshof an die Begründung einer Maßnahme durch die europäischen Organe stellt. Art. 253 (ex Art. 190) wird durch die Anforderung des Subsidiaritätsprinzips verstärkt. Gegen die Anforderungen des Gerichtshofs in diesem Punkt richten sich die stärksten Einwendungen: Die i m Subsidiaritätsprinzip vorgeschriebene doppelte Prüfung (nicht wirksam auf mitgliedstaatlicher Ebene und besser auf der Gemeinschaftsebene) wird vom Gerichtshof schon äußerlich nicht immer getrennt. Inhaltlich

zieht er häufig den verkürzten Schluss vom Nichterreichenkönnen ei-

nes Ziels auf nationaler Ebene auf das Bessererreichen auf europäischer Ebene. Zwei Beispiele: 1. In einem Rechtsstreit um die Arbeitszeit-Richtlinie 2 9 hat das United Kingdom vorgebracht, der Gemeinschaftsgesetzgeber habe weder vollständig geprüft noch auch hinreichend dargetan, dass dieses Gebiet transnationale Aspekte aufweise, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichend geregelt werden könnten. Das U K hat allerdings keine autonome Rüge des Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip vorgetragen. Das EuG führt in seinem Urteil aus 3 0 : „Sobald der Rat also festgestellt hat, dass das bestehende Niveau des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer verbessert und die in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt harmonisiert werden müssen, setzt die Erreichung dieses Ziels durch das Setzen von Mindestvorschriften unvermeidlich ein gemeinschaftsweites Vorgehen voraus, das es i m Übrigen - wie i m vorliegenden Fall - den Mitgliedstaaten in weitem Umfang überlässt, die erforderlichen Durchsetzungsmodalitäten zu regeln. 28

Vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 2, Baden-Baden 1988,

283 f. 29 30

Rs. T-29/92, Slg. 1995, 11-289 (SPO) Tz. 46. A.a.O., Tz. 47.

233

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

2. In ähnlicher Weise hat sich der EuGH i m Streit Niederlande gegen Parlament bei einer Harmonisierungs-Richtlinie i m Bereich des Schutz biotechnologischer Erfindungen geäußert 31 : Der Gerichtshof beschränkte sich hier auf die Feststellung, ein reibungslos funktionierender Binnenmarkt auf diesem Gebiet hätte durch Maßnahmen auf der Ebene allein der Mitgliedstaaten nicht erreicht werden können. „ D a das Ausmaß dieses Schutzes unmittelbare Auswirkungen auf den Handel und folglich auch auf den innergemeinschaftlichen Handel hat, liege es i m Übrigen auf der Hand, dass das fragliche Ziele aufgrund des Umfangs und der Wirkungen der in Betracht gezogenen Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden konnte." Eine Umkehrung

der stufenweisen Prüfung nimmt G A

Alber in seinen

Schlussanträgen in der Rs. C - 2 0 2 / 0 1 3 2 vor, wenn er ausführt: „ D i e gemeinschaftsweite Kontrolle der Einhaltung der Verpflichtungen aus der VogelschutzRichtlinie um die Koordinierung zur Schaffung eines Zusammenhangs in den Netz des von Schutzgebieten obliegt der Kommission, da dies nicht besser auf mitgliedstaatlicher Ebene erfolgen kann." Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich der Gerichtshof damit begnügt, dass Subsidiaritätserwägungen in der Sache angestellt werden, ohne dass der Begriff selbst ausdrücklich genannt werden muss 3 3 . Entsprechend pauschal bleibt dann natürlich die Überprüfung in der Sache. Nicht die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsprinzip, sondern vor allem die Anforderungen der Europäischen Gerichte an die Begründung von Gemeinschaftsrechtsakten sind es also, die unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips kritisiert werden müssen. 4. Die Grenzen der Wirksamkeit

des Subsidiaritätsprinzips

Nach dem bisherigen Befund überrascht es nicht, dass in der Rechtsprechung, jedenfalls bei den in der Diskussion i m Vordergrund stehenden Urteilen, eher die Grenzen des Subsidiaritätsprinzips als seine Wirkmacht ausgelotet werden. Dafür wiederum zwei Beispiele: 1. In der aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit bekannten Rechtssache Bosman 3 4 ging es bekanntlich um eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit von Fussballspielern durch autonome Regeln der Sportverbände.

31

Slg. 2001, 1-7151 Tz. 32 f. C-202/01 v. 27.6.2002 Slg. 1-11019, Tz. 41 f. (Klägervorbringen Tz. 18). 33 Vgl. EuGH Slg. 1997, 1-2441 (Deutschland/Parlament, Rat (Einlagensicherungssysteme)) Tz. 27 f. 34 Slg. 1995, 1-4921. 32

234

Helmut Lecheler

Die deutsche Regierung brachte i m Verfahren vor, dass Sportverbände nach nationalem Recht über eine sehr weitgehende Eigenständigkeit verfügen, so dass ein Tätigwerden der Gemeinschaft nur in geringstmöglichem Umfange in Frage komme. Dieser Meinung schloss sich der Gerichtshof nicht an. Er stellte vielmehr zurecht fest, dass die Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip nicht dazu führen dürfe, dass Einzelne in der Wahrnehmung ihrer Grundfreiheiten (hier der Arbeitnehmerfreizügigkeit) beeinträchtigt werden dürfen. 2. In einer der Fernsehstreitigkeiten zwischen der Kommission und B e l g i e n 3 5 verteidigte Belgien seine unzulängliche Umsetzung der Fernsehrichtlinie 3 6 89/ 552, die einen grundsätzlich freien Empfang von Fernsehsendern anderer M i t gliedstaaten vorschreibt, mit dem Argument, ihr verblieben Rechtszuständigkeiten auf kulturellem Gebiet, die einer so weitgehenden Regelung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber entgegenstünden. Hier hält der E u G H 3 7 gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat fest, dass sich ein Mitgliedstaat nicht unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip der Verpflichtung aus der Richtlinie 89/552 entziehen könne.

5. Zusammenfassung Das Subsidiaritätsprinzip ist zumindest seit seiner Verankerung in den allgemeinen Vorschriften des Vertrages durch den Maastricht-Vertrag ein vom Gerichtshof

anzuwendender allgemeiner Rechtsgrundsatz 38 . Das ist in der Recht-

sprechung unbestritten. Dennoch ist das Echo in der Literatur einhellig zurückhaltend, aus guten, vorab schon genannten Gründen. Das legt die Frage nach der Zukunftsperspektive des Subsidiaritätsprinzips nahe.

35 Slg. 1996, 1-4169 (Kommission/Belgien) Tz. 53; zuvor Slg. 1992, 1-6757 (Kommission/Belgien). 36 ABl. EG 1998 L 298/23. 37 A.a.O., Tz. 53. 38 So auch H.-J. Blanke, Normativität und Justitiabilität des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, ZG 1995, 193/204 ff.; Chr. Callies, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, Baden-Baden, 2. Aufl. 1999, 68; W. Moersch (Fn. 3), 331 ff.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

235

IV. Zukunftsperspektive 7. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung I m Entwurf einer Verfassung der Europäischen U n i o n 3 9 hat der Rechtscharakter der Subsidiarität bisher keine wesentliche Veränderung erfahren. Art. 1-5 Abs. 1 des Verf-E belässt es dabei: „ D i e Union achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischen und verfassungsrechtlichen Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt." Die Struktur des neuen Art. 1-9 (Grundprinzipien) entspricht derjenigen des Art. 5 EG. Abs. 1 bringt künftig die innere Struktur dieses Artikels klarer zum Ausdruck. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist in Abs. 2 konkreter gefasst und das Subsidiaritätsprinzip wird in Abs. 3 sprachlich etwas anders gefasst und auf der Ebene der Mitgliedstaaten dahin konkretisiert (was in der Sache nichts Neues bedeutet), dass diese „weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene" die in Betracht gezogene Maßnahme ausreichend erreichen könne. Neu ist der ausdrückliche Verweis auf das Subsidiaritätsprotokoll in Art. 1-9 Abs. 3 U A 2. In dieser Neufassung werden die Früchte der Arbeitsgruppe Subsidiarität i m Verfassungskonvent sichtbar, die für eine Verstärkung der politischen Überwachung sowohl vor dem Inkrafttreten eines in Aussicht genommenen Rechtsaktes eingetreten sind, als auch für eine nachträgliche

Kontrolle

durch den EuGH. Die letzteren Vorschläge haben i m Rechtsschutzsystem des Vertrages (Art. III-263 ff.) noch nicht wirklich einen Niederschlag gefunden. Ziff. 7 Abs. 1 gestattet es den Mitgliedstaaten lediglich, „gemäß der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung", das nationale Parlament bzw. bei mehreren Kammern eine Kammer als Kläger auftreten zu lassen 40 . Die Einführung einer etwas (leider aber nur etwas!) deutlicheren Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten in Art. I 11 ff. Verf-E bedeutet als solche noch keinen Fortschritt für das Subsidiaritäts. 4i pnnzip . 39 Vgl. dazu J. Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents Struktur, Kernelemente und Verwirklichungschancen, in: ders. (Hg.), Der Verfassungsentwurf der Europäischen Konvention, Baden-Baden 2004, 489 ff. 40 Das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.3.1993 (BGBl. I, 311) sieht das bisher nicht vor. 41 Anders sieht das freilich U. Mager, Die Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents - Verbesserter Schutz vor Kompetenzverlagerung auf die Gemeinschaftsebene? ZEuS 2003, 471/477; vgl. zum

236

Helmut Lecheler

Forderungen in der Literatur 4 2 nach der Einführung eines besonderen Kompetenzgerichtshofs haben sich nicht durchsetzen können. 2. Das Subsidiaritätsprotokoll Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, auf das Art. 1-9 Abs. 3 S. 2 Verf-E verweist, bestimmt hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle lediglich, daß i m Rahmen der Nichtigkeitsklage (Art. III-270 Verf-E) die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Rügen eines Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip gegeben ist. Das bringt nichts Neues. Neu ist die ausdrückliche Einräumung einer entsprechenden Klagebefugnis in Ziff. 7 Abs. 2 des Protokolls für den Ausschuss der Regionen bei Gesetzgebungsakten, für deren Annahme seine Anhörung nach der Verfassung vorgeschrieben ist. Deutlich verbessert wurde die politische Vorabkontrolle 4 3 . Nach Ziff. 3 des Protokolls informiert die Kommission den Unionsgesetzgeber und die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten gleichzeitig

über ihre Vorschläge bzw. Ände-

rungsvorschläge. Die nationalen Parlamente können nach Nr. 5 binnen sechs Wochen in einer begründeten Stellungnahme eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips rügen (Ziff. 5), die die Kommission, der Rat und das EP „berücksichtigen" (Nr. 6). A b einer bestimmten Gesamtstimmenzahl, die von begründeten Rügen mehrerer Parlamente repräsentiert wird (hier wird wieder die komplizierte Arithmetik der Gemeinschaftsorgane sichtbar) „überprüft die Kommission ihren Vorschlag" (Ziff. 6 Abs. 3), an dem sie freilich nach Abs. 4 auch festhalten kann. Verfahrensrechtlich hat sich damit die Position der nationalen Parlamente und des Ausschuss der Regionen verbessert; in der sachlichen Geltung des Subsidiaritätsprinzips ist zum status quo nichts Wesentliches hinzugekommen. 3. Schlussbemerkung Zusammenfassen lässt sich die Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips

im

Recht der Europäischen Union nicht. Festzuhalten bleibt immerhin, dass die beiden europäischen Gerichte die Rechtsverbindlichkeit des SubsidiaritätsprinGanzen M. Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, 8 ff. 42 Dafür plädieren v.a. Koenig/Lorz gegen U. Everling (Fn. 43). 43 Vgl. dazu Chr. Koenig/R . A. Lorz, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, JZ 2003, 167 ff.; U. Everling, Quis custodiet custodes ipsos? EuZW 2002, 357 ff. Dafür plädieren v. a. Koenig/Lorz gegen U. Everling.

Das Rechtsprinzip der Subsidiarität

237

zips i m Bereich der Wahrnehmung nichtausschließlicher Kompetenzen eindeutig bejahen. Dabei bleiben freilich Wünsche offen hinsichtlich der Genauigkeit der Überprüfung des Gerichtshofs und seiner Begründungen, auch wenn nicht bestritten werden soll, dass dieses Prinzip notwendigerweise Spielräume für die Organe der Union einschließt. Offen bleibt die Frage der Geltung des Subsidiaritätsprinzips i m Bereich der ausschließlichen Kompetenzen und seine weitere institutionelle (Stichwort Kompetenzgericht) und verfahrensmäßige

Absiche-

rung. Hier haben der Verfassungsentwurf und das Subsidiaritätsprotokoll die geschilderten, eher kleinen Fortschritte gebracht. Es liegt an der Wissenschaft und der Politik, auf diesem mühsamen Weg weiter voranzuschreiten. Es bleibt also genug Arbeit, auch für den Jubilar, der sich dieser auch künftig sicher nicht versagen wird.

Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie Von Erich Poppe

I. Was ist Keltomanie? Keltomanie ist zunächst ein Konzept aus dem philologisch-sprachwissenschaftlichen Bereich und bezeichnet Versuche speziell von Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts, die Verwandtschaftsverhältnisse der (mittel-)europäisehen Sprachen und die Herkunft einzelner Wörter und Namen primär unter Rekurs auf moderne (insel)keltische Sprachen (Irisch, Kymrisch, Bretonisch) zu klären. Ihr methodisches Postulat war die Existenz eines keltischen Urvolks Europas und einer entsprechenden keltischen Ursprache, deren Reflexe sich in vielen Sprachen Europas, besonders deutlich eben in den noch gesprochenen keltischen Sprachen, aber z.B. auch i m Deutschen erhalten haben. Annahmen über ein keltisches Urvolk Europas mit einer keltischen - zum Teil auch als g a l lisch' bezeichneten - Ursprache gibt es schon seit dem 16. Jahrhundert; für die eigentliche Keltomanie charakteristisch ist aber die Verbindung dieser Ursprache mit zeitgenössisch lebenden keltischen Sprachen, denn keltische Ursprünglichkeit wurde damit direkt erfahrbar. Eine Schlüsselrolle in der Entstehung des keltomanischen Paradigmas hatte der Franzose Paul Pezron (1638-1706) und sein 1703 erschienenes Werk Antiquite

de la Nation et de la Langue de Celtes

autrement appellez Gaulois, in dem er den Nachweis unternimmt, daß sich die keltische Ursprache Europas in den modernen Sprachen Bretonisch und K y m risch mehr oder weniger unverändert erhalten hat. Das ideologische Potential der keltomanischen Grundthese für z.B. Nationalidentität und -stolz zeigt sich bereits in der etwas unterschiedlichen Wiedergabe des Titels von Pezrons Werk in dessen englischer Übertragung von 1706: The Antiquities particularly

of the Celtce or Gauls, Taken to be Orginally

our Ancient

Britons,

of Nations,

More

the same People as

in dem die alten Kelten explizit für das britische ,Uns'

vereinnahmt werden. Sicherlich nicht unabhängig von der philologischen Keltomanie steht eine kultur- und literaturgeschichtliche Dimension der Keltenbegeisterung, z.B. bei der Interpretation archäologischer Funde, der Beschäftigung mit den Druiden und nicht zuletzt in der Debatte um Ossian. 1

1 Entsprechend gibt Decimo, S. 1, eine etwas weitere Definition von »Keltomanie4 als hier vorgeschlagen: „La celtomanie se definit comme Γ obsession de voir une trace

240

Erich Poppe

Von dieser Keltomanie konzeptionell streng zu trennen ist das Sprachverwandtschaftsmodell der heutigen vergleichend-indogermanischen Sprachwissenschaft, die auch den Terminus ,keltisch 4 benutzt: Hier bezeichnet , keltisch 4 einen Zweig der indogermanischen Ursprache, zu dem die alt- oder festlandkeltischen Sprachen (am besten belegt das Gallische und das Keltiberische) ebenso wie die modernen inselkeltischen Sprachen gehören. Die Frage nach einer (mittel-)europäischen Ursprache mit ihrer ideologischen Belastung wurde und wird nicht gestellt. Wichtiger noch, die Methoden, mit denen die Einheit der indogermanischen Sprachfamilie bzw. ihres keltischen Zweigs nachgewiesen werden kann, insbesondere die Etablierung und Befolgung strenger Lautgesetze, standen den Keltomanen nicht zur Verfügung bzw. wurden von ihnen nicht akzeptiert. Zu welchen aus damaliger Sicht wohl unvermeidbaren Paradoxien die Vermischung beider Modelle, das der Keltomanie und das der Indogermanistik, in der speziellen Wahrnehmung einiger deutscher Gelehrter des 19. Jahrhunderts führen konnte, ist ein Thema dieser wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Notiz. I m wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick lassen sich i m deutschsprachigen Raum i m 19. Jahrhundert drei Paradigmata einer historischen Sprachbetrachtung erkennen. Zunächst das schon oben skizzierte keltomanische Paradigma der sog. Keltisten - um von K. von Becker (1883) einen weniger pejorativen Terminus als , Keltomanen 4 zu übernehmen, der zugleich einen griffigen Gegensatz zu den Vertretern des zweiten und dritten Paradigmas, den Germanisten (auch dies ein Terminus von von Becker) und den Indogermanisten bietet. Die Germanisten vertraten, vereinfachend gesagt, in verschiedenen Variationen die Auffassung, daß die europäische Ursprache oder das Keltische und/oder Gallische die Fortsetzung i m Deutschen, bzw. i m Germanischen, findet und die modernen inselkeltischen Sprachen einen davon völlig verschiedenen Sprachzweig repräsentieren. A d o l f Holtzmann formuliert ein solches Programm der Germanisten 1855 mitsamt seinen kulturpolitischen Implikationen wie folgt - und da die Position der Germanisten ein verlorenes, d.h. heute selbst der Kultur- und Wissenschaftgeschichte weitgehend unbekanntes Paradigma eines wissenschaftlichen Interesses des 19. Jahrhunderts ist, erscheint auch ein längeres Zitat zu ihrer Charakterisierung gerechtfertigt: Es wird also hier eine ganz paradoxe Lehre ausgesprochen, die in folgenden zwei Sätzen besteht: I. Die Germanen sind Kelten , II. die Kymren und Gaelen sind keine Kelten. Die beiden Sätze stehen aufs schroffste der herrschenden Ansicht entgegen, welche lehrt: I. Die Germanen sind keine Kelten , II. die Kymren und Gaelen sind Kelten.

,celte' un peu partout et, en particulier, dans les langues, les individus, les monuments ou les pierres".

Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie

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Die vorliegende Schrift hat den Zweck, die herrschende Ansicht zu stürzen und die entgegenstehende an ihre Stelle zu erheben. Die Frage ist von der grössten Wichtigkeit und von den weitgreifendsten Folgen. Die ganze Grundanschauung, auf welcher jetzt die Geschichte von Deutschland, Frankreich und England allgemein beruht, soll umgestossen werden. Die Kymren und Gaelen sollen verzichten auf ein Alterthum, das ihnen jezt bereitwillig zugestanden wird, und in dessen rechtmässigem Besitz sie sicher zu sein glauben; sie werden nicht gutwillig verzichten, sie müssen gezwungen werden. Die Erforschung des gallischen und keltischen Alterthums soll eine ganz andere Richtung erhalten. Statt die Erklärung der gallischen Denkmähler bei den Kymren zu suchen, wo sie nicht zu finden ist, soll man unbedenklich die germanischen Quellen benützen, die man jetzt nicht glaubt beiziehen zu dürfen. Besonders aber soll die deutsche Geschichte und die deutsche Philologie und Alterthumskunde eine ganz neue Grundlage gewinnen. Die Nachrichten der Alten über die Kelten und Gallier, die wir bis jetzt als uns nicht angehend unbeachtet Hessen, sollen wir auf uns beziehen. Die gallischen Denkmähler, heute noch von uns als fremde den Fremden überlassen, sollen wir als unsre Denkmähler zur Aufhellung unseres Alterthums anwenden dürfen. Die deutsche Mythologie, die deutsche Rechts- und Sittenkunde sollen eine neue Gestalt auf einer viel tieferen Grundlage erhalten. Ein halbes, ja ein ganzes Jahrtausend ruhmvoller Geschichte, das wir gutmüthig und leichtsinnig Preis gegeben haben, soll zurück verlangt werden. Wir sollen ein wirkliches Alterthum finden, das dem römischen und griechischen gleich ist, statt dass wir uns jetzt mit einem Mittelalter begnügen. Diess ist es, und nichts geringeres, um was es sich hier handelt, und wohl darf eine Untersuchung von so ausserordentlicher Wichtigkeit zunächst beim deutschen Volke, aber auch in Frankreich und England einige Aufmerksamkeit und allseitige sorgfältige Prüfung erwarten. Vielleicht ist die Erkenntnis, die hier gewonnen werden soll, dass der Gallier und der Germane nicht verschiedenen Stammes, sondern eines Blutes sind, nicht blos von historischer Bedeutung; vielleicht ist sie noch jetzt geeignet, Vorurtheile und Leidenschaften zu zerstreuen und zu dämpfen, die in hundertjährigen Irrthümern der Geschichtschreiber ihre Begründung und ihre Nahrung gefunden haben.2 Die Indogermanisten schließlich betrachteten das Keltische als einen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, wie es z.B. Johann Kaspar Zeuß exemplarisch in seinem 1837 erschienenen Werk Die Deutschen und die Nachbarstämme formulierte: Das Slowenische, Deutsche und Keltische sind die drei äussersten nordwestlichen Glieder einer grossen von Indien bis Hibernien reichenden Sprachenfamilie, deren einzelne Zweige in der Umhüllung der Wurzelwörter durch Beugung und Ableitung und in einer Masse besonderer, jedem eigenthümlicher Wortstämme sich von einander unterscheiden, und gegenseitig als selbständige Sprachindividuen ausschliessen, durch die Identität des grösseren Theils derselben aber wieder in Verbindung stehen, und darauf hinweisen, dass die Völker, denen sie angehören, die in der Urzeit zerfallenen Theile eines ursprünglich gleichen Ganzen sind, die nach der Spaltung selbständig in Sprache, wie in Sitte, sich fortgebildet haben.3

2

Holtzmann, S. 1-2.

16 FS Hablitzel

242

Erich Poppe

Die Frage nach der einen (mittel-)europäischen Ursprache wird hier gar nicht gestellt. Das indogermanistische Paradigma hat sich als methoden- und erklärungsadäquat durchgesetzt; die Paradigmata der Keltisten und Germanisten waren Irrwege, die heute zwar noch wissenschaftsgeschichtliches und kulturhistorisches Interesse beanspruchen dürfen, aber selbst für die sprachwissenschaftliche und keltologische Wissenschaftsgeschichte weitgehend verloren sind. Andererseits hatte die sog. ,Celtenfrage' - in von Beckers prägnanter Formulierung: »Bildeten die Gallier mit den Britanniern oder bildeten die Gallier mit den Germanen nach Abstammung, Sprache und Sitten den celtischen Volkstamm?' 4

-

für das Problem der kulturellen Identität des deutschsprachen Raumes, und letztlich auch Europas, i m 19. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung, und dies war insbesondere den Germanisten sehr bewußt.

II. Die Ablehnung keltistischer Positionen durch Zeuß Johann Kaspar Zeuß hat für die Geschichte der vergleichend-indogermanischen Sprachwissenschaft und der Keltologie eine besondere Bedeutung, legte er doch mit seiner epochalen Grammatica

Celtica von 1853 die systematischen

Grundlagen der modernen indogermanistisch geprägten Keltologie. Dies machte ihn zu einem natürlichen Widersacher sowohl der Keltisten wie auch der Germanisten, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, und führt zu einem Paradox seiner wissenschaftlichen Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung und dem Thema meiner Notiz. Die Notwendigkeit einer kurzen Vorstellung von Leben und Werk von Johann Kaspar Zeuß bietet in einer Festschrift für Hans Hablitzel die willkommene und angenehme Gelegenheit, auf dessen grundlegende Publikationen zu Zeuß hinweisen und Bezug nehmen zu können: 5 Zeuß wurde 1806 in Vogtendorf bei Kronach geboren. Nach einem umfassenden Studium generale in München in den Jahren 1826 bis 1832/33 wurde er 1832 Lehrer für Hebräisch am Alten Gymnasium in München. 1838 wurde er von der Universität Erlangen promoviert. 1839 wurde er zum Professor der Geschichte am Lyceum in Speyer ernannt, 1847 als Professor der Geschichte an die Universität München berufen, aber schon i m gleichen Jahr auf eigenen Wunsch aus gesundheitlichen Gründen an das Lyceum in Bamberg versetzt. 1856 verstarb Zeuß, während einer Versetzung aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand für ein Jahr, in Vogtendorf. Neben der Grammatica

Celtica sind die bei-

den wichtigsten Publikationen seine umfangreiche erste Abhandlung Die Deut-

3 Zeuß, 1837, S. 18. Entsprechend ebenfalls Zeuß, 1839, S.V, und 1871, S.V-VIII. Zur Herausbildung einer indogermanistischen Keltologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Poppe, 1992. 4 Von Becker, S. 83. 5 Vgl. Hablitzel, 1987, 1989, 1998, 2003.

Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie sehen und die Nachbarstämme

243

sowie die schmalere, aber inhaltlich ebenfalls

gewichtige Herkunft der Baiern von den Markomannen. M i t Positionen der Keltisten hat sich Zeuß recht ausführlich in der forschungsgeschichtlichen ,Vorrede' zu seiner Herkunft

der Baiern

von den Mar-

komannen von 1839 auseinandergesetzt, in der er aus seiner eigenen indogermanistischen Perspektive heraus kritisch die Werke einiger Gelehrter zur Vor- und Frühgeschichte der Bayern bespricht. Hans Hablitzel beschreibt diese schmale Schrift prägnant als den Versuch, den schon in seinem Erstlingswerk [Die Deutschen und die Nachbarstämme] angedeuteten sprachlichen und geschichtlichen Beweis dafür zu erbringen, daß die Bayern die Nachkommen der Markomannen seien. Gleichzeitig wandte er sich gegen die damals herrschende „Keltomanie", die in allem und jedem keltischen Ursprung sah, und forderte eine genaue etymologische Aufarbeitung des vorliegenden Sprachmaterials auf der Grundlage lautlicher und morphologischer Regelmäßigkeiten.6 Für Zeuß ist „alte Geschichte ist vorzugsweise Völkergeschichte", 7 und ihre Grundlage ist die Sprachgeschichte, so daß die Sprachenkunde notwendig zu einer zentralen Disziplin der Geschichtswissenschaft werden muß: Für alle jene Verhältnisse [d.h. Herkunft, Wanderzüge, Ausbreitung und Verwandtschaft eines Volkes] ist aber die Sprache des Volkes oft das einzige Kennzeichen. Man kann darum unbedenklich die Behauptung aufstellen, Sprachenkunde sei die Leuchte der Völkergeschichte, der Geschichte des Alterthums; ohne sie sei Niemand ein tauglicher Arbeiter auf diesem Gebiete. Die Sprache gibt sicheres Zeugniß, irrt nicht, während eine alte Nachricht wohl irren kann, und der sicherste Leitstern durch das Alterthum, wo mangelhafte, sich widersprechende oder irrige Nachrichten es dunkel lassen, ist Sprachenkunde, aber gründliche und wissenschaftliche Sprachenkunde.8 Da also die Erforschung der bayerischen Vor- und Frühgeschichte die Klärung der sprachlichen Verhältnisse voraussetzt, spricht Zeuß entsprechend seiner indogermanistischen Grundposition auch von der Notwendigkeit „des Blickes in das Innere des deutschen Sprachstammes selbst und in die Gesetze, die hier walten", damit es „dem Historiker nicht etwa begegne, Deutsches für keltisch zu halten, oder für Deutsches Fremdes herbeizuziehen". 9 So wendet sich Zeuß 6

Hablitzel 1998, S. 170, vgl. auch Hablitzel, 1987, S. 329-330. Zeuß, 1839, S. IV. 8 Zeuß, 1839, S. IV. 9 Zeuß, 1839, S. VI. Vgl. noch S. IX: „Der Historiker, welcher sich mit diesen unentbehrlichen Hülfsmitteln seiner Forschung vertraut gemacht hat, wird also wohl allerdings von dem aus grauer Vorzeit sich herschreibenden Zusammenhange der einzelnen verwandten Sprachglieder überzeugt sein, aber jedem das Seinige zuerkennen, jedem sein Eigenthum und seine Besonderheit, die es sich durch eigene Fortbildung erworben, nicht aber vom Nachbarn herübergestohlen hat, lassen; er wird also weder altdeutsch für keltisch ausgeben, weder unser heutiges Deutsch für eine Mischung aus benachbarten Sprachen erklären, noch deutsche Wörter und deutsche Namen, die aus der eigenen Heimath, aus dem reichen Gebiete der germanischen Mundarten ihre Auf7

16*

244

Erich Poppe

dann insbesondere gegen die Ansätze von drei Forschern zur bayerischen Vorgeschichte, nämlich Vinzenz Edler von Pallhausen (1759-1817), Joseph Andreas Buchner (1776-1854) und Joseph Ernst von Koch-Sternfeld (1778-1866). Aus seiner Kritik wird deutlich, daß diese explizit keltistische Positionen vertreten. So schreibt er zu von Pallhausens Nachtrag

zur Urgeschichte

der Baiern

(München, 1816): Ja es sind gar viele [Namen] nachher erklärt worden, deutsche Namen aus dem Keltischen [...]; diese altdeutschen Zusammensetzungen [...] werden für keltisch ausgegeben! Nun wird auch nicht auffallen, wenn S. 24 des Nachtrages behauptet wird, die Muttersprache der ältesten baierischen Fürsten [...] sei die keltische gewesen. 10 Sehr ironisch erklärt er ihm dann: Doch bei allem dem hätte ein Freund von mehr kritischem und philologischem Sinne Pallhausen sagen können: Höre, guter Freund, die alten baierischen Wörter, die du für keltisch hälst, sind altdeutsch.11 Buchner 1 2 und von Koch-Sternfeld, der zusätzlich noch slavische Elemente in bayerischen Ortsnamen erkennen w i l l , bezeichnet Zeuß als von Pallhausens Nachfolger, die dessen Irrtümern nur neue hinzufügten. In seiner Detailkritik von Buchners sprachlicher Analyse des altsächsischen Taufgelöbnis widerlegt er diesen dann z.B. auch schon mit dem richtigen sprach vergleichenden Hinweis auf irische Kasusformen: Und woher weiß man denn, daß die Endung -um in wercum, wordum eine keltische ist? Sie ist die ursprüngliche Form des deutschen Dativs der Mehrheit, in den keltischen Mundarten gar nicht vorkommend (das Irische hat die Endung -ibh), noch regelmäßig im Goth., Altnord., Angels., im Althochd. schon häufig -un geschrieben, woraus unser -en, -n in Menschen, Vätern. 13

klärung erwarten, aus dem Keltischen, Griechischen oder Slavischen deuten, und so eine ähnliche Barbarei begehen, wie Büllet, der in seinem Dictionnaire Celtique nicht bloß alle keltischen Mundarten zusammengeworfen, sondern ihnen noch das allen Sanskritsprachen völlig fremde Baskische beigemengt hat". 10 Zeuß, 1839, S. XII. 11 Zeuß, 1839, S. XIV. 12 Ein Zitat aus Buchners Dokumenten zur Geschichte von Baiern (München 1832, Bd. 1, S. 109) verdeutlicht eine Variante der Position der Keltisten, die eine ursprüngliche Verschiedenheit der Kelten/Germanen von den Teutonen/Deutschen annimmt: „Alle diese Völker, die Sueven, Langobarden, Markomanen, Sennonen, redeten verm u t l i c h keine andere als die keltische Sprache, welche auch die Sprache aller Germanier war; denn die eigentlichen Teutonen oder Deutschen sind keine Germanier, sondern Scandinavier, welche in einer frühern Zeit über den Belt gesetzt und sich allmählig mit den Germaniern so vermischt haben, daß sie zuletzt ein Volk von derselben Mundart wurden. Wie die französische Sprache ein Gemisch der keltischen und romanischen, so möchte die deutsche eine Vermischung der keltischen und teutonischen, die keltische aber wohl die Grundsprache der meisten westeuropäischen Sprachen seyn" (zitiert bei Zeuß, 1839, S. XVII).

Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie

245

Die abschließende harsche Kritik von Zeuss an der philologisch-sprachhistorischen Inkompetenz von Gelehrten wie von Pallhausen und Buchner lautet entsprechend: Die Herren dieser Stufe denken sich die alte deutsche Sprache als rohe, nackte, gliederlose Barbarensprache, die erst Bedeckung, Beugung und Abwandlung sich von verschiedenen Seiten zusammenbetteln muß, während der Kenner gerade umgekehrt im ältesten Deutschen, im Gothischen, sich über die vollkommenste Formenfülle freut, von welcher alle späteren Mundarten, je weiter herab, desto mehr verloren haben, so daß sich das heutige Deutsch zum ältesten verhält, wie etwa das Französische zum Latein. Man kennt das Fremde, das Lateinische und Anderes, nicht das Einheimische, schreibt dieses dem Fremden zu, das ist - gelehrter Verrath an der Heimath und verdient unnachsichtliche Zurechtweisung. 14 Zeuß weist damit die Arbeitsweise und die Ergebnisse der Keltisten aufgrund der aus seiner indogermanistischen Sicht grundsätzlichen methodischen und philologischen Defizite exemplarisch und mit aller Deutlichkeit zurück. In der Grammatica

Celtica von 1853 grenzt sich Zeuß dann nicht mehr von

keltistischen Positionen ab, wahrscheinlich weil für ihn, wie auch rückblickend für die heutige historische Sprachwissenschaft, die Distanz zwischen dem indogermanistischen und dem keltistischen Paradigma offensichtlich und unüberbrückbar ist, denn den keltistisch arbeitenden Gelehrten fehlt das methodische Rüstzeug der vergleichenden Laut- und Formenlehre, die erst einen abgesicherten Sprachvergleich erlauben. 15 Dieses hatten die Indogermanisten speziell mit der Feststellung der Lautgesetze und der Ablautregeln erarbeiten können.

I I I . Die Wahrnehmung von Zeuß als Keltist Das sprachwissenschaftliche Paradigma der Indogermanisten war für Gelehrte des 19. Jahrhunderts, die sich für mitteleuropäische Vor- und Frühgeschichte bzw. die Sprachen dieses Raumes in historisch-vergleichender Perspektive interessierten, selbst aber nicht innerhalb dieses Paradigmas arbeiteten, letztlich wohl aus ideologischen Gründen nicht oder nur sehr eingeschränkt als eine selbständige Entität wahrnehmbar. Dies zeigt sich prägnant an der Wahrnehmung von Zeuß als eines Keltisten durch Forscher, die innerhalb des germanistischen Paradigmas stehen und die Positionen der Keltisten von dieser Warte her kritisieren. Die Kernpunkte des germanistischen Programms von A d o l f Holtzmann (1810-1870), seit 1852 ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur und für Sanskrit an der Universität Heidelberg, in seiner Untersuchung Kelten und Germanen aus dem Jahr 1855 wurden oben schon zitiert. 1 6 13 Zeuß, 1839, S. XX. Buchner hatte geschrieben: „Vvercum, Vvordum, Unholdum sind deutsche Wörter mit keltischen Endungen", zitiert Zeuß, 1839, S. XIX. 14 Zeuß, 1839, S. XXI. 15 Vgl. auch Poppe, 2001.

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In seiner Vorrede setzt er sich nun auch mit Zeußens Grammatica

Celtica aus-

einander, immerhin ein Beweis, daß man bei einer Diskussion der ,Celtenfrage 4 an diesem Werk nicht mehr vorbeikam, und er attestiert ihr auch Gelehrsamkeit und ,grosse und bleibende Verdienste 4 . 1 7 Konzeptionell stellt er die Grammatica Celtica 1883)

neben die zwei Bände der Celtica 18

von Lorenz Diefenbach

(1806-

aus den Jahren 1839 und 1840, denn in beiden sei „ j a die herrschende

Ansicht des Keltenthums begründet 4 4 . 1 9 Diefenbachs Celtica spielen heute in der Keltologie keine Rolle mehr, weil seine etymologischen Hypothesen, wie der i m indogermanistischen Paradigma arbeitende Christian W i l h e l m Glück bereits 1857 feststellte, wenig tragfähig waren: Endlich versuchte ich auch die [bei Caesar vorkommenden keltischen] Namen, wo es möglich war, aus dem späteren Keltischen zu deuten. Hiebei muss man vor allem wissen, wie sich die Laute der heutigen Sprachen zu den der älteren verhalten. Diese Verhältnisse waren früher unbekannt. Erst Zeuss hat in seiner keltischen Grammatik die Lautverhältnisse der keltischen Sprachen dargelegt. In wie viele Irrthümer muste daher Diefenbach, der als er seine Celtica schrieb, diese Verhältnisse nicht kannte, verfallen! 20 Holtzmann stellt Diefenbach deshalb neben Zeuß als Keltisten, weil auch Diefenbach in den inselkeltischen Sprachen die modernen Fortsetzer des keltischen Zweigs des Indogermanischen - wofür er den Terminus „Japhetisch 44 bevorzugt 2 1 - sieht. So schreibt Diefenbach z.B. über die Kelten auf den Britischen Inseln: 16

Zu Holtzmann vgl. von Becker , S. 101-107, der hier auch einen Brief Jacob Grimms in Antwort auf die Widmung von Holtzmanns Kelten und Germanen an ihn zitiert, in dem Grimm schreibt, er wäre „nicht im stand Ihre [d.h. Holtzmanns] meinung zu theilen. der Schwerpunkt des beweises steht in der spräche, und da scheint es mir haben Sie dem gehalt der britannischen sprachen, um Ihre benennung beizubehalten, nicht genug rechnung getragen, man urtheile von den denkmälern dieser sprachen und den Völkern, denen sie angehören, noch so ungünstig, es ist nicht zu verkennen, dass sie mit dem gallischen alterthum an zahllosen faden zusammenhängen44 (S. 105). Als einen Beweis führt er aus Zeußens Grammatica Celtica, S. 16 (= 1. Aufl. S. 19), den altirischen Eigennamen Ionnatmar mit seinen Varianten Iondadmar, Iondatmar an, der einem altgallischen Eigennamen Indutiomarus entsprechen soll. Die etymologische Zusammenstellung der ersten Namenslemente wird heute aber nicht mehr aufrechterhalten, vgl. Evans, S. 97; das zweite Element ist gallisch marus ,groß 4 bzw. sein etymologischer Verwandter irisch mor ,groß 4. 17 Holtzmann, S. X. 18 Zu Diefenbach vgl. Bader . Im übrigen kommentiert bereits Diefenbach, Celtica I, 1839, S. 7, die geringe Anzahl der keltischen Lehnwörter im Englischen: „Die Zahl dieser Wörter ist weit geringer, als die Geschichte erwarten ließe: selbst in der nachweisbar erst spät angenommenen Englischen Sprache wirklich Kymrischer Volksstämme, wie z.B. in Cornwall and Devonshire, hat sich wenig Keltisches erhalten. 44 19 Holtzmann, S. IX. 20 Glück, S. viii. 21 Vgl. Diefenbach, Celtica I, 1839, S. 5, wo er davon spricht, daß seine „weiteren Vergleichungen mit andern Japhetischen (wir wählen diesen Namen [...] als unparteiischeren, denn ,Indo-Germanischen) Sprachen die große Bedeutung der Keltischen

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247

Auf letzteren, mit Einschluße der Nieder-Bretagne, grenzt ihre [d. h. der Kelten] Geschichte am Unmittelbarsten mit der Gegenwart zusammen und spricht zum Theile aus dem Munde lebender Keltenvölker zu uns. 22 Diefenbach vertritt also i m Grunde eine ähnlich indogermanistische Position wie Zeuß, dessen Buch Die Deutschen und die Nachbarstämme

er auch aus-

drücklich als „ausgezeichnete[s] Werk" bezeichnet, 23 ohne jedoch dessen philologische Kompetenz und Bedeutung erlangt zu haben. Zurück jedoch zum Germanisten Holtzmann, der an späterer Stelle seiner Kelten und Germanen seine Sicht der Konzeption von Zeuß dann noch deutlicher beschreibt: Auch die Grammatica Celtica von C. Zeuss steht, wie schon der Name sagt, ganz fest in dem Glauben, dass die kymrische Sprache die nächste Verwandte der altgallischen sei und trägt nicht das geringste Bedenken, die gallischen Wörter unter die kymrischen und irischen aufzunehmen. So kann es also jetzt als eine unbezweifelte allgemeine Ansicht gelten, dass erstens die Germanen keine Kelten, zweitens dass die Kymren und Gaelen Kelten seien. 24 Holtzmanns Auseinandersetzung mit Diefenbach und Zeuß zeigt, wie seine eigenen ideologischen Prämissen und das davon abgeleitete Erkenntnisinteresse, der Nachweis eines großen Altertums für die Deutschen, seine Wahrnehmung steuern - zudem kann er den methodischen Gewinn der von Zeuß festgestellten Lautgesetzlichkeiten nicht verstehen: 25 Von einem überlieferten Glaubenssatz ausgehend betrachten beide Gelehrte die Wirklichkeit; und obgleich sie überall fast mit Händen greifen müssen, dass der Glaubenssatz und die Wirklichkeit nicht in Uebereinstimmung sind, so steht ihnen doch der Glaubenssatz so fest, dass sie sich von der Wirklichkeit nicht im mindesten stören lassen, sondern sich begnügen, wenn hie und da ein Zufall den Satz zu bestätigen scheint. Der Satz steht fest über allem Zweifel erhaben; es handelt sich nur darum, die Wirklichkeit dem Satz anzupassen. Von einer Prüfung und Untersuchung ist nirgends die Rede. Zeuss sammelt z.B. die brittischen Wörter, in welchen α oder i oder и vorkommt, und dann zeigt er, dass es auch gallische Wörter gibt, in denen α oder i oder и vorkommt. Daran hat Niemand gezweifelt; aber folgt daraus, dass die altgallische Sprache die kymrische ist? Auf diese Weise entsteht ein dickes und trockenes Buch, in welchem überall die gallische Sprache mit den brittischen Sprachen verbunden ist, ohne dass doch irgendwo anders als durch einzelne Zufälligkeiten ein wirklicher Zusammenhang nachgewiesen ist. 2 6

als Glieder dieser großen Familie unterstützen [mögen], welche Pictet neulich durch seine Vergleichungen mit der Sanskrita-Sprache erwiesen und auch Pott im zweiten Theile seiner etymologischen Forschungen factisch anerkannt hat." Zu Pictet und Pott vgl. z.B. Poppe, 1992. 22 Diefenbach, Celtica II.2, 1840, S. 1. 23 Diefenbach, Celtica I I . l , 1840, S. 5. 24 Holtzmann, S. 6. 25 Vgl. auch die oben zitierte Kritik Grimms an Holtzmann.

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Der Standort der Germanisten ist definiert durch ihre Obsession mit einer (mittel-)europäischen Ursprache, einer damit verbundenen Vorstellung von der geschichtlichen Tiefe der entsprechenden Sprechergruppe(n) und daraus abzuleitenden nationalen Prioritäten und patriotischen Gefühlen. So spricht K. von Becker zu Anfang seines Versuch einer Lösung der Celtenfrage scheidung der Celten und Gallier

durch Unter-

von 1883 von einer gängigen Entscheidung

der „Celtenfrage zum Nachtheile der Deutschen". 2 7 Die Spannungen und Lösungsbemühungen, die sich ergeben, wenn germanistisch geprägte Gelehrte wie von Becker sich aber doch von Zeußens sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen überzeugen lassen, werden deutlich in seiner Erläuterung, wie sich seine Positionen unter dem Einfluß von Zeuß modifiziert haben: Ich komme jetzt zu dem Manne, dessen Name dem Jacob Grimm's fast gleich kommt und der für meinen Zweck noch wichtiger ist, weil sein Werk: Die Deutschen und die Nachbarstämme, München, 1837, die celtischen Völker mit umfasst, zu Kaspar Zeuss. Er war der gelehrteste und gründlichste unter allen Celtisten und gab den celtischen Studien in Frankreich und England durch seine Grammatica celtica, Lips. 1852, 2 ν. erst eine wissenschaftliche Grundlage. So lange ich noch auf dem Standpunkte Holtzmann's stand, welcher selbst ohne gründliche Kenntniss der celtischen Sprachen, sämmtliche Resultate Zeuss' verwarf, hätte ich es nimmermehr gewagt, mit einer Hypothese aufzutreten, welche dem grössten celtischen Sprachkenner widersprochen hätte; ja meine Achtung vor der wissenschaftlichen Bedeutung von Zeuss' celtischer Grammatik war es, die mich zu einem Gegner Holtzmann's machte, denn die Sprachforscher werden immer das letzte Wort in der Celtenfrage zu sprechen haben. Wenn ich aber mit Zeuss an der Verwandtschaft der alten celtischen Sprache mit den jetzt celtisch genannten Dialecten Britanniens nicht zweifeln kann, so verkenne ich doch auch nicht, dass Holtzmann's Ansicht von der Bruderschaft der Germanen und Gallier, die durch die Gemeinsamkeit der Eigennamen, der physischen Merkmale, der Sitten und Einrichtungen und durch die Gräberfunde fest gegründet ist, nicht bloss einen patriotischen, sondern auch einen bleibenden wissenschaftlichen Werth hat. So entstand in mir der Gedanke der Trennung der Celten von den Galliern; die ersteren stimmen in der Sprache zu den (celtischen) Britten und unterscheiden sich in allem Übrigen von den Germanen; die letzteren gleichen in Allem den Germanen und ihre Sprache war eine germanische, ehe sie von der der zahlreicheren und gebildeteren Celten absorbirt wurde. 28 26

Holtzmann, S. X - X I . von Becker, S. 1. Er erwähnt hier auch gleich Zeuß, der „durch seine Grammatica celtica dieser Behauptung [dass alle Völker vom Atlantischen Meere bis zum Eisernen Thor der Donau zu dem Stamme gehörten, dessen Ueberreste noch in der Bretagne, in Wales, Irland und den schottischen Hochlanden celtisch reden] eine philologische Grundlage [gab,] und seitdem gebrauchen unsere grössten Historiker und Philologen unbedenklich die Ausdrücke celtisch und gallisch als gleichbedeutend" (S. 1-2). 28 von Becker, S. 96-97. So kann er, S. 98, dann „die Gallier als das süddeutsche Hauptvolk der Urzeit ansehen, mit deutschen Namen nach Avienus, und mit einer Sprache, die der deutschen sehr ähnlich war, nach Livius [...]; diese armen Bergvölker hatten nämlich ihre Nationalität besser bewahrt, als die ausgewanderten und im 27

Johann Kaspar Zeuß und die Keltomanie

249

IV. Das Paradox und seine Auflösung So merkwürdig es aus heutiger Sicht auch erscheinen mag, es war wohl fast unausbleiblich, daß i m 19. Jahrhundert aus einer bestimmten Perspektive heraus Zeuß, der sich methodisch ganz deutlich von den Positionen der Keltisten abgegrenzt hatte, selbst wieder als Keltist angesehen werden mußte. Z u m einen hatte sich die sprachvergleichende Methode der Indogermanisten mit ihrer Anwendung strenger Lautgesetze noch nicht als die adäquate und gültige Methode der Sprachvergleichung durchgesetzt. Z u m anderen konditionierte in der Sicht der Germanisten seine indogermanistische These von der sprachlichen Fortsetzung des Altkeltischen in den neukeltischen Sprachen zugleich eine spezifische Interpretation der (mittel-)europäischen Vor- und Frühgeschichte zum Nachteil der Deutschen. Seine Einordnung in das Gesamtlager der Gegner bot sich daher aus zeitgenössisch-germanistischer Sicht zwangsläufig an, da Zeußens Keltisch, bei ihm ein Zweig des Indogermanischen, von den Germanisten mit ihrer (mittel-) europäischen Ursprache gleichgesetzt wurde. Die paradoxe Wahrnehmung von Zeuß als eines Keltisten erfolgte also innerhalb eines bestimmten sprachvergleichenden und geschichtswissenschaftlichem Paradigma, das die mitteleuropäische Sprachgeschichte zum Verständnis der Vor- und Frühgeschichte unter einem ideologisch-patriotisch geprägten Erkenntniswillen interpretierte. Sie ist zugleich ein instruktives Beispiel für die historische Bedingtheit dieser Richtung der deutschen Sprach- und Geschichtswissenschaften des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer eigenen kulturellen Identität innerhalb Europas.

Literatur Bader, Bernd: Jacob Grimm und Lorenz Diefenbach im Briefwechsel, Gießen, 1985 (= Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Gießen, 40). Becker, K. von: Versuch einer Lösung der Celtenfrage durch Unterscheidung der Celten und der Gallier, Karlsruhe, 1883. Decimo, Marc: La celtomanie au XIXe siecle, in: Bulletin de la Societe de linguistique de Paris, 93, 1998, 1-40. Diefenbach, Lorenz: Celtica I. Sprachliche Documente zur Geschichte der Kelten; zugleich als Beitrag zur Sprachforschung überhaupt, Stuttgart, 1839. -

Celtica II. Versuch einer genealogischen Geschichte der Kelten. Erste Abtheilung, Stuttgart, 1840.

reichen Celtica herrschenden Gallier". Zu Zeuß sagt er, S. 4-5, „Auf dem sehr dunkelen Gebiete der Sprache werde ich trotz Holtzmann und in Uebereinstimmung mit den wissenschaftlichen Celtisten, wie Zeuss, Stokes und Windisch, den Zusammenhang der alten celtischen Sprache mit dem modernen Bretonisch, Walisisch und Irisch anerkennen", und S. 77 bezeichnet er Zeuß als den ,,grösste[n] Kenner der brittischen Dialecte".

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Celtica II. Versuch einer genealogischen Geschichte der Kelten. Zweite Abtheilung. Die Iberischen und Britischen Kelten enthaltend, Stuttgart, 1840.

Evans , D. Ellis: Gaulish Personal Names. Α Study of Some Continental Celtic Formations, Oxford, 1969. Glück, Christian Wilhelm: Die bei Caius Julius Caesar vorkommenden keltischen Namen in ihrer Echtheit festgestellt und erläutert, München, 1857. Hablitzel, Hans: Prof. Dr. Johann Kaspar Zeuss. Begründer der Keltologie und Historiker aus Vogtendorf/Oberfranken. 1806-1856, Kronach, 1987. -

Zur Biographie von Professor Dr. Johann Kaspar Zeuß, in: Erlanger Gedenkfeier für Johann Kaspar Zeuß, hrsg. v. Bernhard Forssman, Erlangen, 1989, 57-73.

-

Johann Kaspar Zeuss (1806-1856), in: Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensläufe aus Franken, Bd. 17, Neustadt, 1998, 165-184.

-

Biografische Skizze zu Prof. Dr. Johann Kaspar Zeuß (1806-1856) als Mitglied nationaler und internationaler Akademien der Wissenschaften, in: Historisches Stadtlesebuch Kronach. 1000 Jahre Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner, O.O., 2003, 292-296.

Holtzmann, Adolf: Kelten und Germanen, Stuttgart, 1855. Poppe, Erich: Lag es in der Luft? - J. K. Zeuss und die Konstituierung der Keltologie, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft, 2, 1992, 41-56. -

The Welsh Language in German Philology around 1850, in: 150 Jahre ,Mabinogion* - Deutsch-Walisische Kulturbeziehungen, hrsg. v. Bernhard Maier & Stefan Zimmer, Tübingen, 2001, 203-221.

Zeuss, I[ohann] C[aspar]: Grammatica Celtica, Berlin, 1871 [= 2. Auflage, hrsg. H. Ebel]. Zeuss, K[aspar]: Die Herkunft der Baiern von den Markomannen, München, 1839. Zeuss, Kaspar: Die Deutschen und die Nachbarstämme, Göttingen, 1904 [= 2. unveränderte Auflage, Neudruck der Ausgabe 1837].

El problema cosmopolita de la Republica universal De Jordi Riba La communaute, communaute d'egaux, qui les met ä l'epreuve d'une inegalite inconnue, est teile qu'elle ne les subordonne pas les uns aux autres, mais les rend accessibles ä ce qu'il у a d'inaccessible dans се rapport nouveau de responsabilite (de souverainete?) 1

I. La filosofia, entre lo universal у el cosmopolitismo Si la importancia de un tema se caracteriza por el interes que se le otorga у рог los trabajos que suscita, la mundializacion se encuentra entre los principales. La forma en la que se presenta actualmente este proceso posee, a pesar de la existencia de diferencias esenciales, elementos que le acercan al viejo proyecto cosmopolita. El mundo, en tanto que unidad cosmopolita, continua siendo uno de los grandes suenos de la humanidad. Ello acontece, no obstante, en una epoca en la que no se concreta el uso que se da a conceptos tan genericos 2 . Posiblemente sea en el campo filosofico donde la busqueda de esa conception cosmopolita goce actualmente de menor vigor, pese a su larga tradicion entre filosofos de distintas у opuestas tradiciones. Paradojicamente, ello tal vez se deba a la existencia de esas tradiciones filosoficas. La problemätica cosmopolita se encuentra, en la mayorfa de los casos, mejor representada en las tradiciones menores que tienen, ellas mismas, dificultades para definirse como tales, por lo que buscan otros puntos de reconocimiento alejados de su propio territorio у lengua. No es, por lo tanto, dificil de comprender la tradicion de viajeros que, a lo largo del siglo X I X , se desplazaron con la esperanza de encontrar aquello que su tradicion no poseia. Ser ciudadano del mundo cuestionaba el concepto mismo de tradicion, concepto enmarcado dentro de un territorio determinado; у al mismo tiempo, la condition de cosmopolita representaba, desde la perspectiva nacional, una forma de exclusion, dada la ausencia de regulation de esta forma de pertenen1

Blanchot, M., La communaute inavouable, Paris, Minuit, 2001, p. 34. Cf. Tassin, E., «Globalisation economique et Mondialisation politique» en Riba, J. у Vermeren, P., Philosophies des Mondialisations, Paris, THarmattan, 2004. 2

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cia. A pesar de que, desde la optica puramente filosofica, el cosmopolita poseia una forma de pertenencia muy especifica. No se era cosmopolita ünicamente por definition, sino, у muy particularmente, por la propia actividad ejercida frente a la de la mayoria. A h l se produce una cierta paradoja, puesto que ese modelo de pertenencia, surgido de la exclusion у practicado desde la ausencia de ejercicio de la ciudadania, puede tomarse como modelo de una ciudadania que se construye a partir de sus propias acciones. Nadie nace cosmopolita. Se trata de un proceso de construction personal; a pesar de que, hoy, todo nos lleva a pensar que la mundializacion nos hace a todos cosmopolitas, sin necesidad de decision alguna. El proceso de mundializacion nos convierte, aparentemente, en cosmopolitas, sin que ello parezca que sea tan evidente. El personaje filosofico del cosmopolita (segun la terminologia establecida por Deleuze et Guattari) era poco frecuente en relation con los otros personajes; especialmente del burgues, que se presentaba, en oposicion al cosmopolita, como el fiel defensor de las tradiciones, definidas como nacionales у en profundo enfrentamiento con los ideales cosmopolitas. El cosmopolita, como ciudadano del mundo, se encuentra abocado al ejercicio de su cosmopolitismo mediante la defensa de los valores, que se encuentran relacionados con dos de los grandes principios de la ilustracion: la paz у la tolerancia. Para el cosmopolita, poco importa el lugar у la lengua. L o que importa, lo importante, es la pluralidad de esas leguas у de esos lugares. La filosofia es, desde esa perspectiva, cosmopolita, por el hecho que en su busqueda de lo universal, se territorializa. De igual forma acontece con el conocimiento de las lenguas. Algo de ello sucedia en la Barcelona de finales del siglo X I X , donde Joan Maragall, poeta у publicista de renombre, tanto en lengua castellana como en lengua catalana, se convertia en el primer traductor de Nietzsche. No se puede dejar de lado el cosmopolitismos de esa pequenas tradiciones que han ido, mediante viajes, traducciones, ect. ..., a la busqueda de lo universal que la filosofia posee. Y es que, a pesar de la aspiration universalista que la filosofia tiene, esta siempre se ha expresado a traves de las tradiciones, cosa que ha comportado territorios, lenguas у objetivos diferentes. El conocimiento de esas tradiciones у de sus interrelaciones es una cuestion cosmopolita que hoy se muestra como indispensable. Lugar, lengua у tradition son, en resumen, los problemas que se plantean al universalismo filosofico 3 . Α pesar de todo, parece que la filosofia detenta, desde sus orfgenes, un sentido eminentemente universalista que se concreta, en primer lugar, por la busqueda de la verdad. De ello resulta que un cierto sentido cosmopolita de la filosofia atraviesa las tradiciones у sur relaciones mutuas, 3

Vease Lepeniess, W., Les trois cultures, Paris, Fayard, 1996.

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El problema cosmopolita

conduciendo a una filosofia universal. Incluso en un perfodo de fuerte sentido cosmopolita como fue el siglo X V I I I , se puede encontrar ejemplos que nos permitan pensar que, a pesar de todo, la filosofia no puede escapar a su territorializacion у a su lengua. A l cosmopolitismo fllosofico solo se llega mediante el conocimiento de las tradiciones, de las lenguas у de los territorios que le han dado origen. No hay una filosofia universal como tampoco hay filosofias nationales, sino un cosmopolitismo filosofico. La Europa de la Luces pasa por ser uno de los perfodos donde los filosofos recuperan el espiritu cosmopolita de los griegos. A s i lo manifiesta Peter Coulmas en su libro Les citoyens du monde. Histoire

du cosmopolitisme 4,

quien

senala que, a pesar de que no existen obras que abarquen el amplio espectro del cosmopolitismo, el siglo X V I I I es un momento fundamental en la definition del cosmopolitismo. De el hemos recibido textos fundamentales, entre los cuales, tal vez el mäs importante sea El proyecto de paz perpetua de Kant. El punto de vista cosmopolita expuesto por Kant es aquel que consiste en el establecimiento de un derecho por encima de las ley es de cada nation. La consecuencia jurfdica fundamental serfa que cada uno de nosotros, desde el punto de vista de los derechos, no fuese considerado extrano en ningun pais del mundo. El cosmopolitismo kantiano se basa en lo jurfdico frente a la arbitrariedad. La repüblica universal у cosmopolita imaginada por Kant es, en palabras de Lacan, inviable e inefectuable, sin que medie, anadimos nosotros, la intervention activa de los ciudadanos que la hagan posible con sus acciones. Si como dice Kant, la especie humana es una grupo de gentes que no pueden pasar las unas sin las otras; pero, al mismo tiempo, no pueden evitar combatir entre ellas; de ahi que se sientan determinados a la creation de una repüblica universal у cosmopolita. Habida cuenta de que esta idea es, en si misma inalcanzable, у se define como un principio regulativo у no constituvo, deberfamos escrutar la posibilidad de otras soluciones al problema. Para ilustrar esta posibilidad, se puede tomar el ejemplo de John Oswald, quien, un ano antes de la publication de la Paz perpetua, habia editado en Paris, una obra que lleva por titulo Le gouvernement du peuple. Plan de constitution pour la Republique universelle. Mientras que Kant representa el ejemplo tipico del cosmopolitismo como manera de escapar a los peligros de la guerra, Oswald, un cosmopolita en la Revolution, sostiene que, frente al parlamentarismo naciente, hay que desarrollar una democracia directa. Oswald, como antes habia hecho Anarchasis Cloots, suena con una Europa liberada de las tiranias у en la que el pueblo ejerza activamente la soberania. Fruto de sus aventuras exoticas guardo una profunda simpatia por los pueblos oprimidos у de ahi su idea de repüblica universal у cosmopolita: 4 Coulmas, P., Les citoyens du monde. Histoire du cosmopolitisme, Paris, Albin Michel, 1995.

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«le meilleur gouvernement sera done celui qui donnera toute la publicite possible aux actions des individus; et il n'y a que се moyen d'etablir le regne de la volonte, de la liberte, de la loi, de Г amour, expressions qui, dans la sagesse primitive des langues, derivent de la meme racine et signifient la meme chose.5» Hoy, todo apunta que, el ideal kantiano es insuficiente у debe cambiar, у de hecho lo esta haciendo, debido principalmente a los nuevos desafios que, constantemente, se le presentan al ciudadano у los cuales deben ser acometidos mediante nuevas formas de ejercicio de la ciudadania. Por ello, es posible у deseable emprender la definition de la idea de una ciudadania universal sobre la base de un mundo comun, de tal forma que los desafios que se le presenten por el propio proceso mundializador se puedan encarar, desde su perspectiva local, en miras a lo global. Debido a ello, sera indispensable concebir, para el ejercicio de la ciudadania, un tipo de cultura, desde los ideales de diversification que representa el pluralismo, que no ponga en cuestion la existencia de un derecho cosmopolita que sea capaz de acabar con las confrontaciones belicas. El cosmopolitismo kantiano no es la globalization que toma fuerza en el siglo X X I , donde el objetivo buscado parece ser, por encima de todo, la flaqueza de la Republica. Constituida esta por la ley, debe dar un paso hacia su consolidation definitiva, mediante la action de los ciudadanos activos. La pregunta serfa la siguiente: ^,Que tipo de ciudadano ha de formarse en el proceso de mundializacion? La respuesta: la construction del ciudadano no es suficiente con la constitution del sujeto de derecho, tal como lo hacen Kant у Habermas, en analogia con la moral. El derecho solo no puede garantizar la autonomia del ciudadano. Habermas reconoce la existencia de litigiös; pero no de conflictos, у menos aün, reconoce, como hace Jacques Ranciere, que el conflicto sea la esencia de la politica 6 . Es necesario desarrollar, por ello, el proceso emancipatorio, para que, con la perdida de fuerza de los estados nationales, pueda tomar fuerza la o p t i o n ciudadana. Para que la pregunta sobre si nos dirigimos, efectivamente, hacia una ciudadania universal у cosmopolita, pueda tener una respuesta afirmativa. Esta es la pregunta esencial a formularse, en la hora de la mundializacion у en el Camino de la ciudadania sin Estado-nacion 7 . La dificultad que la mundializacion economica ha puesto en evidencia es la renuncia de lo publico en beneficio de lo privado. Incluso los Estados que han sido, tradicionalmente, defensores de lo publico, tienen dificultades para defen5 Oswald, J., Le gouvernement du peuple, Paris, Les editions de la Passion, 1996, p. 63. 6 Cf. Ranciere , J., La Mesentente, Paris, Galilee, 1995. 7 Cortina, Α., Ciudadanos del mundo. Hacia una teoria de la ciudadania, Madrid, Alianza, 1997. Cortina, Α., Los ciudadanos como protagonistas, Barcelona, Circulo de Lectores, 1999. Schnapper, D., La communaute des citoyens. Sur l'idee moderne de nation, Paris, Gallimard, 1994.

El problema cosmopolita

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derse del proceso mundializador. Se dice que el mercado es un concepto que sobrepasa las ideas politicas у que va a convertirse en la forma propia de establecimiento de relaciones entre los individuos. En esta situation, el modelo de individuo es el consumidor. Frente a este modelo ya existente, existe otro modelo, todavia por construir, que postula una ciudadania que no sea solamente una conception politica teorica, una ciudadania en la que nadie sea excluido. Se trata de una ciudadania que ejerce у participa en las tomas de decision, especialmente, en su propio medio, el local; pero que, gracias a los medios actuales de comunicacion, no desdene la oportunidad de ponerse en contacto con otros ciudadanos con el objetivo de construir una red ciudadana universal. El futuro viene representado por ese ciudadano cosmopolita capaz de superar los miedos de la mundializacion y, al mismo tiempo, de tomar conciencia de que el futuro que le aguarda no es la sociedad de los fines kantiana; sino que debe tener el suficiente coraje para vivir en el estado de escasez en el que el mundo se encuentra abocado si quiere la integration de todos.

II. De la universalidad de la ley al cosmopolitismo de la action La conception moderna del ciudadano nace de la pregunta: ,[,Que debo hacer? que Kant se formula en la Critica

de la Razon рига, « Г absence de re-

ponse est ce qui fait question dans la question», senala Monique Castillo, en el prefacio a la edition francesa 8 de los Fundamentos

de la metaflsicas

de las

costumbres. Sera, no obstante, mediante una cierta ruptura con el kantismo del pensamiento moral contemporäneo, lo que determinarfa una nueva conception del personaje filosofico del ciudadano, que propiciarfa la construction del ciudadano-filosofo. Esta evolution en la conception de la moralidad se encuentra expuesta por el filosofo frances Jean-Marie Guyau, quien apunta el final de la epoca en la que el deber, surgido del pensamiento religioso, dejarä paso a una nueva conception de la moral basada en la responsabilidad individual frente a la action. Esta nueva conception de la moralidad sigue teniendo su origen en la pregunta de la etica kantiana. Y de forma anäloga a la transformation a que ella darä paso en la teoria etica, desembocarä tambien en una transformation de la conception del personaje filosofico del ciudadano mucho mäs cercano del individualismo metodologico, que de las concepciones holistas anteriores.

8 Kant , Fondements de la metaphysique des moeurs, preface de Monique Castillo, Paris, Livre de Poche, 2000.

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En este caso, se puede apreciar un cierto sentido paradojico que afecta al individualismo. De un lado, su invocation de un individuo autonomo e independiente que quiere encarnar la expresion de la humanidad mäs autentica; у de otro, se muestra como el individuo que se deja modelar por las fuerzas dominantes. De esta circunstancia, el propio sistema entra en crisis у nuevas incertidumbres se einen sobre la teona moral у su aprendizaje. La democracia, no obstante, tiene la necesidad de ser aprendida; pero lo que no es evidente es que su aprendizaje comporte entrar de nuevo en un sistema de deberes. El acaecer filosofico del ciudadano proviene de la ensenanza de la filosofia. El derecho a la ensenanza filosofica es el paso necesario para la construction de un ciudadanofilosofo capaz de hacerse en cada una de sus acciones. «La republique ou la pure democratic ne peut se passer de certains vertus; mais eile n'exige pas, comme on se plait souvent ä le pretendre pour la declarer impossible, que touts les citoyen soient des anges ou des heros» 9 El ciudadano-filosofo es el individuo en sociedad, que se pregunta a si mismo, la manera en la que debe actuar, puesto que, salvo la razon, no dispone de ningun otro referente para la action; sobre todo, teniendo en cuenta el progresivo alejamiento de la politica que se produce en la sociedad. Asi, cuando nos referimos al llamado deficit de ciudadania , nos estamos refiriendo, principalmente, a la falta de ejercicio civico, que se concreta en las acciones civicas. Para intentar subsanar este alejamiento en el que el propio ciudadano corre el peligro de quedar excluido у ser substituido por otro personaje, se deberfa facilitar la participation democrätica, mediante una democracia de proximidad у una education capaz de hacer que el ciudadano actue responsablemente frente a los ejercicios ciudadanos. Reforzar los valores у las acciones ciudadanas por ser el ciudadano la forma de representation del individuo como sujeto politico supone la formulation de un planteamiento normativista del concepto ciudadano. Y supone, por lo tanto, la pregunta por los valores que configuran a este ciudadano, preguntas que, a su vez, pueden estar evaluadas en cuanto cuäles son los principios у valores que distinguen al ciudadano de otros personajes filosoficos. El ciudadano es, a diferencia de otros personajes conceptuales, aquel que ejerce la libertad. No tiene que reclamarla. La tiene ahi; por ello, mäs que otros personajes, el ciudadano se encuentra emparentado con la etica. La ciudadania encarnada en este personaje como modelo normativo, representa un cambio respecto del modelo ideologico predominante y, por lo tanto, se produce el paso desde un modelo donde prevalece un cierto determinismo a un modelo donde el ciudadano toma la iniciativa, no solo en su vida personal у social, sino tambien en la politica. 9

Barni, La morale dans la democratic, Paris, Kime, 1992, p. 14.

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El ciudadano-filosofo es el resultado por el cual la filosofia politica realiza el paso de un modelo ideologico al modelo etico. «La liberie n'est autre chose que la morale en politique» 1 0 , habia dicho madame de Stael. El ciudadano-filosofo es aquel que ejerce la autonomia. El concepto de cultura moral es introducido por Jules Barni. En el senala la vital importancia que ese tipo de cultura tiene para el buen funcionamiento de la democracia. «Que serait un Etat, si bien reglee qu'en füt la constitution, ou les citoyens manqueraient de tout respect pour leurs droits reciproques et n'auraient pas ä cet egard aucun souci de leurs devoirs? 11 » Para ello deben intervenir otros elementos en la constitution de la sociedad democrätica. - El elemento economico, cuya funcion es proporcionar el bienestar a los ciudadanos. - El elemento politico , cuya funcion es asegurar la libertad. Cada uno de esos dos elementos esta relacionado con el elemento moral; que nada puede por si mismo, pero sin el cual, los otros son impotentes. El propio Barni establece tres tipos de virtudes que deberän configurar la ciudadania democrätica. En primer lugar, la de tipo individual. En segundo lugar, las llamadas familiares y, por ultimo, las virtudes sociales, que el concreta en el respeto de los derechos de los otros; el amor a la justicia, el amor a la humanidad; el amor a los hombres; la caridad у la beneficencia. En definitiva, es imprescindible desarrollar el espiritu de las virtudes republicanas, haciendo especial incidencia en las virtudes individuales. Para Barni, sin dichas virtudes, no existe democracia. El primer fundamento sobre el que se construye la moralidad publica es el respeto de si mismo, puesto que de el se deriva el respeto hacia los demäs. Sobriedad у tenacidad eran las virtudes que los antiguos contemplaban como la base misma de las virtudes publicas. En general, resume Barni, todas las virtudes de la moral individual se pueden concretar en tres fundamentales: la cultura de la humanidad; el propio respeto de la dignidad humana у el perfeccionamiento moral de si mismo. Y todo ello, a pesar de lo dicho por Mclntyre, por citar un autor contemporäneo que trata en sus escritos el tema de las virtudes, quien afirma en su libro Tras la virtud 12, la imposibilidad de definir hoy es dia lo que es una buena persona, imposibilidad que anuncia el declive de la virtud como excelencia de la persona. No obstante,

10 Mme de Stael en un manuscrito des Considerations, segün N. King , publicado en les Cahiers staeliens, n° 14, 1970, p. 7. 11 Barni, op.cit., p. 39. 12 Mclntyre, Α., Tras la virtud, Barcelona, Critica, 1990.

17 FS Hablitzel

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la virtud continua conservando una ventaja respecto a los valores (que han venido a sustituir a a la primera): la posibilidad efectiva de su realization. A l estudiar de esta manera la ciudadania contribuimos, primero, a someter criticamente unas acciones ciudadanas que permitan llegar a un ejercicio ciudadano que contribuya a la construction de la ciudadania. Tal como senala Victoria Camps en su libro Paradojas

del individualismo,

«no hay participation, en-

tre otras razones, por que no hay igualdad» 1 3 ; pero esa igualdad no se consigue sino haciendo uso de la libertad. A s i se muestran las dos caras del individualismo, por una parte, la afirmacion de un individuo autonomo e independiente que quiere ser la expresion de la humanidad mäs autentica y, por otra parte, la de aquel que se deja moldear por esas fuerzas dominantes. Ese individuo debe adoptar valores de libertad para escapar del moldeo a que se encuentra sometido por las fuerzas, intereses о grupos dominantes. Ноу la pregunta sobre que hacer con la libertad recobra un aspecto nuevo dentro del propio ämbito del liberalismo politico. El problema moral, social у politico es, sin duda, que hacer con la libertad 1 4 . El uso de la libertad requiere un aprendizaje, el cual no se obtiene solo con su ejercicio, sino tambien con su conocimiento teorico. Asi, vale la afirmacion de Alain Badiou sobre los anos oscuros 1 5 . Y tambien vale la respuesta que dio A . Badiou en una entrevista para la revista Ciudadanos 16:

se impone la necesidad de un nuevo personaje filosofico

que substituya al del militante; pero que, al mismo tiempo, guarde de este su participation activa en la vida comunitaria. En la querella entre antiguos у modernos se ha insistido demasiado, tal vez, en el tema de la representation, sobre todo para descalificar cualquier intento de regreso a la situation anterior. Pero tambien es cierto que, frente a los avances cientificos у tecnicos en el terreno de la comunicacion, resulta paradojico que se hable de una democracia electronica en la que se podrä, supuestamente, someter a consulta muchos aspectos del funcionamiento de la sociedad, sin que, a su vez, se ponga en cuestion la vieja idea de que para un buen funcionamiento de la sociedad se requieren ciudadanos pasivos que dejen a sus representantes ejercer su actividad libremente. Y no es esta la sola idea que mereceria ser tenida en cuenta de сага a una revision del concepto de democracia у de ciudadano. Pienso, especialmente, las que atanen a la escuela у al trabajo. Se trata, mäs que de recuperar una forma de participation, recuperar una idea que se olvida muy a menudo: el origen de la filosofia coincide con el origen de 13

Camps, V., Paradojas del individualismo, Barcelona, Critica, 1993, p. 93. Vease Constant, В., La liberte chez les anciens et chez les modernes. 15 Badiou , A. Manifeste pour la philosophie, Paris, Seuil, 1989. 16 Entrevista de Stephane Douailler у Patrice Vermeren con Alain Badiou, «La resignificacion acutal de la politica», en Ciudadanos, Revista de Critica Politica у propuesta, ano, n° 4, Buenos Aires, 2001. 14

El problema cosmopolita

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la ciudad; por lo que esta idea que relaciona la filosofia, es decir, la actividad critica, con la comunidad si que es recuperable. Por de pronto, se trataria de recuperar la idea de soberania en el sentido de la capacidad individual de elegir que tipo de vida se quiere vivir у hacia donde dirigir esta, tanto en el piano individual como en el piano colectivo. 1 7 Existen, en definitiva, varios modelos de republicas universales, segun ilustran, entre otros, Kant у Oswald, pero la cuestion no es tanto su description у su fundamento, sino como hacerlas realmente efectivas у que su efecto repercuta en la ciudadania. Kant pensaba que, mediante la existencia de un sistema juridico cosmopolita se podrfan hacer desaparecer los enfrentamientos belicos. Pero como la ciudadania no es solo reconocimiento, sino practica activa, la position de Kant se muestra como demasiado esceptica con respecto a las posibilidades de los ciudadanos. El planteamiento mäs efectivo es el de una democracia que se nutre de la propia action de sus ciudadanos у cuanto mayor sea la participation ciudadana, mäs у mejor serä la democracia; cosa que no hace sino rebatir la idea de que la democracia es mäs у mejor cuando los ciudadanos permanecen al margen de las decisiones que les atanen. De esta manera, resulta mäs creible que los efectos negativos que la globalization ha traido, como es el aumento de las desigualdades, puedan corregirse.

17 Vease Bataille, G., «Се que j'entends par souveranite» en Oeuvres Completes, VIII, Gallimard, Paris, 1976.

17'

Vertreibung und Aussiedlung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten Von Andrzej Sakson* Der i m Jahre 1945 vollzogene Anschluss der West- und Nordgebiete, die bisher die östlichen Provinzen des Dritten Reiches gebildet haben, hatte für die Polen besondere historische und zivilisatorische Bedeutung. Der dominierende Faktor, der zu diesem Sachzustand geführt hat, war nicht die Tatsache, dass diese Gebiete von Bevölkerung polnischer Abstammung bewohnt waren, sondern J. Stalins Wille, Polen den Verlust der von der Sowjetunion annektierten Östlichen Grenzgebiete der Zweiten Republik Polen wiedergutzumachen. Polen verlor insgesamt 75.861 k m 2 Fläche; d.h. es verlor 179.649 k m 2 zugunsten der Sowjetunion und erhielt dafür 103.788 k m 2 , die Deutschland abgenommen wurden. A u f den West- und Nordgebieten vollzog sich nach 1945 ein in der Geschichte des modernen Europas bisher noch unbekannter Prozess des massenhaften Austausches der Bevölkerung. Die bis vor kurzem noch herrschenden gesellschafts-politischen, wirtschaftlichen, konfessionellen und nationalen Verhältnisse haben sich grundsätzlich geändert. Für alle war das i m gewissen Sinne eine „verfluchte Erde". A u f manchen Gebieten mehrte sich i m lawinenartigen Tempo Unrecht, das sowohl den einzelnen als auch ganzen Gemeinschaften und nationalen Gruppen angetan wurde. Es verschwanden ganze Kulturen, manche Personen reisten aus, dafür kamen neue Menschen an ihre Stelle, die eine lange Zeit einander fremd blieben. In den damaligen „Westen" reisten diejenigen aus, die sich einen neuen Platz auf der Erde suchen mussten, denn der alte i m Osten fand sich plötzlich außerhalb der Grenzen Polens, oder auch die, die auf diese Gebiete mit geänderten Namen und neuen Lebensläufen gekommen sind. Es gab auch solche, die hier die Chance entdeckt haben, für die während des Krieges erlittenen Leiden und Verluste eine Wiedergutmachung zu finden. Unter ihnen gab es Menschen, die an ihre Mission des Bewirtschaftens dieser Gebiete wirklich geglaubt haben, auf der anderen Seite fehlte es allerdings nicht an denen, die die Westgebiete als

* Übersetzung von Dorota Matelska.

262

Andrzej Sakson

eine Schatzgrube ohne Besitzer betrachtet und behandelt haben. Schon bald wurden diese Gebiete von anderen Polen „Wilder Westen" genannt, wo Gesetzlosigkeit, Korruption und „Recht des Stärkeren" herrschte. Unter dem Stärkeren verstand man nicht unbedingt einen Banditen, sondern nicht selten einen Beamten der Volkspolizei (Miliz). Die gesellschaftlichen Prozesse, die sich nach 1945 auf den West- und Nordgebieten Polens vollzogen haben, waren von besonderer Intensität und Komplexität gekennzeichnet. Einerseits war dies ein Ergebnis der damaligen äußerst komplizierten politischen, wirtschaftlichen und demographischen Situation, andererseits die Folge des Zusammenpralls der Kulturen, zu dem es infolgedessen gekommen ist, dass hier viele Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher regionaler Herkunft, anderer Kultur und Zivilisationstradition, differenziertem Nationalbewusstsein und unterschiedlicher Konfession sowie M o t i v für die Ankunft auf diese Gebiet, aufeinander getroffen sind. Die West- und Nordgebiete bewohnten sechs Hauptbevölkerungsgruppen: 1. Bewohner der ehemaligen deutschen Ostprovinzen innerhalb der Grenzen von 1937, d.h. Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien, unter denen sowohl Deutsche als auch einheimische Bevölkerung war (Autochthonen): Masuren, Ermländer, Kaschuben, Schlonsaken -

ca. 1 M i l l i o n

(Angaben von 1950); 2. Umsiedler aus Mittelpolen (sog. „früheren Gebieten") bildeten die zahlreichste Gruppe, die ca. 2,5 Millionen Personen zählte; 3. Vertriebene aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten („Kresy" - „polnische Ostmarken") - ca. 1,5 Millionen Personen; 4. Reemigranten aus Frankreich und Belgien sowie Rumänien und Jugoslawien, aber auch aus anderen Ländern - ca. 250.000 Personen; 5. ukrainische Bevölkerung sowie Vertreter anderer nationaler Minderheiten ca. 250.000; 6. eine ganze Gruppe von sowjetischen Soldaten, die in Polen stationiert waren (90% von ihnen lebten i m Westen von Polen) - ca. 50.000 Personen. Die räumliche Verteilung dieser Gruppen war sehr ungleichmäßig. Die einzelnen Regionen der West- und Nordgebiete „besaßen" eine eigene spezifische nationale Struktur der Bevölkerung 1 .

1

Vgl. A. Sakson, Procesy integracji i dezintegracji spoiecznej na Ziemiach Zachodniach i Pölnocnych po 1945 roku (Prozesse gesellschaftlicher Integration und Desintegration auf den Westlichen und Nördlichen Gebieten nach 1945), in: Pomorze trudna ojczyzna? Problemy ksztaltowania sie nowej tozsamosci 1945-1995 (Pommern - eine schwierige Heimat? Probleme der Gestaltung einer neuen Identität 1945-1995), Hrsg. von A. Sakson, Poznan 1996, S. 131-154.

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

263

I. Ursprung und Verlauf der Vertreibungen und Aussiedlungen Die Terrorakte seitens der ukrainischen und litauischen Nationalisten, deren Hauptziel es war, die Polen um jeden Preis und mit allen Mitteln zu vertreiben, der Verlust der östlichen Grenzgebiete der Zweiten Republik Polen sowie sowjetische Repressionen haben dazu geführt, dass die Bewohner dieser Gebiete vor eine dramatische Wahl gestellt wurden: entweder in ihrer Heimat zu bleiben und eine Minderheit zu sein, der Tod, von Repressionen und Diskriminierung bedroht zu werden, oder auch „ D e m Nationalstaat", zu folgen, der die meisten Polen umfasste und gezwungen wurde, seine Grenzen Richtung Westen zu verschieben. Die Bewohner der östlichen Grenzgebiete, ähnlich wie die Bevölkerung Ostpreußens, wurden zu ganz oder auch teilweise unfreiwilligen Umsiedlungen gezwungen, die sehr unterschiedliche Formen angenommen haben. Diese Wanderungen kann man in zwei Grundformen unterteilen. Die ersten waren unorganisiert und deshalb kann man sie als „wilde Vertreibungen oder

Flucht"

bezeichnen. Die Auswanderungen der Polen aus den Wilnaer Gebieten, Wolhynien und Podolien, zu denen es schon i m Jahre 1944 nach der Verschiebung der Front kam, waren Folge der unmittelbaren Gefährdung des Lebens, was durch den dort herrschenden Terror verursacht wurde. Insgesamt verließen ihren bisherigen Wohnsitz in den östlichen Gebieten der Zweiten Republik Polen ca. 2000 tausend Personen. Als die zweite Form der Migrationen der Bewohner der östlichen Grenzgebiete betrachtet man organisierte Ausreisen, die kraft entsprechender Verträge und Vereinbarungen zu Stande kamen. Diese Umsiedlungen hatten in der Regel einen halb oder vollkommen freiwilligen Charakter und wurden durch den Situationszwang bedingt, was i m Endeffekt dazu geführt hat, dass diese Ausreisen zu einem massenhaften Exodus wurden. Sie nahmen sogar die Form von massenhaften Transporten oder teilweise sogar des Austauschs der Bevölkerung an. Die Bewohner der östlichen Grenzgebiete wussten nicht, wohin sie fahren, wo sie sich niederlassen und wo sie ihr neues Leben anfangen werden. Sie begaben sich meistens auf die West- und Nordgebiete mit speziellen oder Militärtransporten, zusammen mit Verwandten oder Nachbarn, manchmal nur mit ihren Familien oder auch ganz alleine. Organisierte Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung aus den Östlichen Grenzgebieten der Zweiten Republik Polen begannen i m Jahre 1944, als das Polnische Komitee der Nationalbefreiung - P K N B (Polski Komitet Wyzwolenia Narodwego - P K W N ) mit den Regierungen des sowjetischen Weißrusslands, der Ukraine und Litauens entsprechende Verträge unterzeichnet hat. A m 6. Juli 1945 wurde in Moskau von der Intermistischen Regierung der Nationaleinheit

Andrzej Sakson

264

(Tymczsowy Rz^d Jednosci Narodowej) ein weiterer Vertrag unterschrieben, der die Bedingungen für die Ausreise der polnischen und jüdischen Bevölkerung aus den übrigen Gebieten der Sowjetunion geregelt hat. Kraft oben genannter Vereinbarungen sollten Bürger der Republik Polen, die vor dem 1. September 1939 auf den später von der Sowjetunion annektierten Gebieten gelebt hatten, und die wegen der Kriegshandlungen auf andere Gebiete der SU hatten auswandern müssen, nun ausgesiedelt werden. Dabei handelte es sich vor allem um Personen, die in den Jahren 1939-1941 nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden waren, weiter um Flüchtlinge aus West- und Mittelpolen sowie um M i granten aus den Ostseestaaten, die ihre Heimat aus ökonomischen Gründen verlassen hatten. Insgesamt kamen offiziell nach Polen in den Jahren 1944-1948 1.517.983 Repatrianten. Die stärkste Welle fiel auf die Jahre 1945-1946 (1945 - 742.000 und 1946 -

640.000 Personen). Die meisten Aussiedler stammten aus der

Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik - 787.674 (was 51,88% der Gesamtzahl aller Flüchtlinge bildete), weiter aus der Weißrussischen SSR 274.163

Personen

(18,08%),

aus den übrigen

Gebieten

258.990 (17,06%) und auch aus der Litauischen SSR -

der

-

Sowjetunion

197.156 Personen

(12,98 %) 2 . Der Übertritt der neuen polnisch-sowjetischen Grenze wurde von vielen Bewohnern der Östlichen Grenzgebiete Polens als die nächste Deportation zu einem Ort, wo sie sich nur vorläufig aufhalten würden, betrachtet. Nachdem die Grenze i m September 1945 geschlossen worden war, wurde von den Militärtruppen der Sowjetunion die Aktion der Aussiedlung der polnischen Dörfer, die i m Grenzstreifen lagen, durchgeführt. Die Dorfbewohner wurden bis zu der nächsten Eisenbahnstation geleitet, und von da aus wurden sie mit Zügen nach Polen gebracht. Die völlig desorientierten Menschen waren überzeugt, dass sie nach Sibirien gebracht werden. Die Bevölkerung mancher Dörfer wurde direkt über die Grenze getrieben. Für die meisten Aussiedler bedeutete der Grenzübertritt die wahre Befreiung nach der Zeit des blutigen Terrors. Doch viele von ihnen hatten einen langen Leidensweg hinter sich, der in dem Moment angefangen hat, als sie die Abreisestation erreicht haben. Manche haben ganze Wochen lang auf die Abfahrt des

2 J. Czerniakiewicz, Repatriacja ludnosci polskiej ζ ZSRR 1944-1948, Warszawa 1987, S. 54. Dazu weiter: D. Matelski, Wysiedlenia - wypedzenia Polakow i Niemcow w latach 1939-1949 w historiografii polskiej (Aussiedlungen - Vertreibungen der Polen und Deutschen in den Jahren 1939-1949 in der polnischen Geschichtsschreibung), (w: Wypedzenia Polakow i Niemcow. Procesy wspolzalezne - podobienstwa i rpznice. (Vertreibungen der Polen und Deutschen. Voneinander abhängende Prozesse Ähnlichkeiten und Unterscheide). Hrsg. von Artur Hajnicz, Eligiusz Lasota, Andrzej Sakson, „Polska w Europie" („Polen und Europa") (Sonderheft, Nr. XIX), Warszawa 1996, S. 104-124.

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

265

Transports gewartet (dabei mussten sie unter freiem Himmel schlafen). Ein Transport bestand durchschnittlich aus hundert Waggons. Darunter waren hauptsächlich Güterwaggons (nicht selten sog. „Viehwaggons"), manche von ihnen waren überdacht, andere ganz offen. Die Transporte wurden oft von sowjetischen Soldaten oder verschiedenen Banden überfallen, die Hab und Gut der Aussiedler raubten, Frauen und Mädchen vergewaltigten oder die Widerstand leistenden Männer erschlugen. Die Ausreisenden waren sogar sehr oft darüber froh, dass sie die „Höhle des Löwen" verließen, doch andererseits verspürten sie einen unbeschreibbaren Weh darüber, dass sie ihr altes Zuhause verlassen mussten. Die Aussiedlung aus den östlichen Gebieten und das Verlassen des Elternhauses, all das waren Erfahrungen, die das Bewusstsein von allen, die eine solche Reise erlebt haben, dauerhaft geprägt haben. Den meisten blieb die Vertreibung nicht erspart. Die Bewohner der Östlichen Grenzgebiete Polens verbanden den Verlust ihrer Heimat mit dem Gefühl eines unverdienten Unrechts, mit Hass gegenüber der Sowjetunion und auch mit dem unterschiedlichen Verhältnis zu der kommunistischen Verwaltung Polens. Einerseits war dies ein positives Verhältnis, das durch nationale Symbole und Zeichen verursacht wurde, deren Anblick die Leute zum Weinen brachte, doch andererseits fehlte es nicht an negativer Einstellung, was vor allem damit zusammenhing, dass sich die Russen überall breit machten und dass die polnischen Verwaltungsbehörden von dem blutrünstigen sowjetischen System abhängig waren 3 .

II. Prozesse der Akkulturation Für polnische Vertriebene war der Verlust ihrer Heimat, in der sie seit vielen Generationen gelebt haben, ein persönliches Drama. Es war mit dem Zerfall der Gemeinschaft, in der sie bisher gelebt hatten, verbunden. Die Ankunft in die ehemaligen östlichen Provinzen Deutschlands war mit vielen Entbehrungen und Mühen verbunden. Sie hatten kaum das Gefühl, dass sie hier ein neues Heim gefunden haben. Optimisten warteten auf die Möglichkeit, in ihr heimisches Wilna oder Rowne zurückkehren zu dürfen, die Pessimisten waren davon überzeugt, dass die Ankunft auf die sog. „Zurückgewonnenen Gebiete" nur eine weitere Zwischenstation in der unendlichen erzwungenen Wanderung war. Kaum einer von ihnen glaubte damals an die dauerhafte Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Polen. Außer3 Vgl. J. Borkiewicz, 1945: wyp^dzeni Polacy (1945: vertriebene Polen) (in:) „Wiez" („Bindung"), 1995, Nr. 9, S. 44-46; A. Sakson, Socjologiczne problemy wysiedlen (Soziologische Probleme der Aussiedlungen), (in:) Utracona ojczyzna. Przymusow wysiedlenia, deportacje i przesiedlenia jako wspolne doswiadczenie. (Verlorene Heimat. Zwangsaussiedlungen, Deportationen und Umsiedlungen als gemeinsame Erfahrung.) Hrsg. von H. Orlowski, A. Sakson, Рогпап, 1996, S. 143-170.

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Andrzej Sakson

dem spürten die Emigranten aus den östlichen Gebieten, dass sie von den anderen Polen i m Gegensatz zu allen anderen Ankömmlingen mit Abneigung behandelt wurden. Unter den Aussiedlern dominierte damals die Stimmung der Einstweiligkeit. Man versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass in höchstens einigen Jahren die nach der Jaltaer Konferenz herrschende Ordnung zusammenbricht, was ihnen die Rückkehr zu ihrem alten Zuhause, das sie i m Osten zurückgelassen haben, ermöglichen würde. Bei dem ersten Kontakt mit den neuen Gebieten kam es oft zu dramatischen Situationen. Der erste Eindruck nach der Ankunft an der Zielstation war in der Regel der Anblick des dort herrschenden Chaos und Zerstörung. Die durch die Reise erschöpften Menschen fürchteten, dass sie hierher gebracht wurden, damit sie zugrunde gehen. Die Bedingungen, unter denen sie auf die Westgebiete gekommen sind, begünstigten kaum die Adaptation an dem neuen Ort. Die Ankömmlinge vom Osten hatten manchmal lange Zeit Probleme, einen entsprechenden Ort zu finden, an dem sie sich niederlassen konnten, sie sind von Ortschaften zu Ortschaften gezogen - oder sogar mehr, manche Transporte kehrten nach Mittelpolen zurück und diejenigen, die mit ihnen gefahren sind, lehnten es entschieden ab, i m „Westen" für immer zu bleiben. In der damals herrschenden Situation hat ein Teil der Aussiedler es nicht mal geschafft, sich irgendwo niederzulassen, denn objektive Schwierigkeiten oder auch psychischer Zusammenbruch haben sie zur Rückkehr gezwungen. Wenn es manchmal zu einer gemeinsamen Ansiedlung von Bewohnern eines Dorfes oder einer zahlreichen Familie in einer Ortschaft kam, so milderte das die Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten bei dem ersten „Zusammenprall" mit der fremden Wirklichkeit. Die Aussiedler, die sich nun an einem für sie vollkommen neuen Ort aufhielten, unterhielten weiterhin Kontakte mit Angehörigen einer ihnen wohlbekannten Gemeinschaft. Gleichzeitig begünstigte eine solche gemeinsame Umsiedlung das Erhalten der Bindungen mit dem alten Dorf, das sie verlassen mussten, mit der gemeinsamen Vergangenheit der Gemeinschaft; sie verstärkte jedoch auch das Gefühl der Einstweiligkeit, begünstigte die konservative Erhaltung von wirtschaftlichen und technischen Mustern, die sich sehr oft überhaupt nicht mehr dazu eigneten, sie am neuen Ort anzuwenden und erschwerte das Zusammenleben mit anderen regionalen Gruppen, die meistens den zweiten Bestandteil des neuen Dorfes gebildet haben. Das Gefühl des langanhaltenden Andersseins basierte auf der Gemeinsamkeit der Abstammung, des Lebensschicksals, der Sprache sowie der rechtlichen Lage. Dabei fehlte es aber an deutlichen Unterschieden in Bezug auf das Hab und Gut, das die Aussiedler hatten, denn alle „wurden enterbt" und mussten ihr Leben von dem sprichwörtlichen Anfang an beginnen. Die letzten Jahre, die sie

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in ihrer Heimat verbracht haben, die Zeit der sowjetischen und deutschen Okkupation, die Terrorakte seitens der ukrainischen Nationalisten, das Leben in den Verschickungsorten in Sibirien oder anderen Grenzgebieten des Imperiums, vereinigte die Polen als eine Nationalgruppe, die von den Sowjets, den Deutschen, Litauern und Ukrainern wegen ihres polnischen Wesens gefährdet war. Das damals entstandene Gefühl der Gruppensolidarität hat diese Gemeinschaft für eine lange Zeit vereinigt. Die Bewohner der östlichen Grenzgebiete Polens waren sich bei ihrer Umsiedlung des Opfers bewusst, das sie aus national-staatlichen Gründen bringen mussten. Sie mussten auf ihr Vaterland verzichten, um dadurch die Errichtung eines in Bezug auf die nationale Struktur einheitlichen Polens zu unterstützen. Sie wussten genau, dass die neuen Gebiete dem polnischen Staat als Ersatz für die i m Osten verlorenen Territorien zuerkannt wurden, deshalb hielten sich einige von ihnen für rechtmäßige Besitzer. Dies führte natürlich zur Entstehung von Konflikten mit anderen Gruppen. Die Ankömmlinge vom Osten wurden nicht allzu herzlich von den früheren Umsiedlern aus Mittelpolen empfangen. Die Letzteren hielten sie oft für Konkurrenten (besonders in der Zeit der „Sättigung" der jeweiligen Ortschaft mit der eingewanderten Bevölkerung), mit denen sie in der Zukunft das vorgefundene Vermögen werden teilen müssen. Verhältnismäßig schnell ist es zu einer Teilung in „chadziaje zza Buga" (pejorative Bezeichnung für die Bewohner der Gebiete östlich des Flusses Bug) und „centralaki" (pejorativ für Ankömmlinge aus Mittelpolen) gekommen. Die letzte Gruppe schaute auf die Emigranten aus dem Osten herab. Was die materielle Lage dieser Menschen anbetraf, und insbesondere der Dorfbevölkerung, so war für sie eine eindeutige Unterentwicklung i m Vergleich zum Rest der Polen kennzeichnend. Dieser Sachverhalt war Folge der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung der Östlichen Grenzgebiete und einer knappen Anzahl von Industriezentren. Die Zugehörigkeit zur polnischen Nation und ihr Patriotismus hatte, dank ihrer privilegierten Position i m Osten, einen bewussten Charakter, der auch offen manifestiert wurde 4 . Die Ankömmlinge aus dem Osten, die auf die West- und Nordgebiete kamen, bildeten weder i m gesellschaftlichen noch i m kulturellen Sinne eine einheitliche Gruppe. Zwar wurde ihnen von den übrigen Bevölkerungsgruppen ein „Sam-

4

Vgl. K. Zygulski, Repatrianci na Ziemiach Zachodnich. Studium socjologiczne. (Repatrianten auf den Westgebieten Polens. Soziologisch Studie), Poznari 1962, T. Gasztold, Przesiedlency ζ Kresow Polnocno-Wschodnich I I Rzeczypospolitej na Pomorzu w latach 1945-1948 (Umsiedler aus den Nordöstlichen Grenzgebieten der Zweiten Republik Polen in Pommern in den Jahren 1945-1948), (in:) Pomorze trudna ojczyzna? (Pommern - schwierige Heimat?) op. cit.

268

Andrzej Sakson

melname" verliehen - „die, von jenseits des Flusses B u g " („zza Buga"), zwar wiesen sie viele gemeinsame gesellschaftliche und kulturelle Eigenschaften auf, doch in der Wirklichkeit bildeten sie einige gesonderte regionale Gruppen. Unter ihnen kann man prinzipiell drei Gruppen von Personen unterscheiden. Die erste bildeten die „Wilnaer" aus der Stadt Wilna selbst sowie ihrer Umgebung. Bei der ersten Zurückführung in die Heimat in den Jahren 1945-1948 versuchten die Behörden ziemlich konsequent den Grundsatz der Umsiedlung der Bevölkerung gemäß dem Verlauf der Breitengrade (Osten-Westen) anzuwenden, das heißt man wollte die Umsiedler in ähnlichen Landschafts- und Klimabedingungen unterbringen. Aus diesem Grunde auch kamen die Bewohner der nordöstlichen Grenzgebiete Polens z.B. in die Wojewodschaft Olsztyn (Alienstein). Die zweitgrößte Gruppe bildeten diejenigen, die aus Lemberg und seiner Umgebung sowie aus Wolhynien vertrieben wurden. Während sie sich in die Westgebiete begaben, gaben sie nicht die Hoffnung auf, dass sie schon bald nach der Erstickung des ukrainischen Terrors - in ihr altes Zuhause werden zurückkehren können. Es kam manchmal auch vor, dass jemand von der Familie zurückblieb, um sich um den H o f zu kümmern. Aus diesem Grunde betrachteten sie ihren Aufenthalt „ i m Westen" als eine vorläufige Situation, sie waren an Stabilisierung ihrer eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position am neuen Wohnort kaum interessiert. Sie waren auch gegenüber der ukrainischen Bevölkerung, die i m Rahmen der Aktion „ W i s l a " („Weichsel") ausgesiedelt wurde, besonders feindlich gesinnt. Die Angst vermischt mit

Feindlichkeit

wurde zur Konsequenz der tragischen Ereignisse, die mit der polnisch-ukrainischen Nachbarschaft am alten Wohnsitz verbunden waren. Vor diesem Hintergrund waren die Ankömmlinge aus den Wilnaer Gebieten und anderen nordöstlichen Wojewodschaften, die auf die ehemaligen deutschen Gebiete eingetroffen waren, nicht so desorientiert, wie die Bevölkerung, die aus den ehemaligen Wojewodschaften Stanislaus und Tarnopol gekommen war. Sie wussten nur zu gut, dass sie ihr bisheriges Zuhause für immer verlassen haben. Dazu wurden sie aber nicht von den terroristischen Banden gezwungen. Unter den Aussiedlern waren meistens Personen, die i m polnischen Staat und nicht i m sowjetischen Litauen, der Ukraine oder Weißrussland leben wollten. Die meisten Polen haben unsicheres Schicksal und unstetes Leben gewählt und verließen ihre Heimat, um sich in Polen niederzulassen. Die dritte Gruppe bildeten die „Sibiraken". Dazu gehörten Polen aus verschiedenen Regionen der Östlichen Grenzgebiete Polens, die sich infolge der aufeinanderfolgenden sowjetischen „Verschickungen" in Sibirien oder verschiedenen anderen weit entfernten Regionen der Sowjetunion niederlassen mussten. Für diese Gruppe der Grenzbevölkerung bedeutete die Ankunft in Polen (ganz gleich, in welchen Grenzen das Land wiedergeboren werden würde)

eine

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

269

Chance, das Leben zu retten. Die Ankunft in das Vaterland betrachteten sie als Erlösung und freuten sich, dass es ihnen gelungen ist, die „sowjetische H ö l l e " zu verlassen. Die meisten Ankömmlinge aus den östlichen Grenzgebieten fühlten sich verletzt oder waren sogar darüber aufgebracht, dass man sie als Ankömmlinge „zza Buga" („die von jenseits des Flusses Bug") oder „Ruskie" („Russische") bezeichnete. Es war für sie auch ein sehr schmerzhaftes Gefühl, umso mehr, weil es die Rechtskraft ihrer nationalen Verifizierung in Frage stellte und ihnen die Identität mit den Nationalitäten zuschrieb, die direkte Gefährdung des Polentums auf den östlichen Grenzgebieten bedeutete. Dies wurde auch mit der Tatsache in Verbindung gebracht, dass die offizielle Propaganda die Östlichen Grenzgebiete ihrer Rechte, jemals die ideologische Heimat zu sein, beraubte. Besonders deprimierend für die Leute war dies, dass in ihre Personalausweise „geboren in ... der Sowjetunion" eingetragen wurde. Eine andere für die unmittelbare Nachkriegszeit kennzeichnende Erscheinung war das andersartige Verhältnis der ehemaligen Bewohner der östlichen Grenzgebiete gegenüber den Deutschen, die ausgesiedelt werden sollten und der einheimischen Bevölkerung, der immer wieder Unrecht getan wurde. Bei den Ausgesiedelten und in dem von der einheimischen Bevölkerung erlittenen Leid bemerkten sie eine Widerspiegelung ihrer eigenen Tragödien; Tragödien, die durch Vertreibungen und Aussiedlungen verursacht wurden. Die i m Osten gesammelten Erfahrungen, Erlebnisse während der Reise sowie Empfindungen, die ihnen nach den Kontakten mit der neuen Wirklichkeit geblieben sind, haben dazu geführt, dass die Ankömmlinge vom Osten den Deutschen meistens mit M i t l e i d begegneten. Dieses M i t l e i d kann man auch größtenteils mit der Besonderheit des Lebens und der Gesinnung der Menschen aus den Östlichen Grenzgebieten Polens erklären. Denn eben die „Sowjets" und „Russen", und nicht die Deutschen, waren für sie der Hauptfeind. Dies führte zur Entstehung einer ganz anderen Perspektive, als die, die sich bei dem Rest der Polen, die die Deutschen für den Hauptfeind hielten, entwickelt hat. Diese Verschiedenheit bei den Perspektiven wurde zu einem der Gründe für das Misstrauen, mit dem die Verwaltung des kommunistischen Polens die „Repatrianten" behandelt hatte. Sie waren auch mit der These über den gerechten Abschluss des Zweiten Weltkrieges nicht einverstanden. In ihrer Erinnerung gehörten beide Daten: der 1. und der 17. September 1939 zu derselben Erfahrung und sogar die weniger intelligenten waren sich dessen bewusst, dass nicht ausschließlich die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verursacht haben. Die Vertriebenen, nachdem sie die Kontakte zu dem früheren geographischen, ökonomischen und kulturellen M i l i e u abgebrochen hatten, standen nun vor der Notwendigkeit, sich an das vorgefundene neue geographisch-kulturelle M i l i e u schnell zu gewöhnen.

270

Andrzej Sakson

Dieser Prozess wurde zum wichtigen Element der allgemeinen Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten. Unter dem Begriff „Akkulturation" verstand man den Prozess der Veränderungen, die durch den interkulturellen Austausch oder den Durchgang der Inhalte verursacht wurde. Diese Umwandlungen beruhen auf der Adaptation fremder Inhalte für eigene Kultur, auf Eliminierung mancher heimischen Inhalte, auf Modifizierung (Restrukturisierung) von Elementen der übriggebliebenen Werte sowie auf Bildung neuer Werte und Verhaltensmuster. Das von den Verwaltungsbehörden verfolgte Hauptziel war das Schaffen in möglichst kurzer Zeit geschlossener und integrierter lokaler und regionaler Gemeinschaften. Es stellte sich heraus, dass diese Bestrebungen wenig realistisch waren, denn sie stießen auf eine ganze Reihe von Barrieren und Einschränkungen sowohl objektiver als auch subjektiver Natur. Der Prozess der Adaptation auf den West- und Nordgebieten verlief in zwei Richtungen: der Anpassung an das vorgefundene geographisch-biologische M i lieu (als der wirtschaftlichen Grundlage) sowie an die kulturelle Grundlage (die als eine ganze Gruppe von vorgefundenen materiellen Bedingtheiten: ein konkretes Zuhause, konkretes Dorf, konkrete Infrastruktur in der näheren und weiteren Umgebung, verstanden wurde), die durch eine andere nationale Gruppe i m Rahmen einer anderen fremdartigen Tradition und Zivilisation geschaffen wurde. Die Anpassung an das neue geographische M i l i e u vollzog sich in der ersten Phase der Ansiedlung, für die es charakteristisch war, dass die Ansiedler, die sich an die neuen veränderten Lebens- und Wirtschaftsbedingungen gewöhnen mussten, zugleich auch den Versuch unternahmen, das Wohn- und kulturelle Milieu, in dem sie früher gelebt hatten, nun wiederherzustellen, sie strebten also danach, ihrem neuen M i l i e u bestimmte heimische Eigenschaften zu verleihen. Hier soll noch betont werden, dass die Ansiedler auf zahlreiche Schwierigkeiten bei der Anpassung an das neue M i l i e u stießen. Diese Probleme ergaben sich aus den Differenzen zwischen den Lebensbedingungen an ihrem früheren und an dem neuen Wohnort; sie waren durch unterschiedliche Typen und Formen der Wirtschaft bedingt, durch unterschiedliche Bodenverhältnisse, bei denen ganz andere agrotechnische Arbeiten durchgeführt werden mussten sowie auch durch den Zivilisationsstandard (andere Straßen, andere Bauweise, unterschiedliche architektonische Lösungen bei dem Inneren der Gebäude sowie ihrer Ausstattung). A u f dieser Etappe der Anpassung an neue Lebensbedingungen wirkten - sehr oft ohne jegliche Reflexionen - zwei Arten der Behandlung des vorgefundenen materiellen Milieus. Die erste hatte „zerstörerischen" Charakter - man beseitigte manche Elemente der Güter, die ihre früheren Besitzer zurückgelassen haben (man kann hier noch erwähnen, dass diese Devastationsaktivitäten sehr oft viel weiter als nur innerhalb des neuen Hauses oder Bauernhofes reichten); die zweite Art des Verhaltens dieser Personen kann man als „Erhaltungsbehandlung" der vorgefundenen Bedingungen betrachten - es kam sehr oft zur Übernahme von manchen Elementen der Kultur, die noch von den früheren

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

271

Bewohnern dieser Gebiete entwickelt worden war, und zur Anpassung an diese „Neuheiten". Diese Erscheinungen sind besonders auf dem Gebiet der materiellen Kultur deutlich geworden. Neben der Anpassung in wirtschaftlicher Hinsicht hat sich auch ein bedeutend längerer Prozess vollzogen, der Prozess der psychischen Adaptation an das fremdartige geographische und kulturelle Milieu, ein Prozess, den man als Prozess der Zähmung der fremden kulturellen Landschaft bezeichnen kann. Ein spezifisches Anzeichen für die Prozesse der „Zähmung" der kulturellen Landschaft ist das Einbeziehen und die Behandlung dessen, was ihnen in kultureller Hinsicht fremd war, als des (im genetischen Sinne) „eigenen Gutes". Der Prozess der Einbeziehung war ein komplizierter, langwieriger Prozess, mit veränderlichen Akzeptations- und Negationsamplituden. Der Prozess der Aneignung der fremden Landschaft wurde auch zur demonstrativen Ablehnung des vorgefundenen kulturellen Erbes. Diesen beiden Prozessen schenkte man nur dann Interesse, wenn sie sehr extreme Formen annahmen (z.B. Devastationen), oder wenn man mit ihrer Hilfe manche politischen Manipulationen, die geltende Doktrinen bestätigt hätten (z.B. das Nachweisen des polnischen Charakters dieser Gebiete als Antwort auf den deutschen Revisionismus usw.), durchführen konnte. In den dörflichen M i lieus hatten diese Probleme, auch wenn es einen anderen Anschein machte, eine sehr lange Zeit große Bedeutung für die Bewohner der kleinen Ortschaften gehabt und machten sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar: a) auf der konfessionellen Ebene (das Problem der sakralen und Kultbauten oder der Friedhöfe, auf denen die ersten Ansiedler haben nicht begraben werden wollen usw.), b) auf der Eigentumsebene und auch c) auf der politischen Ebene. Besondere Eigentumsprobleme und die politische Atmosphäre der Nachkriegszeit (in den dörflichen Milieus waren sie besonders wichtig und sehr stark miteinander verbunden) wirkten sich auf eine ganz besondere Art und Weise auf die Aneignung der fremdartigen kulturellen Landschaft und auf die Gestaltung einer neuen Landschaft aus, was auch dazu führte, dass „ein neues Gesicht" i m materiellen Sinne gebildet wurde und neue Stellungen und Lebenspläne entwickelt wurden. Die ständige Unsicherheit, ob diese Gebiete für immer bei Polen bleiben werden, die Einstweiligkeit der Zuerkennung der Bauernhöfe, die Hoffnung auf baldige Rückkehr in ihre Heimatdörfer - auch wenn sie für die Aussiedler aus den Östlichen Grenzgebieten Polens nur zu Träumen gehörte - all das bildete eine gewisse Reserve gegenüber dem fremden Gebiet, auf dem sie sich erst vor kurzem niedergelassen haben. Der Prozess der Inbesitznahme der ehemaligen deutschen Gebiete von Polen wurde i m Laufe einiger Jahre zur endgültigen Tatsache. Doch i m psychologischen Sinne dauerte dieser Prozess unvergleichlich länger an. Trotz offizieller Deklarationen hielt sehr lange das Gefühl des Mangels an Stabilisation an. Erst nach 1970 kam es dazu, dass die Vision der

272

Andrzej Sakson

Fremdartigkeit und des die Landschaft durchdringenden deutschen Wesens auf die Vorstellungskraft ganzer Gemeinschaften zu wirken aufhörte 5 . Die allgemeine Atmosphäre der „Einstweiligkeit" (und „Vorläufigkeit"), die in der ersten Nachkriegsperiode herrschte, konnte die Prozesse die gesellschaftlichen Stabilisierung kaum begünstigen. Erst i m August 1945 wurde die nördliche Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion endgültig festgelegt, bis 1946 gab es noch keine Masuren-Wojewodschaft (Allenstein), sondern nur einen Bezirk, die heimische Bevölkerung erhielt nur „vorläufige" Bescheinigungen über die Zugehörigkeit zur polnischen Nation, und die Ansiedler eine „vorläufige" Bestätigung ihrer Eigentumsrechte zu Bauerngütern und Gebäuden. Die ersten notariellen Urkunden gab es erst ab 1955, und ein vollständiger Ausgleich der Eigentumsrechte der hiesigen Bevölkerung mit denen der Bewohner anderer Regionen des Landes erfolgte erst i m Jahre 1957. Einen wesentlichen Faktor bildeten hier die Erscheinungen des „kalten Krieges", denn in jener Zeit wurde die Beständigkeit der polnischen Grenzen i m Westen und Norden des Landes von vielen Seiten in Frage gestellt. Ein anderes Symptom jener Zeiten waren zahlreiche Voreingenommenheiten und Stereotypen sowie negative Bezeichnungen, die einzelne Gruppen füreinander erfunden haben 6 . Trotz dieser negativen Faktoren kam es auch in diesen Zeiten zum Überwinden der Antagonismen und Voreingenommenheiten, und was damit verbunden ist - zum Schaffen von Voraussetzungen für Gestaltung von neuen gesellschaftlichen Bindungen. Gemeinsame Arbeit, gemeinsames Streben nach Regelung des Zusammenlebens, gleiches oder ähnliches Verhältnis zu allgemein bekannten Institutionen, wie Schule oder Kirche, gemeinsame Realisierung der mit der Beseitigung der Kriegszerstörungen

verbundenen Aufgaben

-

bildeten

die

Grundlagen für die Annäherung zwischen den Menschen. Es kam zum allmählichen Schwund der regionalbedingten Unterschiede innerhalb der jungen Generation, und die Anzahl der Mischehen wuchs andauernd. I m Laufe der Zeit änderten sich auch die Faktoren, die den Sinn für Stabilisierung und die Gestaltung dieser gesellschaftlichen Bindungen in Ermland und Masuren beeinflussten. Diese Prozesse verliefen mit unterschiedlicher Dynamik und Intensität auf folgenden Ebenen: 1. A u f der kulturell-sprachlichen Ebene - dies beruhte auf Übernahme und Akzeptanz bestimmter in ganz Polen geltender Muster sowie der polnischen 5

A. Brencz, Oswajanie niemieckiego dziedzictwa kulturowego. Ζ badan etnologicznych na Srodkowym Nadodrzu (Zähmung des deutschen Kulturerbes. Von den ethnologischen Nachforschungen in den mittleren Odergebieten), (in:) Wokol niemieckiego dziedzictwa kulturowego na Ziemiach Zachodnich i Polnocnych (Rings um das deutsche Kulturerbe auf den West- und Nordgebieten). Hrsg. von Z. Mazur, Poznan 1997, S. 195-196. 6 Vgl. A. Sakson, Mazurzy - spolecznosc pogranicza (Masuren - Gemeinschaft der Grenzgebiete), Poznad 1990.

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

273

Sprache von den Bewohnern von Pommern; dieser natürliche gesellschaftliche Prozess wird hauptsächlich von Schulen, Bildungsinstitutionen, Rundfunk, Fernsehen und anderen Massenmedien, der Kirche und ihren Institutionen sowie durch nachbarliche, Berufs- und Generationenbindungen realisiert. 2. A u f der strukturellen und Institutionsebene, d.h. auf dem Gebiet der Bildung gemeinsamer Ursprungsgruppen, wie z.B. der Interessen- und Einflussgruppen oder auch gesellschaftlicher und politischer Organisationen, weiter auf dem Gebiet der gemeinsamen Erfüllung verschiedener gesellschaftlicher und Berufsrollen, die für eine globale Gesellschaft charakteristisch sind; 3. A u f der „Eheebene", was seinen Ausdruck in zahlreichen Eheschließungen unter Vertretern verschiedener Gruppen sowie in der Erziehung der Kinder i m neuen, „gemeinsamen" Geiste seinen Ausdruck fand; 4. A u f der Persönlichkeitsebene, was auf Beseitigung gegenseitiger in den einzelnen Gruppen funktionierender Voreingenommenheiten und Stereotypen sowie auf Mangel an Gefühl für Zweitrangigkeit in der Gesellschaft beruhte; 5. A u f der identifikations-bürgerlichen Ebene, was seinen Ausdruck darin fand, dass man Verantwortung für den Staat, in dem man lebt, tragen wollte 7 . Eine ganz besondere Bedeutung für den Verlauf der gesellschaftlichen Prozesse auf den West- und Nordgebieten Polens hatten die Umwandlungen, zu denen es in Mittelosteuropa gekommen ist sowie der große gesellschaftliche Wandel, der sich nach 1989 in Polen zu vollziehen begann. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier folgende Erscheinungen: 1. Der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands sowie endgültige Anerkennung von unserem westlichen Nachbarn des festen Charakters der Oderund Neißegrenze hat nach der Periode des Anwachsens der Furcht vor der deutschen Gefährdung in den Jahren 1989-1991 den Prozess der gesellschaftlichen Stabilisation auf diesen Gebieten positiv beeinflusst 8 . Die Bewohner der West- und Nordgebiete werden jetzt als ihre rechtmäßigen Herren gegenüber den deutschen Bewohnern dieser Gebiete betrachtet. Intensiviert wurden auch verschiedene Bauinvestitionen. Die neue Generation behandelt diese Gebiete als ihre „kleine Heimat". 7 Vgl. A. Sakson, Socjologiczne problemy tozsamosci regionalnej wspolczesnych mieszkancow byfych Prus Wschodnich. Proba porownania. (Soziologische Probleme der regionalen Identität der gegenwärtigen Bewohner des ehemaligen Ostpreußens. Versuch eines Vergleichs), (in:) „Komunikaty Mazursko-Warmmskie" („Masurischermländische Berichte"), 1996, Nr. 2, S. 225-246. 8 Vgl. A. Sakson, Die Einstellung polnischer Grenzbewohner zur Einheit Deutschland, „Deutschland Archiv", 1991, Nr. 8, S. 822-830.

18 FS Hablitzel

Andrzej Sakson

274

2. Die polnisch-deutschen Grenzgebiete, die einen großen Teil der West- und Ostgebiete Polens bilden (von Swinoujscie [Swinemünde] bis Walbrzych [Waldenburg]) verwandeln sich allmählich von vernachlässigten Randgebieten in Gebiete, die sich sehr intensiv entwickeln. Dazu tragen weitgehend die hohen vom Grenzhandel mit den Deutschen kommenden Einkommen (Basarhandel, der sich allmählich in moderne Handels- oder Dienstleistungsunternehmen verwandelt) sowie die Tatsache, dass diese Gebiete an das Territorium der Europäischen Union grenzen, das sich innerhalb der Grenzen der ehemaligen D D R seit bestimmter Zeit durch Zugang von großem Kapital- und Investitionswachstum kennzeichnet. 3. Der Zerfall der Sowjetunion hat unter anderem zum vollständigen Rückzug der sowjetischen Truppen, deren meisten Kräfte in den West- und Nordgebieten stationiert waren, geführt. Die Beseitigung der zahlreichen militärischen Stützpunkte sowie der Stäbe, u.a. in Swinoujscie (Swinemünde) oder Legnica (Liegnitz), hat zum Anwachsen der gesellschaftlichen Stabilisation und zum Verschwinden der Feuerstellen der zahlreichen

pathologischen

Erscheinungen geführt. 4. Der demokratische Umbruch, der sich in Polen vollzogen hat, hat es auch der Gemeinschaft der polnischen Vertriebenen aus Wilna, Wolhynien, Podolien und Lemberg ermöglicht, eigene Organisationen zu gründen, ihre eigenen Interessen zu artikulieren sowie die Traditionen ihrer verlorenen matländer

Hei-

frei zu pflegen. Dies beeinflusste weitgehend die Stellungen der

älteren Leute, die von jenseits des Flusses Bug stammten, was es ihnen auch paradoxal bewusst machte, dass der jetzige Verlauf der östlichen Grenzen endgültig ist und dass es unmöglich ist, in ihre früheren Wohnorte zurückzukehren. I m Endeffekt war dies der entscheidende Faktor dafür, dass sie auf den West- und Ostgebieten Polens endgültig geblieben sind 9 . Wenn man die über fünfzig Jahre dauernde Entwicklung der gesellschaftlichen Prozesse auf den West- und Nordgebieten Polens von der gegenwärtigen Perspektive aus betrachtet, kann man sie in zwei Phasen teilen. Die erste Phase der Gestaltung der gesellschaftlichen Bindungen kennzeichnete sich in der Anfangsphase durch Einstweiligkeit und Stabilisationsmangel. Diese Periode dauerte bis Mitte der sechziger Jahre an. In jener Zeit begannen allmählich die Integrationsprozesse, die zur Vereinheitlichung verschiedenartiger Muster für Vereinigung der aus mehreren Gruppen bestehenden Gemeinschaft geführt ha9

Vgl. A. Sakson, Przemiany wi^zi lokalnej i regionalnej mieszkancow wsi lubuskiej (Veränderungen der lokalen und regionalen Bindung der Bewohner der Dörfer in den Lebuser Gebieten), (in:) Spolecznosc Ziemi Lubuskiej. Studia i materialy ζ badaÄ socjologicznych. (Die Gesellschaft der Lebuser Gebiete. Studien und Materialien von soziologischen Nachforschungen). Hrsg. von J. Leonski. Opole 1993, S. 45-57; A. Sakson, Stosunki narodowosciowe na Warmii i Mazurach 1945-1997 (Nationalitätenbeziehungen in Ermland und Masuren 1945-1997, Poznan 1997.

Polnische Akkulturationspolitik in den neuen Westgebieten

275

ben, an Bedeutung zu gewinnen. Die zweite Periode, die i m Prinzip ohne Pause bis heute noch dauert, kennzeichnet sich durch Vertiefung der gesellschaftlichen Bindungen sowie durch Anpassung der gemeinsamen Muster, die die früheren, innerhalb der einzelnen Gruppen bestehenden Bindungen, verdrängt haben. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt die immer noch wachsende Zahl der Personen, die in den Westgebieten geboren wurden und für die die Antagonismen und Voreingenommenheiten ihrer Eltern und Großeltern etwas Weitentferntes und oft ganz Unverständliches ist. Viele Jahrzehnte mussten vergehen, viele neue Generationen mussten geboren werden und die internationale Situation musste sich stabilisieren (u. a. Anerkennung der polnischen Westgrenze von dem vereinigten Deutschland), bevor die polnischen Vertriebenen ihr Schicksal hingenommen haben und ihre Nachkommen in den Westlichen Grenzgebieten Polens ihre neue Heimat gefunden haben.

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung von Johann Caspar Zeuss „Grammatica Celtica" (1853) und Rudolf Thurneysen „Handbuch des Altirischen" (1909) Von Karl Horst Schmidt Unter den Arbeiten zur keltischen Philologie und Sprachwissenschaft nehmen die beiden i m Titel genannten Werke eine herausragende Position ein: „ A u prix de peines considerables et de nombreux voyages, Zeuss parvint ä se procurer des copies des plus anciens documents irlandais et gallois alors inedits" (Tourneur 1905, S. 209 f.). Thurneysen I (1909), S. 13 nennt die „Grammatica Celtica" „das grundlegende Werk, in dem zuerst die älteste erreichbare Gestalt aller keltischen Sprachen wissenschaftlich dargestellt wurde. Durchgehend verbessert und ergänzt in der Editio altera, curavit H. Ebel, 1871. Noch jetzt die reichste Materialsammlung" 1 . Die Materialbasis von O'Donovans „Grammar of the Irish language" (1845), ein Werk, das die „Grammatica Celtica" an Alter übertrifft, ist auf Irland beschränkt: „the extracts are selected chiefly from such manuscripts as are accessible to the author in D u b l i n " (O'Donovan, S. 436); von den klassischen altirischen (air.) Quellen findet daher lediglich das „Buch von Armagh" (9. Jh.) bei O'Donovan Berücksichtigung (S. 436 ff.) 2 . In Bezug auf Quellen und Gewicht eher mit der „Grammatica Celtica" vergleichbar ist Thurneysens „Handbuch" (1909), das von der Fachwelt gewertet wird als „the Standard modern work

on Old Irish grammar"



Luing,

S. 263 f.), „translated into English, with the author's revisions, by D. A . Binchy and Osborn Bergin, Dublin 1946" (O Luing, S. 264, Fußnote 27) 3 . 1 Vgl. auch bei Thurneysen I, 1909, S. 13 die Indices zu der Editio altera, angefertigt von Güterbock/Thurney sen (1881), Hogan (1892) und Tourneur (1907). 2 In der Einleitung zu seiner „Grammar" behandelt O'Donovan (1806-1861), S. L I V - L X I V auch „the principal writers of Irish Grammar", darunter auf S. L V I Edward Lhuyd (ca. 1660-1709), Keeper des Ashmolean Museums in Oxford und Autor der „Archaeologia Britannica" (1707), „who justified the use of the term, the Celtic languages, and who placed their study on a sane and rational basis" (Roberts, S. 8). 3 Bisher unveröffentlicht geblieben ist das Manuskript (MS) von Michael Duignans „draft English translation, the typescript of which was subsequently revised by Thurn-

eysen"

(Binchy /В ergin,

in: Thurneysen

1946, S. V ) . W i e m i r G. S. Mac

Eoin

(Gal-

way) mitteilt, hatte Duignan in seine Übersetzung den Titel der deutschen Vorlage als Handbook

(anstelle v o n Grammar

i n Thurneysen

1946) aufgenommen.

Karl Horst Schmidt

278

Den folgenden, Hans Hablitzel, dem profundem Kenner von Joh. Casp. Zeuss 4 , gewidmeten Beitrag beschränke ich auf die „ i n ungefähr gleichzeitigen Handschriften überlieferten" (Thurneysen I, 1909, S. 4) Denkmäler des Altirischen (Air.). Aufbau der Studie: 1. Zur Begrenzung des Aufsatzes auf das Air. 2. Zur Gliederung des Keltischen (Kelt.): Zeuss vs. Thurneysen vs. gegenwärtiger Stand der Diskussion. 3. Zur Gliederung des älteren Irischen: Zeuss vs. Thurneysen vs. gegenwärtiger Stand der Diskussion. 4. Zur Anordnung der air. Handschriften (HSS): Zeuss vs. Thurneysen. 5. Zur wissenschaftlichen Basis der Autoren: Zeuss vs. Thurneysen.

I. Zur Begrenzung des Aufsatzes auf das Air. a) W i e bereits der Titel anzeigt, ist Thurneysens „Handbuch" auf das Air. begrenzt, d.h. auf die Sprachdenkmäler des 8. und 9. Jh., die i m „Thesaurus Palaeohibernicus" (= Thes.) zusammengestellt sind und für den indogermanischen (idg.) Sprachvergleich als besonders aussagekräftig gelten. Für die Anlage des Werkes von Bedeutung sind demzufolge zwei von Thurneysen I (1909) gegebene Hinweise: 1. „So hab ich mich denn i m Wesentlichen auf die Sprache der altirischen Handschriften beschränkt" (S. V I I I ) ; 2. „daß ich solchen, die vom Studium anderer indogermanischer Sprachen her an das des Irischen heranträten, die verbindenden Fäden bloßlegte" (S. V I I ) . Hinweis Nr. 2 impliziert auch die Berücksichtigung anderer keltischer (kelt.) Sprachen, d.h. des Britannischen (Brit.) und Gallischen (Gall.) 5 . b) Obwohl die „Grammatica Celtica" alle seinerzeit bekannten kelt. Sprachen erfaßt, nimmt das Air. darin doch eine besondere Position ein. Das geht bereits aus dem unterschiedlichen Umfang der Beschreibung der HSS hervor: Codices 4

Vgl. Hablitzel (1987), (1989), (1998), (2003). Der Wortindex in Thurneysen I, 1909, S. 530-582 erfaßt undifferenziert das „Verzeichnis der keltischen Wörter". Demgegenüber stellt die Differenzierung nach kelt. (S. 578-664) und nichtkelt. Einzelsprachen (S. 664-672) bei Thurneysen 1946 eine deutliche Verbesserung dar. Die Glossare in Thurneysen II, 1909, S. 59-97 und Thurneysen 1949, S. 58-108 sind auf die air. Übungsstücke beschränkt. Zeuss 1853 ist ausgestattet mit „Indices rerum, vocabulorum, nominum illustratorum" (S. 11451161), die auf die kelt. Einzelsprachen bezogen sind: 1. Index hibernicus (S. 11451149), 2. Index cambricus (S. 1150-1154), 3. Index cornicus et armoricus (S. 1154— 1157), 4. Index gallicus (S. 1157-1161). Eine stärkere Differenzierung der Indices findet sich bei Zeuss/Ebel, S. 1100-1115: A. Index rerum (S. 1100-1101), B. Index nominum et vocabulorum (S. 1101-1115): 1. Hibernicorum, 2. Cambricorum, 3. Cornicorum, 4. Aremoricorum, 5. Gallicorum (et britannicorum veterum). 5

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung

279

hibernici

(Zeuss 1853, S. X I I I - X X X V I I , Zeuss/Ebel, S. X I - X X V I ) ,

britannici

(Zeuss 1853, S. X X X V I I - X L I X , Zeuss/Ebel, S. X X V I - X X X I I I ) .

Codices

c) Die Bedeutung der air. Glossen für die „Grammatica Celtica" w i r d auch von Shaw (1956), S. 13 betont: „Zeuss was not concerned to demonstrate that either Irish or any other Celtic dialect was Indo-European; he considered that unnecessary and accepts it as evident in the first paragraph o f his work. Instead, he presents a grammar o f early Irish based exclusively on the material found by h i m in the early Irish glosses; codices nostri

is a recurrent phrase to

describe his sources . . . He does not refer to and does not seem to draw anything from the w r i t i n g o f Celtic matters o f Prichard, Pictet or Bopp. He had all that he wanted in his early Irish glosses". d) W i e eingangs bemerkt, nahm Zeuss die Autopsie der ältesten irischen und kymrischen Handschriften (HSS) vor. „ M ü h s a m und entbehrungsreich muß es gewesen sein, w i e Zeuß die Materialien zusammentrug. Ohne jegliche technische Hilfsmittel hatte er die in den Bibliotheken von Würzburg, St. Gallen, Karlsruhe, Mailand, London und Oxford vorhandenen altirischen und altcymrischen Glossen handschriftlich abzuschreiben" (Hablitzel 1987, S. 333). Pedersen I, S. 6 nennt als „Hauptquellen unserer Kenntnis des Altirischen" „drei umfangreiche Handschriften in Würzburg (die Paulinischen Briefe), M a i land (ein Commentar zu den Psalmen), Sangallen (Priscian), w o r i n der lateinische Text durch zahlreiche irische Glossen, Sätze oder längere Erörterungen erläutert w i r d . " I m Gegensatz dazu bestehen die ältesten britannischen Glossen „fast ausschließlich aus isolierten Wörtern" (Pedersen I, S. 13) 6 .

II. Zur Gliederung des Keltischen: Zeuss vs. Thurneysen vs. gegenwärtiger Stand der Diskussion a) Der Unterschied i n der Gliederung der kelt. Sprachen bei Zeuss 7 und Thurneysen besteht darin, daß die Definition von Zeuss eine historische K o m ponente impliziert, während Thurneysen sich m i t der geographischen Differenzierung der kelt. Sprachen begnügt: „Duae sunt igitur varietates celticae linguae 6 Zu den altkymrischen Texten vgl. u.a. Zeuss/Ebel, S. X X V I - X X I X , Pedersen I, S. 13, Jackson, S. 42-59 und letztlich Falileev (2000), idem (2002), S. 13 ff. Huxvs, S. 5 ff. erwähnt u.a. „The gospel-book of St. Chad " (8. Jh.), ferner „a manuscript of Juvencus", das „the earliest recording of poetry in Welsh, the Juvencus englynion'" (9./10. Jh.), enthält (S. 9), „Liber Commonei (The Book of Commoneus), written in 817 χ 835" als „the earliest datable Welsh book" (S. 7) und „The Computus Fragment" (10. Jh.), das charakterisiert wird als „the earliest example of a treatise in Welsh" (S. 9). 7 Im folgenden zitiere ich grundsätzlich nach Zeuss/Ebel, ohne auf die geringfügigen Abweichungen im lateinischen Text bei Zeuss (1853) besonders hinzuweisen: e.g. Zeuss/Ebel: igitur vs. Zeuss 1853: itaque, aremorica vs. armorica, quae britannica vs.

cum

britannica.

Karl Horst Schmidt

280 praecipuae. Est una hibernica

... Altera est britannica

lingua, cui proximam

gallicam priscam fuisse demonstratum est" (Zeuss/Ebel, S. V I I I ) . „Gallicam autem linguam priscam, quae ..., si non fuit eadem quae britannica, huic tarnen viciniorem fuisse quam hibernicae" (Zeuss/Ebel, S. V I ) vs. „ D i e keltischen Sprachen gehören zur indogermanischen Sprachfamilie. Sie trennen sich geographisch in zwei größere Abteilungen, Inselkeltisch I. Inselkeltisch

und Festländisch-Keltisch:

umfaßt die Sprachen, die auf den Großbritannischen Inseln ge-

sprochen werden oder von dort ausgegangen sind" (Thurneysen I, 1909, S. 1). „ I I . Festländisch-Keltisch,

oft kurzweg gallisch genannt, die Sprachen der kelti-

schen Stämme in beiden Gallien, auf der Pyrenäischen Halbinsel, im mittleren Europa bis zum Schwarzen Meer hin, endlich in Galatien in Kleinasien seit der Ansiedlung der keltischen Galater" (Thurneysen I, 1909, S. 3) 8 . b) Zur Stützung seines Ansatzes ist Zeuss (1853), S. V - V I I I = Zeuss/Ebel, S. V I f. bemüht, die engere Verwandtschaft zwischen Gallisch und Britannisch durch Übereinstimmungen, an denen das Irische nicht teilhat, zu beweisen. A l lerdings sind die konkreten Beweisstücke (vgl. Zeuss/Ebel, S. V I ) , dem Stand der Forschung von 1853 entsprechend, heute z.T. überholt. So haben z.B. in dem i/y von kymrisch (ky.) llydan ,weit, breit 4 , gall, litano-

die brit. und gall.

Wörter den alten kelt. Lautstand bewahrt (mit sekundärer Weiterentwicklung i m Ky.), während die air. Entsprechung lethan als Innovation die kontextbedingte, lautgesetzliche Senkung des i zu e zeigt (vgl. Thurneysen 1946, S. 46). Das Prinzip von Leskien 1876, S. X I I I „ D i e Kriterien einer engeren Gemeinschaft können nur in positiven Uebereinstimmungen der betreffenden Sprachen, die zugleich Abweichungen von den übrigen sind, gefunden werden" läßt andererseits das von Zeuss bereits erkannte Verhältnis von gallo-brit. *p zu goidelisch (goidel. = irisch) *k als Beweisstück zu, da als Rekonstrukt das in den ältesten uririschen Ogom-Inschriften, i m Keltiberischen (Kib.) und i m archaischen Gall, noch erhaltene *ku < idg.

und *ku anzusetzen ist und der Übergang von *ku

zu ρ demnach als gemeinsame gallo-brit. Neuerung i m Sinne Leskiens gewertet werden muß. c) Konfrontiert man die Modelle von Zeuss und Thurneysen mit dem heutigen Stand der Forschung, so ist zunächst auf die Vermehrung der festlandkelt. Sprachen durch das Keltiberische

(Kib.) und Lepontische

(Lep.) hinzuweisen:

Die kelt. Sprachdenkmäler auf der Iberischen Halbinsel sind durch Münzen, onomastische Belege, vor allen Dingen aber durch Inschriften (ISS) in iberischer und lat. Schrift bezeugt. Für die durch konservative Merkmale charakterisierte Sprache des kib. Inschriftenkorpus 9 , das sich befindet „ i n what is thought 8 Anstelle von „Festländisch-Keltisch" bedient sich Weisgerber 1931 des Terminus „Festlandkeltisch", der sich inzwischen auch im Englischen als „Continental Celtic" durchgesetzt hat (vgl. Evans 1983, S. 21). 9 Vgl. Evans (1993); Villar (1997), S. 898-949; Untermann (1997), S. 374-722; Cölera (1998); Schmidt (1999) u.a.

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung

281

to be a kind of Celtic heartland in central Spain, especially along the upper and middle reaches of the rivers Douro and Tagus" (Evans 1993, S. 576), hat sich der von Tovar 1946 vorgeschlagene Name keltiberisch

(vgl. de Hoz

1988,

S. 191) durchgesetzt, während die übrigen kelt. Sprachreste der Halbinsel auch hispanokeltisch

genannt werden 1 0 .

d) Unter Lep. versteht man „les documents epigraphiques

indigenes

de la

Cisalpine du Nord-Ouest, anterieurs ä la romanisation, ou (pour les plus recents) contemporains de la romanisation commensante" 1 1 . „ N e w inscriptions date to before the period of the presumed Celtic invasion about 400 ВС. One of them is found on a stone from Prestino near Como, which is to be dated to about 500 В С " (Frey 1996, S. 75). „The archaeological discoveries of the period around the lake region of Lombardy we consider to be part of the so called Golasecca culture" (Frey 1996, S. 77). Die Epigraphik dieser Kultur geht zurück ins 6./5. Jh. v. Chr. Der von Colonna 1986 entdeckte Becher von Castelletto

Ticino mit dem Graffito xosioiso aus dem 6. Jh. (mit -oiso < *-osio)

gilt beim heutigen Stand der Forschung als ältester kelt. T e x t 1 2 . e) A u f der Basis der gegenwärtig identifizierten fünf kelt. Sprachen bzw. Sprachgruppen - Goidel., Brit., Gall., Kib., Lep. - werden zwei Theorien diskutiert: (1) Die an Zeuss anschließende und auch von Vf. vertretene Aus g lie de rung stheorie mit dem Gallo-Brit. als Zentralkelt. gliederten Marginalsprachen.

vs. Goidel., Kib., Lep. als ausge-

Letztere sind durch eine Reihe archaischer Merk-

male charakterisiert, darunter die Bewahrung von *ku i m Kib., Goidel. und in archaischen gall. Sprachresten (s. oben: b), während die Übereinstimmungen zwischen Goidel. und Brit. „entweder auf protokelt. Erbe aus der Zeit vor dem Abzug der Goidelen beruhen oder gemeinsame Innovationen der Anwohner der Irish Sea Zone ... reflektieren" (Schmidt 1988, S. 9 ) 1 3 . (2) Die Abbildtheorie,

die die inselkelt. Sprachen Goidel. und Brit. als vorhis-

torische Einheit den festlandkelt. Sprachen gegenüberstellt, mithin die sprachgeographische Verteilung (vgl. Thurneysen I, 1909, S. 1-4) als Abbild historischer Entwicklung interpretiert 1 4 . 10

Zur Geschichte des erstmalig von Evans (1979), S. 117 verwandten Terminus

Hispano-Celtic

vgl. de Hoz (1988), Schmidt

(2001a), S. 599, De Bernardo

Stempel

(2002), S. 92 f. 11 Lejeune (1971), S. 2, dazu: Schmidt (1974); vgl. letztlich Uhlich (1999). 12 Vgl. Mona (1992), S. 312 f., Schmidt (1995), S. 252 f. 13 Zu den konvergenten Entwicklungen von Uririsch und Spätbritannisch vgl. auch Schmidt (1989). 14 Zu der von Vf. in einer Reihe von Studien vertretenen Ausgliederungstheorie vgl. z.B. Schmidt (1988), (1989) und letztlich (1997). Zu der geographisch-historischen Abbildtheorie vgl. McCone (1992), S. 31 ff., der überdies S. 38 vermutet, daß das durch den Übergang von *ku zu ρ charakterisierte Lep. als „archaische gallische

282

Karl Horst Schmidt

I I I . Zur Gliederung des älteren Irischen: Zeuss vs. Thurneysen vs. gegenwärtiger Stand der Diskussion a) Zeuss (1853), S. X I I I = Zeuss/Ebel,

S. X I bemerkt zu Geschichte und

Zweck der auf das 8. Jh. bzw. den Beginn des 9. Jh. datierten air. Glossen: „Hibernici codices vetustae linguae monumenta servantes in copiosis praesertim glossis, interlinearibus plurimum, saepius etiam marginalibus, in terra continenti extant plures a monachis scripti Hibernis vel, ut tum temporis dicebantur, Scotis, iam a saeculo sexto per Europam continentem ad propagandum fidem christianam dispersis. Codices servati aevo Carolingico orti sunt, aut allati ex Hibernia, aut etiam scripti in monasteriis terrae continentis a monachis eius gentis litteris hibernicis, quae alias dicuntur etiam anglosaxonicae" (vgl. auch Welch 1996, S. 217). b) Thurneysen I (1909), S. 4 betont die Erhaltung der meisten HSS „auf dem Festland", „ w o sie früh nicht mehr verstanden wurden und unberührt liegen blieben, während i m irischen Mutterland die alten Handschriften zerlesen wurden und die Texte daher meist nur in späteren Abschriften auf uns gekommen sind, wobei die Sprache manche Veränderungen erlitten hat." Erwähnt werden müssen hier außerdem drei weiterführende Beiträge von Thurneysen: (1) Differenzierung zwischen den air. HSS und Sprachquellen, die den auf die M i t t e des 8. Jh. datierten Hauptglossator von Würzburg (Thurneysen 1946, S. 4) an Alter übertreffen. Z u diesen Denkmälern stellt Thurneysen I (1909), S. 8 f. u.a. die prima

manus der Würzburger Glossen (Wb.) und die Hand-

schrift zu Cambrai. (2) Die Grabinschriften aus Südirland und Wales, die i m Ogom-Alphabet geschrieben s i n d 1 5 . Die ältesten dieser ISS lassen sich bis ins 4. Jh. zurückdatieren und haben demzufolge einen besonders konservativen Lautstand bewahrt 1 6 . (3) Die von Thurneysen eruierte archaische Sprachschicht, deren Reste i n den Gesetzestexten, der ältesten Dichtung

und der Saga-Rhetorik

erhalten s i n d 1 7

und „die sich zusätzlich in syntaktischen Archaismen manifestiert: . . . a) Fehlen der Konjunktion ocus , u n d \ b) Fehlen des bestimmten Artikels, c) Gebrauch des unabhängigen Dativs, d) Stellung des Verbums am Satzende (Tmesis, Bergin's L a w ) " (Schmidt 1982, S. 64). Mundart" zu klassifizieren sein könnte, eine Hypothese, der nicht zuletzt auch die auf das Lep. beschränkte Golasecca-Kultur entgegensteht. 15 Vgl. dazu letztlich Korolev (1984), McManus (1991), Ziegler (1994). 16 Vgl. Schmidt (1993), S. 79 f. 17 Vgl. Binchy (1972), S. 37 f. mit der Referierung von Thurneysens Vorstellungen: „to compile a separate grammar of archaic Old Irish (going well behind the language of the Glosses) if and when the archaic stratum of the Laws, the oldest poetry, and the saga ,rhetorics 4 have all been fully investigated".

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung

283

c) Den Versuch einer Systematisierung der älteren irischen Sprachgeschichte hat Greene (1976), S. 26 unternommen, wobei auf der Basis von Thurneysen (1946), S. 67 Apokope und Synkope als Differenzierungskriterien dienen: - Primitive

Irish „Uririsch" (vor Apokope/Auslautschwund): 5. Jh. (Ogom-ISS),

- Archaic

Irish

„Archaisches Irisch" (nach Apokope, aber vor Synkope) 1 8 :

6. Jh. (Archaic stratum of the Laws, oldest poetry, saga ,rhetorics'), - Early

Old Irish

„Frühaltirisch" (zwischen Synkope und Beginn des Klass.

Air. i m 8. Jh.): 7. Jh. (prima manus der Würzburger Glossen, Cambrai), -

Classical Old Irish „Klass. Air.": 7 5 0 - 9 0 0 1 9 . d) Greenes Systematik ist zu ergänzen durch die goidel. Sprachtrümmer aus

antiker Zeit, die man Early Primitive

Irish „Frühuririsch" oder Early

Goidelic

„Frühgoidelisch" nennen k a n n 2 0 , so daß sich für die ältere irische Sprachgeschichte fünf Perioden ergeben: 1. Frühgoidelisch, Irisch, 4. Frühaltirisch,

5. Klassisches

2. Uririsch,

3. Archaisches

Altirisch.

IV. Zur Anordnung der air. Handschriften (HSS): Zeuss vs. Thurneysen a) Die Glossen sind das Werk irischer Mönche, deren apostolische Tätigkeit Colum Cille (ca. 521-597) nach Schottland führte, wo er 563 das Kloster lona als „centre of a federation of monastic establishments in Scotland, Northern Britain, and Ireland" (Welch 1996, S. 109) gründete, während andere irische Missionare auf dem europäischen Festland Klostergründungen vornahmen, darunter Bobbio in der Lombardei durch Columban (ca. 543-615) und St. Gallen durch dessen Schüler Gallus (ca. 550-645); die Missionierung von Würzburg impliziert den Märtyrertod des Frankenapostels Kilian und seiner beiden Gefährten Colman und Totmän (oder Totnän) am Ende des 7. Jh. 2 1 . Unter den irischen Theologen an karolingischen Fürstenhöfen ist besonders John Scottus Eriugena zu nennen, der i m 9. Jh. am Hofe Karls des Kahlen (823-877) bei Laon in Frankreich lehrte (Welch 1996, S. 175). b) Vendryes (1908), S. 5 zählt etwa 40 air. HSS, von denen sich lediglich das Buch von Armagh und einige Fragmente in Irland befinden. Die HSS sind bei Zeuss und Thurneysen in unterschiedlicher Reihenfolge angeordnet 22 : Zeuss (1853), S. X I I I - X X X V I I = Zeuss/Ebel, S. X I - X X V I I stellt den Codex Prisciani 18

Zur Synkope des Vokals der zweiten Silbe vgl. Thurneysen (1946), S. 67 (+ S. 27). Vgl. z.B. Würzburg, Mailand und Priscian unter 1, c). Zu Priscian vgl. letztlich Hofinan (1996); zum Wortschatz der Würzburger Glossen vgl. Kavanagh (2001). 20 Vgl. Vf. (1990), S. 71 und letztlich De Bernardo Stempel (2000). 21 Vgl. Vendryes (1908), S. 3 f. und Schmidt (1982), S. 54 und S. 57-60 mit weiterer Literatur. 19

284

Karl Horst Schmidt

Sancti Galli an den A n f a n g 2 3 , gefolgt von 2. Würzburg, 3. Mailand, 4. Karlsruhe, Beda, 5. Codex Prisciani bibliothecae Carlisruhensis, 6. Codex Sancti Galli, n. 1395, 7. Cambrai. Thurneysen I, 1909, S. 5 - 7 bevorzugt dagegen die Reihenfolge: 1. Würzburg, 2. Mailand, 3. Armagh, 4. St. Gallen (Priscian), 5. Turin, 6. St. Paul (Reichenau), denen er auf S. 8 f. sechs weitere, als „archaisch" klassifizierte Denkmäler zufügt, darunter die prima manus von Würzburg (= Wb. I) und die HS zu Cambrai (s. oben 3. b, 1). c) Die Anordnungen lassen die unterschiedliche Gewichtung der Texte erkennen: Zeuss wertet die für die Kommentierung der lat. Vorlagen grundlegende grammatische Terminologie in Priscian (ca. 845) als besonders wichtig, Thurneysen dagegen das Alter von Wb. (ca. 750) und Mailand (ca. 800). Er weist außerdem hin auf die „außergewöhnliche Korrektheit" von Wb. und nennt die weit weniger korrekt überlieferten Mailänder Glossen „das umfangreichste dieser Denkmäler" (Thurneysen I, 1909, S. 5). d) Allerdings erkennt Thurneysen die St. Galler Glossen zu Priscian als „lexikalisch sehr wertvoll" an (Thurneysen I, 1909, S. 6), ein Vorzug, der auch in der unlängst veröffentlichten Utrechter Dissertation von R. Hofman deutlich wird. Diese Arbeit enthält in Volume 2, S. 371-376 Indices grammatischer Termini: Die Indices zeigen, daß neben den viel diskutierten Entlehnungen aus dem L a t . 2 4 auch die caiques linguistiques

in der grammatischen Terminologie

des Air. eine bedeutende Rolle spielen: vgl. z.B. ainmm ,nomen' : ainmmnid ,nominativus\ ad.nessa, äinsid

»lampoons', ,censures', ,reproaches'

: äinsid

,accusative case'. Das air. Wort für Akkusativ, die griech. α ι τ ι α τ ι κ ή πτώσις, beweist, daß hier eine Lehnübersetzung aus dem Lat. vorliegt, weil das Air. in diesem Falle die verfehlte Lehnübersetzung von griech. α ι τ ι α τ ι κ ή

πτώσις

durch das Lateinische nach vollzieht 2 5 .

22 Windisch (1879), S. V bemerkt lediglich: , Altirisch ist die Sprache des 8. und 9. Jahrhunderts (sie!) erhalten in den Glossenhandschriften zu Mailand, St. Gallen, Würzburg, Karlsruhe, Turin u.a.m.". Vendryes, S. 6 f. listet die HSS in alphabetischer Reihenfolge auf, wobei er differenziert zwischen „a. manuscrits contenant des gloses" (u.a. Würzburg, Mailand, St. Gallen, Turin) und „b. manuscrits contenant des textes suivis" (Armagh, Cambrai, St. Paul). 23 Auch in dem von Güterbock/Thurneysen (1881) angelegten Index Glossarum nimmt Priscian die erste Position ein, gefolgt von Karlsruhe, Turin, Mailand, Würz-

burg und den Incantationes 24

Sangallenses.

Vgl. z.B. die bei Vf. (2001b), S. 150-151 zitierte Literatur, darunter: J. Vendryes (1902), Chr. Sarauw (1900), D. McManus (1984), P. de Bernardo Stempel (1990), K. McCone (1989). Grammatisch nicht nachzuvollziehen vermag ich die Konstruktion „Index terminorum Latinorum quae ad res vel elocutiones grammaticales spectant" (Hofman, Vol. 2, S. 371; vgl. ähnlich S. 372). 25 Wie der Philosoph F. A. Trendelenburg (1802-1872) erkannt hat, gehört die griech. αιτιατική πτώσις nicht zu αίτιαοθαι ,accusare', sondern zu griech. αίτιατόν ,das Bewirkte', einer Ableitung von αίτιον ,das Bewirkende, Ursächliche' (vgl. Wackernagel,

S. 19).

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung

285

V. Zur wissenschaftlichen Basis der Autoren: Zeuss vs. Thurneysen a) Zu den Gelehrten, die sich vor unserem Jubilar (vgl. oben Fußnote 4) mit dem Lebenswerk von Zeuss beschäftigt haben 2 6 , gehört der irische Philologe Shaw. Shaw betont das ungewöhnlich breit angelegte Studium von Zeuss, wobei folgende Fächer genannt werden: Theologie und Kirchengeschichte, Philosophie, Geschichte, Völkerkunde, aber auch naturwissenschaftliche Disziplinen (Physik, Chemie, Mineralogie, Astronomie), schließlich Klass. Philologie, Hebräisch, Arabisch, Sanskrit, Germanistik, Litauisch und Altbulgarisch (Shaw 1956, S. 2). b) In „ D i e Deutschen und die Nachbarstämme' 4 (München 1837; 2. Auflage: Göttingen 1904) legt Zeuss die Grundlage für seine aktive Tätigkeit als Historiker, indem er unter Einbeziehung der antiken Quellen und der Onomastik das Verhältnis der Germanen besonders zu den Kelten und Slaven untersucht: „Das Slowenische [d.h. Slavische], Deutsche [d.h. Germanische] und Keltische sind die drei äußersten nordwestlichen Glieder einer großen von Indien bis Hibernien reichenden Sprachenfamilie" (Zeuss 1904, S. 18). Die von i h m als „Wandervolk" (S. 160) bezeichneten Kelten werden außerhalb der Britischen Inseln bereits in Iberische Kelten (S. 161-164), Italische und Donaukelten thrakische,

(S. 170-172), Illyrische

Kelten (S. 164-170), Alpen-

Kelten (S. 172-180), Makedonische,

asiatische Kelten (S. 180-182) differenziert. Z u den inselkeltischen

Sprachen wird bemerkt: „ I n Irland und den gebirgigen Theilen der brittischen Insel und auf der armorischen Spitze leben noch einige, von den benachbarten verschiedene Sprachen, das Irische und Galische [d.h. das Schottisch-Gälische], das Kymrische und Bretonische. Aus ihrer nahen Verwandtschaft unter sich erhellt, daß sie Zweige eines Sprachstammes sind, und aus der Zusammenstellung der Wörter und Eigennamen mit ihren Wurzelwörtern, daß es der keltische war, dessen Reste sie sind" (1904, S. 17). c) In seiner kleinen Monographie über „ D i e Herkunft der Baiern von den Markomannen" (München 1839) wendet sich Zeuss gegen die Keltomanie bei der Etymologisierung bayerischer Onomastik, wobei das ironische Zitat „Höre, guter Freund, die alten bayerischen Wörter, die du für keltisch hältst, sind altdeutsch" inzwischen bereits den Rang eines locus classicus e i n i m m t 2 7 . Zeuss zog aus dieser Situation die Konsequenz, den Ursprung des strittigen Materials historisch zu klären. Er studierte zum einen die ältesten bayerischen Handschriften (vgl. Hablitzel 1989, S. 62 f.) und war zum anderen um die Überprüfung

26

Baumgarten, S. 28 zitiert aus der Zeit zwischen 1942 und 1971 Francis Shaw (1954); idem (1956), D. О hAodha (1961), Р. О Riain (1970), aber nicht den bei Hablitzel (1987), S. 343 angeführten W. Wissmann (1959). Soeben erschienen ist D. E. Evans, The heroic age of Celtic Philology, in: ZCP 54 (2004), S. 1-30. 27 Vgl. Meyer (1908), S. 216; Shaw (1956), S. 5.

Karl Horst Schmidt

286

von festlandkelt. Sprachgut bemüht. Für diese Identifikation bediente er sich zweier Hilfsmittel, die noch heute als richtungweisend angesehen werden können: „Zuerst eignete er sich aus den verläßlichen älteren und neueren Lehrbüchern die Kenntnis der drei noch lebenden Hauptsprachen keltischer Zunge an" (Meyer

1908, S. 217). Unabhängig davon „suchte [er] in allen Einzelsprachen

der ältesten Aufzeichnungen habhaft zu werden" (Meyer 1908, S. 218). d) Als Ausgangsbasis von Zeuss muß demnach die historisch-sprachvergleichende Betrachtung des Materials genannt werden. Diese stützt sich auf Sprachgeschichte und Sprachvergleich, wobei Jacob Grimms „Deutsche Grammatik" (1819-1837) und Franz Bopps „Conjugationssystem" (1816) bereits als Muster vorlagen. e) Auch Thurneysens Basis ist historisch; doch spielt die Sprachvergleichung bei ihm eine weitaus größere Rolle als bei Zeuss. Seine Anfangsveröffentlichungen sind auf das Romanische bezogen, in Sonderheit auf das Französische. Eine frühe Verbindung zwischen der Romania und dem Kelt, finden wir in der Monographie „Keltoromanisches, die keltischen Etymologien i m etymologischen Wörterbuch der romanischen Sprachen von F. Diez" (Halle: Niemeyer 1884) 2 8 . Weitere Schwerpunkte von Thurneysens früher Periode sind das Lateinische, dem u.a. die Dissertation von 1879 gewidmet ist, und die übrigen italischen Sprachen (vgl. Thurneysen I, 1991, S. 101-542), in geringerem Maße auch das Griechische, Gotische, Altindische und die altkleinasiatischen Sprachen Lykisch und L y d i s c h 2 9 , wobei Thurneysens Untersuchungen zu grundlegenden Problemen der Etymologie (1904) 3 0 und der Rekonstruktion der indogermanischen Grundsprache - z.B. „Der italokeltische conjunktiv mit я " (BB 8, 1884 = Thurneysen I, 1991, S. 3-22), „Der indogermanische imperativ" ( K Z 27, 1885, S. 172-180), „Zur indogermanischen comparativbildung" ( K Z 33, 1895, S. 551-559) - besondere Erwähnung verdienen 3 1 . I m Gegensatz zu Zeuss arbeitet Thurneysen implizite auf der Basis der junggrammatischen Prinzipien von Lautgesetz und Analogie,

Prinzipien, die 22 Jahre

nach dem Tode von Zeuss und ein Jahr vor Thurneysens erster Veröffentlichung von Osthoff und Brugmann

1878 explizite formuliert

worden sind 3 2 .

Wie

von De Bernardo Stempel (1994), S. 220 richtig beobachtet, ist besonders die 28 Vgl. dazu Thurneysen (1916), S. 299 und De Bernardo Stempel (1994), S. 221 sowie den Abdruck dieser Arbeit in: Thurneysen I, 1991, S. 368^95. 29 Vgl. De Bernardo Stempel (1994), S. 230 ff. und Thurneysens Bibliographie, in: Thurneysen I (1991), S. X X I I - X L I V . 30 Abgedruckt in Thurneysen I (1991), S. 48-83; kommentiert von De Bernardo Stempel (1994), S. 219 f. 31 Vgl. die Kommentierung dieser Studien durch De Bernardo Stempel (1994), S. 233-235. 32 Vgl. De Bernardo Stempel (1994), S. 220; zu den Prinzipien der Junggrammatiker vgl. Schmidt (1973), S. 119 f.

Grundzüge einer kontrastiven Betrachtung

287

Analogie „geradezu ein Leitmotiv Thurneysens sprachwissenschaftlicher Untersuchungen". Fassen wir die kontrastiv-vergleichende Studie zusammen, so lassen sich vier Punkte festhalten: (1) Die beiden in der Länge ihrer Schaffenszeit vom Schicksal so unterschiedlich beschenkten großen Keltologen -

1. Zeuss (1806-1856), 2. Thurneysen

(1857-1940) - spiegeln das Merkmal der deutschsprachigen Keltologie wider, „daß das Fach in der Regel von Gelehrten vertreten wurde, deren wissenschaftlicher Ausgangspunkt außerhalb des Keltischen lag" (Schmidt 1993b, S. 11). (2) Methodisch ist Zeuss durch Jacob Grimm (1785-1863) in der sprachgeschichtlichen Betrachtung und durch Franz Bopp (1791-1867) in der Sprachvergleichung beeinflußt, Thurneysen dagegen zusätzlich durch die junggrammatischen Prinzipien von Lautgesetz und Analogie

(vgl. Osthoff/Brugmann 1878).

(3) Ausgangspunkte des Franken Zeuss sind Geschichte, Germanistik und Onomastik, „die primäre Zielsetzung besteht zunächst in der Entscheidung darüber, ob es sich bei den süddeutschen Ortsnamen um keltische oder germanische Etymologien handelt" (Schmidt 1993b, S. 13). I m Gegensatz dazu sind Romanistik und Latein die Basis für das Interesse des Schweizers Thurneysen an der Keltologie: „When still a schoolboy I heard ... that the French language, familiar to every Swiss from childhood, was a mixture of Latin and Gaulish. When later I made up my mind to study philology I had this problem of the origin of French before my eyes. I studied on the one hand Romance philology, on the other hand Latin, comparative philology, and so on" (Thurneysen 1930 = Thurneysen II, 1991, S. 282). (4) Wichtige Materialgrundlage für beide Forscher sind die air. Glossen: „[Zeuss] was the first Celtic investigator who was determined to go back whenever possible to the oldest forms. . . . For the order and treatment of his subject, Zeuss followed the model of the Deutsche Grammatik Grammatica

of Jakob (!) Grimm, and

Celtica is a comparative grammar only in the sense that Grimm's

work is such" (Shaw 1956, S. 13). In Thurneysens „Handbuch" wird das Air. i m Prinzip als die Sprache der Glossen definiert. Die übrigen kelt. Sprachen werden i m Gegensatz zu Zeuss „Grammatica" nicht systematisch in die Untersuchung einbezogen, aber trotzdem bei der Behandlung von Detailproblemen nicht selten zum historischen Vergleich herangezogen. I m Prinzip unberücksichtigt bleibt die nach fünf Perioden der älteren irischen Sprachgeschichte (Frühgoidelisch, Uririsch, Arch. Irisch, Frühair., Klass. Air.) einsetzende mittelirische Überlieferung mit der von Thurneysen (1921) grundlegend bearbeiteten irischen Helden- und Königssage; auch die irischen Rechtstexte (vgl. Thurneysen I I I , 1994), deren Kern trotz später handschriftlicher Überlieferung Merkmale des Arch. Irischen aufweist (vgl. Fußnote 17), werden für das „Handbuch" noch nicht systematisch ausgewertet.

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Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"? Von Otto Schober „Zu Zeiten der globalen, erweiterung

nahe, interpersonelle zwischen

universellen

und -Veränderung Anwesenden

im Gegenteil:

verliert

Kommunikation -

sie gewinnt

nicht an

Kommunikationsdie

altbewährte,

- die

an Bedeutung,

Interaktion sondern

Wichtigkeit."

Margot Berghaus 2003, S. 277

I. Historische und moderne Anstöße zu einer Erforschung der Körpersprache Die Körpersprache bzw. die nonverbale Kommunikation steht noch in den Anfangsphasen ihrer Erforschung und die öffentliche Rezeption bereits ermittelter Ergebnisse ist recht unterschiedlich. Wie stark das Nonverbale unsere tatsächliche Kommunikation und unsere spontanen Reaktionen auf Partner bestimmt, wird uns gegenwärtig zwar allmählich bewusster; aber das Bewusstsein davon bedeutet noch lange nicht, dass wir auch i m Einzelnen wüssten, was hier genau i m Spiel ist und wie dieses wirkt. Bezüglich der Steuerbarkeit der Körpersprache bestehen oft sogar eher bedenkliche Vorstellungen. Durchgehend gibt es Unsicherheiten, inwieweit sie der „Natur" und inwieweit sie der „ K u l tur" zuzuordnen ist. Hierzu werden i m Folgenden einige Klärungen versucht, zunächst anhand eines kleinen forschungsgeschichtlichen Rückblicks. Der nonverbale Bereich wurde sehr spät, nämlich i m Wesentlichen erst seit etwa drei bis vier Jahrzehnten, zum Gegenstand einzelner wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Sicher wurde er auch früher schon ausdrücklich berührt, besonders in praktischen Zusammenhängen. So ist unser hochmodern anmutender Ausdruck „Körpersprache" (body language, body politics)

einerseits wirk-

lich ganz neuen Datums; er könnte aber andererseits fast eine Lehnübersetzung aus der Rhetoriktradition der Antike sein. Schon Cicero spricht nämlich in „ D e oratore" und „Orator" von sermo corporis

und beschäftigt sich mit der M i m i k

und dem Ausdruck der Augen, der Bewegung und der Stimme - Themen, die anschließend bei Quintilian noch umfangreicher angegangen werden (vgl. Kalverkämper 1995, S. 143). Eine wirklich systematische Erforschung der zur Kommunikation verwendeten Zeichen finden wir aber erst in den letzten Jahr-

294

Otto Schober

hunderten, und auch hier wendet man sich zunächst einmal nur der (Verbal-) Sprache zu. Früher hatte man wohl für Einzelsprachen grammatische Lehrbücher entwickelt, ohne aber nach allgemeinen Beobachtungskategorien für Sprache zu fragen: „ . . . es geschah erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, daß das tägliche Kommunikationsmittel des Menschen, die Sprache, kriteriengeleitet und somit wissenschaftlich untersucht wurde (Junggrammatiker, vergleichende Sprachwissenschaft, germanistische, romanistische, slawistische Philologie), und dies erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts mit eigenständigem Blick auf die funktionierenden Strukturen (Strukturalismus), erweitert dann ab Mitte der sechziger Jahre auf die Texte (Textlinguistik), dann auf die Textsituationen (kommunikative Wende, Pragmalinguistik), um schließlich in jener Komplexität anzulangen, die die wirkliche Dimension der Kommunikation ausmacht und danach auch allein die adäquate Grundlage für die Analyse wie auch die adäquate Zielsetzung für die Lehre ist, nämlich die Sprache der Sprachgemeinschaft in ihrer kulturellen Gebundenheit, als Element und Träger der Kultur, als Sprache-in-Funktion-und-Kultur." (Ebd., S. 139.) Bezieht man in diese Entwicklungslinie der linguistischen und später pragmalinguistischen Forschung auch Bemühungen um die Körpersprache ein, lassen sich vereinzelt Beiträge seit dem 19. Jahrhundert finden. Bis heute anhaltende Bedeutung gewann Darwins geniales Werk „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren" (so die deutsche Übersetzung 1872). Es geht von den phylogenetischen Ursprüngen auch menschlichen Ausdrucksverhaltens aus. Dazu wendet es sich klar von den obskuren Deutungsversuchen der „Physiognomie" ab und fasst zunächst zeitgenösssische Arbeiten zusammen, die den Weg zu einer wissenschaftlich genauen Beschreibung der M i m i k weisen. Hier kann Darwin auf Duchenne de Boulogne fußen und dessen Arbeiten so fortführen, dass heute aktuelle Verfahren für die Beobachtung und exakte Codierung komplizierter mimischer Bewegungen tatsächlich schon grundgelegt erscheinen. Duchenne arbeitete bereits experimentell: „Durch elektrische Reizung einzelner Muskeln stellte er synthetische mimische Ausdrücke her und bestimmte so die muskuläre Basis komplexen Ausdrucksgeschehens. Als Fortführung dieser Arbeit können Untersuchungen betrachtet werden, die die Muskelaktivität elektromyographisch erfassen und so bereits auf der Gesichtsoberfläche noch nicht sichtbare Verhaltenstendenzen erkennen lassen." (Ellgring 2004, S. 31.) Heute verfügt die Körpersprachforschung insbesondere über das Facial Action Coding System von Ekman und Friesen, das - gerade auch unter Verwendung der Fotografie und Videotechnik - erlaubt, selbst schnellstens ablaufendes mimisches Geschehen zu dokumentieren und auszuwerten. In der unmittelbaren Gegenwart kann Ekman die in der Darwinschen Tradition stehende Mimikbeobachtung und -interpretation sogar so verfeinern, dass sie nicht mehr nur Forschungszwecken und z.B. medizinischen (vor allem psychiatrischen) A n wen-

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

295

düngen dient, sondern auch für die alltägliche Kommunikation nutzbar wird. In seinem Buch „Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren" (Ekman 2004) bietet dieser bedeutendste Körpersprachforscher der Gegenwart eine Fülle von Beobachtungshilfen und sogar Trainingsformen zur M i mik. Trainiert wird aber mitnichten ein künstlich bleibendes und aufgesetzt wirkendes Imitieren von Ausdrücken. Menschen, die dies versuchen, verstören uns und wir gehen ihnen aus dem Weg. W i r k l i c h gemeint sind das Wahrnehmen von Emotionen und das behutsame Umgehen mit ihnen. Sie manifestieren sich j a in den einzelnen M i m i k e n (facial expressions); ihnen sollen wir mehr Beachtung schenken - i m Umgang mit anderen, aber auch mit uns selbst. Eine weitere Station, die half Körpersprache zum wissenschaftlichen Gegenstand zu machen, verdanken wir einem fast komischen Vorgang. Er ist dokumentiert in einem Buch der vorletzten Jahrhundertwende: „Oskar Pfungst: Das Pferd des Herrn von Osten. Der kluge Hans (1907)". Der kluge Hans war ein Pferd, von dessen Rechenkünsten sein Besitzer voll überzeugt war; er stellte ihm auf Jahrmärkten die Aufgaben und das Tier gab die Lösungen zuverlässig per Huftschlägen an. Dies funktionierte sogar, wenn die Zuschauer einen Trick des Herrn von Osten vermuteten und die Rechenaufgaben in dessen Abwesenheit stellen wollten. Die Verwunderung war groß; offenbar war man sich nicht bewusst, dass der kluge Hans in einem Rapport mit seinem Herrn, aber auch mit dem Publikum stand. Die Zuschauer begleiteten den „Rechenvorgang", dessen Lösung sie kannten, sichtlich mit einer Körpersprache der Anspannung und Erleichterung - Signale genug, das Pferd zum Anfangen, Weitermachen und Einhalten zu bewegen. Erst als ihm die Augen verbunden wurden, entfiel diese Signalwirkung, von der man zunächst keine Ahnung gehabt hatte. Mimische und gesamtkörperliche Bewegungen wurden durch diesen Vorgang und seine Aufdeckung in ihrer kommunikativen und sogar Artgrenzen überschreitenden Wirkung deutlich. Unbewusst bleibende körpersprachliche Botschaften dieser Art spielen dann auch später in der Forschung und in der Ausbildung einer umfassenden Kommunikationspsychologie eine große Rolle. Watzlawick eröffnete 1967 mit seinem Epoche machenden Buch „Pragmatics of Human Communication" (deutsch 1969 „Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien") die inzwischen selbstverständlich gewordene Sichtweise vom Ineinander des Inhalts- und Beziehungsaspektes der Kommunikation. Der Inhaltsaspekt wird in der Regel durch Sprache, die vorwiegend eine „Digitalkommunikation" ist, vermittelt. Und wir offenbaren den Beziehungsaspekt, d.h. den sozialen Verwendungssinn unserer inhaltlichen Mitteilungen und somit das, was an Absicht dahintersteckt, immer durch unser Verhalten, durch unsere Körpersprache. Sie wird terminologisch als „Analogkommunikation" gefasst und ist eine stets mitlaufende „Metakommunikation". Denn man kann „nicht nicht kommunizieren", wie das erste der „fünf Axiome der Kommunikation" besagt. Selbst die Ablehnung des Partners durch ein Sichabwenden ist j a

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Otto Schober

eine Mitteilung. Bei seiner Ausweitung des Kommunikationsbegriffes wird für Watzlawick auch das Geschehen um den klugen Hans wieder von Interesse: „Der deutsche Psychologe Pfungst, den die rührende Annahme eines Pferdegenies nicht befriedigte, sagte sich sehr richtig, daß Herr von Osten, dessen Ehrlichkeit außer Frage stand, seinem Pferd irgendwie signalisieren mußte, wenn es oft genug geklopft hatte und daher aufhören sollte. Pfungst gelang schließlich der Nachweis, daß das Pferd nicht zu klopfen begann, bevor ihm sein Herr nicht erwartungsvoll auf den Huf sah, und daß von Osten beim Erreichen der richtigen Zahl seinen Kopf fast unmerklich hob und nach oben blickte. Die nie ausbleibende Verblüffung und der Stolz seines Herrn dürften für den klugen Hans höchst wirksame Verhaltensverstärkungen gewesen sein. Wie tief von Osten seinerseits mit dem Pferd gefühlsmäßig verbunden gewesen sein muß, erhellt daraus, daß er bald nach Abklärung des Sachverhalts buchstäblich an gebrochenem Herzen gestorben sein muß." (Ebd., S. 64 f.) Diese historische Episode ist sicher nicht belanglos; man kann sie heute nicht wiedergeben ohne an sehr aktuelle Diskussionen zu denken. Auch Watzlawick tut das bei seiner Verdeutlichung der auf den „Bahnen der Analogkommunikation übermittleiten Beziehungsdefinitionen" und verweist auf Rosenthals Untersuchungen an der Havarduniversität. Sie „betreffen den Einfluß der Erwartungen des Versuchsleiters auf den Ausgang psychologischer Experimente und die offensichtlich rein analoge, außerbewußte Kommunikation dieser Erwartungen" (ebd., 64). Rosenthals Thesen lösten in den 1970er Jahren auch in der Bundesrepublik eine heftige, mit „Pygmalioneffekt" überschriebene Auseinandersetzung über die Behandlung von Schülern durch Lehrer aus. Der Name Pygmalion erinnert an eine Gestalt der Sage, an den König von Zypern. Er verliebte sich in eine von ihm selbst gefertige Statue einer Jungfrau. Die Liebesgöttin Aphrodite belebte sie auf seine Bitten und er nahm sie zur Gemahlin. So wie es bei der Sage um die Vorstellung geht, die ein Mann von der „idealen" Frau hat, so geht es beim Pygmalioneffekt der Psychologie um die Vorstellung, die ein Lehrer von einem Schüler hat. Diese wirkt sich dann derart auf sein Handeln aus, dass der Lehrer dem Schüler wirklich danach gegenübertritt. Das Rosenthal-Experiment: Grundschullehrern wurde von Psychologen gesagt, dass 20% ihrer Schüler in einem zuverlässigen Intelligenztest so gut abgeschnitten hätten, dass sie ganz sicher große Lernfortschritte machen würden. Die Namen dieser ausgewählten Schülerinnen und Schüler wurden den Lehrerinnen und Lehrern mitgeteilt. Nach acht Monaten Unterricht konnte die Vorhersage bestätigt werden. Allerdings war für dieses Ergebnis nicht die Intelligenz dieser Schüler die Ursache. Die Lehrer hatten lediglich an die Vorhersage vom größeren Lernfortschritt geglaubt - in Wirklichkeit handelte es sich um ganz normale Schülergruppen. Dass sie gegebenüber Vergleichsgruppen trotzdem deutlich besser abschnitten, erklärt sich daraus: die in sie gesetzten positiven Erwartungen führten zu einem günstigen Lehrerverhalten (mehr Aufmerksamkeit, Vertrauen, positive Verstärkungen, usw.), dem dann die Fortschritte zu

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

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verdanken waren. Es drückte sich über körpersprachliche Signale einschließlich des lautlichen Verhaltens aus: durch Zulächeln, Anschauen, Zunicken, freundliche Stimme. Bei Schwierigkeiten zeigten die Lehrer auch größere Geduld und vermieden Tadel und abweisende oder dominante Körpersprache. Anders gelagert als bisher Genanntes sind Forschungsbemühungen ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu gestischen Zeichen. Jetzt tritt nicht die Naturnähe, sondern umgekehrt die Kulturabhängigkeit in den Vordergrund. Die Forschungen gingen in zwei Richtungen, (a) Ein Ausdrucksträger hat in Kultur Α eine bestimmte Ausdrucksfunktion, in Kultur В jedoch eine andere, (b) Eine bestimmte Ausdrucksfunktion hat in Kultur Α einen anderen körperlichen Ausdrucksträger als in Kultur B. Beispiele (Schober 1989, S. 175; vgl. auch Kalverkämper 1995, S. 159):

Abbildung 1: (a) Gleiche Geste mit unterschiedlicher Bedeutung japanisch: „Ich", arabisch: „Ich werde das tun, worum du mich bittest'

Abbildung 2: (b) Unterschiedliche Gesten mit gleicher Bedeutung japanisch und arabisch: „Ich bedauere"

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Es geht also darum, dass mit dem Körper vermittelte außersprachliche Zeichen in verschiedenen Kulturkreisen Verschiedenes bedeuten können. Oft wurde sogar formuliert, dass es gar keine Körperzeichen gibt, die auf der ganzen Welt das Gleiche bedeuten würden. Die Nähe zur Sprachwissenschaft mit ihren Unterdisziplinen Onomasiologie und Semasiologie ist deutlich: onomasiologisch gesehen kann ein und dieselbe Bezeichnung, also der gleiche Wortkörper, in mehreren Sprachen auftreten und dabei verschiedene Bedeutungen haben; semasiologisch gesehen gibt es für die gleichen Dinge von Sprache zu Sprache unterschiedliche Bezeichnungen. Die „Kinesik (kinesicsgenannte Linguistik (linguistics)

und wie die

vorgehende Disziplin, begründet von dem Anthropolo-

gen Birdwhistell und definiert als Wissenschaft vom körperlichen Ausdrucksverhalten, deutet Bewegungen hinsichtlich ihrer kommunikativen Bedeutung. Die Betonung liegt dabei aber auf den kulturellen Unterschieden: Lexika von Bewegungszeichen werden erstellt, die Bindung dieser Zeichen an kulturspezifische Zeichensysteme wird hervorgehoben. Ähnlich geht die „Proxemik (proxemicsvor,

begründet von Hall. Diese Disziplin untersucht die kommunikative

Dimension des menschlichen Raumverhaltens (Distanzverhalten zum Partner, Berührungsformen, Geruchseindrücke), wiederum mit dem Ergebnis, dass die entsprechenden sozialen Interaktionsweisen kulturspezifisch sind. Die einschlägigen Feststellungen etwa zu Unterschieden in der Art, wie Angehörige verschiedener Kulturen bei Gesprächen enger bzw. weiter zueinander stehen (und irritierende „Fehler" i m interkulturellen Kontakt machen können, wenn sie diese Verhaltensweisen unreflektiert fortsetzen), sind uns heute, bei zunehmender Internationalisierung oder auch nur touristischer Erfahrung zunehmend besser nachvollziehbar. Ein ähnliches Feld der Forschung bilden die Art und die Dauer des Blickkontaktes mit seinen ebenfalls großen kulturellen Eigenheiten. So kann es von Kulturkreis zu Kulturkreis sehr unterschiedlich geregelt sein, wie Männer und Frauen einander ansehen. Deutsche Lehrpersonen profitieren z.B. davon zu wissen (und möglichst sogar in Rollenspielen ihre Reaktionen dazu erfahren zu haben), wie Angehörige einzelner Kulturen gerne näher als bei uns gewohnt an sie herantreten werden oder wie aus dem Ausland kommende Schülerinnen sich nur scheinbar ablehnend, sondern ihrer Kultur gemäß verhalten, wenn sie den Blickkontakt vermeiden, usw.

II. Der Konflikt zwischen „Universalisten" und „Kulturalisten" Es zeigen sich also, wenn man Schritte zur Erforschung der Körpersprache nachzeichnet, zwei höchst gegensätzliche Richtungen. Für die einen - grob gesagt: für die Darwin und späteren Biologen und Ethnologen Folgenden - vollzieht sich nonverbale Kommunikation in genetisch bestimmter universaler, für Menschen auf der ganzen Welt gleich geltender Weise. Für die anderen - grob gesagt: kulturvergleichend arbeitenden Anthropologen, Kinesiker und Proxemi-

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

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ker - kann, ähnlich wie es bei Sprachzeichen der Fall ist, das nonverbale Zeichensystem nur für die jeweilige Kultur erforscht werden, in der es entstanden ist und in der es durch Lernprozesse von den Individuen erworben wird. Selbst wenn man diese Entgegensetzung auf die M i m i k reduziert, ist von zwei kontroversen wissenschaftlichen Lagern zu sprechen. Beide unter großen Mühen zusammengeführt zu haben, ist das Verdienst Ekmans mit Forschungen, die zum Teil etwa 30 Jahre zurückliegen und die die Theoriebildung in seinem großen Gesamtwerk bis zur Gegenwart mitbestimmen. Der Rückblick, den er heute macht, greift die entscheidende Ausgangsfrage wieder auf: „Ist M i m i k universal oder ist sie, genau wie Sprache, für jede Kultur einzigartig und unverwechselbar?" (Ekman 2004, S. 3.) Für die Universalität der Gesichtsausdrücke, also dafür, dass sie nicht erlent, sondern Produkt unserer Evolution sind, sprechen viele Hinweise in Darwins Werk. Der in dieser Tradition stehende Humanbiologe Eibl-Eibesfeldt greift manches davon auf und bestätigt es empirisch. Darüber hinaus konnte er das Lächeln von Kindern als angeboren nachweisen, weil es auch bei Blindgeborenen erfolgt. In ähnlicher Weise beschäftigt er sich mit der Annahme der Universalität des „Augengrußes" oder mit der weltweit gleichen Äußerung von Scham i m Gesichtsausdruck von Kleinkindern usw. Gemeinsam ist Eibl-Eibesfeldt und Ekman unter anderem, dass sie beide für solche Forschungen lange mit Eingeborenen Papua-Neuguineas gearbeitet haben. Darüber hinaus greift Ekman u.a. auf Versuchsreihen mit Filmen zurück, die Amerikanern und Japanern gezeigt wurden. Was weltweit allen Menschen an M i m i k (als Materialisierung von Emotionen) eigen ist, erbrachten Ekmans Forschungen zweifelsfrei. Auch die PapuaNeuguineaer, die Fotografien nicht kannten und zunächst nichts vom Vorgang des Fotografierens wussten, lasen Gesichtsausdrücke nicht anders als Menschen anderer Gebiete bzw. drückten Gefühle, die ihnen verdeutlicht wurden, in identischer Weise mimisch aus. Offenbar gibt es also einen Grundbestand an Gefühlen oder Emotionen mit der jeweils dazugehörigen M i m i k , der ganz sicher erkannt wird (Skizzen nach Schober 1989, S. 42-45. Es gibt für die einzelnen Gesichtsausdrücke Varianten, die hier nicht berücksichtigt sind. Erweiterungen der Emotionen sind möglich, so um „Verachtung". Insbesondere für „Freude" gibt es eine Vielfalt besonderer Ausprägungen):

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300

Ekel

Angst

Zorn

Trauer

Freude

Abbildung 3: Ausdruck von Grundemotionen

Bei der Explikation dieser Emotionen wird auch heute noch, u. a. von Ekman, auf Darwins Selektionsvorstellungen zurückgegriffen. Die genannten Emotionen sind universal: nicht durch Lernen erworben, sondern entsprechen in uns angelegten und sogar lebensnotwendigen „Themen". So ist beispielsweise bezüglich der festen Verankerung von „ W u t , Zorn" in uns davon auszugehen, „dass diejenigen, die auf eine Störung ihres Handelns mit heftigen Versuchen zur Beendigung dieser Störung reagierten und dabei ihre Absichten klar signalisierten, mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Konkurrenzkampf gewannen, gleichgültig, ob dabei um Nahrung oder einen Partner gestritten wurde. Sie hatten höchstwahrscheinlich mehr Nachkommen, und i m Laufe der Zeit trug schließlich jeder das Zornthema ist sich" (Ekman 2004, S. 37). M i m i k vermag also das soziale Verhalten so zu regulieren, dass innerartliche Aggressionen umgangen statt handgreiflich ausgetragen werden. Ähnliche Erklärungen wie hier für Zorn sind unter dem Aspekt des Zusammenlebens für die anderen Emotionen möglich: Trauer z.B. ruft M i t l e i d und Hilfe der anderen hervor, usw.

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

301

Für Ekmans Untersuchungen wurden zunehmend modernste technische Mittel eingesetzt. Das Ergebnis war auch von außerordentlicher Quantität: er stellte so viele muskuläre Einzelbewegungen i m Gesicht fest, dass sich daraus über zehntausend mögliche Kombinationen ergeben (wobei der uns geläufige und von uns spontan erkannte

Signalcharakter

nur für

die schon angesprochene

kleine

Gruppe von Gefühlszuständen gilt). Gleichwohl führt dieses eindrucksvolle und durch eine Fülle von Bildmaterial (von unmittelbaren Gesichtsausdrücken, von nur experimentell gespielten Gesichtsausdrücken und auch von nur fotomontierten Gesichtsausdrücken) dokumentierte Ergebnis nicht einfach zu einer Anerkennung der universalistischen Sicht. Immer wieder zeigte es sich nämlich, dass die gleichen emotionalen Grundimpulse und die gleichen anatomisch-muskulären Möglichkeiten durchgängige kulturelle (und nicht nur individuelle) Unterschiede zeigen konnten. Dies freilich nur i m Ausmaß einer gewissen Überformung. Unter dem Druck der Gegenthese, M i m i k unterscheide sich von einer Kultur zur anderen ganz prinzipiell, entwickelt Ekman den Kompromiss der kulturgeprägten „Darbietungsregeln (display rules)": „Diese, so mutmaßte ich, seien sozial erlernte, bei verschiedenen Kulturen unterschiedlich definierte Regeln für die Zurschaustellung von Gesichtsausdrücken, also darüber, wer wem zu welchem Zeitpunkt welche Emotionen offen zeigen darf. Solche Regeln finden ihren Niederschlag beispielsweise in der elterlichen Mahnung: ,Hör auf zu grinsen, wenn ich mit dir rede.' Diese Regeln diktieren uns womöglich, wann wir die dem Gefühl, das uns gerade befällt, entsprechende Mimik zu mäßigen, zu verstärken, ganz und gar zu verbergen oder zu überspielen haben." (Ekman 2004, S. 5; Einzelbeispiele bei Schober 1989, S. 36, etwa bezüglich mancher amerikanischer Mädchen der Mittelschicht, die das Verbot übernehmen ihren Ärger zu zeigen oder dem Gebot folgen, ihren Ärger durch Trauer zu ersetzen - oft unter Verlust der Fähigkeit, ihren Ärger loszuwerden.) Der Gesichtsausdruck unterliegt also Regelungsversuchen mit erlernten Techniken (hier nach ebd.): Maskierende Darbietung

Freude Ärger Vergrößernde Darbietung

Überraschung Furcht

Ekel Verachtung Trauer

Verkleinernde Darbietung

Neutralisierende Darbietung Abbildung 4: „Display rules"

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Die Auswirkung dieser außerordentlich wichtigen und für uns als Kultur- und Sozialwesen nicht äußerlich bleibenden Darbietungsregeln lässt sich in interkulturellen Begegnungen besonders gut nachempfinden, wo sich, z.B. bei der Art und Dauer des Lächelns, sehr unterschiedliche Gewohnheiten zeigen. Der kulturelle Einfluss auf die M i m i k ändert allerdings nichts an der grundlegenden Tatsache des weltweit gleichen Verständnisses für Formen des Gesichtsausdrucks. Eibl-Eibesfeldt (1984; vgl. dort S. 205 bzw. Schober 1989, S. 41 die folgende Skizze) gelang der Nachweis, dass Europäer wie Japaner sechs Bilder von Kabuki-Schauspielern, die Überraschung, Angst, Zorn, Ekel, Trauer und Freude darstellten, ähnlich deuteten. Die kulturelle Überformung der spontanen M i m i k durch einen uns ungewohnten Theaterstil wirkte sich allerdings so aus, dass Europäer eine mimische Darstellung von Trauer als Ekel und die von Zorn als Angst und Zorn deuteten. A m stärksten wirkte sich die kulturspezifische Stilisierung einer Ausdrucks weise bei der Darstellung von Freude aus. Japaner stuften recht sicher ein, während bei den Europäern wohl die Deutung Freude an der Spitze stand, aber daneben auch die anderen Gefühle vorkamen (am geringsten allerdings Trauer).

Abbildung 5: Freude in der Darstellung eines Kabuki-Schauspielers

In Zusammenhängen wie den eben diskutierten wird gerne ins Feld geführt und vielleicht durch wirkliche eigene Befremdungserlebnisse (die in unserer globalisierten Welt immer mehr Menschen unterlaufen) unterstrichen, dass zumindest gestische Zeichen kultureller Natur sein müssen: es gibt Kopfnicken als Bejahung - aber auch als Verneinung, verschiedene Bedeutungen der okayGestik (die auch N u l l oder Geld oder anderes heißen kann) oder Geschehnisse wie das Folgende: „Als Breschnjew die Vereinigten Staaten besuchte, benutzten Nixon und er bei ihren öffentlichen Auftritten bestimmte Embleme, um den ,Geist der Entspannung' zu

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

303

verbreiten. Nixon setzte das typische amerikanische Handwinken ein, ein Grußemblem. Breschnjew pflegte bei diesen Auftritten mit gestreckten Armen in die Hände zu klatschen und die Hände dabei bis zur Höhe seines Gesichtes hochzuheben. Dies ist ein sowjetisches Freundschaftsemblem. Es war ihm bedauerlicherweise wohl unbekannt, daß diese Gebärde das amerikanische Emblem für ,Ich bin der Sieger' darstellt, das fast ausschließlich im Zusammenhang mit Boxkämpfen verwendet wird." (Ekman nach Schober 1989, S. 19.) Das Beispiel mit den beiden Staatsmännern ist kein Einwand i m Rahmen der Universalitätsdebatte. Hier ist terminologisch so zu unterscheiden, wie es auch bei Ekman (vgl. ebd. und 2004, S. 5) geschieht, der hier von der Zeichenart Emblem bzw. symbolischer Geste spricht. Die Zeichenart Emblem oder Symbol definiert sich als Ersatz von Wörtern durch in ihrer Bedeutung genau festgelegte und dadurch „digitale", „codierte" Körperbewegungen; sie ist also kulturell und nur durch Lernen zu erwerben. Lexika der Embleme sind (anders als Lexika spontaner Körpersprache) gut denkbar und liegen tatsächlich auch vor. So hat Morris (1994) Gesten und Gebärden aus vielen Regionen beschrieben und zeichnerisch erfasst und ihre Bedeutungen und Verbreitungsgebiete angegeben. Beispiel (ebd., S. 153):

Abbildung 6: Die „griechische Neingeste"

„Kopfnicken als Verneinung" (das sogen, „griechische Nein" des Mittelmeerraums) ist nur auf den ersten Blick als zufällige Ausnahme zu bewerten. In dieser gestischen Kopfbewegung laufen auf besonders interessante Weise evolutionäre und kulturelle Aspekte zusammen: „Wenn ein Baby nichts mehr essen mag, [kann es] den Kopf entweder zur Seite drehen oder in den Nacken werfen [...]. Beide Aktionen bedeuten für das Kind ein klares ,Nein!\ Aus dem seitlichen Wegdrehen des Kopfes entwickelte sich dann in den meisten Kulturen das allgemein bekannte verneinende Kopfschütteln, doch in manchen Regionen wurde das andere Reaktionsmuster beibehalten, weshalb dort der Kopf zurückgeworfen wird, um ,Nein' zu sagen." (Ebd.)

304

Otto Schober

Auch wer, etwa bei Besuchen in Griechenland oder der Türkei, auf diesen Bedeutungsunterschied

beim

Kopfnicken

aufmerksam

gemacht

wurde,

deutet

gerne immer noch falsch. Eine gewisse Hilfe ist es aber auf folgenden Unterschied zu achten: beim griechischen Nein liegt nicht einfach unser Nicken vor, sondern es erfolgt ein (aggressives, ablehnendes?) Vorstoßen des Kinns mit der Folge, dass der Kopf nach hinten geworfen wird und dann absinkt.

III. Körperkommunikation zwischen Natur und Kultur Die bisherigen Überlegungen beschäftigten sich mit der „primitiven" nonverbalen Kommunikationsweise. Sie ist für die moderne Gesellschaft mit ihrer Schriftlichkeit und mit ihren hoch entwickelten medialen Technologien untypisch, aber andererseits eine wichtige Korrektur. Luhman, der Analytiker unserer sozialen Systeme, verweist j a darauf, dass „ i m derzeitigen Stadium alles kommunizierbar ist - außer Aufrichtigkeit. [...] I m Zweifelsfall dient daher die ältere Form als Steuerungs-, Kontroll- und Orientierungsinstanz über jüngere Formen" (Luhmann nach Berghaus 2003, S. 277). Bei der so wichtigen und immer schwieriger zu beantwortenden Frage nach der Glaubwürdigkeit einer Person und ihrer mündlichen sprachlichen Aussage sind wir also wie eh und je und vielleicht sogar in vermehrtem Maße auf Körperkommunikation angewiesen. Einiges dazu wurde oben deutlich: Körperkommunikation vermittelt den „Beziehungsaspekt", interpretiert das sprachlich Gesagte auf unterschiedliche Weise (unterstützt es oder gerät in Widerspruch dazu), lässt die Verwurzelung unserer Äußerungen in universal gegebenen Emotionen erleben, usw. Freilich wäre es aber andererseits zu einfach, der Körpersprache generell zu attestieren, dass sie, wie es gerne heißt, nicht lügt. Da wir wissen, dass unsere Partner sie ständig bei uns ablesen, sind wir auch bemüht, sie zu beeinflussen. Das geschieht sowohl aus individuellen Antrieben heraus als auch auf Grund der „Darstellungsregeln" unserer jeweiligen Kultur. Ekman (2004) hat zwar gerade jetzt Trainingsprogramme angeboten, die helfen können, an Gesichtsausdrücken, die in Bruchteilen von Sekunden „durchsickern" (micro expressions) zu erkennen, welche wahren Gefühle jemand hat, aber zu überspielen versucht. Gleichwohl wird es die Ausnahme bleiben, dass Partner alle Subtilitäten ihres Kommunizierens wahrnehmen. Und die Frage nach der Erkennbarkeit des Lügens muss nach wie vor so beantwortet werden, dass der Lügner sich vielleicht verrät, weil seine Ausdrucksweisen bewusster und dadurch langsamer werden, auch übertrieben wirken können. Aber ist die Ursache für diese Erscheinungen in jedem Fall eine Lüge? Einen verlässlichen „Lügendetektor" gibt es nicht. Es wird Angst und Stress gemessen, deren Ursache das Lügen sein kann, aber nicht sein muss: „Die Angst eines Schuldigen, der gefasst zu werden fürchtet, sieht genauso aus wie die Angst eines Unschuldigen, dem niemand glaubt. Das ist ein ernsthaftes Problem

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"?

305

bei jeder Art von Lügendetektor. Polygraphenanwender versuchen die Befürchtung einer unschuldigen Person, fälschlicherweise eines Vergehens bezichtigt zu werden, zu beschwichtigen, indem sie auf die Zuverläsigkeit des Apparats verweisen; er ist aber nicht besonders zuverlässig, und da die Leute das zunehmend zu erfahren bekommen, kann es durchaus sein, dass sich bei Unschuldigen dieselbe Angst manifestiert wie bei Schuldigen." (Ebd., S. 82.) Das Zusammenwirken von „Natur" und „ K u l t u r " kennzeichnet also die direkte Kommunikation und ermöglicht j a auch die Vielfalt unserer Ausdrucksweisen. Eine weitergehende Diskussionsperspektive würde sogar die Unterscheidung von „Natur" und „ K u l t u r " schon als solche relativieren. Aus umfassender biologisch-anthropologischer Sicht lassen sich nämlich „ K u l t u r " genannte Traditionen und höchst unterschiedliche Verhaltensanpassungen als Ausdruck der menschlichen Natur in ihrer Verwiesenheit auf je kulturelle Ausformungen verstehen (vgl. die Anwendung dieser Sichtweise z.B. auf die unterschiedliche nonverbale Kommunikation von Frauen und Männern bei Scheunpflug 2004). Gleichwohl kann es in unserer alltäglichen Kommunikation nützlich sein, nonverbale Ausdrücke oder Zeichen danach zu klassifizieren, ob sie spontan und naturnah sind oder ob sie kulturellen Festlegungen entspringen. Eine gewisse Hilfe dabei ist schon die bereits erwähnte Begrifflichkeit bei Watzlawick: er fasst Körpersprache vorwiegend als Analogkommunikation auf und Sprache vorwiegend als Digitalkommunikation. Aber auch Körperkommunikation ist in dem Moment Digitalkommunikation, wo die verwendeten Zeichen in ihrer Bedeutung codiert sind, also einer festen Vereinbarung entsprechen. Die Semiotik erfasst solche Unterschiede in ähnlicher, aber noch etwas differenzierterer Weise (vgl. ausführlicher Schober 2004; Schober (Hrsg.) 2004): sie spricht von Symbolen, Ikonen und Indices. Körpersprache ist in diesem Sinne symbolisch, wenn Bedeutungsfestlegungen vorliegen wie zum Beispiel beim Victory-Zeichen mit zwei gespreizten Fingern (vgl. auch oben die Ausführungen

zum

okay-Emblem); sie ist ikonisch, wenn etwas nachgemacht wird, etwa die Bewegungen des Trinkens, wenn jemand Durst hat; sie ist indexikalisch,

wenn sie

dahinter stehende innere Vorgänge (Verlegenheit, Wut, usw.) erkennen lässt. Solche terminologischen Festlegungen sind nicht nur theoretische Bemühungen, sondern haben praktische Bedeutung, wenn es über den Mitteilungscharakter einer nonverbalen Äußerung zu entscheiden gilt. Der folgende Cartoon (aus Berghaus 2003, S. 121) zeigt den vergeblichen Versuch, das Vogelzeigen als „Naturäußerung" hinzustellen:

20 FS Hablitzel

306

Otto Schober

Abbildung 7

Die Verhandlung zwischen Richter und Angeklagtem dreht sich also um den in der Regel fraglichen engeren Mitteilungscharakter nonverbalen Verhaltens. Ein solcher ist bei Sprache klar vorhanden und auch entsprechend einklagbar. Bei nonverbaler Kommunikation sind an sich Zweifel daran möglich: „Sprache macht unbestreitbar, daß Kommunikation vorliegt, während man bei nichtsprachlicher Kommunikation immer bestreiten kann, etwas ,gemeint' zu haben" (Luhman nach ebd.). I m gegebenen Fall hat der Angeklagte aber Pech: Beim Vogelzeigen ist, jedenfalls in unserer Kultur, ein Mitteilungscharakter nicht nur möglich bzw. eine Interpretationsfrage; er ist hier vielmehr ähnlich wie bei der Sprache festgelegt. Der Normalfall ist aber der umgekehrte: wir kommunizieren mit einer unendlichen Fülle von Möglichkeiten, bestehend einerseits aus Nonverbalem, das der „Natur", dem zufälligen Ausdruck und der unmittelbaren Wahrnehmung nahe steht, und andererseits aus Verbalem, das uns die „ K u l t u r " als Mittel mit eindeutigem Mitteilungscharakter zur Verfügung stellt. Das Ineinander und das gegenseitige Sichbeeinflussen dieser Möglichkeiten ist heute nicht mehr nur ein Thema der Kommunikationspsychologie und der Semiotik, sondern, wie die abschließenden Hinweise auf Luhmann andeuteten, darüber hinaus auch der Kulturwissenschaften insgesamt und der Systemtheorie.

Literatur Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. Köln: Böhlau UTB 2003. Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und den Thieren. Stuttgart: E. Schweizbart'sehe Verlagshandlung 1872.

Körpersprache - „Natur" oder „Kultur"? Eibl-Eibe sfeldt, 1984.

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Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München: Piper

Ekman, Paul: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren (Emotions Revealed. Understanding Faces and Feelings). München: Elsevier (Spektrum Akademischer Verlag) 2004. Ellgring, Heiner: Nonverbale Kommunikation. Einführung und Überblick. In: Rosenbusch, Heinz S./Schober, Otto (Hrsg.): Körpersprache und Pädagogik. Das Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004, S. 7-67. Kalverkämper, Hartwig: Kultureme erkennen, lehren und lernen. Eine kontrastive und interdisziplinäre Herausforderung an die Forschung und Vermittlungspraxis. In: Fremdsprachen. Lehren und Lernen 24/1995, S. 138-181. Morris, Desmond: Körpersprache, Gesten und Gebärden. München: Heyne 1994. Pfungst, Oskar: Das Pferd des Herrn von Osten. Der kluge Hans. Ein Beitrag zur experimentellen Tier- und Menschen-Psychologie. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth 1907. Scheunpflug, Annette: Nonverbale Kommunikation und Geschlecht. In: Rosenbusch, Heinz S./Schober, Otto (Hrsg.): Körpersprache und Pädagogik. Das Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004, S. 122-137. Schober, Otto: Körpersprache. Schlüssel zum Verhalten. Bedeutung und Nutzen der Körpersprache im Alltag. München: Heyne 1989. -

Nonverbale Aspekte der Kommunikation im Deutschunterricht. In: Rosenbusch, Heinz S./Schober, Otto (Hrsg.): Körpersprache und Pädagogik. Das Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004, S. 210-232.

-

(Hrsg.): Körpersprache im Deutschunterricht. Praxisanregungen zur nonverbalen Kommunikation für alle Schulstufen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004.

Watzlawick, Paul u.a.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (Pragmatics of Human Communication. Α Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes). Bern: Huber 1969.

20*

Asyl und EU-Erweiterung Eine Modellstudie der komplexen Relation zwischen Österreich und Ungarn Von Peter Stiegnitz

I. Thematische Einleitung I m Zuge der Erweiterung der Europäischen Union verschiebt sich in Österreich die EU-Außengrenze an die entsprechenden Grenzen der betreffenden neuen Mitglieder. Diese für die E U neue Situation - das erste M a l wurden ehemalige C O M E C O N - und andere kommunistische Staaten EU-Mitglieder - verlangt neue Maßnahmen, deren sozio-ökonomische und sozialpsychologische Grundlage noch erforscht werden muss. Aus den vielschichtigen neuen Realitäten soll diese Studie nur einen, wenn auch nicht unwesentlichen Aspekt analysieren: Die Veränderung der Migrationsströme und die Erarbeitung neuer Bewertungskriterien in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Genau genommen ist eine zu erwartende Globalität der Gesamtproblematik nicht gegeben, da die neuen Mitglieder stark unterschiedliche Gegebenheiten in der Asyl- und Migrationssituation und -problematik aufweisen. - Aus diesem Grund soll - vorerst - nur die komplexe Relation zwischen Österreich und Ungarn untersucht werden. Es ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die hier gewonnenen Ergebnisse auch auf die anderen neuen EU-Mitglieder unter Wahrung der jeweils speziellen Gegebenheiten - anzuwenden sind. Das Migrationspotential, mit dem wir uns auseinandersetzen, diese zu erwartende Größe der (Arbeits-)Migranten nach der EU-Erweiterung, sollte aus drei Faktoren mit einem jeweils anderen Schwerpunkt zusammengesetzt werden. Nur so kann eine politische Anwendbarkeit garantiert werden. - Das soziologische

Migrationspotential (sMP) ist eine allgemeine oder spezifi-

sche Mengenbestimmung: W i e viele Menschen insgesamt (Gesamtbevölkerung) bzw. wie viele aus einer bestimmten, doch jeweils repräsentativer Gruppe an eine Migration denken; - das psychologische

Migrationspotential (pMP) drückt die Stärke, die Intensi-

tät des Migrations Wunsches - aufgeteilt analog zum sMP - aus; - das volkswirtschaftliche Nutzen-Rechnung ;

Migrationspotential (vMP) vollzieht eine Kosten-

Peter Stiegnitz

310

In der Migrationsforschung unterscheiden wir zwischen dem „Allgemeinen Migrationspotential", bezogen auf die (jeweils) gegenwärtige Lage der Gesamtbevölkerung -

und dem „Speziellen Migrationspotential" einer bestimmten

Gruppe oder Subgruppe. Letztere zeichnet, i m Gegensatz zur ersteren, ein sehr hoher Gültigkeits- und Genauigkeitsweit aus. Während i m gegenwärtigen EU-Bereich das „Spezielle Migrationspotential" innerstaatliche Kriterien wie Alter, Bildung und Beruf, Wohnort, usw. umfasst, denken die neuen EU-Mitglieder, z.B. Ungarn, neben den inner-, auch an außerstaatliche Kriterien, wie z.B. Minderheiten in den benachbarten Ländern. Ein gutes Beispiel für diese Art des außerstaatlich-geopolitischen Kriteriums ist Ungarn. Da sie - und w i r mit ihnen - nach Ungarns EU-Beitritt - mit einem vermehrten Zuzug migrationswilliger, vor allem junger Männer aus SerbienMontenegro, Rumänien und aus der Ukraine rechnen müssen, wollen wir uns mit dieser, nur auf den ersten Blick „speziell" ungarischen Situation, näher beschäftigen.

II. Die Datengewinnung Die Gewinnung der notwendigen Daten für das Migrationspotential wird aus zwei Quellen gespeist: - aus Rohdaten - und - aus den bereinigten Daten. Die Rohdaten werden mit einfachen, noch ungeprüften Fragen („Denken Sie oft/manchmal/selten/nie an eine Arbeitsaufnahme/an ein Auswandern in einem/ in ein EU-Land?") erhoben. Deshalb bilden die Rohdaten nur einen Beginn der Erhebung. U m den Weg zur zweiten, bereits verfeinerten Form zu finden, werden schon in dieser Phase Detailfragen („Beabsichtigen Sie eine kurz- oder eine langfristige Arbeitsaufnahme, oder denken Sie überhaupt an ein Auswandern?") gestellt. Die hier gewonnenen und kanalisierten Antworten erlauben uns den Übergang zur zweiten Quelle des Migrationspotentials. Die bereinigten Daten erhalten wir aus zahlreichen, möglichst detaillierten Gesprächen ( „ I n welchem Land/In welchem Beruf wollen Sie arbeiten; W i e hoch sollte Ihr Entgelt sein?", usw.). Hier steht i m Mittelpunkt die Erforschung der eigentlichen Gründe der Migrationsabsicht. Spätestens in dieser Phase kann man die „Abenteuerlustigen" („Egal wohin ich auswandere . . . " „Egal, wie viel ich verdienen werde . . . " ) von den tatsächlichen Migrations willigen unterscheiden. So erhält sukzessive das konkrete M i grationspotential Konturen und Inhalte. Entsprechende internationale Werte des Migrationspotentials zeigen, dass die konkreten migrationswilligen Männer zwi-

Asyl und EU-Erweiterung

311

sehen 20-50 Jahre alt und eher in „unteren" Berufs- und Beschäftigungsschichten positioniert sind. Diese Studie - als Modelluntersuchung - bezieht sich zwar auf beide Länder, auf Österreich und Ungarn, doch wird das Schwergewicht auf die ungarische Arbeitsmarkt- und Migrationsseite gelegt - und das vor allem aus zwei Gründen: Ersten gibt es i m deutschsprachigen Raum zahlreiche Studien und Publikationen zur Gastarbeiter-Situation in Österreich und zweitens entsteht durch die „Verschiebung" zunächst der EU-Außengrenze und später der „Schengen"Grenze von West- nach Süd- und Ostungarn eine völlig neue Situation. Die Nordgrenze Ungarns - zur Slowakei - spielt durch den gemeinsamen EU-Beitritt beider Länder keine gravierende Rolle. Die großen Fragezeichen sind die ungarischen Grenzen zu Serbien-Montenegro, zu Rumänien und zur Ukraine, die in absehbarer Zeit mit keiner E U - M i t gliedschaft rechnen können. Da der Lebensstandard in Kroatien kaum schlechter als in Ungarn, und auch dieses Land alsbald EU-Mitglied wird, ist diese Grenze für unsere Untersuchung nicht relevant. Aus diesem Grund wird sich der überwiegende Teil dieser Untersuchung mit zwei Fragen beschäftigen: M i t der gegenwärtigen Situation am ungarischen Arbeitsmarkt - immer i m Hinblick einer Migration - um mit dem zu erwartenden Migrationspotential, vor allem der ungarischen Minderheiten in Serbien-Montenegro, Rumänien und in der Ukraine und darüber hinaus - soweit es für uns erfassbar ist - mit allgemeinen Fragen der Sicherung an den „neuen" EU-Grenzen Ungarns.

I I I . Politische Ausgangssituation Entgegen anders lautenden Meinungen würden, von Österreich aus gesehen, „die Grenzen zu Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien vorerst nicht fallen. 1 Die „Schengener-Grenze" wird mit der Aufnahme der neuen Mitglieder erst nach einer Übergangszeit (höchstwahrscheinlich am 01.01.1907) an die Ost- und Nordostgrenzen dieser Länder verlegt. Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Länder, ihren Grenzschutz auszubauen. Parallel zum Ausbau von „sicheren Grenzen" müssen - um die zu erwartenden Migrationsströme entsprechend kontrollieren zu können - die neuen M i t glieder die Visapflicht-Regelungen der E U übernehmen. Diese Aufgabe wird vor allem für Ungarn problematisch sein, da die großen ungarischen Minderheiten in Serbien-Montenegro, in Rumänien und in der Ukraine gleichfalls darunter fallen werden. Die Regierung in Budapest beabsichtigt den zu erwartenden M i grationsfluss durch die Einführung vom Visumzwang zu minimieren; zunächst 1

Innenminister Ernst Strasser in einem Interview mit „Die Presse", 05.07.2003.

Peter Stiegnitz

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gegenüber Serbien-Montenegro. A b 1. November 2003 können serbische Staatsbürger nicht mehr wie bisher ohne Sichtvermerk nach Ungarn einreisen. Diese Maßnahmen werden vor allem die Gastarbeitermigration der serbischen Ungarn aus der Wojwodina stark beeinträchtigen. Deshalb werden den Mitgliedern dieser ethnischen Gemeinschaft

„Sonder-Sichtvermerke"

(Genehmigung

für

mehrere Einreisen, bzw. die Erteilung von langfristigen Visa) erteilt. Immerhin handelt es sich um fast 400.000 Menschen. Die Visapflicht zwischen Ungarn und Serbien ist selbstverständlich gegenseitig. - Über die Migrationsprobleme der ungarischen Minderheiten in diesen benachbarten Staaten werden wir noch ausführlich berichten. In Anbetracht der Schnelligkeit der äußerst lukrativen „Schlepperindustrie" machen sich nicht nur österreichische Politiker über „durchlässige" Grenzen Sorgen. „Sichere Grenzen sind eine Top-Priorität der E U " , so der britische Innenminister Lord F i l k i n 2 . Das wirklich politische, vor allem aber humane Problem ist die Durchmischung der „Genfer-Konvektions"-Flüchtlinge mit den M i t gliedern der international erfolgreich operierenden kriminellen Organisationen. Die Sicherung der Schengen-Grenze verlangt immer höhere Ausgaben; Österreich gibt derzeit 300 Millionen Euro jährlich dafür aus. Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten wäre es unangebracht, die politische Situation - jetzt bereits auf Ungarn reduziert - zu „dramatisieren". So rechnet, um nur ein Beispiel zu nennen, das Ungarische Rote Kreuz mit einer starken Reduzierung der irakischen Flüchtlinge, die bisher ein beträchtliches Kontingent in Ungarn stellten. Darüber hinaus rechnet man in Ungarn mit einer Rückentwicklung der illegal Eingewanderten. Das Ende des kommunistischen Systems in Ungarn (1989) und der Beginn einer gesamtstaatlichen demokratischen Ordnung machte auch die „heiklen" Grenzen Ungarns durchlässig. So kamen zwischen 1989 und 2001 über 180.000 Migranten größtenteils illegal nach Ungarn und suchten um politisches Asyl an; nach Auskunft des „Amtes für Migration und Staatsbürgerschaftsangelegenheiten" i m ungarischen Innenministerium erhielten von diesen 180.000 Eingewanderten lediglich 5.400 das Asyl. Ein Großteil der Asylsuchenden kehrte in die Heimatländer zurück, bzw. wanderte weiter. 3 I m Jahre 2002 kamen Asylsuchende aus 87 Staaten nach Ungarn, 90 Prozent waren Illegale. „ D i e Mehrzahl der Illegalen wollte jedoch nicht in Ungarn bleiben, sondern nach Westeuropa weiter gehen", erklärte die Leiterin des Migrationsamtes, Generaldirektorin Dr. Zsuzsanna Vegh 4 2 3 4

Treffen der EU-Außenminister am 27.02.2003 in Brüssel. „Pester Lloyd", Budapest, 02.04.2003. „Kisalföld", Györ, 06.03.2003.

Asyl und EU-Erweiterung

313

Entsprechend dem Wunsch nach Weiterwanderung suchte die Mehrzahl der Migranten in den drei westungarischen Komitaten - Györ-Moson-Sopron, Vas und Zala - um Aufenthaltsgenehmigung an. Die Regionaldirektion des Migrationsamtes bearbeitete i m Jahre 2002 2.317 Niederlassungsbewilligungen; das die Mehrzahl (1.389) um Arbeitsgenehmigungen ansuchte und in Westungarn gegenwärtig Arbeitskräfteknappheit herrscht, wurden nur 122 negativ beschieden. In der zweiten Hälfte der 1990-er Jahren wurden in Ungarn jährlich rund 12.000 Asylsuchende registriert, ihre Zahl sank 2002 auf 7.800 - teilte der Direktor des Migrationsamtes 5 Istvän Dobo m i t . 6 Die meisten Asylsuchenden kamen - diese Zahlen stammen aus den Jahren 2000/2001 - aus Afghanistan, gefolgt von Bangladesh und dem Iran. Ungarn entwickelt sich von einem Migrationstransitland zu einem Zielland. Damit rechnen auch die ungarischen Experten und die zuständigen Regierungsämter; und so ist man bemüht an den - zugegebenermaßen - ziemlich desolaten Zuständen der großen Flüchtlingslager in den Städten Bekescsaba, Bicske, Debrecen und Györ, zu ändern. Ungarn wird nach 2007 - Beitritt zum Schengen-Abkommen - 1.150 Grenzkilometer entsprechend überwachen müssen. Und das ist keine leichte Aufgabe. Seit 1997 wird die technische Ausrüstung des Grenzschutzes sukzessive verbessert; seither wurden Nachtsichtgeräte, Motorboote an den Grenzflüssen und geländetaugliche Fahrzeuge angeschafft. 14.000 Beamte bewachen die „heiklen" Süd- und Ostgrenzen Ungarns. A n den Grenzen zur Ukraine, zu Serbien-Montenegro, zu Rumänien und Kroatien wird es ca. 25 Schengen-entsprechende Grenzübergänge geben. Der ungarische Arbeitsmarkt entwickelte sich, wie schon gesagt, in den letzten Jahren vom Transit- zum Zielland. Es ist jedoch anzunehmen, dass Ungarn, vor allem seine westlichen Komitate, Arbeitskräfte nach Österreich abgeben wird, wie das schon jetzt der Fall ist. Die relativ guten Deutschkenntnisse in Westungarn tragen dazu bei, dass i m burgenländischen Fremdenverkehr, aber auch in der (Schatten-)B au Wirtschaft und i m privaten Haushaltsbereich immer mehr Ungarinnen und Ungarn beschäftigt sind. Diese Tendenz wird nach der EU-Mitgliedschaft Ungarns höchstwahrscheinlich zunehmen, ohne dabei eine unkontrollierte „Überflutung" des österreichischen Arbeitsmarktes zu befürchten. Die ungarischen Migrationsspezialisten Endre Sik und Borbäla Simonovits, beide Experten des Budapester Meinungsforschungsinstitutes T Ä R K I , haben

5 6

Direktion des Einwanderungs- und Asylamtes in Budapest. „Magyar Hirlap", Budapest, 28.02.2003.

314

Peter Stiegnitz

das „Ungarische Migrationspotential 1993-2001" (so ihre gleichnamige Studie) untersucht. Dabei stellten sie unter anderem fest: - In den 1990-er Jahren nahm das Migratioanspotential (konkreter und begründeter Wunsch nach Arbeitsmigration) kaum zu; 2001 wuchs dieses Potential auf das doppelte an. Das vollständige Migrationspotential (kurz- und langfristige Arbeitsaufnahme und Auswanderung) betrug 1993 erst 6,0; 2001 bereits 15. - Diese Werte liegen bedeutend unter dem Migrationspotential der anderen EU-Kandidaten, der Wunsch nach Auswanderung nur knapp unter dem der anderen „neuen" EU-Mitglieder. - Als Zielländer geben ungarische Arbeitskräfte, die ihr Land für eine gewisse Zeit oder ganz verlassen wollen, an erster Stelle Österreich und Deutschland an. Von den anderen EU-Ländern wird in Ungarn noch England als Wunschland erwähnt. - Es überrascht nicht, dass doppelt so viele Männer wie Frauen eine Arbeit i m westlichen Ausland aufnehmen würden. Auch der Altersaufbau überrascht nicht: an erster Stelle stehen die unter 24-Jährigen, gefolgt von der Altersgruppe der 25-34-Jährigen. Der Anteil der über 55-Jährigen zeigt eine vernachlässigbare Größe. - Durchaus interessant ist die Aufteilung des Migrationspotentials nach der Schulbildung: hier stehen an erster Stelle die Berufsschulabsolventen und den Maturanten (Abiturienten). Das geringste Migrationspotential zeigen die Akademiker (Uni-Absolventen). - Die unselbständig Beschäftigten zeigen - das ist auch nicht überraschend ein viel höheres Migrationspotential als die Arbeitslosen, die Selbständigen und Schüler/Studenten. Berufstätige, die in einem ungarischen Unternehmen tätig sind, zeigen ein relativ niedriges Migrationspotential, während Angestellte und Arbeiter, die bei einer ausländischen Firma in Ungarn tätig sind, würden gerne - zumindest einige Jahre - in der jeweiligen Muttergesellschaft i m Ausland arbeiten. - Interessant ist die Einteilung nach der „subjektiven Klassenzugehörigkeit" (Sik/Simonovits): A m ehesten wollen Angehörige der „unteren Mittelklasse" i m Ausland arbeiten, während Menschen, die sich selbst als zur „Arbeiterklasse" oder zu den „unteren Schichten" zugehörig bezeichnen, Ungarn nicht verlassen wollen. - Unselbständig Beschäftigte, die über Computer und Handy verfügen, wollen, genauso wie solche, die in den letzten fünf Jahren in einem EU-Land Urlaub machten, eher die Heimat verlassen, als Angehörige „unterer" sozialer Schichten, die ohne Computer und Handy sind und nur i m eigenen Land Urlaub machen.

315

Asyl und EU-Erweiterung Zusammenfassend

warnen

die

Autoren

dieser

Studie

vor

Schlussfolgerungen; weder die objektive finanzielle Situation

unüberlegten (Einkommen),

noch die subjektive materielle Lage (Zufriedenheit) beeinflussen das Migrationspotential. Hiezu kommt die relativ niedrige Mobilitätsbereitschaft der ungarischen

Beschäftigten und Berufstätigen und ihre gut ausgeprägte „Heimat-

liebe". Während in der kommunistischen Zeit (1948-1989) die Sehnsucht nach dem „goldenen Westen" von Jahr zu Jahr zunahm, sinkt diese Tendenz seit dem Systemwechsel rapid ab. Die Nachrichten über die zunehmende Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern, die labile Einstellung „Ausländern" gegenüber, hemmt, gepaart mit dem gut ausgeprägten Nationalbewusstsein der Ungarn, den „ Z u g in den Westen".

IV. Wer (e)migriert? Die Migrationsexperten Monika Läszlo, Endre Sik und B. Simonovits untersuchten in ihrer Arbeit „Das Migrationspotential in Ungarn zwischen 1993 und 2002" 7 den migrationswilligen Personenkreis. Ihre generelle Fragestellung lautet auf ungarisch: „ K i k migrälnänak?" („Wer würde migrieren?"), wobei der deutsche Begriff „Emigrieren" (endgültiges Verlassen der Heimat) i m Ungarischen diese „Endgültigkeit" nicht kennt; auch kurz- und mittelfristiges Verlassen der Heimat wird damit ausgedrückt. (Daher unser Zwischentitel.) Die Autoren unterscheiden richtigerweise zwischen Auswanderern („Emigranten" in unserem Sinne) und Arbeitsmigranten (Gastarbeiter). Wenig überraschend ist die soziologische Aufschlüsselung beider Gruppen: Während die „ A r m e n " (Menschen, die mit ihrer Wohnsituation, aber auch mit der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind) an auswandern denken, wollen die „Wohlhabenden" (deren „psychisches Kapital" - so die Autoren - über dem ungarischen Durchschnitt liegt) ihre Arbeitskraft i m Ausland nur für eine gewisse Zeit möglichst lukrativ „einsetzen". Erfahrungsgemäß füllen die Zigeuner - in Ungarn nennen sich die Roma, Sinti, Lovara, usw. und ihre Selbstverwaltung „Zigeuner" - die Gruppe der „armen". Der jeweilige Wohnort - mit Ausnahme der Großstädte - beeinflusst den M i grationswunsch nicht. Ob die Befragten in Klein- oder größeren Gemeinden, in kleineren und größeren Städten wohnen, das beeinflusst den Wunsch des Heimatverlassens nicht. Nur in den - in Ungarn relativ wenigen - Großstädten steigt das Migrationspotential. Interessant sind die Extrempositionen in Bezug auf kurzfristige Arbeitsaufnahme i m Ausland: Menschen, die ihr Leben als „besonders schlecht" und sol-

7

„Menni vagy maradni?" („Bleiben oder Gehen"), Budapest 2003.

Peter Stiegnitz

316

che, die es als „besonders gut" beschreiben, würden gerne eine gewisse Zeit i m „Westen" arbeiten. Die Autoren dieser Studie machen uns auf zwei interessante (Detail-)Phänomene aufmerksam: - Entgegen den Erwartungen zeigen weder die Arbeitslosen, noch die Schüler/ Studenten ein hohes Migrationspotential; der Wunsch auf eine eher kurzfristige Arbeitsaufnahme liegt zwar bei diesen beiden Gruppen über dem Durchschnitt, doch die Auswanderungsabsicht weit unter dem gesamtungarischen Level. - Das mit Abstand höchste Migrationspotential weisen Gelegenheitsarbeiter auf, die über kein reguläres Arbeitsverhältnis verfügen. Während bis zum Jahre 2002 - als in Ungarn neue gesetzliche Bestimmungen die Arbeitsmigration erleichterten - eher die „Optimisten", die mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in Ungarn rechnen - das Land verlassen wollten, sank ihr Anteil i m Jahr 2002; sie wären höchstens bereit, einen kurzzeitigen Job i m Westen anzunehmen. Das demoskopische Institut T Ä R K I hat i m Frühjahr 2001 das konkrete M i grationspotential der Ungarn untersucht; „konkret" deshalb, weil die Fragen sich auf die Zeit nach der EU-Aufnahme Ungarns bezog. Dabei stellte sich heraus, dass die überwiegende Mehrheit der repräsentativ Befragten (79%) nicht an eine Arbeitsmigration denkt, nur 21 Prozent möchten in einem EU-Land arbeiten. Die allgemein niedrige Mobilitätsbereitschaft der Ungarn beweist auch die Tatsache, dass der größte Anteil unter den 79-Prozent „Verweigerern" mit 62 Prozent behaupten, dass sie „ganz bestimmt nicht" an eine Arbeitsmöglichkeit in einem (westlichen) EU-Land denken.

V. Das „Statusgesetz" und die Folgen A m 19. Juni 2002 hat das ungarische Parlament („Orszäggyüles" = Bundesversammlung), das so genannte „Statusgesetz", ursprünglich noch unter der vorhergehenden konservativen Regierung - der damalige Regierungschef Viktor Orbän sprach von einer „Einheit der ungarischen Nation" - beschlossen, in einer neuen, modifizierten Form erneut bestätigt. Zwar wurde der Name des „Statusgesetzes" auf „Begünstigungsgesetz" geändert, doch der eigentliche Inhalt blieb unverändert; es handelt sich dabei um eine Bevorzugung der ungarischen Minderheiten in den angrenzenden Ländern (ausgenommen Österreich). Angehörige dieser Minderheiten, die über einen so genannten „Ungarnausweis" verfügen, erhalten einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt. Dass gegen dieses Gesetz vor allem die Slowakei, deren Bevölkerung aus zehn Prozent Ungarn besteht, und Rumänien mit seinen rund 1,5 Millionen Ungarn, Sturm lau-

Asyl und EU-Erweiterung

317

fen, soll hier nur nebenbei erwähnt werden. Vom Standpunkt des Migrationsflusses wird nach Aufnahme Ungarns - und der Slowakei - in die E U dieses Thema in der Ukraine, in Rumänien und in Serbien-Montenegro, wo gleichfalls große ungarische Minderheiten leben, virulent. Da die Slowakei höchstwahrscheinlich mit Ungarn gemeinsam in die E U aufgenommen wird, trachtet die Regierung in Budapest, das „Statusgesetz" (auch „Ungarngesetz" genannt) gegenüber Pressburg zu entschärfen. So werden nach einer Übereinkunft zwischen den beiden Außenministern ungarische Familien in der Slowakei, die ihre Kinder in ungarischsprachige Schulen schicken, nicht mehr direkt unterstützt. Ohnedies hätten diese Familien jährlich nur 20.000 Forint (80 Euro) erhalten. Dafür werden kulturelle und Bildungsaktivitäten der ungarischen Minderheit aus Budapest finanziell unterstützt. Auch Bukarest gegenüber musste Budapest entsprechende Konzessionen einräumen. So erhalten nicht-ungarische Familienmitglieder in ungarisch-rumänischen Gemischtehen keinen „Ungarnausweis" mehr. Gleichfalls wurden die 20.000-Forint-Hilfen für rumänische Ungarnfamilien, die ihre Kinder in zweisprachige Schulen schicken, gestrichen. M i t gewisser Genugtuung haben die zuständigen Kreise in Pressburg und in Bukarest registriert, dass die Medgyessy-Regierung den Passus der „einheitlichein) ungarische(n) Nation" aus dem „Ungarngesetz" gestrichen hat. Interessant, zunächst für den ungarischen Arbeitsmarkt, ist der Anteil derjenigen Menschen, die in einem der fünf angrenzenden Länder leben und sich um einen „Ungarnausweis" bemühen; diese Menschen wollen höchstwahrscheinlich alsbald in Ungarn arbeiten. (In Klammer steht die offizielle Gesamtzahl der jeweiligen ungarischen Minderheit): Rumänien

(1,5 Millionen):

211

Slowakei

(520.000):

41

Serbien

(340.000):

71

Ukraine

(156.000):

78

Kroatien

(16.000):

3

In den fünf benachbarten Ländern leben rund 2,5 Millionen Ungarn und lediglich 404 unter ihnen suchte um einen „Ungarnausweis" an. Dass die Zahl der tatsächlichen ungarischen Minderheiten über der 2,5-Millionen-Grenze liegt, weiß man aus Erfahrung, da man Volkszählungsergebnisse in den „neuen" Demokratien - vor allem bei solch heiklen Fragen, wie es die der Minderheiten ist - mit äußerster Vorsicht bewerten muss. Die ungarische Arbeitsmarktverwaltung legte eine jährliche Kontingentierung von 81.000 Gastarbeitern fest; doch nur die Hälfte davon wurden tatsächlich in

318

Peter Stiegnitz

Anspruch genommen. Genauso wie in nahezu allen EU-Ländern kann auch in Ungarn die illegale Beschäftigung von Ausländern - erst recht nicht statistisch - erfasst werden. W i e stark die nationalistische Politik der ungarischen Minderheiten ist, zeigt das Bestreben der Serbienungarn (Wojwodina) nach doppelter Staatsbürgerschaft. Die serbische Regierung reagierte - zunächst überraschend - positiv auf diesen Wunsch. Die Belgrader Politik bestimmen anscheinend nicht nationalistische, sondern ökonomische Kriterien. Da Serbiens Weg in die E U noch recht weit ist, möchte das Land nach Ungarns EU-Aufnahme aus dem Naheverhältnis der Doppel Staatsbürger profitieren. Budapest reagiert - i m Gegensatz zu Belgrad - negativ auf den Wunsch der Wojwodiner-Ungarn, da man in der Doppelstaatsbürgerschaft die Gefahr einer nahezu kollektiven Auswanderung

nach Ungarn befürchtet,

und außerdem

nimmt Budapest an, dass Brüssel diese Bestrebungen kaum gutheißen würde. Natürlich ist für die ungarische Regierung die nächste EU-Erweiterung von größtem Interesse; die Ungarn wollen - etwas salopp formuliert - von Anfang an „am Ball bleiben". Deshalb möchten die Ungarn an den künftigen EU-Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien teilnehmen. Als Grund werden „gemeinsame Interessen" (Umweltschutz, Grenzverkehr, regionale Kooperationen, Verkehr) angegeben. Aus bisher noch wenig bekannten Gründen protestierte Rumänien gegen dieses ungarische Ansinnen. Höchstwahrscheinlich spielen dabei die für Rumänien eher ungünstigen Auswirkungen des ungarischen „Statusgesetzes" eine große Rolle. Auch hier wiederum rückt die nationale wie übernationale Migration in den Mittelpunkt politischer Entscheidungen. (Übrigens: Der rumänische Protest gegen eine Einbeziehung Ungarns in die EU-Verhandlungen wurde vom zuständigen Vorsitzenden der EU-Außenministerkonferenz,

Franco Frattini, negativ

bewertet. Frattini versprach den Ungarn künftighin mehr Informationen über die Brüsseler Verhandlungen mit den anderen Beitrittskandidaten). Während die ungarischen Minderheiten in Serbien und in Rumänien - vor allem aus ökonomischen Gründen - eigenständig bleiben, geht die Zahl der Ungarn in der Slowakei empfindlich zurück. So sank z.B. die Zahl der 512 slowakischen Gemeinden, in denen vor zwei Jahrzehnten noch 20 Prozent der Bevölkerung ungarisch sprachen, jetzt auf knapp unter 500. Diese 20-Prozent-Grenze ist für die ungarische Minderheit in der Slowakei entscheidend, da darunter Ungarisch keine Behördensprache mehr ist. Nach Österreich ist der Assimilationsgrad der Ungarn in der Slowakei am größten. Daher - und wegen des EU-Beitritts der Slowakei - rechnen ungarische Experten kaum mit nennenswerten Migrationsströmen aus der Südslowakei.

Asyl und EU-Erweiterung

319

Begriffserklärung Begriffsbestimmung MIGRATION

= Wanderung von Individuen, oder Gruppen i m geographischen Raum, die mit einem Wechsel des Wohnsitzes verbunden ist.

INTEGRATION

= Eingliederung in ein größeres Ganzes

ASYL

= Aufnahme und Schutz für Verfolgte

SEGREGATION

= Absonderung einer Gruppe aus unterschiedlichen Gründen („freiwillige Gheottisierung")

AiB

= Asyl mit Integrationsbereitschaft

AsB

= Asyl mit Segregationsbereitschaft

Μ + S

= - I (Migration und Segregation schließen Integration aus)

Aib

= I (Asyl mit Integrationsbereitschaft ermöglicht Integration)

Asb

= - I (Asyl mit Segregationsbereitschaft schließt Integration aus)

VI. Migrationen aus Rumänien Die ungarische Minderheit in Rumänien ist die größte (1,5-2 Millionen Menschen) und lebt unter schwierigsten Bedingungen. Rumäniens Weg in die E U wird sicherlich, neben wirtschaftlichen auch von demokratie-politischen Gegebenheiten - wie das Land z.B. mit seinen Minderheiten umgeht - abhängen. Nahezu die gesamte ungarische Minderheit in Rumänien lebt in Siebenbürgen (auf ungarisch „Erdely"). Dieses relativ große Gebiet i m Karpatenbecken erfreut sich in Ungarn einer nahezu mythischen Überhöhung. So wird z.B. in Ungarn behauptet, dass man hier, in „Erdely" das „schönste und reinste Ungarisch" hören kann. Deshalb genießen die in Siebenbürgen lebenden Ungarn eine besondere Wertschätzung in der „alten Heimat"; zumindest so lange, so lange sie in Rumänien bleiben und sich ausschließlich dort für ihr „Ungarntum" einsetzen. Gelingt ihnen jedoch die „Heimkehr" in ein Land, das sie kaum kennen,

Peter Stiegnitz

320

so werden sie nur selten mit „offenen Armen" aufgenommen; der kalte W i n d der Ausländerfeindlichkeit schlägt auch ihnen entgegen, ähnlich den russischen „Aussiedlern" in Deutschland. Das ursprüngliche, aber ebenso das revidierte „Statusgesetz" sichert auch den „ungarischen Rumänen" einen erleichterten Zugang zum ungarischen Arbeitsmarkt. Zwar wurde - nach Protestnoten aus Bukarest - diese Erleichterung auf alle rumänische Staatsbürger ausgedehnt, doch genießen die Arbeitskräfte aus der ungarischen Minderheit schon aus sprachlichen Gründen, einen entsprechenden Vorzug. Migrationsbewegungen werden nahezu immer von politischen und von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. So auch die Situation der ungarischen Minderheit in Rumänien. Während die offizielle Vertretung der Ungarn (RMDSZ), der Koalitionspartner der rumänischen Bundesregierung, mit der gegenwärtigen Situation i m Prinzip einverstanden ist, bemühen sich national-konservative Kreise unter Leitung des reformierten Bischofs Läszlo Tökes (Temesvär Timisoara), eine politische Gegenbewegung zu installieren. Diese neue Bewegung w i l l für das so genannte „Szeklerland", wo die meisten Ungarn leben, eine „Autonomie-a-la-Südtirol" erreichen. Sollten diese Autonomiebestrebungen scheitern, so muss Ungarn mit einer vermehrten Zuwanderung, zumindest mit einer verstärkten Arbeitsmigration aus dem Szeklerland, rechnen. Das wiederum wird indirekt auch den Druck auf den österreichischen Arbeitsmarkt verstärken. Gesamtsiebenbürgische Migrationsuntersuchungen gibt es noch keine. Umso interessanter ist eine Erhebung in zwei grenznahen Dörfern, die Sändor Oläh durchführte und publizierte. 8 Die beiden Dörfer sind, schon den Namen nach rein ungarisch, sie heißen Homorodalmäs und Lövete und befinden sich beide i m „Szekelyföld" („Seklerland"). (Die ungarische Bevölkerung in Siebenbürgen heißt „Szekely", auf Deutsch: „Sekler"). Die beiden untersuchten Dörfer gelten selbst in rumänischen Verhältnissen als „rückständig", „arm" und „depressiv". Dieses, in jeder Hinsicht unterentwickelte Gebiet ist reines Agrarland, doch kaum technisiert und leidet unter einer sehr hohen Arbeitslosenrate. Das gesamte Gebiet war - und das seit Ende des Ersten Weltkrieges - ein typisches „Auswanderungsland". Wer konnte, wanderte bis nach Kanada, bzw. der U S A aus, oder „pendelte" zumindest nach Budapest oder in die seit 1920 zu Rumänien gehörenden Städte, wie Brasso oder Kolozsvär. Die beiden ungarisch-rumänischen Dörfer sind für nahezu alle anderen Gastarbeiter-„Export"-Gebiete Siebenbürgens repräsentativ. Daher sind die hier erfragten Motive für eine Arbeitsaufnahme i m Ausland (zunächst in Ungarn) für die gesamte Großregion anwendbar: „Menni ..." а. а. O.

Asyl und EU-Erweiterung

321

- Die ökonomischen und sozialen Gründe (Arbeitslosigkeit, höhere Verdiensterwartung, zu große Familie, usw.) überwiegen; - die Berufs- und Bildungsgründe (Wunsch nach Weiterbildung, Erlernen neuer, zukunftssicherer Berufe, usw.) folgen an zweiter Stelle; - entscheidend sind auch die Prestigegründe (hohes Ansehen zu Hause); - die Generationsgründe (die meisten Migrationswilligen sind zwischen 20-30 Jahre alt, die am wenigsten Land und Dorf verlassen wollen, über 60) sind einleuchtend. Die Frage „Wo?" und „Unter welchen rechtlichen Bedingungen?" die Siebenbürger Gastarbeiter in Ungarn tätig sein möchten, sind - i m Hinblick der zu erwartenden Verschiebung der Schengen-Grenze - auch für den österreichischen Arbeitsmarkt nicht uninteressant. Die meisten Arbeitsmigranten sind in der Land- und in der Bauwirtschaft beschäftigt. Während das Gros der Landarbeiter illegal arbeitende Saisonniere sind, verfügt der Großteil - wenn auch keineswegs alle - der Bauarbeiter über Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen. Da in Rumänien in den letzten Jahrzehnten die international notwendigen Anpassungen an die neuen Erfordernisse nahezu gänzlich ausblieben, können die Gastarbeiter aus Rumänien nur in beruflichen Hilfsbereichen eingesetzt werden. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass nach Ungarns EU-Beitritt diese Arbeitskräfte auch in Österreich ihr „ G l ü c k " suchen werden. Die ungarischen Migrationsexperten Ende Sik und B. Simonovits haben das Migrationspotential ungarischer Minderheiten in vier benachbarten Ländern untersucht 9 - und zwar in der Südslowakei, in Siebenbürgen, in der KarpatoUkraine und in der Wojwodina (Serbien). Das sind die ungarischen Minderheiten, die - nach Budapester Lesart - i m "Karpatenbecken" leben; diese Landstriche waren einst Teil von „Groß-Ungarn", das erst 1919/1920 i m TrianonerFriedensvertrag zerschlagen wurde. Knapp die Hälfte der ungarischen Minderheiten i m „Karpatenbecken" würden gerne Arbeit jenseits ihrer Grenzen suchen. A n erster Stelle steht - aus sprachlichen Gründen verständlich - Ungarn, an zweiter Deutschland und nur Ungarn aus der Südslowakei würden, wenn sie keine Arbeitsmöglichkeit in Ungarn erhalten würden, „auch in Österreich" leben und arbeiten. Das höchste Migrationspotential zeigen die Ungarn in Siebenbürgen und in der KarpatoUkraine - wo der Lebensstandard außerordentlich niedrig ist - , das geringste weisen die Südslowaken auf. Interessant ist die Relation des Anteils der jungen Menschen am ungarischen Arbeitsmarkt (nur 13 Prozent sind unter 25) und unter den Arbeitsmigranten (22 Prozent sind unter 25). Diese eine Tatsache könnte sich bei einer globalen 9

„Menni ...": a.a.O.

21 FS Hablitzel

Peter Stiegnitz

322

Erhöhung der Arbeitslosigkeit auf den ungarischen Arbeitsmarkt ungünstig auswirken. Die künftigen Arbeitsmigranten aus dem Karpatenbecken sind nicht „wählerisch"; sie sind bereit, „jedwede Arbeit" anzunehmen. Wenn man die sehr niedrige Berufsbildung der Frauen in diesen Ländern kennt, dann versteht man, warum das Gros der weiblichen Migranten „nur eine einfache Arbeit, die keine besonderen Kenntnisse verlangt" sucht. Dementsprechend ist der Anteil der besser ausgebildeten Arbeitsmigranten sehr gering. Arbeitsmigranten aus den „unteren" Sozial- und Berufsschichten sind auf ein bestimmtes Netzwerk der Hilfe ihrer bereits in den Zielländern lebenden und arbeitenden einstigen „Landsleute" angewiesen. So auch i m Fall der Karpatenungarn, die -

zumindest - vorläufig nach Ungarn gehen und dort arbeiten

möchten. Das „Informationsnetz" funktioniert in solchen Fällen dort am besten, wo die Chancen der neuen Migranten, z.B. i m Fall von Arbeitskräfteknappheit, besonders groß sind. Auch bei der Wohnraumbeschaffung funktioniert dieses Netzwerk zufrieden stellend. Ex-Jugoslawische und türkische Gastarbeiter erfüllten diese „Netzfunktion" in Österreich und in Deutschland in den letzten Jahrzehnten besonders erfolgreich. Die Hälfte aller potentiellen Arbeitsmigranten aus dem Karpatenbecken wollen nach Budapest; die andere Hälfte würde einen Arbeitsplatz auch in anderen Teilen Ungarns aufnehmen. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Großteil der M i granten aus Serbien und der Ukraine in Ungarn bleiben w i l l ; und das aus zwei Gründen: einerseits aus sprachlichen - ihre einzige Fremdsprache, die sie beherrschen, ist Ungarisch - und andererseits weil ihre mangelhafte berufliche Ausbildung den weiteren Weg, vorwiegend nach Österreich, unmöglich machen würde. Etwas anders ist die Situation der zahlenmäßig eher kleinen ungarischen Minderheit in Kroatien. Die historisch bedingte, eher schlechte Beziehung zwischen Ungarn und Kroatien - die „Magyarisierung" in Kroatien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hinterließ unangenehme Spuren - hemmt die Zuwanderung nach Ungarn. Das gut funktionierende kroatische Netzwerk in Österreich würde das Leben der künftigen Arbeitsmigranten, vor allem i m Burgenland, wo eine eigene Sprache (Burgenländisch-Kroatisch) gesprochen wird, aber auch i m Wiener Ballungsraum, entsprechend erleichtern. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die kaum 16.000 kroatischen Ungarn in den meisten ungarischen Migrationsstudien völlig vernachlässigt werden. Die Migrationsexpertin B. Simonovits hat in einer eigenen Untersuchung („Die geplanten Zielländer der Arbeitsmigration aus dem Kreis der KarpartenU n g a r n " ) 1 0 den zu erwartenden Migrationsfluss der Ungarn in der Slowakei, in 10

„Menni ..."; а. а. O.

Asyl und EU-Erweiterung

323

Siebenbürgen, in der Ukraine und in Serbien analysiert. Auch sie ließ die kroatischen Ungarn unberücksichtigt. Diese Untersuchung zielt auf drei Destinationen. So wurde gefragt: „ W o wollen Sie eine Arbeit aufnehmen: „ I n der großen Welt", „ N u r Ungarn" und „Ungarn und in der großen Welt". Für die österreichische Arbeitsmarktsituation ist nur die erste Gruppe („große Welt") von Interesse. Da diese Erhebung in der Zeit durchgeführt wurde, als Slowakiens EUBeitritt noch nicht konkret war, sind für uns nur die drei anderen Heimatländer der Arbeitsmigranten von Bedeutung. Während sich 18 Prozent der befragten Ungarn in Serbien für die „große Welt" ausgesprochen haben, wollten nur 12 Prozent aus Rumänien und nur 1 Prozent aller ungarischen Migrationswilligen aus der Ukraine in die „große Welt" auswandern. Analog den Ungarn aus Kroatien wollen nicht weniger aus der Wojwodina (Serbien) ihr Lebens- und Arbeitsglück in der „großen Welt" finden. Auch hier spielen die jeweiligen Gastarbeiter-Netzwerke - in Österreich lebt eine relativ starke serbische Segregation - eine bedeutende Rolle, die ihnen „ i n der großen Welt" gerne helfen würde.

VII. Schlussfolgerung Nach dem Beitritt Ungarns in die Europäische Union muss zunächst Ungarn, aber in der Folge auch Österreich, mit einer vermehrten Arbeitsmigration rechnen. Der größte Zufluss wird wahrscheinlich aus Serbien und aus Rumänien nach Ungarn gelangen; daher auch der Wunsch in diesen Ländern nach Doppelstaatsbürgerschaft. Die Weiterwanderung der Arbeitsmigranten aus Ungarn nach Österreich, bzw. nach Deutschland wird wahrscheinlich - vor allem aus sprachlichen Gründen nicht allzu bedeutend sein. Es wäre allerdings nützlich, durch weiterführende Erhebungen „vor Ort" die konkrete Situation der zu erwartenden Arbeitsmigration festzustellen.

Die Rolle der nationalen Parlamente in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union Von Albrecht Weber Die gegenwärtige verfassungsrechtliche Situation der E G / E U i m Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Verfassungen ist in jüngerer Zeit verstärkt unter dem Gesichtspunkt der normativen Verklammerung Pernice),

als „Verfassungsverbund"

„Auffang- und Gegenseitigkeitsordnung" (P. M. Huber),

naler Föderalismus" (von Bogdandy),

„Verbundverfassung" (Oeter)

(I.

„supranatiooder eben

als „Staatenverbund" (BVerfG) bezeichnet worden. 1 Diese Beschreibung einer wechselseitigen Ergänzung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaften dürfte durch den künftigen Vertrag über eine Verfassung für Europa i m Falle seiner Annahme durch die Regierungskonferenz und der Ratifikation noch erheblich an Bedeutung gewinnen. So werden die föderativen Strukturen der Union gestärkt, wenngleich auch konföderale Gegengewichte bestehen bleiben. 2 Darüber hinaus ließe sich neben einem „föderativen" Verfassungsverbund vielleicht künftig auch von einem „demokratischen" Verfassungsverbund sprechen, wenn man einzelne Elemente demokratischer Legitimationsstärkung betrachtet.

I. Nationales Europaverfassungsrecht Spätestens seit Maastricht ist die stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente am Willensbildungsprozess der Europäischen Gemeinschaften erkennbar. Dies gilt in besonderer Weise für die grundlegende Änderung des Art. 23 durch verfassungsänderndes Gesetz vom 21.12.1992. 3 In Art. 23 Abs. 1 liegt eine verfassungsrechtliche Struktursicherungsklausel vor, wonach die Union „demokra1

Zu den einzelnen Begriffen vgl. bereits /. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVdStRL 60 (2001), S. 208 ff.; P. M. Huber, ebd., S. 222 ff.; ders., Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, S. 574 ff. (593 ff.); A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999; S. Oeter, Föderalismus, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 59 ff. (110 ff.): BVerfGE 89, 155 ff. 2 Vgl. A. Weber, Die föderale Grundstruktur der Europäischen Union im Verfassungsvertrag für Europa (demnächst in EuR 2005 (1)). 3 BGBl. I, S. 2086.

326

Albrecht Weber

tischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen" sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem „Grundgesetz i m wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" gewährleistet. Während damit an die Union selbst demokratische Anforderungen gestellt werden 4 , ist auch die Mitwirkung i m Prozess der Beschlussfassung der Europäischen Union, die schon vorher praktiziert und schrittweise ausgebaut wurde 5 , verfassungsrechtlich verankert. Die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat bei der Beschlussfassung der Europäischen Union durch frühestmögliche

Unterrichtung

(Art. 23 Abs. 2 GG), die Möglichkeit der Stellungnahme für den Bundestag und deren Berücksichtigung durch die Bundesregierung bei den Verhandlungen (Art. 23 Abs. 3 ) 6 sowie die Beteiligung des Bundesrates an der Willensbildung des Bundes unter besonderer Berücksichtigung der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung i m Falle ausschließlicher bzw. konkurrierender Bundeskompetenzen oder ausschließlicher Kompetenzen der Länder (Art. 23 Abs. 4 - 6 ) 7 beruhen auf dem Kompensationsgedanken, wonach für die Kompetenzverluste der Länder bei fortschreitender Unitarisierung und Europäisierung ein Ausgleich zu schaffen sei; zugleich spiegeln sie eine Verstärkung der mittelbaren demokratischen Legitimation, die sich aus der Beteiligung der Regierung wie eines Vertreters des Bundesrats in den jeweiligen Verhandlungen des Ministerrates ergibt. Das BVerfG hat bekanntlich in seinem Maastricht-Urteil von einem Verbund demokratischer Staaten gesprochen, dessen Legitimation primär auf der über die nationalen Parlamente vermittelten

„demokratischen Legitimation"

und

„Einflussnahme" erfolgt, zu der eine Repräsentation der Staatsvölker durch ein europäisches Parlament hinzutrete (ergänzende demokratische Legitimation). 8 Man mag über die Umschreibung der demokratischen Legitimation nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus faktischer Sicht unterschiedlicher Auffassung sein, jedenfalls hat auch das BVerfG die wachsende Bedeutung der unmittelbaren, unitarischen Legitimation durch das Europäische Parlament anerkannt. 9 Aus der Sicht der primären Legitimationsabstützung über die Staatsvölker folgert das BVerfG nicht nur eine Begrenzung der Aufgabenbefugnisse der Europäischen Gemeinschaften, die immanent i m demokratischen Prinzip lägen, son4 Vgl. zum Demokratiedefizit G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60, S. 246 (249 f.) m.w.N. 5 Vgl. das Zuleitungsverfahren nach Art. 2 ZustimmungsG von 1957; das modifizierte Verfahren von 1979; das Länderbeteiligungsverfahren; das Bundesratsverfahren nach Art. 2 EEAG von 1986. 6 s. Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.03.1993, BGBl. I, S. 311. 7 s. das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.03.1993, BGBl. I, S. 311. 8 BVerfGE 89, 155 (184). 9 „Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union Schritt halten und mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt."

Die Rolle der nationalen Parlamente

327

dem auch auf einen Kernbestand von Aufgabenfeldern, die dem Staat verbleiben müssten. Daraus folgert das BVerfG unter anderem, dass dem deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben müssten. Auch wenn das Maastricht-Urteil kaum Aussagen zur neuen Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG traf 1 0 , ist die Bedeutung der Integrationsermächtigung für den Souveränitätstransfer und als Rechtsanwendungsbefehl erkennbar. Entsprechende Regelungen, die den Kompetenzverlust der nationalen Parlamente ausgleichen und die demokratische Legitimation wieder zurückzugewinnen suchen, finden sich etwa in Frankreich und Dänemark i m Verfassungsrang sowie in den drei letzten Beitrittsländern (Schweden, Österreich, Finnland). 1 1 Ein summarischer Überblick zeigt, dass fast alle Mitgliedstaaten Informationsrechte der Parlamente vorsehen, nur in Großbritannien und Irland sind diese kraft Verfassungskonvention vorgeschrieben. 12 Ein weiteres Element ist die Mitwirkung der Parlamente i m gemeinschaftlichen Rechtssetzungsprozess, die freilich unterschiedlich ausgestaltet ist. Während in Großbritannien ein Bericht des Select Committee on European Legislation genügt und in Deutschland eine Berücksichtigung der Stellungnahmen des Bundestages ausreicht, ist der Mitwirkungsgrad in Österreich durch eine regelmäßige Bindung an die Stellungnahmen (Art. 23e Abs. 2 B - V G ) 1 3 und in Dänemark durch einen Zustimmungsvorbehalt bzw. ein Mandat des Parlamentes erhöht. Beide Verfassungen kennen auch Berichtspflichten der Regierung an das Parlament, die eine nachträgliche Kontrolle ermöglichen. 1 4 Deutlich schwächer ist die Mitwirkung nach Art. 88-4 der französischen Verfassung, der die Vorgaben der Entscheidung des Conseil Constitutionnel (Maastricht I) umsetzt. Danach ist die Regierung verpflichtet, der Nationalversammlung und dem Senat alle Entwürfe oder Vorschläge von Rechtsakten der EG bzw. E U vorzulegen, die gesetzliche Bestimmungen enthalten. Die Kammern können zu diesen Vorschlägen und Dokumenten allerdings nur Entschließungen verabschieden. Die M i t w i r k u n g des griechischen Parlaments war ursprünglich darauf beschränkt, dem Parlament vor Ende der Sitzungsperiode

10

BVerfGE 89, 155 (172, 184). A. Maurer/W. Wessels (Hrsg.), National Parliaments on Their Ways to Europe: Losers or Latecomers, 2001; H. G. Kamann, Die Mitwirkung der Parlamente der Mitgliedstaaten an der europäischen Gesetzgebung, 1997; Ρ. Weber-Panariello, Nationale Parlamente der Europäischen Union, 1995, S. 47 f. 11

12

13

Kamann

(ob. A n m . 11), S. 124 f.

Vgl. H. Schaff er, Österreichs Beteiligung an der Willensbildung der Europäischen Union, insbesondere an der europäischen Rechtssetzung, ZÖR 50 (1996), S. 3 (54 f.). 14 Vgl. C. Grabenwarter, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 314.

Albrecht Weber

328

einen Bericht über die Entwicklung der europäischen Angelegenheiten vorzulegen. Seit 1990 gibt es eine aus 25 Mitgliedern bestehende Europakommission mit konsultativen Kompetenzen, an deren Empfehlungen keine Bindung besteht, so dass ihr Einfluss als gering veranschlagt w i r d . 1 5 M i t dieser unterschiedlich ausgestalteten Mitwirkung gibt es freilich eine variable Verstärkung der mittelbaren demokratischen Legitimation, wobei hier die Kontrolle des Parlaments gegenüber der Regierung an die Stelle des weitgehenden Verlusts der Gesetzgebung t r i t t . 1 6

II. Die europaverfassungsrechtliche Rolle der nationalen Parlamente 1. Entwicklung

bis zum

Konventsentwurf

Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und dem Vertrag von Maastricht (1991) existiert ein Ausschuss nationaler Vertreter der Europaausschüsse der jeweiligen Parlamente ( C O S A C 1 7 ) . Eine institutionelle Verankerung dieser Form der parlamentsvermittelten

Legitimation

erfolgte

zunächst

nicht.

Im

Maastrichter Vertrag wurden dann mit der „Erklärung Nr. 13 zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union" zum ersten

Mal

ausdrücklich die nationalen Parlamente erwähnt. Die Notwendigkeit wird anerkannt, „eine größere Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente an den Tätigkeiten der Europäischen Union zu fördern" und daher „den Informationsaustausch zwischen den einzelstaatlichen Parlamenten und dem Europäischen Parlament zu verstärken". Die einzelstaatlichen Parlamente sollen daher rechtzeitig zur Unterrichtung und zur Prüfung über die Vorschläge der Rechtsakte der Kommission verfügen. Die Erklärung, auch wenn sie nicht Verfassungsrang aufweist, aber doch als auslegendes Instrument i m Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention (Art. 31 Abs. 2 W V K ) anzuwenden sein dürfte, war durchaus von Bedeutung für die innerstaatlichen Debatten um die Aufwertung der M i t wirkungsrechte der Parlamente. 18 M i t dem Vertrag vom Amsterdam wurde diese Erklärung als Protokoll Nr. 9 angenommen und aufgewertet. Das Amsterdamer Protokoll enthielt eine weitgehende Unterrichtungspflicht der Kommission i m Hinblick auf die Konsultation von Dokumenten und Mitteilungen. Die Akte der Gesetzgebung, die der Rat nach Art. 207 Abs. 3 E G V vorlegen muss, 15

V g l . Kamann

(ob. A n m . 11), S. 112 f.

16

Grabenwarter

(ob. A n m . 14), S. 316.

17

„Conference des organes specialises dans les affaires communautaires et europeennes des parlements de Γ Union europeenne". Zur COSAC vgl. Pohle, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die nationalen Parlamente. Bietet COSAC einen Ausweg?, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1 (1998), S. 77 f. 18 s. A. Maurer, National Parliaments after Amsterdam: Adaptation, Recalibration and Europeanization by Process, S. 8.

Die Rolle der nationalen Parlamente

329

sind den Regierungen rechtzeitig zur Verfügung zu stellen, damit die einzelstaatlichen Parlamente unterrichtet werden können. Gleichzeitig wird eine M i n destfrist von sechs Wochen festgelegt zwischen dem Zeitpunkt, in dem ein Rechtsakt dem Europäischen Parlament und dem Rat von der Kommission unterbreitet wird, und dem Zeitpunkt der Beschlussfassung des Rechtsaktes bzw. der Festlegung eines gemeinsamen Standpunktes. 19 Zugleich wird die COSAC als bestehende Institution vertraglich anerkannt und der Konferenz ein Selbstbefassungsrecht zugestanden. Das Protokoll stärkt die Verantwortung der nationalen Regierungen gegenüber den Parlamenten, auch wenn einige Lücken bestehen bleiben. 2 0 Die Bedeutung einer stärkeren Parlamentarisierung wird verstärkt vor dem Gipfel in Nizza erörtert; so wurden z.B. Vorschläge der Schaffung eines Zweikammerparlaments auf EU-Ebene vorgelegt. 2 1 Die Idee einer zweiten Kammer bestehend aus nationalen Parlamentariern wurde vor allem von der französischen Regierung befürwortet. 2 2 Gleichwohl kam es auf der Regierungskonferenz von Nizza nicht zu einer Änderung des Amsterdamer Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente. Immerhin wurde eine Erklärung (Nr. 23) in den Vertrag aufgenommen, in dem der Post-Nizza-Prozess skizziert wird. Dazu gehörte auch als einer von vier grundlegenden Aspekten die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas zur Diskussion zu stellen. Die Rolle der nationalen Parlamente wurde auf dem Europäischen Rat von Laeken i m Dezember 2001 in das Mandat für den Europäischen Verfassungskonvent aufgenommen und in den Fragenkatalog eingebunden. 23 Unter anderem wurde der Konvent beauftragt, die Frage zu prüfen, ob in einem eigenen Organ die Vertreter der nationalen Parlamente vertreten sind, ob sie eine gesonderte Rolle neben dem Europäischen Parlament spielen und ob die Kompetenzverteilung gerade durch eine solche Kammer wirksam kontrollierbar ist. 19 s. Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union I, Ziff. 3. 20 s. A. Maurer, Nationale Parlamente in der Europäischen Union - Herausforderung für den Konvent, Integration 1 (2002), S. 24. 21 Vgl. etwa die Rede von Außenminister Fischer in der Berliner Humboldt-Universität: „Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration", Rede am 12.05.2000 sowie ders. im belgischen Parlament am 14.11.2000 in Brüssel; ähnlich Premierminister Blair in der Warschauer Rede vom Juni 2000: „Europe's Political Future", Speech by the Prime Minister to the Polish Stock Exchange, Warschau vom 06.10.2000. 22 Vgl. Haenel, Mitteilungen zur Debatte über die Zukunft der Europäischen Union, Sitzung der Delegation für die Europäische Union des französischen Senats vom 07.11.2001. 23 Vgl. Europäischer Rat, Erklärung von Laeken - Die Zukunft der Europäischen Union - vom 15.12.2001.

Albrecht Weber

330

2. Die Verhandlungen im Konvent Die Debatten i m Konvent über die Rolle der nationalen Parlamente, insbesondere einer zweiten Kammer, waren intensiv; in der Plenartagung am 6./7. Juni 2002 wurde das Thema ausführlich diskutiert. Die i m Plenum eingereichten Arbeitspapiere zur Rolle der nationalen Parlamente spiegelten eine Bandbreite von Meinungen aus einer Vielzahl von Mitgliedstaaten wider, wobei sich allein 63 Beiträge mit dem Thema befassten. 24 Von den Beiträgen wurden mehr als die Hälfte durch nationale Abgeordnete, 15 Arbeitspapiere von Regierungsvertretern, fünf durch Europaabgeordnete, zwei von sonstigen Vertretern und einer von der Europäischen Kommission eingereicht. I m Hinblick auf die Einführung einer zweiten Kammer gab es zwei gleichstarke Lager, die sich nicht in nationale, parteipolitische oder institutionelle Gruppen aufteilten und somit recht heterogen waren. Neben Vorschlägen der Bildung einer zweiten Kammer gab es auch andere Varianten wie die Aufwertung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, eines Kongresses der nationalen Parlamente und des EP, eines Rats der nationalen Parlamente, eines Joint-Subsidiarity-Committee, eines Kongresses der Völker Europas (so insbesondere der französische Vorschlag), eine Aufwertung der COSAC, eine Stärkung des Ausschusses der Regionen oder ein „Europäischer Kongress". Gleichwohl sprachen sich viele Konventsmitglieder gegen die Schaffung eines neuen Organs aus. Die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente wurde am 15./16. A p r i l 2002 sowie die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips am 6./7. Juni 2002 i m Plenum diskutiert. In der Arbeitsgruppe I zum Thema Subsidiarität (Vorsitz: Mendes de Vigo) einigte man sich relativ rasch auf die Vorschläge, die i m Schlussbericht vom 23. September 2002 vorgelegt wurden. 2 5 Die Arbeitsgruppe strebte eine Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente an; andere Vorschläge, die von der Bildung eines neuen Subsidiaritätsausschusses über eine gerichtliche ex ante Kontrolle, die Einsetzung eines europäischen Schlichters bis zu einem Klagerecht der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen reichten, wurden i m wesentlichen verworfen. Der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe bekannte sich zu einer politischen ex ante Kontrolle sowie einer gerichtlichen ex post Kontrolle unter Aufwertung der nationalen Parlamente. Die Arbeitsgruppe I V zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente (Vorsitz: Gisela Stuart) legte ihren Abschlussbericht einen Monat nach den Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I vor, indem insbesondere die Kontrollmöglichkeiten der nationalen Parlamente zusammengefasst werden. Auch in dieser Arbeitsgruppe sprach man sich gegen die Errichtung einer zweiten Parlamentskammer aus.

24 Die Dokumente sind RegisterASP?lang=DE. 25 Vgl. Conv 286/02.

abrufbar

unter

http://european-convention.eu.int/doc,

Die Rolle der nationalen Parlamente

331

Die Diskussionen in den Arbeitsgruppen sowie i m Plenum kann man als einen konstruktiven Verhandlungsprozess bewerten, der sich in relativ kurzer Zeit zu dem Modell einer Aufwertung der nationalen Legitimationsstränge unter Beibehaltung des bisherigen „multi-level-constitutionalism" bekannte.

I I I . Die Rolle der nationalen Parlamente im Konventsentwurf Das „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union", das i m Anhang zu dem Verfassungsvertragsentwurf aufgeführt wird, weist eine Reihe neuer Elemente auf. Die Verpflichtung der Europäischen Kommission zur Einbeziehung der nationalen Parlamente wird verfahrensrechtlich gestärkt. Das jährliche Rechtssetzungsprogramm, die dazugehörigen Dokumente sowie die GesetzgebungsVorschläge müssen zugeleitet werden. A n diese Pflichten schließt sich eine Bezugnahme auf den sogenannten Frühwarnmechanismus an. Die schon bestehende Sechswochenfrist bleibt unverändert; allerdings müssen zwischen der Aufnahme des Vorschlags in die Tagesordnung für die Tagung des Ministerrats und der Festlegung eines Standpunktes zehn Tage liegen. Das neue Informationsrecht der nationalen Parlamente gegenüber dem Ministerrat wird zugleich durch das Protokoll begründet (Ziff. 5 des Protokolls). Ferner besteht eine Informationspflicht des Europäischen Rates i m Zusammenhang mit Art. 1-24 Abs. 4 U E sowie des Rechnungshofes, der den nationalen Parlamenten seinen Jahresbericht gleichzeitig mit der Übermittlung an das Europäische Parlament und den Ministerrat zuleitet (Ziff. 6 und 7 des Protokolls). Diese Bestimmungen gelten bei Zweikammersystemen (von denen es elf in der erweiterten Union geben wird) für jede der beiden Kammern (Ziff. 8 des Protokolls). I m zweiten Teil wird die Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten und die Förderung der interparlamentarischen Zusammenarbeit unter Einbeziehung der COSAC geregelt. Die vertragliche Aufwertung der nationalen Parlamente erfolgt aber vor allem durch den i m Subsidiaritätsprotokoll neu verankerten Frühwarnmechanismus. Danach ist vorgesehen, dass die Kommission die Vorschläge für Gesetzgebungsakte in einer Art vorgeschalteter Prüfung direkt an die nationalen Parlamente übermittelt (Ziff. 3 des Subsidiaritätsprotokolls). Die Parlamente haben eine Frist von sechs Wochen, um begründete Stellungnahmen abzugeben und mitzuteilen, ob ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip vorliegt. Die Stellungnahmen werden gezählt, wobei Einkammerparlamente zwei Stimmen, Zweikammerparlamente zwei Stimmen (d.h. j e eine Stimme pro Kammer) erhalten. Wenn ein Drittel (bzw. ein Viertel i m Verfahren nach Art. III-160) aller berechtigten Kammern einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip feststellt, ist die Kommission verpflichtet, den Vorschlag zu prüfen und wieder zurückzuziehen,

Albrecht Weber

332

zu ändern oder mit einer entsprechenden Begründung in der ursprünglichen Fassung zu belassen (Ziff. 6 des Subsidiaritätsprotokolls). In dieser Phase der Gesetzgebung sind nur die Kommission und die nationalen Parlamente beteiligt, erst i m Anschluss an die Subsidiaritätsprüfung leitet die Kommission den Gesetzgebungsprozess ein. Außerdem erhalten die Parlamente, die ein Votum eingereicht haben, ein Klagerecht, wobei dieses Klagerecht freilich durch die Mittlerfunktion der nationalen Regierungen abgeschwächt bleibt

(„mediatisiertes

Klagerecht"). Ferner findet sich in weiteren Artikeln eine Erwähnung der nationalen Parlamente, die man als eine weitere normative Aufwertung deuten m a g . 2 6

IV. Veränderungen der institutionellen Balance durch Aufwertung des Europäischen Parlaments Die wichtigste Änderung i m Machtgefüge der Union und damit auch für die unitarische Legitimationsstärkung stellt die stärkere Parlamentarisierung dar. Die „Erfindung" des ungeschriebenen Prinzips des institutionellen Gleichgewichts durch den EuGH erfolgte i m Zusammenhang mit der Stärkung der Rechte des EP und fand seither eine konsequente Fortentwicklung. 2 7 Die Aufwertung des Parlaments, das zu den „Gewinnern der geplanten Verfassungsreform" gezählt w i r d 2 8 , erfolgt vor allem durch die Ausweitung der Mitentscheidungsrechte i m Kodezisionsverfahren (Art. 1-33) 2 9 , das neben den besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art. 1-33 Abs. 3) das Standard-Gesetzgebungsmodell b i l d e t 3 0 , der Stärkung des Budgetrechts durch Aufhebung der Trennung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Aufgaben (Art. III-309, 310) und der Einführung des Vermittlungsausschusses (Art. III-310 Abs. 6 - 8 ) , der Ausweitung der Mitwirkungsrechte men

31

beim Abschluss internationaler

Abkom-

und besonders durch die Stärkung des EP i m Kreationsverfahren des Prä-

26 Vgl. Art. 1-9 Abs. 3 Satz 2; Art. 1-17 Abs. 2; Art. 1-24 Abs. 4 Satz 2; Art. 1-41 Abs. 2; Art. 1-45 Abs. 2; Art. 1-57 Abs. 2 Satz 2; Art. III-160-162; Art. III-174 Abs. 2 Satz 3; Art. III-177 Abs. 2 Satz 3; Art. IV-7 Abs. 1 Satz 2 sowie Abs. 2 Satz 1. 27 Vgl. EuGH Rs 37/84, Slg. 1984, 1751 ständige Rechtsprechung; EuGH Rs 70/88 - Parlament/Rat, Slg. 1990, 1-2041 ff. (Tschernobyl). 28 s. J. Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, EuR 4 (2003), S. 374. 29 Insgesamt erfolgt eine Ausweitung auf 85 Sachbereiche (30 mehr als nach dem Vertrag von Nizza); vgl. W. Wessels, Der Verfassungsvertrag im Integrationstrend: Eine Zusammenschau zentraler Ergebnisse, Integration 4 (2003), S. 289; Nickel, Das Europäische Parlament als Legislativorgan - Zum neuen institutionellen Design nach der Europäischen Verfassung, Integration 3 (2003), S. 502. 30

31

V g l . Nickel

(ob. A n m . 29), S. 503.

Vgl. P. M. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, S. 586.

333

Die Rolle der nationalen Parlamente

sidenten der Kommission. Der Vorschlag des Europäischen Rats eines Kandidaten erfolgt m i t qualifizierter Mehrheit „unter Berücksichtigung der Wahlen z u m EP", den das Parlament m i t der einfachen Mehrheit wählt (Art. 1-26 Abs. 1). Dies bedeutet - auch wenn das Parlament selbst kein Vorschlagsrecht hat doch eine erhebliche

Rückkoppelung

der demokratischen

Legitimation

-

der

Exekutive an die Wahlen zum Europäischen Parlament, und künftig auch eine Stärkung europäischer Parteiformationen; freilich ist zu einem rein parlamentarischen Regierungssystem noch ein Weg zurückzulegen. 3 2 Nach der gegenwärtigen Fassung handelt es sich u m eine ausgewogene Balance zwischen „unitarischer"

und mitgliedstaatlicher Legitimations Vermittlung. 33 Diese offenkundige

Stärkung des EP und - mittelbar - auch des Demokratieprinzips führt daher auch zur Stärkung der unional-föderalen Struktur der Union. Dies gilt erst recht, wenn man die Ausweitung des Mehrheitsprinzips des Rats berücksichtigt, wenn die vorgeschlagene Formel der doppelten Mehrheit angenommen w i r d (Art. 1-24 Abs. 1 und 2 sowie Abs. 4 U A 2). A u c h wenn Ministerrat und Parlament i m ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Mitentscheidung (84 Fälle) gleichberechtigt erscheinen, ist die Stärkung der unitarischen Komponente - besonders unter dem Aspekt des Vergleichs föderaler und konföderaler Elemente unübersehbar.

V. Schlussbetrachtung D i e weitere verfassungsrechtliche Einbeziehung der nationalen Parlamente, insbesondere i m Bereich der Subsidiaritätskontrolle, ist i m H i n b l i c k auf die wachsende Parlamentarisierung des unionalen institutionellen Geflechts 3 4 nicht zu unterschätzen. D i e politische α-priori-

und die gerichtliche

a-posteriori-Kon-

trolle verankern eine zusätzliche Verantwortung der Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens auf der Ebene der Mitgliedstaaten, die europaverfassungsrechtlich noch stärker eingebunden wird. M i t der Parlamentarisierung des unionalen Regierungssystems durch Veränderung des institutionellen Gleichgewichts, die sich insbesondere i n der verstärkten Rolle des Parlaments bei der M i t w i r k u n g der W a h l des Präsidenten der Europäischen Kommission spiegelt, erfolgt eine zusätzliche Stärkung über die mittelbare E i n w i r k u n g i m Ministerrat. A u c h wenn die Verstärkung der mittelbaren demokratischen Legitimation (föderativ-gubernative Legitimation) das noch bestehende Defizit der unitarischen Legitimation

32

Skeptisch noch Nickel (ob. Anm. 29), S. 507; die Parlamentarisierung m.E. zu stark betonend Huber (ob. Anm. 31), S. 585. 33 Ob sich ein alleiniges Vorschlagsrecht des EP mit der Verfolgung des Unionsinteresses nicht verträgt, wie J. Schwarze meint (Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, EuR 4 (2003), S. 549) erscheint fraglich; auch nationale, parlamentarisch gewählte Regierungen vertreten das Gemeinwohlinteresse. 34

V g l . Huber

(ob. A n m . 31), S. 85 f.

334

Albrecht Weber

(Europäisches Parlament) nicht ausgleichen k a n n 3 5 , ist doch ein hoffnungsvoller Ansatz erkennbar. Dies lässt die Hoffnung berechtigt erscheinen, künftig auch von einem „demokratischen Verfassungsverbund" zu sprechen.

35 Hierzu skeptisch P. M. Huber (ob. Anm. 31), S. 594 ff.; s.a. zur Kompensation demokratischer Legitimationsstränge A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 693 ff.

Die Vorstellungen des Würzburger Weihbischofs Gregor Zirkel (1762-1817) zur Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der Säkularisation Von Wolfgang Weiß Der Haßgau, den auch der Geehrte als seine Heimat bezeichnen darf, hat in seiner Geschichte eine Reihe herausragender Persönlichkeiten hervorgebracht. Zu diesen gehört zweifelsfrei auch Gregor Zirkel, der am 2. August 1762 in Sylbach bei Haßfurt geboren wurde und ab 1802 als Weihbischof und Direktor der geistlichen Regierung während einer schwierigen Zeit des Umbruchs verantwortliche Positionen i m Bistum Würzburg innehatte. Zirkel wurde in der Zeit der Säkularisation und des Staatsabsolutismus zu einem der heftigsten und profiliertesten

Streiter für die kirchlichen Belange. So wurde er auch nach seinem

Tod am 18. Dezember 1817 als ein großer Verteidiger der katholischen Lehre und kirchlicher Selbständigkeit gewürdigt. In der Trauerrede wies der Domprediger Michael Erhard auf „die apostolische Standhaftigkeit, welche der zu früh uns Entrissene in seinem Amte erprobte" 1 , hin. Weiter betonte er: „ M i t festem Tritte ging er auf das Ziel los, welches er sich vorgestreckt hatte; ohne Furcht suchte er das Schiff, an dessem Ruder er stand, mitten i m heftigsten Sturme der Zeit über den Wellen zu erhalten. Und, Gott! Welche Stürme mußte er in dieser verhängnisvollen Zeit bestehen, wo alles aus seinen Fugen gerissen war, wo alles ins Bodenlose zu versinken drohte, nirgends ein fester Punkt sich zeigte, wo der verderblichste Krieg, der erschütternde betäubende Wechsel aller öffentlichen Verhältnisse die Gemüther mit Angst und Entsetzen erfüllten, die Kirche Jesu beynahe verwaißten, die Sitten verschlimmerten, die Grundsätze wankend machten, den Glauben, das Vertrauen und die Liebe aus dem Herzen rissen." 2 Nach dem Besuch des Augustiner-Gymnasiums in Münnerstadt und dem Studium der Philosophie in Bamberg, wo er als Primatist den Doktor der Philosophie erhielt, begann Gregor Zirkel 1780 das Theologiestudium in Bamberg. Ein Jahr später wechselte er an die Theologische Fakultät der Universität Würzburg; 1

Michael Erhard, Trauerrede bey der Todesfeyer des Hochw. H. Gregor Zirkel, geh. am 23. Dez. 1817, Bamberg-Würzburg 1818, S. 6. 2 Ebd., S. 8.

336

Wolfgang Weiß

gleichzeitig trat er in das Priesterseminar ein. 1786 erwarb er das Lizentiat der Theologie mit einer Dissertation aus der Exegese des Alten Testaments. A m 23. September des gleichen Jahres empfing er die Priesterweihe. Nach kurzer Zeit als Kaplan in Ebern und Arnstein ernannte ihn Fürstbischof Franz L u d w i g von Erthal i m Oktober 1788 zum Subregens des Priesterseminars. 1791 wurde Zirkel zum Doktor der Theologie promoviert und 1795 berief ihn der neue Fürstbischof Georg Karl von Fechenbach zum außerordentlichen Professor der Theologie mit dem Lehrgebiet „Orientalische Sprachen". 1797 wurde er als Subregens abgelöst und gleichzeitig zum ordentlichen Professor ernannt.

1799

bestellte ihn der Fürstbischof zum Regens des Priesterseminars. Als zu Beginn des Jahres 1802 der bisherige Weihbischof Andreas Fahrmann starb, war zunächst der Kirchenrechtler Prof. Dr. Johann Philipp Gregel als Nachfolger vorgesehen. Als dieser ablehnte, fiel die Wahl auf Gregor Zirkel. Obgleich sich auch dieser wegen seiner kränklichen Konstitution vehement dagegen aussprach, wurde er am 27. A p r i l zum Weihbischof und Direktor der geistlichen Regierung ernannt, womit er de facto die Aufgaben eines Generalvikars wahrnahm. A m 28. Oktober 1802 wurde er i m Würzburger D o m zum Bischof geweiht, zu einem Zeitpunkt als Kurpfalzbayern bereits das Hochstift Würzburg militärisch besetzt hatte. Genau einen Monat später am 28. November 1802 erfolgte die Zivilokkupation. Landesherr war von nun an Kurfürst Max I V . Josef (der spätere König Max I.), während Fürstbischof Georg Karl von Fechenbach auf seine geistlichen Aufgaben verwiesen wurde, um deren Ausmaß und Begrenzung aber schon bald heftige Kontroversen entstanden. Gregor Zirkel, der bisher als exzellenter Kenner der biblischen Sprachen, als aufgeschlossener und einer aufgeklärten Theologie durchaus zugänglicher Exeget und akademischer Lehrer sowie als ausgezeichneter Prediger und Priestererzieher hervorgetreten war und somit mehr i m Innern der Kirche wirkte, musste damit in einer kirchenpolitisch äußerst schwierigen Zeit eine prekäre Aufgabe übernehmen, auf die er, war er doch von seiner Profession her weder Kanonist noch Jurist, nur unzureichend vorbereitet schien, in die er sich kraft seiner außerordentlichen Begabung aber äußerst schnell einarbeitete. 3

3 Zur Biographie Gregor Zirkels vgl. A[ugust] F[riedrich] Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Kirche Deutschlands um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 1 und 2, Paderborn 1904/1906; ders., Zirkel, Gregorius, Weihbischof in Würzburg, in: Anton Chroust (Hg.), Lebensläufe aus Franken; Bd. I, Leipzig-München 1919, S. 533-550; Wolfgang Weiß, Ein Kirchenmann zwischen Aufklärung, Romantik und Restauration. Weihbischof Gregor Zirkel, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 47 (1985), S. 191-215; Klaus Wittstadt, Zirkel, Gregor von (seit 1814 bayerischer Personaladel) (1762-1817) in: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1990, S. 839-841.

Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche

337

In Erwartung kommender Auseinandersetzungen erteilte Fürstbischof Fechenbach bereits i m Oktober 1802 dem Kanonisten Prof. Johann Philipp Gregel unter Beiziehung Zirkels und des Geistlichen Rates Peter Philipp Sündermahler 4 den Auftrag einen „Entwurf zwischen der bischöflichen

einer Punktation und landesherrlichen

zur Beseitigung Gewalt"

5

der

Kollisionen

zu erstellen. Gregel

lieferte ein Gutachten ab, das weithin den zu erwartenden Problemen auswich und einen sehr traditionellen Standpunkt einnahm, indem er sich auf den zwar an sich theoretisch richtigen, aber politisch bereits überholten Rechtsstandpunkt stellte, dass Kirchenangelegenheiten nur von der höchsten Reichsgewalt, nicht von einzelnen Reichsständen abgeändert werden könnten. Immerhin gibt er zu, dass „sich die Gegengründe, welche in der gegenwärtigen Lage der Sachen eintreten, nicht verkennen lassen" 6 , und spielt dabei auf die territorialkirchlichen Bestrebungen der verschiedenen Landesherren an. 7 Auch wenn Zirkel grundsätzlich die Positionen Gregeis teilte, so urteilt er in seinen Ausführungen 8 doch grundsätzlich skeptischer und damit auch realistischer, „besonders da sich [wie Zirkel besonders betont] das bayerische Ministerium bisher durch eine gewisse Aufklärung ausgezeichnet hat" 9 . In der in Altbayern begonnen staatskirchlich orientierten aufgeklärten Reformpolitik sieht er eine grundsätzliche Gefahr. Es gehe hier darum, die Kirche aus der Öffentlichkeit in das Kircheninnere zu verdrängen. Der Kampf gegen das volksfromme Brauchtum stelle nur einen Vorwand dar und soll i m letzten die Kirche selbst treffen, um damit ihre Wirkungs- und Darstellungsmöglichkeiten generell zu beeinträchtigen 10 . Die fünf Kirchengebote sollen nicht zur Privatsache herabsinken, sondern vom Staat geschützt und so ihre allgemeine Befolgung gewährleis4 Johann Philipp Gregel (1750-1841) bekleidete seit 1791 den traditionsreichen Kanonistiklehrstuhl der juristischen Fakultät; Peter Philipp Sündermahler (1735-1811) war Direktor des Konsistoriums; vgl. Philipp E. Ullrich, Reihenfolge der Kapitualer und Vikare des Stiftes Haug zu Würzburg, in: Archiv des Historischen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg 31 (1888), S. 109-140; 126 u. 134. 5 Archivalisch lässt sich dieses Gutachten nicht mehr ermitteln. Es ist abgedruckt bei Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 2, 1906, S. 489^193 (Beilage I). 6 Ebd., S. 490. 7 Im Übrigen legte Gregel, als er von landesherrrlicher Seite zu einem Gutachten aufgefordert wurde, ein in der Tendenz völlig anderes Papier vor, da er sich nun als aufgeschlossener und aufgeklärter Kanonist mit einer offenen Neigung zum Territorialsystem und weitgehender Staatskirchenhoheit zu erkennen gibt; vgl. StAW Reichswesen 314, Gutachten des Geistlichen Rats Gregel. 8 Archivalisch ebenfalls nicht zu ermitteln; abgedruckt bei Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 2, 1906, Beilage I, S. 493-497. Weiterhin abgedruckt bei Leo König, Pius VII. Die Säkularisation und das Reichskonkordat, Innsbruck 1904, S. 72-77. 9 Ludwig , Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 2, 1906, Beilage I, S. 494. 10 Die Maßnahmen in Altbayern waren Zirkel wohl bekannt und gaben zur Sorge Anlass, vgl. Georg Schwaiger , Die altbayerischen Bistümer Freising, Passau und Regensburg (1803-1817) (Münchener Theologische Studien I, Historische Abt. 13), München 1959, S. 26 f.

22 FS Hablitzel

338

Wolfgang Weiß

tet werden. Öffentliche Moral und öffentliche Religionsausübung stünden nämlich, und hier greift er wieder die Argumentationslinie der Aufklärer auf, in einer direkten Abhängigkeit. Die Religionsausübung müsse daher ein unverzichtbarer Teil jeder öffentlichen Ordnung bleiben. Nur durch den intensiven Einfluss der Geistlichen auf die Erziehung könne eine religiöse und damit auch moralische Gesinnung in der Bevölkerung erhalten bleiben. Die Kirche braucht dafür gute Seelsorger; diese könne es aber nur geben, wenn die bischöfliche Jurisdiktion über die Kleriker nicht gelockert wird. Zirkel w i l l das bischöfliche Ansehen stärken, denn nur so sei es der Kirche möglich, in Zukunft den Dienst zu erfüllen, den der Staat von ihr erwartet. Aus dem gleichen Grund müsse auch das gesellschaftliche Ansehen der Geistlichen wieder gehoben werden. Ein Mittel dazu stellt nach Auffassung Zirkels auch das Tragen des langen Rockes (Talares) dar, das die gesellschaftliche Präsenz der Geistlichen deutlich macht. Zirkel ist weniger kirchenrechtlich als Gregel orientiert. Für ihn sind die pastoralen Erfordernisse entscheidend, aber auch politisches Denken verrät sein Ansatz. Zirkel spürt, dass eine aufgeklärte Privatreligion der Kirche ihre Grundlagen entzieht. Sie wird schließlich entbehrlich. Er betont dagegen die Funktion der religiösen Sozialisierung, des Gemeinschaftscharakters; dadurch wird Kirche erlebbar und nur so kann der Glaube weitergetragen werden. Zirkel nennt hierbei, obwohl ihm als Theologen sicher damals schon diese Basis einer kirchlichen Existenzberechtigung nicht tragfähig schien, die Moralität als das entscheidende Element einer gläubigen Existenz, weil er sich so mit den Aufklärern mühelos einigen kann. In Zirkels Abhandlung wird aber auch deutlich, dass in Zukunft der konfessorische Charakter der Kirche gegen einen ihr fremden Zeitgeist an Bedeutung gewinnen würde. In einigen Teilbereichen ist Zirkel durchaus realistischer als Gregel. So geht er davon aus, dass die bayerische Regierung bei päpstlichen Breven auf das landesherrliche Plazet nicht verzichten dürfe. Auch das bracchium saeculare werde der Staat nur nach vorheriger Akteneinsicht gewähren. In der Ehegerichtsbarkeit sieht er Bereiche, die der Staat beanspruchen wird, vor allem die Angelegenheiten, die den Ehevertrag betreffen. Zirkels Gutachten zeichnet sich dadurch aus, dass es, wenn auch erst in Anfängen, eine neue Perspektive für die zukünftige Existenz der Kirche entwirft. Er erkennt, dass Kirche sich i m gottesdienstlichen Leben öffentlich manifestieren muss, um so über die kirchenrechtlichen Absicherungen hinaus eine Basis zu erhalten, die kirchliches Selbstverständnis entstehen lässt und wach hält. Schon bald zeigte sich bei Zirkel, der bis dahin weithin doch als Anhänger einer gemäßigten Aufklärung eingeschätzt wurde, eine zunehmend konservativere Haltung. Auch wenn er wegen der Unsicherheit der Lage eine Konfrontation mit der Landesregierung für nicht opportun erachtet, sieht er Konflikte auf

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die Kirche zukommen. Lange vertraute aber auch er auf die Kompromissfähigkeit und Versöhnungsbereitschaft des bayerischen Landeskommissariats in Franken und der kurfürstlichen Regierung in München. 1 1 Z u den Dokumenten, die von diesem Geist erfüllt „Skizze des Entwurfs

über das Verhältnis

der Kirche

sind, gehört

zum Staat",

Zirkels

die er am

1. August 1803 dem Graf Thürheim (Landeskommissar in Franken) übergab. 1 2 In dieser Skizze, die auch als Aphorismen

Zirkels zu Staat und Kirche bekannt

geworden sind, gibt sich Zirkel den staatlichen Erwartungen gegenüber entgegenkommend. 1 3 In Anknüpfung an staatskirchenrechtliche Vorstellungen seiner Zeit stellt er i m ersten Schritt seiner Überlegungen keineswegs in Frage, dass die Kirche dem Staat untergeordnet sein soll. Der Staat habe gegenüber der Kirche die gleichen Rechte wie bei „jeder anderen i m Staate sich bildenden Gesellschaft" 1 4 anzuwenden. Daraus leiten sich auch die negativen Rechte des Staates in Hinblick auf die Kirche, nämlich das „ius supremae inspectionis" und das „ius cavendi" ab. Darüber hinaus gäbe es noch positive Rechte des Staates bei der Behandlung einer Religionsgemeinschaft, müsse doch der Staat die Zwecke der Kirche, Religion und Sittlichkeit, i m eigenen Interesse fördern. Kein Staat könne auf eine Kirche verzichten. Er wäre sogar gezwungen, „eine Kirche zu stiften, wenn noch keine vorhanden w ä r e " 1 5 . Da Zirkel nicht theologisch argumentiert, nennt er allerdings in den Aphorismen nicht die Zwecke, wie sie die katholische Kirche für sich selbst hervorheben würde, sondern diejenigen, welche aus der Sicht des Staates und nach dem Verständnis der Aufklärung für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig sind. Er spricht von den Leistun11 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Würzburger Diözesanleitung und bayerischer Regierung vgl. Wolfgang Weiß, Kirche im Umbruch der Säkularisation. Die Diözese Würzburg in der ersten bayerischen Zeit (1802/1803-1806) (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 44), Würzburg 1993. 12 Die Skizze, auch Aphorismen genannt, und erwähnter Begleitbrief wurden zweimal ediert: Anton Ruland, Die Anschauungen des Weihbischofs Dr. Gregor Zirkel und des Professors Dr. Andreas Metz zu Würzburg über das Verhältnis des Staates zur Kirche, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 31, N.F. 25(1874), S. 260-309; Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 1, 1904, S. 272 f. u. S. 344-377 (nach letzter Ausgabe wird jeweils zitiert). Allerdings hat Ludwig das Schreiben falsch datiert, nämlich auf den 1. August 1804, Ruland hingegen 1. August 1803. Wohl nur ein Versehen bei Ludwig, weil das Datum Rulands, wie aus der übrigen, noch handschriftlich erhaltenen Korrespondenz zu ersehen ist, zutrifft. 13 Zirkel betont deswegen: „Ich schrieb keine Apologie der bischöflichen Rechte, um den Bischof groß und mächtig zu machen ... Auch ließ ich mich selten in die Grundsätze der Dekretalen ein, sondern hatte einzig das Verhältnis der Kirche als einer besonderen Gesellschaft zu dem Staate im Auge und zog dabei die Gründe einer unbefangenen Politik zu Rate" (Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 1, 1904, S. 18). 14 Ebd., S. 347, Nr. 3. 15 Ebd., S. 347, Nr. 4.

22*

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gen der Kirche als „höhere Polizei- und Kulturanstalt", die sich in der „Verhütung der Verbrechen und Handhabung guter Sitten", in der „Erziehung des Volkes" und der „Beförderung der Humanität" nützlich macht. Da es aber dem Staat nicht gleichgültig sein könne, ob eine Kirche diese Zwecke erreiche oder nicht, besitze der Staat die positiven Rechte, „auf Erreichung des Kirchenzweckes zu dringen" 1 6 . Zirkel bestreitet also nicht prinzipiell die staatlichen Ansprüche, relativiert sie aber in seiner weiteren Argumentation, indem er das aufgeklärte Toleranz- und Freiheitsverständnis in die Debatte wirft. So stehe den Bürgern das unbestreitbare Recht zu, eine Kirche zu bilden. Ein solcher Zusammenschluss habe „das Recht frei und unabhängig zu sein, d.i. ihre sittliche und religiöse Ueberzeugung, ohne vom Staat eine Vorschrift anzunehmen, in einem kirchlichen Symbole auszudrücken und ihre Gottesverehrung darnach einzurichten" 1 7 . In seinen weiteren Ausführungen stellt Zirkel die Kirche auf die gleiche Stufe wie das menschliche Gewissen: „ W i e das Gewissen i m Menschen, so ist die Kirche ein verborgenes Ressort i m Staate und muß es bleiben. Das Gewissen verliert sein Ansehen, seine Macht, sein Vertrauen, wenn es durch irgend eine Gewalt gezwungen wird, zu sprechen und zu handeln, wie es, sich überlassen, weder sprechen noch handeln möchte: Es ist das Gewissen nicht mehr, und so ist die Kirche nicht mehr, wenn der Staat sie beherrscht; sie hört auf, sich und i h m zu den beabsichtigten Zwecken nützlich zu s e i n " 1 8 . Zirkel versucht so, die Inkonsequenz der sich auf die Aufklärung berufenden Reformer aufzuzeigen, die einerseits gegenüber der Kirche auf die staatliche Omnipotenz pochen, gleichzeitig aber in Religionsedikten Glaubens- und Gewissensfreiheit verkünden. Aus katholischer Perspektive ist Zirkel insofern innovativ, als die modernen Freiheitsvorstellungen in Abwehr staatsabsolutistischer Bestrebungen durchaus als Chance für die Institution Kirche positive Anerkennung finden. In den Einzelbestimmungen fordert Zirkel einen möglichst freien Handlungsspielraum für die Kirche und darüber hinaus sogar eine rechtliche Sonderstellung, um als „höhere Polizei- und Kulturanstalt" i m staatlichen Interesse wirken zu können. Nachdrücklich tritt Zirkel dafür ein, dass dem Bischof alle Möglichkeiten bleiben, die Kirche zu leiten. Nur wenn der Bischof den Klerus nach seinem Ermessen ausbilden, auswählen, leiten und beaufsichtigen kann, wird die Kirche in der Lage bleiben, die Zwecke zu erreichen, welche der Staat von ihr erwartet 1 9 . Unverzichtbar sei besonders auch das ius liberae collationis. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche soll i m schuli16 17 18 19

Ebd., S. 347, Nr. 5. Ebd., S. 348 f., Nr. 9. Ebd. Vgl. ebd., S. 354-361.

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sehen und sozialen Bereich gelten. Keiner Einengung seitens des Staates soll die öffentliche Gottesverehrung unterliegen, was wegen der aufgeklärten Vorbehalte der Staatsdiener gegenüber den katholischen Frömmigkeitsübungen ein besonders schwieriger Punkt war. Zirkel versucht dabei zu überzeugen, dass die religiösen Reformideen seiner aufklärerischen Zeitgenossen wenig hilfreich erscheinen, da sie den Bedürfnissen der Menschen nicht entsprächen. Zirkel charakterisiert die katholische Kirche als „Volksreligion", welche deswegen zum Ausdruck des Gemeinschaftsgefühles und eines sozialen Erlebens den äußeren Kultus brauche und „nicht aller Symbole und öffentlicher Feierlichkeit entkleidet sein k ö n n e " 2 0 . Zirkel ist aber zu Zugeständnissen dem Staat gegenüber bereit. Eine Einschränkung des Privilegium fori des Klerus hält er für durchaus angebracht. Realklagen und Kriminalfälle sollen den weltlichen Gerichten überlassen werden. 2 1 A m weitesten geht Zirkel in der Frage der Mischehen. Zwar w i l l er Mischehen in keiner Weise begünstigt sehen. Aber entgegen dem kanonischen Recht w i l l er den Eltern die Wahl des Bekenntnisses für ihre Kinder überlassen 2 2 . Nach den ultramontanen Grundsätzen der späteren Epoche machte sich hier auch bei Zirkel (noch) die Prinzipienschwäche der Aufklärung bemerkbar, welche falschen Idealen huldigend aus vermeintlicher Menschenfreundlichkeit katholische Grundsätze aufopferte. Es ist von daher verständlich, dass beide Editoren der Aphorismen die Haltung Zirkels kritisierten. Nach Ruland ging Zirkel „bis an die Grenze des Erlaubten", darüber hinaus bediente er „sich aber einer Sprache ..., durch die er den Tendenzen der Regierung entsprechen zu können glaubte". Seine Kennzeichnung der Kirche als „eine höhere Polizeiund Cultur-Anstalt zur Verhütung der Verbrechen und Handhabung guter Sitten" lässt nach seiner Überzeugung echten kirchlichen Geist vermissen. Er entschuldigt aber seine Aussagen noch damit, dass seine Schrift als eine „Staatsschrift" abgefasst war, „die nicht das Ideale des kirchlichen Lebens erfassen durfte, sondern mit sehr realen bayerischen Factoren zu rechnen hatte, denen nichts vorschwebte als Ergreifung des gesamten kirchlichen Besitzes" 2 3 . Zirkel benutzte die Sprache der Gegner, um jedes Misstrauen gegenüber der Kirche überflüssig erscheinen zu lassen. Der Staat könne somit der Kirche unbesorgt den notwendigen Freiraum zubilligen und letztlich würde er gerade so auf Dauer Ordnung und Sittlichkeit bewerkstelligen.

20

Ebd., S. 354, Nr. 32. Vgl. ebd., S. 369, Nr. 86. 22 Die großen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts zwischen Staat und Kirche entzündeten sich gerade in dieser Frage; vgl. Markus Hansel-Hohenhausen, Clemens August Freiherr Droste zu Vischering. Erzbischof von Köln, 1733-1845. Die moderne Kirchenfreiheit im Konflikt mit dem Nationalstaat, Bd. 2, Egelsbach (bei Frankfurt/Main) 1991, S. 1015-1035. 23 Ruland, Die Anschauungen, 1874, S. 263 f. 21

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Aber alle Überzeugungsversuche Zirkels, der Staat möge von seinen einseitigen Eingriffen in Religions- und Kirchenangelegenheiten ablassen, blieben wirkungslos. Zirkel gibt daher diese Strategie auf. Er verlässt den Weg des Dialogs mit den staatlichen Kräften und geht nun zur offenen Konfrontation über. Die Situation verschärfte sich vor allem deshalb so, da die Landesdirektion i m Schreiben an Zirkel vom 2. Juni 1803 die Forderung erhob, dem Kurfürst würde in den Entschädigungslanden das Recht zustehen, alle erledigten Pfarreien und Benefizien (mit Ausnahme derjenigen mit privaten Patronatsrechten von Laien) zu besetzen. 24 Es entwickelt sich nun ein vehementer innerer und dann auch publizistischer Kampf um das sog. landesherrliche Patronatsrecht, bei dem sich Zirkel sehr energisch engagierte und nachhaltig die kirchlichen Rechte behauptete. Die einzelnen Etappen dieses Konfliktes können in diesem Zusammenhang nicht näher erörtert werden. 2 5 Interessant sind für diese Thematik vor allem die Positionen zur Auffassung der Kirche und zum Staat-KircheVerhältnis, zu denen Zirkel in dieser Auseinandersetzung fand. Niedergelegt hat er diese für ein breites Publikum in der anonym erschienenen Abhandlung über die „Geschichte des Ρätronatsrechtes

in der Kircheder

er programmatisch

das Motto „Der Freiheit der Religion und des Gewissens" voranstellte 2 6 . Ziel der Abhandlung ist es, historisch die Vorstellung eines allgemeinen landesherrlichen Patronatsrechtes zu widerlegen und aufzuzeigen, dass die Bestellung der Pfarrer und Geistlichen zu den ureigensten unangefochtenen kirchlichen Rechten gehört. Normativ ist für ihn die Zeit der frühen Kirche, in der die katholische Kirche ihre institutionelle Form prägte und zwar eigenständig und ohne politischen und gesellschaftlichen Druck: „Während dieser Zeit erhielt und pflanzte sich der christliche Lehrstand durch sich selbst und aus innerer Kraft f o r t " 2 7 . In der eigenständigen Entwicklung der kirchlichen Institution ohne nähere Beziehung zum Staat entstand auch ein vom staatlichen Recht völlig unabhängiges Kirchenrecht. Grundsätzlich besäße nach Zirkel der Mensch das natürliche Recht, über den „Staatsvertrag und das aus ihm hervorgehende Gesetz und bürgerliche R e c h t " 2 8 eine religiöse Vereinigung zu bilden und diese mit eigenen rechtlichen Formen auszugestalten. Dieses Recht existiere unabhängig vom Staat, wie auch die Kirche zu ihrer Existenz nicht des Staates bedürfe. Allerdings seien, dadurch dass sich in der Spätantike das Christentum zur Staatskirche wandelte, Teile des Kirchenrechts in das weltliche Recht eingeflossen und 24

BayHStA M K 39102; hier ist der Streit um das Patronatsrecht dokumentiert. Vgl. Weiß, Umbruch, S. 229-266. 26 Vgl. [Gregor Zirkel], Geschichte des Patronatsrechtes in der Kirche. Ein Beitrag zur Beilegung des zwischen dem landesherrlichen Patronat- und bischöflichen Diözesanrechte erhobenen Streites. Sine ira et studio, Teutschland 1806; zu folgendem vgl. auch Weiß, Weihbischof Gregor Zirkel, 1985, S. 205-208. 27 [Gregor Zirkel], Geschichte des Patronatsrechtes in der Kirche. 1806, S. 5. 28 Ebd., S. 39. 25

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so sei eine verhängnisvolle Vermischung entstanden. I m Mittelalter habe sich diese Situation vor allem i m Zusammenhang mit dem Lehenssystem noch verschärft. In diesem Prozess hätten sich auch die Patronatsrechte entwickelt. Z u allen Zeiten habe aber die Kirche den Anspruch der Vergabe kirchlicher Ämter - besonders aber seit dem Investiturstreit - für sich reklamiert, wodurch auch ein Patronatsrecht nur aufgrund einer päpstlichen und bischöflichen Vergünstigung erworben werden konnte. Die Vorstellung eines allgemeinen landesherrlichen Patronatsrechtes habe nur auf dem Boden des protestantischen Kirchenrechts Fuß fassen können, da sich hier das äußere Kirchenwesen in Anlehnung und Abhängigkeit des Staates konstituiert, widerspricht aber grundsätzlich dem katholischen Kirchenbild und Kirchen Verständnis: „Das katholische Kirchenrecht gehet von dem Begriffe eines von Gott eingesetzten und innerhalb der Kirche selbst bestehenden, durch die hierarchische Stufenfolge zwar verteilten, aber stets einen und desselben Hirtenamtes aus und unterscheidet sich durch die Trennung der Hirtengewalt von der Territorialgewalt am auffallendsten

von

dem protestantischen Kirchenrechte" 2 9 . Letztlich trachte der Staat, der das landesherrliche Patronatsrecht postuliert, nach weit mehr, nämlich nach einer umfassenden „Kirchenherrlichkeit" (Kirchenhoheit). Dieses Patronatsrecht „ . . . ordnet Pfarreyen nach W i l l k ü h r an ...; aber es hebet auch bestehende und gestiftete Pfarreyen eigenmächtig auf, theilet und schmälert ihre Einkünfte ...; es veräußeret die liegenden Gründe der Kirchen, verfüget nach Gutdünken über ihr Vermögen, nimmt die Kapitalbriefe derselben in seine Kassen. Dieses Vortheiles wegen dringt es auf die möglichsten Ersparnisse

i m betreffe

des

Gottesdienstes." 30 . Der Staat nimmt der Kirche die materielle Unabhängigkeit, macht die Geistlichen zu Staatsbeamten, mischt sich in die Ausbildung und Disziplinaraufsicht des Klerus ein; Bischof und Klerus bilden keine Einheit mehr; „die canonische Ehrerbiethung und den Gehorsam" wird schließlich sogar „als eine Unzuverlässigkeit und indirecte Untreue" 3 1 gegen die Regierung interpretiert. Die traurige Konsequenz der Entwicklung lautet nach Zirkel: „Kurz, das allgemeine landesherrliche Patronatsrecht, zu einem Territorialepiskopat erhoben, schmücket sich selbst mit Infel und Stab, ohne einen Ruf von Gott zu haben, erniedrigt den Bischof in der Kirche zu einem bloßen Organ der Staatsgewalt und läßt ihm nichts ... als das Geschäft des Altäreweihens ü b r i g " 3 2 . Dahinter verberge sich die gefährliche Tendenz, die Kirche „ i n ein unsichtbares Reich hinüberzuspielen" 3 3 und gleichzeitig die sichtbare Gestalt der Kirche als Teil der „sublunarischen Welt" völlig der Staatsgewalt zu unterwerfen

29 30 31 32 33

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

162. 163. 164. 165. 192.

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und damit zu säkularisieren. 34 Dieser Auffassung tritt Zirkel entgegen, da eine Scheidung der Innen- und Außenseite ebenso wie eine Trennung von Geistlich und Weltlich bei der Kirche nicht möglich sei, sondern wie Körper und Seele eine Einheit bildeten. Die Kirche sei kein Konkurrenzunternehmen zum Staat, denn sie agiere auf einer völlig anderen Ebene. Von daher ist auch der Vorwurf vom Staat i m Staate falsch, denn: „Dieß heisset nun eben soviel, als die Menschheit darf sich nicht als ein ethischer Staat erscheinen, sobald sie sich in bürgerlich-rechtlicher Hinsicht als Staat aufgestellet hat". Es gebe also neben der Idee der bürgerlichen Gemeinschaft, die sich i m Staat verwirklicht, die Idee eines ethischen Staates, der sich in der Kirche verwirklicht. Die Regierung könnte es nie verhindern, „daß die Idee eines solchen ethischen Staates (wir nennen ihn Kirche) der Menschheit vorschwebe und sie sich gedrungen fühle, ihn wirklich zu mac h e n . " 3 5 Beide - Staat und Kirche - hätten also verschiedene Voraussetzungen und Aufgaben und beide zu vereinen oder zu vermischen, sei höchst problematisch, leider seien allerdings nun "die politischen Philosophen in diesem Puncte nicht klüger, als die Päbste des Mittelalters." 3 6 Zirkel plädiert daher für das Verhältnis der Koordination zwischen Staat und Kirche: „Durch diese Coordination beschränken sich beyde Zwecke und beyde Gewalten ... In diesem System der Coordination behaupten beyde der Menschheit so heiligen und wichtigen Zwecke ihre Selbständigkeit und Würde, und wenn die Kirche von dem Staat negativ abhängig ist, in wiefern sie seine Gesetze nicht verletzen und den Bedingungen seines Daseyns nicht zu nahe treten darf; so ist auch der Staat negativ von der Kirche abhängig, in wiefern er in seine Verfassung, Gesetze und Anstalten nichts aufnehmen darf, was der Moral und der Religion entgegengesetzt i s t . " 3 7 Erstes Interesse Zirkels ist Argumente zu finden, durch die eine Vorstellung des Staatsabsolutismus und eines weitgehenden Staatskirchentums zurückgewiesen werden kann. Er weist dabei sogar moderate Ansätze eines Kollegialsystems zurück und spricht sich für das Koordinationssystem aus, das der Kirche ein hohes Maß an Unabhängigkeit zubilligt und grundsätzlich die Funktion des Staates relativiert. Unmittelbar theologisch-dogmatische Überlegungen können hier keine entscheidende Rolle besitzen, wenngleich Zirkel die katholische Kirchenverfassung immer vor Augen hat. Sehr deutlich artikuliert er nämlich ebenso, dass die Verfasstheit der katholischen Kirche nicht zur Disposition stehen könne, da sie kein Menschenwerk sei, sondern sich auf göttliche Einsetzung gründe. In der Abwehr des landesherrlichen Patronatsrechtes und eines alles 34 35 36 37

Vgl. S. 193 f. Ebd., S. XV. Ebd., S. 234. Ebd., S. 236.

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verschlingenden Staatskirchentums sieht sich Zirkel herausgefordert, das Spezifikum der Religion allgemein und das der katholischen Kirche i m besonderen herauszuarbeiten. Zirkel findet in den Debatten um das Staatskirchentum zu einem sehr dezidiert katholischen Kirchenbegriff, wie er in seinen früheren Ausführungen noch nicht aufscheint. Er schreibt: „ I n dem katholischen Kirchensysteme ist die innere Verfassung und Verwaltungsweise der Kirche, das Lehrund Vorsteheramt, samt dem Verhältnisse zu sich selbst und zu der Gemeine, göttlicher Einsetzung, die in der ununterbrochenen Reihe der Bischöfe und der von dem Heilande und seinen Aposteln ausgegangen und fortgepflanzten Weihe als solche noch fortbestehet und die göttliche Berufung und Sendung der Ordinirten bewähret ... Diese Idee der fortwährenden und fortwirkenden Berufung und Sendung unterhält den großen Gedanken, daß die Kirche eine und dieselbe sey, während die Jahrhunderte wechseln, und daß sie unter dem Wandel der menschlichen Dinge und der Ebbe und Flut der Meinungen von Gottes Geiste regiert werde" 3 8 . In den Ausführungen zum Patronatsrecht klingt verschiedentlich eine durchaus kämpferische Haltung an, während er in früheren Dokumenten eine mehr dialogische Position einnahm. Apodiktisch wird ein Kirchenbild beschrieben, wo die Kirche zwar innerhalb der Welt und mit einem weltlichen Antlitz existiert, aber gleichzeitig nicht den Gesetzen der Welt unterworfen scheint. Vor der wahren von Gott gegründeten Kirche, so schreibt er, „stehet der Zweifel ehrerbietig stille und die Leidenschaft unterwirft s i c h " 3 9 . Scharf geht Zirkel nun auch mit den Anhängern der Aufklärung ins Gericht; sie seien vom Zeitgeist betört, von einer falschen und überhasteten Neuerungssucht infiziert. 4 0 Zirkel äußert sich trotz mancher Skepsis doch hoffnungsvoll, dass es nicht gelingen werde, die katholische Kirche dem Staate einzuverleiben, und dass es möglich sein müsse, wieder ein natürliches Verhältnis von Staat und Kirche herzustellen. I m einzelnen sei dafür notwendig, „beyde Kirchen auf dem Grunde der, ihrem Systeme angemessenen Constitution zu befestigen, der Religion und dem Gewissen die ihnen gebührende Achtung und Freyheit zuzusichern, sich mit der Oberaufsicht und den negativen Rechten, wie gegen jede andere Gesellschaft zu begnügen, das Kirchengut, als ein Gott geweihtes Gut und Privat-Eigenthum unter den Schutz der Religion zu stellen, die Anordnung des Gottesdienstes und der heiligen Gebräuche, so wie die Erziehung und Leitung der Arbeiter in dem Weinberge des Herrn dem Bischöfe als Vorsteher den canonischen Satzungen gemäß zu überlassen, die Heiligkeit der vor dem Altar geschlossenen Ehen aufrecht zu erhalten und der Kirche jene, der Menschheit so wichtige Einwirkung auf die Schulen nicht zu verweigern, wodurch die Religion der Väter, 38 39 40

Ebd., S. 243 f. Ebd., S. XII. Vgl. ebd., S. V.

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als Inbegriff der heiligsten und trostvollsten Überzeugungen auf die Kinder fortgeplanzet w i r d . " 4 1 In diesem Katalog von Forderungen nennt Zirkel die klassischen Konfliktfelder des 19. und teilweise auch 20. Jahrhunderts zwischen Staat und katholischer Kirche. Die Auseinandersetzung um das Patronatsrecht besaß für Zirkel eine klärende Wirkung weit über die Einzelfrage des Besetzungsrechtes hinaus. Er gewann Zugang zu einem theologisch-dogmatisch geprägten Religions- und Kirchenbegriff, durch den Andersartigkeit und Eigenständigkeit der Kirche klarer erfasst werden konnte 4 2 Plassmann würdigt daher „die geistige Selbständigkeit" Zirkels, die nach seinem Urteil „bei den kirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Autoren der damaligen Z e i t " 4 3 kaum vorzufinden ist. Weiter stellt er heraus: „Zirkels grundlegende theologisch-ekklesiologische Überlegungen waren die einzige Basis, von der aus i m katholischen Kirchenrecht neue und saubere Begriffe für die Theorie von ,Kirche und Staat' zu erwarten waren ... Unter den damaligen Umständen vermochten sie sich freilich nur allmählich durchzusetzen. Sie haben aber auf die folgenden Jahrzehnte stark eingewirkt .. , " 4 4 . Die Auseinandersetzungen mit der bayerischen Regierung seit 1803 hatten Zirkels kirchenpolitisches und ekklesiologisches Profil geschärft. Er trat nun als Vertreter streng kirchlicher Grundsätze hervor, während er i m Widerstreit mit den bayerischen Ansprüchen politisch für die Idee einer freien Kirche i m freien Staat plädierte

45

Der Konflikt mit den staatskirchlichen Bestrebungen trat wieder in den Hintergrund, als das Fürstentum Würzburg zu Beginn es Jahres 1806 an den eher konservativen Habsburger Erzherzog Ferdinand (Großherzog von Toskana) überging und sich unter dem neuen Landesherrn die kirchlichen Verhältnisse i m klassischen Bündnis von Thron und Altar gestalten ließen. Aber auch in dieser Ära beobachtete Zirkel argwöhnisch jede staatskirchliche Regung und trat sogar 1812 von seiner Funktion als Direktor der geistlichen Regierung zurück, als er die Einführung eines neuen Diözesankatechismus durch den Landesherrn nicht 41

Ebd., S. VII. Zur Bedeutung Zirkels innerhalb der ekklesiologischen Umorientierung des 19. Jahrhunderts vgl. Hermann Josef Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts (Tübinger Theologische Studien 5), Mainz 1975, S. 126. 43 Engelbert Plassmann, Staatskirchenrechtliche Grundgedanken der deutschen Kanonisten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Freiburger Theologische Studien 18), Freiburg i.Br. u.a. 1968, S. 66. 44 Ebd., S. 62. 45 Zu einer ähnlichen Position fand der Bamberger Kanonist Franz Andreas Frey; vgl. Euchar Franz Schuler, Die Bamberger Kirche im Ringen um eine freie Kirche im freien Staat. Das Werden und Wirken des Bamberger Kirchenrechtlers Franz Anton Frey (1753-1829) in den Auseinandersetzungen mit dem josephinistischen Staatskirchentum, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 115 (1979), S. 5^426. 42

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verhindern k o n n t e . 4 6 N o c h größere Wachsamkeit war aber geboten, als Würzburg 1814 wieder Bayern zugeschlagen wurde. I n der Debatte u m die Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland während des Wiener Kongresses (1814/15) und in den Jahren danach präzisierte Z i r k e l nochmals i n einer größeren Schrift seine Vorstellungen zum Verhältnis von Staat und Kirche. I n der Abhandlung „ D i e deutsche Kirche

oder Prüfung

des Vorschlags

zur Begründung

und Einrichtung

katholische der

deut-

schen Kirche " 4 7 trat er den Bestrebungen und Ideen des spätaufklärerisch orientierten Konstanzer Weihbischofs Ignaz Freiherr von Wessenberg, näherhin seiner Broschüre „ D i e deutsche Kirche ein Vorschlag zu ihrer neuen Begründung und Einführung, 1815" entgegen. M i t großer Leidenschaft spricht er sich gegen das Erbe der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Febronianismus, Episkopalismus, Nationalkirche, Staatskirchentum, katholische Aufklärung) aus und in der restaurativen Atmosphäre nach der Niederlage Napoleons wagt er sich noch akzentuierter i m Sinne eines traditionellen Katholizismus zu äußern

48

Nachdrücklich reklamiert er die kirchlichen Freiheitsrechte und betont er den vor- und überstaatlichen Charakter der Kirche: „ D i e Kirchengewalt ist nimmermehr ein Attribut derselben [der Staatsgewalt]. Das Volk, als Kirchengemeinde hat auch das kirchliche Gesellschaftsrecht, als ein öffentliches Recht nicht von dieser oder jener Regierung erhalten, u m es bei jedem Wechsel von Neuem sich erbitten zu müssen; sondern es konstituiert sich, als Kirche m i t demselben Rechte, m i t welchem es sich zu einem bürgerlichen und politischen Gemeinwesen konstituiert hat, und machet daher sein K i r c h e n r e c h t . " 4 9 Gegenüber seinen früheren Aussagen gewinnt i n dieser Schrift vor allem auch die ultramontane Perspektive an Gewicht. Er erteilt Wünschen nach einem deutschen Primas oder Patriarchen eine deutliche Absage und warnt vor dem Partikularismus i n der Kirche. „Es [das deutsche Volk] w i l l m i t dem Oberhaupte der Kirche, dem Nachfolger des Fürsten der Apostel vereint seyn und b l e i b e n . " 5 0 Z w a r würden die Bischöfe die „wesentliche Gewalt zur Führung des Kirchenregiments" besitzen, genau so notwendig seien aber die päpstlichen Rechte: „ i n der kraftvollen Erhaltung der Einheit der allgemeinen Kirche, i n

46 Vgl. Erich Müller, Aegidius Jais (1750-1822). Sein Leben und sein Beitrag zur Katechetik (Freiburger Theologische Studien 108), Freiburg i.Br. u.a. 1979, S. 226288; vgl. Ludwig, Weihbischof Gregor Zirkel, Bd. 2, 1906, S. 240-270. 47 [Gregor Zirkel], Die deutsche katholische Kirche oder Prüfung des Vorschlags zur neuen Begründung oder Einrichtung der deutschen Kirche, Deutschland 1817. 48 Zu den Fragen der kirchlichen Neuordnung in Bayern vgl. Karl Hausberger, Staat und Kirche nach der Säkularisation. Zur bayerischen Konkordatspolitik im frühen 19. Jahrhundert (Münchener Theologische Studien I, Historische Abteilung 23), St. Ottilien 1983. 49 Ebd., S. 5 f. 50 Ebd., S. 11.

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der Handhabung der gleichmäßigen Ordnung, in der Einförmigkeit der Kirchenzucht und des Gottesdienstes und überhaupt in dem Verhältniße der Kirche zu den Staaten und der Staatsgewalt" 5 1 Das Papsttum biete Schutz vor den übermäßigen Ansprüchen des Staates und verhindere den Zerfall der Kirche in eine Vielzahl von Staatskirchen. Die Freiheit von Rom würde nur zu einer noch größeren staatlichen Abhängigkeit führen. Neuerlich fordert er eine Beschränkung der Staatsgewalt auf die weltlichen Aufgaben: „Nach unserer Überzeugung sind die Fürsten nur Fürsten in der sichtbaren Welt und für die Zwecke dieser Welt; ... ihr Beruf erstrecket sich nicht auf die unsichtbare Welt hinüber und folglich auch nicht auf das Geschäft des H e i l s " 5 2 . Anders sieht er die Position der Kirche, in der wiederum problemlos Unsichtbares und Sichtbares verbunden seien. Für die sichtbare Kirche erwartet er materielle Selbständigkeit, den öffentlichen Schutz des Besitzes und weitgehende ImmunitätsVorrechte. Gerne ist Zirkel bereit von der Adels- und Reichskirche der Vergangenheit Abschied zu nehmen; adelige Privilegien in der Kirche lehnt er ab. Auch w i l l er keine verfassungsmäßige Mitwirkung des Geistlichen Standes i m staatlichen Bereich; er spricht sich gegen eine Mitgliedschaft der Bischöfe und Pfarrer an den Landständen qua A m t aus, wie es in den traditionellen Ständeversammlungen (Geistlichkeit als erster Stand) üblich war. Gleichwohl ist es sein Anliegen, „daß die Kirche auf die öffentliche Gesetzgebung und die Staatsverwaltung mehr Einfluß hätte, als ihr in den neueren Zeiten gestattet ward. Sie würde nach Pflichten verhüten, daß die öffentliche Moral und Religion nicht verletzet würde, und aufmerksam auf das machen, was von den ewigen Grundsätzen der Wahrheit abweichet, und daher gemeinschädlich und verderblich i s t . " 5 3 Dafür w i l l er auch gerne die Mittel einer liberalen Staatsverfassung einsetzen, weswegen er sich gut vorstellen kann, dass einzelne Geistliche vom Volk beauftragt werden, „seine Rechte in der Ständeversammlung zu vertreten." 5 4 Überhaupt vertraut Zirkel mehr auf die nach seiner Auffassung noch gesunden und glaubenstreuen Kräfte i m Volk und sieht so durchaus in der Demokratisierung eine gewisse Chance, die Position aufgeklärter (und später liberaler) Eliten schwächen zu können, womit er zumindest in Bayern durchaus Recht bekommen sollte. Grundsätzlich sollen aber Staat und Kirche organisatorisch und verfassungsmäßig deutlich geschieden sein: „Der Bischof sei der Hirte der Seelen und führe sie zum ewigen Leben und dabei bleibe er; hat er kirchliche Angelegen-

51 52 53 54

Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54.

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heiten, so trage er sie dem Landesherrn vor, und wenn seine Bitten die landständischen Rechte berühren, so ersuche er auch sie um Unterstützung; darüber aber gehe er nicht hinaus. Die Kirche und die Kirchengewalt sollte sich auf ihr Gebiet zurückziehen und die Erweiterung und Ausdehnung der Verhältnisse ablehnen, damit auch der Staat und die Staatsgewalt nicht versuchet werde, in das Gebiet der Kirche einzudringen." 5 5 Allerdings ist für Zirkel das Aufgabenfeld der Kirche ausgedehnter, als wir es heute allgemein akzeptieren würden, so w i l l er der Kirche i m Schul- und Bildungsbereich einen großen Einfluss sichern und so lehnt er es auch ab, die Ehe zu den bürgerlichen Verträgen zu rechnen. 5 6 Der Verzicht der Kirche an verfassungsmäßiger Mitwirkung bedingt für Zirkel den Rückzug des Staates von kirchlichen Angelegenheiten. So weist er den Anspruch des landesherrlichen Plazets energisch zurück: „Es gränzet beinahe an Widerspruch, daß, während man die unbeschränkte Presse- und Lesefreiheit gestattet, die päbstlichen Bullen, Breven und Anordnungen der landesherrlichen Genehmigung unterliegen sollen. Der Unglaube dürfe also sein Wesen treiben, und in Schriften aller Art ungescheut sich aussprechen; nur der Vater der Gläubigen, das Haupt der allgemeinen Kirche dürfe nicht an seine Gemeinde sprechen, sie belehren, berathen, trösten und ihr Betragen in den Stürmen der Zeit l e i t e n ! " 5 7 Die Kirche müsse freie Entfaltungsmöglichkeiten besitzen; die Verkündigung dürfe nicht eingeschränkt werden, ebenso wenig die Gründung von Ordensniederlassungen. Da Zirkel die Unabhängigkeit der Kirche das größte Anliegen ist, kommt für ihn auch ein Amtseid der Geistlichen gegenüber dem Staat nicht in Frage. Hinsichtlich anderer christlicher Konfessionen plädiert Zirkel für Toleranz „als christliche Sitte und Gesinnung, welche die Person von der Lehre unterscheidet." 5 8 Er beklagt aber, dass diejenigen, welche den modernen philosophischen Grundsätzen der Aufklärung huldigen, keine neutrale Haltung einnehmen, sondern unter den Forderungen nach Duldung und Religionsfreiheit sogar den Kampf gegen Kirche und Religion aufnähmen. Es würden „nun die Lehren der ewigen Wahrheit angegriffen, die heiligen Gebräuche abgewürdiget, der Glaube an die göttlichen Dinge aus dem Herzen genommen .. , " 5 9 . Ein Beispiel für die religiöse Unduldsamkeit dieser Kreise sei die Säkularisation des Kirchengutes gewesen; man würde gerade dadurch „der Freiheit des Gewissens und Gottesdienstes Fesseln anlegen" 6 0 .

55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 88-101. Ebd., S. 108. Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Ebd., S. 133.

Wolfgang Weiß

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Für die deutsche Situation sieht Zirkel ein paritätisches Verhältnis der christlichen Konfessionen für angebracht. „Jede Religionsgenossenschaft sei nur bedacht, ihre Unabhängigkeit ... gesichert zu erhalten. Hat jede Konfession das Ihrige, was sie zu ihrer Existenz bedarf; dann lasset uns nur wetteifern, das Gute zu thun, und den Glauben der Altvordern zurück zu bringen." 6 1 Wie schon angesprochen, vertrat Zirkel das durchaus zukunftsweisende M o dell einer freien Kirche i m freien Staat, das bei ihm mit der Hoffnung einer starken Kirche i m schwachen Staat verbunden war. Er sah daher in einer liberalen Staatsverfassung durchaus ein Chance für die Kirche, wenngleich er den Liberalismus und seine Grundsätze prinzipiell ablehnte. Was er pragmatisch befürwortete, lehnte er theoretisch ab. Es zeigt sich so bei ihm eine Diskrepanz, die i m Katholizismus des 19. und auch weithin des 20. Jahrhunderts vorherrschend war. Eine Schwäche der Überlegungen Zirkels liegt auch darin, dass er nur den Zusammenhang vom Irdischen und Überirdischen in der Kirche darstellt, aber gleichzeitig die Unterschiede übersieht. Sittlich religiöse Idee, Reich Gottes und sichtbare Kirche werden unkritisch gleichgesetzt. Die Kirche wird zu einer materiell gewordenen idealistischen Konstruktion, wird damit schließlich aber ungeschichtlich und überzeitlich. Das Identische, das Authentische der Kirche, das sich durch die Geschichte trägt, wird zum Maßstab, während das Wandelbare und auch die Fehler der Kirche kaum in Betracht gezogen werden. Durch die Analogie von Kirche und Gewissen w i l l Zirkel die Unterordnung der Kirche in den Staatsmechanismus vermeiden und klar machen, dass Kirche sich nicht damit begnügen kann, als verlängerter A r m des Staates zu gelten. Allerdings ist Zirkels Vergleich von Kirche und Gewissen schief, da die Kirche i m Gegensatz zum Gewissen nicht nur i m Bereich einer inneren Gesetzgebung anzusiedeln ist, sondern i m kirchenrechtlichen Rahmen der sichtbaren Kirche sich konkretisiert und sich damit auch den Mechanismen und Ambivalenzen jeder institutionellen Wirklichkeit unterworfen sieht. Zirkel zieht auch nicht die Konsequenz, den Ansatz mit den Freiheitsrechten auf das Innere der Kirche zu übertragen, sondern verfolgt weiter eine streng hierarchische und autoritätsbestimmte Linie. Prinzipiell wird damit eine Tendenz sichtbar, die für die weitere kirchenpolitische Entwicklung des 19. und weit ins 20. Jahrhundert prägend sein wird: Betonen der Freiheit für die Kirche als Institution, dagegen Ablehnen der Freiheit der Individuen und jeglicher innerkirchlicher Freiheitsvorstellungen. Zirkel versuchte in einer schwierigen Situation an einem Neuanfang mitzuarbeiten, der sich in vielem an alten Vorstellungen vor Beginn der Aufklärungsära orientierte, aber trotzdem nicht nur Restauration bedeutete, sondern aus den veränderten Begebenheiten heraus Wesen und Aufgabe von Religion und Kirche 61

Ebd., S. 150.

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sowie deren Verhältnis zum Staat neu zu bestimmen suchte. Er gehörte mit zu den ersten Persönlichkeiten, die in dieser Zeit nicht durch Anpassung an die Staatsmacht die Kirche zu erhalten suchten, sondern sich offensiv gegen einen staatlichen Allgewaltsanspruch wehrten und Freiheit für die Kirche einforderten. Ultramontane Orientierung sowie Erhalt und Aufbau eines Volkskatholizismus waren hierbei wichtige Aspekte. Dem Urteil Leo Günthers ist daher auch heute noch zuzustimmen: „Durch seine Kämpfe mit dem Staatskirchentum ... war er bahnbrechend und vorbildlich für die katholische Bewegung geworden ... und hatte in seiner Person den Prototyp des deutschen Bischofs des 19. Jahrhunderts geschaffen." 62

62 Leo Günther, Würzburger Chronik, Personen und Ereignisse von 1802-1848, 3. Bd., Würzburg 1925, S. 310.

Integratives Denken und die Eigenständigkeit von Systemen Von Karl-Friedrich Wessel Wer die Gesamtheit der Schriften von Hans Hablitzel nicht kennt, wird immer wieder von der Souveränität der Herangehensweise an sehr verschiedene Gegenstände und Sachverhalte erstaunt sein. Selbst in der ungewöhnlichen Menge der von ihm verfassten Rezensionen spiegelt sich eine Vielfalt wieder, die weit über sein breitgefächertes Fachgebiet der Rechtswissenschaft hinausgeht. Beschäftigt man sich aber genauer mit seinen Schriften, vermag man sehr gut nachzuvollziehen, woher die wie selbstverständlich wirkende Integration von Erkenntnissen unterschiedlicher Disziplinen, vor allem aber die methodische Sicherheit in der Bewältigung sehr komplexer Sachverhalte kommt. M i r scheint, dass er sehr viel der intensiven Beschäftigung mit dem vielseitigen französischen Philosophen Jean-Marie Guyau verdankt, ganz abgesehen davon, dass dieser Sachverhalt eine Ursache hat, die mir allerdings unbekannt ist. 1988 jedenfalls legte Hans Hablitzel seine Dissertationsschrift „Lebensphilosophie und Erziehung bei Jean-Marie Guyau (1854-1888)" der Universität Bonn vor und verteidigte sie erfolgreich. Seither beschäftigt er sich immer wieder und sehr intensiv mit diesem Philosophen, der ein wahrhafter Integrationsstifter ist. Ganz abgesehen davon, dass es eine zu würdigende Leistung ist, sich intensiv mit einem lange und wohl noch immer unterschätzten Philosophen zu beschäftigen, ging es Hablitzel wohl besonders darum, die Anregungen Guyaus für die notwendige Integration des Wissens herauszuarbeiten, sichtbar zu machen und selbst aufzunehmen. Ein sehr umfassendes, unveröffentlichtes Manuskript trägt den Titel: „Interdisziplinarität und Lebensphilosophie i m Werk Jean-Marie Guyaus (18541888)". M i r geht es hier nicht um eine Würdigung der sehr umfassenden und intensiven Beschäftigung mit Guyau, die wäre hier schwerlich zu leisten. Hervorheben möchte ich nur, was für einen noch zu bezeichnenden Zusammenhang wichtig ist. Es handelt sich um die Beschäftigung mit der Zeit. Bei Hablitzel heißt es: „In seiner Psychologie der Zeit hat Guyau einen zweifachen interdisziplinären Ansatz gefunden: Zum einen ein ganzheitlicher Ansatz, der schon auf die spätere Gestaltpsychologie hinweist. Dazu hat, in Anlehnung an Wundt, wesentlich die Herein23 FS Hablitzel

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Karl-Friedrich Wessel

nähme naturwissenschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse beigetragen. Wenn Immelmann betont, dass bezüglich der Interdisziplinarität zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert vor allem über die Psychologie der interdisziplinäre Schritt' getan worden sei, so ist Guyaus Zeitpsychologie ein gutes Beispiel dafür; dies gilt nicht zuletzt bezüglich der auch von Immelmann betonten Einbeziehung von Zoologie, Ethologie und Humanethologie - einer Einbeziehung, die auch Guy au vornimmt. Zum anderen ist die schon erwähnte Kategorie ,Zeit\ deren Einbeziehung in die Fragestellung der einzelnen Disziplinen ihre Aussagekraft und Kohärenz beachtlich erweitert. Ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es, das Werk Guyaus zur Psychologie und Philosophie der Zeit bekannt zu machen, da eine deutsche Übersetzung immer noch aussteht." (Hablitzel 1992, Bd. I, S. 14) Abgesehen davon, dass mittlerweile eine Übersetzung vorliegt (Jean-Marie Guyau: Die Entstehung des Zeitbegriffs), hat sich Hablitzel i m genannten Manuskript ausführlich mit der Psychologie und Philosophie der Zeit beschäftigt. Beachtet man die Einordnung des Zeitphänomens in einem noch größeren Zusammenhang, dann wird die Herangehens weise an Probleme unterschiedlichster Art deutlich. „Daß Guyau durch die Beschäftigung mit der Evolutionstheorie möglicherweise auf seinen umfassenden Lebensbegriff als Grundlage seiner Lebensphilosophie hingelenkt worden ist, erscheint plausibel. Denn Evolution ist ja Entfaltung des Lebendigen. Durch Einbeziehung des Evolutionsparadigmas in seine Überlegungen ist Guyau als Schrittmacher der Verknüpfung von Evolutionstheorie mit Geistes-, Kulturund Gesellschaftswissenschaften anzusehen. Interessant ist, dass dieses Bemühen, disziplinübergreifend, bis heute andauert, ..." (Ebenda, S. 14 f.) Unter diesem Gesichtpunkt und nur darauf möchte ich verweisen, wird die Souveränität der Behandlung ganz spezieller Probleme durch Hablitzel deutlich. Es geht mir um das Beispiel des Zusammenhangs von Bildung und den Vereinigungsprozess in der Europäischen Gemeinschaft. Dies scheint zunächst ein rein juristisches Problem zu sein, jedenfalls dann, wenn man das Harmonisierungsverbot i m Bildungsbereich i m Rahmen der EU-Richtlinien in den Mittelpunkt stellt. Bei Hablitzel heißt es dazu: „Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die neuen Harmonisierungsverbote im Bildungsbereich nicht ohne Auswirkung auf die bestehenden und vor allem künftigen EU-Anerkennungsrichtlinien betreffend Diplome, Zeugnisse und andere Befähigungsnachweise ... bleiben. Zuzugeben ist, dass es fast einer Quadratur des Kreises gleichkommt, den Marktfreiheiten ..., vor allem der Freizügigkeit von Personen, angesichts der Harmonisierungsverbote im Bildungsbereich zum Durchbruch zu verhelfen. Anlaß zur Sorge geben die derzeit laufenden Aktivitäten der Kommission, eine neue Richtlinie über die Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise auszuarbeiten. Dabei soll das bisherige System der allgemeinen und sektoralen Anerkennungsregelungen durch einen gravierenden Einschnitt derart geändert werden, daß mittels eines juristischen Systembruchs sektorale und allgemeine Anerkennungsregelungen miteinander verbunden werden. Die Gefahr einer

Integratives Denken

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indirekten Steuerung und Harmonisierung der nationalen Bildungssysteme zeichnet sich hier deutlich ab. Mindestforderung bezüglich der geplanten neuen Richtlinie wird es angesichts der Kollision von Harmonisierungsauftrag in Art. 47 EGV und Harmonisierungsvorboten in Art. 149, 150 EGV sein, entsprechend der vom deutschen Verfassungsrecht her bekannten Auslegungsmaxime der praktischen Konkordanz' zu einem schonenden Ausgleich zu gelangen." (Hablitzel 2002, S. 413 f.) Deutlich ist ein strukturelles Problem gekennzeichnet, welches nur unter Beachtung eines Zeithorizontes gelöst werden kann. Die „Quadratur des Kreises" lässt sich nur umgehen, wenn sowohl Harmonisierungsauftrag wie auch Harmonisierungsverbot einem einheitlichen Prozess unterworfen werden, der immer wieder in gesetzliche Regelungen gerinnt. Es ist verständlich, dass die Anerkennung von Diplomen und sonstigen Bildungsnachweisen angestrebt wird. Aber man muss sich der Grenzen bewusst sein, denn es handelt sich um einen Teil eines umfassenden Systems, welches immer mit Tradition und Geschichte verbunden ist. I m Übrigen schließen Regelungen j a nicht unbedingt den vernünftigen Umgang mit ihnen aus. „Die neuen bildungsrechtlichen Harmonisierungsverbote im Vertrag von Maastricht bzw. von Amsterdam sind im übrigen nur mit den ebenfalls neu eingeführten Harmonisierungsvorboten im kulturellen Bereich ..., im Bereich der Beschäftigungspolitik ... und in der Gesundheitspolitik ... vergleichbar. Bleiben die Mitgliedsstaaten ,Herren der Gesundheitspolitik', schließt Art. 151 EGV ein zentrales Integrationsinstrument aus, so bleiben die Mitgliedsstaaten erst recht seit Maastricht Herren der Bildungspolitik ... Nach alledem beschränkt sich die Zuständigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Allgemeinen und beruflichen Bildung und damit im Bereich der Weiterbildung im wesentlichen auf die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den im jeweiligen Absatz 2 genannten Zielen, welche dort abschließend aufgezählt sind. Im übrigen darf die Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Allgemeinen Bildung nur »erforderlichenfalls' unterstützen und ergänzen." (Eggers, Hablitzel 2002, S. 176) Ganz unabhängig von der juristischen Begründung des HarmonisierungsVerbotes, auf das Subsidiaritätsprinzip kann ich hier nicht eingehen (siehe Hablitzel, Eggers 1996, S. 227 ff.), ist dieses Verbot realitätsnah und entspricht der Berücksichtigung des Verhältnisses von Sein und Werden. Das Werden einer Realität führt zu einer Struktur, die nur in und durch Zeit wieder aufgehoben werden kann, es sei denn, man wolle ein konkretes System zerstören. Anthropologisch betrachtet haben zwar die Menschen i m Prinzip, ganz unabhängig davon, wo sie leben, gleiche Voraussetzungen für die Bildung, aber die Gemeinschaft, in denen sie leben, haben ihre eigenen Traditionen und ihre eigene Geschichte und somit ein jeweils eigenes Gewordensein, was auch die Institutionen für Kultur und Bildung einschließt. Insofern hat jede Gemeinschaft die Pflicht, die Verschiedenheit zu wahren und zu sichern, dass Gemeinsamkeiten dort und dann entstehen, wenn und wo sich vernünftige Ansatzpunkte dazu 23*

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Karl-Friedrich Wessel

bieten. Neben den juristischen Argumenten scheinen die philosophischen tiefer zu liegen. Es ist zuzustimmen, wenn Hablitzel sagt: „Die meist ablehnenden Stellungnahmen des Bundesrates zu den EU-Bildungsaktivitäten wollen nicht blockieren; sie stellen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bildungssektor nicht infrage, weisen aber auf die Grenzen der Gemeinschaftskompetenzen hin. Im Übringen gilt: Der Wettbewerb der nationalen Bildungssysteme in der modernen Wissensgesellschaft ist vielleicht produktiver als eine EuroBildungsnorm. Wer gleichwohl eine Euro-Bildungsnorm will, muss den EGV ändern." (Hablitzel 2002, S. 269) Eine „Euro-Bildungsnorm" wäre meines Erachtens verheerend. Offensichtlich sind w i r vor ihr sicher, weil sie nicht herzustellen ist. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass es viel Vergleichbares gibt. Dieses muss aber in einem zeitlichen Rahmen „erarbeitet" werden. Ein vernünftiger Wettbewerb sollte nicht zum Z i e l haben, ein einheitliches Bildungswesen zu schaffen, jedenfalls nicht in einer überschaubaren Zeit. Er wird, die Eigenzeit für die Entwicklung von Systemen wie das Bildungswesen unterstellt, immer wieder neue herausfordernde Unterschiede hervorbringen. Die Vielfalt der Bildungssysteme sichert die Identität von Staaten und Gemeinschaften, der permanente Vergleich, das vernünftige Miteinander führt zu immer neuen Gemeinsamkeiten. Diese aber sollten wachsen können und nicht künstlich erzeugt werden. Das Ringen u m den Ausgleich zwischen Harmonisierungsverbot und Harmonisierungsauftrag ist eine dem steten Prozess innewohnende Aufgabe, die durch eine Verbindung von Philosophie und Rechtswissenschaft -

oder weitergefasst durch

integratives

Denken, dem sich Hablitzel verpflichtet fühlt - am besten begleitet wird.

Literatur Eggers, Phillipp/Hablitzel, Hans (2002): Schranken einer Europäisierung des Weiterbildungsrechts - Bemerkungen zu Art. 149 (ex-Art. 126) und 150 (ex-Art. 127) EGW. In: Björn Paape & Karl Pütz (Hrsg.): Die Zukunft des lebenslangen Lernens. The Future of Lifelong-Learning. Frankfurt/M., S. 167-175. Hablitzel, Hans (1988): Lebensphilosophie und Erziehung bei Jean-Marie Guyau (1854 -1888), Dissertationsschrift. Bonn. -

(1992): Interdisziplinarität und Lebensphilosophie im Werk Jean-Marie Guyaus (1854-1888), 2 Bände, unveröffentlicht.

-

(2002): Harmonisierungsverbot und Subsidiaritätsprinzip im europäischen Bildungsrecht. In: Die Öffentliche Verwaltung, Zeitschrift für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft, Heft 10, S. 4 0 7 ^ 1 4 .

-

(2002): Euro-Bildungsnorm trotz Harmonisierungsverbot? In: Grundlagen der Weiterbildung, Nr. 6, S. 269.

Integratives Denken

357

Hablitzel, Hans! Eggers, Philipp (1996): Interdisziplinarität und Subsidiarität. In: Kleinhempel, Fritz u.a. (Hrsg.): Biopsychosoziale Einheit Mensch - Begegnungen. Bielefeld, S. 225-232. Hablitzel, HansINaumann, Frank (Hrsg.) (1995): Jean-Marie Guyau: Die Entstehung des Zeitbegriffs, 2. Auflage.

Schriftenverzeichnis von Prof. Dr. iur. utr. Dr. phil. Hans Hablitzel*

Buchveröffentlichungen Verbands- und Betriebsratskompetenzen für rechtsetzende Vereinbarungen im Arbeitsrecht - Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Gewerkschaften und Betrieb, Jur. Diss. Würzburg 1970 Recht und Staat - Festschrift für Prof. Dr. Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag am 21.8.1972 (zusammen mit Michael Wollenschläger), 2 Bde., Berlin 1972 Recht und Rechtsbesinnung - Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff (1907-1983) (zusammen mit Manfred Just, Michael Wollenschläger, Philipp Eggers), Berlin 1987 Prof. Dr. Johann Kaspar Zeuß - Begründer der Keltologie und Historiker aus Vogtendorf/Oberfranken. Mit einem Vorwort von Laetitia Boehm, Universität München. Kronach 1987 Lebensphilosophie und Erziehung bei Jean-Marie Guyau - Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogischen Soziologie, Phil. Diss. Bonn 1987/1988 Jean-Marie Guyau: Die Entstehung des Zeitbegriffs (zusammen mit Frank Naumann), Cuxhaven 1993 (2. Aufl. Cuxhaven/Dartford 1995) Erziehung - Bildung - Recht. Beiträge zu einem interdisziplinären und interkulturellen Dialog. Festschrift für Philipp Eggers zum 65. Geburtstag am 9. Juli 1994 (zusammen mit Margret Fell und Michael Wollenschläger), Berlin 1994 Subsidiaritätsprinzip und Bildungskompetenzen im Vertrag über die Europäische Union, Regensburg 1994

Beiträge in Zeitschriften, Sammelwerken Wem gehört der Mond?, in: Handelsblatt vom 26.8.1969, S. 18 Zur Zulässigkeit von Betriebsvereinbarungen bei bestehender Tarifüblichkeit, in: Der Betrieb 1971, S. 2158 ff. Der Weltraumvertrag vom 27. Januar 1967 (Treaty of Outer Space) (zusammen mit Michael Wollenschläger), in: Festschrift für Prof. Dr. Günther Küchenhoff, Berlin 1972, S. 869 ff. * Zusammengestellt von Dr. rer. pol. Franz Hablitzel.

360

Schriftenverzeichnis

Prof. Dr. Günther Küchenhoff wurde 65 Jahre alt, in: Information - Mitteilungsblatt der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg vom 27.9.1972 (Nr. 7), S. 14 ff. Öffentlich-rechtliche Willenserklärung und Minderjährigenrecht, in: BayVBl. 1973, S. 197 ff. Rechtsnatur, Inhalt und Bedeutung der Nachbarunterschrift gem. Art. 89 BayBO (zusammen mit Franz-Ludwig Heiß), in: BayVBl. 1973, S. 233 Zur Dogmatik des Antrags beim mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt, in: BayVBl. 1974, S. 392 ff. Professor Dr. Wilhelm Joseph Behrs Geburtstag jährt sich zum 200. Male, in: Kronacher Neue Presse vom 4.10.1975, S. 12 und Fränkischer Tag vom 3.10.1975, S. 15 Grundprobleme der Widmungszustimmungserklärung im Straßen- und Wegerecht (zusammen mit Franz-Ludwig Heiß), in: DVB1. 1976, S. 93 ff. Günther Küchenhoff zum 70. Geburtstag (zusammen mit Michael Wollenschläger), in: NJW 1977, S. 1867 Prof. Dr. Günther Küchenhoff 70 Jahre (zusammen mit Michael Wollenschläger), in Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht (ZLW) 1978, S. 68 Das politische Mandat des Bundesrates - Bemerkungen zum Rederecht der Mitglieder des Bundesrates und ihrer Beauftragten im Deutschen Bundestag gem. Art. 43 Abs. 2 GG, in: BayVBl. 1979, S. 1 ff und S. 39 ff. Integration und Kooperation im europäischen Währungswesen, in: BayVBl. 1979, S. 300 ff. Das Kündigungsrecht nach § 569 BGB, in: Zeitschrift für Miet- und Raumrecht (ZMR) 1980, S. 289 ff. Die Young-Anleihe von 1930 und die Entscheidung des Internationalen Schiedsgerichtshofs von 1980 - Zeitgeschichte als Gegenstand völkerrechtlicher Schiedsgerichtsbarkeit und internationalen Währungsrechts, in: JZ 1981, S. 49 ff. Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz, in: BayVBl. 1981, S. 65 ff. und 100 ff. Günther Küchenhoff zum 75. Geburtstag (zusammen mit Michael Wollenschläger), in NJW 1982, S. 2230 In memoriam Günther Küchenhoff (zusammen mit Michael Wollenschläger), in: BayVBl. 1983, S. 208 ff. Günther Küchenhoff ( t ) (zusammen mit Michael Wollenschläger), in: NJW 1983, S. 1101 In memoriam Günther Küchenhoff (zusammen mit Rudolf Hanisch), in: BayVBl. 1983, S. 172 ff. Zur Anwendbarkeit von § 564 BGB bei einer Kündigung nach § 569 BGB, in: Zeitschrift für Miet- und Raumrecht (ZMR) 1984, S. 289 ff. Die Rechtsstellung des Beauftragten nach Art. 24 Bayer. Verfassung, in: BayVBl. 1984, S. 673 ff.

Schriftenverzeichnis Die Stadt Kronach im Spiegel der Geschichte, in: Neue Presse Kronach, vom 31.12.1985 Petitionsinformierungsrecht des Parlaments und Auskunftspflicht der Regierung, in: BayVBl. 1986, S. 97 ff. Johann Kaspar Zeuß (1806-1856), Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken, Bd. 66, Bayreuth 1986, S. 313 ff. Lebensphilosophie und Recht bei Jean-Marie Guyau (1854-1888), in: Recht und Rechtsbesinnung, Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff (1907-1983), Berlin 1987, S. 62 ff. Synopse „Kongreß Wirtschaft und Ethik - Ethik und Management", in: Tagungsberichte Band 6 des Bayer. Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr, München 1990, S. 187 ff. Jean-Marie Guyau (1854-1888) - Philosophe et Poete, in: Universität und Bildung, Festschrift Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag, München 1991, S. 361 ff. Jean-Marie Guyau - Leben und Werk des französischen Dichterphilosophen (1854— 1888), in: Hablitzel/Naumann, Jean-Marie Guyau: Die Entstehung des Zeitbegriffs, Cuxhaven 1993, S. 11 ff. Prof. Dr. Konrad Miller (1844-1933), Kartographiehistoriker, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Bayer. Akademie der Wissenschaften, München 1994, S. 525 ff. Prolegomena einer Dogmatik des Weiterbildungsrechts, in: Erziehung - Bildung Recht, Festschrift für Philipp Eggers, Berlin 1994, S. 327 ff. Weiterbildungsberatung für mittelständische Unternehmen, in: GdWZ (Grundlagen der Weiterbildung) 1994, S. 355 Berufliche Weiterbildung in Bayern (zusammen mit Monika Kreissl), in: GdWZ (Grundlagen der Weiterbildung) 1994, S. 356 Weiterbildungsberatung, GdWZ 1995, S. 55 Jean-Marie Guyau - Der „französische Nietzsche" als interdisziplinärer und soziologischer Denker, in: Karl-Friedrich Wessel et al. (Hrsg.), Bildungstheoretische Herausforderungen - Beiträge der Interdisziplinären Sommerschulen 1990-1993, Bd. 8 der Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik, Bielefeld 1996, S. 80 ff. Interdisziplinarität und Subsidiarität (zusammen mit Philipp Eggers), in: Friedrich Kleinhempel et al. (Hrsg.), Die Biopsychosoziale Einheit Mensch - Begegnungen - , Festschrift für Karl-Friedrich Wessel, Bd. 10 der Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik, Bielefeld 1996, S. 225 ff. Subsidiaritätsprinzip und Interdisziplinarität, in: Albrecht Weber (Hrsg.), Währung und Wirtschaft - Das Geld im Recht, Festschrift für Prof. Dr. Hugo J. Hahn zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1997, S. 625 ff. Das neue Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz des Bundes - AFBG (zusammen mit Christoph Pfaff), in: BayVBl. 1997, S. 577 ff.

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Schriftenverzeichnis

Johann Kaspar Zeuß (1806-1856) - Ein Historiker und Philologe des 19. Jahrhunderts, in: Stimme der Pfalz, Nr. 4/1997, S. 11 ff. Lebensbegleitendes Lernen - Qualifikation für den internationalen Wettbewerb, in: Berufsbildung 96 - Dokumentation, hrsg. vom Bayer. Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit, München 1997 Grundzüge des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes des Bundes - AFBG (zusammen mit Dr. Ulrike Wolf), in: Wirtschaft und Verwaltung, Nr. 2/98, S. 130 ff. Johann Kaspar Zeuß (1806-1856), in: Fränkische Lebensbilder (hgg. von Alfred Wendehorst), Bd. 17, Neustadt a. d. Aisch 1998, S. 165 ff. Mehr Differenzierung und Individualisierung, in: Helmut M. Selzer, Max Weinkamm, Carl Heese (Hrsg.): Leistungsstarke Auszubildende nachhaltig fördern, Dettelbach 1998, S. 10 Das Verhältnis von Tarif- und Betriebsautonomie im Lichte des Subsidiaritätsprinzips, in: NZA 2001, S. 467 ff. Schranken einer Europäisierung des Weiterbildungsrechts - Bemerkungen zu Art. 149 (ex-Art. 126) und 150 (ex-Art. 127) EGV (zusammen mit Philipp Eggers), in: Björn Paape und Karl Pütz (Hrsg.), Die Zukunft des lebenslangen Lernens, Festschrift zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Franz Pöggeler, Frankfurt/M. 2002, S. 167 ff. Harmonisierungsverbot und Subsidiaritätsprinzip im europäischen Bildungsrecht, in: DÖV 2002, S. 407 ff. Euro-Bildungsnorm trotz Harmonisierungsverbot?, in: Grundlagen der Weiterbildung 2002, S. 269 Johann Kaspar Zeuß (1806-1856) als Mitglied nationaler und internationaler Akademien der Wissenschaften, in: Verein 1000 Jahre Kronach (Hrsg.), Historisches Stadtlesebuch, Kronach 2003, S. 292 ff. Grundzüge des novellierten Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes (AFBG) (zusammen mit Florian Orlitsch), in: Wirtschaft und Verwaltung 2003, S. 248 ff. Bibliographie: Jean-Marie Guyau (zusammen mit Jordi Riba), in: Corpus-Revue de philosophie, Paris 2004, Nr. 46, S. 13 ff. Jean-Marie Guyau: Penseur interdisciplinaire et sociologue, in: Corpus-Revue de philosophie, Paris 2004, Nr. 46, S. 17 ff.

Buchbesprechungen Dieter Middel: Öffentlich-rechtliche 1971, in: BayVBl. 1972, S. 22 ff.

Willenserklärung von Privatpersonen, Berlin

Christian Starck: Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, Baden-Baden 1970 (zusammen mit M. Wollenschläger), in: BayVBl. 1972, S. 340 Reiner Schmidt: Wirtschaftspolitik und Verfassung - Grundprobleme, Baden-Baden 1971 (zusammen mit M. Wollenschläger), in: BayVBl. 1972, S. 479 ff.

Schriftenverzeichnis Franz-Ludwig Knemeyer: Regierungs- und Verwaltungsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Köln 1970 (zusammen mit M. Wollenschläger), in: BayVBl. 1972, S. 507 Joachim Burmeister: Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen, Frankfurt/M 1971, in: BayVBl. 1973, S. 251 Franz-Ludwig Knemeyer: Die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinden, Stuttgart 1973, in: BayVBl. 1973, S. 251 Peter Schindler: Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1972, in: BayVBl. 1973, S. 392 Helmut Ebisch/Joachim Gottschalk: Preise und Preisprüfungen bei Öffentlichen Aufträgen einschließlich Bauaufträgen, 3. Aufl. München 1973 (zusammen mit K. H. Fromm), in: BayVBl. 1973, S. 652 Franz-Ludwig Knemeyer: Bayerisches Kommunalrecht, München 1973 (zusammen mit M. Wollenschläger), in: BayVBl. 1974, S. 142 ff. Walter Leisner: Grundeigentum und Versorgungsleitungen, Berlin 1973, in: BayVBl. 1974, S. 176 Günther Küchenhoff: 1974, S. 688

Betriebsverfasssungsgesetz, 2. Aufl., Münster 1974, in: NJW

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Fonds- und Investitionshilfekompetenz des Bundes, München

1975, in: BayVBl. 1976, S. 384 Albert Bleckmann: Europarecht, Köln 1976, in: NJW 1976, S. 1831 Valentin Petev: Sozialistisches Zivilrecht, Berlin 1975, in: NJW 1976, S. 2064 Dietrich Fürst: Kommunale Entscheidungsprozesse. Ein Beitrag zur Selektivität politisch-administrativer Prozesse, Baden-Baden 1975, in: BayVBl. 1977, S. 32 Ernst Albrecht: Der Staat - Idee und Wirklichkeit, Stuttgart 1976, in: BayVBl. 1977, S. 127 Hugo J. Hahn/Albrecht Weber: Die OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Baden-Baden 1976, in: NJW 1977, S. 712

364

Schriftenverzeichnis

Ingo v. Münch (Hrsg.): Besonderes Verwaltungsrecht, Berlin/New York 1976, in: BayVBl. 1977, S. 288 Andreas Reich: Bayer. Hochschulgesetz, Bad Honnef 1977, in: Juristenzeitung 1977, S. 616 Rainer Keßler (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Staatshandbuch Teilausgabe Freistaat Bayern, Köln 1977, in: BayVBl. 1977, S. 648 Peter Breitenstein: Staatlich administrierte Preise, Baden-Baden 1977, in: BayVBl. 1978, S. 31 ff. Hans

Karl

Geeb/Heinz

Kirchner/Hermann-Wilhelm

Thiemann:

Deutsche Orden und

Ehrenzeichen, Köln 1977, in: BayVBl. 1978, S. 287 Wolfgang Graf von Vitzthum: Parlament und Planung, Baden-Baden 1978, in: BayVBl. 1978, S. 548 Wolf gang

Obernolte/Wolfgang

Danner:

Energiewirtschaftsrecht,

München

1977, in:

BayVBl. 1978, S. 712 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; Bde. 1 und 5, München 1978, in: BayVBl. 1979, S. 160 Bernd Rebe: Privatrecht und Wirtschaftsordnung. Zur vertragsrechtlichen Relevanz der Ordnungsfunktionen dezentraler Interessenkoordination in einer Wettbewerbswirtschaft, Bielefeld 1978, in: Juristenzeitung 1979, S. 360 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; Bd. 2, München 1979, in: BayVBl. 1979, S. 479 ff. Fritz Rittner: Wirtschaftsrecht mit Wettbewerbs- und Kartellrecht, Heidelberg 1979, in: Gewerbearchiv 1979, S. 400 Michael-Andreas Butz: Rechtsfragen der Zonenrandförderung, Köln 1980, in: BayVBl. 1980, S. 703 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bde. 3/1 und 3/2, München 1980, in: BayVBl. 1981, S. 287 ff. Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; Bd. 4, München 1981, in: BayVBl. 1981, S. 672 Fritz Neumark: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl., Bd. 1-3, Tübingen 1977/ 1980/1981, in: BayVBl. 1982, S. 31 Fritz Rittner: Einführung in das Wettbewerbs- und Kartellrecht, Heidelberg 1981, in: Gewerbearchiv 1982, S. 40 Michael Kloepfer/Christian Kohler: Kernkraftwerk und Staatsgrenze, Berlin 1981, in: Umwelt- und Planungsrecht 1982, S. 156 ff. Wolfgang Däubler: 1982, S. 287

Privatisierung als Rechtsproblem, Neuwied 1980, in: BayVBl.

Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; Bd. 6, München 1982, in: BayVBl. 1982, S. 703 ff.

Schriftenverzeichnis Michael

Wollenschläger/Wolfgang

Weickardt

(Hrsg.):

EZAR-Entscheidungssammlung

zum Ausländer- und Asylrecht, Baden-Baden 1982, in: BayVBl. 1983, S. 287 ff. Hasso Hofmann: Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981, in: Umweltund Planungsrecht 1983, S. 155 ff. Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; Bd. 7, München 1989, in: BayVBl. 1983, S. 608 Sibylle Heimburg: Verwaltungsaufgaben und Private, Berlin 1982, in: BayVBl. 1984, S. 32 Wolf gang Fikentscher: Wirtschaftsrecht, München 1983, Band I, in: Gewerbearchiv 1984, S. 72 Wolf gang Fikentscher: Wirtschaftsrecht, München 1983, Band II, in: Gewerbearchiv 1984, S. 176 Manfred Aust/Rainer Jacobs: Die Enteignungsentschädigung, 2. Aufl. Berlin 1984, in: Umwelt- und Planungsrecht 1984, S. 375 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Aufl., Bd. 1, München 1984, in: BayVBl. 1985, S. 192 Fried Esterbauer: Einführung in die Politikwissenschaft, Graz 1984, in: BayVBl. 1985, S. 192 Jürgen Held: Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, Berlin 1984, in: Umwelt· und Planungsrecht 1985, S. 239 ff. Paul-Werner S. 264

Scheele: Bruno von Würzburg, Würzburg 1985, in: academia Nr. 6/85,

Karl-Heinz Rothe: Umlegung und Grenzregelung nach dem Bundesbaugesetz; in: Umwelt- und Planungsrecht 1985, S. 362 ff. Norbert Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984, in: BayVBl. 1985, S. 672 Dirk Ehlers: Verwaltung in Privatrechtsform, Berlin 1984, in: BayVBl. 1985, S. 704 Werner Hahn: Offenbarungspflichten des Umweltschutzrechts, Köln 1984, in: Umwelt- und Planungsrecht 1986, S. 97 Günter Püttner: Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., München 1985, in: BayVBl. 1986, S. 190 Marcus Junkelmann: Napoleon in Bayern, Regensburg 1985, in: BayVBl. 1986, S. 256 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch; 2. Aufl., Bde. 2 und 3/2, München 1985/1986, in: BayVBl. 1986, S. 416 Karl Korinek (Hrsg.): Beiträge zum Wirtschaftsrecht - Festschrift für Karl Wenger zum 60. Geburtstag, Wien 1983, in: BayVBl. 1986, S. 671 ff. Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1 u. 2, Freiburg i.Br. 1985/ 1986, in: BayVBl. 1987, S. 127

Schriftenverzeichnis

366

Georgios Magoulas/Jürgen Simon: Recht und Ökonomie beim Konsumentenschutz und Konsumentenkredit, Baden-Baden 1985, in: Politische Studien Nr. 291/1987, S. 101 Hermann Hill: Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1986, in: Umwelt- und Planungsrecht 1987, S. 63 ff. Heinz Rutkowski/Wolfram R. Schulz (Hrsg.): Handbuch Bau- und Bodenrecht, Wiesbaden 1986, in: Umwelt- und Planungsrecht 1987, S. 64 Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller: Erlebte und gelebte Universität. Die Universität München im 19. und 20. Jahrhundert; Pfaffenhofen 1986, in: academia Nr. 2, 1987, S. 100 Rudolf Schiedermair/Michael

Wollenschläger:

Handbuch des Ausländerrechts der Bun-

desrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1986, in: BayVBl. 1987, S. 351 ff. Otto Kimminich/Heinrich

Frhr.

von Lersner/Peter-Christoph

Storm (Hrsg.): Handwör-

terbuch des Umweltrechts, Band I, Berlin 1986, in: Umwelt- und Planungsrecht 1987, S. 268 Michael Ronellenfitsch: Einführung in das Planungsrecht, Darmstadt 1986, in: Umwelt- und Planungsrecht 1987, S. 297 Albert Schlez: Baugesetzbuch, 3. Aufl., Wiesbaden 1987, in: Umwelt- und Planungsrecht 1987, S. 339 Eckhard Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, Düsseldorf 1985, in: BayVBl. 1987, S. 576 Rainer A. Müller: Akademische Ausbildung zwischen Staat und Kirche. Das Bayerische Lyzealwesen 1773-1849, Paderborn 1986, in: BayVBl. 1987, S. 735 ff. Martin Schnell: Der Antrag im Verwaltungsverfahren, Berlin 1986, in: BayVBl. 1987, S. 768 Hermann

Kunst/Siegfried

Grundmann/Roman

Herzog/Klaus

Schlaich/Wilhelm

Schnee-

melcher (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987, in: Politische Studien Nr. 299/1988, S. 339 ff. Detlef K. Müller/Fritz Ringer/Brian Simon: The Rise of Modern Educational System: Structural Change and Social Reproduction 1870-1920; Cambridge/Paris 1987, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1988, S. 274 Otto Kimminich/Heinrich

Frhr.

von Lersner/Peter-Christoph

Storm (Hrsg.): Handwör-

terbuch des Umweltrechts, Band II, Berlin 1988, in: Umwelt- und Planungsrecht 1988, S. 386 „Verdient um Bayern und das bayerische Volk ... Die Träger des Bayerischen Verdienstordens 1958-1988", Percha 1988, in: BayVBl. 1988, S. 768 Dorothea Deneke: Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, Köln 1987, in: Umweltund Planungsrecht 1988, S. 430 Rolf Baer: Psychiatrie für Juristen, München 1988, in: BayVBl. 1989, S. 96

Schriftenverzeichnis Karl-Heinz Rothe: Verwirklichung von Bebauungsplänen mit oder ohne Gebotsanordnung und die Erhaltung baulicher Anlagen, Wiesbaden 1986, in: Umwelt- und Planungsrecht 1989, S. 98 Helmuth Schulze-Fielitz: Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, Berlin 1988, in: Umwelt- und Planungsrecht 1989, S. 99 Benno Kuppler S. J.: Kapital im Wandel, Baden-Baden 1988, in: BayVBl. 1989, S. 319 Gerhard Kohler: Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1988, in: BayVBl. 1989, S. 480 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Aufl., Bde. 5/3 und 3/1, München 1987/1988, in: BayVBl. 1989, S. 512 Udo Steiner: Besonderes Verwaltungsrecht, Heidelberg 1988, in: Umwelt- und Planungsrecht 1989, S. 296 Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 3 und 4, Freiburg i.Br. 1987/ 1988, in: BayVBl. 1989, S. 576 Theodor Maunz/Klaus

Obermayer/Wilfried

Berg/Franz-Ludwig

Knemeyer:

Staats- und

Verwaltungsrecht in Bayern, 5. Aufl. Stuttgart 1988, in: Politische Studien Nr. 306/ 1989, S. 538 ff. Gabriele Wiesend: Das Ausschußwesen des Bayerischen Landtags, München 1989, in: BayVBl. 1989, S. 704 Jörg Peter/Kay-Uwe Rhein (Hrsg.): Wirtschaft und Recht, Osnabrück 1989, in: BayVBl. 1990, S. 64 Hyung-Bae

Kim/Wolfgang

Frhr.

Marschall

von Bieberstein:

Zivilrechtslehrer

deut-

scher Sprache, München 1988, in: MDR 1990, S. 192 Gerhard

und Maria

Sabathil:

Förderprogramme

der E G -

1989, B o n n

1989, in:

BayVBl. 1990, S. 512 Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, in: BayVBl. 1990, S. 575 Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 5, Freiburg 1989, in: BayVBl. 1990, S. 608 Reiner Schmidt: Öffentliches Wirtschaftsrecht - Allg. Teil, Berlin 1990, in: BayVBl. 1990, S. 640 Rainer A. Müller: S. 235

Geschichte der Universität, München 1990, in: academia 1990,

Rolf Stober: Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, Stuttgart 1989, in: BayVBl. 1990, S. 704 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Aufl., Bde. 6 und 7, München 1989/1990, in: BayVBl. 1991, S. 64

368

Schriftenverzeichnis

Jürgen Henze ( zusammen mit Yan-Dong XU): Berufliche Bildung des Auslands Volksrepublik China, Baden-Baden 1989, in: BayVBl. 1991, S. 223 ff. Hugo J Hahn: Währungsrecht, München 1990, in: BayVBl. 1991, S. 256 Norbert Achterberg/Günter Püttner: Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, Heidelberg 1990, in: BayVBl. 1991, S. 383 Walter

Baum (zusammen m i t Wolf gang Stump):

Hans Luther in der Politik der Wei-

marer Republik 1922-1926, Kronach 1990, in: BayVBl. 1991, S. 448 Barbara Pezzini: II Bundesrat della Germania Federale, Milano 1990, in: DVB1. 1991, S. 828 Konrad Reuter: Praxishandbuch Bundesrat, Heidelberg 1991, in: BayVBl. 1992, S. 288 Erich Loitlsberger: Grundriß der Betriebswirtschaftslehre für Juristen, Wien 1990, in: BayVBl. 1992, S. 320 Wolf gang

Kleiber/Jürgen

Simon/Gustav

Weyers (Hrsg.): Recht und Praxis der Ver-

kehrswertermittlung, Köln 1991, in: BayVBl. 1992, S. 416 Otto Gritschneder : Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H., München 1990, in: BayVBl. 1992, S. 544 Norbert Achterberg/Günter Püttner: Besonderes Verwaltungsrecht, Heidelberg 1991, Bd. 2, in: BayVBl. 1993, S. 32 Gerhard Lüke/Alfred Walchshöfer (Hrsg.): Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 1-3, München 1992, in: BayVBl. 1993, S. 608 Clemens Stewing: Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, Köln 1992, in: BayVBl. 1993, S. 767 Bernd Schiefer, Schulung und Weiterbildung im Arbeits- und Dienstverhältnis, Stuttgart 1993, in: GdWZ 1993, S. 365 Erwin Dichtl/Otmar Issing (Hrsg.): Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, 2. Aufl., München 1993, in: BayVBl. 1994, S. 128 Alfred Gläßer/Rainer Α. Müller: Veritati et Vitae - Eichstätter Festschrift, Regensburg 1993, in: BayVBl. 1994, S. 352 Ulrich Hammer: 1994, S. 51

Berufsbildung und Betriebsverfassung, Baden-Baden in: GdWZ

Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 6 und 7, Freiburg 1993, in: BayVBl. 1994, 479 Ingo Richter: Recht der Weiterbildung, Baden-Baden 1993, in: GdWZ 1994, S. 169 Christoph

Nicht/Wolfgang

Weiss/Ronald

Ziegler

(Hrsg.): I n nomine sinceritatis et con-

stantiae, Würzburg 1993, academia Nr. 3/1994, S. 102 Bernhard Schima: Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Wien 1994, in: JZ 1994, S. 899 Helmut Lecheler: Das Subsidiaritätsprinzip - Strukturprinzip Union, Berlin 1993, in: BayVBl. 1994, S. 671

einer europäischen

Schriftenverzeichnis Alois Riklin/Gerhard Batliner: Subsidiarität/Ein interdisziplinäres Symposium, BadenBaden 1994, in: DVB1. 1994, S. 1318 Stefan Ulrich Pieper: Subsidiarität/Ein Beitrag zur Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen, Köln 1994, in: NJW 1995, S. 378 Ulrich Hübner/Vlad Constantinesco: Einführung in das französische Recht, 3. Aufl. München 1994, in: Riviera - Cote d'Azur Zeitung Nr. 7/1995, S. 7 Albrecht

Randelzhofe r/Rupert

Scholz/Dietrich

Wilke

(Hrsg.):

Gedächtnisschrift

für

Eberhard Grabitz, München 1995, in: NJW 1995, S. 1878 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., Bde. 1, 7 und 8, München 1993/1993/1992 in: BayVBl. 1995, S. 64 Reinhard Richardi/Otfried Wlotzke (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1-3, München 1992/1993, in: BayVBl. 1995, S. 480 Johannes Hengstschläger et al. (Hrsg.): Für Recht und Staat. Festschrift für Herbert Schambeck, Berlin 1994, in: BayVBl. 1996, S. 126 Christoph Thun-Hohenstein/Franz S. 48

Cede: Europarecht, Wien 1995, in: ThürVBl. 1996,

Hermann-Josef Blanke: Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgemeinschaft, Köln 1994, in: DÖV 1996, S. 180 Murad Ferid/Hans-Jürgen Sonnenberger: Das Französische Zivilrecht, 2. Aufl. Bd. 1 4, Heidelberg 1986-1993, in: Riviera - Cöte d'Azur Zeitung Nr. 3/1996, S. 18 Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, München 1994, in: BayVBl. 1996, S. 192 Jörn Ipsen et al. (Hrsg.): Verfassungsrecht im Wandel. Zum 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, Köln 1995, in: ThürVBl. 1996, S. 96 Arthur Fridolin Utz: Wirtschaftsethik, Bonn 1994, in: Arbeit und Recht 1996, S. 143 Bruno Schmidt-Bleibtreu/Franz Klein: Kommentar zum Grundgesetz, 8. Aufl., Neuwied 1995, in: BayVBl. 1996, S. 256 Andreas M. Rauch: Der Heilige Stuhl und die Europäische Union, Baden-Baden 1995, in: BayVBl. 1996, S. 288 Evelyne D. Menges: Die kirchliche Stiftung in der Bundesrepublik Deutschland, St. Ottilien 1995, in: Thüringer Verwaltungsblätter 1996, S. 168 Hartmut Titze: Wachstum und Differenzierung der Deutschen Universitäten 1830 bis 1945 (Datenhandbuch zur Deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1), Göttingen 1995, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1996, S. 248 ff. Heinzgeorg Neumann: Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Stuttgart 1996, in: NVwZ 1996, S. 780 Wolfgang

J. Smolka: Völkerkunde in München, Berlin 1994, in: BayVBl. 1996, S. 575

Christian Dästner: Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1996, in: NVwZ 1996, S. 988 24 FS Hablitzel

370

Schriftenverzeichnis

Christian Calliess : Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, Baden-Baden 1996, in: ThürVBl. 1996, S. 238 Bettina Kahil : Europäisches Sozialrecht und Subsidiarität, Baden-Baden 1996, in: ThürVBl. 1996, S. 238 Rudolf Hrbek (Hrsg.): Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union - Erfahrungen und Perspektiven, Baden-Baden 1995, in: ThürVBl. 1996, S. 238 Roland Sturm (Hrsg.): Europäische Forschungs- und Technologiepolitik und die Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips, Baden-Baden 1996, in: ThürVBl. 1996, S. 238 Justitiare der Landesapothekerkammern (Hrsg.): De profundis animi iuris - Festschrift für Johannes Pieck, Frankfurt/M. 1996, in: academia Nr. 5/1996, S. 316 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl. Bd. 3/II, München 1995, in: BayVBl. 1996, S. 768 Friedhelm

Trebes/Frank

Reifers:

Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz

(AFBG)

-

Kommentar (Loseblattsammlung), Wiesbaden 1996, in: BayVBl. 1997, S. 32 Reiner Schmidt (Hrsg.): Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil, 2 Bde., Berlin 1995, in: BayVBl. 1997, S. 159 Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz, Bd. 1, Tübingen 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 96 Walter Leisner, Eigentum (hgg. von Josef Isensee), Berlin 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 119 Wilfried

Berg/Franz-Ludwig

Knemeyer/Hans

Jürgen

Papier/JJdo

Steiner:

Staats- und

Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl., Stuttgart 1996, in: BayVBl. 1997, S. 583 Holger Luczak/Walter Volpert (Hrsg.): Handbuch Arbeitswissenschaft, Stuttgart 1997, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 1997, S. 702 Stephan Kippes: Bargaining. Informales Verwaltungshandeln und Kooperation zwischen Verwaltungen, Bürgern und Unternehmen, Köln 1995, in: BayVBl. 1997, S. 447 Joachim Burmeister u.a. (Hrsg.): Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, in: ThürVBl. 1997, S. 192 Josef Isensee u.a. (Hrsg.): Kirche im freiheitlichen Staat, Joseph Listl - 2 Bde., Berlin 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 216 Heribert Büchs: Handbuch des Eigentums- und Entschädigungsrechts, 3. Aufl., Stuttgart 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 240 Michael Brenner: Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, Tübingen 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 263 Detlev Merten u.a. (Hrsg.): Der Verwaltungsstaat im Wandel, Festschrift für Prof. Dr. Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag, München 1996, in: ThürVBl. 1997, S. 264 Adele Anzon: La Bundestreue e il sistema federale tedesco: un modello per la riforma del regionalismo in Italia, Milano 1995, in: BayVBl. 1997, S. 768

Schriftenverzeichnis

371

Antonio d'Atena : Federalismo e regionalismo in Europa, Milano 1994, in: BayVBl. 1997, S. 768 Knut Wolfgang Nörr/Thomas Oppermann (Hrsg.): Subsidiarität - Idee und Wirklichkeit, Tübingen 1997, in: ThürVBl. 1998, S. 48 Gert

Melville/Rainer

A.

Müller/Winfried

Müller:

Geschichtsdenken -

Bildungsge-

schichte - Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anläßlich ihres 65. Geburtstages, Berlin 1996, in: BayVBl. 1998, S. 128 Reinhard Lehr: Die Reform des bayerischen Unterrichts- und Вildungswesens unter König Maximilian I. Joseph im Salzachkreis von 1810 bis 1816, Mammendorf 1994, in: BayVBl. 1998, S. 255 Valentin Wolf: Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Staat im Salzachkreis während der bayerischen Herrschaft von 1810 bis 1816, Mammendorf 1994, in: BayVBl. 1998, S. 255 Karl-Peter Sommermann: Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, in: ThürVBl. 1998, S. 120 Thomas Breisig: Personalentwicklung und Qualifizierung als Handlungsfeld des Betriebsrats, Baden-Baden 1997, in: Arbeit und Recht 1998, S. 282 Friedrich Kleinhempel/Hans-Ulrich werbearchiv 1998, S. 304

Soschinka: Bader - Barbiere - Friseure, in: Ge-

Notker Hammerstein (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, München 1996, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1998, S. 264 f. Christoph Vedder: Intraföderale Staatsverträge, Baden-Baden 1996, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1998, S. 278 f. Wolf gang Kraegeloh/Anton

Knopp:

Berufsbildungsgesetz, 4. A u f l . , K ö l n 1998, in: Ge-

werbearchiv 1998, S. 352 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., Bde. 4, 5, 6 und 9, in: BayVBl. 1998, S. 512 Monika

Schlachter/Reiner

Ascheid/Hans-Wolf

Friedrich:

Tarifautonomie für ein neues

Jahrhundert. Festschrift für Günter Schaub zum 65. Geburtstag, München 1998, in: NJW 1998, S. 3555 Emilio Raffaele S. 736

Papa: Discorso sul Federalismo, Milano 1997, in: BayVBl. 1998,

Heiner Timmermann (Hrsg.): Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, in: ThürVBl. 1998, S. 288 Jean-Louis Clergerie: Thomas

Le principe de subsidiarite, Paris 1997, in: BayVBl. 1999, S. 63

Dieterich/Peter

Hanau/Günter

Schaub:

Erfurter

Kommentar zum Arbeits-

recht, München 1998, in: Gewerbearchiv 1999, S. 176 Michael Wollenschläger:

Arbeitsrecht, Köln 1999, in: NZA 1999, S. 415

Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz, Bd. 2, Tübingen 1998, in: ThürVBl. 1999, S. 148 24*

372

Schriftenverzeichnis

Stefan Oeter: Integration und Subsidiarität im Deutschen Bundesstaatsrecht, Tübingen 1998, in: ThürVBl. 1999, S. 171 Hans-Werner Rengeling (Hrsg.): Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (2 Bde.), Köln 1998, in: ThürVBl. 1999, S. 196 Uwe Volkmann: Solidarität - Programm und Prinzip der Verfassung, Tübingen 1998, in: ThürVBl. 1999, S. 195 Michael Sachs (Hrsg.): Grundgesetz, 2. Aufl., München 1999, in: ThürVBl. 1999, S. 220 Rudolf Müller (Hrsg.): Rechts- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Hof, Hof 1997, in: BayVBl. 1999, S. 704 Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band V I (Teilband 1+2), München 1998, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1999, S. 541 f. Christian Calliess/Matthias Rujfert (Hrsg.): Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Neuwied 1999 in: ThürVBl. 2000, S. 24 Thomas Lambrich: Tarif- und Betriebsautonomie, Berlin 1999, in: NZA 2000, S. 253 Ferruccio Andolfi: Abbozzo di una morale senza obbligo ne sanzione. Di Jean-Marie Guyau, Torino 1999, in: BayVBl. 2000, S. 224 Jordi Riba: La morale anomique de Jean-Marie Guyau, Paris 1999, in: BayVBl. 2000, S. 224 Matthias Herdegen: Europarecht, 2. Aufl., München 1999, in: DVB1. 2000, S. 503 Wolfgang Jürgen

J. Mückl: Subsidiarität, Paderborn 1999, in: DVB1. 2000, S. 508

Gündisch/Petrus

Mathijsen:

Rechtsetzung und Interessenvertretung in der Eu-

ropäischen Union, München 1999, in: BayVBl. 2000, S. 324 Günter Schaub: Arbeitsrechts-Handbuch, München 1999, in: NZA 2000, S. 585 Katharina Heckel: Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, Berlin 1998, in: BayVBl. 2000, S. 447 Stephan Kirste: Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, Berlin 1998, in: BayVBl. 2000, S. 448 Johannes Dietlein: Nachfolge im öffentlichen Recht, in: ThürVBl. 2000, S. 239 Martin Nettesheim/ Ρierangelo Schiern: Der integrierte Staat, Berlin 1999, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, S. 163 Rudolf Geiger: Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Kommentar, München 2000, in: ThürVBl. 2001, S. 24 Josef Isensee/Helmut Lecheler (Hrsg.): Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, in: BayVBl. 2001, S. 63 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen Säcker (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., Bde. 10 und 11, München 1998/1999, in: BayVBl. 2001, S. 128

Schriftenverzeichnis Matthias Herdegen: Völkerrecht, München 2000, in: DVB1. 2001, S. 444 Reinhard Richardi/Otfried Wlotzke (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, München 2000, in: Gewerbearchiv 2001, S. 176 Bernhard Maier: Die Kelten, München 2000, in: 1000 Jahre Kronach 2003, Nr. 28/ 2001, S. 32 Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band V (Geschichtliche Grundlagen), München 2000, in: BayVBl. 2001, S. 416 Birgit Friese: Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, Berlin 2000, in: NZA 2001, S. 775 Sebastian Winkler: Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Baden-Baden 2000, in: DVB1. 2001, S. 1118 Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz, Bd. 3. Tübingen 2000, in: ThürVBl. 2001, S. 192 Jürgen

Knorre/Peter

Müller/Reinhard

Th. Schmid/Klaus

Demuth

(Hrsg.): Praxishand-

buch Transportrecht, München 1999, in: Gewerbearchiv 2001, S. 352 Hermann

von Mangoldt/Friedrich

Klein/Christian

Starck:

Das Bonner Grundgesetz.

3 Bde. 4. Aufl., München 1999-2001, in: ThürVBl. 2001, S. 216 Yue-dian Hsu: Selbstverwirklichungsrecht im pluralistischen Kulturstaat, Berlin 2000, in: BayVBl. 2001, S. 704 Lydia Schmidt: Kultusminister Franz Matt (1920-1926), München 2000, in: academia Nr. 6/2001, S. 436 Patrizia de Pasquale: II Principio di Sussidiarietä nella Comunitä Europea, Napoli 2000, in: BayVBl. 2002, S. 32 Volker Marcus Hackel: Kants Friedensschrift und das Völkerrecht, Berlin 2000, in: BayVBl. 2002, S. 63 Reinhard Richardi/Otfried Wlotzke (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Ergänzungsband Individualarbeitsrecht, München 2001, in: GewArch 2002, S. 88 Heinrich de Wall: Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, Tübingen 1999, in: NVwZ 2002, S. 320 Wolf gang Weiß (Hrsg.): Kirche und Glaube - Politik und Kultur in Franken/Festgabe für Prof. Dr. Dr. Klaus Wittstatt, Würzburg 2001, in: academia Nr. 2/2002, S. 142 Helmut Lecheler: Einführung in das Europarecht, Berlin 2000, in: Verwaltungsblätter Baden-Württemberg 2002, S. 268 Kurt Rebmann/Franz-Jürgen

Säcker/Roland

Rixecker

(Hrsg.): Münchener Kommentar

zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Auflage, München. Bd. 1 (2001), Bd. 2 (2001), Bd. 7 (2000), Bd. 8 (2002), in: BayVBl. 2002, S. 512 Alfred Rührmair: Der Bundesrat zwischen Verfassungsauftrag, Politik und Länderinteressen, Berlin 2001, in: ThürVBl. 2002, S. 244 Wolfram Moersch: Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, Berlin 2001, in: BayVBl. 2002, S. 648

374

Schriftenverzeichnis

Richard Giesen: Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, Tübingen 2002, in: NZAR 2002, S. 1203 Anna Leisner: Kontinuität als Verfassungsprinzip unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, Tübingen 2002, in: ThürVBl. 2002, S. 292 Josef Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2001, in: BayVBl. 2003, S. 64 Alfred Rührmair : Der Bundesrat zwischen Verfassungsauftrag, Politik und Länderinteressen, Berlin 2001, in: NWVB1. 2003, S. 80 Joachim Bohnert et al.: Verfassung - Philosophie - Kirche. Festschrift für Prof. Dr. Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, in: ThürVBl. 2003, S. 48 Ben Behmenburg: Kompetenzverteilung bei der Berufsausbildung, Berlin 2003; in: GewArch 2003, S. 216 Simon-Louis Formery: La Constitution commentee article par article, 6. Aufl., Paris 2001, in: BayVBl. 2003, S. 352 Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.): Kommentar des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl., Neuwied 2002, in: ThürVBl. 2003, S. 144 Peter A. Süss: Kleine Geschichte der Würzburger Würzburg 2002, in: BayVBl. 2003, S. 416

Julius-Maximilians-Universität,

Robert Baumann: Der Einfluß des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung - am Beispiel Deutschlands, Frankreichs, des Vereinigten Königreiches, der Vereinigten Staaten von Amerika, Schwedens und der Schweiz, Zürich 2002, in: DÖV 2003, S. 870 Johann Störle: Bayerisches Stiftungsgesetz, München 2003, in: BayVBl. 2003, S. 736 Alberto Aronovitz: Gastronomie, alimentation et droit. Melanges en l'honneur de Pierre Widmer, Zürich 2002, in: GewArch 2003, S. 500 Peter Blickte /Thomas

O. Hüglin/Dieter

Wyduckel

(Hrsg.): Subsidiarität als rechtliches

und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002, in: BayVBl. 2004, S. 32 Rudolf Streinz (Hrsg.): EU V/EG V, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, München 2003, in: GewArch 2004, S. 88 Holger Brecht: Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene, Berlin 2003, in: Gewerbearchiv 2004, S. 88 Christian Dästner: Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2003, in: NVwZ 2004, S. 199 Lars Robert: Vereinbarkeit betrieblicher Bündnisse für Arbeit mit dem Günstigkeitsprinzip, Berlin 2003, in: NZA 2004, S. 305 Antonio Estella di Noriega: The EU Principle of Subsidiarity and its Critique, Oxford 2002, in: BayVBl. 2004, S. 224

Autorenverzeichnis Ahrens, Rüdiger, Univ.-Prof. i.R. Dr. phil. Dr. h.c., O.B.E., Lehrstuhl für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur und Kulturwissenschaft der englischsprachigen Länder, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Würzburg. Arnold, Rainer, Univ.-Prof. Dr. iur., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht, Gastprofessor an der Karls-Universität Prag. В roß, Siegfried, Prof. Dr. iur., Richter des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe, Honorarprofessor der Universität Freiburg. Bubb, Heiner, Univ.-Prof. Dr. rer. nat., Lehrstuhl für Ergonomie der Technischen Universität München. 0 Croinin, Däibhi, Prof., Roinn na Staire, Ollscoil na hEireann, Gaillimh/Department of History, National University of Ireland, Galway, Irland. Egger, Johann, Ao. Univ.-Prof. Dr. iur., Leiter des Instituts für Arbeitsrecht und Sozialrecht der Universität Innsbruck, Österreich. Fetz, Reto Luzius, Univ.-Prof. Dr. phil., Lehrstuhl für Philosophie, PhilosophischPädagogische Fakultät der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. von Golitschek, Herbert, Dr. iur. utr., Präsident a.D. des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg. Goloubev, Alexander, Prof. Dr., Universität St. Petersburg, Russland. Guth, Klaus, Univ.-Prof. i.R., Dr. phil. habil. für Volkskunde und Historische Landeskunde, Fakultät Geschichts- und Geowissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Leiter der Forschungsstelle Landjudentum der Universität Bamberg. Herdegen, Matthias, Univ.-Prof. Dr. iur., Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn. Just, Manfred,

Univ.-Prof. em. Dr. iur. utr., Universität Würzburg.

Krasney, Otto Ernst, Prof. Dr. iur., Vizepräsident des Bundessozialgerichts a.D., Kassel. Lecheler, Helmut, Univ.-Prof. Dr. iur., Direktor des Instituts für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches öffentliches Recht, Freie Universität Berlin. Poppe, Erich, Univ.-Prof. Dr. phil., Keltologie, Philipps-Universität Marburg. Riba, Jordi, Dr. phil. habil., Centre de recherches politiques de la Sorbonne - Universite de Paris I, Frankreich. Sakson, Andrzej, Prof. Dr. habil., Instytut Zachodni, Poznad, Polen. Schmidt, Karl Horst, Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Sprachwissenschaftliches Institut der Universität Bonn.

376

tenverzeichnis

Schober, Otto, Univ.-Prof. i.R. Dr., bis 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Erlangen-Nürnberg; jetzt Lehrbeauftragter an der Universität Bozen, Italien. Stiegnitz, Peter, Prof. Dr. phil., Ministerialrat, AWR-Sektion-Österreich, wiss. Kurator, Wien, Universität Budapest. Weber, Albrecht, Univ.-Prof. Dr. iur. utr., Universität Osnabrück. Weiß, Wolfgang, Univ.-Prof. Dr. theol., M.A., Institut für Historische Theologie, Universität Würzburg. Wessel, Karl-Friedrich,

Univ.-Prof. Dr. phil, Humboldt-Universität zu Berlin.