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German Pages 206 [210] Year 2014
Bernhard Jakl / Beatrice Brunhöber / Ariane Grieser / Juliane Ottmann / Tim Wihl (Hg.)
Recht und Frieden – Wozu Recht? Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2012 in Münster und im April 2013 in Berlin
ARSP Beiheft 140 Franz Steiner Verlag
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Bernhard Jakl / Beatrice Brunhöber / Ariane Grieser / Juliane Ottmann / Tim Wihl (Hg.) Recht und Frieden – Wozu Recht?
archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 140
Bernhard Jakl / Beatrice Brunhöber / Ariane Grieser / Juliane Ottmann / Tim Wihl (Hg.)
Recht und Frieden – Wozu Recht? Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2012 in Münster und im April 2013 in Berlin
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10806-5 (Print) Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10817-1 (E-Book) Nomos Verlag: ISBN 978-3-8487-1685-2
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Recht
und
7
FRIeden
Bernhard Jakl Einleitende Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Sebastian Stein Die Logik von Recht und Zwang in Hegels Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . .
13
Markus Vašek Recht und Frieden im Denken Hans Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Katrin Gierhake Zur Fundierung eines rechtsstaatlichen Präventionsrechts durch die Begründung von Rechtszwang bei Kant und Hegel. Gleichzeitig ein Beitrag zum vernunftnotwendigen Staat als Rechtsfriedensinstitution . . . .
33
Denis Basak Recht nur im Frieden? Zur staatsmachtbeschränkenden Funktion des allgemeinen (Straf-)Rechts auch in Zeiten bewaffneter Konflikte . . . . . . . .
47
Miriam Gassner Recht und Frieden: Friedenssicherung mittels Militärintervention? Von der Entwicklung des Interventionsrechts im 19. und 20. Jahrhundert aus rechtsphilosophischer und völkerrechtsgeschichtlicher Sicht . . . . . . . . . . .
67
Verena Risse Die Janusköpfigkeit staatlicher Zwangsgewalt – eine Frage der Legitimität oder der Normativität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Vuko Andrić / Martin Kerz Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus . . . . . . . . . . . . . . . .
87
II. Wozu Recht? Beatrice Brunhöber, Ariane Grieser, Juliane Ottmann, Tim Wihl Einleitende Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Philipp-Alexander Hirsch Recht jenseits objektiver Gerechtigkeit und Moral. Gedanken zu Kontingenz und Notwendigkeit rechtlicher Überzeugungen im Anschluss an Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6
Inhalt
Oliver Bach Wozu Recht? – Warum Recht! Zum vernunftrechtlichen Paradigmenwechsel und einem Naturzustand 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Michael Städtler Zweck und Funktion von Recht. Oder wie Recht gegen sich selbst polemisch wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ulrike A. C. Müller Wozu anwaltliche Rechtspraxis? Das partizipatorische Potenzial von Rechtsvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Bettina Noltenius Zur Notwendigkeit einer rechtlichen Begründung bei der Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten auf Institutionen der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Johanna Stark Form Follows Function. Die Funktionen des Rechts unter dem Einfluss des Rechtswettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Christopher Weigand / Maria Weizsäcker Der Rechtsstaat als Wundermittel für gesellschaftlichen Fortschritt? . . . . . . . . 169 Sinthiou Estelle Buszewski Wozu Rechtspersönlichkeit? Eine Antwort mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Stefan Klingbeil Die Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe. Der barmherzige Samariter als Diener Gottes, Verwaltungshelfer und Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Andreas Engelmann Warum überhaupt Recht? Annäherungen an die Frage: Wozu Recht?. . . . . . . . . 195 Autoren und Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
VoRWoRt Der vorliegende Band dokumentiert zwei Tagungen des Jungen Forum Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2012 in Münster und im April 2013 in Berlin . Die Beiträge der Münsteraner Tagung, die von Bernhard Jakl organisiert wurde, gehen von der Befriedungsfunktion des Rechts aus und beleuchten den Zusammenhang von Recht und Frieden aus philosophischen, rechtssystematischen, historischen und soziologischen Perspektiven . Sie bilden den ersten Teil des Tagungsbandes . Die Beiträge der Berliner Tagung, die von Beatrice Brunhöber, Sabine MüllerMahl, Juliane Ottmann, Tim Wihl und Ariane Grießer organisiert wurde, widmen sich in einer erweiterten Perspektive der Fragestellung, wozu Recht überhaupt begründet und verwendet wird . Sie bilden den zweiten Teil des Tagungsbandes . Der Dank der Herausgeber gilt den vielen engagierten Helfern in Münster und Berlin, die das Gelingen der beiden Tagungen erst ermöglicht haben . Für die Münsteraner Tagung danken wir der JurGrad gGmbH – School of Tax and Business Law für ihre Förderung . Für die Berliner Tagung danken wir dem Berliner Forschungsverbund Recht im Kontext für seine Förderung . Es freut uns besonders, dass wir mit der Unterstützung durch das Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie die Tradition der Veröffentlichung der Beiträge des JFR fortsetzen können . Münster und Berlin im Februar 2014 Bernhard Jakl Beatrice Brunhöber Ariane Grieser Juliane Ottmann Tim Wihl
I. Recht
und
FRIeden
Bernhard Jakl eInleItende BemeRkungen Recht dient neben der Verhaltenssteuerung in besonderer Weise dem Frieden . Die Befriedungsfunktion des Rechts ist nicht zuletzt seit Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ allgemein anerkannt . Zur Verwirklichung des Rechts gehören jedoch auch Zwangsmittel . Das rechtsphilosophische Verhältnis von Recht und Zwang führt deshalb gerade unter den Bedingungen der pluralen Gesellschaften der Gegenwart zu der Frage, wer im Namen des Rechts aus welchen Gründen den Zwang ausüben darf und dennoch der Befriedungsfunktion des Rechts genügt . Philosophische Überlegungen zur Normbegründung schreiben dabei seit der Aufklärungsphilosophie der Freiheit eine besondere Bedeutung zu . Danach ist Zwang insbesondere den Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels zufolge dann gerechtfertigt, wenn er der Realisierung einer Freiheitsordnung dient . So rekurriert Sebastian Stein in seinem Beitrag „Die Logik von Recht und Zwang in Hegels Rechtsphilosophie“ geradezu exemplarisch auf Hegels philosophisches Konzept von Recht als einer Entfaltung der Idee des freien Willens . Er legt einerseits durch seine Bezüge zwischen Hegels Rechtsphilosophie und Hegels Logik dar, dass die Legitimtät des rechtlichen Zwangs für Hegel immer auch von außerrechtlichen Erkenntnissen und Strukturen abhängig ist . Andererseits verdeutlicht Sebastian Stein, dass gerade die von Hegel entworfene normative Entwicklungslogik einer Entfaltung des freien Willens die Eingemeindung der außerrechtlichen Bezüge in das Rechtsdenken leistet . Der Rekurs auf den freien Willen könne mit Hegel demnach sicherstellen, dass rechtlicher Zwang nicht mit bloßer Gewalt in eins fällt . Philosophische Überlegungen bedürfen aber, um juristisch wirksam zu werden, ihrer weiteren Ausarbeitung . Aus philosophischer Perspektive kommt dem Rechtspositivismus dabei eine herausgehobene Rolle zu, geht er doch davon aus, dass alle Konflikte soweit wie möglich mit den Mitteln der vorhandenen Rechtsordnung zu lösen sind . Markus Vašek beleuchtet dazu das Verhältnis von „Recht und Frieden im Denken Hans Kelsens“ . Er analysiert damit eine zentrale rechtspositivistische Theorie, die alle außerrechtlichen Voraussetzungen ausblendet und sich auf die rationale Ordnung rechtlicher Normen beschränkt . Damit verbunden ist eine Absage an eine Entwicklungslogik des Rechts nach Hegel’schem Muster und auch eine Absage an besondere inhaltliche philosophische Dimensionen des Rechts, wie etwa die Festlegung auf den freien Willen als zentrale Idee jeder Rechtsordnung . Dennoch, so betont Markus Vašek, seien gerade die auf den Kompromiss zwischen Mehrheit und Minderheit ausgelegten demokratischen Verfahren für Kelsen die Garanten dafür, dass eine Rechtsordnung immer auch einer Friedensordnung sei . Erscheinen sowohl philosophische Normenbegründung wie auch rechtspositivistische Selbstbeschränkung als für sich genommen plausible Positionen, stellt sich die Frage nach ihrer Verbindung . Katrin Gierhake bringt in ihrem Beitrag „Zur Fundierung eines rechtsstaatlichen Präventionsrechts durch die Begründung von Rechtszwang bei Kant und Hegel“ exemplarisch die philosophischen Positionen Kants und Hegels mit der gegenwärtig umstrittenen Frage zusammen, wie auf rechtsstaatliche Weise drohenden Unrechts-
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Bernhard Jakl
taten strafrechtlich entgegengewirkt werden kann . Sie plädiert dafür, aus den philosophischen Fundamentalbestimmungen bestimmte Grenzen für die gegenwärtige Ausgestaltung des Zwangsrechts, wie etwa ein Folterverbot, abzuleiten . Denis Basak zeigt dagegen unter dem Titel „Recht nur im Frieden? Zur staatsmachtbeschränkenden Funktion des allgemeinen (Straf-)Rechts auch in Zeiten bewaffneter Konflikte“, dass auch das systematische Argumentieren mit den Normen der geltenden Rechtsordnung philosophische Schlussfolgerungen zulässt, ohne diese allerdings aus philosophischen Fundamentalbestimmungen abzuleiten . Insbesondere die Absage an ein Denken im Ausnahmezustand verdeutliche, dass auch in bewaffneten Konflikten das Recht seine ordnende Leistung erbringen kann . Basak plädiert dafür, das existierende „ius in bello“ in das allgemeine System des Rechts und vor allem des Strafrechts nach einem klassischen Verständnis des Straftatsystems einzubeziehen . Das Zusammenspiel von philosophischen und rechtssystematischen Perspektiven ergänzt Miriam Gassner mit einem völkerrechtsgeschichtlichen Beitrag zu „Recht und Frieden: Friedenssicherung durch Militärintervention?“ um die historische Perspektive . Sie greift dabei auf Fallstudien zu Interventionen im 19 . Jahrhundert und 20 . Jahrhundert zurück, um vor diesem Hintergrund das heute anerkannte Interventionsverbot ebenso wie seine Durchbrechungen kritisch zu würdigen . Die Beiträge von Verena Risse sowie von Vuko Andrić und Martin Kerz kehren wiederum zum philosophischen Ausgangspunkt der Diskussion um das Verhältnis von Recht und Zwang zurück . Allerdings erweitern sie die Perspektive um Bezüge auf die Gerechtigkeit einerseits und auf die Folgen rechtlicher Entscheidungen andererseits . Verena Risse konfrontiert unter dem Titel „Die Janusköpfigkeit staatlicher Zwangsgewalt – eine Frage der Legitimität oder Normativität?“ die kantische Position eines analytischen Verhältnisses von Recht und Zwang mit der gegenwärtigen Debatte um die Übertragung dieses Zusammenhangs auf die Durchsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen mittels außerstaatlichen Zwanges . Sie argumentiert, dass gerade normative Aspekte in die Richtung einer solchen Übertragung drängen . Abschließend stellen Vuko Andrić und Martin Kerz mit ihrem Beitrag „Die konsequentialistische Begründung von juridischen Rechten“ die Frage, ob sowohl der Inhalt wie auch die Ausübung von Rechten nicht immer schon durch ihre Konsequenzen bestimmt sind oder zumindest sein sollten . Die in dem Beitrag entwickelte Perspektive eines Rechtsnormen-Konsequentialismus kollidiert zwar insbesondere mit der Idee subjektiver Rechte, wie sie nicht zuletzt im Acquis der geltenden Grundund Menschenrechte ihren Niederschlag gefunden hat, bildet aber dennoch einen Stachel im Fleisch der philosophischen, juristischen und historischen Diskussionen um Normenbegründung . Die verschiedenen Positionen können als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Rechtsstaat den Zusammenhang von Recht und Zwang stets neu justieren muss, um seiner Befriedungsfunktion gerecht zu werden . Seine philosophischen und rechtssystematischen Begründungsressourcen sprechen dafür, dass er dies auch leisten kann .
SeBaStian Stein, heidelBerg dIe logIk
Von
Recht
und
zWang
In
hegels RechtsphIlosophIe
I. eInleItung Wie verhalten sich die Begriffe des Rechts und des Zwangs in Hegels Rechtphilosophie? Ein Erfassen ihrer begrifflichen Systematik geschieht am besten mit Verweis auf die logische Struktur derjenigen Kategorien, die Hegels Diskussion in diesem Fall prägen: Erscheinung, Freiheit und Willkür . Besonders hilfreich erweist sich dieses Erfahren in Hegels Kantkritik, welche sich mittels dieser logischen Brücke mit dem Verhältnis von positivem und Naturrecht in Verbindung setzen lässt . Im Folgenden entsprechend soll versucht werden, abstrakte Gedanken der Wissenschaft der Logik für Hegels praktische Philosophie fruchtbar zu machen – in der Hoffnung, dass die Bedeutung der Bezüglichkeit beider Systemteile dadurch deutlicher hervortritt .
II.1. hegels kant-kRItIk Methodologisch lässt sich Hegels Rechtsphilosophie deutlich von der Kants unterscheiden . Am offensichtlichsten tritt dies bei der Behandlung des Begriffes der Willkür zu Tage . Kant beschreibt ein rein antagonistisches Verhältnis zwischen Willkür und vernünftiger Selbstbestimmung . So bestimmt sich sein willkürlich handelndes Subjekt in Abhängigkeit von Naturkausalität und Ursachen, die außerhalb seiner Selbstbestimmung liegen – es ist ein Spielball der Leidenschaften und der äußeren Beweggründe und somit grundlegend unfrei . Das Handeln verliert diese Unberechenbarkeit und Zufälligkeit jedoch sobald sich das Subjekt im Sinne der Vernunft bestimmt – Kants rein vernünftiger Akteur ist demnach zwar ‚frei von Naturkausalität‘, doch kann er nicht irgendetwas wollen, da die reine Vernunft ihre Zwecke mit Notwendigkeit vorgibt . Hegel übernimmt Kants Willkürbegriff im Sinne einer ‚Bestimmung zu gegebenem Inhalt‘ . Auch für Hegel ist das willkürliche Subjekt somit immer noch abhängig – nämlich von den trieb- oder weltvermittelten Zwecken, die es braucht, um überhaupt irgendetwas zu wollen . Hegel stimmt Kant also zu, dass die Willkür einen gegebenen Inhalt zum Ziel hat, der nicht mit dem wollenden Ich bzw . seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung identisch ist . Aufgrund des logischen Unterschiedes von einem sich selbst bestimmenden Subjekt einerseits und einem bestimmten Zweck andererseits haftet der Willkür somit der Makel der Beliebigkeit an – das willkürlich handelnde Subjekt hätte sich stets zu einem anderen Zweck bestimmen können, oder eben zu keinem Zweck – es liegt nichts in der Natur des Subjektes, das es mit irgendeinem bestimmten Zweck identifizieren lässt . Damit gibt es auch für Hegels Willkür keinen notwendigen Zweck – ein jeder Zweck ist so gut wie jeder andere, alle Zwecke teilen die logische Eigenschaft, nicht das selbstbestimmende Subjekt zu sein . Laut Hegel versucht Kant diesem Problem Herr zu werden, indem er die Zwecke der reinen Vernunft dem frei handelnden
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Sebastian Stein
Subjekt logisch gleichsetzt – rein vernünftige Zwecke sind notwendig, da sie wie das handelnde Subjekt sind . Sie entsprechen seinem vernünftigen Wesen und folglich sieht sich das Subjekt wesentlich in diesen Zwecken . In der Bestimmung zum vernünftigen Zweck bestimmt sich Kants Subjekt zu sich selbst und ist somit unabhängig und frei . Hegel streitet jedoch ab, dass für Kant solch ‚reines‘ Handeln wirklich sein kann – rein vernünftige Zwecke sind nur möglich, da Kant grundlegend das Subjekt als unbestimmt und die Zwecke als bestimmt versteht . Somit macht er die Unbestimmtheit des Subjekts zum einzig angemessenen ‚Inhalt‘ des selbstbestimmenden Subjektes – dieses Selbstbestimmen ist demnach per definitionem nicht bestimmt und das Handeln somit ohne konkreten, welt-kompatiblen Zweck . Sobald sich das selbstbestimmende kantische Subjekt also zu einem bestimmten Zweck bestimmt, sobald es etwas will, ist es nicht mehr selbst- sondern fremdbestimmt, das bestimmt wollende Subjekt ist nicht mehr ‚rein‘ selbstbestimmend und somit unfrei . Somit definiert Kant laut Hegel mit seiner Willkürkritik den bestimmten Inhalt des moralischen Handelns weg und Kants Selbstbestimmung ist – verstanden als negatives Gegenteil der Bestimmung oder der Zweckmäßigkeit – formal und leer . II.2. WIllküR
und
Recht
BeI
kant
Während Kants Begriff des reinen moralisch freien Handelns die Willkür als abhängig disqualifiziert aber sich gleichzeitig dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit preisgibt, erscheint die Willkür überraschenderweise als inhaltsstiftendes Moment in Kants Rechtsbegriff . Diesen definiert Kant in der Metaphysik der Sitten wie folgt: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann .“1
Hegel liest diese Rechtsdefinition als formal allgemein aber inhaltlich beliebig – das Allgemeine ist die universelle Kompatibilität der Willküren, der Inhalt ist der Zweck, zu dem sich die Subjekte eben so bestimmen . Kants Verallgemeinerungsgebot ist also nicht in der Lage, die Beliebigkeit der Willkür zu zähmen – jeder Zweck kann Recht werden, solange er zufälligerweise von allen akzeptiert wird . Damit sind Sklaverei, Unterdrückung, Lügen und Verdinglichung von Kindern ebenso möglicherweise legitim wie ihr Gegenteil . Nur weil alle die Unfreiheit willkürlich wollen – bzw . ihr Wollen keine Konflikte erzeugt – ist dies noch nicht Recht . Da insofern kein bestimmter Rechtsinhalt notwendig oder allgemein ist, versteht Hegel Kants Recht als unbestimmt . Inhaltlich wirklich ist das Recht für Hegel erst, wenn sich eine inhaltsvolle Identität zwischen den Rechtsbestimmungen und der Aktivität des selbstbestimmenden Subjekts denken lässt . Nur falls bestimmte Zwecke dem Subjekt und seiner Vernunft gemäß und bestimmt sind, d . h . wenn sie eine logisch-strukturelle Gleichheit verbindet, die auch Bestimmtheit innehat, kann das Subjekt sich und seine Vernunft in dem Rechtsinhalt finden – nur dann gibt es eine angemessene Verbindung zwischen 1
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1977, 337 .
Die Logik von Recht und Zwang in Hegels Rechtsphilosophie
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Subjekt und Zweck die besagt, dass das Gewollte frei gewollt wird – eben weil es so vernünftig ist, wie das Subjekt selbst und gleichzeitig ist das Wollen inhaltsvoll bestimmt . Wenn sich das Subjekt zu dem mit ihm identischen Rechtsinhalt bestimmt, bestimmt es sich zu sich selbst – und ist somit nicht mehr fremdbestimmt . Mit Hegels Begriff der Rechtsfreiheit werden bestimmte Zwecke also als ebenso vernünftig wie das sie verfolgende, unbestimmte Subjekt erfasst – der Wirklichkeitsgedanke verbindet Subjekt und Inhalt mittels einer Identität, der Freiheitsgedanke beschreibt Rechtsbestimmung und Rechtssubjekt als Aspekte des gleichen übergeordneten Prinzips .2 Aus der Struktur dieser inhalt- und subjektkombinierenden Entität – dem Begriff des freien Willens – leitet Hegel dann die Rechtsbestimmungen ab, die er als Ausdruck der Freiheit eben dieses Subjekts verstanden wissen will . Laut Hegel kann Kant diese Identität strukturell nicht leisten, da er von der absoluten Differenz zwischen Subjekt und Zweck ausgeht . Sobald Kant die Handlungsbestimmung im Subjekt sucht, wird er dort nicht fündig – wie dies in seinem Moralbegriff geschieht – und sobald er – wie im Rechtsbegriff – den Inhalt im Gegebenen und damit in der Willkür sucht, gibt er sich der Beliebigkeit preis . Die Wurzel der Beliebigkeit von Kants Rechtsbegriff ist laut Hegel also in der gleichen willkürdefinierenden Trennung von Subjekt und Zweck zu finden, die Kants Moralität zur Leere bestimmt . II.3. hegels Recht Hegel schlägt im Lichte seiner Diagnose somit vor, die Identität zwischen Subjekt und Zweck, Akteur und Welt, zwischen Selbstbestimmen und Bestimmung strukturell zu relativieren . Die Moral- und Rechtszwecke werden zum Inhalt der Entität, die sich ebensfalls im unbestimmten Subjekt manifestiert – indem Subjekt und Zweck logisch grundlegend identisch sind, wird das Subjekt substantialisiert und der Inhalt dynamisiert . Aufgrund der damit geleisteten negativen Einheit von subjektiver Unbestimmtheit und zweckdefinierender Bestimmtheit sind Handeln und erfolgreiche Freiheitsverwirklichung gleichgesetzt . Kants Trennung von Subjekt und Objekt ist dank der basalen strukturellen Identität von Subjekt und Zweck in Hegels Rechtsbegriff ‚aufgehoben‘ – Subjekt und Zweck sind noch als solche erkennbar, sie behalten ihre Differenz, aber finden diese in einer übergreifenden Identität situiert . Hegels Rechtsbegriff ist in gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken konkret manifest und trotzdem Ausdruck und Moment der subjektiven Unbestimmtheit, da beide Aspekte Elemente der gleichen Begriffsstruktur sind . Die mit der Unbestimmtheit identischen und somit vernünftig bestimmten Rechtsinstitutionen sind laut Hegel: 1 . Das abstrakte Recht, d . h . die Persönlichkeit und das Eigentum . 2 . Die Moralität als das Verhältnis zwischen der subjektiven Einzelheit, dem Guten und der äußeren Welt . 3 . Die Sittlichkeit als Einheit des abstrakten Rechts und der Moralität, d . h . die gedachte Idee des Guten realisiert in dem in sich reflektierten Willen und in der äußerlichen Welt . Die Sittlichkeit differenziert sich laut Hegel wiederum in die Fa2
Da die Wirklichkeit Subjekt und Zweck als grundlegend verschieden versteht bevor es sie gleichsetzt und somit dem Widerspruchsvorwurf zwischen Subjekten und Inhalten ausgesetzt bleibt, muss das Recht in der freien Einzelheit des Begriffs gründen, die ontologisch zuerst eine Identität und dann eine Differenz zwischen Subjekten und Zwecken setzt .
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Sebastian Stein
milie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat, wobei der Staat die Einheit der in der Familie dominierenden Identität und der das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnenden Verschiedenheit der Individuen ist . Laut Hegel bezeichnen diese Bestimmungen eben das, was dem kantischen Rechtsbegriff fehlt: Die begrifflich-konkrete Bestimmtheit des Rechts jenseits der Willkür und ihrem bloß formalen Verhältnis von Bestimmung und unbestimmtem Subjekt . Während die Wahrheit bzw . der Begriff des Rechts die Identität von Bestimmung und Subjekt ist, sieht Hegel in norminformiertem, anfänglich unbestimmt-individuellen Handeln die Erscheinung des Rechts . Unfreies Handeln, das dem Identitätsgebot zwischen Subjekt und Bestimmung widerspricht, ist ferner als bloße Erscheinung gesetzt . Da die Institutionen, die die Rechtswirklichkeit kennzeichnen durch den Begriff frei gesetzt sind, kann man sie mit den Kategorien der Existenz oder der bloßen Erscheinung nicht fassen . Sie sind nicht schlicht da oder eben weil sie von gewissen Subjekten gewollt wurden oder werden . Vielmehr sind ‚wir‘ als freiheitsorientierte Wesen auch von ihnen bestimmt – indem ‚wir‘ in und dank ihnen auf bestimmte Weise leben, verwirklichen wir unsere Selbstbestimmung und sind das, was wir sein sollen – freie Wesen als Teil und Ausdruck einer freiheitsorientierten geistig-konkreten Welt . Im Gegensatz zu Kant ist somit für Hegel auch die bestimmte Welt selbst vernünftig und insofern sind die rechten Institutionen im Begriff und somit in der Welt . Sie sind Teil einer manifesten Vernunft dank der sich vernünftige Subjekte orientieren und an einem koordinierten, gesellschaftlichen Leben teilhaben . Hegel unterscheidet somit nicht zwischen willkürlichen Subjekten auf der einen Seite und abstrakten Rechtsnormen auf der anderen . Die Akteure lassen sich nicht absolut von den Institutionen unterscheiden – die insitutionsimmanenten Rechtsnormen schaffen uns, wie wir sie schaffen, sie sind wir, so wie wir sie sind . Kant sieht dies anders . Für ihn sind es in erster Linie wir, die Normen aufgrund unserer moralischen Entscheidungen in die Welt bringen3 und eine amoralische Welt im Lichte des Guten formen . Für Hegel sind es ebenso die weltimmanenten Normen, die uns als Vernunftwesen wirklich machen . Wir sind als normlos ebensowenig denkbar wie die Normen ohne uns . II.4. hegels zWang Was bedeuten diese Überlegungen zur logischen Willkürstruktur und ihrer Aufhebung für den Zwang? Während für Kant Zwang nur dann erlaubt ist, wenn das willkürliche Verhalten der Bürger nicht miteinander harmonisiert, erlaubt Hegel den Zwang sobald das Verhalten bloß willkürlich ist . Bei Kant ist die koordinierte Willkür durch Zwang zu schützen, d . h . der legitime Zwang verallgemeinert die Willkür während Hegel im legitimen Zwang genau die Gegenmaßnahme zur Willkür sieht: Der legitime Zwang schafft die Willkür ab . Dies gilt auch für die Strafe: Verbrechen ist die Manifestation der Willkür im Handeln des einzelnen Verbrechers und muss als solche abgeschafft werden . 3
Dass dies keinen reinen Konstruktivisimus impliziert, macht Kant mit Verweis auf die Objektivität des kategorischen Imperativs deutlich .
Die Logik von Recht und Zwang in Hegels Rechtsphilosophie
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Laut Hegels Interpretation ist Kant dieser Gedanke einer Abschaffung der Willkür verwehrt, da Kant der Willkür nur das Verallgemeinerungsgebot aufbürdet . So ist zum Beispiel ein Vertragsbrecher laut Hegels Kant nur dann rechtmäßig zu strafen, falls das Vertragsbrechen nicht allgemein anerkannt ist .4 Für Hegel handelt der Vertragsbrecher jedoch rein willkürlich, weil er seine besonderen Eigeninteressen denen der allgemein-vernünftigen Institution des Vertrages vorzieht . Die Willkür resultiert somit aus des Vertragsbrechers Fehler, das Allgemeine, das sich in vernünftigen Institutionen manifestiert, anzuerkennen . Da die Vernunft dieser Institution mit der Vernunft des Verbrechers identisch ist, vergeht sich der Verbrecher in ihrer Missachtung auch an sich selbst . Die Strafe als Zwang zur Vernunft soll ihm dann helfen, wieder zu sich selbst und somit zu seinem eigenen vernünftigen Wesen zu finden .5 Während Hegels Staat also nur dann zum Zwingen und Strafen berechtigt ist, wenn er tatsächlich das Vernünftige vertritt, hat er die Aufgabe, den Anspruch des allgemein Rechten dem Handeln des Einzelnen gegenüber durchzusetzen . Somit dienen der legitime Zwang und die legitime Strafe dem höheren Zweck, den willkürlich Handelnden mit den Anforderungen der allgemeinen, institutionellen Vernunft in Einklang zu bringen und das bloß Willkürliche im Handeln zu unterbinden . II.5. WIllküR
und posItIVes
Recht
Während Willkür und Zufall gerade nicht das notwendige Verhältnis zwischen Bürger und vernünftigen Institutionen definieren, sind sie laut Hegel dennoch von zentraler Bedeutung für das Verhältnis von positivem und vernünftigem Recht . So scheint es rechtfertigungstheoretisch das größte Problem des positiven Rechts zu sein, dass es zufälligerweise so ist, wie es ist, d . h . dass seine Bestimmungen nicht als notwendig erscheinen . In der Naturrechtsdebatte wird so zum Beispiel das beliebigpositive Recht der Welt der menschlich-praktischen Zwänge entsprechend mit dem wahrhaft allgemeinen Recht Gottes oder der natürlich gegebenen Vernunft kontrastiert . Da Hegel Wert auf die Dimension der Bestimmtheit des Rechts legt und positives Recht per definitionem bestimmt ist, läßt sich fragen ob Hegel als Rechtspositivist zu lesen ist, was für manche Kommentatoren auch der Doppelsatz seiner Vorrede „Was vernünftig ist, ist wirklich und was wirklich ist, ist auch vernünftig“6 nahe legt . Setzt Hegels Bestehen auf einem bestimmten Recht ihn dem Vorwurf der Zufälligkeit bzw . der Beliebigkeit seiner Rechtsnormen aus – sind Eigentum, Vertrag, Moral und Sitte nur zufällig da bzw . zufällig so, wie sie sind? In der Philosophie des Rechts spricht Hegel sich ausdrücklich gegen diese Interpretation aus – für ihn ist das positive Recht – insofern es eben Recht ist – die Manifes4 5
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Zwar besteht Kant darauf, dass das Vertragsbrechen nicht vernunftmäßig anerkannt werden kann, doch leistet er laut Hegel keine begriffliche Rechtfertigung dieser Aussage . Laut Hegel muss in Situationen, in denen verschiedene vernünftige Institutionen konkurrieren – wo etwa das Vertraghalten moralischen oder sittlichen Überlegungen zuwiderläuft – abgewogen werden, welche Bestimmung überwiegt . In jedem Fall wäre Vertragsbruch im Dienste der Moral oder der Sitte nicht willkürlich, da in solchem Fall das eigene Partikularinteresse nicht den Endzweck darstellt . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, 48 .
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Sebastian Stein
tation oder Erscheinung des wahren (Natur-) Rechts, deren Erscheinung historisch, kulturell und durch Entscheidungs- und Sachzwänge bedingt ist . Würde man das positive Recht – im Sinne von den Rechtsbestimmungen, die eben existieren – als absolut setzen, d . h . es mit dem Naturrecht ‚verwechseln‘, wäre das Recht tatsächlich so beliebig wie seine Erscheinung . Das Vernunftrecht – das im Gegensatz zu vielen anderen Naturrechtstheorien bei Hegel nicht natürlich gegeben sondern geistigselbstgebend ist – muss jedoch in Gesetzen, Institutionen und Praktiken wirklich präsent sein, das heißt, es muss als rechte Welt sein, um wirklich sein zu können . So lässt sich auch Hegels Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit erklären – für Hegel ist Wirklichkeit gerade nicht, was eben so zufällig existiert oder nur da ist – wie etwa das Rechtsfahrgebot, Schulpflicht für Kinder oder die Steuerpflicht in bestimmter Höhe, und dennoch können diese relativen Maßnahmen Ausdruck und Mittel zum Zweck der Verfolgung des Notwendigen sein . Entsprechend sind sie auch durch legitimen Zwang zu schützen – nur aufgrund einheitlicher Regeln ist Straßenverkehr sinnvoll möglich, aufgrund allgemeiner Bildungsstandards ist eine staatsbürgerlichsittliche Gesinnung fundiert und nur mit Steuern lässt sich eine sozial verantwortliche Gesellschaft erhalten, die relative Bedürfnisbefriedigung ermöglicht . Im Gegensatz zur zufälligen Form der historisch-kulturell bedingten Einzelgesetze ist das Wirkliche vielmehr das, was wirkt – die Institutionen der Familie oder der geregelten Wirtschaft, der Staat oder etwa die Begriffe des Personen-, Vertragsund Strafrechts als Ursprung und Zweck der Rechtsgestaltung und als Artikulation und Garanten der Selbstbestimmung des Ganzen dessen besonderer Ausdruck das einzelne Handeln ist . Scheinbar paradoxerweise hat dies zur Folge, dass das wirkliche Recht im Zufälligen zu finden ist: In den Vertragsgesetzen wirkt das abstrakte Recht, in der Berücksichtigung moralischer Motive vor Gericht wirkt die Moral, im Rechtsschutz der Familie, der Wirtschaft und des Staates die Sittlichkeit . Hegel versteht das positive Recht also als beliebige Erscheinung dessen, was notwendig ist, d . h . des wirklichen Rechts – die Art und Weise der Positivität ist zufällig, doch das, was sich positiviert, ist es nicht . Wie das positive Recht, so ist auch die Praxis der Rechtsbefolgung und -anwendung Erscheinung des Rechtsbegriffs und somit lässt sich allein von der Perspektive des positiven Rechts das Vernunftrecht nicht denken – während die Vernünftigkeit des positiven Rechts erst im Lichte des Vernunftrechts zu beweisen ist . Die Zufälligkeit und Willkür geht bei Hegel logisch also so weit wie das Recht als Erscheinung kategorisiert ist, doch ist sie dem Denken des wirklichen Vernunftrechts nicht mehr angemessen: „Was von der Natur des Zufälligen ist, dem widerfährt das Zufällige, und dieses Schicksal eben ist somit die Notwendigkeit, – wie überhaupt der Begriff und die Philosophie den Gesichtspunkt der bloßen Zufälligkeit verschwinden macht und in ihr, als dem Schein, ihr Wesen, die Notwendigkeit erkennt .“7
Dies hat auch zur Folge, dass solange wir über das Recht nur als etwas nachdenken, das ‚wir‘ aus äußeren Gründen so wollen – wie z . B . Hobbes –, dass wir uns gegenseitig zuschreiben – z . B . Robert Brandom – oder was sich bei uns historisch entwickelt hat bzw . was aus unseren historischen Lernprozessen resultiert – z . B . Robert Pippin –, der Rechtsbegriff der Zufälligkeit verhaftet bleibt . Solange ‚wir‘ als unbe7
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, 492 .
Die Logik von Recht und Zwang in Hegels Rechtsphilosophie
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stimmte, freie Akteure oder unsere Geschichte, unsere Praxis oder unser Lernen als Ursprung oder Fundament des Rechts gelten, hätten wir auch immer anders gekonnt, gewollt oder gelernt . Laut Hegel können wir zum Beispiel nur sagen, dass wir die unrechte Natur der Sklaverei erkannt haben und dass Kinder vernünftigerweise keine Gegenstände sind, weil wir eines Rechtsbegriffs gewahr sind, in dessen Licht wir unser vergangenes Rechtsverständnis beurteilen . Somit ist für Hegel die positive Erscheinung oder Manifestation des Rechts logisch abhänging von der Wirklichkeit des Rechts – vernünftiges positives Recht existiert nur, weil es das vernünftige (Natur-) Recht gibt . Die Trennung des kantischen Rechtsbegriffs „Willkür gegen allgemeine Ordnung der Willkür“ wird bei Hegel somit durch den Zusammenhang „willkürliche Erscheinung des notwendigen Rechts“ ersetzt . Im Kontext der Naturrechtsdebatte bedeutet dies, dass während bei Kant die Wahrheit des Vernunftgesetzes und der Maßstab des wahren Rechts – die Richtigkeit des kategorischen Imperatives – jenseits der empirischen Welt zu finden – und damit möglicherweise unauffindbar bleiben muss – sind, ist für Hegel das AllgemeinNormative im positiven Recht immanent .8 III. schlussFolgeRung Durch systematisch-begriffliche Verordnung der unterschiedsgeprägten Willkür in Bezug auf die identitätsfundierte Wirklichkeit glaubt Hegel also erreicht zu haben, was Kant nicht gelingen konnte: Den begrifflich-philosophischen Beweis des Rechts, das sowohl Selbstbestimmung – und somit Freiheit – als auch Bestimmtheit – und somit Inhalt – durch logische Einordnung strukturell rechtfertigt und alle rechten Institutionen aus dieser Architektur ableitet . Das freie Recht ist wahr, das erscheinende, positive Recht ist nur insofern wahr, wie es das freie Recht artikuliert . Inwiefern dieses Manöver Hegels auf methodologisch nachvollziehbaren Fundamenten beruht, die das Verstandesdenken aufnehmend überschreiten, ohne dabei einer Art Mystizismus anheimzufallen, muss gesondert besprochen werden .
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Aus ‚unserer‘ positivistisch geprägten Perspektive mag es zufällig oder willkürlich erscheinen, dass das Recht so oder so ist, aus der Perspektive des wirklichen Rechts ist dies unerheblich .
MarkuS Vašek, Wien Recht
und
FRIeden
Im
denken hans kelsens
Es gab nicht viele Staatsrechtslehrer der Zwischenkriegszeit, die sich offen und ohne Vorbehalt für die Ideale des Friedens und der Demokratie eingesetzt haben: Hans Kelsen war einer von ihnen . Er redete dem Frieden das Wort, als der Krieg schon in der Luft lag . Und er setzte sich für die Demokratie ein, als die Diktatur das Mittel der Zeit schien . Kelsens weithin bekanntes Engagement für den Frieden veranlasste ihn, auf dem Fünften Deutschen Soziologentag dem Vorwurf entgegenzutreten, er – Kelsen – sei bloß ein realitätsfremder „guter alter Friedensonkel“ .1 Grund genug also, sich im Gefolge der möglicherweise erstmaligen „Naissance“2 von Kelsens Werk in Deutschland, mit dem Verhältnis von Hans Kelsen zum Frieden auseinanderzusetzen . Seine Beschäftigung mit dem Thema erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert und setzt mit einer kurzen Bemerkung in seiner Habilitationsschrift3 ein . In seinem völkerrechtlichen Werk ist die Beziehung von Recht und Frieden umfassend ausgearbeitet4 und sie fließt in seine dogmatischen Werke zur Charta der Vereinten Nationen5 ebenso ein wie in seine einschlägigen theoretischen und rechtspolitischen Schriften . Vielfach nur angerissen und auch in der Forschung nur wenig aufbereitet, sind hingegen Kelsens Überlegungen zum Recht als Friedensordnung sowie die diesbezüglichen Parallelen in seiner Demokratietheorie . Auf diese beiden letztgenannten Punkte möchte ich mein Hauptaugenmerk legen . I. Es soll hier nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich in Erinnerung gerufen werden, dass der Rechtsbegriff bei Kelsen keine wie auch immer gearteten materiellen Werte in sich schließt . Um Recht zu sein, reicht es, dass ein System von Sollensanordnungen relativ, also im Großen und Ganzen für einen bestimmten Personenkreis, wirk-
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Hans Kelsen, Schlusswort in der Diskussion über „Demokratie“, in: Verhandlungen des Fünften Deutschen Soziologentages vom 26. bis 29. September 1926 in Wien. Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen, 1927, 113–118, hier zitiert nach Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006, 148 . Christoph Schönberger, Kelsen-Renaissance? Ein Versuch über die Bedingungen ihrer Möglichkeit im deutschen öffentlichen Recht der Gegenwart, in: Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, hg . von Matthias Jestaedt, 2013, 210 f . Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911, hier zitiert nach Hans Kelsen Werke, Bd . 2/1: Veröffentlichte Schriften 1911, hg . von Matthias Jestaedt, 2008, 392 . Hans Kelsen, Peace through Law, 1944; vgl . dazu Jürgen Busch / Judith von Schmädel / Kamila Staudigl-Ciechowicz, ‚Peace through law‘: Kelsen’s (and His School’s) Struggle for Universal Peace, in: Legal and Political Theory in the Post-National Age, hg . von Péter Cserne / Miklós Könczöl, 2011, 161–180 . Hans Kelsen, The Law of the United Nations: A Critical Analysis of its Fundamental Problems, 1950 .
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sam ist .6 Die Rechtsgeltung ist daher von ihrem Inhalt abgekoppelt; es kommt insbesondere nicht darauf an, ob eine positive Rechtsordnung am Maßstab bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen als gerecht gilt oder einem überempirisch begründeten Naturrecht entspricht . Soweit die bekannte positivistische Auffassung des Rechtsbegriffes bei Kelsen . In einer publizistisch ausgetragenen Kontroverse7 des Jahres 1926 geht Kelsen noch konsequent gegen seinen Wiener Kontrahenten Alexander Hold-Ferneck vor, der von einer Wesensverknüpfung von Recht und Frieden ausgeht . Man vernichte den Rechtsbegriff – so Hold-Ferneck –, wenn man die Verknüpfung des Rechts mit der Ordnung, dem Frieden und der Sicherheit aufhebe .8 Kelsen repliziert darauf, dass sich die Friedensfunktion des Rechts bei Hold-Ferneck allein im Kriterium des Befolgtwerdens von Rechtsnormen erschöpfe und dessen Friedensbegriff nur formal verstanden werden könne . Vorgaben an den Inhalt der Rechtsordnung ergäben sich daraus nicht; es genüge allein, dass die Rechtsnormen gewöhnlich befolgt würden .9 Kelsen nimmt also zum Thema eine zu erwartende Stellung ein: Wo die Friedensfunktion des Rechts aus der bloßen Befolgung der Rechtsordnung erschlossen wird, folgt daraus nichts, weil diese Befolgung ohnehin bereits ein Kriterium für den Rechtsbegriff selbst ist . Und weiter ergeben sich daraus keine Konsequenzen für den Inhalt einer Rechtsordnung selbst . Nur wenig später ändert Kelsen seine Position und sieht in der Rechtsordnung als gesellschaftlichem Stabilisierungsfaktor die Friedensfunktion erfüllt .10 Er vertritt diese Auffassung in zahlreichen Veröffentlichungen, variiert sie nach dem von ihm behandelten Generalthema, bleibt aber in seiner Grundaussage stets eindeutig: „The law is, to be sure, an ordering for the promotion of peace“, so Kelsen in seinen bereits nicht mehr im deutschsprachigen Raum erschienenen Arbeiten .11 Versucht man seine verschiedenen Begründungsansätze grob zu strukturieren, so ergeben sich derer drei: Zunächst wird mit dem Prinzip der Rechtskraft eine Funktion des positiven Rechts hervorgehoben, die dafür sorgen soll, dass die Auseinandersetzungen und Unsicherheiten um Existenz und Inhalt einer naturrechtlich vorgegebenen, gerechten Ordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Ende finden .12 Die Rechtskraft setze an die Stelle der Gerechtigkeit das Ideal des Friedens, weil damit die positive 6 7
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Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Aufl ., 1960, 31 ff . Dazu Jürgen Busch / Kamila Staudigl-Ciechowicz, „Ein Kampf ums Recht“? Bruchlinien in Recht, Kultur und Tradition in der Kontroverse zwischen Kelsen und Hold-Ferneck an der Wiener Juristenfakultät, in: Turning Points and Breaklines, hg . von Szabolcs Hornyák / Botond Juhász / Krisztina K . Delacasse / Zuszsanna Peres, 2009, 110–138; Martin Kriegner, Kelsen versus Hold-Ferneck . „Ein Kampf ums Recht“, in: Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre II. Ergebnisse eines Wiener Rechtstheoretischen Seminars 1988, hg . von Robert Walter, 1988, 44–74 . Alexander Hold-Ferneck, Der Staat als Übermensch. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kelsens, 1926, 8 . Hans Kelsen, Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung, 1926, 5 . Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2 . Aufl ., 1990, 165 . Hans Kelsen, General Theory of Law and State, 1946, 21; ders ., The Law as a Specific Social Technique, The University of Chicago Law Review 9 (1941), 81 . Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechtes, Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1927/28), 221–250, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 1, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 218, 226 f .
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Rechtsordnung gegenüber dem Naturrecht verbindlich wird; und zwar auch dann, wenn beide Ordnungen nicht deckungsgleich sind .13 Die Argumentation Kelsens ist klar: Im Interesse von „Ruhe und Sicherheit“ und damit im Interesse des Friedens sei es gelegen, wenn nicht jeder Einzelne seine subjektive Meinung über das, was gerecht sei, an die Stelle der Vorschriften des Gesetzgebers stellen könne .14 Hier wird also, ganz typisch für Kelsen, eine autonome Sphäre des positiven Rechts postuliert15; und dieses positive Recht wirkt befriedend, weil die Frage, was gesollt ist und was nicht, von der Frage der gerechten, der „richtigen“ Ordnung abgekoppelt wird .16 Kelsens zweites Argument knüpft an die Ausschließlichkeit staatlicher Rechtsetzung an . Die Rechtsordnung monopolisiere die Gesetzgebungsautorität und vor allem die effektive Durchsetzung bei den zuständigen staatlichen Organen, was zu einem Ausschluss privater Zwangsakte unter den Bürgern führen müsse .17 Und diese Funktion führe schließlich zu einer Befriedung der Gesellschaft . Seine Beweisführung ist eingebettet in einen größeren Begründungszusammenhang, in dem Kelsen von einer zunehmenden Zentralisierung zunächst der Rechtsanwendung und schließlich der Rechtsetzung ausgeht und darin auch einen zivilisatorischen Fortschritt erblickt .18 Das dritte Argument Kelsens hebt die Ausgleichsfunktion des Rechts hervor, das sich als Kompromiss widerstreitender Interessen darstelle, von denen keines ganz befriedigt werde .19 Diese Gedankenführung kann unterschiedlich erklärt werden: Es kann damit auf den demokratischen Diskussionsprozess vor der Normsetzung verwiesen werden, dessen Ergebnis eine Regelung ist, die den unterschiedlichen Interessen in einer Rechtsgemeinschaft Rechnung trägt – hier sind Parallelen zu Kelsens Demokratietheorie unübersehbar . Kelsen richtet den Blick aber stärker auf die realen Wirkungen nach der Normsetzung, sodass die faktische Effektivität der Rechtsordnung schon beweise, dass in der Gesellschaft ein gewisser Gleichgewichts- bzw . Friedenszustand herrsche, weil den Rechtsnormen kein erheblicher Widerstand entgegengesetzt werde . Wir erinnern uns: Dass die Rechtsordnung durch ihre allgemeine Befolgung auch gleichzeitig eine Friedensordnung sei, hat Kelsen in seiner Entgeg13 14 15 16 17
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Kelsen (Fn . 12), 227 . Kelsen (Fn . 12), 226 f . Vgl . Kelsen (Fn . 6), 69: „[d]ie Geltung einer positiven Rechtsordnung von ihrer Entsprechung oder Nichtentsprechung im Verhältnis zu irgendeinem Moralsystem unabhängig ist“ . Zum Verhältnis von positivem zum „richtigen“ Recht z . B . Otto Depenheuer, Gesetzes Recht . Das positive Gesetz auf der Suche nach seiner Gerechtigkeit, Zeitschrift für Religion und Gesellschaft 1 (2011), 212–222, 215 . Kelsen (Fn . 11), Theory, 21–23; ders . (Fn . 11), Social Technique, 81 f . Auch die private Rechtsdurchsetzung mit Zwangsmitteln lässt sich in diesem Modell fassen, da das von der Rechtsordnung ermächtigte Individuum durch die (rechtmäßige) Ausübung von Zwang selbst zum Staatsorgan wird und daher im Namen der Gemeinschaft handelt: „The individual who, authorized by the legal order, applies the coercive measure (the sanction), acts as an organ of this order, or of the community constituted thereby“ (Kelsen [Fn . 11], Theory, 21; ders . [Fn . 11], Social Technique, 81) . Clemens Jabloner, Menschenbild und Friedenssicherung, in: Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, hg . von Robert Walter / Clemens Jabloner, 1997, 61 f ., 66 ff .; Klaus Zeleny, Das Recht als Instrument der Friedenssicherung, in: Reflexionen über Demokratie und Recht. Festakt aus Anlass des 60. Geburtstages von Clemens Jabloner, hg . von Robert Walter / Klaus Zeleny, 2009, 68 ff . Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 1, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 279 .
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nung auf Hold-Ferneck noch als ganz und gar formal gerügt . Jetzt wird sie bei ihm zu einem Begründungsstrang in seiner Identifikation von Rechts- und Friedensordnung . Es war einer der bekanntesten Schüler Kelsens, der Völkerrechtler Alfred Verdross, der in einer im Jahr 1957 erschienenen Abhandlung auf die Widersprüche der Friedensvorstellung seines Lehrers zu dessen eigenen Prämissen aufmerksam gemacht hat .20 Werde die Rechtsordnung als Friedensordnung verstanden, so komme man nicht umhin, dem Recht eben nicht jene inhaltliche Beliebigkeit zuzuweisen, die für die Reine Rechtslehre so charakteristisch sei . Die Grundnorm sei dann eben nicht mehr für alle Anordnungen eines sozialen Machthabers offen, sondern beschränke dessen Macht durch die Anweisung, bestimmte Grundwerte im positiven Recht zu verwirklichen .21 Verdross schließt daraus eine wertphilosophische Fundierung des positiven Rechts und eine Öffnung hin zur materialen Rechtsphilosophie – ein gegenüber dem Kopf der Wiener rechtstheoretischen Schule fast schon unerhörter Vorwurf! Und tatsächlich scheint die Kritik bei Kelsen angekommen zu sein: In seiner im Jahr 1960 erschienenen zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre rückt er explizit von seiner ursprünglichen Position ab22; auf frühen Stufen der Rechtsentwicklung, in denen noch Selbsthilfe, Blutrache oder Ähnliches als legitime Rechtsinstrumente gelten, könne die Sicherung von Frieden nicht gut als wesentliche Funktion des Rechts behauptet werden23 und der Friedenswert auch kein wesentliches Element des Rechtsbegriffes darstellen .24 Kelsen macht aber gleichzeitig deutlich, dass er weiterhin eine Befriedung der Rechtsgemeinschaft durch fortschreitende Zentralisierung des Gewaltmonopols für wahrscheinlich hält . Nur, und hier liegt die entscheidende Wendung, verortet er die Friedensfunktion des Rechts nicht mehr im Rechtsbegriff selbst, der damit wieder von vorgängigen Wertbestimmungen unabhängig bleibt . Und dass sich das Recht in seiner historischen Entwicklung in Richtung einer zentralisierten Friedensordnung entwickelt, steht als rechtsoziologische Stellungnahme25 mit den Prämissen der Reinen Rechtslehre in keinerlei Wiederspruch . Damit genug der Erzählung . Ob es tatsächlich die Stellungnahme von Verdross war, die Kelsen den Anstoß zur Modifikation seiner Position gab, kann hier dahin gestellt bleiben .26 Viel wichtiger ist es, das Verhältnis der Friedensfunktion zum 20 21 22 23 24 25 26
Alfred Verdross, Die Erneuerung der materialen Rechtsphilosophie, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 76 (1957), 181–213, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 1, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 602–604 . Verdross (Fn . 20), 604 . Kelsen (Fn . 6), 40: „nicht unerhebliche Modifikation“ . Kelsen (Fn . 6), 39 f .; vgl . auch ders ., Professor Marcics Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, Zeitschrift für öffentliches Recht 15 (1965), 271 . Kelsen (Fn . 6), 68; ders ., Recht und Moral, in: Estudios Juridico-Sociales. Homenaje al Profesor Luiz Legaz y Lacambra, Bd 1, 1960, 153–164, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 1, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 658 . Jabloner (Fn . 18), 59 f . Zunächst hat Josef L . Kunz, Die definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre, Zeitschrift für öffentliches Recht 11 (1961), 383, die Bemerkung von Verdross als Auslöser behauptet; zweifelnd Dreier (Fn . 10), 165 (Fn . 29), der auf eine frühere Stellungnahme (Barna Horvath, Comment on Kelsen, Social Research 19 [1951], 322) verweist, die den „wertenden Wahlcharakter der Friedensfunktion“ betont . Soweit man überhaupt einer Person den ersten Anstoß zurechnen
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Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre aufgrund der referierten Stellungnahmen zu klären . Es ist kein Zufall, dass sich Kelsens frühe Auffassung vom Recht als Friedensordnung in Arbeiten findet, die sich kritisch mit der Naturrechtslehre auseinandersetzen .27 Gegen das Ideal einer transzendenten Ordnung mit absolutem Gerechtigkeitsanspruch wird dem Leser ein anderes, nämlich das Friedensideal präsentiert, das mit den Mitteln des positiven Rechts erreicht werden soll . Dass damit dem Gerechtigkeitssuchenden kein gleichwertiges Substitut angeboten wird, sieht Kelsen selbst ein; vielmehr könne sich eine Friedensordnung sogar als Zustand höchster Ungerechtigkeit darstellen .28 Gleichwohl lässt er keinen Zweifel daran, dass er die Friedensfunktion für eine wertvolle Eigenschaft des Rechts hält und er nimmt dafür Argumente in Anspruch, die seinen eigenen Rechtsbegriff transzendieren: Das Prinzip der Rechtskraft als streitbeilegendes Instrument in Gesetzgebung und Vollziehung kann sicher zur Befriedung einer Gesellschaft beitragen; das gerichtliche Urteil, das den Konflikt zweier konfligierender Interessenspositionen beendet, ist nur ein Beispiel unter vielen . Jedoch ist die Rechtskraft mit dem Rechtsbegriff selbst nicht untrennbar verknüpft; in einer konkreten Rechtsordnung kann dieses Prinzip auch abbedungen werden29, sodass beispielsweise das gerichtliche Urteil den Streit nicht mehr letztgültig beendet, sondern selbst jederzeit wieder abgeändert oder aufgehoben werden kann . Damit geht aber auch die Friedensfunktion, verstanden als Streitbeilegung, verloren . Gleiches gilt für die friedensstiftende Zentralisierung und Monopolisierung der Gewaltanwendung in einer Gesellschaft . Auch diese ist, wie Kelsen selbst eingesteht30, für den Rechtsbegriff nicht konstitutiv . Selbst primitive Gesellschaften können trotz nicht-zentralisierter Rechtsdurchsetzung durch den Einzelnen durchaus Rechtsordnungen sein; Friedensordnungen sind sie deswegen noch nicht . Bleibt noch das letzte, von Kelsen selbst eingebrachte Argument der allgemeinen Wirksamkeit der Rechtsordnung, die gleichzeitig den Friedenszustand indiziere . Vom Element der allgemeinen Wirksamkeit konnte er sich nicht verabschieden ohne seinen Rechtsbegriff selbst in Frage zu stellen . Zwar betonen Vertreter der Reinen Rechtslehre stets, dass die Wirksamkeit nicht mit der Geltung einer Rechtsnorm identisch ist, sondern bloße Bedingung der Geltung ist .31 Das Kriterium der Effektivität einer Rechtsordnung erfolge nur aus erkenntnisökonomischer Zweckmäßig-
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kann, so gebührt dies meines Erachtens der Stellungnahme von Verdross: Seine Kritik als Vertreter der Wiener rechtstheoretischen Schule zielt direkt in das Zentrum der Reinen Rechtslehre und er benennt die Konfliktpunkte sehr deutlich . Auf die Insinuation, wonach die Grundnorm nach der ursprünglichen Auffassung Kelsens bestimmte Anordnungen des sozialen Machthabers ausschließt, scheint der Lehrer seinem Schüler direkt zu antworten: „Welchen Inhalt diese Verfassung […] hat […], kommt dabei nicht in Frage; auch nicht, ob diese Rechtsordnung tatsächlich einen relativen Friedenszustand […] garantiert . In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht transzendenter Wert bejaht“ (Hans Kelsen, Die Funktion der Verfassung, in: Forum XI [1964], 583–586, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 2, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, 2010, 1619) . Kelsen (Fn . 12); ders . (Fn . 19) . Kelsen (Fn . 19), 281 . Adolf J . Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft entwickelt aus dem Rechtsbegriff, 1923, 238–244 . Kelsen (Fn . 6), 39 f . Kelsen (Fn . 6), 220: „Wirksamkeit ist eine Bedingung der Geltung, aber nicht diese Geltung
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keit .32 Dennoch ist damit die Brücke von der normativen Welt zur gesellschaftlichen Realität geschlagen33, und die Konsequenzen werden für das Verhältnis von Recht und Frieden sogleich sichtbar: Der Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre setzt ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Stabilität beziehungsweise sozialem Konsens voraus .34 Das Forschungsobjekt sind daher etablierte Sollensordnungen; instabile Ordnungsverhältnisse bleiben ausgeklammert .35 Damit soll nicht gesagt werden, dass Gesellschaften ohne effektive Rechtsordnung jedenfalls unfriedlich sein müssen, aber die Erfahrung zeigt, dass in Staaten ohne im Großen und Ganzen wirksames Rechtssystem die Wahrscheinlichkeit für bürgerkriegsähnliche Zustände ungleich höher ist als in effektiven Rechtsordnungen . Insofern kann man durchaus sagen, dass der Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre über das Medium der Effektivität eine gewisse Affinität zu friedlichen Gesellschaftsordnungen aufweist . Aus dieser Affinität zwischen Rechts- und Friedensordnung kann jedoch für die inhaltliche Ausgestaltung einer Rechtsordnung nicht viel abgeleitet werden, und ich komme hier wieder auf Verdross zurück: Er hat – wie wir gesehen haben – aus dem Kriterium der Effektivität nicht bloß eine Nähebeziehung von Rechts- und Friedensordnung abgeleitet, sondern daraus eine Einfallspforte für materiale Gerechtigkeitsvorstellungen gemacht . Eine Gesellschaft müsse, so Verdross, durch eine sachgemäße Rechtsordnung so geordnet werden, dass ein harmonisches Zusammenleben der Rechtsgenossen untereinander und zur Gemeinschaft möglich sei . Denn erst dadurch sei Friede in Eintracht möglich, der mit einem Minimum an Zwang aufrechterhalten werden könne .36 Damit sei ein objektiver Maßstab für das positive Recht gefunden; es vermindere sich die Kluft, die zwischen der Reinen Rechtslehre und der Naturrechtslehre bestehe, weil der Rechtspositivismus selbst von überpositiven Werten ausgehe .37 Die Argumentation von Verdross verzerrt nach meiner Auffassung den Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre, indem sie die Effektivität der Rechtsordnung über die Akzeptanz durch die Normadressaten erreichen möchte und das jeder Rechtsordnung immanente Zwangsmoment38 marginalisiert . Es ist sicher eine wünschenswerte Anforderung an das Recht, dass es durch ausgewogene und sachgerechte Regeln dafür sorgt, dass sich die Menschen freiwillig an die Anordnungen der normset-
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selbst“; ders . (Fn . 11), Theory, 119: Wirksamkeit ist für die Geltung conditio sine qua non, nicht conditio per quam . Rudolf Thienel, Der Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre – Eine Standortbestimmung, in: Staat – Verfassung – Verwaltung. Festschrift anläßlich des 65. Geburtstages von Prof. DDr. DDr. h. c. Friedrich Koja, hg . von Heinz Schäffer u . a ., 1998, 197 f . Kelsen (Fn . 6), 220: „unmöglich […], bei Bestimmung der Geltung von der Wirklichkeit zu abstrahieren“; vgl . Dreier (Fn . 10), 124 m . w . N . Dreier (Fn . 10), 126 f ., 129 . Clemens Jabloner, Der Rechtsbegriff bei Hans Kelsen, in: Rechtstheorie. Rechtsbegriff – Dynamik – Auslegung, hg . von Stefan Griller / Heinz P . Rill, 2011, 30 mit Fn . 33 . Vgl . auch Thienel (Fn . 32), 198, nach dem kein besonderes Interesse an der Kenntnis derartiger Ordnungen besteht . Alfred Verdross, Zum Problem der völkerrechtlichen Grundnorm, in: Rechtsfragen der internationalen Organisation. Festschrift für Hans Wehberg zu seinem 70. Geburtstag, hg . von Walter Schätzel / Hans J . Schlochauer, 1956, 385–394, hier zitiert nach Die Wiener rechtstheoretische Schule, hg . von Hans R . Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, Bd . 2, 2010, 1813 . Verdross (Fn . 36), 1812 f . Kelsen (Fn . 6), 34 ff .
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zenden Autorität halten . Die Wirksamkeit einer Rechtsordnung kann aber keineswegs nur auf diesem Wege sichergestellt werden, sondern eben auch durch organisierten Zwang der Rechtsgemeinschaft . Insofern kann selbst eine ungerechte Ordnung ohne innere Akzeptanz seitens der Normunterworfenen eine Rechts- ja sogar eine Friedensordnung sein, solange nur das Zwangselement stark genug ist39; einer materiellen Aufladung, wie dies Verdross versucht hat, bedarf der Rechtsbegriff der Reinen Rechtslehre daher nicht . Unbestreitbar ist aber, dass das Kriterium der Effektivität in Verbindung mit den frühen Äußerungen Kelsens zum Recht als Friedensordnung eine Einfallspforte für materielle Anreicherungen seines formalen Rechtsbegriffes möglich erscheinen lässt . Diese Gefahr hat Kelsen ab der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre erkannt und gebannt . Es wäre bestimmt überzogen, diese Modifikation pauschal dem Teil seines Oeuvres zuzuschlagen, das in der Kelsen-Exegese als Spätwerk bekannt ist .40 Dieses ist – kurz gesagt – vor allem durch die Abkehr von früheren Positionen gekennzeichnet .41 Im uns interessierenden Komplex schärft bzw . adjustiert er vielmehr seinen Rechtsbegriff, um diesen gegen inhaltliche Erwartungen oder gar Anforderungen zu immunisieren . Selbst wenn daher mitunter behauptet wird, dass Kelsen in seiner späten Phase mit einigen früheren Auffassungen gebrochen hat: Dass das Recht an keinem woher auch immer abgeleiteten außerrechtlichen Maßstab gemessen werden darf, um auch Recht zu sein, hat er vielmehr noch weiter radikalisiert .42 Wer also wenigstens im Friedensideal einen materiellen Bezugspunkt in Kelsens Rechtslehre gefunden zu haben glaubt, wird auch in dieser Erwartung enttäuscht . II. Ich bleibe bei Kelsen, wechsle aber den Bezugspunkt: In seinen Überlegungen zur Demokratie konnte Kelsen als politischer Theoretiker Stellung beziehen, was ihm in seiner strikt normativistischen Rechtstheorie versagt bleiben musste .43 Auch hier stellt er einen Bezug zum Friedensideal her, das mit der Demokratie als Herrschafts39
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Vgl . Kelsen (Fn . 6), 39: „Das Recht ist eine Ordnung des Zwangs, und als Zwangsordnung eine – seiner Entwicklung nach – Sicherheits-, und das heißt Friedensordnung .“ Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass die Rechtsordnung jedenfalls auch eine Sollensordnung sein muss, die den Normunterworfenen die Möglichkeit lassen muss, sich den Rechtsvorschriften entsprechend zu verhalten (Steuerung des Sozialverhaltens) . Wo dies nicht möglich ist und Zwang unabhängig von der Befolgung von Sollensvorschriften ausgeübt wird, erscheint eine Charakterisierung als Rechtsordnung fraglich (Jabloner [Fn . 35], 32 f . mit Fn . 45) . Zur Eingrenzung dieser Periode Ewald Wiederin, Das Spätwerk Kelsens, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, hg . von Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski, 2009, 351–365, der im Spätwerk den Zeitraum nach der Veröffentlichung der Zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre erblickt . Schon aus diesem Grund kann der Auffassungswechsel Kelsens zur Frage Recht und Frieden bereits in diesem Werk selbst nicht ohne weiteres dem Spätwerk zugeschlagen werden . Statt aller und m . w . N . Wiederin (Fn . 40), 352–360 . Kelsen hat auch in anderen Zusammenhängen seine Theorie noch weiter verschärft bzw . zugespitzt: Horst Dreier, Benedikt XVI . und Hans Kelsen, Juristenzeitung (2011), 1151–1154, zum Verhältnis von Recht und Logik . Vgl . Oliver Lepsius, Kelsens Demokratietheorie, in: Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, hg . von Tamara Ehs, 2009, 84 f .
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form eng verknüpft sei; denn – so Kelsen – die „Demokratie ist die politische Form des sozialen Friedens“ .44 Diese Aussage beruht auf zwei Elementen seiner Demokratietheorie45, die kurz dargestellt werden sollen . Zunächst wird der Wertrelativismus als weltanschauliche Voraussetzung des demokratischen Gedankens genannt .46 Weil absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis verschlossen seien, müsse in einer Demokratie nicht nur die eigene, sondern auch die fremde Meinung für möglich gehalten werden . Weder diese, noch jene könnten absolute Gültigkeit für sich beanspruchen . Man kann diesen Gedanken gar nicht hoch genug einschätzen: Das Wechselspiel von Meinungen in einer Demokratie47, bei denen einmal die eine und einmal die andere Auffassung im zeitlichen Verlauf die größere Überzeugungskraft gewinnen kann, ist überhaupt nur denkbar, wenn man die andere – vielleicht gerade unterlegene – Auffassung als prinzipiell gleichwertig ansieht .48 Kelsen hat diesen Punkt noch ergänzt und das „Grunderlebnis“ des demokratischen Charakters darin gesehen, dass dieser im Anderen nicht einen Feind, sondern sich selbst erblickt und damit dem Typus des friedliebenden Menschen zuneigt .49 Nimmt man hingegen erkennbare absolute Wahrheiten an, so kann es (auch bei Kelsen) nur eine mögliche Handlungsoption
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Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932), 90–98, hier zitiert nach Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006, 233 (Hervorhebung im Original) . Für einen Gesamtüberblick zu Kelsens Demokratietheorie v . a . Dreier (Fn . 10), 249–294; ders . Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung. Ergebnisse eines Internationalen Symposions in Wien (14.–15. Oktober 1996), hg . von Robert Walter / Clemens Jabloner, 1997, 79–102; Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepisus, 2006, XVII–XXVIII; Lepsius (Fn . 43); Andreas Kley, Hans Kelsen als politischer Denker des 20 . Jahrhunderts . Ein Beitrag zu „Wesen und Wert der Demokratie“, Liechtensteinische Juristen-Zeitung (2000), 16–26; Thomas Olechowski, Von der „Ideologie“ zur „Realität“ der Demokratie, in: Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, hg . von Tamara Ehs, 2009, 113–132 . Hans Kelsen, Von Wesen und Wert der Demokratie, 1929, hier zitiert nach Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006, 226 f .; ders ., Allgemeine Staatslehre, 1925, 370 f .; ders ., Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 1965, 161 f . Kley (Fn . 45), 25 . Vgl . Dreier (Fn . 10), 96–98 . Hans Kelsen, Wissenschaft und Demokratie, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr . 321 vom 23 . Februar 1937, 1–2 sowie Nr . 327 vom 24 . Februar 1937, 1–2, hier zitiert nach Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006, 239: „Es ist der Persönlichkeitstypus, dessen Grunderlebnis das „Tat wam asi ist, der Mensch in dem, so er sich dem anderen gegenübersieht, eine Stimme spricht: das bist Du .“ Dazu Jabloner (Fn . 18), 64 mit Fn . 34; Kley (Fn . 45), 24: „Die Demokratie mit ihrer offenen und an der Oberfläche ablaufenden Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen ist gewissermaßen die Staatsform des bewussten Handelns und damit psychologisch gesprochen eine Form souveränen und partnerschaftlichen Umgangs mit Konflikten und Spannungen; sie können sich hier in den öffentlichen Foren gewissermaßen kontrolliert „abreagieren“; diese Staatsform sichert daher eher den Frieden“; ähnlich Horst Dreier, Joh 18, Wertrelativismus und Demokratietheorie, in: Reflexionen über Demokratie und Recht. Festakt aus Anlass des 60. Geburtstages von Clemens Jabloner, hg . von Robert Walter / Klaus Zeleny, 2009, 31 .
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geben – den Gehorsam .50 Gegenüber abweichenden (also voraussetzungsgemäß falschen) Meinungen wäre der Toleranzspielraum dementsprechend gering .51 Nach welchen Kriterien soll nun in einer auf dem Wertrelativismus beruhenden Demokratie die überlegene Meinung ermittelt werden? Für Kelsen kommt nur das Prinzip der einfachen Mehrheit in Frage, da dieses dafür sorge, dass möglichst wenige Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zum allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten oder – umgekehrt – möglichst viele Menschen frei sind .52 Mit diesem formalen Prinzip hat es jedoch nicht sein Bewenden: Der Mehrheitswille, der letztlich zum Durchbruch kommt, sei gar nicht ein Diktat der Majorität über die Minorität, sondern selbst das Ergebnis einer gegenseitigen Beeinflussung beider Gruppen .53 Der Schlüsselbegriff bei Kelsen ist der Kompromiss54: Das Trennende wird zurückgestellt, das Gemeinsame bildet die Basis der politischen Einigung . Die Friedensfunktion dieses Verfahrens zeigt sich in zwei Aspekten und zwar zunächst bei der Beurteilung des Kompromisses durch die Vertreter der unterlegenen Meinung . Diese werden den Kompromiss akzeptieren, weil sie – der Idealvorstellung entsprechend – ihre eigene Auffassung im Beschluss der Mehrheit zumindest in Teilen wiederfinden; sei es, weil sich die Mehrheit gegenüber den Sachargumenten einsichtig gezeigt hat oder aber die Mehrheit erhebliche Widerstände befürchtet, wenn sie auf die Einwände der Minderheit gar nicht eingeht . Die andere Perspektive ist die Aussicht der gerade unterlegenen Minderheit, selbst wieder zur Mehrheit zu werden .55 Die friedliche Akzeptanz des abgelehnten status quo hängt maßgeblich an der Chance der Minderheit, ihre Vorstellungen latent aufrechtzuerhalten und bei
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Kelsen (Fn . 46), Wesen, 224; vgl . Kley (Fn . 45), 24 . Ota Weinberger, Rechtspositivismus, Demokratie und Gerechtigkeitstheorie, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hg . von Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, 1982, 513 . Kelsen (Fn . 46), Wesen, 159: „Die absolute Majorität stellt hier tatsächlich die oberste Grenze dar .“ Kelsen schwächt diese strikte Auffassung in der Folge zugunsten des Schutzes der Grundrechte etwas ab (Kelsen [Fn . 46], Wesen, 193–195), aber bleibt in diesem Punkt insgesamt unschlüssig (vgl . Dreier [Fn . 10], 263; ders . [Fn . 45], 93–96; Dieter Grimm, Zum Verhältnis von Interpretationslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip bei Kelsen, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hg . von Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, 1982, 157; Peter Koller, Zu einigen Problemen der Rechtfertigung der Demokratie, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hg . von Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, 1982, 324 f .; Heinz Schäffer, Verfassung als Tabu, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hg . von Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, 1982, 235–237; Markus Vašek, Relativität und Revisibilität . Zur Begrenzung der Mehrheitsregel in der Demokratietheorie Hans Kelsens, Rechtstheorie 41 [2010], 505–507) . Kelsen (Fn . 46), Wesen, 196; ders ., Das Problem des Parlamentarismus, 1926, 31 . Kelsen präferiert zur Durchsetzung dieser wechselseitigen Einflussnahme daher die parlamentarische gegenüber der direkten Demokratie (dazu statt vieler Dreier [Fn . 10], 85–87) und das Verhältniswahlrecht gegenüber dem Mehrheitswahlrecht . Zum Stellenwert und zur Friedenfunktion des Kompromisses: Kelsen (Fn . 46), Wesen, 196 f .; ders . (Fn . 1), 138; ders . (Fn . 46), Staatslehre, 359, ders . (Fn . 53), Parlamentarismus, 31; vgl . dazu Dreier (Fn . 10), 256 ff .; Kley (Fn . 45), 23; Vašek (Fn . 52), 502 ff . Skeptisch zur Friedensfunktion Ilmar Tammelo, Vom Wert und Unwert der Demokratie, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hg . von Werner Krawietz / Ernst Topitsch / Peter Koller, 1982, 494 . Kelsen (Fn . 46), Wesen, 227 . Oder umgekehrt: Der Mehrheit ist immer bewusst, dass sie später zur Minderheit werden kann (Kley [Fn . 45], 25) .
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Erlangung der Mehrheit schließlich durchzusetzen .56 Die Friedensfunktion des Kompromisses ist also gewahrt durch den Einfluss der Minderheit bei seiner Entstehung sowie durch die Perspektive auf spätere Erlangung einer eigenen Mehrheit . Beide Annahmen sind aus meiner Sicht zutreffend, beruhen aber auf Prämissen, die der demokratischen Staatsform zu Grunde liegen . Zunächst setzt die Durchdringung der Mehrheitsentscheidung mit Elementen der Minderheitsauffassung voraus, dass sich beide Gruppen nicht unversöhnlich gegenüberstehen, sondern zu einem Interessenausgleich bereit sind . Und die Voraussetzung dafür erblickt Kelsen – eher überraschend – ganz traditionell in einer kulturell relativ homogenen Gesellschaft, die durch das Band der Sprache geeint ist .57 Aber auch in einer dermaßen geeinten Gesellschaft kann ein friedlicher Ausgleich dort nicht gelingen, wo sich gesellschaftliche Gruppen antagonistisch gegenüberstehen und allein auf die Niederwerfung des Gegners abzielen .58 Hier hat insbesondere die marxistische Kritik angesetzt, die in einer nach Klassengegensätzen gespalteten Gesellschaft in der Mehrheitsentscheidung stets eine Vergewaltigung der Minderheit erblickt59 – eine Sichtweise, die übrigens ohne marxistisches Beiwerk auch von Carl Schmitt vertreten wird .60 Diese Kritik hat insofern einen zutreffenden Kern, als Kelsens Demokratiemodell einen gesellschaftlichen Normalzustand voraussetzt; dennoch trifft sie seine Theorie nicht entscheidend, da diese auf die Frage nach dem Umgang mit existenziellen Konflikten in einer demokratischen Gesellschaft gar keine Antwort geben will . Es steht zu vermuten, dass für Kelsen derartige Auseinandersetzungen ab einem gewissen Grad innerhalb des demokratischen Systems gar nicht mehr zu lösen sind . Sein Modell soll friedliche Kompromisse ermöglichen, nicht garantieren oder gar erzwingen .61 Anders ist es mit der Möglichkeit der Minderheit, später zur Mehrheit zu werden, bestellt . So sehr Kelsen auch betont, dass dieses Prinzip dafür sorge, dass die Vertreter der unterlegenen Meinung sich mit den derzeitigen Verhältnissen abfinden – rechtliche Sicherungen für einen späteren Mehrheitswechsel finden sich bei ihm nicht . Oder mit anderen Worten: Beschließt die Mehrheit, dass es zukünftig keine Abstimmungen mehr geben soll und die Minderheit daher keine Chance zur Machterlangung mehr hat, so kann nach Kelsen auch dies Inhalt eines Mehrheitsbeschlusses sein .62 Aus meiner Sicht folgt hingegen aus einem wertrelativistischen Demokra56 57
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Dreier (Fn . 49), 28 f . Kelsen (Fn . 46), Staatslehre, 324 f,; ders . (Fn . 46), Wesen, 202 f .; ders . (Fn . 53), Parlamentarismus, 36 f; vgl . Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates, 2010, 139, die darin eine Parallele zum Denken Hermann Hellers erblickt . Umfassend zu den Voraussetzungen der Demokratie als Staats- und Regierungsform z . B . Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Verfassungsstaat, hg . von Josef Isensee / Paul Kirchhof, 3 . Aufl ., 2004, § 24 Rz . 58–80 . Hans Kelsen, Foundations of Democracy, Ethics 66 (1955), Nr . 1 Teil II, 1–101, hier zitiert nach Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, hg . von Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, 2006, 372; ders . (Fn . 44), 233 . Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, 1922, 122 f . Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, in:Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, hg . von Carl Schmitt, 1958, 295 . Dreier (Fn . 10), 258 Fn . 54 . Diese Auffassung ist wohl der bekannteste und zugleich berüchtigtste Teil von Kelsens Demokratietheorie . Energisch und rhetorisch brillant wurde sie gegen Ende der Weimarer Republik
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tieverständnis das Gegenteil: Geht man davon aus, dass die Mehrheitsentscheidung stets bloß relativen und falsifizierbaren Charakter hat, dann liegt es nahe, ihr zwar keine inhaltlichen Vorgaben zu machen, jedoch zumindest sicherzustellen, dass eine Revision im Zeitablauf möglich bleibt .63 Um es auf die Friedensperspektive zu wenden: Hat die Minderheit keine Möglichkeit mehr zur friedlichen Änderung der Verhältnisse auf demokratischem Wege, so bleibt ihr nur die Revolution, der gewaltsame Aufstand gegen die bestehende Ordnung – vom Friedensideal ist man dann weit entfernt . Die rechtstechnischen Mittel zur Sicherung dieser friedlichen Revisionsmöglichkeit sind weithin bekannt: Ewigkeitsklauseln, die den demokratischen Prozess (aber auch nicht mehr64) schützen65 und – bei aller Problematik – Instrumente der wehrhaften Demokratie66 .67 Aber auch hier zeigt sich wieder: Kelsens Modell ist nicht darauf zugeschnitten, dass sich eine augenblickliche Mehrheit unter Negierung des politischen Gegners permanent setzt und die Möglichkeit eines demokratischen Machtwechsels abschneidet .68 Kelsens Demokratietheorie kann und will derartige Szenarien nicht erfassen . III. Wir haben gesehen, dass Kelsen sowohl seinen Rechtsbegriff als auch – hier stärker – sein Demokratiemodell mit dem Friedenszustand verbindet und diesen teilweise zur Voraussetzung macht . Darin einen Makel zu erblicken, ist meines Erachtens
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vorgetragen: „Sie [die Demokratie, M . V .] ist diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt . Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, daß sie auch ihren ärgsten Feind an der eigenen Brust nähren muß . Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf die Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden, muß sie ihr wie jeder anderen politischen Ueberzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeit gewähren . Und so sehen wir das seltsame Schauspiel, daß Demokratie in ihren ureigensten Formen aufgehoben werden soll, daß ein Volk die Forderung erhebt, ihm die Rechte wieder zu nehmen, die sie sich selbst gegeben, weil man verstanden hat, dieses Volk glauben zu machen, daß sein größtes Uebel sein eigenes Recht sei . […] Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein“ (Kelsen [Fn . 44], 237) . Zu alldem eingehend Dreier (Fn . 10), 269 ff .; Vašek (Fn . 51), 512 ff . Es versteht sich von selbst, dass der Revisibilitätsgrundsatz in der Praxis nicht jede einmal getroffene Entscheidung jederzeit abzuändern oder zu beseitigen vermag (statt vieler z . B . Christoph Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, Archiv des öffentlichen Rechts 106 [1981], 353) . Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, Juristenzeitung 49 (1994), 749 f . Vgl . Kelsen (Fn . 46), Staatslehre, 254, der unabänderliche Verfassungsbestimmungen zwar ablehnt, aber an ihrer Zulässigkeit nicht zweifelt . Vgl . dazu Schäffer (Fn . 52), 233; Melissa Schwartzberg, Democracy and Legal Change, 2007, 176–180 . Vorsichtig in diese Richtung auch Kley (Fn . 45), 26, der aber gleichzeitig zu Recht unter Hinweis auf das „Böckenförde-Diktum“ die begrenzte Wirkung dieses Instruments betont . Zutreffend m . E . Dreier (Fn . 10), 101 f .: „erscheint es als durchaus möglich und den Grundprinzipien der Demokratie nicht widerstreitend, wenn etwa Verfassungsordnungen einer derartigen Selbstpreisgabe der Demokratie normative Grenzen setzen“ . So könne z . B . auch der sog . „Ewigkeitsklausel“ des Art . 79 Abs . 3 GG „nicht Inkonsequenz bescheinigt werden“ (ebd . 102) . Dass Schmitt (Fn . 60), 283 ff ., diese Möglichkeit radikal aufzeigt und problematisiert, darf nicht verwundern: Er denkt vom Ausnahmezustand her während Kelsen von der Normallage ausgeht .
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Markus Vašek
verfehlt: Kelsen hat seinen Forschungsgegenstand nur jeweils präzise abgegrenzt und zerfallende bzw . instabile Rechtsordnungen ebenso ausgeklammert wie Demokratien, in denen jede Chance auf Verständigung der verschiedenen Gruppen ausgeschlossen ist . Den Ausnahmezustand hat er anderen überlassen . Kelsen als naiven „guten alten Friedensonkel“ zu bezeichnen, geht daher fehl; ein Denker des Friedens ist er aber allemal .
katrin gierhake, regenSBurg zuR FundIeRung eInes RechtsstaatlIchen pRäVentIonsRechts duRch dIe BegRündung Von RechtszWang BeI kant und hegel – gleIchzeItIg eIn BeItRag zum VeRnunFtnotWendIgen staat als RechtsFRIedensInstItutIon –1 Im Ausschreibungstext der diesjährigen Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie war die Rede vom „rechtsphilosophischen Verhältnis von Recht und Frieden“, von der „Notwendigkeit der Zwangsbegründung in einem freiheitlichen Staat“ und von der Frage, wie die zentrale Macht des Staates und seine Institutionen überhaupt zu rechtfertigen und gleichzeitig zu begrenzen sind . Dies alles sind seit Jahrhunderten Grundfragen der Rechts- und Staatsphilosophie, und mögliche Antworten strahlen aus bis in die Beurteilung aktueller konkreter Rechtsfragen . Das Themenfeld, das ich heute näher beleuchten möchte, ist das Problem des rechtlich richtigen Umgangs mit sog . (terroristischen) „Gefährdern“ und damit die Frage, wie der Staat in rechtstaatlicher Weise drohende Unrechtstaten verhindern kann . Bei näherer Betrachtung stellt sich diese Frage weniger als strafrechtliches Problem, das im Rahmen des Strafgesetzbuchs richtig verortet wäre, sondern vielmehr als Problem staatlicher Unrechtsprävention.2 Denn die im StGB enthaltenden Vorfeldtatbestände der Terrorismusabwehr enthalten mehrheitlich Tathandlungen, die sich gültig gerade nicht als Kriminalunrecht ausweisen lassen . Damit kann dann nicht Strafe die begründete Reaktion auf solche Verhaltensweisen sein, sondern allenfalls Präventivmaßnahmen, die das drohende Unrecht unterbinden sollen . Damit ist die Frage aufgeworfen, wie die staatliche Befugnis zur Verhinderung zukünftigen Unrechts in ihrem Fundament zu begründen ist und welche Folgerungen sich daraus für die konkrete gesetzliche Ausgestaltung eines Präventionsrechts ergeben . Das gedankliche Fundament einer jeden staatlichen Präventionsmaßnahme – sei es in Form der Gefahrenabwehr, sei es in Form der Kriminal- und Terrorismusprävention – ist die Befugnis, Zwang gegenüber dem einzelnen Bürger auszuüben . Eine Begründung dieses Zwangsrechts muss deutlich machen, warum der Staat in legitimer Weise auf die Freiheitssphären seiner Bürger zugreifen und sie zu einem bestimmten Verhalten zwingen darf . Im geltenden Recht stellt sich diese Frage beispielsweise bei den polizeilichen Standardmaßnahmen, insbesondere bei der Ingewahrsamnahme und der Anwendung unmittelbaren Zwangs . Verschärft wird das Begründungsproblem noch bei den aktuell diskutierten Methoden der Terrorismusbekämpfung . Dort werden Maßnahmen wie etwa der Ausschluss aus der Rechtsge1 2
Der folgende Text wurde als Vortrag im Rahmen der 19 . Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie zum Thema Recht und Frieden gehalten . Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten . So auch Michael Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, 2008, 25–37 . Zur Begründung dieser Aussage vgl . Katrin Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht (2013), Teil 4 .
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meinschaft durch „Exklusion“, langjährige Sicherungshaft oder sogar gezielte Tötungen nach Art der in Israel praktizierten „preventive killings“ diskutiert . Solche Maßnahmen vor Augen, stellt sich das Legitimationsproblem in besonders drängender Weise . Vom legitimen Zwangsrecht zu unterscheiden sind nämlich bloße Zwangsrechtsanmaßungen, die auf einer nur faktisch überlegenen Machtstellung beruhen und sich gegenüber dem Betroffenen als reine, d . h . rechtlich unbegründete Gewaltausübung darstellen . Es gilt deshalb, die Grenzlinie zwischen der legitimen Ausübung eines staatlichen Zwangsrechts auf der einen Seite und der Verwendung bloßer Zwangsgewalt auf der anderen zu bestimmen . Eine solche Grenze verläuft nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis dort, wo sich der Zwang nicht mehr aus der Autonomie des einzelnen Bürgers (und zwar besonders auch des zu zwingenden Bürgers) begründen lässt .3 Eine in diesem Sinne tragende Begründung des staatlichen Zwangsrechts soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein . Der Vortrag wird in zwei gedankliche Schritte gegliedert: In einem ersten Schritt (I .) sollen die grundsätzlichen Überlegungen zur staatlichen Zwangsbefugnis vorgestellt werden, die sich in den freiheitlichen Rechtslehren Immanuel Kants4 und Georg Wilhelm Friedrich Hegels5 finden . Dabei ist jeweils Bedacht zu nehmen: 1 . auf die Zwangsbegründung aus dem Rechtsbegriff selbst und 2 . auf die Besonderheiten staatlicher Zwangsrechtsausübung . Im zweiten Schritt (II .) des Vortrags sollen aus diesen Grundlagen konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung rechtsstaatlich fundierter Zwangsgewalt abgeleitet werden, die der gesetzlichen Umsetzung im Gefahrenabwehr- und Kriminalpräventionsrecht als Leitlinien und Begrenzung dienen können . Diese Folgerungen sollen insbesondere für das drängende und aktuelle Problem der rechtsstaatlichen Regelung der Terrorismusprävention fruchtbar gemacht werden . Dabei ist deutlich herauszuarbeiten, dass eine in der Freiheitsphilosophie wurzelnde Zwangsbegründung gegenwärtig diskutierte Ansätze wie das Feindstrafrecht im Sinne Günther Jakobs6, sonstige ausnahmerechtli3
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Vgl . dazu beispielsweise Claus Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politikund Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden, hg . von Henning Ottmann, 2009, 48; Michael Köhler, Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte, in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, hg . von Michael Kahlo / Ernst Amadeus Wolff / Rainer Zaczyk, 1992, 93 ff .; ders ., Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, Rechtsphilosophische Hefte 1 (1993), 79 ff . Dort insbesondere in den Paragraphen D und E der Einleitung in die Rechtslehre, sowie in Paragraphen 42 und 44 der Metaphysik der Sitten (1797), Werkausgabe, Bd . VIII, hg . von Wilhelm Weischedel, hier zusätzlich zitiert nach der Akademieausgabe . Dort vor allem in den Paragraphen 90 ff . der Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), Werkausgabe, Bd . 7, hg . von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, 1996 . Vgl . etwa Günther Jakobs, Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart, in: Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende/ Rückbesinnung und Ausblick, hg . von Albin Eser / Winfried Hassemer / Björn Burkhardt, 2000, 47 ff .; ders ., Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: Foundations and Limits of Criminal Law and Criminal Procedure – An Anthology in Memory of Professor Fu-Tseng Hung, hg . von Yu-hsiu Hsu, 2003, 41 ff .; ders ., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 390 (2004), 5 ff . (insbesondere 40 ff .); ders ., Terroristen als Personen im Recht?, ZStW 117 (2005), 839 ff .; ders ., Feindstrafrecht? Eine Untersuchung zu den Bedin-
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Zur Fundierung eines rechtsstaatlichen Präventionsrechts
che Lösungen im Sinne Otto Depenheuers und Carl Schmitts7 oder auch reine Bekämpfungsansätze (wie zuletzt prononciert von Michael Pawlik8 vorgetragen) notwendig ausschließt . I. gRundsätzlIche üBeRlegungen und hegel
zuR
zWangsBeFugnIs
BeI
kant
1. Begründung rechtSStaatlicher ZWangSBefugniS nach kant9 Kant begründet die staatliche Befugnis zum Zwang ausgehend von der Autonomie der den Staat konstituierenden Bürger . Im ersten Schritt zeigt er, dass der Rechtsbegriff selbst die Notwendigkeit von Zwang enthält, dass also Recht ohne Zwang nicht denkbar ist . Im zweiten Schritt überträgt er diesen Gedanken auf die Gründung des Staates, dem als Garant der Freiheit ein Zwangsrecht zur Herstellung, Erhaltung und Wiederherstellung freiheitlicher Verhältnisse zustehen muss, wenn Freiheit auf Dauer Wirklichkeit haben soll .10 a . Begründung der Zwangsbefugnis aus dem Rechtsbegriff Der Begriff des Rechtszwangs lässt sich nach Kant aus dem des Rechts11 analytisch ableiten .12 Er meint nicht nur, dass die äußere Verbindlichkeit des Rechts ohne eine ihm korrespondierende äußere Zwangsbefugnis nicht denkbar ist, sondern sogar, dass das Recht und die Befugnis zu zwingen dasselbe („einerlei“) bedeuten .13 Mit dieser „vernunftbegriffliche[n] Synthese von Recht und äußerem Zwang“14 wird all
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gungen von Rechtlichkeit, HRRS 8–9 (2006), 289 ff .; ders ., Zur Theorie des Feindstrafrechts, in: Straftheorie und Strafgerechtigkeit, hg . von Henning Rosenau / Sangyun Kim, 2010, 167 ff . Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2 .Aufl, 2008; Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 1963; ders ., Politische Theologie, 1933, 12 ff . Michael Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, 2008 . Vgl . dazu schon Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 62 ff . Siehe zur Notwendigkeit dieses Zweischritts auch Michael Köhler, Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, Philosophische Hefte 1 (1993), 82 . Vgl . zum Kantischen Rechtsbegriff Ralf Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee / Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, 1986, 10 ff .; Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 56 ff .; Otfried Höffe, Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung, hg . von Reinhard Brandt, 1982, 345 ff .; ders ., Der kategorische Rechtsimperativ, in: Immanuel Kant / Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hg . von Otfried Höffe, 1999, 49–52; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, 97–111; Kristian Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, 1984, 85–94; Gerhard Luf, Freiheit und Gleichheit, 1978, 48; Bettina Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft, 2003, 161 f . Gründliche Textinterpretation schon bei Gertrud Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie, 1972, 15 ff . Vgl . Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, §§ D und E, AB 35, 36 (AA VI, 231–233) . Kant (Fn . 12), § E, AB 36 (AA VI, 232) . Köhler 1993 (Fn . 3), 94 .
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jenen Ansichten eine Absage erteilt, die – wie es Michael Köhler formuliert – den Zwang „als Durchsetzungsmodus bloß äußerlich mit der Rechtsinhaltlichkeit [verbinden], damit aber eigentlich außerhalb des Legitimationszusammenhangs […] belassen .“15 Kant erhebt also den Anspruch, rechtlichen Zwang ebenso durch praktisch rechtliche Vernunft zu begründen wie das Recht selbst .16 Nach Kant ist der Rechtszwang ein Bestandteil des materiellen Rechtsprinzips . „Recht“ ist nach Kant der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann .“17 Ein wesentliches Moment eines solchen Rechtsbegriffs ist es, dass es ihm um die Koordination äußeren Handelns geht und dass dabei nicht die Inhalte des Handelns, sondern allein die als allgemein gedachte Freiheitskonformität von Bedeutung sind . Wie nun aber Zwang als mit der rechtlichen Freiheit von jedermann vereinbar gedacht werden kann, stellt Kant im § D seiner Metaphysik der Sitten vor . Im ersten Zugriff scheint eine solche Verbindung eigentlich unmöglich, hat doch Kant selbst den Zwang als ein „Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht“18 bezeichnet . Zwang als Beugung des Willens zu einem bestimmten Verhalten scheint überhaupt unvereinbar mit menschlicher Freiheit zu sein . Und doch leitet Kant die Befugnis zu zwingen als notwendigen Bestandteil des Rechts mittels eines logischen Schlusses gültig her: „Der Widerstand, der dem Hindernis einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen . Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht . Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d . i . unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Ve r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d . i . recht; mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft .“19
Diese Begründung der Zwangsbefugnis ruht auf der Begründung des Rechts .20 Rechtlich richtiges Handeln ist solches, das mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist . Im Umkehrschluss handelt derjenige unrechtlich, der durch seine Handlungen ein Hindernis der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen begründet . Die Verhinderung eines solchen Unrechts ist die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit und daher eine sie im Ergebnis bestätigende und erhaltende Aktion . Wird äußerer Zwang so angewendet, dass im Ergebnis eine freiheitliche Position aufrechterhalten wird, dass also Unrechtliches nicht geschieht, 15 16 17 18 19 20
Köhler 1993 (Fn . 3), 96 . Vgl . in diesem Zusammenhang auch Kant (Fn . 12), § E, AB 35, 36 (AA VI, 232) . Der Begriff des Rechts sei nicht zu trennen von der „Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit .“ Kant (Fn . 12), § E, AB 36 (AA VI, 232) . Kant (Fn . 12), § B, AB 33 (AA VI, 230) . Kant (Fn . 12), § D, AB 35 (AA VI, 231) . Kant (Fn . 12), § D, AB 35 (AA VI, 231); vgl . dazu auch Otfried Höffe (Fn . 11), Kriminalstrafe, 352 ff .; ders . (Fn . 11), Rechtsimperativ, 55 ff . Vgl . Georg Geismann, Recht und Moral in der Philosophie Kants, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), 44: Es ist die „äußere Freiheit als Recht – (…) –, aus der sich die Befugnis zum Zwang allererst und dann allerdings auch notwendig ergibt .“
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ist diese Zwangsanwendung rechtlich vernünftig, somit rechtlich begründet . Dann ist die Erzwingbarkeit von der Wirklichkeit des Rechts tatsächlich nicht mehr zu trennen . Mit dem vorgestellten Verständnis wird deutlich, dass es sich beim Rechtszwang notwendig um Gegen- und nicht um originären (Erst-) Zwang handelt .21 Dadurch steht fest, dass es sich um eine Aufhebung eines bevorstehenden oder schon ausgeführten, den Gegenzwang auslösenden Ereignisses handeln muss . Zwischen der Zwangsanwendung und dem Unrecht besteht so eine enge, inhaltliche Beziehung . Das wiederum hat zur Konsequenz, dass sich das Maß für den Zwang aus dem Gewicht des Unrechts ergibt . Begrifflich bestimmt ist Rechtszwang also ganz allgemein als „Verhinderung von Unrecht“. Die Tatsache, dass der Zwangsbegriff gewissermaßen die andere Seite der Medaille des Rechtsbegriffs darstellt, führt dazu, dass die Aussagen, die Kant zum Rechtsgesetz getroffen hat,22 auch für den Bereich rechtlichen Zwangs von Bedeutung sind: –
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Recht und Rechtszwang kann sich erstens nur auf die äußerliche Seite des Handelns beziehen, dagegen nicht auf den zugrunde liegenden Willensprozess des zu Zwingenden zugreifen . Zulässig sind damit ausschließlich Maßnahmen, die die äußere Freiheit beschränken (also den äußeren Rechtsstatus der Person betreffen), nicht aber solche, die – wie etwa Gehirnwäsche, Zwangstherapie, zwangsweise Umerziehung oder gar Vergabe von auf die Willensbildung Einfluss nehmenden Medikamenten oder manipulierende Operationen am Gehirn – den inneren Raum des menschlichen Willens, das Zentrum der Persönlichkeit betreffen . Zweitens ist die Bedeutung der Autonomie des Rechtssubjekts auch im Zusammenhang mit dem Rechtszwang nicht aufgehoben . Dies impliziert, dass die Selbstbestimmtheit und Würde des zu Zwingenden von der Zwangsmaßnahme unangetastet bleiben müssen . Drittens kann das Rechtsverhältnis nicht als solches durch Rechtszwang aufgehoben werden, es muss vielmehr als Grundlage bestehen bleiben, auch wenn es durch äußerlichen Zwang in der Waage gehalten wird . Ein Ausschluss aus dem rechtlichen Verhältnis überhaupt darf also durch Rechtszwang nicht bewirkt werden: Keine Exklusion, keine „außerrechtliche“, „nur physische“ Behandlung als Naturwesen, keine Entpersonalisierung . Letztlich darf auch die Befugnis zum Zwang nicht bloß an die Erreichung eines bestimmten, inhaltlich festgelegten Ziels gebunden werden, sondern nur der Form nach daran, ob die Ausübung des Zwangs mit der Freiheit von jedermann vereinbar ist . Das Ziel der Maßnahme hat also die Erzwingung (Herstellung oder Bewahrung) von Recht zu sein; Zwecksetzungen anderer Art, beispielsweise ökonomischer (Gewinnerzielung, Kostenersparnis), psychologischer („Besserung“) oder gesellschaftlicher (Förderung des Wohlstands oder der Sicherheit der Gesellschaft) Art sind deswegen für die Beurteilung der Legitimität von Rechtszwang unmaßgeblich und können ihn nicht begründen .23 Vgl . Höffe (Fn . 11), Rechtsimperativ, 56, 57 . Vgl . dazu Kant (Fn .12), § B, AB 32, 33 (AA VI, 220) . Vgl . zu den immanenten Schranken des Rechtszwangs, die sich aus dem Grundgedanken des
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Die Begriffsbestimmung des Zwangs als Unrechtsverhinderung sowie die genannten Kriterien, die legitimer Rechtszwang erfüllen muss, sind die Basis für den weiteren Schritt, das Zwangsrecht als ein spezifisches Recht des Staates auszuweisen . b . Bemerkungen zur Begründung der staatlichen Zwangsbefugnis Das zusätzliche Begründungselement lässt sich aus der Kantischen Vorstellung der Staatsgründung, genauer: des Übergangs vom Privatrecht in den rechtlich verfassten Zustand, ableiten . Kant erweitert die in ihrem Grund interpersonal gedachte Zwangsbefugnis im Rechtsverhältnis vernünftiger Subjekte durch den Gedanken des Staates insofern, als er die Befugnis zu zwingen auf eine neutrale Instanz überträgt . Nach Kant ist das Ziel der Staatsgründung ein verlässlicher Rechtszustand, in dem freiheitliche Verhältnisse gesichert und garantiert werden . Dafür ist eine äußere Macht notwendig, die mit wirksamer Zwangsgewalt ausgestattet ist: Sie muss dafür sorgen, dass die Rechtspositionen der Einzelnen tatsächlich „zur Ausübung“ kommen können . Diese staatliche Zwangsgewalt ist jedoch nicht als äußere Gewalt zur Domestizierung der ihr untergeordneten Bürger richtig begriffen, sondern als eine aus Vernunftgründen von den Staatsbürgern um ihrer Freiheit willen selbst begründete Rechtsmacht . Damit sind die Kompetenzen, aber auch die Grenzen der Befugnisse des Staates in den Grundzügen umrissen: Der Staat hat einerseits, notfalls mittels Zwang, rechtliche Positionen zu schützen und durchzusetzen, bei der Ausübung dieser Rechtsmacht ist er aber andererseits durch das der Zwangsbefugnis immanente Freiheitsprinzip beschränkt . Die für den Zwang als Teil des Rechtsbegriffs entwickelten Prinzipien gelten damit uneingeschränkt auch für das staatliche Zwangsrecht . Zusammenfassend lässt sich insofern Folgendes für Kants staatliches Zwangsrecht festhalten: Es darf sich nur auf die äußere Sphäre des Gezwungenen und nur in einer Weise auswirken, die die Autonomie des Betroffenen wahrt; und es darf weder rechts-exkludierend wirken noch anderen Zwecken dienen als dem Rechtserhalt.24 Ferner ist Rechtszwang immer nur als Reaktion auf bevorstehendes oder schon begangenes Unrecht zu rechtfertigen. 2. Begründung deS rechtSZWangS Bei g. W. f. hegel Diese ersten Ergebnisse finden nun eine weitere Fundierung in den Bestimmungen, die Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts gibt . Dort arbeitet er im Rahmen des ersten Teils seiner Rechtslehre (des sog . abstrakten Rechts) eine materielle Begründung der Zwangsbefugnis aus (dazu sogleich unter
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Rechts selbst ableiten lassen, auch Michael Köhler, Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, Philosophische Hefte 1 (1993), 86 ff . Siehe auch Dierksmeier (Fn . 3), 48 f .: „Benutzt ein Staat Rechtszwang außerhalb der ihn legitimierenden Definition, wird er zum Unrechtsstaat; egal, ob er, um den Bürgern zu den rechten Gesinnungen zu verhelfen, den Grundsatz verletzt, dass ‚(d)ie Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung (…) nur äußere Pflichten sein (…)‘ können (AA VI 219), oder ob er äußere Pflichten auferlegt, welche außerhalb der Rechtsverwirklichung liegende Ziele verwirklichen sollen . Wie nobel auch immer die dazu jeweils antreibenden Motive sein mögen, sie können jene Übertretungen des Rechtsgedankens doch nie rechtfertigen .“
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a .) .25 Diese Verortung deutet schon darauf hin, dass auch bei Hegel der Rechtszwang als fundamentales Moment äußerer personaler Rechtsverhältnisse begriffen wird .26 Die Begründung der Zwangsbefugnis setzt das Hegelsche Verständnis des Rechtsbegriffs als „Dasein der Freiheit“27 und auch den davon abgeleiteten Unrechtsbegriff28 bereits voraus . Denn auch bei Hegel wird der Rechtszwang als dem Unrecht entgegengesetzt und dadurch mit dem Recht im Einklang stehend gedacht; insofern wird der Kantische Grundgedanke bei ihm fortgeführt . Die Frage nach der staatlichen Zwangsbefugnis wird bei Hegel einesteils im Bereich der sog . „bürgerlichen Gesellschaft“, anderenteils im „Staat“ (i . e . S .) thematisch . Die Befugnis zu zwingen ist bei Hegel notwendiger Teil der Rechtspflege, die er als Teilbereich der bürgerlichen Gesellschaft näher ausarbeitet . Darüber hinaus muss sie aber auch ein Bestandteil der „Wirklichkeit von Freiheit“ im Staat i. e. S. sein, muss damit als positiv-vernünftige Institution auch des Vernunftstaates ausgewiesen werden . Auf diese beiden Aspekte wird nach der Grundbestimmung der Zwangsbefugnis (unter b .) noch kurz eingegangen . Wenn ich nun zunächst auf die Hegelsche Zwangsbegründung im abstrakten Recht eingehe, muss ich Ihnen und Euch einen sehr hohen Abstraktionsgrad zumuten, der aber nicht von mir, sondern von Hegel selbst vorgegeben ist . Ich bitte schon einmal vorsorglich um Nachsicht für die sehr dichte Darstellung . a . Zwangsbegründung im abstrakten Recht Hegel setzt anders als Kant bei seiner Zwangsbegründung zunächst an der Begrifflichkeit von Gewalt und Zwang überhaupt an29 – ohne dabei schon den Zusammenhang mit der Unrechtsaufhebung zu integrieren . Er bestimmt beides, also Gewalt und Zwang, als Angriff auf den Willen eines Subjekts,30 den dieses durch eine Einwirkung auf seine äußerliche Sphäre zu erleiden hat . Dieser Angriff auf den Willen durch äußere Einwirkung ist insofern möglich, als nach Hegel der Wille des Subjekts in seine äußerliche Sphäre (das „Eigentum“ im weitesten Sinne) gelegt31 und deshalb über eine Läsion dieser Äußerlichkeit auch selbst verletzlich ist . Auf den Willen kann also über die äußere Sphäre zugegriffen werden; und so kann der Wille auch unter „die Notwendigkeit“ gesetzt, d . h . genötigt werden . Dies berührt nach Hegel jedoch nicht den freien Willen selbst; der Wille in der Innerlichkeit des Subjekts verliert durch Zwang, und sei dieser noch so stark, nie seine Eigenschaft, frei zu sein . Die Freiheit des Subjekts als dessen Grundbestimmung bleibt dem25
26 27 28 29 30 31
G . W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, im Folgenden abgekürzt als GPhR . Dieser erste Teil ist untergliedert in drei Abschnitte: „Das Eigentum“, „der Vertrag“ und „das Unrecht“, wobei das Moment des Zwangs zusammen mit dem des Verbrechens als drittes Teilelement des Unrechtskapitels nach dem sog . „unbefangenen Unrecht“ und dem „Betrug“ thematisiert wird (GPhR §§ 90 ff .) . Denn diese werden im abstrakten Recht behandelt, vgl . zur Einteilung GPhR, § 33 . Vgl . GPhR, § 29 . GPhR, §§ 82 ff . Vgl . GPhR, § 90 . Zum Zusammenhang mit Hegels Willensdialektik in den GPhR, §§ 4 ff . siehe Georg Mohr, Unrecht und Strafe, in: G. W. F. Hegel / Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg . von Ludwig Siep, 1997, 100 ff ., §§ 82–104, 214, 218–22 . Vgl . GPhR, §§ 41 ff ., 102 ff .
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nach unberührt, auch wenn seine äußeren Handlungen fremder Willkür unterliegen .32 Das ist insofern überraschend, als auf den ersten Blick ein freier Wille, der sich nicht ihm gemäß in der realen Welt äußern kann, weil ein anderer über seine äußerliche Seite Macht hat und die Handlungen bestimmt, keine Bedeutung zu haben scheint . Anders formuliert: Was bedeutet die Freiheit des Willens, wenn sie nicht ins Dasein umgesetzt werden kann? Eben in diesem Bedeutungsverlust ist nach Hegel aber die Begründung dafür zu finden, dass eine äußere Nötigung des an sich freien Willens Unrecht darstellt: „Weil der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder Dasein eines Willens aufhebt . Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen, unrechtlich .“33
Die Übereinstimmung innerer mit äußerer Freiheit, die dadurch besteht, dass der freie Wille sich auch äußeres Dasein gibt, macht nach Hegel einen „wirklich freien Willen“ aus und begründet das „Sein der Freiheit“ . Da Hegel im „Dasein der Freiheit“ das Recht sieht, ist es konsequent, wenn er in Gewalt und Zwang einen inneren Widerspruch zum Recht ausmacht: Sie seien die Äußerung eines Willens, welche das Dasein eines freien Willens aufhebt und damit unrechtlich. Durch diese Argumentation wird der nächste Schritt in die Richtung der Notwendigkeit eines Rechtszwangs vorbereitet . Denn wenn sich Gewalt und Zwang begrifflich selbst zerstören, das heißt, wenn sie zu einem begrifflichen Widerspruch (im Subjekt) führen, dann wird deutlich, dass dieser Widerspruch aufgehoben werden muss . Dies geschieht nach Hegel so, dass einem Zwang Gegenzwang entgegen gesetzt wird . Wird durch die Anwendung äußeren Zwangs Unrecht begangen, indem einem Subjekt selbstwidersprüchliches Verhalten aufgenötigt wird, so muss dieser Zwang aufgehoben werden, indem ein zweiter Zwang angewendet wird .34 Dieser zweite Zwang ist dann „nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig“35 . Das Zwangsrecht begründet sich damit als Wahrung des Rechts .36 Es sorgt für die Aufhebung der „Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit“ . Das Zwangsrecht kann damit (wie auch bei Kant) überhaupt mit dem (abstrakten) Recht gleichgesetzt werden: „Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht, weil […] die Erhaltung d[ies]es Daseins [der Freiheit, K . G .] gegen die Gewalt […] eine jene erste aufhebende Gewalt ist .“37 Rechtszwang nach Hegel setzt damit immer einen ersten Unrechtszwang38 voraus, gegen den er sich richten muss, um selbst begründet zu sein; von dort erhält er sein Maß – er ist nicht mehr und nicht weniger als die Aufhebung des Unrechts . 32 33 34 35 36 37 38
Köhler (Fn . 3), 100, weist darauf hin, dass eine durch (Rechts-)Zwang motivierte Handlung nicht gleichzusetzen ist mit einer unfreiwilligen Handlung . GPhR, § 92, 179 . GPhR, § 93, 179 . Ebd . Siehe dazu auch Mohr (Fn . 30), 102: „Die Aufhebung des Zwangs durch Zwang ist nach Hegel die ‚Manifestation‘ des ‚Widerspruchs seiner selbst‘ (PR 85) und als solche ‚nicht nur bedingt rechtlich‘, sondern ‚notwendig‘ (R § 93) .“ Vgl . GPhR, § 94, 180 . Ebd . Vgl . zu den Formen des Unrechts bei Hegel im Überblick schon Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 118 ff .: Hegel unterscheidet
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Das impliziert zudem, dass jeder rechtliche Zwang sich auf konkretes Unrecht beziehen muss, weil er sich erst aus diesem Bezug begründen lässt: Eine allgemeine Unrechtsneigung oder -stimmung kann deshalb (vorweggenommene) Zwangsmaßnahmen nicht rechtfertigen; ohne die Existenz des Unrechts als erster Zwang wird kein Widerspruch zum Recht begründet, der durch den Gegenzwang aufgehoben werden müsste . Damit kann eine weitere Grenze zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Präventivzwangsmaßnahmen angegeben werden: Möglich bleiben im Vorfeld konkreten Unrechts allenfalls Beobachtungs- und Erforschungsmaßnahmen, die klären helfen, ob und welches Unrecht unmittelbar bevorsteht; Zwangsmaßnahmen im engeren Sinne, die sich unmittelbar auf die Unrechtsverhinderung richten, setzen dagegen konkret drohendes oder bestehendes Unrecht voraus . Rechtszwang ist ferner auch nach Hegel Einwirkung auf die äußere Umsetzung eines rechtszerstörerischen Willens (auf den Willen selbst kann und darf er keinen Einfluss nehmen)39 und in seiner Wirkung nichts anderes als die Erhaltung freiheitlichen Daseins . Daraus folgt, dass er nicht in die Person hinein-, sondern nur auf sie einwirken und dass er nicht für andere Zwecke als die Aufhebung von Unrecht verwendet werden darf . Er verlöre andernfalls seine Eigenschaft als Rechtszwang . b . Zwang in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat Betrachtet man nun in einem letzten Schritt, wie Hegel die materiell begründete Zwangsbefugnis innerhalb einer rechtlich verfassten Gemeinschaft denkt, so ist zunächst auf eine Besonderheit hinzuweisen, die Hegels Staatsverständnis prägt: Erstens ist die Rechtsverfassung als Teil der bürgerlichen Gesellschaft nach Hegel „Mittel der Sicherung der Person und des Eigentums“ .40 Andererseits ist die Staatsverfassung darüber hinausgehend Ausdruck „des Zwecks und der Wirklichkeit des substantiell Allgemeinen“41, die „Einheit als gewusste, bewusste, ausgesprochene und gedachte Einheit – d . i . als Freiheit als solche“ .42 Die Einordnung der Zwangsbefugnis in diese beiden Bereiche muss ihre jeweiligen Besonderheiten berücksichtigen . Die bürgerliche Gesellschaft gestaltet Hegel als zweckmäßige Gemeinschaft mit allgemeinen Regeln zur Ordnung und Regulierung von Interpersonalbeziehungen aus . Sie enthält u . a . die für unser Thema interessanten Bereiche der Rechtspflege und der Polizei.
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drei Formen des Unrechts: Das unbefangene Unrecht (GPhR, §§ 84–86), den Betrug (GPhR, §§ 87–89) und das Verbrechen (GPhR, §§ 90 ff .) . Alle drei lösen die Befugnis zum Gegenzwang aus, während nur die beiden letzteren Strafe als Folge nach sich ziehen . Gründlich zum Hegelschen Unrechtsbegriff Diethelm Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1991, 63 ff . Insofern wird das Kantische Resultat, dass Rechtszwang nur äußerlich wirkender Zwang sein kann, mit Hegels Argumentation zusätzlich gestützt . Siehe GPhR, § 157, 306 . Ebd . Zusatz zum GPhR, § 157, 307 .
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Die Rechtspflege ist für die Sicherung der Rechtspositionen durch positivierte Gesetze und Gerichte zuständig . Sie sorgt damit für eine äußere Ordnung, die das Zusammenleben organisiert, und wahrt das Interesse des Gemeinwesens als Allgemeines .43 Die Polizei wird verstanden als „sichernde Macht des Allgemeinen“ .44 Beide zusammengenommen verhelfen dem Recht zu „objektiver Wirklichkeit“, erstens durch „Bewusstmachung“ dessen, was Recht ist – eben durch positive Gesetzgebung und gerechte Einzelfallentscheidung – und zweitens durch die „Macht der Wirklichkeit“, also die Geltungsrealisation und deren Wirkung, dass das Recht als allgemein Gültiges gewusst wird .45 An dieser Stelle lässt sich die Zwangsbefugnis, die im abstrakten Recht als notwendiges Instrument der Rechtserhaltung ausgewiesen wurde, in den Zusammenhang einordnen . Die „sichernde Macht des Allgemeinen“ hat vor allem die Sicherung der Rechtsgeltung zur Aufgabe – eine Rechtsgeltung, die nun durch Gesetze und Rechtsprechung konkretisiert ist . Die Macht ist Rechtsmacht dann, wenn sie zur objektiven Wirklichkeit des konkretisierten Rechts beiträgt, wenn sie also das Recht in der Wirklichkeit auch gegen Angriffe wahrt. Durch die Rechtspflege wird „die Verletzung des Eigentums und der Persönlichkeit getilgt“, durch die sichernde Macht der Polizei wird die „ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums“ tatsächlich „bewirkt“ .46 Dazu gehört, dass Unrechtstaten (insbesondere Verbrechen) durch „die allgemeine Macht“ verhindert oder zur gerichtlichen Behandlung gebracht werden .47 Die Verhinderung von Unrecht in der Rechtswirklichkeit der in der bürgerlichen Gesellschaft verfassten Personen ist damit Grund für die Ausstattung der „sichernden Macht des Allgemeinen“ mit der Befugnis zu zwingen . Die Begründung des Zwangsrechts im abstrakten Recht wird dadurch in die Ebene der Rechtsverfassung übernommen, womit auch ihre grundsätzlichen, oben näher gekennzeichneten Bedingungen und Konsequenzen Gültigkeit behalten . Dasselbe muss im Grundsatz für die staatliche Zwangsbefugnis gelten . Beim Staat im hegelschen Sinne handelt es sich um eine selbstzweckhafte Vernunfteinheit, die sich sowohl gegenüber dem individuellen Einzelwillen als auch gegenüber der aus Einzelwillen zusammengesetzten Allgemeinheit als etwas Selbständiges erweist . Mit dieser Staatlichkeit darf jedoch keine Instanz begründet sein, in der der Einzelne mit seinen besonderen Rechten und Interessen untergeht . Im Gegenteil muss sie auf der Anerkennung der Subjekte beruhen; die objektivierte Freiheit ist darauf angewiesen, als solche erkannt, anerkannt und gelebt zu werden; der Staat kann nur dann tatsächlich „Wirklichkeit konkreter Freiheit“ sein, wenn das einzelne Subjekt in ihm seinen eigenen substantiellen Geist erkennen kann . Die Identifikation des Einzelnen mit dem Staat ist wiederum nur möglich, wenn die Staatsstrukturen der Vernunft gemäß eingerichtet und ausgestaltet sind . Bezogen auf die Ausübung staatlichen Zwangs bedeutet das, dass der Einzelne die Zwangsbefugnis und die Struktur der sie ausübenden Institutionen einsehen können muss; und das kann er nur, wenn die vernunftgegründete Herleitung aus 43 44 45 46 47
Siehe zu dieser Einteilung GPhR, § 188, 346 . GPhR, § 231, 382 . Siehe dazu GPhR, § 210, 361 . GPhR, § 230, 382 . GPhR, § 232, 383 .
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dem abstrakten Recht – Rechtszwang als Gegenzwang zu unrechtlichem Erstzwang – in der Realität der Ausübung durch die staatlichen Institutionen Beachtung findet . Die objektiv-vernunftrechtliche Grundlegung ist damit Garantin dafür, dass die staatliche Zwangsbefugnis nicht als Willkürmaßnahme bloßer Macht, sondern als in der Rechtsvernunft der Staatsbürger gegründete Rechtserhaltungsmaßnahme ausgeübt wird und subjektiv vom Einzelnen als solche auch verstanden werden kann . II. konsequenzen
FundamentalBestImmungen FüR ausgestaltung des staatlIchen zWangsRechts
aus den
dIe gegenWäRtIge
Mit den genannten Grundlagen der Zwangsbegründung ist näher umrissen, welche staatlichen Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtsstaatlichkeit schon aus rechtsprinzipiellen Gründen ausgeschlossen sind: (1) Jede mit Zwang verbundene Einwirkung auf die innere Willenssphäre eines jeden der Staatsgewalt exponierten Rechtssubjekts (beispielsweise die staatliche Einwirkung auf Gehirne von Strafgefangenen bzw . Sicherungsverwahrten (zur „Besserung“))48; (2) jegliche entwürdigende oder entrechtende Behandlung (z . B . durch Folter)49; (3) jede Maßnahme, die nicht an der Aufrechterhaltung des rechtlichen, d . h . freiheitlichen Zustandes orientiert ist bzw . die nicht als Gegenzwang zu einem konkreten Unrecht begriffen werden kann (z . B . eingreifende Maßnahmen, die ohne konkreten Verdacht ganz allgemein „die Sicherheit der Allgemeinheit“ erhöhen sollen) . (4) Die Notwendigkeit, die Vernunftgegründetheit der konkreten Maßnahme gegenüber dem Subjekt jederzeit ausweisen zu können, verbietet (im Grundsatz) 48
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Vgl . zu psychiatrischen Zwangsbehandlungen kritisch Jan-Christhoph Bublitz, Habeas Mentem? Psychiatrische Zwangseingriffe im Maßregelvollzug und die Freiheit gefährlicher Gedanken / Zugleich Besprechung von BVerfG Beschluß v . 23 .3 .2011–2 BvR 882/09, ZIS 8–9 (2011), 714 ff . Siehe ferner Grischa Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips/Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht, 2006, 346, die zwar einerseits zwangsweise Operationen oder Therapien zur Bewirkung von Rechtstreue wegen Art . 1 GG ablehnt, sich andererseits aber für einen „therapeutischen Maßnahmevollzug“ ausspricht, der in Zukunft die Strafe ersetzen soll; ähnlich dieselbe (nach Namensänderung G . Merkel) / Gerhard Roth, Bestrafung oder Therapie? Das Schuldprinzip des Strafrechts aus Sicht der Hirnforschung, BRJ 1 (2010), 47 ff .; kritisch-gründlich zur Debatte um die Willensfreiheit und die Konsequenzen für das Strafrecht: Stephan Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, 352 ff . und ders ., Person oder Patient? Anmerkungen zur ‚Sicht der Hirnforschung‘ auf das Schuldprinzip im Strafrecht, BRJ 2 (2010), 211 ff . Vgl . beispielsweise Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? JZ (2000), 165 ff .; Christian Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – ‚Darf der Staat foltern?‘, JR (2004), 183 ff . (der nach den angewendeten Foltermitteln differenzieren will, zulässig seien „jedenfalls keine großen körperlichen Schmerzen“, 190, Hervorhebung im Original); Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, 57 ff .; die absolute Grenze des Art . 1 Abs . 1 GG bei der „finalen Schmerzzufügung (Folter)“ anerkennend Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz Kommentar, 2009, Art . 1/Rn . 51, 95 . Kritisch zur Aufweichung des Folterverbots Stephan Stübinger, Zur Diskussion um die Folter, in: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, hg . vom Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, 2007, 277 ff .; Heiner Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat, Policy Paper 4, hg . von Deutsches Institut für Menschenrechte, 2004 .
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zudem nicht nur heimliches Handeln und gebietet die Offenlegung der Gründe für die Zwangsmaßname, sondern stellt auch erhebliche Anforderungen an die inhaltliche (Vernunft-)Begründung der Maßnahme gerade auch dem von ihr betroffenen Subjekt gegenüber (Vor diesem Hintergrund sind Bespitzelungen und heimliche Abhörmaßnahmen in der Privatsphäre ebenso bedenklich wie jegliche Form staatlicher Willkür) . Vergleicht man nun mit diesen Anforderungen die eingangs des Vortrags kurz genannten aktuellen Vorschläge zur staatlichen Terrorismusbekämpfung, so lassen sich einige notwendige Schlussfolgerungen ziehen: –
–
Erstens sind Maßnahmen, die auf den Ausschluss einzelner Rechtssubjekte aus der Rechtsgemeinschaft („Exklusion“) zielen, von einem freiheitsgesetzlich begründeten Zwangsrecht nicht getragen . Dies betrifft einerseits das von dem Strafrechtler Günther Jakobs propagierte sog . „Feindstrafrecht“,50 andererseits das gleichgerichtete staatsrechtliche Konzept des sog . „Feindrechts“ von Otto Depenheuer,51 der sich dabei im Wesentlichen auf Theoreme von Carl Schmitt52 stützt . Beide Konzeptionen sehen für den Ausnahmefall, dass sich ein Rechtssubjekt endgültig und gewalttätig vom Rechtsstaat abzuwenden scheint, dessen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft vor . Eine solche „Entrechtlichung“ ist vor dem Hintergrund des die Zwangsbefugnis erst begründenden Rechtsverhältnisses zwischen Zwingendem und Gezwungenen nicht zu halten . Zweitens ist auch ein kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht im Sinne von Michael Pawlik nicht tragfähig . Ziel eines solchen Präventionsrechts sei die „rechtlich eingehegte Unschädlichmachung“53 der Terroristen . Pawlik hält u . a . die folgenden staatlichen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung in diesem Zusammenhang für nicht prinzipiell ausgeschlossen: 1 . Vorbeugende Inhaftierungen, die über den polizeirechtlichen Unterbindungsgewahrsam hinausgehen und 2 . gezielte Tötungen außerhalb der engen Grenzen des Polizei- und Notwehrrechts .54
Dass gezielte Tötungen als Präventivmaßnahmen außerhalb von akuten Notsituationen als rechtliche Zwangsmaßnahmen ausscheiden, ist gewiss . Sie bedeuten die absolute Negation des rechtlichen Subjekts und stellen damit eine dem Recht nicht zur Verfügung stehende Maßnahme dar . Nicht so eindeutig ist die Beurteilung vorbeugender Inhaftierungen: Sie wirken auf die äußerliche Freiheitssphäre des Betroffenen ein, verletzen also nicht die Innerlichkeit der Person . Sie bringen für sich genommen keine entwürdigende oder entrechtlichende Behandlung mit sich . Je nach Ausgestaltung können sie als konkrete Unrechtshinderungsmaßnahme begriffen werden, die sich bei mit hoher 50 51 52 53 54
Vgl . dazu die oben bei Fn . 6 angegeben Quellen . Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2008, 55 ff . Vgl . zu Carl Schmitt die oben in Fn . 7 genannten Texte . Michael Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, 2008, 42 (Hervorhebung der Verf.) . Ebd . Fn . 189, in der Pawlik auf ein Urteil des israelischen Supreme Courts zum sog . „preventive targeted killing“ verweist: Public Committee against Torture in Israel vs. Government of Israel, Case-Nr . HCJ 769/02 (abrufbar unter http://elyon1 .court .gov .il/files_eng/02/690/007/A34/02007690 . a34 .pdf .) .
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Wahrscheinlichkeit drohendem Höchstunrecht – unter zusätzlichen Voraussetzungen – durchaus als berechtigt erweisen kann . Allerdings sind Voraussetzungen, Maß und Rechtsschutzmöglichkeit gesetzlich zu regeln und inhaltlich am Freiheitsprinzip orientiert auszuarbeiten . Dabei kann die Fundierung nicht dem Kriegsrecht entnommen werden, wie Pawlik meint, sondern nur einem rechtsstaatlich ausgeformten, ursprünglich freiheitlich begründeten Zwangsrecht – wie ich es in diesem Vortrag versucht habe vorzustellen .
deniS BaSak, frankfurt aM Main Recht
nuR Im
FRIeden?
zuR staatsmachtBeschRänkenden FunktIon des allgemeInen (stRaF-)Rechts auch In zeIten BeWaFFneteR konFlIkte I. eInleItung „In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt .“ Zugeschrieben wird dieses Zitat unter anderem Napoleon Bonaparte .1 Dass dies für die Liebe so nicht stimmt, ist offensichtlich und es hat spätestens mit Aufnahme des § 238 StGB auch im Strafrecht einen eigenständigen und sichtbaren Ausdruck gefunden . Wie steht es aber um den zweiten und älteren Teil dieses Sprichwortes? Das Recht hat von jeher neben anderen immer auch die Funktion, die Macht des Staates in Grenzen zu halten und die Freiheitsräume der Individuen zu schützen . Diese Funktion der klassischen Abwehrrechte des Einzelnen nehmen in der bestehenden Rechtsordnung vor allem die Grund- und Menschenrechte erster Generation wahr .2 Abgesichert werden diese aber auch vom Strafrecht, das als sekundäre Normenordnung3 Verletzungen wesentlicher Rechtsgüter auch dann sanktioniert, wenn diese von Trägern der Staatsgewalt begangen werden, die außerhalb ihrer Befugnisse handeln .4 Die Frage bleibt dabei zunächst offen, ob und inwieweit diese Idee auch in Kriegszeiten gilt, oder ob wir uns im 21 . Jahrhundert immer noch auf dem Niveau des antiken Rom bewegen, in dem der Zustand des Kriegs die Geltung des positiven Rechts suspendierte . Der folgende Text wird nach Klärung grundlegender Begrifflichkeiten (II .) und Vorstellung verschiedentlich erhobener Forderungen nach einer zumindest teilweisen Suspendierung der allgemeinen Gesetze in bewaffneten Konflikten (III .) darauf 1
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Zumindest ist dies so überliefert, vgl . etwa (Dieser wie alle weiteren im Text benannten Links wurde zuletzt am 8 .4 .2013 besucht) . Damit erweitert Napoleon den Satz „Silent enim leges inter arma“ („Im Waffenlärm schweigen die Gesetze“) von Marcus Tullius Cicero, Pro T. Annio Milone Oratio IV . 11 ., Übersetzung von Georg Büchmann, Geflügelte Worte (1898), 375 . Till Zimmermann, Gilt das StGB auch im Krieg?, GA (2010), 507, führt das Zitat auf Francis Edward Semdley, Frank Farleigh or Scenes from the Life of a Privat Pupil, 1850 zurück; George Latimer Apperson, Dictionary of Proverbs, 1993, 355, dagegen auf John Lyly, Euphues or Anatomy of a Wit, 1578 . Siehe schon BVerfGE 7, 198 (204 f .); Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67 . Erglfg ., 2013, Art . 1 Abs . 3 GG Rn . 13 und 22 . An letztgenannter Stelle verwendet er die Formulierung „der zentralen Funktion der Grundrechte als Domestizierung von Macht“ . Zur sekundären Natur des Strafrechts siehe Georg Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2009, § 1 Rn . 12 ff . Siehe etwa Markus Löffelmann, Die normativen Grenzen der Wahrheitsfindung im Strafverfahren, 2008, 173; beispielhaft sei auf BGHSt 38, 325 ff . hingewiesen; nach § 1a WStG, § 5 Nr . 12 StGB, § 1 VStGB macht sich ein Amtsträger dabei auch bei Auslandstaten nach deutschem Strafrecht strafbar .
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Denis Basak
eingehen, wie das existierende „ius in bello“ in das allgemeine System des Rechts und vor allem des Strafrechts nach einem klassischen Verständnis des Straftatsystems einzubeziehen ist (IV .) . Auf dieser Basis wird die vorher beschriebene Forderung nach einer Bereichsausnahme vom allgemeinen Strafrecht einer kritischen Bewertung unterzogen (V .) . II. teRmInologIsches 1. krieg – konflikt – anti-terror-kaMpf Der Krieg als Zustand begleitet die Menschheit zumindest seit Beginn historischer Aufzeichnungen, höchstwahrscheinlich erheblich länger . Als Rechtsbegriff hat er aber im 21 . Jahrhundert ausgedient . Im Völkerrecht und dem folgend auch zunehmend im nationalen Recht spricht man nicht mehr vom Krieg, sondern vom „bewaffneten Konflikt“ .5 Dies macht einerseits deutlich, dass die Regeln über den Einsatz militärischer Gewalt jedenfalls nicht von einer formalen Kriegserklärung abhängen, sondern nur vom kriegerischen Charakter der Situation .6 Andererseits wird durch den Zusatz „internationaler“ oder „nicht-internationaler“ bewaffneter Konflikt deutlich, dass es nicht nur um den Einsatz militärischer Gewalt mehrerer Staaten gegeneinander, sondern auch um Militäreinsätze innerhalb eines Staates geht, bei denen nichtstaatliche bewaffnete Gruppen bekämpft werden7 – den Bürgerkrieg .8 Gerade diese heute wohl am häufigsten anzutreffende Form der militärischen Gewaltanwendung zeichnet sich zudem oft dadurch aus, dass sich nicht zwei im Prinzip auf Augenhöhe agierende, militärisch organisierte, ausgerüstete und durch Uniform und Kennzeichen offen auftretende Armeen gegenüber stehen . Vielmehr stehen der offiziellen staatlichen Armee Guerilla-Kämpfer gegenüber, die sich optisch nicht unmittelbar von der Zivilbevölkerung unterscheiden und die auf Methoden des Untergrundkampfes und des Terrorismus setzen .9 Man spricht dann von „asymmetrischen Konflikten“, wiewohl dies keine Neuerscheinung des 21 . Jahrhun5
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Knut Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 65 Rn . 5 ff .; Kai Ambos, in: Wolfgang Joecks / Klaus Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Bd . 6/2, 2009, Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 21 ff .; Bernd Müssig / Frank Meyer, Zur Strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Bundeswehrsoldaten in bewaffneten Konflikten, in: Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion: Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, hg . von Hans-Ullrich Paeffgen, 2011, 1512; Robert Heinsch, Der Wandel des Kriegsbegriffs – Brauchen wir eine Revision des humanitären Völkerrechts?, HuV-I (2010), 133 ff .; Christian Schaller, Rechtssicherheit im Auslandseinsatz, SWP-Aktuell 67 (2009), zugänglich unter , 2; Zimmermann (Fn . 1), 516 . David Diehl, Tanklasterbeschuss auf Befehl eines deutschen ISAF-Kommandeurs mit fatalen Folgen, HuV-I (2010), 15; Müssig/Meyer (Fn . 5), 1512 f .; Zimmermann (Fn . 1), 516 . Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 2011, § 7 Rn . 236; Müssig/Meyer (Fn . 5), 1513 f . Zimmermann (Fn . 1), 516; siehe auch Ipsen (Fn . 5), § 65 Rn . 12 ff . Ausführlich zu den sich daraus ergebenden Problemen im humanitären Völkerrecht Nils Melzer, Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, 2009), 20 und 31 ff .; Christian Schaller, Humanitäres Völkerrecht und nichtstaatliche Gewaltakteure, SWP-Studie (2007), 34 unter .
Recht nur im Frieden?
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derts ist .10 Das aus deutscher Perspektive derzeit augenfälligste Beispiel hierfür ist der Konflikt in Afghanistan, wo die Taliban und andere aufständische Gruppierungen in der oben beschriebenen Weise agieren, wenn sie gegen die afghanische Regierung unter Karzai und die mit dieser verbündeten ausländischen Truppen vorgehen .11 Die Bundeswehr hat zwar seit ihrer Gründung eine große Zahl von Auslandseinsätzen bewältigt, aber erst seit den 1990’er Jahren – beginnend mit Einsätzen in Kambodscha und Somalia – beteiligt sich die Bundeswehr auch an bewaffneten Einsätzen außerhalb des NATO-Gebiets .12 Derzeit laufen Einsätze etwa im Kosovo oder im Rahmen der Mission ATALANTA zur Piratenbekämpfung vor dem Horn von Afrika, vor allem aber eben in Afghanistan . Dort hat sich die anfängliche Wiederaufbau- und Sicherungsmission in einen echten Kampfeinsatz in einem laufenden bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den alliierten ausländischen Streitkräften einerseits und den Taliban und anderen Aufständischen andererseits entwickelt .13 2. geSetZe iM krieg? Lange galt der Krieg als Inbegriff eines rechtlosen Zustands . Es ist auch kein Zufall, dass Hobbes mit seiner staatsphilosophischen Fiktion eines vor dem Staat liegenden Naturzustands die Vorstellung eines „Krieges aller gegen alle“ verband .14 Diese archaische Vorstellung vom Krieg liegt auch den eingangs genannten Zitaten zugrunde . Dem 21 . Jahrhundert entspricht diese Sichtweise aber nicht mehr . 10
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Robin Geiß, The Conduct of Hostilities in Asymmetric Conflicts, HuV-I (2010), 122; Stephan Hobe, Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der intarnationalen Ordnung und des Völkerrechts, in: Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, hg . von Hans-Joachim Heintze / Knut Ibsen, 2011, 70; Schaller (Fn . 9), 8 f . Wegen der grundsätzlichen Einladung und Billigung des Einsatzes der verbündeten Truppen durch die afghanische Regierung behält der dortige Konflikt völkerrechtlich den Status eines nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes, siehe Müssig/Meyer (Fn . 5), 1514 ff .; siehe auch Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 29 ff .; Diehl (Fn . 6), 15 ff .; Constantin von der Groeben, Criminal Responsibility of German Soldiers in Afghanistan: The Case of Colonel Klein, GLJ 11 (2010), 475 f .; Christoph Safferling / Stefan Kirsch, Die Strafbarkeit von Bundeswehrangehörigen bei Auslandseinsätzen: Afghanistan ist kein rechtsfreier Raum, JA (2010), 83; Schaller (Fn . 9), 3; Dominik Steiger / Jelena Bäumler, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Soldaten bei Auslandseinsätzen, AVR 48 (2010), 195 . Ausführlich dazu auch Vermerk des Generalbundesanwalts vom 16 .04 .2010, Az . 3 BJs 6/10-4 (Verfahrenseinstellung im Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein und Hauptfeldwebel W . wegen des Bombenabwurfs in Kunduz in der Nacht vom 3 . auf den 4 .9 .2009), seit Oktober 2010 in der Langfassung zugänglich unter , 41 ff . (zur Entstehung und Veröffentlichung dieser Langfassung siehe den Vermerk von BA Thomas Beck vom 5 .10 .2010 unter ) . Steiger/Bäumler (Fn . 11), 189 . Diehl (Fn . 6), 15 ff ., Zu den im Raum Kunduz aktiven Gruppen Aufständischer siehe auch Guido Steinberg / Nils Wörmer, Eskalation im Raum Kunduz, SWP-Aktuell 84 (2010), unter , 4 ff . Thomas Hobbes, Leviathan, Teil 1, Kap . 13, Par . 8, zugänglich auch über .
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Schon seit Mitte des 19 . Jahrhunderts gab es zumindest in Europa eine starke Bewegung, die Grausamkeiten und Härten von Kriegen zumindest für die abzumildern, die nicht direkt in die Kampfhandlungen (mehr) verwickelt waren . So kam es zu der Genfer Konvention von 1864, die sich mit dem Schutz von Verwundeten und Kriegsgefangenen beschäftigte, und den folgenden Überarbeitungen und Erweiterungen, die als „Genfer Recht“ eine der Säulen des humanitären Völkerrechts bildeten . Daneben entstand zu Beginn des 20 . Jahrhunderts in einer ganzen Reihe von diplomatischen Konferenzen das „Haager Recht“, das primär die Methoden der Kriegsführung selbst im Blick hatte und das vor allem in der Haager Landkriegsordnung von 1907 kulminierte . Damit hatte sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein „ius in bello“ entwickelt, ein Regelwerk über Verhaltensweisen im Krieg . Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses in den vier Genfer Abkommen von 1949 sowie den Zusatzprotokollen von 1977 (I und II) und 2005 (III) zusammengefasst und in jede Richtung erheblich ausgeweitet .15 Die darin noch enthaltene deutliche Trennung der Rechtsstandards zwischen internationalem und nicht-internationalem bewaffneten Konflikt kann heute als schwindend gelten .16 Heute ergibt sich das Bild, dass jenseits der Frage, wann der Beginn oder die Beteiligung an einem bewaffneten Konflikt rechtmäßig ist („ius ad bellum“),17 zumindest für die organisierten Beteiligten an einem solchen Konflikt – vor allem die staatlichen Armeen – ein umfangreiches Regelwerk dazu existiert, was im Krieg erlaubt ist und vor allem was nicht .18 Dieses umfassende Normsammlung zielt unter anderem auf den weitestgehenden Schutz derer, die nicht selbst aktiv an Kampfhandlungen beteiligt sind: Verwundete, Gefangene und vor allem Zivilisten .19 Dabei sind nicht nur direkte Angriffe auf diese Personen verboten, vielmehr gibt es eine Reihe weiterer Normen, die deren Schonung absichern sollen wie Aufklärungs- und Warnpflichten für den Fall, dass ein Angriff potentiell auch Unbeteiligte betreffen könnte .20 Die schwersten Verstöße gegen dieses Regelwerk werden im gemeinsamen Art . 3 der vier Genfer Abkommen als Kriegsverbrechen bezeichnet, für die nach heutigem Verständnis das Weltrechtsprinzip gilt, so dass jeder Staat berechtigt (und aus den Genfer Abkommen auch verpflichtet) ist, Personen, die für solche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht verantwortlich sind, strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen .21 Diese Kriegsverbrechen gelten auch als „core crimes“ des Völkerstrafrechts und finden sich als Tatbestände in den Statuten internationaler Strafgerichte wie 15
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Zur Entwicklung des humanitären Völkerrechts siehe auch Tobias Darge, Kriegsverbrechen im nationalen und internationalen Recht, 2010, 51 ff .; Christoph Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, § 6 Rn . 112 ff .; Helmut Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2011, § 16 Rn . 53 ff .; Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2012, Rn . 1022 ff . Ambos (Fn . 7), § 7 Rn . 232 ff .; Zimmermann (Fn . 1), 517; einschränkend nur Christian Richter, Tödliche militärische Gewalt und strafrechtliche Verantwortung, HRRS (2012), 28 ff . Zur Trennung der Fragen nach der völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit der Konfliktbeteiligung als solcher („ius ad bellum“) und nach den während der militärischen Aktionen geltenden Regeln („ius in bello“) siehe etwa Christoph Safferling / Stefan Kirsch, Recht und Unrecht im Angriffskrieg, ZJS (2012), 674 f . Zimmermann (Fn . 1), 509 f . Ambos (Fn . 7), § 7 Rn . 245 f .; Müssig/Meyer (Fn . 5), 1517 f .; ausführlich zu den im humanitären Völkerrecht geschützten Personen Werle (Fn . 15), Rn . 1109 ff . Müssig/Meyer (Fn . 5), 1522 f . Siehe Werle (Fn . 15), Rn . 1051 ff .
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Recht nur im Frieden?
ICTY, ICTR und ICC, sowie im deutschen VStGB als nationaler Umsetzung des ICC-Statuts .22 III. „RechtssIcheRheIt
FüR unseRe
soldaten“
Im Zusammenhang mit den laufenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr wurde schon häufiger die Forderung erhoben, es müsse die Rechtssicherheit für die Soldaten im Einsatz hergestellt oder verbessert werden .23 Nicht ganz klar bleibt bei so formulierten Forderungen allerdings oft die genaue Bedeutung der Forderung . Versteht man den Begriff der Rechtssicherheit in einem in der Rechtsphilosophie gängigen Sinne, bezieht er sich auf eine Orientierungssicherheit des Bürgers über die von der Rechtsordnung gegebenen Verhaltensanweisungen .24 Der Bürger soll also verlässlich wissen, was erlaubt und verboten ist . Rechtssicherheit heißt damit Sicherheit über das geltende Recht .25 Die im hiesigen Zusammenhang erhobenen Forderungen haben aber zumindest teilweise eine andere Konnotation: Wenn diese oft mit der Forderung nach Unterlassung von Strafverfahren wegen fragwürdiger Geschehnisse auf Auslandsmissionen verbunden werden,26 entsteht zumindest der Eindruck, gefordert werde eine Sicherheit vor dem Recht in dem Sinne, dass man doch die für „uns“ kämpfenden Soldaten nicht mit so etwas wie einer strafrechtlichen Ermittlung behelligen solle . Dies hat abgeschwächt auch die rechtswissenschaftliche Diskussion erreicht . Abgeschwächt insofern, als dass kein Autor die komplette Freistellung von Soldaten bezüglich strafjuristischer Verfahren fordert . Konsensfähig scheint zu sein, dass Kriegsverbrechen im Sinne des ICC-Statuts und des VStGB auch dann zu bestrafen sind, wenn sie von Soldaten der Bundeswehr begangen werden . Der Konsens endet aber bei der Frage nach dem Umgang mit Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, die nicht die Schwelle eines Kriegsverbrechens überschreiten . 22 23
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Zimmermann (Fn . 1), 510 . So etwa der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg im Interview mit der SZ vom 17 .5 .2010 unter der Überschrift „Wir brauchen Rechtssicherheit für unsere Soldaten“, unter ; siehe auch Helene Bubrowski / Heinrich Wefing, Wenn Soldaten töten, Die Zeit vom 6 .11 .2008, zugänglich unter ; Ulrich Kirsch, Wir erwarten viel von Parlament und Regierung, Die Bundeswehr 10 (2009), zugänglich unter ; Christian Rath, Strenger als gedacht, taz vom 23 .4 .2010, unter ; Schaller (Fn . 9); Dieter Weingärtner, Bundeswehr und „Neue Formen des Krieges“, HuV-I (2010), 141 . Siehe etwa Gustav Radbruch, Die Problematik der Rechtsidee, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd . 2, hg . von Arthur Kaufmann, 1993, 460 ff ., sowie ders ., Rechtsphilosophie, 1932, 70 ff . In diesem Sinne verwendet im hiesigen Zusammenhang etwa Weingärtner (Fn . 23), 144 den Begriff, wenn er aus der höheren Regelungsdichte bei Anerkennung des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts in Afghanistan auch eine größere Rechtssicherheit folgert . So etwa die bei Bubrowski/Wefing (Fn . 23) zitierten Äußerungen des damaligen Wehrbeauftragten des Bundestags Reinhold Robbe und des Parlamentarischen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium Thomas Kossendey .
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Hier wird in den letzten Jahren in mehreren Fachpublikationen die Forderung erhoben, dass die Normen des VStGB für den Fall eines völkerrechtlichen Konfliktes als abschließende Spezialregelung angesehen werden sollten .27 Jedenfalls soll das allgemeine StGB daneben keine oder höchstens eingeschränkte Anwendung finden .28 Die Folge einer solchen Bereichsausnahme von der allgemeinen Geltung der Normen des StGB wäre im Umkehrschluss, dass es im bewaffneten Konflikt unterhalb der Schwelle der Tatbestände des VStGB (und abgesehen von den Spezialnormen des WStG) keine rechtlichen Verhaltensnormen für Soldaten mehr gäbe, bei deren Verletzung eine strafrechtliche Sanktion droht .29 Insbesondere diejenigen Normen des humanitären Völkerrechts, deren Verletzung nicht als Kriegsverbrechen gilt, blieben dann auch im Fall schwerster Folgen ohne strafrechtliche Sanktionsdrohung . Die dafür ins Feld geführten Argumente sind vielschichtig . Dies beginnt mit strafrechtsdogmatischen Figuren wie einer „privilegierenden Spezialität“ der Kriegsverbrechenstatbestände gegenüber denen des StGB, da es ansonsten in den Rechtsfolgen zu Widersprüchen käme .30 Allerdings wird bei der Begründung dieser angeblichen Widersprüche verkannt, dass etwa der am Beispiel des Bombenangriffs von Kunduz vom September 2009 in den Blick genommene § 11 Nr . 3 VStGB31 ein Gefährdungsdelikt ist und sein Strafmaß eben kein Erfolgsunrecht enthält, so dass ein Vergleich mit den Erfolgsdelikten §§ 212, 211 StGB hinkt .32 Ebenfalls auf der Ebene der Strafrechtsdogmatik und vor allem der Straftatsystematik wird argumentiert, dass Gewaltanwendung in einem Kampfeinsatz eben der Normalfall sei und daher nicht tatbestandlich als abweichendes Verhalten einzuordnen sei, welches nur ausnahmsweise und im Einzelfall zu rechtfertigen sei .33 Hierzu ist allerdings darauf zu verweisen, dass ähnliche Diskussionen sowohl für den ärztlichen Heileingriff als auch für polizeiliche Gewaltanwendung schon seit langem geführt und abgeschlossen sind . In beiden Fällen mit dem straftatsystematisch logischen Ergebnis, dass die Erfüllung der Voraussetzungen eines Straftatbestands eben auch in solchen Fällen zur Einordnung des Verhaltens als tatbestandsmäßig führt, 27 28 29 30 31 32 33
Richter (Fn . 16), 34 ff .; Zimmermann (Fn . 1), 23 . Eine Verdrängung der BT-Tatbestände des StGB zumindest durch bestimmte einzelne Normen des VStGB postuliert etwa Florian Hertel, Soldaten als Mörder? Das Verhältnis von VStGB und StGB anhand des Kundus-Bombardements, HRRS (2010), 341 f . So ausdrücklich Richter (Fn .16), 37 f . Hertel (Fn . 28), 341 f .; Richter (Fn . 16), 34; Zimmermann (Fn . 1), 512 . Hieran diskutiert Hertel (Fn . 28), 341 f . diese Frage; ihm folgend Richter (Fn . 16), 34 . Ausführlicher dazu Denis Basak, Luftangriffe und Strafrechtsdogmatik – zum systematischen Verhältnis von VStGB und StGB – eine Gegenrede, HRRS (2010), 516 . Siehe etwa Müssig/Meyer (Fn . 5), 1510; Zimmermann (Fn . 1), 512 . Richter (Fn . 16), 37 verweist zudem auf die „soziale Adäquanz des Tötens im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“, welche eine Tatbestandsmäßigkeit nach dem StGB ausschließe; Zimmermann, aaO, 510 führt genau diese Argumentation – anders als Richter – auf Georg Dahm, Verbrechen und Tatbestand, in: Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, hg . von Georg Dahm / Ernst Rudolf Huber / Karl Larenz / Karl Michaelis / Friedrich Schaffstein / Wolfgang Siebert, 1935, 65 ff ., zurück, also einem der Grundwerke der nationalsozialistischen Kieler Schule . Auch aus diesem Grund verwirft auch Hans-Günter Schwenck, Die kriegerische Handlung und die Grenzen ihrer Rechtfertigung, in: Festschrift für Günther Lange zum 70. Geburtstag, hg . von Günter Warda, 1976, 97, diesen Ansatz; ähnlich Albin Eser, Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht, in: Öffentliches Recht im offenen Staat: Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag, hg . von Ivo Appel / Georg Hermes / Christoph Schönberger, 2011, 667 .
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was für sich ja noch keine negative Wertung enthält, sondern nur auf die Notwendigkeit verweist, dass es für den Schusswaffengebrauch oder die Operation einer Rechtfertigung – etwa durch eine polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlage oder durch eine wirksame Einwilligung des Patienten – bedarf .34 Warum gerade für Soldaten diese Mechanik der strafrechtlichen Bewertung unangemessen sein soll,35 erschließt sich nicht . Beide Argumentationen können zudem nicht erklären, warum Soldaten für während des Einsatzes begangene andere Straftaten – von der Störung der Totenruhe bis zu Eigentums- oder Sexualdelikten – keine Strafverfolgung drohen soll, bloß weil diese nicht die Schwelle zum Kriegsverbrechen überschreiten .36 Auch bleibt zumindest offen, ob diese Ausnahme auch für truppeninterne Delikte während eines Einsatzes in einem bewaffneten Konflikt gelten soll, oder ob zudem noch einmal nach Opfern differenziert werden soll:37 Taten gegen Afghanen sind nur bei Kriegsverbrechen verfolgbar, Taten gegen eigene Kameraden unterfallen aber dem StGB .38 Offenbar geht es eben in Wahrheit gar nicht um eine Nichtgeltung des StGB in zeitlichem oder örtlichem Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt, sondern eben gerade um die Straflosigkeit des Waffeneinsatzes gegen tatsächliche oder vermeintliche militärische Gegner .39 Das spricht nicht für eine Nichtgeltung der Normen, etwa des Tötungsverbots aus den §§ 211 ff . StGB, sondern für eine von bestimmten Voraussetzungen (völkerrechtlich zulässiger Waffeneinsatz im militärischen Konflikt) abhängigen Erlaubnis für den Einsatz tödlicher Gewalt . Dies ist konstruktiv aber kein anderes Strafrecht,40 sondern im Rahmen des bestehenden 34 35 36
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Steiger/Bäumler (Fn . 11), 211 . So aber ausdrücklich Richter (Fn . 16), 37: „absurde Konstruktion der Beibehaltung des tatbestandlichen Vorwurfs bei bestehender Rechtfertigung“, die er als „Treuwidrigkeit“ des Staates gegen seine Soldaten bezeichnet . Dagegen hat die Staatsanwaltschaft München wegen der sogenannten „Schädelfotos“ deutscher Soldaten aus Afghanistan wegen Störung der Totenruhe ermittelt und das Verfahren letztlich wegen Nichtvorliegens der Tatbestandsmerkmale des § 168 Abs . 2 StGB eingestellt, vgl . Andreas Salch, „Die Totenruhe wurde nicht gestört“, SZ vom 13 .12 .2008, unter . Beispielhaft hierfür die Formulierungen von Richter (Fn . 16), 37 f .: „Wo und wenn Streitkräfte operieren, muss [ausschließlich, D . B .] das für die Streitkräfte geschaffene Völkerrecht und Völkerstrafrecht angewendet werden.“ Dies lässt eben die oben gestellte Frage nach der Beurteilung von Taten gegen Kameraden völlig außen vor . Zu dieser aber Antonio Cassese, International Criminal Law, 2008, 82 . Dagegen will Zimmermann (Fn . 1), 517 ff ., zumindest nach Tätergruppen intensiv differenzieren und das VStGB fast ausschließlich als Sonderstrafrecht für „kriegsbedingte Gewalt“, begangen durch nach humanitärem Völkerrecht „Schädigungsberechtigte“, verstehen . In diese Richtung geht auch die Differenzierung von Christoph Safferling / Stefan Kirsch, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, JA (2012), 483, nach denen Kriegsverbrechen nur Taten mit einem „funktionalen Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt“ sein können, nach denen aber eben auch gilt: „Liegt ein solcher Zusammenhang nicht vor, handelt es sich allenfalls um ein einfaches Verbrechen, das zufällig während eines bewaffneten Konfliktes begangen wird“ – straflos wird es dadurch aber gerade nicht; ähnlich auch Safferling (Fn . 15), § 6 Rn . 142; Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 34 ff . So im Ergebnis wohl auch Zimmermann (Fn . 1), 517 ff ., der zudem auch Taten von afghanischen Aufständischen gegen deutsche Soldaten nach dem StGB verfolgen will . Hierauf laufen auch die Überlegungen von Zimmermann (Fn . 1), 517 ff . hinaus . Wogegen Zimmermann (Fn . 1), 509 ff ., hier zwischen Kriegs- und Friedensstrafrecht unterscheiden will .
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Strafrechts ein die Rechtswidrigkeit des Verhaltens aufhebender Erlaubnissatz, also ein Rechtfertigungsgrund .41 Auf einer anderen rechtlichen Ebene wird auf eine im Völkerrecht zu findende Unterscheidung zwischen Friedens- und Kriegsvölkerrecht rekurriert, mit der Folge, dass diese auch in das nationale Recht wirken müsse .42 Da das Kriegsvölkerrecht eine Gewaltanwendung grundsätzlich erlaube und eine Strafverfolgung nur im Falle von Kriegsverbrechen vorsehe, sei diese Wertung auch für die nationale Strafverfolgung eigener Soldaten bindend .43 Auch die hieraus vorgeschlagene Ableitung eines speziellen Kriegsstrafrechts – gleichgesetzt mit den Kriegsverbrechenstatbeständen – aus der seit Geltung des VStGB bestehenden echten Umsetzung der völkerrechtlichen Pönalisierung von Kriegsverbrechen, mit der Folge, dass der Notbehelf der Einordnung von Kriegsverbrechen in das allgemeine Strafrecht entfiele,44 kann aber vor dem Hintergrund nicht überzeugen, dass eben die Kategorie der Kriegsverbrechen auch völkerrechtlich nochmals insofern herausgehoben ist, als diese Verbrechen als Taten erga omnes angesehen werden, welche nach dem Weltrechtsprinzip von jedem Staat der Welt unabhängig von eigener Betroffenheit verfolgt werden dürfen .45 Damit gehören die Kriegsverbrechen aus Sicht des humanitären Völkerrechts zu den schwersten denkbaren Taten; das Völkerrecht hat aber nie behauptet, dass es unterhalb dieser Schwelle keine Straftaten gäbe, oder dass solche im Kriegsfall von den Staaten, die nach anderen strafanwendungsrechtlichen Anknüpfungspunkten eine Jurisdiktion hätten, nicht verfolgt werden dürften .46 Ganz im Gegenteil sind auch und gerade Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht auch unterhalb der Schwelle der „grave breaches“ ein legitimer Anknüpfungspunkt für eine
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Dazu ausführlich unten „IV .“ . Wenn dagegen Richter (Fn . 16), 36 meint, es sei „nicht einzusehen, warum die völkerrechtliche Erlaubnis im deutschen Recht zu einer Rechtfertigungsnorm gewendet werden soll“, ist dem die dort ausgeführte normtheoretische Einbettung außerstrafrechtlicher Erlaubnissätze in die Straftatsystematik entgegen zu halten – also strafrechtliches Grundlagenwissen . Zimmermann (Fn . 1), 509 . Müssig/Meyer (Fn . 5), 1504 ff .; Richter (Fn . 16), 36 . Zimmermann (Fn . 1), 511 ff ., der allerdings die von ihm behauptete Zäsur durch den Erlass des VStGB abgesehen von dem Verweis, dass es vorher eben keine Regelung gegeben habe, nicht dahingehend begründet, warum die zuvor gegebene Strafbarkeit von Kriegsverbrechen nach dem StGB nun durch den Erlass von Sondernormen für das Völkerstrafrecht ohne eine entsprechende Regelung in dem erlassenden Gesetz plötzlich wegfallen soll . Der Generalbundesanwalt (Fn . 11), 52, verwirft deswegen eine Verdrängung des StGB durch das VStGB, weil dann ja vor 2002 Kriegsverbrechen im deutschen Recht straflos gewesen wären . Siehe zur Rechtslage vor Erlass des VStGB auch Gerhard Werle, Völkerstrafrecht und geltendes deutsches Strafrecht, JZ (2000), 756 ff ., und Gerhard Werle, in: Wolfgang Joecks / Klaus Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Bd . 6/2, 2009, Einl . VStGB Rn . 25 ff . Dazu etwa Florian Jeßberger / Wolfgang Kaleck, Concurring Criminal Jurisdictions under International Law (2010), unter , 2 ff .; siehe auch Safferling (Fn . 15), § 4 Rn . 8; Zum spezifischen Unrechtsgehalt von Kriegsverbrechen im Unterschied zur „bloßen“ Verwirklichung der auch gegebenen allgemeinen Straftatbestände siehe auch Werle (Fn . 15), Völkerstrafrecht, 757 f . Cassese (Fn . 37), 84 f .; Jeßberger/Kaleck (Fn . 45), 2 ff .; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 216 f .; Werle (Fn . 15), Völkerstrafrecht, 758 f .
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Strafverfolgung .47 In der obigen Behauptung ist die behauptete Schlussregel daher nicht schlüssig . Schließlich wird auf das allgemeine Verfassungsrecht verwiesen, vor allem auf Gleichheitsregeln, also Art . 3 GG . Einerseits würden an die Soldaten Anforderungen gestellt, die an andere Konfliktteilnehmer nicht gestellt würden, andererseits würde ihre Sondersituation im Kampfeinsatz ansonsten nicht hinreichend bei der rechtlichen Bewertung ihres Verhaltens in Betracht gezogen .48 Auch diese Überlegungen halten aber einer näheren Betrachtung nicht stand: Die Regeln des humanitären Völkerrechts gelten vielmehr unabhängig von ihrer Strafbewehrung als zwingendes Völkerrecht für alle;49 ihre Sanktionierung steht den Territorialstaaten ebenso wie den Heimatstaaten von Tätern wie Opfern nach den allgemeinen Regeln des internationalen Strafanwendungsrechts auch jederzeit zu . Insofern ist von einer Benachteiligung deutscher Soldaten hier nicht auszugehen, ohne dass es auf die Frage nach der Berechtigung einer Forderung nach gleichmäßiger Zulassung eines Rechtsbruchs ankäme .50 Die Besonderheiten des Kampfeinsatzes wiederum lassen sich, wie noch zu zeigen ist, ohne weiteres auch in der allgemeinen Straftatsystematik für die Einzelfallbewertung nach dem StGB unterbringen und in diesem Rahmen diskutieren . Auch Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der Strafnormen (Art . 103 Abs . 2 GG) bestehen nicht .51 Der hohe argumentative Aufwand, der zur Begründung der hier geforderten Bereichsausnahme getrieben wird, begründet sich unter anderem aus zwei nicht unerheblichen autoritativen Gegenpositionen: Zum einen ist es in Literatur und Praxis bislang immer noch eine oft nicht einmal hinterfragte herrschende Ansicht, dass neben dem VStGB auch das allgemeine Strafrecht nach seinen eigenen Anwendungsregeln auf Taten deutscher Soldaten Anwendung findet .52 Auf der anderen 47 48 49
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Vgl . Wolfgang Kaleck / Andreas Schüller / Dominik Steiger, Tarnen und Täuschen, KJ (2010), 272 ff .; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 207 . Richter (Fn . 16), 36 f . Ambos (Fn . 7), § 7 Rn . 237 . Zu der im humanitären Völkerrecht durchaus abbildbaren Rechtsstellung von in Zivil auftretenden Kämpfern im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt – etwa den Taliban in Afghanistan – siehe Melzer (Fn . 9), 31 ff .; Schaller (Fn . 9), 20 ff . Speziell zur Zulässigkeit gezielter Militärschläge gegen Mitglieder von Al Qaida oder den Taliban (und ihren Grenzen) Peter Rudolf / Christian Schaller, „Targeted Killing“, SWP-Studie (2012), unter , 18 ff . Geiß (Fn . 13), 124 f . Generalbundesanwalt (Fn . 11), 52 ff . So schon das RG v . 6 .7 .1921, in: Stenografische Berichte der Verhandlungen des Reichstages, 1 . Wahlperiode 1920/24, 25, Anlage 2584 (Weißbuch), 2563 (2568): „Die Anwendbarkeit des gemeinen innerstaatlichen Strafrechts, sei es gemäß § 3 StGB (wie hier) oder des § 4 Nr. 3 daselbst oder des § 7 RStGB, auf Kriegshandlungen, die den Tatbestand einer mit Strafe bedrohten Handlung erfüllen, unterliegt keinen begründeten Bedenken. Für die Beurteilung der Erlaubtheit oder Rechtswidrigkeit von Kriegshandlungen sind die völkerrechtlichen Bestimmungen maßgebend.“ Auf dieses Urteil weist auch Zimmermann (Fn . 1), 511 hin . Ausführlich hierzu auch der Vermerk des Generalbundesanwalts (Fn . 11), 51 ff .; ebenso Kai Ambos, Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und Völker(straf)recht, NJW (2010), 1725 (1727) und Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 45; Basak (Fn . 32), 516 ff .; David Diehl, Zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein und Hauptfeldwebel Wilhelm durch die Bundesanwaltschaft, BOFAXE Nr . 343D v . 11 .5 .2010, unter ; Helmut Frister/ Marcus Korte/Claus Kreß, Die strafrechtliche Rechtfertigung militärischer Gewalt in Auslandseinsätzen auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen, JZ (2010), 10; von der
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Seite hat genau diese Ansicht auch ausdrücklichen Eingang in die Gesetzesbegründung für das VStGB gefunden,53 so dass man argumentativ an einem klar entgegengesetzten Ergebnis einer subjektiv-historischen Auslegung der Normen erst einmal vorbeikommen muss .54 Getragen sind all diese Argumentationsstränge offenbar von der Sorge, dass die Anwendung der allgemeinen Regeln des StGB gerade auf die Situation von Soldaten im Einsatz in einem bewaffneten Konflikt zu im Ergebnis unangemessenen rechtlichen Bewertungen deren Verhaltens führte . Daher wird pauschal eine Bereichsausnahme von der Geltung gerade dieser Normen gefordert . Dass ein solches situationsbedingtes Ausnahmerecht aber zu einer zielgenaueren und angemesseneren rechtlichen Einordnung führt, bleibt unbelegt . Prima facie ist diese Erwartung auch nicht plausibel, denn pauschale Regelungen tragen schon vom Ansatz her dem Einzelfall und seinem Verhältnis zur allgemeinen Rechtslage weniger genau Rechnung als eine differenzierte Prüfung desselben nach eben diesen allgemein gültigen Regeln . IV. dIe geltung
des allgemeInen
(stRaF-) Rechts
als
noRmalFall
Nimmt man die vorgetragenen Bedenken gegen eine Anwendung des StGB ernst, liegt ihnen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit der allgemeinen Strafrechtsdogmatik zugrunde . Dieser wird unterstellt, sie könne die spezielle Situation eines bewaffneten Kampfeinsatzes normativ nicht plausibel abbilden, die von ihr formulierten Verhaltensanforderungen gingen an der Realität der Soldaten in einem solchen Einsatz vorbei und würden diese überfordern .55 Dieses Misstrauen allerdings ist bei genauerem Hinsehen unbegründet . Denn die straftatsystematische Aufgliederung der Verhaltensbewertung in die Hauptebenen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ist in ihrer dogmatischen Ausdifferenzierung durchaus in der Lage, die in einem Kampfeinsatz bestehenden situativen Besonderheiten aufzunehmen, einzuordnen und angemessen zu diskutieren .56 Dabei ist zunächst für im Ausland begangene Taten deutscher Soldaten allgemein auf § 1a WStG hinzuweisen, nach dem das komplette deutsche Strafrecht gerade auch in dieser Situation für deutsche Soldaten gilt .57 Konkret heißt dann die Anwendung der allgemeinen Straftatsystematik, dass Soldaten, die mit Kriegswaffen Menschen töten oder verletzen, unzweifelhaft Tatbe-
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Groeben (Fn . 11), 486; Florian Jeßberger, Kurzgutachten zur Reichweite der Verfolgungszuständigkeit des Generalbundesanwalts nach §§ 120 Abs. 1 Nr. 8, 142a Abs. 1 GVG, unter , 2; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272; Safferling (Fn . 15), § 8 Rn . 27; Safferling/Kirsch (Fn . 11), 85; dies . (Fn . 37), 485; Steiger/Bäumler (Fn . 37), 206 ff . BR-Drucks . 29/02, 25 f .; BT-Drucks . 14/8524, 13 und 33 . Ausdrücklich zugestanden von Hertel (Fn . 28), 341 f . Richter (Fn . 16), 36 . Basak (Fn . 32), 517 f . Klaus Dau, in: Wolfgang Joecks / Klaus Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Bd . 6/2, 2009 § 1a WStG Rn . 9 ff .; Frister/Korte/Kreß (Fn . 52), 10; von der Groeben (Fn . 11), 470; Safferling/ Kirsch (Fn . 11), 82; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 206; zugestanden auch von Richter (Fn . 16), 34 .
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stände aus dem Bereich der Tötungs- und Körperverletzungsdelikte erfüllen, selbst wenn ihr Verhalten tatbestandlich kein Kriegsverbrechen darstellt .58 Daneben ist auch ein großer Bereich weiterer Tatbestände potentiell für das Verhalten in Kriegseinsätzen zunächst einschlägig, von der Sachbeschädigung über Brandstiftungs- und Sprengstoffdelikte bis hin zu Nötigung oder auch Umweltstraftaten .59 Für all dies gilt aber, dass allein die Tatsache, dass dem Wortlaut der Normen nach diese Tatbestände erfüllt sind, nichts über die Zulässigkeit oder Verwerflichkeit des jeweiligen Verhaltens sagt, sondern nur Auswirkungen beschreibt, die im normalen gesellschaftlichen Zusammenleben typischerweise als unerwünscht angesehen werden . Dass diese Tatbestände von einem Soldaten im Kampfeinsatz erfüllt werden, wird in aller Regel nur dazu führen, im Ergebnis festzustellen, dass sein Verhalten den Regeln für einen solchen militärischen Einsatz entsprach und damit erlaubt war .60 Hierbei wird die durchaus wichtige Frage, warum es eigentlich keine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für den militärischen Waffengebrauch im deutschen Recht gibt,61 für die Zwecke der hiesigen Betrachtung ausdrücklich ausgespart und mit der ganz herrschenden Ansicht angenommen, dass ein solcher dann erlaubt ist, wenn die einschlägigen Regeln des humanitären Völkerrechts eingehalten werden .62 Genau dies, nämlich die Zulässigkeit des Waffeneinsatzes nach humanitärem Völkerrecht bildet aus Sicht der Straftatsystematik die Rechtfertigung für das zunächst tatbestandsmäßige Verhalten .63 Voraussetzung für diese Rechtfertigung ist aber, dass etwa der Waffeneinsatz tatsächlich unter Beachtung aller einschlägigen Normen des humanitären Völkerrechts erfolgt64 – was eine Selbstverständlichkeit sein sollte . Damit führt auch die Verletzung z . B . von Aufklärungs- und Warnpflichten65 zwar noch nicht zur Annahme eines Kriegsverbrechens .66 Werden durch den folgenden Waffeneinsatz aber 58 59 60 61
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BR-Drucks . 29/02, 25 f .; Ambos (Fn . 52), 1727; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272; Schwenck (Fn . 33), 97 . Auch wenn ein Kriegsverbrechen vorliegt, sind in aller Regel Normen des StGB tatbestandlich erfüllt, siehe Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 45 . Eine ähnliche Auflistung bietet auch Zimmermann (Fn . 1), 509, an . So schon das RG v . 6 .7 .1921 (Fn . 52), 2568; siehe auch StA Zweibrücken NZWehrR (2009), 170; Ambos (Fn . 52), 1727; von der Groeben (Fn . 11), 486 f .; Safferling/Kirsch (Fn . 37), 485; Schwenck (Fn . 33), 97 ff . Siehe ausführlich und eindringlich Albin Eser, Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus, in: Verbrechen-Strafe-Resozialisierung, Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag, hg . von Dieter Dölling / Bert Götting / Bernd-Dieter Meier / Torsten Verrel, 2010, 461 ff ., und ders . (Fn . 33), 665 ff .; dazu auch Michael Haid, Eine deutsche „Blankettnorm“ zum Töten?, Ausdruck 1/2011, 5 f . Generalbundesanwalt (Fn . 11), 52; Safferling/Kirsch (Fn . 11), 85; Schwenck (Fn . 33), 97 ff .; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 212 f . Ambos (Fn . 52), 1727; Frister/Korte/Kreß (Fn . 52), 12; von der Groeben (Fn . 11), 486; Jeßberger (Fn . 52), 2; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272; Safferling/Kirsch (Fn . 11), 85; Steiger/ Bäumler (Fn . 11), 209 f .; vgl . auch StA Zweibrücken NZWehrR (2009), 170 . BR-Drucks . 29/02, 25 f .; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272 ff .; Schwenck (Fn . 33), 118 . Zu diesen Geiß (Fn . 10), 130 f . von der Groeben (Fn . 11), 485; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272 ff .; siehe auch Sassòli/ Brugère, Rechtsgutachten zur Frage der Unabhängigkeit der bei einem Angriff zu treffenden aktiven Vorsichtsmaßnahmen zum Schutze von Zivilpersonen von den Angriffsverboten im humanitären Völkerrecht (2010), unter , 5 ff .
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Menschen getötet oder verletzt, führt der Bruch der einschlägigen Normen des humanitären Völkerrechts dazu, dass eine strafrechtliche Rechtfertigung wegen eines rechtmäßigen militärischen Waffeneinsatzes ausscheidet .67 Genau hieran bestanden beispielsweise im Fall des Bombenabwurfs von Kunduz vom 3 . September 2009, für den das Bundesverteidigungsministerium später die Angehörigen von 102 als zivil anerkannten Opfern finanziell entschädigte,68 erhebliche Zweifel .69 Dies ist auch keineswegs eine übertriebene Gängelung oder gar ein Verstoß gegen das Völkerrecht, weil dieses für solche Verstöße keine (völker-) strafrechtliche Sanktion vorsähe . Vielmehr geht es um die Feststellung des Verstoßes gegen geltendes (Völker-) Recht und deren Konsequenzen im innerstaatlichen Strafrecht .70 Auch praktisch ist die Verpflichtung zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts in Gänze genau das, wozu die Bundesrepublik Deutschland durch den Beitritt zu den entsprechenden Konventionen sich und damit auch ihre Soldaten verpflichtet hat .71 Dass deren Bruch eine Verletzung geltenden Rechts darstellt, also das Prädikat „Rechtswidrigkeit“ auch inhaltlich trägt, ist nur folgerichtig . Aber selbst wenn es – mit einem hier gar nicht so geflügelten Wort „im Eifer des Gefechts“ – zu einer Verletzung der Normen des humanitären Völkerrechts kommt, bedeutet dies keineswegs, dass dafür verantwortliche Soldaten automatisch zu bestrafen wären . Wenn bei Einwänden gegen die Anwendbarkeit des allgemeinen Strafrechts von der im Kampf nötigen schnellen Entscheidung, von dem Druck der Gefechtssituation und der eigenen Gefahr die Rede ist, wenn die Befehlskette ebenso wie die psychische und physische Ausnahmesituation des Kampfeinsatzes angeführt werden, denkt der Strafrechtsdogmatiker sofort an die Wertungsstufe der Schuld .72 67 68
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BR-Drucks . 29/02, 26; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 52), 276; Schwenck (Fn . 33), 109 f .; Steiger/ Bäumler (Fn . 11), 214 ff . Siehe dazu die Meldung des Verteidigungsministeriums vom 10 .8 .2010, „Bundeswehr zahlt Unterstützung für Familien der Opfer des Luftangriffs vom 4 . Septemberg 2009", unter ; sowie Matthias Gebauer, Opfer des Kunduz-Luftangriffs: Bundeswehr zahl Angehörigen halbe Million Dollar, Spiegel online vom 5 .8 .2010, unter . Ambos (Fn . 52), Völkerstrafrecht, 1727; Basak (Fn . 32), 514 ff .; Diehl (Fn . 6), 19 f .; von der Groeben (Fn . 11), 473 ff .; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 270 ff . So stellt auch BR-Drucks . 29/02, 24, schon fest: „Die meisten der vom Völkerstrafrecht erfassten Verhaltensweisen waren bereits bislang durch das deutsche Strafgesetzbuch mit Strafe bedroht. Daran ändert sich durch die Einführung des Völkerstrafgesetzbuches nichts.“ Weiter auf S . 26 zur Straflosigkeit völkerrechtlich zulässiger Kriegshandlungen: „Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Täter die für ihn verbindlichen einschlägigen Regeln des völkerrechtlichen Kriegsführungsrechts eingehalten hat; war das Verhalten völkerrechtlich verboten, so kann es auch nach deutschem Strafrecht strafbar sein, wenn das Völkerrecht als solches keine Strafbarkeit anordnet.“ Dementsprechend sieht auch die Bundeswehr selbst das humanitäre Völkerrecht (als Ganzes) als Grenze der eigenen Handlungsbefugnisse in Afghanistan an, siehe Presse- und Informationsstab des BMVg vom 24 .8 .2010, Überblick: Befugnisse der Soldaten in Afghanistan, unter . In diesem Sinne auch Schaller (Fn . 5), 4 . Schwenck (Fn . 33), 110 .
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In deren Rahmen können all diese Punkte in Kategorien wie der Irrtumslehre, des entschuldigenden und ggf . sogar des übergesetzlichen Notstands, der Zumutbarkeit, des Handelns auf Befehl etc . differenziert und am jeweiligen Einzelfall diskutiert und angemessen bewertet werden .73 Genau darin besteht ja auch der Zweck eines normativen Schuldverständnisses, dass in diesem Begriff alle Fragen bündelt, die auf die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat zielen . Sollten sich selbst hier gewissen Aspekte nicht einordnen lassen, oder sollten diese zumindest nicht zu einer Schuldlosigkeit der betroffenen Soldaten führen, sind die fraglichen entlastenden Momente jedenfalls strafzumessungsrelevant . Dies lässt in Fällen, in denen bei aller Berücksichtigung der Besonderheiten der Tatsituation dennoch ein Schuldvorwurf zu erheben ist, sicher keine überharten Strafen erwarten .74 Sind vom Wortlaut her Tatbestände des VStGB und des StGB nebeneinander anwendbar, ist jeweils im Einzelfall nach den allgemeinen Konkurrenzregeln zu entscheiden, in welchem Verhältnis diese Normen zueinander im konkreten Fall stehen – auch dieses Instrumentarium enthält aber die geeigneten Kategorien, um auch diesbezüglich Wertungswidersprüche zu vermeiden .75 Was hiermit überblicksartig in Erinnerung gerufen werden soll, ist die Tatsache, dass die allgemeine Straftatsystematik mit all ihren ausdifferenzierten Einzelheiten ohne Weiteres in der Lage ist, auch Ausnahmesituationen wie einen militärischen Kampfeinsatz angemessen zu diskutieren und im Ergebnis sinnvoll zu bewerten . Genau zu diesem Zweck ist die Strafrechtsdogmatik so detailreich und entfaltet, wie sie sich heute darstellt . Verallgemeinernd heißt das für den militärischen Waffeneinsatz im bewaffneten Konflikt, dass dieser bei Einhaltung aller Normen des humanitären Völkerrechts zulässig ist, bei deren Verletzung aber zu einer Strafbarkeit nach StGB und/oder WStG führen kann .76 Schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht sind darüber hinaus tatbestandlich als Kriegsverbrechen im Sinne des VStGB anzusehen .77 Im Falle einer Strafbarkeit von Soldaten ist zudem die Frage nach einer Mitverantwortung der Vorgesetzten im Blick zu behalten, wobei außer den §§ 13, 25–27 StGB auch etwa §§ 4, 13, 14 VStGB und § 33 WStG zu beachten sind .78 Ein Bedürfnis für eine diese Differenzierungen nivellierende Bereichsausnahme, welche all diese Feinheiten von vorne herein ausschließt, ist jedenfalls mit Blick auf das Ziel einer angemessenen Sachverhaltsbewertung nicht zu erkennen . 73
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Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 276; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 203 ff .; siehe dazu auch StA Zweibrücken NZWehrR (2009), 171, die einen Erlaubnistatbestandsirrtum heranzieht, um ein Verfahren gegen Soldaten wegen des Beschusses eines Zivilfahrzeugs an einer Straßensperre in Afghanistan einzustellen; dem folgend Safferling (Fn . 15), § 8 Rn . 27; kritisch zu den dortigen Einstellungsgründen von der Groeben (Fn . 11), 470 ff . Hier ist Zimmermann (Fn . 1), 514, ausdrücklich darin zuzustimmen, dass Taten im Umfeld einer militärischen Auseinandersetzung prima facie einen geringeren Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen sollten als gleiche Handlungen in Friedenszeiten . In diesem Sinne auch Basak (Fn . 32), 517 f . BT-Drucks . 14/8524, 13; Generalbundesanwalt (Fn . 11), 55; Basak (Fn . 32), 516; von der Groeben (Fn . 11), 486; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 207 f . Im Ergebnis wird dabei häufig das VStGB als spezielleres Gesetz die Normen des StGB in Gesetzeskonkurrenz verdrängen, siehe Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 45 f . Vgl . etwa Ambos (Fn . 52), Völkerstrafrecht, 1727 . Safferling (Fn . 15), § 6 Rn . 108 . Siehe auch Steiger/Bäumler (Fn . 11), 201 .
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Umgekehrt ist daneben zu konstatieren, dass die grundsätzliche Befugnis zum gezielten Einsatz von Kriegswaffen für Soldaten eben auch bedeutet, dass ihnen damit eine große Verantwortung aufgebürdet wird .79 Wer das Recht bekommt, gezielt Waffen zu verwenden, die große Zerstörungen verursachen sollen, und dazu da sind, Menschen teilweise in großer Zahl zu verletzen und zu töten, der hat damit auch die Pflicht, dies verantwortungsvoll und unter Einhaltung der für den Einsatz dieser Waffen geltenden Regeln zu tun .80 Dem entspricht auch einerseits die geltende Gesetzeslage, die mit § 1a Abs . 2 WStG die umfassende Geltung des gesamten deutschen Strafrechts für das Verhalten deutscher Soldaten im Auslandseinsatz anordnet .81 Von einer solchen umfassenden Geltung auch des allgemeinen Strafrechts ging auch offensichtlich der Gesetzgeber des VStGB aus; dieses ist, wie sich schon aus seinem § 2 ergibt, nur als Ergänzung des allgemeinen Strafrechts konzipiert, nicht als dessen Ersetzung .82 Der bestehende normative Rahmen auch für einen Einsatz militärischer Gewalt in einem bewaffneten Konflikt ist somit relativ klar . Im Sinne eines klassischen Begriffsverständnisses von Rechtssicherheit als Orientierungssicherheit über das geltende Recht ist dieses hier jedenfalls nicht weniger eingehalten als in der gesamten Rechtsordnung üblich . Allerdings bedeutet dieses Verständnis natürlich gerade keine Sicherheit vor dem Recht für Soldaten, vielmehr unterstehen sie dessen Bewertungen in gleichem Maße wie jeder andere Bürger auch . V. (hInteR-) gRünde
FüR eIne
BeReIchsausnahme –
und Was daVon
zu halten Ist
Damit lässt sich zusammenfassend konstatieren: Eine am Wortlaut der Norm, der Gesetzessystematik und dem Willen des historischen Gesetzgebers orientierte Auslegung der Normen spricht dafür, dass VStGB und StGB entsprechend den allgemeinen Konkurrenzregeln des Strafrechts nebeneinander stehen .83 Es gibt zudem gute teleologische Gründe für ein solches Ergebnis . Damit stellt sich aber die Frage, warum dennoch die oben beschriebene Forderung nach einer Bereichsausnahme für Soldaten während eines bewaffneten Konflikts von der Geltung des StGB erhoben wird .
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In diesem Sinne auch Fabian Stam, Degradiert – der Soldat vor Gericht, FAZ vom 11 .7 .2012, unter . Vgl . dazu auch Steiger/Bäumler (Fn . 11), 210 f ., die auf die entlastende Wirkung der Einhaltung der völkerrechtlichen Befugnisse für Soldaten hinweisen, womit aber auch die Einschränkungen dieser Befugnisse für diese individuell gelten . Siehe die Nachweise o . in Fn . 57 . Generalbundesanwalt (Fn . 11), 54 f .; Diehl (Fn . 52) . So im Ergebnis auch Vermerk des Generalbundesanwalts (Fn . 11), 51 ff .; ebenso Ambos (Fn . 52), Völkerstrafrecht, 1727, und Ambos (Fn . 5), Vorbem . §§ 8 ff . VStGB Rn . 45; Basak (Fn . 31), 516 ff .; Diehl (Fn . 52); Frister/Korte/Kreß (Fn . 52), 10; von der Groeben (Fn . 11), 486; Jeßberger (Fn . 52), 2; Kaleck/Schüller/Steiger (Fn . 47), 272; Safferling (Fn . 15), § 8 Rn . 27; Safferling/ Kirsch (Fn . 11), 85; dies. (Fn . 37), 485; Steiger/Bäumler (Fn . 11), 206 ff .
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1. politiSche forderungen Eher in der politischen Diskussion kommen Argumente auf, die etwa ein „Signal für die gesellschaftliche Unterstützung der Truppe“ fordern .84 Warum dieses Signal aber gerade dadurch gesendet werden soll, dass Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht sanktionsfrei gestellt werden, erschließt sich nicht – und eine gesellschaftliche Mehrheit für ein „Ja“ auf die Frage „Sollen deutsche Soldaten im Auslandseinsatz auch gegen die Genfer Konventionen verstoßen dürfen?“ ist zumindest nicht offensichtlich zu erwarten . Auch die gelegentlich anzutreffende Forderung, die „Ausnahmesituation des Kriegseinsatzes“ müsse angemessen berücksichtigt werden, es gehe nicht an, dass Soldaten in einem Kampfeinsatz wegen Verstößen gegen Umweltschutznormen belangt würden,85 entbehrt nach dem oben gesagten einem Fundament: Das Straftatsystem ist eben sehr wohl in der Lage, auch Ausnahmesituationen wie einen militärischen Kampfeinsatz adäquat abzubilden . Und bei auch nur leichtem Nachdenken fällt es gar nicht leicht einzusehen, warum es deutschen Soldaten ohne eine rechtfertigende Notlage eigentlich erlaubt sein soll, die Umwelt stärker zu schädigen, als dies nach deutschen Umweltstrafrecht zulässig wäre – ist die Natur in Afghanistan per se weniger wichtig als die im Schwarzwald?86 Schließlich ist auch das Reklamieren von „Waffengleichheit“ mit Angreifern, die sich ihrerseits nicht an die Normen des Kriegsvölkerrechts halten,87 eines Rechtsstaates nicht würdig88 . Es ist nun einmal dessen Charakteristikum, sich an die eigenen Normen auch dann zu halten, wenn dies diejenigen nicht tun, gegen die der Staat vorgeht . Ansonsten wäre Strafverfolgung jeder Art ein sehr trübes Geschäft . Gerade das Kriegsvölkerrecht hat den Sinn, jede Armee unabhängig davon im Zaum halten zu wollen, ob dies auf allen Seiten eines Konfliktes gelingt .89 Das „tu quoque“ ist im Recht insgesamt, und im humanitären Völkerrecht erst Recht, kein tragfähiger Einwand .90 84 85 86 87
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Siehe etwa den stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag Andreas Schockenhoff unter . Richter (Fn . 16), 37 . Zur Geltung des deutschen Umweltstrafrechts auch für Soldaten im Auslandseinsatz siehe auch Norbert B . Wagner, Gewässerverunreinigung und Auslandseinsätze der Bundeswehr, UBWV (2008), 441 ff . In diese Richtung argumentieren etwa die damaligen US-Regierungsrechtsberater John Yoo und Robert J . Delahunty in einem Entwurfsvermerk vom 9 .1 .2002, Application of Treaties and Laws to Al Qaeda and Taliban Detainees, zugänglich unter . Daher gilt hierzu auch die erwidernde Aussage von Toni Pfanner, David gegen Goliath oder asymmetrische Kriegsführung, HuV-I (2005), 171; „Reziprozität kann allerdings nicht als Argument für eine Nichterfüllung humanitärrechtlicher Verpflichtungen herangezogen werden.“ . ICTY im Fall Kurpeškić, IT-95-16-T vom 14 .1 .2000, Par . 518 . Siehe dazu auch Geiß (Fn . 10), 123 f ., der bei fortgesetzter Verletzung des humanitären Völkerrechts durch eine Konfliktpartei vor einer Abwärtsspirale bzgl . der Einhaltung dieser Normen auch durch andere Parteien warnt, eine solche Zurückdrängung dieser Normen aber gerade im asymmetrischen Konflikt strategisch für einen schweren Fehler hält, weil so der Kampf um „Herzen und Köpfe“ („winning the ‚hearts and minds‘ of the Afghan population“) verloren würde und damit langfristige Ziele unerreichbar würden .
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2. gründe für die rechtSWiSSenSchaftliche diSkuSSion Dementsprechend belassen es die angesprochenen Fachtexte auch bei weniger Pathos und versuchen, es bei den oben bereits besprochenen Sachargumenten zu belassen . Will man die dahinter stehenden Grundhaltungen ergründen (die wohl in ähnlicher Form auch die politischen Akteure bewegen), kann man sich nur mit mehr oder weniger gut begründeten Mutmaßungen behelfen . Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist wohl die Rückkehr eines elementaren Freund-Feind-Denkens . Dies ist in einem laufenden bewaffneten Konflikt verständlich und natürlich . Andererseits ist aber seit der politischen Philosophie von Carl Schmitt und der auf Günther Jakobs zurückgehenden Debatte um den Begriff des Feindstrafrechts91 hinreichend ins Bewusstsein gerückt worden, dass ein solches Weltbild in Freund-Feind-Kategorien direkten Einfluss auch auf die Rechtssetzung und -anwendung haben kann .92 Während dies bei der Behandlung der Feinde zur Zurückdrängung der Anerkennung ihrer Rechtspositionen führt,93 zeigt sich hier spiegelbildlich eine Tendenz, „unsere“ Soldaten zumindest dann juristisch schonen zu wollen, wenn sie gerade gegen diese Feinde vorgehen . Hier bahnt sich also eine Art „Freundstrafrecht“ den Weg . Damit verbunden, aber anders akzentuiert, kann man auch vermuten, dass diejenigen, die im hier beschriebenen Sinne straf- und völkerrechtliche Standards für die eigenen Soldaten senken wollen, ein anderes Leitbild einer bundesdeutschen Armee im Blick haben, als es lange tradiert wurde . Gerade im Hinblick auf die schwierige Diskussion um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg war die Selbstbeschreibung der Bundeswehr lange geprägt von Begriffen wie „Staatsbürger in Uniform“, „innerer Führung“ oder „demokratischer Armee“ .94 Die Einhaltung aller geltenden Gesetze und Normen war geradezu ein Kern des Selbstverständnisses einer Armee, die vor allem nichts mehr mit NaziKriegsverbrechen zu tun haben sollte .95 Die Bundeswehr hatte einen Verteidigungsauftrag, von dem aber alle Beteiligten hofften, er werde nie aktuell werden . Dieses Verständnis hat sich in einer Zeit, in der deutsche Soldaten wie geschildert seit Jahren an verschiedensten Stellen der Welt im Einsatz und auch im Kampfeinsatz ste-
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Grundlegend dazu Günther Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung, ZStW 97 (1985), 751 ff ., und ders ., Terroristen als Personen im Recht ?, ZStW 177 (2005), 839 ff . Die hierzu geführte Debatte resultiert inzwischen in 55 bei juris nachgewiesenen Aufsätzen zum Schlagwort „Feindstrafrecht“ und in 16 in der Deutschen Nationalbibliothek nachgewiesenen einschlägigen Monografien . Zur Verbindung zwischen Jakobs und Carl Schmitt siehe beispielsweise Luís Greco, Feindstrafrecht, 2010, 24 ff . Auch hierzu nur grundlegend Günther Jakobs, Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit, HRRS (2006), 290 ff . Anschaulich vorgeführt im Memo von Yoo/Delahunty (Fn . 87) . Siehe etwa Frank Bötel, InnereFührungundStaatsbürgerinUniform, unter . So auch ausdrücklich Frank Bötel, Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr, unter .
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hen, zumindest verschoben .96 Die Priorität liegt heute für viele auf der Effizienz und Einsatzfähigkeit eines Kampfheeres .97 Die auch rechtliche Erweiterung des zur Verfügung stehenden Handlungsspielraumes hat aus dieser Perspektive eine nicht zu leugnende inhärente Logik .98 Allgemein fügt sich eine solche Haltung in ein Sicherheitsparadigma, in dem die innere und äußere Sicherheit ein immer stärkeres Gewicht gegenüber den einzelnen und ggf . auch den „Feinden“ eines Staats zustehenden Rechtspositionen bekommt . Diese allgemeine Diskussion soll hier gar nicht aufgerollt werden, aber das hiesige Einzelproblem fügt sich nahtlos in diese allgemeinere Debatte zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit .99 Zumindest wenn man die „Stärkung“ der Sicherheit auch so begreift, dass der Handlungsspielraum der Sicherheitsbehörden, hier des Militärs, ausgedehnt werden soll,100 passt eine Bereichsfreistellung von Soldaten in Kampfeinsätzen von den „Fesseln“ des allgemeinen Strafrechts gut in ein entsprechendes Konzept . 3. eine gegenpoSition Begreift man dagegen das Recht als Instrument der Freiheitssicherung und -ermöglichung,101 ergibt sich daraus auch die in der Einleitung beschriebene Perspektive, eine Funktion des Rechts in der Begrenzung und Bindung der Staatsgewalt zu sehen .102 Der mit überlegenen Machtmitteln ausgestattete Staat und die in seine Verwaltung eingebundenen Personen dürfen diese Machtposition nicht willkürlich gegen den einzelnen Menschen einsetzen, sondern ausschließlich in dem – manchmal engen – Rahmen, den die Rechtsnormen ihnen zubilligen . Verfassungsrechtlich ist dies durch Art . 1 Abs . 3, 20 Abs . 3 GG abgesichert .103 Zu dieser Staatsgewalt zählt auch das Militär – gerade im Hinblick auf den Wortteil „Gewalt“ stärker als jeder andere Teil des Staatsapparates .104 Dass es für dieses ein seinen Aufgaben und Besonderheiten angepasstes Sonderrecht gibt,105 ist dazu 96 Dazu auch Wolfgang Winkler, Bundeswehr braucht archaische Kämpfer, Die Welt vom 29 .2 .2004, unter ; siehe aber auch schon früh Hans-Georg v . Studnitz, Abschied vom Staatsbürger in Uniform, Der Spiegel 38 (1967), 40 f . 97 Dazu gehört dann nach Wolgang Kaleck, Mit zweierlei Maß, 2012, 124 das Bemühen, „sich weitgehend gegen […] Vorwürfe von Kriegsverbrechen […] zu immunisieren“ . 98 Darstellend hierzu auch Geiß (Fn . 10), 124 ff . 99 Beispielhaft aufgeschlüsselt wird diese etwa bei Annegret Bendiek, An den Grenzen des Rechtsstaates: EU-USA-Terrorismusbekämpfung, SWP-Studie (2011), unter , 21 ff . 100 Darstellend Bendiek (Fn . 99), 21 f .; siehe auch Hobe (Fn . 10), 82 zur Neigung, den Handlungsspielraum in Konflikten mit nichtstaatlichen Gegnern auch über die Beschränkungen des Völkerrechts hinaus auszuweiten . 101 Dazu etwa Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes (2009), 116 ff . 102 Siehe die Nachweise in Fn . 2 . 103 Schwenck (Fn . 33), 100 . 104 Haid (Fn . 61), 5; Schwenck (Fn . 33), 100 . 105 Dazu gehört das Wehrrecht insgesamt und das WStG im Besonderen, welches spezifische Zusatznormen bezogen auf die Tätigkeit des Soldaten enthält . Hierin allerdings ein neben dem VStGB allein anwendbares Sondermilitärstrafrecht zu sehen, welches angeblich sogar „umfassen-
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kein Widerspruch . Besondere Befugnisse zur Erfüllung seiner Aufgaben braucht jede Behörde, und gerade beim Militär gehört dazu auch die Befugnis zum Einsatz teilweise schweren Kriegsgeräts mit den entsprechenden tödlichen Folgen .106 Diese Sonderbefugnisse sind aber – und gerade das macht die Gesetzesbindung der Verwaltung aus – an eng definierte Voraussetzungen geknüpft und enden genau da, wo diese Voraussetzungen nicht eingehalten werden . Für Soldaten im Kampfeinsatz werden diese Voraussetzungen vor allem von den Normen des humanitären Völkerrechts definiert . Kampfhandlungen außerhalb dessen Vorgaben sind völkerrechtswidrig, aber auch nach deutschem Recht nicht rechtmäßig .107 Dann gilt das, was für jeden Polizisten, Fahrkartenkontrolleur oder Mitarbeiter des Jugendamtes auch gilt: Da die Sonderbefugnisse überschritten sind, entfalten diese keine im Sinne des Strafrechts rechtfertigende Wirkung mehr .108 Sind dann Straftatbestände erfüllt, kommt eine Strafbarkeit des Amtsträgers oder eben auch des Soldaten nach dem allgemeinen Strafrecht in Betracht .109 Wird demgegenüber gefordert, dass allgemeine Strafrecht im Kampfeinsatz komplett zu suspendieren und ausschließlich die Sondertatbestände des VStGB gelten zu lassen,110 ist die Gesetzmäßigkeit des Handelns der Staatsgewalt an dieser Stelle nicht mehr gewährleistet . Soldaten im bewaffneten Konflikt unterlägen damit einer allgemein stark privilegierten Sonderrechtsordnung; die abwehrrechtliche Funktion der Strafsanktion für schwere Rechtsgutsverletzungen wäre erheblich eingeschränkt . Damit treten zu den dogmatischen Einwänden gegen eine solche Bereichsausnahme tiefer gehende Gegenargumente: Gerade das als Begründung für eine solche Ausnahme herangezogene Verfassungsrecht enthält die Gesetzesbindung der Staatsgewalt als Grundprinzip,111 und die aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflichtendogmatik,112 die eben nicht erst einmal für die Repräsentanten des Staates, sondern in abwehrrechtlicher Tradition zunächst einmal für die Individuen streitet . Beide schließen ein Zurückfahren der strafrechtlichen Sanktionen für tödliche Waffeneinsätze weitgehend aus . Das Grundgesetz steht insoweit in einer liberalen rechtsphilosophischen Tradition, aus welcher das ableitbar ist, was wir heute als Rechtsstaat bezeichnen .113 Diese Grundposition über Bord zu werfen, um Soldaten, welche sich eben nicht an die geltenden Regeln für den Einsatz von Kriegswaffen gehalten haben, pauschal vor einer Strafverfolgung zu schützen, wäre ein schlimmer Bruch mit rechtsstaatlichen Positionen . Zudem untergraben gerade diese „freundstrafrechtlichen“ Tendenzen massiv alle Forderungen nach Einhaltung von Menschenrechten gegenüber an-
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der als das allgemeine Strafrecht“ sein soll, so Richter (Fn . 16), 38, verkennt den Spezialitätsgrad der Normen und auch das systematische Verhältnis des WStG zum StGB, siehe Dau (Fn . 7), Vorbem . §§ 1 ff . WStG Rn . 4 . Frister/Korte/Kreß (Fn . 52), 11 . von der Groeben (Fn . 11), 486 . Siehe auch Steiger/Bäumler (Fn . 11), 211 . von der Groeben (Fn . 11), 486 ff . Oder höchstens daneben noch das WStG, so Richter (Fn . 16), 37 f . Dazu ausführlich Roman Herzog / Bernd Grzeszick, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67 . Erglfg ., 2013, Art . 20 GG Abschn . VI Rn . 1 ff . Siehe etwa BVerfGE 39, 41 f .; 46, 164; 49, 141 f .; Herdegen (Fn . 2), Art . 1 Abs . 3 GG Rn . 19 ff . Dazu beispielsweise Norbert Horn, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2007, Rn . 89 ff .
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deren Staaten; denn wenn schon westlichen „Musterländer“ wie Deutschland deren universelle Geltung nicht anerkennen, ist es schlecht zu vermitteln, warum autoritär bis autokratisch regierte Staaten diese als verbindlich betrachten sollten .114 VI. schlussBetRachtung Es ist eine gute Tradition, auch herrschende Meinungen in der Rechtswissenschaft auf den Prüfstand zu stellen und mit Gegenpositionen herauszufordern . Die hier vorgestellten Versuche, das allgemeine Strafrecht für Soldaten im Kampfeinsatz ganz oder teilweise zu dispensieren, stellen eine solche Gegenposition dar . Die Auseinandersetzung mit einer solchen Herausforderung zwingt zur Reflexion der Gründe für eine bestehende Meinung, so dass sowohl die zugrunde liegenden Haltungen wie auch deren konkrete rechtsdogmatische Ausformung noch einmal genau betrachtet werden müssen . Begreift man demgemäß ein dem Grundgesetz entsprechendes, in der Tradition der Aufklärung stehendes liberales Rechtsverständnis als Basis der deutschen Rechtsordnung, und stellt diesem eine auch historisch bedingt hohe Affinität zur Stärkung des Völkerrechts und insbesondere der Menschenrechte zur Seite – Art . 25 GG sei wenigstens erwähnt –, lässt sich eine Bereichsausnahme von der Geltung des Strafrechts, verbunden mit einer erheblichen Schwächung der Kraft des humanitären Völkerrechts, kaum begründen . Es gibt, wie gezeigt, dafür auch weder eine dogmatische Notwendigkeit, weil die bestehende Straftatsystematik ohne weiteres geeignet ist, auch Ausnahmesituationen wie kriegerische Konflikte adäquat einzuordnen . Noch erscheint eine solche Ausnahme politisch sinnvoll zu sein, weil sie im Umkehrschluss auch den normativen Schutz des humanitären Völkerrechts für die eigenen Truppen schwächt . Betrachtet man den Krieg nicht mehr als Zustand rechtlos-anarchischer Gewalt und Soldaten nicht als außerhalb des allgemeinen Rechts stehende Truppe, ist das Eingangszitat aus Sicht des 21 . Jahrhunderts zurückzuweisen . Im Krieg ist bei weitem nicht alles erlaubt, und gerade Deutschland tut gut daran, die Verbindlichkeit insbesondere des humanitären Völkerrechts als stete Verpflichtung und auch als Herausforderung an die eigene Rechtsstaatlichkeit zu begreifen .
114 Andrian Kreye, Niederlage im Kampf um Herzen und Köpfe, SZ vom 21 .4 .2010, unter ; Kaleck (Fn . 97), 115 ff .
MiriaM gaSSner, Wien Recht und FRIeden: FRIedenssIcheRung mIlItäRInteRVentIon?
mIttels
Von deR entWIcklung des InteRVentIonsRechts Im 19. und 20. JahRhundeRt aus RechtsphIlosophIscheR und VölkeRRechtsgeschIchtlIcheR sIcht1 I. eInleItung Der Begriff der Intervention ist einer der verworrensten und unklarsten in der gesamten Völkerrechtswissenschaft . Das hat vor allem zwei Gründe: Einmal ist die Intervention ein Begriff eminent politischer Natur, dessen sich die verschiedenen Meinungen und Weltanschauungen, politische Doktrinen und Programme von jeher bemächtigt haben . Der andere Grund, der den Begriff der Intervention so unklar und vieldeutig erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass die Diplomatie – eben gerade weil er politisch färbbar ist – ihn häufig gebraucht . So kam es, dass sich der Interventionsbegriff im Laufe der Geschichte so häufig wandelte, wie kaum ein anderer Begriff . Galt die Intervention noch zu Ende des 18 . Jahrhunderts, in der Zeit der französischen Revolution, als eine „Manifestation der geknechteten Völker“, so wandelte sie sich im 19 . Jahrhundert zum Kernstück der konservativen Politik der europäischen Großmächte . Selbst die katholische Kirche bezog hinsichtlich der im 19 . Jahrhundert auftretenden Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit von Interventionen Stellung: So bezeichnete der Papst in der Encyclica vom 8 . Dezember 1864 (syllabus errorum) den Gedanken eines generellen Interventionsverbotes als eine „moralische Verwirrung, die ketzerisch und verdammungswürdig“ sei .2 Zu Beginn des 20 . Jahrhunderts setzte sich dann ein grundsätzliches Interventionsverbot in der Völkerrechtslehre durch, von dem nur durch einen Beschluss einer internationalen Organisation und zum Zwecke der „Friedenssicherung“ abgewichen werden kann . II. dIe InteRVentIon
Im
19. JahRhundeRt
Die „Epoche des klassischen Völkerrechts“, welche mit dem Westfälischen Frieden beginnt und im Wesentlichen bis zum Ersten Weltkrieg andauert, ist durch den von Jean Bodin geschaffenen Begriff der Souveränität gekennzeichnet .3 In dieser Epoche entwickelte sich der Begriff der Souveränität als Kennzeichen der Unabhängigkeit nach außen und innen und stellte die tragende Säule des gesamten Systems des 1
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Der Aufsatz enthält Ergebnisse meiner Dissertation „Die völkerrechtlichen Beziehungen der Habsburgermonarchie zu Südamerika 1815–1867“ (Wien 2013) . Für wertvolle Hilfe und Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrages danke ich Univ .-Prof . Dr . Thomas Olechowski, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften . Gerhard Ostermeyer, Die Intervention in der Völkerrechtstheorie und Praxis, 1940, 1 . Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 2008, 37 .
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klassischen Völkerrechts dar . Demnach hatte kein Staat dem andern gute Lehren oder unerbetene Ratschläge zu erteilen, sich zum Richter über ihn aufzuwerfen oder sich sonst in seine Angelegenheiten einzumischen .4 Zahlreiche Institutionen und Regeln des klassischen Völkerrechts wie der Grundsatz der Staatengleichheit oder eben das Interventionsverbot, lassen sich aus der staatlichen Souveränität bzw . dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ableiten .5 Alexander Gauland, der sich mit der Interventionsproblematik in der ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts beschäftigte, definierte den Interventionsbegriff des beginnenden 19 . Jahrhunderts als „diktatorische Einmischung gegen den Willen des betroffenen Staates in dessen innere oder äußere Angelegenheiten“ .6 Eine Intervention lag demnach dann vor, wenn einerseits eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates vorlag und zum anderen militärische Gewalt eingesetzt oder angedroht wurde . Im klassischen Völkerrecht wurde unter Intervention lediglich die autoritative Einmischung, das heißt eine solche verstanden, die mit Gewalt oder Androhung von Gewalt verbunden war, während eine bloße Beeinflussung (Interzession) nicht vom Interventionsbegriff umfasst war . Das Interventionsrecht ist nur im Zusammenhang mit dem Kriegsrecht verständlich, auf das in der Völkerrechtswissenschaft viel ausführlicher eingegangen wurde, und von dem auch gewisse Lehren auf die Intervention übertragen wurden . Hatte noch bis zum Ende des 18 . Jahrhunderts in Anknüpfung an die Lehren des hl . Augustinus, an Thomas von Aquin und später an Hugo Grotius weitgehend Übereinstimmung darüber bestanden, dass ein Krieg nur dann zulässig war, wenn eine „iusta causa“, also ein Rechtfertigungsgrund, vorlag, so ließ auch das Erstarken der Souveränitätslehre das Kriegsrecht nicht unbeeinflusst: Zur Betrachtung des Krieges als „gerechten Krieg“, als Reaktion auf ein Unrecht, trat mit dem Vordringen des Souveränitätsgedankens die Vorstellung hinzu, dass jeder Krieg, zu dem ein Souverän (bzw . ein souveräner Staat) sich entschloss, per se rechtens sei und keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte . In der späten Epoche des klassischen Völkerrechts, also im 19 . Jahrhundert, gingen manche Völkerrechtler sogar soweit, aus der Souveränität ein Recht zum Kriege – liberum ius ad bellum – abzuleiten . Durch die nach dem Wiener Kongress weit verbreitete Auffassung, dass sich aus dem Souveränitätsprinzip ein ius ad bellum ergebe, wurde auch der dem Völkergewohnheitsrecht entstammende Grundsatz der Nichtintervention in Frage gestellt: Emer de Vattel folgend, der sich in seinem 1758 erschienenen Werk „Droit des Gens“ – soweit ersichtlich – als erster ausführlich mit dem Begriff der Intervention auseinandersetzte und dessen Gedanken wohl die Ideen Niccolo Machiavellis und Jean Bodins zugrunde liegen, war eine Intervention beispielswiese dann zulässig, wenn ein Rechtsgrund gegeben war .7 Der Rechtsgrund konnte entweder juristischer (etwa der Schutz des Lebens und des Eigentums oder der eigenen Untertanen im Ausland) oder moralischer Natur (vor allem die Intervention aus humanitären
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Leopold Freiherr von Neumann, Grundriss des heutigen europäischen Völkerrechtes, 1885, 10 . Hobe (Fn . 3), 367 . Alexander Gauland, Das Legitimitätsprinzip in der Staatenpraxis seit dem Wiener Kongress, Schriften zum Völkerrecht, Bd . 20, 1971, 34 . Emer de Vattel, Droit des gens, ou principes de la loi naturelle appliqués a la conduite et aux affaires des nations et des souverains, 1758, Buch I § 37, sowie Buch II §§ 54–57 .
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Gründen) sein .8 Emer de Vattels Auffassung von der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Intervention bei Vorliegen eines „Rechtsfertigungsgrundes“ wurde im Europa des beginnenden 19 . Jahrhunderts bald zur herrschenden Auffassung, zumal auch die am Wiener Kongress ins Leben gerufene Heilige Allianz, bzw . die Ostmächte Österreich, Preußen und Russland ihrerseits Vattels Rechtsauffassung teilten und das Selbstschutzrecht als einen Rechtsgrund für eine Intervention ansahen . Sie verankerten dies schließlich sogar im Troppauer Protokoll vom 19 . November 1820 .9 Wie sich aus dem Troppauer Protokoll ergibt, stellte der Rechtsauffassung der Ostmächte zufolge schon die bloße Tatsache einer revolutionären, mit den traditionellen monarchischen Institutionen in Widerspruch stehenden Verfassung einen legitimen Interventionsgrund dar . Das Troppauer Protokoll stellte darüber hinaus klar, dass eine bewaffnete Intervention auf jeden Staat ausgedehnt werden könne, wo die Resultate einer Revolution andere Staaten bedrohten .10 Weiteres, wie die Interventionen der Allianz in Neapel/Piemont und Spanien, wurde in den dem Wiener Kongress folgenden Jahren auf den Kongressen von Laibach (1821) und Verona (1822) beschlossen und nach damals herrschender Meinung völkerrechtskonform durchgeführt: Hinsichtlich der Intervention zur gewaltsamen Unterdrückung der Aufstände in Neapel und Piemont rechtfertigte Metternich die Entsendung eines österreichischen Expeditionskorps in einer Circulardepêche vom 12 . Mai 1821 mit den Worten, „[…]dass innerstaatliche Änderungen nur von denen rechtmäßig herbeigeführt werden dürfen, die von Gott in ihrer Funktion eingesetzt wurden .“11 Einen tiefen Einschnitt in der Interventionspolitik der Allianzmächte stellte die Verkündung der Monroe-Doktrin im Dezember 1823 dar, die die bis dahin de facto vorherrschende Interventionsfreiheit der Allianzmächte erstmals in Schranken wies . Durch die Monroe-Doktrin wurden die Rechtfertigungsgründe, deren sich die europäischen Mächte bis dahin nach freiem Belieben bedient hatten, erstmals enger umrissen und ihre Machtsphäre auf das europäische Territorium beschränkt . Dies bedeutete jedoch keineswegs das Ende der Interventionsversuche der Allianz-Mächte in Südamerika: Als die USA in den 1860er Jahren aufgrund des USamerikanischen Bürgerkriegs zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, um sich als Schutzmacht in Süd- und Mittelamerika zu betätigen, nutzten England, Spanien und Frankreich die Gunst der Stunde, um, getrieben von wirtschaftsbzw . machtpolitischen Interessen, in Mexiko zu intervenieren und so in Mittel- und langfristig wohl auch in Südamerika wieder Fuß zu fassen . Mexiko, das 1848 im Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo etwa die Hälfte seines Staatsgebietes an die USA hatte abtreten müssen und dessen Territorium sich 1853 durch den Verkauf des Südteiles von Arizona an die USA („Gadsden Purchase“) 8 9 10 11
Ebd . Gauland (Fn .6), 34 . Österreichisches Staatsarchiv, Abteilung HHStA, St .K ., Kongressakten, Kongress von Troppau 1820, Kart . 21, Fasz . Troppau 1820 I (fold . 1–109) 161–172 . „Les Souverains alliés regardaient comme legalement nulle et desavoueé par les principes qui constituent le droit public de l’Èurope, toute pretendue reforme operée par la revolte et la force ouverte. Les changements utiles ou necessaires dans la legislation et dans l’administration des Etats ne doivent emaner que de la volonté libre, de l’impulsion refléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendus responsables du pouvoir.“ (zit . nach: Gauland [Fn . 6], 34) .
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neuerlich verringert hatte, war 1860 nach einem mehr als zwölf Jahre andauernden, blutigen Bürgerkrieg an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gelangt und so verfügte der mexikanische Kongress am 17 . Juli 1861 ein Gesetz, mit dem die Rückzahlungen der Auslandsschulden umgehend gestoppt wurden . Spanien, England und Frankreich – die Hauptgläubiger Mexikos – wurden durch das Moratorium besonders hart getroffen und so traten schließlich diese drei Mächte auf Initiative des Madrider Kabinetts im Oktober 1861 in London zusammen12 und einigten sich darüber, gemeinsam gegen Mexiko vorzugehen und Schadenersatz zu verlangen .13 Als Mexiko sich weigerte, Schadenersatz zu leisten, unterzeichneten Spanien, England und Frankreich am 30 . Oktober 1861 die Londoner Konvention (Tripartie Treaty of London), deren erklärtes Ziel es war, die Schuldenrückzahlung durch eine gemeinsame Militärintervention zu erzwingen . Schon im Dezember 1861 landeten alliierte Truppen in Mexiko . Während die spanischen und englischen Truppen bereits nach wenigen Monaten wieder abgezogen wurden, verblieben die französischen Truppen mit der Begründung der „Friedenssicherung“ weiterhin im Land, besetzen dieses, wandelten es 1864 in eine Monarchie um und setzten den Habsburger Ferdinand Maximilian als Kaiser von Mexiko ein .14 Die Intervention in Mexiko gab in ganz Südamerika Anlass zu großer Sorge, denn die meisten südamerikanischen Staaten waren bei europäischen Staaten stark verschuldet . Wie die Intervention in Mexiko gezeigt hatte, bot die Nichtbezahlung von Schulden den europäischen Mächten eine Möglichkeit zur „völkerrechtskonformen“ Intervention, vor der sie nicht einmal die Monroe-Doktrin und die Vereinigten Staaten zu schützen vermochten . Aus diesem Grund drängte der argentinische Diplomat Carlos Calvo im Jahre 1867 erstmals auf die Aufnahme einer später als sog . Calvo-Klausel bekannt werdenden Bestimmung in den Handelsvertrag mit England, die eine gewaltsame Intervention aufgrund der Nichtbezahlung ausstehender Schulden verbot .15 Die Militärintervention in Mexiko gab zahlreichen (Rechts-)Philosophen Anlass, sich Gedanken über die Legitimität militärischer Interventionen zu machen . Hervorzuheben sind v . a . die Gedanken Karl Marx’ über die Intervention in Mexiko, die er in seinem Artikel vom 23 . November 1861 in der New York Daily Tribune zu Papier brachte: „[…] Three States are combining to coerce a fourth into good behavior, not so much by way of war as by authoritative interference in behalf of order . […] Authoritative interference in behalf of order! This is literally the Holy Alliance slang, and sounds very remarkable indeed on the part of England, glorying in the non-intervention principle! And why is ‚the way of war, and of declaration of war, and all other behests of international law,‘ supplanted by ‚an authoritative interference in behalf of order?‘ […] It is probable that, among the many irons which, to amuse the French public, Louis Bonaparte is compelled to always keep in the fire, a Mexican expedition may have figured . It is sure that Spain, whose never overstrong head has been quite turned by her recent cheap successes in Morocco and St . Domingo, dreams of a restoration in Mexico . 12 13 14 15
a . A . Karl Marx, The Intervention in Mexico, New York Daily Tribune vom 23 . November 1861: „It is therefore certain that the joint intervention in its present form is English-Palmerston-make.“ Hans Joachim König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, 404 . Miriam Gassner, Die völkerrechtlichen Beziehungen der Habsburgermonarchie zu Südamerika, 2013, 175 . Ernst Reibstein, Völkerrecht – Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis II – Die letzten zweihundert Jahre, 1963, 682 .
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But, nevertheless, it is certain that the French plan was far from being matured, and that both France and Spain strove hard against a joint expedition to Mexico under English leadership . […] England, France, and Spain, planning a new Holy Alliance, and having formed themselves into an armed areopagus for the restoration of order all over the world .“16
Aus marxistischer Sicht bestand im 19 . Jahrhundert also grundsätzlich ein – auf dem Souveränitätsgedanken beruhendes – Interventionsverbot; der entscheidende Unterschied zur klassischen Völkerrechtslehre bestand darin, dass als einzige Ausnahme von diesem Verbot der „Klassenkampf des Proletariats“ angesehen wurde, was dann im 20 . Jahrhundert in der Breschnew-Doktrin eine neue Ausgestaltung finden sollte . Einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des Interventionsrechts stellte schließlich die von Deutschland, England und Italien 1902/03 verhängte Blockade der venezolanischen Häfen dar: Nachdem die Forderungen der in Venezuela lebenden europäischen d . h . vorwiegend deutschen Unternehmer, die während des venezolanischen Bürgerkrieges von der venezolanischen Regierung enteignet worden waren, nicht beglichen wurden und die venezolanische Regierung sich auch nach Ende des Bürgerkrieges weigerte, ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zum Ersatz dieser Schäden nachzukommen und behauptete, dass es sich dabei um eine innere Angelegenheit Venezuelas handle, beschlossen Deutschland, England und Italien, gemeinsam für die Befriedigung sämtlicher Forderungen einzutreten: Zuerst wurde eine Handelsblockade verhängt, die bald darauf zur militärischen Blockade umgewandelt wurde . Nach Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu Venezuela unterzeichnete Venezuela schließlich aus Angst vor einer europäischen Militärintervention einen (völkerrechtlich einem Friedensvertrag entsprechenden) Vertrag .17 Der argentinische Außenminister Jorge Drago nahm die Venezuela-Blockade zum Anlass, ein völkerrechtliches Memorandum über die Unzulässigkeit von Militärinterventionen zur „Schuldeneintreibung“ zu verfassen . Darin hob er hervor, dass die gewaltsame Eintreibung von Geldforderungen grundlegenden Sätzen des Völkerrechts zuwiderlaufe und dass sie erst recht nicht einen Vorwand zur Besetzung amerikanischer Gebiete durch europäische Mächte bilden dürfe (Drago-Doktrin) . Das Schreiben Dragos beginnt mit den Worten: „[…] Vorweg ist anzumerken, dass der Kapitalist, der sein Geld einem fremden Staat leiht, immer die Leistungsfähigkeit des Landes und die Wahrscheinlichkeit der pünktlichen Erfüllung der eingegangenen Verpflichtung in Betracht zieht . Der Kredit, den eine Regierung genießt, richtet sich nach ihrem Kulturgrad und nach ihrem Geschäftsgebaren; und diese Gelegenheiten werden vor der Gewährung einer Anleihe genau geprüft, so dass die Anleihebedingungen je nach den genauen Unterlagen über die die Bankenwelt jederzeit verfügt, mehr oder weniger entgegenkommend gestaltet werden . Der Geldgeber weiß in erster Linie, dass er mit einem souveränen Rechtsträger kontrahiert; zum Wesen der Souveränität gehört aber, dass gegen sie kein Verfahren zur Vollstreckung eines Urteils eingeleitet werden kann . […] Die Anerkennung der Schuld und ihre vollständige Begleichung kann und muss von der Nation ohne Minderung ihrer Souveränitätsrechte bewirkt werden, die summarische, gewaltsame Eintreibung der ganzen Summe in einem gegebenen Augenblick würde indessen zu nichts anderem führen als zum Ruin der schwächsten Nationen und zur Aufsaugung der ihnen zustehenden Hoheitsrechte durch die Mächtigen der Erde . […] Die Tatsache, dass die Eintreibung nicht gewaltsam erfolgen darf, macht andererseits die Anerkennung der öffentlichen Schuld, die klare Zahlungsverpflichtung
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Karl Marx, The Intervention in Mexico, New York Daily Tribune vom 23 . November 1861, http:// www .marxists .org/archive/marx/works/1861/11/23 .htm (heruntergeladen am 28 .11 .2012) . Reibstein (Fn . 15), 688 .
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Zu Beginn des 20 . Jahrhunderts wurden schließlich weite Teile der Drago-Doktrin auf der 2 . Haager Friedenskonferenz durch das 2 . Haager Abkommen betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Vertragsschulden vom 18 . Oktober 1907 positiv-rechtlich verankert .19 Der Grundsatz der Nichtintervention fand wenig später auch Eingang in die Völkerbundsatzung: Zwar blieb das staatliche Kriegsführungsrecht (und somit a maiore ad minus wohl auch das Interventionsrecht) nach wie vor bestehen, die Völkerbundsatzung erklärte aber jede Kriegsführung (und somit, wie es Hanna Geßler in ihrer Dissertationsschrift20 feststellt, auch grundsätzlich das Interventionsrecht!) gemäß Artikel 11 zu einer Sache des gesamten Bundes und unterwarf die Konfliktparteien dem verpflichtenden Versuch, die Streitigkeiten vor der Anwendung von Waffengewalt der Schiedsgerichtsbarkeit oder dem Völkerbundrat zu unterbreiten (Art . 12 Abs . 1) .21 Die praktischen Fälle, in denen der in Art . 11 bzw . 12 statuierte Mechanismus zur Anwendung gelangte, waren jedoch nur wenige, die meist die Beilegung von Grenzstreitigkeiten (Grenzkonflikt Bolivien-Paraguay 1928, polnisch-litauischer Grenzstreit 1920, etc .) nicht jedoch militärische Interventionen zum Gegenstand hatten .22 Noch weiter ging der Briand-Kellogg-Pakt vom 27 . August 1928, auch Kriegsächtungspakt genannt, in dem die Vertragsparteien vereinbarten, ihre Konflikte „niemals anders als durch friedliche Mittel“ zu regeln, militärische Mittel – und dazu gehörte jedenfalls auch die Intervention – also generell ausschlossen . Die Bedeutung der nach dem amerikanischen Außenminister Kellogg und dem französischen Außenminister Briand benannten Vereinbarung, beruhte vor allem darin, dass sie für Mitglieder wie für Nichtmitglieder des Völkerbundes (d . h . auch für Russland!) Gültigkeit beanspruchte und jeden Angriffskrieg verbot . Folglich wurde im Zuge dieser Entwicklung auch der Interventionsbegriff nach dem Ersten Weltkrieg neu definiert . So etwa beschrieb der deutsche Völkerrechtler Karl Hettlage die Intervention als das objektive gebieterische Eingreifen eines Staates in die ihm fremden Beziehungen zweier oder mehrerer anderer Staaten ohne die Zustimmung beider oder eines von ihnen, und namentlich in die inneren Angelegenhei-
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Karl Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Bd . 2, 1911/12, 106 . Hanspeter Neuhold / Waldemar Hummer / Christoph Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd . 1, 2004, 351 (so lautet Artikel 1: „Die Vertragsmächte sind übereingekommen, bei der Eintreibung von Vertragsschulden, die bei der Regierung eines Landes für deren Angehörige eingefordert werden, nicht zur Waffengewalt zu schreiten […] .“) . Hanna Geßler, Sinn und Tragweite des Art. 11 der Völkerbundsatzung, 1931, 1 . Hans Wehberg, Die Völkerbundsatzung, 1929, 93 . Wehberg (Fn . 21), 82 .
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ten eines Staates ohne Rücksicht auf den Willen dieses Staates in der Absicht, entweder den derzeitigen Stand der Dinge in ihm aufrecht zu erhalten oder zu ändern .23 Ein aus dem Gewaltverbot abgeleitetes Interventionsverbot wurde von den europäischen Staaten und westlichen Rechtstheoretikern und Völkerrechtlern bis nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten, während die UdSSR nach 1917 zunächst die typische, auf dem marxistischen Gedankengut basierende Haltung des revolutionären Außenseiters bezog: Nach marxistisch-leninistischer Rechtsauffassung war die Intervention lediglich den kapitalistischen Staaten gegen die Sowjetunion, nicht aber den Arbeitern im Klassenkampf untersagt .24 In der westeuropäischen Rechtstradition setzte sich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend die Rechtsauffassung durch, dass eine Intervention zwar nur unter äußerst eng umrissenen Voraussetzungen – aber, sofern diese vorlagen, sehr wohl – als völkerrechtlich zulässig erachtet wurde . Diese Entwicklung, die wohl auch durch die Entstehung zahlreicher, die staatliche Souveränität einschränkender internationaler Organisationen gegen Mitte des 20 . Jahrhundert bedingt war, stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der zugleich einsetzenden Abschwächung des Souveränitätsgedankens, der dazu führte, dass sich die Vorstellung einer vollkommenen staatlichen Souveränität immer mehr als Fiktion erwies . Im Zuge dieser Entwicklung trat die Vorstellung eines generellen Interventionsverbotes immer mehr in den Vordergrund, von dem nur, wenn die Entscheidung dafür nicht von einem einzelnen Staat, sondern in bzw . von den Gremien einer internationalen Organisation getroffen wurde und auf humanitären Gründen basierte, abgewichen werden konnte . So war der österreichische Jurist Hans Kelsen, der 1933–1940 am Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales und danach an verschiedenen amerikanischen Universitäten (Harvard, Berkeley) lehrte, der Auffassung, dass der Briand-Kellogg-Pakt übers Ziel schieße, indem er jede Form von Gewaltanwendung ächte, aber keine Mittel zur Verfügung stelle, Konflikte auf anderem Weg zu lösen . So wie eine Repressalie als Reaktion auf erlittenes Unrecht möglich sei, so sei auch ein Krieg – nur – aus einem „gerechten Grund“ möglich, womit er indirekt die Lehre vom bellum iustum wiederbelebte .25 Kelsens Ansatz ging aber noch weiter: Sein Ziel war die Schaffung einer neuen internationalen Organisation (für die er die Bezeichnung Permanent League of the Maintenance of the Peace vorschlug), welche das Monopol für zwischenstaatliche Gewalt haben sollte: Militäraktionen sollten nur mehr dann rechtmäßig sein, wenn sie erfolgten, um ein Urteil des Internationalen Gerichtshofes zu vollstrecken .26 Obwohl sich Hans Kelsen als Pazifist verstand und dies auch in seiner Autobiographie aussprach,27 betrachtete er die Anwendung von Gewalt und somit auch die bewaffnete Intervention zur Friedenssicherung – unter der Voraussetzung, dass diese auf einem Urteil des sog . Weltgerichts basierte, und somit völkerrechtskonform er23 24 25 26 27
Karl Hettlage, Die Intervention im System der modernen Völkerrechtslehre, Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht 37 (1927), 1 ff . zit . nach: Geßler (Fn . 20), 1 . Neuhold/Hummer/Schreuer (Fn . 19), 370 . Hans Kelsen, Die Technik des Völkerrechts und die Organisation des Friedens, Zeitschrift für Öffentliches Recht XIV (1934), 240–255, 243 . Hans Kelsen, Peace through law, 1944, 138 . Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Hans-Kelsen-Werke, Bd . 1, 2007, 80 .
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folgte – als zulässig . Insofern erstaunt es auch nicht, dass Kelsen, der während des Zweiten Weltkriegs von den USA mit der Erstellung eines Gutachtens28 über das künftige Schicksal Deutschlands und Österreichs beauftragt wurde, den USA dazu riet, nach der als Grundlage für jede weitere Handlung eingetretenen Debellatio29 des Deutschen Reiches dieses zu besetzen und ein Kondominium auf den Staatsgebieten des (ehemaligen) Deutschlands und Österreichs zu errichten, um in den völkerrechtlich legitimen Besitz der vollen völkerrechtlichen Souveränität dieser Gebiete zu gelangen .30 Er begründet dies damit, dass ein Friedensvertrag nur wieder zu einem „Diktatfrieden“ wie jenem von 1919 werden würde, den kein deutscher Staatsmann ohne Gefahr für Leib und Leben31 unterzeichnen könne; dass aber andererseits eine bloße militärische Besetzung nach den Bestimmungen der Art . 42–56 der Haager Landkriegsordnung den Alliierten kaum Möglichkeiten gebe, auf die politische Neuordnung Deutschlands und Österreichs Einfluss zu nehmen . Sein Vorschlag ist also von den Motiven einer Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands und Österreichs getragen; dennoch wurden seine Lehren von der deutschen Völkerrechtslehre wie auch der Staatsrechtslehre fast einstimmig abgelehnt . Dem Gedankengut Kelsens zur Schaffung eines „Weltgerichts“ wurde schließlich im Zuge der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) 1945 in San Francisco, an der Kelsen jedoch nicht unmittelbar beteiligt war, zumindest teilweise Rechnung getragen . Seit der Gründung der Vereinten Nationen ist die Schlüsselnorm des Gewalt- und somit wohl auch (bewaffneten) Interventionsverbotes Art . 2 Abs . 4 der Satzung der Vereinten Nationen (SVN), die im Übrigen sogar gegenüber Nichtmitgliedern der Vereinten Nationen gilt . Gewaltanwendung – und somit auch die bewaffnete Intervention – ist nach heute geltendem Völkerrecht nur dann völkerrechtskonform, wenn sie entweder im Zuge erlaubter Selbstverteidigung (Art . 51 SVN) oder als zulässige Sanktion eines zentralen Organs wie dem UN-Sicherheitsrat (SR) im Sinne des von den Vereinten Nationen konzipierten Systems der kollektiven Sicherheit erfolgt (Art . 24 i . V . m . Art . 39 SVN) .32 Eine weitere, wenn auch bloß regional beschränkte Ausgestaltung erlebte das Interventionsverbot durch zahlreiche Verträge, die zwischen den lateinamerikanischen Staaten und den USA seit der Präsidentschaft Roosevelts im Sinne der good neighbourhood policy geschlossen wurden . Die im Zuge der Dekolonisation nach 1945 unabhängig gewordenen Staaten traten ebenfalls für eine positiv-rechtliche, über das bloße Gewaltverbot hinausgehende Ausgestaltung des Interventionsverbotes ein . So fand sich dieses beispielsweise in Art . 5 des Gründungsvertrages der Liga Arabischer Staaten 1945 wieder .33 Auch in der sozialistischen Welt stellte ab 1945 das Interventionsverbot einen Eckpfeiler des intersozialistischen Völkerrechts dar, die beispielsweise auch in die
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Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to be established immediately upon Termination of the War, The American Journal of International Law 38, 1999, 689 . Unter Debellatio versteht Kelsen: „[…]the complete destruction of the military power of the enemy, the elimination of any possible resistance on the part of the defeated state, so that wartime precariousness has ceased to exist and the conquest of the territory is firmly established.“ Kelsen (Fn . 28), 692 . Er verweist dabei ausdrücklich auf das Schicksal von Matthias Erzberger . Neuhold/Hummer/Schreuer (Fn . 19), 356 . Neuhold/Hummer/Schreuer (Fn . 19), 370 .
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Präambel des Warschauer Paktes, sowie in dessen Art . 8 aufgenommen wurde .34 Im Jahre 1965 wurde schließlich auch auf sowjetische Initiative die Deklaration über die Unzulässigkeit der Intervention in die inneren Angelegenheiten der Staaten in die Resolution 2131 (XX) durch Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgenommen . Eine Abweichung vom grundsätzlich bestehenden Interventionsverbot stellte die am 12 . November 1968 auf dem 5 . Parteitag der polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vom damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew verkündete Breschnew-Doktrin dar: Sie ging von einer „beschränkten Souveränität“ der sozialistischen Staaten aus und leitete daraus das Recht der „Bruderstaaten“ ab, einzugreifen, wenn in einem dieser Staaten der Sozialismus bedroht würde . Die Breschnew-Doktrin bildete eine nachträgliche Rechtfertigung für den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings im Jahre 1968 . Schließlich ist noch auf die Normierung des Prinzips der Nichteinmischung in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von Helsinki vom 1 . August 1975 hinzuweisen . Darin wird in Punkt VII der KSZE-Schlussakte ein Eimischungsverbot in die äußeren und inneren Angelegenheiten gefordert . In der Schlussakte spiegelt sich eindeutig das Bemühen der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin wider, zu einer möglichst weiten Ausdehnung des geschützten innerstaatlichen Bereiches zu gelangen, um so zum einen möglichst ungestört innenpolitisch operieren zu können und zum anderen westliche Maßnahmen als Verstoß gegen die KSZE-Schlussakte zu diskreditieren .35 IV. dIe InteRVentIon
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Eine der bedeutendsten völkerrechtlichen Interventionen, welche für die heute vorherrschende völkerrechtliche Qualifikation der Intervention charakteristisch ist, fand im Jahre 1990 anlässlich des Einmarsches irakischer Truppen in Kuwait („Kuwait-Invasion“) statt: Nachdem am 2 . August 1990 irakische Truppen unter der Regentschaft Saddam Husseins in Kuwait einmarschierten, um sich das Scheichtum einzuverleiben und damit die Kontrolle über 20 Prozent der weltweiten Ölvorräte zu gewinnen, reagierte die USA – ihrerseits Schutzmacht Kuwaits – auf die Aggression Saddam Husseins gegen Kuwait energisch: Anstatt jedoch, wie es noch im 19 . Jahrhundert üblich und völkerrechtskonform gewesen wäre, eigenhändig zur Waffengewalt zu schreiten, setzte die USA alles daran, eine breite internationale Koalition zu schmieden (der schlussendlich sogar die Sowjetunion und das US-kritische Syrien angehören sollten!) und den UN-SR dazu zu bewegen, den unverzüglichen und bedingungslosen Rückzug der Iraker mittels der Verhängung scharfer Wirtschaftssanktionen zu erwirken .36 Als Saddam Hussein ein ihm vom UN-Sicherheitsrat gestelltes Ultimatum, seine Truppen aus Kuwait zurückzuziehen, ungenutzt verstreichen ließ, ermächtigte der UN-SR schließlich Ende November 1990 die Mitglieder der Anti-Saddam-Koalition, „alle erforderlichen Maßnahmen zu setzen, um den 34 35 36
Neuhold/Hummer/Schreuer (Fn . 19), 370 . Jost Berstermann, Das Einmischungsverbot im Völkerrecht, Europäische Hochschulschriften Reihe II Rechtswissenschaft, 1098 (1991), 76 . Fischer Weltalmanach, Pulverfass Irak, 2004, 11 .
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Abzug der irakischen Truppen aus Kuwait zu bewirken .“ Am 17 . Januar 1991 begann unter US-amerikanischer Führung unter dem Decknamen Wüstenschild eine Militärintervention in Kuwait, die ein wochenlanges Bombardement und ca . 3000–5000 Todesopfer forderte . Auch wenn sich die „Rechtfertigungsgründe“, die ein Abweichen vom völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtintervention ermöglichen, im Laufe der Zeit maßgeblich geändert haben, so bleibt doch zu hinterfragen, ob sich nicht in den meisten Fällen – auch hinter einer völkerrechtskonformen Intervention – eine unzulässige Einmischung in die Souveränität eines Staates verbirgt, die sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart (wie uns die Beispiele Mexiko und Irak/Kuwait gezeigt haben) oft auf wirtschaftlichen Interessen des intervenierenden Staates bzw . der intervenierenden Staaten beruht . Gerade im heutigen Völkerrecht ist die Frage, ob ein Organ wie der UN-SR, in dem vor allem die fünf ständigen Mitgliedstaaten ihren wirtschaftlichen, nationalen und politischen Interessen hemmungslos freien Lauf lassen können, ein geeigneter Entscheidungsträger ist, um über die Zulässigkeit des Eingriffs in die Souveränität eines Staates zu entscheiden, daher aktueller und diskussionsbedürftiger denn je .
Verena riSSe, frankfurt aM Main dIe JanusköpFIgkeIt staatlIcheR zWangsgeWalt – legItImItät odeR deR noRmatIVItät?
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Staatliche Zwangsgewalt wird regelmäßig mit Verweis auf ihre Janusköpfigkeit, d . h . ihren freiheitseinschränkenden Aspekt einerseits und ihren freiheitsermöglichenden Aspekt andererseits, charakterisiert . Doch begründet diese janusköpfige Gestalt staatlichen Zwangs tatsächlich eine spezifische staatliche Normativität oder handelt es sich lediglich um die Lösung eines Legitimationsproblems? In anderen Worten: Hat Appiah Recht, wenn er behauptet, „states matter morally intrinsically“?1 Diese Frage ist in letzter Zeit nicht nur in der Diskussion um die Reichweite von Gerechtigkeitspflichten mit Verweis auf die spezifische Zwangsbefugnis des Staates affirmativ beantwortet worden . Insbesondere Michael Blake stützt sich in seinem Argument, wonach Gerechtigkeitspflichten eine lediglich nationale Dimension haben, auf die janusköpfige Einzigartigkeit staatlichen Zwangs .2 Ob sich diese Annahme begründen lässt, möchte der vorliegende Beitrag erörtern und dabei zu den Kantischen Wurzeln des liberalen Verständnisses von Zwangsgewalt zurückkehren . Dies wird anhand folgender Schritte geschehen: Der erste Abschnitt widmet sich der Erläuterung der Fragestellung sowie der Definition der verwendeten Begrifflichkeiten (I) . Anschließend soll dargestellt werden, warum die Problematik relevant ist und wie sie sich lösen lässt (II) . Ob die verschiedenen Lösungsansätze begründet sind, wird in den folgenden Abschnitten anhand einer Analyse von Kants Verständnis des Verhältnisses von Zwang und Recht im Naturzustand (III) und im bürgerlichen Zustand (IV) erörtert . Daraus resultierende Schlussfolgerungen werden im finalen Abschnitt (V) gezogen . I. FRagestellung
und
BegRIFFlIchkeIten
Die neuerliche Aufmerksamkeit, die der staatlichen Zwangsgewalt seit einigen Jahren zuteil wird3, wirft die Frage auf, ob sich aufgrund ihres janusköpfigen Charakters tatsächlich eine spezifische staatliche Normativität begründen lässt oder ob der Verweis auf das jeweils andere Gesicht lediglich ein Legitimationsproblem löst . Die hiermit skizzierte Problematik sowie die relevanten Begrifflichkeiten sollen in diesem Abschnitt kurz erläutert werden .
1 2 3
Anthony Appiah, Cosmopolitan Patriots, Critical Inquiry 23 (1997), 624 . Michael Blake (2002), Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy, Philosophy and Public Affairs 30 (2002), 257–296 . Ähnlich Thomas Nagel, The Problem of Global Justice, Philosophy and Public Affairs 33 (2005), 113–147 . Neben den in Fn . 2 erwähnten Aufsätzen, z . B . insb . die zwischen Abizadeh und Miller geführte Diskussion über Zwangsgewalt an der Staatsgrenze . Vgl . Arash Abizadeh, Democratic Theory and Border Coercion: No Right to Unilaterally Control Your Own Borders, Political Theory 36 (2008), 37–65; David Miller, Why Immigration Controls Are Not Coercive: A Reply to Arash Abizadeh, Political Theory 38 (2010), 111–120 .
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Mit Janusköpfigkeit ist zunächst auf die Tatsache verwiesen, dass staatliche Zwangsgewalt häufig dergestalt charakterisiert wird, dass sie einerseits individuelle Freiheit einschränkt und andererseits individuelle Freiheit ermöglicht . So greift der Staat beispielsweise in die Freiheit des Einzelnen ein, wenn eine Person in Polizeigewahrsam genommen oder für das Übertreten einer Verkehrsregel zur Kasse gebeten wird . Auf der anderen Seite werden mittels staatlicher Zwangsgewalt nicht nur staatliche Interessen geltend gemacht, sondern auch individuelle Rechte garantiert und die Einhaltung von unter Privatpersonen geschlossenen Verträgen durchgesetzt . Zudem schafft das Wissen um die Tatsache, dass Gesetze durchgesetzt werden, Erwartungssicherheit und Vorhersehbarkeit, welche ebenfalls die Ausübung von Freiheit erleichtern . Zwangsgewalt soll im Folgenden in einem weiten Sinne verstanden werden . Mit dem Begriff wird somit in erster Linie allgemein die Durchsetzungsgewalt des Staates bezeichnet . Dabei wirkt Zwangsgewalt, indem einer Person ein Übel in Aussicht gestellt oder zugefügt wird, um diese Person zum Tun oder Unterlassen einer bestimmten Handlung (gegen ihren Willen) zu bewegen . Weiter gilt es in zunächst allgemeiner Form die Unterscheidung zwischen Normativität und Legitimität zu klären, womit zugleich bereits in den zweiten Teil übergeleitet wird . Mit der Frage nach der Normativität staatlicher Zwangsgewalt ist gemeint, ob die spezifische Form staatlicher Zwangsgewalt, die sich durch ihre Janusköpfigkeit auszeichnet, auch spezifische normative Forderungen oder Erwartungen nach sich zieht . Das heißt, entstehen beispielsweise aus der Zustimmung zu zwangsbewehrten Institutionen oder aus der Zugehörigkeit zu einem System staatlichen Zwangs wie über die Nationalität besondere Pflichten? Demgegenüber beschreibt Legitimität die Tatsache, dass die Konstruktion nur ein Legitimationsproblem löst, wobei die normative Forderung nach diesem dann allerdings einen anderen Ursprung hat . In diesem Fall könnte der Verweis auf den freiheitsbefördernden Aspekt der Zwangsgewalt den freiheitseinschränkenden Aspekt ausgleichen oder übertreffen . II. Was
steht auF dem
spIel?
Die Konsequenzen der Beurteilung, d . h . die Einordnung als entweder einen Fall der Normativität oder der Legitimität, lassen sich sowohl generell als auch spezifisch formulieren . Generell könnte im Staat und in den Beziehungen zwischen Staatsbürgern eine spezifische Normativität begründet sein . Diese Annahme verbirgt sich beispielsweise hinter Anthony Appiahs Aussage, der zufolge „states matter morally intrinsically“ .4 Gegeben, dass staatliche Zwangsgewalt eines der signifikantesten Alleinstellungsmerkmale des Staates darstellt, scheint es zumindest nicht abwegig, zu vermuten, dass diese spezifische Normativität mit der Zwangsgewalt zusammenhängt . Spezieller wird diese Annahme auch in einer Diskussion getroffen, die in der politischen Philosophie seit einigen Jahren unter dem Schlagwort der „globalen Gerechtigkeit“ geführt wird . Die zentrale Frage, die in dieser Diskussion behandelt 4
Anthony Appiah, Cosmopolitan Patriots, Critical Inquiry 23 (1997), 624 .
Die Janusköpfigkeit staatlicher Zwangsgewalt
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wird, ist die nach der Reichweite von Gerechtigkeitspflichten . Gerechtigkeitspflichten werden dabei in einem starken Sinn verstanden . Das heißt, gelten gegenüber Personen, mit denen man nicht die Staatsbürgerschaft teilt, mehr als nur allgemeine basale Hilfspflichten oder die Beachtung und Einforderung von Menschenrechten, nämlich relationale Pflichten sozialer bzw . Verteilungsgerechtigkeit? Eine Ausdehnung der Gerechtigkeitspflichten auch außerhalb des Staates wird von bedeutenden Stimmen in der Debatte verneint und dies auch mit Verweis auf die staatliche Zwangsgewalt . Die wohl einflussreichste und meistdiskutierte Formulierung stammt von Michael Blake und findet sich in dessen 2002 erschienenen Aufsatz Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy . Blake argumentiert, dass jede Person zwar allgemeine Hilfspflichten und moralische Pflichten gegenüber Fremden hat, ihr diesen gegenüber jedoch keine Gerechtigkeitspflichten im engeren Sinne obliegen . Gleichwohl vertritt er eine liberale Position, von der er zeigen möchte, dass sie nicht im Widerspruch zu einer begrenzten Reichweite von Gerechtigkeitspflichten steht . Liberaler Ausgangspunkt seiner Argumentation ist daher der Wert der Autonomie . Diese wird mit Joseph Raz als diejenige Möglichkeit (und Fähigkeit) verstanden, sich selbst Ziele zu setzen und diese zu verfolgen .5 Da die Autonomie das höchste Gut darstellt, darf sie nicht beeinträchtigt werden, mindestens jedoch bedarf jeder Eingriff einer Rechtfertigung . Zwangsgewalt stellt nun aber definitionsgemäß einen Eingriff in Autonomie dar, indem sie einen anderen Menschen zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen bewegt . Dies gilt insbesondere auch für staatliche Zwangsgewalt . Somit müsste auch diese entweder unterbleiben oder, sollte dies nicht möglich sein, gerechtfertigt werden . Da die Zwangsgewalt im Staat instrumentell notwendig ist, bedarf sie einer Rechtfertigung . Und nur im Staat, so das Argument weiter, kumuliert diese in relationalen Gerechtigkeitspflichten . Das bedeutet für Blake: „only between people who share the coercive mechanisms of a state does a concern for specifically economic egalitarian justice become appropriate .“6 Gerechtigkeitsforderungen sind demnach normative Pflichten, die nur unter denjenigen ausgelösten werden, die über die staatliche Zwangsgewalt verbunden sind . Die Besonderheiten des staatlichen Zwangs, die Blake im Zuge der Argumentation identifiziert, sind dabei zweierlei . Zum einen verweist er auf dessen direkten, unmittelbaren Charakter .7 Zum anderen führt er die janusköpfige Gestalt staatlicher Zwangsgewalt an, über die er schreibt „only the state is both coercive of individuals and required for individuals to lead autonomous lives“ .8 Im internationalen Raum dagegen, so Blake, findet sich keine entsprechende oder zumindest keine ähnliche Form der Zwangsgewalt . So schreibt Blake: „The global order is not coercive .“9 Daher gibt es keine außerstaatlichen relationalen Gerechtigkeitspflichten, d . h . es gibt keine Gerechtigkeitspflichten gegenüber Personen, die einem anderen Staat angehören und somit nicht die eigenen nationalen Zwangsinstitutionen teilen .
5 6 7 8 9
Blake (Fn . 2), 276 ff . Dieses Verständnis von Autonomie ist damit zu unterscheiden von dem Kantischen Freiheitsbegriff, der infra eine Rolle spielen wird . Blake (Fn . 2), 258, 276 . Blake (Fn . 2), 280 . Blake (Fn . 2), 280 . Blake (Fn . 2), 265, 280 .
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Blakes Position hat eine Welle der Kritik hervorgerufen, die sich besonders auf die Frage bezieht, ob und inwiefern Zwang im Allgemeinen und staatlicher Zwang im Besonderen Auslöser von Gerechtigkeitsforderungen sein können . Zweifel an der spezifischen Normativität können bei Blakes Argument bestehen, da die Gerechtigkeitspflichten als eine Art überschießende Legitimation des Zwanges erscheinen . Überschießend wären sie insofern, als sie mehr verlangen, als zur Legitimation der Freiheits- bzw . hier Autonomieeinschränkung notwendig ist . In diesem Sinne schreibt auch Simon Caney: „Suppose we concede that (state) coercion requires justification . It is far from clear why a commitment to justification entails a commitment to egalitarianism . This again, depends on what justification requires .“10 Sollte es sich wiederum nicht um einen Fall überschießender Gerechtigkeitsforderungen handeln, würde das bedeuten, dass, sobald eine Rechtfertigung im Sinne einer Freiheitsermöglichung stattfindet, dies die normative Forderung nach Gerechtigkeitspflichten ausfüllt . Damit wäre dann aber der spezifisch staatliche Aspekt infrage gestellt . Vielmehr gälte die Forderung dann ebenso für Zwangsgewalt internationaler Organisationen wie für staatliche Zwangsgewalt an der Staatsgrenze . III. JanusköpFIgeR zWang
In
kants RechtsphIlosophIe: deR natuRzustand
Um Licht in dieses Problem zu bringen, scheint eine Auseinandersetzung mit Kants Verständnis von Zwangsgewalt zu lohnen . Dies ist insbesondere der Fall, da Kants Satz von der „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“11 oftmals als Wurzel der liberalen Rechtfertigung von Zwangsgewalt mit ihrer Annahme der Janusköpfigkeit legitimen Zwangs gilt . Zudem erlauben Kants detaillierte Ausführungen über das Verhältnis zwischen Zwang und Recht eine differenzierte Auseinandersetzung . Beginnen wir also mit diesem Satz der zweifachen Verneinung . Er findet sich im § D der „Einleitung in die Rechtslehre“ in der Metaphysik der Sitten und lautet vollständig „[w]enn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d . i . unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d . i . Recht .“12 Mit dieser doppelten Negation macht Kant zwei Aussagen, eine methodische und eine inhaltliche . In methodischer Hinsicht bedeutet der Satz, dass die Verhinderung der Einschränkung eines Gutes diesem Gut dient und es befördert . Inhaltlich bedeutet er, dass die Beurteilung dessen, was rechtens ist, sich an der „Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ messen lassen muss .13 Dieser Verweis auf das Verhältnis von Recht und Freiheit legt nahe, dass der Satz nur im größeren systematischen Kontext der Kantischen Rechtsphilosophie zu begreifen und einzuordnen ist . Teile davon sollen daher hier skizziert werden, um den 10 11 12 13
Simon Caney, Global Distributive Justice and the State, Political Studies 56 (2008), 504 . Kant, AA VI, 231 . Es wird nach der Akademie-Ausgabe der gesammelten Schriften Kants zitiert . Dabei bezeichnet die römische Zahl den Band und die arabische Ziffer die Seite . Kant AA VI, 231 . Vgl . zu dieser Interpretation auch Marcus Willaschek, ‚Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit‘ und ‚Zweiter Zwang‘, in: Subjektivität und Anerkennung, hg . von Barbara Merker / Georg Mohr / Michael Quante, 2004, 276 .
Die Janusköpfigkeit staatlicher Zwangsgewalt
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Aspekt der Verhinderung des Hindernisses der Freiheit erläutern und die Frage nach der Janusköpfigkeit beantworten zu können . Moralischer Kern des Systems ist das angeborene Recht der Freiheit, das jedem Menschen kraft seines Menschseins zukommt . Freiheit wird dabei verstanden im Sinne einer „Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür, sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach allgemeinem Gesetz zusammen bestehen kann“ .14 Das bedeutet, dass das Freiheitsrecht als natürliches bzw . moralisches Recht unabhängig von jeder gesellschaftlichen Institutionalisierung besteht und bereits in dieser Form nur soweit reicht, wie niemand anderes angeborenes Freiheitsrecht tangiert wird . Der Freiheitsbegriff unterscheidet sich somit von dem Autonomiebegriff, der Blakes Argumentation zugrunde liegt und der auf die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen und diese zu verfolgen, abstellt . Wenngleich dieser inhaltliche Unterschied in anderen Zusammenhängen sehr bedeutend ist, scheint er jedoch im Fall der vorliegenden strukturellen Untersuchung der Zwangsgewalt nicht ins Gewicht zu fallen . Somit lässt sich Kants Argumentation strukturell auf Blakes Fall übertragen . Wird diese Freiheit behindert, d . h . überschreitet eine andere Person die Grenzen ihres Freiheitsrechts, so liegt ein Fall von Zwang im negativen Sinne vor . Verhindert man dies ebenfalls unter Einsatz einer freiheitseinschränkenden Handlung, so handelt es sich um ein Hindernis eines Hindernisses der Freiheit und ist folglich rechtens . Dies zeigt, dass Freiheit und Zwang nicht nur insofern zusammenhängen, als Zwang als Freiheitseingriff definiert wird . Mehr noch, Zwang entsteht im Moment der Ausübung der Freiheit über die Grenzen des Freiheitsrechts hinaus . Oder anders ausgedrückt: Freiheit verkehrt sich in Zwang in dem Moment, in dem diese Grenzen überschritten werden . Dabei bleibt der Zwang jedoch ein Instrument, das nur extern wirkt; wobei „extern“ hier einer internen Wirkung gegenübersteht, wie sie moralische Normen, die verinnerlicht werden, entfalten . Gleichermaßen wirkt Zwang auch nur auf den äußeren Teil des Freiheitsrechts ein und nicht auf dessen inneren moralischen Kern . Eine zusätzliche normative Bedeutung erhält diese Beziehung, insofern Kant resümiert „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“ .15 Das legt zunächst nahe, dass Recht nicht mit Zwang an sich definitorisch verknüpft ist, wohl aber ist es die Befugnis zu zwingen . Aber was genau bedeutet und beinhaltet diese Immanenz von Recht und Befugnis zu zwingen? Zunächst einmal, so soll hier als Interpretation vorgeschlagen werden, handelt es sich bei der Aussage, Recht und Befugnis zu zwingen seien einerlei, um eine Aussage über das Recht . Mit der Rechtsinhaberschaft geht die Autorität zu zwingen einher . Bei Kant heißt es ausführlicher: „[M]an kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwangs mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen .“16 Das heißt, die beiden Teile sind nicht als zwei verschiedene, sondern als eines zu denken . Wer das Recht hat, ist befugt zu zwingen . Daher ist die Rechtsausübung mit dem Zwang verbunden, mein Recht zu respektieren . Folglich scheint die Zwangsdurchsetzung des Rechts bzw . die Möglichkeit, dieses mittels Zwang einzufordern, direkt aus dem Rechtsverständnis ableitbar . Genauer folgt auch aus dem reziproken Cha14 15 16
Kant, AA VI, 237 . Kant AA VI, 232 . Kant, AA VI 232 .
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rakter des Rechtsbegriffs die Unmittelbarkeit zwischen Recht und Zwang . In diesem Moment fallen somit beide Aspekte der Janusköpfigkeit als normative Einheit zusammen . Stellt man sich diese Theorie in ihrer praktischen Umsetzung vor, erhält die Konstruktion selbstjustizielle Züge, die an das antike römische Recht und spezieller an die römischrechtliche obligatio denken lassen . Mit der Praxis der obligatio verhielt es sich folgendermaßen . Wurde das Recht einer Person nicht respektiert, führte dies zu der direkten Haftung des Schuldners . Dabei haftete der Schuldner in der Frühzeit der Republik für die Verbindlichkeiten in der weit überwiegenden Zahl der Fälle mit seiner Person . Sofern er nicht in der Lage war, seine Schuld zu begleichen und ihm keine Angehörige oder Freunde beisprangen, drohte ihm die Tötung durch den Gläubiger oder alternativ der Verkauf in die Sklaverei . Es finden sich sogar Belege für die Praxis der partis secando, bei der mehrere Gläubiger einen Schuldner in Stücke schneiden durften . Erst in der Spätphase der römischen Republik wurde diese Praxis weitgehend von der Vermögensvollstreckung abgelöst .17 Es war jedoch nicht so, dass der Gläubiger nach eigenem Ermessen infolge eines Rechtsbruchs unmittelbar die obligatio einfordern und also vollstrecken konnte . Stattdessen musste der Gläubiger seine Forderung mittels einer Klage (actio) gegen den Schuldner geltend machen . Für jede obligatio war eine entsprechende actio vorgesehen . Diese actiones waren im edictum perpetuum aufgeführt und der Prätor gewährte sie dem Gläubiger nach Beurteilung des vorliegenden Falles .18 In dem beschriebenen System wird somit zwischen Schuld und Haftung nicht unterschieden, sie sind unmittelbar . Die Nichterfüllung einer Schuld führt zur Haftung, wodurch der Gläubiger direkte Zugriffsrechte auf den Schuldner hat . Dabei beschreibt obligatio anders als die angelsächsische obligation primär das (Gläubiger-) Recht als die (Schuldner-) Verpflichtung .19 Mit Blick auf Kant wird angenommen, dass er nicht nur Kenntnis über das römische System hatte, sondern offensichtlich auch nicht ganz unbeeinflusst davon geblieben ist .20 IV. JanusköpFIgeR zWang In kants RechtsphIlosophIe: deR BüRgeRlIche zustand Während die römischrechtliche obligatio freilich ein Rechtsinstitut der römischen Republik ist und somit einem gesellschaftlichen Zustand entspringt, ist das Kantische Freiheitsrecht, dessen System bis hierher beschrieben wurde, eines, das unabhängig von jeder gesellschaftlichen Ordnung und mithin bereits im Naturzustand existiert . Neben dem angeborenen Freiheitsrecht finden sich im Kantischen Naturzustand auch privatrechtliche Beziehungen, welche von staatlicher Beteiligung grundsätzlich unabhängig sind . Diese privatrechtlichen Beziehungen stehen in erster Linie im Zusammenhang mit dem Erwerb und Austausch von Gütern . Anders als das Freiheitsrecht, sind diese Erwerbsrechte nicht angeboren oder naturgegeben . 17 18 19 20
Heinrich Honsell, Römisches Recht, 2001, § 26 I 2 . Honsell (Fn . 17), § 26 II . Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition, 1996, 1 . I . d . S . auch Arthur Ripstein, Force and Freedom: Kant’s Legal and Political Philosophy, 2009, 54 .
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Stattdessen bedarf es eines affirmativen Aktes zu ihrer Begründung . Gleichzeitig ist das Freiheitsrecht Voraussetzung für die Aneignung, insofern die Möglichkeit freier Betätigung, wenn nicht gar eine Intention vorliegen muss, um ein äußeres Objekt zu verwenden . Der Naturzustand ist jedoch defizitär . Mit Arthur Ripstein lassen sich folgende drei Defekte benennen: Einseitigkeit der Handlungen und Willensäußerungen (unilateral choice), fehlende Durchsetzbarkeit (lack of enforcement) und Unbestimmtheit (indeterminacy) .21 Daher ist es geboten, den Naturzustand zu verlassen und in den von Kant so bezeichneten „bürgerlichen Zustand“22 überzutreten . Um die Pflicht zum Eintritt in einen bürgerlichen Zustand zu begründen, ist für Kant allerdings einzig die Freiheitseinschränkung von normativer Bedeutung . In den bürgerlichen Zustand einzutreten, ist eine moralische Pflicht und es darf sogar Zwang angewendet werden, um andere Personen zu diesem Schritt zu bewegen . Dieser Zwang wäre dann wiederum gedeckt durch den Satz, wonach die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit recht ist . Es ist an der Zeit, sich der Frage nach dem instrumentellen oder normativen Charakter der Janusköpfigkeit anzunähern . Zunächst ist festzuhalten, dass diese sich auf die staatliche Form von Zwangsgewalt, d . h . staatlichen Rechtszwang, bezieht und somit einer, die wir bei Kant im bürgerlichen Zustand suchen müssen . Im bürgerlichen Zustand finden sich sowohl neue Arten des Rechts als auch des Zwangs . Grundsätzlich handelt es sich bei dem neuen Rechtskomplex um den des öffentlichen Rechts . Hiermit sind die Gesetze bezeichnet, „die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen“ .23 Es gibt folglich Rechte, die den Staat konstituieren und sein institutionelles System definieren . Ferner gibt es Rechte, die das jeweilige äußere Mein und Dein definieren . Nachdem die Aneignung externer Objekte bereits im Naturzustand möglich gewesen war, dort jedoch nur provisorisch, da sie den Eingriffen anderer Personen ausgesetzt war, werden diese Eigentumsrechte nun fixiert . Mit Blick auf das angeborene Freiheitsrecht sind an dieser Stelle dessen interner und externer Teil zu unterscheiden . Der interne Teil bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft unangetastet, da er äußeren Eingriffen entzogen ist . Somit kann ihm gegenüber auch Zwang keine Wirkung entfalten . Der externe Teil der Freiheit hingegen ist derjenige, der auch im Naturzustand durch die exzessive Ausübung der Freiheitsrechte anderer Personen behindert werden konnte . Diese externe Freiheit wird im Moment der Konstitution des Volkes zu einem Staat vorübergehend der Idee nach aufgegeben . In dem ursprünglichen konstitutiven Vertrag (letztlich der Kantische Gesellschaftsvertrag) wird die äußere Freiheit für diesen konstitutiven Moment aufgegeben, um anschließend sofort als die Freiheit einer Person als Glied eines Volkes wieder aufgenommen zu werden . Bei Kant heißt es: „[U]nd man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit geopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d . i . in einem rechtlichen
21 22 23
Ripstein (Fn . 20), 145–181 . Kant, AA VI, 306 . Kant, AA VI, 311 .
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Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt .“24 In Bezug auf die Zwangsgewalt im Moment des Übergangs in den bürgerlichen Zustand fällt zunächst auf, dass Kants Ausführungen hier im Vergleich zum Freiheitsrecht weit weniger ausführlich sind . Hinweise finden sich nur sehr grundsätzlich in folgendem Zusammenhang: „[M]an müsse aus dem Naturzustande […] herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) darin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die Seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird […] .“25 Bei Kant gibt es folglich, anders als im Fall der externen Freiheit, keine ausdrückliche Aussage darüber, was im Moment der Staatskonstitution mit der individuellen Befugnis zu zwingen geschieht . Als Kehrseite des Freiheitsrechtes könnte es somit auch als bürgerlicher Zwang oder als bürgerliche Autorisierung zu zwingen wiedererstehen . Dies scheint allerdings mit der Formulierung zu konfligieren, wonach man sich einem „öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang“ unterwerfen solle . Stattdessen legt dies nahe, dass der Zwang nicht in neuer Form wiedergewonnen, sondern vollständig aufgegeben bzw . abgetreten wird . Der genaue Vorgang der Abtretung ist jedoch unklar, d . h . es bleibt dahingestellt, ob es sich um einen vollständigen Verzicht auf Zwangsausübung mit gleichzeitiger Abtretung der dazugehörigen Autorisierung handelt, oder ob die Autorisierung in einem eher demokratisch gefärbten Verständnis einer kontinuierlichen Erneuerung bedarf . In diesem Zusammenhang ist die Zwangsgewalt von der Strafe bzw . Sanktion zu unterscheiden . Strafe steht außerhalb des Sozialkontraktes, da nach Ansicht Kants in diesem nicht das Versprechen enthalten ist, sich strafen zu lassen, und so über sich selbst und sein Leben zu disponieren .26 Dahinter steht der Gedanke, dass niemand eine Strafe erhalten kann, weil er sie gewollt hat . Vielmehr erhält er eine Strafe, weil er eine strafbare Handlung gewollt hat . Andernfalls würde der Täter letztendlich sein eigener Richter .27 Daher ist Strafrecht das „Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, diesen wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ .28 Strafe ist ferner im Sinne eines ius talionis zu verstehen, welches die „einzige a priori bestimmende […] Idee des Strafrechts“29 darstellt . Die Strafe ist folglich von der Rechtsdurchsetzung mittels Zwang dadurch zu unterscheiden, dass die Strafe immer noch über die Rechtsdurchsetzung hinausgeht . Das heißt, sie beschränkt sich nicht darauf, beispielsweise das unerlaubt Entwendete zu restituieren, sondern belegt den Dieb mit einer zusätzlichen Sanktion . Es zeigt sich, dass während das System der subjektiven Freiheitsrechte und somit auch der Zwang durch den reziproken Charakter im vorstaatlichen Zustand bedingungslos ist, ist der Zwang im Staat konditional in Bezug auf die Werte, die es zu verwirklichen gilt . Diese Interpretation deckt sich mit Arthur Ripsteins Einschät24 25 26 27 28 29
Kant, AA VI, 315–315 . Kant, AA VI, 128 . Kant, AA VI, 335 . Kant, AA VI, 335 . Kant, AA VI, 331 . Kant, AA VI, 332 .
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Die Janusköpfigkeit staatlicher Zwangsgewalt
zung, mit der sich resümieren lässt: „the fundamental rationale for the exercise of police power is to create a regime of equal private freedom . In order to do so, the state must create and sustain the systematic preconditions both of the exercise of private freedom and of its ability to provide them .“30 V. schlussFolgeRungen
und aBschlIessende
BemeRkungen
Folgt man dieser Lesart, die – wie ich darzulegen versucht habe – in dem Kantischen System angelegt und zudem mit den gängigen Interpretationen vereinbar ist, so steht die normative Bedeutung der Janusköpfigkeit der staatlichen Zwangsgewalt zumindest auf dem Prüfstand . Das heißt, während in dem Freiheitsrecht beide Aspekte des Zwangs in einer normativen Einheit zusammenfallen, stehen sie im staatlichen Kontext in einem instrumentellen oder untergeordneten Verhältnis . Wenn das stimmt, müsste sich dieses Ergebnis auch auf Blakes Argumentation übertragen lassen . In der Folge wäre seine Annahme einer Begrenzung der Gerechtigkeitspflichten auf den Staat mindestens fraglich . Tatsächlich scheint der staatliche Zwang nicht nur in Blakes Aufsatz, sondern auch in dessen Diskussion in zwei Aspekte zu zerfallen, die nur noch schwer vereinbar sind . Dies ist einerseits das Verständnis des Zwangs als Auslöser von Gerechtigkeitsforderungen und andererseits als Realisierungsbedingung von Gerechtigkeitsforderungen .31 Diese Charakterisierung ist gleichermaßen irreführend hinsichtlich des janusköpfigen Zwanges und aufschlussreich in Bezug auf deren normatives Potential . Sie ist irreführend, weil sie suggeriert, dass der Fall der Gerechtigkeit analog zu dem der Freiheit ist . Tatsächlich ist aber bei der Freiheit dasjenige, das durch den Zwang eingeschränkt wird, gleichzeitig genau das, das durch den Zwang verwirklicht wird . Hieraus entspringt das Paradox, das der Janusköpfigkeit innewohnt . Im Fall der Gerechtigkeit hingegen wird aufgrund bestehenden Zwangs entweder die Forderung nach Gerechtigkeit ausgelöst oder der Zwang dient zu ihrer Realisierung . Das heißt, der Zwang erscheint stets als ein notwendiges Faktum, das der Realisierung bestimmter Zwecke dient und anhand dieser auch gerechtfertigt ist . Dabei bleibt aber der Ursprung des Zwangs ungeklärt und auch die rechtfertigenden Zwecke erscheinen beliebig austauschbar . Sollte es sich bei der Janusköpfigkeit staatlichen Zwangs somit lediglich um die Lösung eines Legitimitätsproblems handeln, die zwar einen internen normativen Impetus hat, insofern eine Rechtfertigung gefordert ist, nicht aber selbst weitergehende normative Forderungen auslöst, dann mag in der Konsequenz ebenfalls die Frage aufgeworfen werden, ob sie tatsächlich so singulär und auf außerstaatliche Institutionen unübertragbar ist .
30 31
Ripstein (Fn . 20), 238 . So insb . Arash Abizadeh, Cooperation, Pervasive Impact, and Coercion: On the Scope (not Site) of Distributive Justice, Philosophy and Public Affairs, 35 (2007), 322–324 .
Vuko andric,́ MannheiM / Martin kerZ, SaarBrücken eIn plädoyeR
FüR den
RechtsnoRmen-konsequentIalIsmus
Wie lassen sich Rechtsnormen moralisch beurteilen? Rechtsnormen können legitim oder illegitim sein . Positives Recht ist mitunter moralisches Un-Recht . Offensichtlich illegitim sind etwa Rechtsnormen mit sexistischem oder rassistischem Inhalt . Jedoch ist nicht immer klar, welche Rechtsnormen moralisch geboten, zulässig oder unzulässig sind . Kontroverse Fragen sind beispielsweise diejenigen nach der moralischen Zulässigkeit eines rechtlichen Verbotes aktiver Sterbehilfe oder danach, in welchen rechtlichen Grenzen es erlaubt sein soll, seine Meinung zu äußern . Um solche Fragen zu beantworten, benötigen wir eine Moraltheorie . In unserem Beitrag präsentieren und diskutieren wir den Rechtsnormen-Konsequentialismus . Der Rechtsnormen-Konsequentialismus ist eine moralische Doktrin, der zufolge die Legitimität bzw . Illegitimität von Rechtsnormen ausschließlich von den Konsequenzen ihrer rechtlichen Geltung abhängt . Wir wollen zeigen, dass der Rechtsnormen-Konsequentialismus zwar die Vorzüge des klassischen Utilitarismus – also der bekanntesten konsequentialistischen Moraltheorie – teilt, nicht jedoch die Nachteile . In Abschnitt I . führen wir den Begriff „Konsequentialismus“ ein und präsentieren den klassischen Utilitarismus . Der klassische Utilitarismus beinhaltet zwei Kernbestandteile: den Akt-Konsequentialismus und die hedonistische Theorie des Guten . In Abschnitt II . stellen wir Einwände gegen den Akt-Konsequentialismus dar und erläutern, warum die am meisten diskutierte Alternative zum Akt-Konsequentialismus – der Regel-Konsequentialismus – zwar kaum von den Einwänden betroffen, prima facie aber weniger plausibel ist als der Akt-Konsequentialismus . Der Rechtsnormen-Konsequentialismus, den wir in Abschnitt III . einführen, vereint die Prima-facie-Plausibilität des Akt-Konsequentialismus mit den positiven Aspekten des Regel-Konsequentialismus . Die gegen die hedonistische Theorie des Guten geltend gemachten Einwände werden in Abschnitt IV . dargestellt . Der RechtsnormenKonsequentialismus ist von diesen Einwänden nicht betroffen, wie in Abschnitt V . erklärt wird . Ein Fazit ziehen wir in Abschnitt VI . I. deR
klassIsche
utIlItaRIsmus
Als „konsequentialistisch“ bezeichnet man Moraltheorien, die eine Variante der folgenden Doktrin beinhalten: Konsequentialismus Die moralischen Eigenschaften von Beurteilungsgegenstand X hängen ausschließlich von den Konsequenzen von X ab .1 1
Vgl . Walter Sinnott-Armstrong, Consequentialism, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg . von Edward N . Zalta, Summer 2012 Edition, http://plato .stanford .edu/entries/consequentialism/ (Zugriff am 11 .9 .2012) . Krister Bykvist, Normative Supervenience and Consequentialism, Utilitas (2003), 27–49, gibt eine ähnliche Definition und untersucht die Abhängigkeitsbeziehung näher .
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Vuko Andrić / Martin Kerz
Die bekannteste Variante des Konsequentialismus lautet: Akt-Konsequentialismus Eine Handlung ist genau dann richtig, wenn ihre Konsequenzen mindestens so gut sind wie die Konsequenzen jeder Handlungsalternative . Eine Handlung ist genau dann falsch, wenn sie nicht richtig ist . Eine Handlung ist genau dann verpflichtend, wenn ihre Konsequenzen besser sind als die Konsequenzen jeder Handlungsalternative . Im Akt-Konsequentialismus geht es ausschließlich um die Beurteilung von Handlungen . Zweierlei ist hinsichtlich des Inhalts des Akt-Konsequentialismus klarzustellen . Erstens, mit „Konsequenzen“ im Sinne des Akt-Konsequentialismus sind nicht kausale Effekte gemeint . Unter den Begriff „Konsequenzen“ fällt viel mehr, nämlich die gesamte mögliche Welt, die durch das Ausführen einer Handlung herbeigeführt wird . Dementsprechend gehört zu den Konsequenzen einer Handlung auch, dass die Handlung ausgeführt wird .2 Zweitens, im Akt-Konsequentialismus wird der Unterscheidung zwischen dem aktiven Vornehmen (dem „positiven Tun“) und dem Unterlassen von Handlungen keine moralische Bedeutsamkeit zugeschrieben . Wenn hier also vom „Ausführen einer Handlung“ die Rede ist, kann damit – anders vielleicht als im alltäglichen Sprachgebrauch – auch ein Unterlassen gemeint sein . Intuitiv hat der Akt-Konsequentialismus zunächst einiges für sich . Es scheint auf den ersten Blick plausibel, dass man tun soll, was alles in allem die besten Konsequenzen hat . Noch plausibler klingt folgende Formulierung: Man soll tun, was alles in allem am besten ist . (Dies ist eine legitime Formulierung des Akt-Konsequentialismus . Auch der Wert der Handlung selbst zählt, wenn es um den Wert der Konsequenzen der Handlung geht, denn zu den Konsequenzen einer Handlung zählt auch, dass die Handlung ausgeführt wurde .) Die intuitive Plausibilität des Akt-Konsequentialismus lässt sich vielleicht am besten damit erklären, dass der Akt-Konsequentialismus als Verknüpfung von zwei sehr plausiblen Prinzipien (und den begrifflichen Beziehungen zwischen „richtig“, „falsch“ und „verpflichtend“) verstanden werden kann: (i) Je besser eine Handlung ist, desto mehr Grund hat man, sie auszuführen . (ii) Eine Handlung ist genau dann richtig, wenn man nicht mehr Grund hat, eine andere Handlung auszuführen . Der Akt-Konsequentialismus ist Kernbestandteil der bekanntesten konsequentialistischen Moraltheorie: des klassischen Utilitarismus . Als klassischen Utilitarismus bezeichnet man die Moraltheorie, die denjenigen Philosophen zugeschrieben wird, die allgemein als klassische Vertreter des Utilitarismus gelten:
2
Man unterscheidet zwischen objektiven und subjektiven Varianten des Akt-Konsequentialismus . Gemäß dem objektiven Akt-Konsequentialismus kommt es für die Richtigkeit einer Handlung darauf an, welche Konsequenzen die Handlung tatsächlich hat bzw . hätte . Gemäß dem subjektiven Akt-Konsequentialismus kommt es auf die vom Akteur erwarteten bzw . vernünftigerweise zu erwartenden Konsequenzen an . Wir ignorieren die Debatte zwischen objektiven und subjektiven Konsequentialisten in diesem Aufsatz .
Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus
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Klassischer Utilitarismus Eine Handlung ist genau dann richtig, wenn sie dem Glück aller Betroffenen mindestens so förderlich ist wie jede ihrer Alternativen . Eine Handlung ist genau dann falsch, wenn sie nicht richtig ist . Eine Handlung ist genau dann verpflichtend, wenn sie dem Glück aller Betroffenen förderlicher ist als jede ihrer Alternativen .3 Die klassischen Vertreter des Utilitarismus sind Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick . Ob Bentham, Mill und Sidgwick wirklich die als „klassischer Utilitarismus“ bezeichnete Theorie vertreten haben, ist umstritten . Wie dem auch sei, der klassische Utilitarismus ist jedenfalls ein geeigneter Ausgangspunkt, um den Rechtsnormen-Konsequentialismus zu diskutieren . Der klassische Utilitarismus setzt sich aus zwei Prinzipien zusammen .4 Das erste Prinzip ist, wie gesagt, der Akt-Konsequentialismus . Das zweite Prinzip lautet: Hedonistische Theorie des Guten Ein Zustand ist genau dann besser als eine Alternative, wenn er eine größere Gesamtsumme an Glück beinhaltet . Zwei Zustände sind gleich gut, wenn sie die gleiche Gesamtsumme an Glück beinhalten . Wie ist die hedonistische Theorie des Guten zu verstehen? Die Gesamtsumme an Glück, die ein Weltzustand beinhaltet, kann man – so die Idee des klassischen Utilitarismus – auf folgende Weise berechnen . Für jedes in dem Zustand existierende Individuum wird eine Bilanz von angenehmen und unangenehmen Gefühlszuständen erstellt . Jedem angenehmen Gefühlszustand wird entsprechend seiner Intensität ein positiver Wert zugeordnet, jedem unangenehmen Gefühlszustand ein negativer . Die Gesamtsumme an Glück ist die Summe der Bilanzen aller Individuen . In Abschnitt IV . werden wir uns die an der hedonistischen Theorie des Guten geübte Kritik ansehen . Dafür wird es hilfreich sein, die hedonistische Theorie des Guten in folgende Komponenten zu zerlegen: Sum-Ranking Ein Zustand ist genau dann besser als eine Alternative, wenn er eine größere Gesamtsumme an Wohlergehen beinhaltet . Zwei Zustände sind gleich gut, wenn sie die gleiche Gesamtsumme an Wohlergehen beinhalten . Hedonismus Wohlergehen besteht in Glück, d . h . in der Anwesenheit von angenehmen und der Abwesenheit von unangenehmen Gefühlszuständen . Der klassische Utilitarismus und seine Kernbestandteile werden in Abbildung 1 illustriert .
3 4
Ausführlich behandelt wird der klassische Utilitarismus z . B . in Krister Bykvist, Utilitarianism – A Guide for the Perplexed, 2010; Tim Mulgan, Understanding Utilitarianism, 2007; William H . Shaw, Contemporary Ethics: Taking Account of Utilitarianism, 1999 . Die folgende Analyse geht maßgeblich auf Amartya Sen zurück, siehe etwa sein Utilitarianism and Welfarism, The Journal of Philosophy 76/9 (1979), 463–489 .
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Abb . 1: Der klassische Utilitarismus .
Wir fassen zusammen: Konsequentialismus im Allgemeinen ist die Doktrin, dass ein bestimmter Beurteilungsgegenstand ausschließlich anhand seiner Konsequenzen moralisch zu beurteilen ist . Die bekannteste Form von Konsequentialismus ist der Akt-Konsequentialismus, dem zufolge man stets tun soll, was die besten Konsequenzen hat . Der Akt-Konsequentialismus ist ein prima facie plausibler Kernbestandteil des klassischen Utilitarismus . Laut dem klassischen Utilitarismus soll man stets tun, was am meisten Glück bewirkt . Der klassische Utilitarismus enthält als zweiten Kernbestandteil die hedonistische Theorie des Guten, die besagt, dass Weltzustände umso besser sind, je mehr Glück sie enthalten . Die hedonistische Theorie des Guten lässt sich in Sum-Ranking („je mehr Wohlergehen, desto besser“) und Hedonismus („Wohlergehen ist Glück“) zerlegen . II. eInWände
gegen den
akt-konsequentIalIsmus
In diesem Abschnitt diskutieren wir die gegen den Akt-Konsequentialismus erhobenen Einwände, um anschließend in Abschnitt III zu zeigen, dass der RechtsnormenKonsequentialismus zwar die oben erläuterte Prima-facie-Plausibilität des Akt-Konsequentialismus für sich in Anspruch nehmen kann, jedoch nicht (oder zumindest in einem deutlich geringeren Ausmaß) von den gegen den Akt-Konsequentialismus geltend gemachten Einwänden betroffen ist . In unserer Darstellung konzentrieren wir uns auf diejenigen Einwände gegen den klassischen Utilitarismus, die wir für die schwerwiegendsten halten und die am meisten Beachtung gefunden haben .5 Manche Einwände gegen den klassischen Utilitaris5
Überblicksdarstellungen der Einwände (mit zahlreichen Nachweisen) finden sich unter anderem in Krister Bykvist, Utilitarianism – A Guide for the Perplexed, 2010, Kapitel 5 bis 9; Robert E .
Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus
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mus richten sich eher gegen den Akt-Konsequentialismus, manche eher gegen die hedonistische Theorie des Guten . In diesem Abschnitt widmen wir uns den Einwänden gegen den Akt-Konsequentialismus, im Abschnitt IV . der Kritik an der hedonistischen Theorie des Guten . Die bekanntesten Einwände gegen den Akt-Konsequentialismus lassen sich in Überforderungs- und Unrechtseinwände einteilen .6 Zum einen wird am Akt-Konsequentialismus kritisiert, dass er zu viel verlange . Damit ist zumeist gemeint, dass der Akt-Konsequentialismus den Bereich des Supererogatorischen nicht anerkenne .7 Supererogatorische Handlungen sind moralisch besser als bloß pflichtgemäße Handlungen . Aber sie sind nicht gefordert . Indem der Akt-Konsequentialismus stets fordert, das Beste zu tun, lasse er, so der Einwand, keinen Raum für Supererogation . Unrechtseinwände besagen, dass es mitunter moralisch verboten sei zu tun, was die besten Konsequenzen hat . Gemäß dem Akt-Konsequentialismus jedoch ist es stets richtig zu tun, was die besten Konsequenzen hat . Also sei der Akt-Konsequentialismus falsch . Besonders eindringlich veranschaulicht folgendes Szenario diesen Kritikpunkt: Transplantations-Fall Fünf Patienten in einem Krankenhaus sterben, wenn ihnen keine Organe transplantiert werden . Ein Patient braucht ein neues Herz, zwei brauchen neue Lungenflügel und zwei brauchen neue Nieren . Ein sechster Patient ist für eine Routine-Untersuchung im Krankenhaus . Der Arzt könnte die fünf Patienten retten, indem er die Organe des sechsten Patienten entnimmt und umverteilt . Der sechste Patient würde dadurch sterben .8 Selbstverständlich haben Akt-Konsequentialisten versucht, die Überforderungsund Unrechtseinwände zu entkräften . Auf diese Versuche wollen wir hier aber nicht eingehen . Für unsere Zwecke ist wichtig zu sehen, dass die genannten Einwände eine viel diskutierte konsequentialistische Alternative zum Akt-Konsequentialismus nicht betreffen – oder zumindest in viel geringerem Maße . Die bekannte Alternative zum Akt-Konsequentialismus ist der Regel-Konsequentialismus .9 Gemäß dem Regel-Konsequentialismus hängen die moralischen
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8 9
Goodin, Utilitarianism as a Public Philosophy, 1995, Kapitel 1; Tim Mulgan, Understanding Utilitarianism, 2007, Kapitel 5; William H . Shaw, Contemporary Ethics: Taking Account of Utilitarianism, 1999, Kapitel 4 . Diese Einteilung ist Mulgan, Understanding Utilitarianism, 1999, Kapitel 5 entnommen . Es gibt auch andere Überforderungseinwände: Dem kognitiven Überforderungseinwand zufolge ist der Akt-Konsequentialismus abzulehnen, weil Menschen die Konsequenzen ihrer Handlungen nur sehr begrenzt vorhersehen können . Dem motivationalen Überforderungseinwand zufolge scheitert der Akt-Konsequentialismus, weil Menschen sich nicht motivieren lassen, stets das Beste zu tun . Der vernunftbezogene Überforderungseinwand besagt, dass der Akt-Konsequentialismus falsch ist, weil Menschen nicht stets hinreichend Grund haben, das Beste zu tun . Philippa Foot, Abortion and the Doctrine of Double Effect, Oxford Review 5 (1967), 28–41, Judith Jarvis Thomson, Killing, Letting Die, and the Trolley Problem, The Monist 59/2 (1976), 204–217 . Andere Alternativen zum Akt-Konsequentialismus lassen wir im Fließtext unerwähnt, weil sie ebenfalls dem später von uns im Zusammenhäng mit dem Regel-Konsequentialismus diskutierten Vorwurf ausgesetzt sind, die überzeugende Prima-facie-Plausibilität des Akt-Konsequentialismus nicht aufzuweisen . Bei den von uns nicht diskutierten Alternativen handelt es sich
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Eigenschaften eines Sets von Regeln ausschließlich von den Konsequenzen der Befolgung bzw . der Akzeptanz dieses Sets von Regeln ab .10 Handlungen werden im Regel-Konsequentialismus nicht anhand ihrer Konsequenzen beurteilt, sondern danach, ob sie gemäß den besten Regeln – d . h . gemäß den Regeln, deren Befolgung bzw . Akzeptanz die besten Konsequenzen hätte – erlaubt oder verboten sind . Regel-Konsequentialismus Eine Handlung ist genau dann richtig, wenn die besten Regeln sie erlauben, und genau dann falsch, wenn die besten Regeln sie verbieten . Warum ist der Regel-Konsequentialismus den Überforderungs- und Unrechtseinwänden nicht in gleichem Maße ausgesetzt wie der Akt-Konsequentialismus? Beginnen wir mit den Überforderungseinwänden . Hier ist entscheidend, dass der RegelKonsequentialismus motivationalen Grenzen von Menschen Rechnung trägt . Menschen sind nur bis zu einem gewissen Grad motivierbar, das Gute zu tun . Zudem lässt sich dafür argumentieren, dass der Durchschnittsmensch ein erfüllteres Leben führt und glücklicher ist, wenn er nicht stets bereit sein muss, eigene Projekte und sein eigenes Wohl zugunsten moralischer Werte zu opfern . Aus diesen und ähnlichen Gründen gehört die akt-konsequentialistische Regel – der zufolge eine Handlung dann und nur dann richtig ist, wenn ihre Konsequenzen mindestens so gut sind wie die Konsequenzen jeder Handlungsalternative – nicht zu denjenigen Regeln, deren kollektive und dauerhafte Befolgung bzw . Akzeptanz die besten Konsequenzen hat . Bessere Konsequenzen haben Regeln, die den Menschen motivational weniger abverlangen . Wie steht es um die Unrechtseinwände? Auch hier scheint der Regel-Konsequentialismus besser abzuschneiden . Dies lässt sich leicht am Transplantationsfall veranschaulichen . Es hätte schwerlich optimale Konsequenzen, wenn Patienten damit rechnen müssten, dass ihre Organe gegen ihren Willen entnommen und umverteilt werden . Optimal wäre wohl eher ein Set von Regeln, denen zufolge Patienten selbst bestimmen, ob und ggf . wem sie Organe spenden . Gemäß dem Regel-Konsequentialismus ist es dem Arzt im Transplantationsfall deshalb nicht erlaubt, den sechsten Patienten zugunsten der anderen fünf zu opfern . Der Regel-Konsequentialismus ist also anscheinend von den Überforderungsund Unrechtseinwänden weniger betroffen als der Akt-Konsequentialismus . Ist der Regel-Konsequentialismus also dem Akt-Konsequentialismus vorzuziehen? Nicht unbedingt . Im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass der Akt-Konsequenti-
10
z . B . um den Motiv-Konsequentialismus und um den globalen Konsequentialismus . Gemäß dem Motiv-Konsequentialismus hängen die moralischen Eigenschaften eines Musters von Motiven ausschließlich von den Konsequenzen ab, die das Aufweisen dieses Musters von Motiven hat . Der globale Konsequentialismus beschränkt sich nicht auf bestimmte Beurteilungsgegenstände, sondern behauptet, dass die moralischen Eigenschaften jedes Dings ausschließlich von dessen Konsequenzen abhängen . Der locus classicus zum Motiv-Konsequentialismus ist Robert Adams, Motive Utilitarianism, The Journal of Philosophy (1976), 467–481 . Siehe zum globalen Konsequentialismus Philip Pettit / Michael Smith, Global Consequentialism, in: Morality, Rules, and Consequences – A Critical Reader, hg . von Brad Hooker / Elinor Mason / Dale E . Miller, 2000, 121–133 . Siehe zum Regel-Konsequentialismus etwa Brad Hooker, Rule Consequentialism, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg . von Edward N . Zalta, Summer 2012 Edition, http://plato . stanford .edu/entries/consequentialism-rule/(Zugriff am 11 .9 .2012) .
Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus
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alismus für sich betrachtet intuitiv sehr plausibel ist . Es klingt plausibel, dass man am meisten Grund hat, das Beste zu tun, und dies folglich tun soll . Der RegelKonsequentialismus kann diese intuitive Plausibilität nicht verbuchen . Ihm zufolge soll man ja gerade nicht tun, was die besten Konsequenzen hat . Stattdessen soll man sich an die Regeln mit den besten Konsequenzen halten – auch dann, wenn die Folgen der Regelbefolgung nicht optimal sind . Festzuhalten ist also, dass der Akt-Konsequentialismus zwar auf den ersten Blick sehr plausibel, aber gravierenden Einwänden ausgesetzt ist . Der Regel-Konsequentialismus entgeht zwar den Einwänden, er teilt aber nicht die Prima-facie-Plausiblität des Akt-Konsequentialismus . III. deR RechtsnoRmen-konsequentIalIsmus: zWIschen aktund Regel-konsequentIalIsmus Kommen wir jetzt zum Rechtsnormen-Konsequentialismus, dem zufolge Rechtsnormen anhand ihrer Konsequenzen zu beurteilen sind: Rechtsnormen-Konsequentialismus Ein Set von Rechtsnormen ist genau dann legitim, wenn seine Geltung mindestens so gute Konsequenzen hat wie die Geltung jedes anderen Sets von Rechtsnormen . Ein Set von Rechtsnormen ist genau dann illegitim, wenn es nicht legitim ist . Es ist genau dann verpflichtend, ein Set von Rechtsnormen in Geltung zu setzen bzw . zu belassen, wenn seine Geltung bessere Konsequenzen hat als jedes andere Set von Rechtsnormen . Zwei Punkte bedürfen der Klärung . Erstens: Im Gegensatz sowohl zum Akt- wie auch zum Regel-Konsequentialismus ist der Rechtsnormen-Konsequentialismus kein Prinzip zur Beurteilung von individuellen Handlungen . Insbesondere werden Handlungen nicht (analog zum Regel-Konsequentialismus) danach beurteilt, ob sie durch die besten Rechtsnormen (also die Rechtsnormen, deren Geltung die besten Konsequenzen hat) erlaubt sind oder nicht . Zweitens ist zu beachten, dass mit „Geltung“ im Sinne des Rechtsnormen-Konsequentialismus rechtliche Geltung gemeint ist . Rechtsnormen gelten immer relativ zu bestimmten Rechtsgemeinschaften und Zeiten . Im Rechtsnormen-Konsequentialismus geht es nicht darum, welche Rechtsnormen die besten Konsequenzen hätten, wenn sie immer und überall gelten würden (anders verhält es sich im RegelKonsequentialismus in Bezug auf moralische Regeln) . Gleichwohl gelten Rechtsnormen natürlich im Normalfall für eine Vielzahl von Personen (nämlich für die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft) und für eine gewisse Dauer . Zweierlei spricht für den Rechtsnormen-Konsequentialismus . Erstens kann der Rechtsnormen-Konsequentialismus als eine Form kollektiver Akt-Konsequentialismus verstanden werden . Rechtsnormen sind ein Unterfall institutioneller Regeln und sozialer Normen .11 Das In-Geltung-Bringen und In-Geltung-Lassen von Regeln 11
Der Rechtsnormen-Konsequentialismus lässt sich als eine Form des institutionellen Konsequentialismus verstehen . Siehe zu letzterem Russell Hardin, Morality within the Limits of Reason, 1988 und James Wood Bailey, Utilitarianism, Institutions, and Justice, 1997 . Auch die Vorschläge in
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und Normen können als kollektive Handlungen von Rechtsgemeinschaften verstanden werden (Im Falle des In-Geltung-Lassens ist wichtig, dass es dem Akt-Konsequentialismus zufolge nicht moralisch relevant ist, ob aktiv gehandelt wird oder ein Unterlassen vorliegt) . Da der Rechtsnormen-Konsequentialismus als ein kollektiver Akt-Konsequentialismus verstanden werden kann, spricht für den RechtsnormenKonsequentialismus, was auch für den einfachen Akt-Konsequentialismus spricht: die Prima-facie-Plausibilität . Intuitiv ist es schlicht überzeugend, dass wir tun sollen, was am besten ist . Zweitens ist zu beachten, dass der Rechtsnormen-Konsequentialismus teilweise die Vorzüge des Regel-Konsequentialismus aufweist . Sicherlich müssen Rechtsnormen den motivationalen Beschränkungen der Menschen Rechnung tragen, damit ihre Geltung optimal ist . Und es ist dem Wohlergehen förderlich, über Rechte zu verfügen, denen zufolge man nicht stets das Beste tun muss . Diese Überlegungen zeigen, dass die gegen den Akt-Konsequentialismus geltend gemachten Überforderungs- und Unrechtseinwände sich nicht gegen den Rechtsnormen-Konsequentialismus anbringen lassen . Rechtsnormen-Konsequentialisten können darauf hinweisen, dass Rechtsnormen, deren Geltung optimale Konsequenzen haben, sicherlich das Opfern des sechsten Patienten im Transplantations-Fall verbieten . Der Rechtsnormen-Konsequentialismus vereint also Vorzüge des Akt- und des Regel-Konsequentialismus . Aber natürlich gibt es auch offene Fragen, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht beantwortet werden können . Am drängendsten ist sicherlich die Frage, ob es nicht naheliegend ist, den Rechtsnormen-Konsequentialismus mit dem einfachen Akt-Konsequentialismus zu kombinieren, so dass man eine Moraltheorie erhält, die, wenn es nicht um kollektive, sondern um individuelle Handlungen geht, alle Probleme hat, die oben im Zusammenhang mit dem einfachen Akt-Konsequentialismus dargestellt wurden . Tatsächlich können sich Rechtsnormen-Konsequentialisten verschiedener Antwortstrategien bedienen, um diese Bedenken abzuweisen .12 Diese Strategien zu untersuchen würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen . IV. eInWände
gegen dIe hedonIstIsche
theoRIe
des
guten
In diesem Abschnitt stellen wir die Einwände gegen die zweite Komponente des klassischen Utilitarismus dar, also die Einwände gegen die hedonistische Theorie des Guten . Erneut ist nur eine knappe Darstellung möglich . Wie in Abschnitt I ausgeführt, lässt sich die hedonistische Theorie des Guten in Sum-Ranking und Hedonismus aufteilen . Manche Einwände gegen die hedonistische Theorie des Guten betreffen in erster Linie das Sum-Ranking, andere den Hedonismus .
12
Robert E . Goodin, Utilitarianism as a Public Philosophy, 1995 und Tim Mulgan, Understanding Utilitarianism, 2007, Kapitel 6 lassen sich als institutionell-konsequentialistisch einordnen . Ganz unterschiedliche Ansätze findet man etwa in Fred Feldman, Adjusting Utility for Justice: A Consequentialist Reply to the Objection from Justice, in: Utilitarianism, Hedonism, and Desert, hg . von Fred Feldman, 1997, 154–174; Joseph Mendola, Multiple Act-Consequentialism, Noûs 40 (2006), 395–427; Shelly Kagan, Do I Make a Difference?, Philosophy and Public Affairs 39 (2011), 105–141 . Einige dieser Ansätze lassen sich auch für die Verteidigung des einfachen Akt-Konsequentialismus heranziehen .
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Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus
Beginnen wir mit den Einwänden gegen den Hedonismus . Ein älterer Einwand lautet, dass der Hedonismus eine „philosophy of swine“ sei, da er körperliche oder niedrigere Lüste prinzipiell auf einer Stufe mit höherwertigen Vergnügungen stelle .13 Diese Kritik zielt vor allem gegen Benthams Diktum „push-pin is as good as poetry“ . Eine heute besonders einflussreiche Kritik am Hedonismus liefert Robert Nozicks Idee einer „experience machine“, die höchst angenehme Erfahrungen vorgaukelt .14 Gemäß dem Hedonismus kommt es hinsichtlich des Wohlergehens ausschließlich auf angenehme mentale Zustände an . Dabei ist es gleichgültig, ob die mentalen Zustände aus authentischen oder aus vorgegaukelten Erfahrungen resultieren . Diese Implikation des Hedonismus, so die Pointe von Nozicks Idee, ist unplausibel . Am Sum-Ranking wird in erster Linie kritisiert, dass es distributions-indifferent ist . Nehmen wir an, zwei Zustände enthalten dieselbe Summe an Wohlergehen . Während das Wohlergehen in Zustand 1 gleich verteilt ist und alle Individuen zufrieden sind, geht es in Zustand 2 den meisten Individuen sehr schlecht, einigen wenigen aber extrem gut . Intuitiv scheint es, dass Zustand 1 besser ist als Zustand 2 . Gemäß dem Sum-Ranking sind jedoch beide Zustände gleich gut, da beide dieselbe Summe an Wohlergehen enthalten . Sofern es um den Rechtsnormen-Konsequentialismus geht, zielen die gegen die hedonistische Theorie des Guten geltend gemachten Einwände ins Leere . Denn als Rechtsnormen-Konsequentialist ist man nicht auf die hedonistische Theorie des Guten festgelegt, sondern es steht einem offen, die hedonistische Theorie des Guten abzulehnen und den Rechtsnormen-Konsequentialismus mit einer anderen Theorie des Guten zu verknüpfen . Es wäre also verfehlt, Einwände gegen den Rechtsnormen-Konsequentialismus geltend zu machen, die sich im Wesentlichen gegen die hedonistische Theorie des Guten richten . Der Rechtsnormen-Konsequentialist muss also nicht Rechtsnormen-Utilitarist sein, und erst recht nicht hedonistischer Rechtsnormen-Utilitarist . Im Folgenden wollen wir erläutern, welche Alternativen es zur hedonistischen Theorie des Guten gibt . Diese Darstellung dient zwei Zielen . Zum einen verschafft sie einen Überblick über das Spektrum rechtsnormen-konsequentialistischer Theorien . Zum anderen macht sie deutlich, dass es sehr viele Alternativen zur hedonistischen Theorie des Guten gibt . V. das spektRum
RechtsnoRmen-konsequentIalIstIscheR
moRaltheoRIen
Der Hedonismus ist eine Theorie darüber, worin Wohlergehen besteht . Die bekanntesten Alternativen zum Hedonismus sind Wunschtheorien und Objektive-ListeAnsätze, s . Abb . 2 .15 Gemäß den Wunschtheorien besteht Wohlergehen – je nach 13 14 15
Ausführlich diskutiert wird dieser Einwand schon in John Stuart Mill, Utilitarianism (hg . von Roger Crisp, 1996), Kapitel 2, Absätze 3–8 . Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 1974, 42–43 . Einen Überblick über die wichtigsten Wohlergehens-Theorien bietet Roger Crisp, Well-Being, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg . von Edward N . Zalta, Summer 2012 Edition, http://plato .stanford .edu/entries/well-being/(Zugriff am 11 .9 .2012) .
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Abb . 2: Die wichtigsten Wohlergehens-Theorien .
Version der Theorie – entweder darin, die Dinge zu haben, die man sich wünscht, oder darin, dass die Wünsche, die man hat, erfüllt sind . Objektive-Liste-Ansätze besagen, dass es Dinge gibt, die zu haben gut für eine Person ist, unabhängig davon, ob die Person sich wünscht, diese Dinge zu haben, und unabhängig davon, ob das Haben dieser Dinge bei der Person angenehme Gefühlszustände bewirkt . Kandidaten für derartige objektive Güter sind beispielsweise Wissen und Freundschaft . Als Konsequentialist ist man nicht auf den Hedonismus festgelegt . Und man ist auch nicht auf das Sum-Ranking festgelegt . Die Alternativen zum Sum-Ranking sind Evalutors-relative Werttheorien, non-welfaristische Werttheorien, Prioritarismus und Egalitarismus, s . Abb . 3 .
Abb . 3: Theorien des Guten .
Ein Plädoyer für den Rechtsnormen-Konsequentialismus
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Beginnen wir mit der Unterscheidung zwischen Evaluators-neutralen und Evaluators-relativen Werttheorien .16 Jede Evaluators-neutrale Werttheorie weist jedem Weltzustand genau einen moralischen Wert zu – oder, bei rein komparativen Theorien, einen Platz im Ranking von verschiedenen Weltzuständen . Eine plausible Evalutors-neutrale Theorie wird beispielsweise besagen, dass es ceteris paribus schlechter ist, wenn Menschen verhungern, als wenn sie nicht verhungern, Punkt . Eine Evaluators-relative Werttheorie weist (zumindest) manchen Weltzuständen unterschiedliche Werte – bzw . Plätze im Ranking von Weltzuständen – zu, und zwar relativ zu verschiedenen Personen . So kann eine Evaluators-relative Theorie beispielsweise besagen, dass es relativ zu Paul schlechter ist, wenn Pauls Kinder verhungern, als wenn Peters Kinder verhungern . Gleichzeitig kann dieselbe Theorie besagen, dass es relativ zu Peter schlechter ist, wenn Peters Kinder verhungern . Eine Evaluators-neutrale Theorie kann dies nicht sagen . Sie muss sagen, dass die zu beurteilenden Weltzustände für beide Akteure denselben Wert haben . Eine plausible Evaluators-neutrale Werttheorie wird sagen, dass es schlimm ist, wenn Kinder verhungern, und zwar gleichermaßen schlimm, unabhängig davon, wessen Kinder es sind (Evaluators-neutral wäre aber auch z . B . eine unplausible Theorie, der zufolge es aus Peters und aus Pauls Sicht gleichermaßen schlimmer ist, wenn Peters Kinder und nicht Pauls Kinder verhungern) . Die nächste Unterscheidung betrifft welfaristische im Gegensatz zu non-welfaristschen Theorien des Guten . Unter Welfarismus versteht man die Position, dass nur Wohlergehen intrinsisch wertvoll ist .17 Non-welfaristische Theorien besagen, dass nicht nur Wohlergehen intrinsisch wertvoll ist . Was außer Wohlergehen könnte intrinsisch wertvoll sein? Beliebte Kandidaten sind Fairness, Gerechtigkeit, Kunstwerke und natürliche Arten . Im Lager der Evaluators-neutralen, welfaristischen Theorien des Guten sind die wichtigsten Alternativen zum Sum-Ranking zum einen der Egalitarismus, zum anderen der Prioritarismus .18 Gemäß dem Egalitarismus ist es gut, wenn Wohlergehen gleich verteilt ist . Laut dem Prioritarismus ist der Wert des Wohlergehens in Abhängigkeit davon zu gewichten, wie bedürftig die Person ist, um deren Wohlergehen es geht . In diesem Abschnitt wurde das Spektrum rechtsnormen-konsequentialistischer Moraltheorien auf Basis konkurrierender Theorien des Guten umrissen . Es versteht sich von selbst, dass es den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, die beste Theorie des Guten zu bestimmen . Klar ist jedoch, dass die gegen die hedonistische Theorie des Guten erhobenen Einwände – „philosophy of swine“, „experience machine“, Distributions-Indifferenz – eine Ablehnung des Rechtsnormen-Konsequentialismus nicht rechtfertigen . Denn der Rechtsnormen-Konsequentialismus ist, wie wir gesehen haben, mit einer Vielzahl von Theorien des Guten kombinierbar, und einige von diesen sind von den gegen die hedonistische Theorie des Guten geltend gemachten Einwänden schlicht nicht betroffen .
16 17 18
Siehe zu dieser Unterscheidung etwa Amartya Sen, Evaluator Relativity and Consequential Evaluation, Philosophy and Public Affairs 12 (1983), 113–132 . Siehe Amartya Sen, Utilitarianism and Welfarism, The Journal of Philosophy 76/9 (1979), 463–489 . Der klassische Aufsatz zu diesen Theorien stammt von Derek Parfit, Equality and Priority, Ratio 10 (1997), 202–221 .
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VI. FazIt Der Rechtsnormen-Konsequentialismus ist eine vielversprechende Doktrin zur moralischen Beurteilung von Rechtsnormen . Gemäß dem Rechtsnormen-Konsequentialismus sind Rechtsnormen genau dann legitim, wenn ihre Geltung die besten Konsequenzen hat . Da der Rechtsnormen-Konsequentialismus als eine Art kollektiver Akt-Konsequentialismus verstanden werden kann, teilt er die intuitive Prima-facie-Plausibilität des Akt-Konsequentialismus . Der Rechtsnormen-Konsequentialismus hat plausible Implikationen . Ähnlich wie der Regel-Konsequentialismus beachtet er bei der Beurteilung von Rechtsnormen motivationale Beschränkungen des Menschen . Ebenso wird das Interesse an Rechtsnormen gewürdigt, denen zufolge es nicht stets verlang ist, das Beste zu tun . Damit vereint der Rechtsnormen-Konsequentialismus die Vorzüge von Akt- und Regel-Konsequentialismus . Zuletzt ist festzuhalten, dass der Rechtsnormen-Konsequentialismus nicht auf die hedonistische Theorie des Guten festgelegt ist, die gravierende Einwände gegen den klassischen Utilitarismus provoziert hat . Vielmehr gibt es ein großes Spektrum rechtsnormen-konsequentialistischer Theorien und der Rechtsnormen-Konsequentialismus sollte mit der überzeugendsten Theorie des Guten kombiniert werden . Das Resultat ist eine plausible Theorie über die moralische Zulässigkeit von Rechtsnormen .
II. Wozu Recht?
Beatrice BrunhöBer, ariane grieSer, Juliane ottMann, tiM Wihl eInleItende BemeRkungen Die Tagung des Jungen Forums in Berlin im April 2013 war nicht nur hervorragend besucht, sondern konnte auch mit äußerst vielfältigen Referaten und kontroversen Diskussionen aufwarten . Zudem entschieden sich die Organisator_innen, als kleine Neuerung eine Podiumsdiskussion in Kooperation mit dem Rechtskulturen-Programm des Wissenschaftskollegs zu Berlin und der HU abzuhalten . In dieser stritten Moritz Renner (Bremen), Ralf Seinecke (Frankfurt/Main) und Tim Wihl (Berlin) unter der Moderation von Alexandra Kemmerer (Berlin) um die Ergiebigkeit des Begriffes des Rechtspluralismus für die Leitfrage „Wozu Recht?“, die Rechtsphilosophie und die Rechtswissenschaft insgesamt . Systemtheorie und die Analyse juristischer Weltanschauungen nach Robert Cover trafen sich mit der Beobachtung, dass Rechtspluralismus nicht notwendig die Renaissance des Naturrechts einläutet . Die Tagung galt im Ganzen der Frage, welche Aufgabe Recht hat . Soll das Recht vorrangig Rechtsfrieden herstellen, zweckmäßig sein oder die Idee der Gerechtigkeit verwirklichen? Wie kann das Recht der Doppelrolle gerecht werden, demokratische Herrschaft gleichzeitig zu ermöglichen und zu begrenzen? Stehen demokratische Herrschaft, die Kontingenz auf Dauer stellt, und das Sicherheitsversprechen der Rechtsform nicht in einem Spannungsverhältnis zueinander? Lassen sich stete demokratische Deliberation und Rechtsfestigkeit überhaupt miteinander vereinbaren? Der Zwang zur Entscheidung – was bedeutet er für den Charakter des gesetzten Rechts? Wie weit kann und soll Verrechtlichung überhaupt reichen? Soll beispielsweise das Internet eine Art Refugium anarchischen Ethos’ sein oder ein durchregulierter Teil der „realen Welt“? Oliver Bach (München) zeigt in seinem Beitrag, dass sich die Rechtsphilosophie seit Thomas Hobbes’ rechtslogischer Analyse des Naturzustands zunehmend von teleologischen Begründungsversuchen abwandte und vermehrt auf kausal- und begriffslogische Fundamentenlegung dessen baute, was universales Recht ist und staatlichen Zwang als rechtlich möglich zu denken erlauben soll . Unter Rückverweis auf vor- und frühmoderne Naturrechtslehren will er den systematischen Mangel der an empirischen Zwecken orientierten Rechtsbegründung in ihrer unmöglichen Verallgemeinerbarkeit aufweisen und damit eine Kritik am gegenwärtigen Diskurs um Freiheitsrechte im Internet entwickeln, der in der Hauptsache von solchen empirischen Freiheitsteleologien getragen ist . Ausgehend vom ursprünglichen Recht auf gleiche Freiheit, leitet Sinthiou Buszewski (Münster/Kiel/Berlin) aus dem kantischen Postulat des Öffentlichen Rechts (exeundum esse e statu naturali) die Pflicht zur Anerkennung jedes Menschen als (Völker-)Rechtsperson ab . Sie verknüpft diesen Begriff mit dem Recht auf Teilnahme am Rechtserschaffungsprozess und der Adressatenstellung hinsichtlich positiver Rechte . Andreas Engelmann (Frankfurt/Main) will in seinem Beitrag freilegen, welche Antwort die Frage „Wozu Recht?“ schon in sich trägt, nämlich den affirmativen Bezug auf ein Recht! der Juristen, das staatsfixiert, imperativisch und unumgänglich ist .
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Einleitende Bemerkungen
Indem die Antwort Recht! mit ihren Grenzen konfrontiert wird, sollen Frage und Antwort als das lesbar werden, was sie auch sind: Verengungen des Blicks . Philipp-Alexander Hirsch (Göttingen) will aufzeigen, wie ausgehend von der Philosophie Friedrich Nietzsches die subjektive Notwendigkeit rechtlicher Überzeugungen vor dem Hintergrund eines (präsumtiv angenommenen) Wertrelativismus gerechtfertigt werden kann . Mit Nietzsche ist Recht als kontingente, aber subjektivnotwendige Lebensform zu begreifen . Es ist funktional als Mittel des sozialen Kräfteausgleichs zu betrachten und insofern stets notwendig mit unserer sozialen Identität verknüpft . Stefan Klingbeil (Berlin) betrachtet es als sein Anliegen, die rechtskulturelle Differenz zwischen Deutschland und den USA mit Blick auf die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung zu erklären . Seine These lautet, dass die Juridifizierung der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe in doppelter Hinsicht mit dem US-amerikanischen Staats- und Gesellschaftsverständnis konfligiert: Zum einen kollidiert eine solche Rechtspflicht mit dem individuellen Liberalismus der USA; und zum anderen würde die Juridifizierung den barmherzigen Samariter als mythologische Figur antasten . Mit Blick auf die formale Struktur der Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe arbeitet er heraus, dass die Pflicht in verschiedenen idealtypischen Modellen (Christentum/Staat/Nation) jeweils über den großen Anderen (Gott/ Staat/Nation) als Zwischenbestimmung konstruiert wird, woraus folgt, dass man (als Diener Gottes/Verwaltungshelfer/Held) dem großen Anderen dient, indem man dem Nächsten hilft . Ulrike Müller (Berlin) setzt in ihrem Beitrag die faktische Komponente der Wozu-Frage – nach dem Können des Rechts – in Bezug zur normativen Komponente – dem Sollen des Rechts . Ausgehend von einem faktisch bestehenden Potenzial von Rechtspraxis, Individuen Debatten über Machtverhältnisse, Ideale und Gerechtigkeit initiieren zu lassen, wird normativ vorgeschlagen, Rechtsvertretung als legitime politische Praxis zu begreifen, die transparente Partizipation in einer ausdifferenzierten Gesellschaft ermöglicht . Bettina Noltenius (Bonn) prüft in ihrem Beitrag die Möglichkeit der Etablierung eines genuinen Europäischen Strafrechts, welches vor dem Hintergrund der immer weiter wachsenden grenzüberschreitenden Kriminalität innerhalb der EU nahezu politisch „alternativlos“ erscheint, kritisch auf seine rechtliche Legitimation . Strafzwang bedarf bedingt durch seinen fundamentalen Eingriff in die Freiheitsrechte auch auf europäischer Ebene einer Begründung gegenüber dem Einzelnen, dass ihm Recht geschieht und nicht äußerer Zwang oktroyiert wird; ansonsten gerät er mit der ursprünglichen Europäischen Idee der Freiheit in einen unlösbaren Widerspruch . Michael Städtler (Münster) entwickelt die These, dass der Zweck des Rechts an historischen Epochenschwellen maßgeblich verändert wird und dass diese Veränderungen mit der jeweiligen Konstitution der gesellschaftlichen Grundlagen des politischen Lebens zusammenhängen . In der Neuzeit erscheint der Zweck von Recht immer zugleich als Funktion der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer ökonomischen Formen, und es gilt, diese Konstellation in ihrer historischen Dynamik zu verstehen, um den systematischen Stellenwert des Rechts und seiner zeitgenössischen Auffassungen angemessen beurteilen zu können .
Einleitende Bemerkungen
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Johanna Stark (München) stellt fest, dass in einer wachsenden Anzahl von Rechtsbereichen ein Wettbewerb der Gesetzgeber um die Gunst mobiler RechtsNachfrager zu beobachten ist . Trotz aller Vorzüge, die einem solchen Rechtswettbewerb zugeschrieben werden, sollten wir uns nach ihrer Auffassung darüber im Klaren sein, dass dadurch langfristig die Funktion des Rechts, als staatliches Steuerungsinstrument zur Erreichung demokratisch legitimierter politischer Ziele zu dienen, beeinträchtigt wird . Maria von Weizsäcker und Christopher Weigand (Berlin) beobachten, dass der Rechtsstaat in der Entwicklungspolitik als conditio sine qua non des gesellschaftlichen Fortschritts gilt, gleichzeitig seine Implementierung aber große Schwierigkeiten bereitet . Ihr Beitrag geht der These nach, dass ein Grund für beide Phänomene der Begriff des Rechtsstaates selbst sei .
philipp-alexander hirSch, göttingen Recht
JenseIts oBJektIVeR
geRechtIgkeIt
und
moRal
gedanken zu kontIngenz und notWendIgkeIt RechtlIcheR üBeRzeugungen Im anschluss an FRIedRIch nIetzsche I. dIe RelatIVItät
eIgeneR
RechtsüBeRzeugungen
als
pRoBlem?
Wie lässt sich Recht angesichts der subjektiven Bedingtheit unserer eigenen Werturteile konzipieren? Oder anders gefragt: Mit welchem „Recht“ können wir unsere Rechtsüberzeugungen gegenüber Andersdenkenden behaupten, ja sogar durchsetzen? Davon ausgehend, dass uns die einstigen Garanten objektiv gültiger Werte – göttlicher Wille und metaphysische Wahrheiten – abhanden gekommen sind,1 fällt die Antwort hierauf heute schwerer denn je . Und selbst Freiheit als höchstes Gut2 eignet sich nur zur Selbstbeschreibung liberaler Gesellschaften, ist jedoch weder selbstevident noch prima facie als objektiv gültiger Wert nachweisbar . Umgekehrt scheint es zu einfach, das Bedürfnis nach mehr als nur subjektiv gültigen Werten und Rechtsüberzeugungen bloß als Zeichen philosophischer und politischer Unreife zu disqualifizieren .3 Dadurch wird man der Kontingenz unserer Rechtsüberzeugungen als Problem nicht gerecht . Dies gilt nicht nur für die technische Frage, wie in einer global vernetzten Welt mit der Pluralität rechtlicher Überzeugungen (dem Nebeneinander und Gegeneinander mehrerer Rechtssysteme) umzugehen ist . Vor allem stellt sich an jeden von uns in praktischer Hinsicht die relativistische Herausforderung: Wenn die eigenen Rechtsüberzeugungen und Werturteile kontingent sind, warum dann nicht gleich auf sie verzichten? „Weil wir nicht anders können!“ So oder ähnlich ließe sich – so die zentrale These dieses Beitrags – frei nach Friedrich Nietzsche antworten . Dabei soll ausgehend von einer Skizze seiner Moralkritik gezeigt werden, dass Nietzsche das Recht als kontingente, aber gleichwohl subjektiv notwendige Lebensform konzipiert: Nietzsche steht vor der relativistischen Herausforderung, weil er die objektive Gültigkeit moralischer Überzeugungen und damit auch unserer Gerechtigkeitsvorstellungen in Frage stellt (II .) . Von dieser Herausforderung scheint das Recht jedoch nicht betroffen zu sein, weil Nietzsche dieses funktional als Mittel des sozialen Kräfteausgleichs begreift (III .) . Nach Nietzsche scheinen wir sogar notwendig an den eigenen Rechtsüberzeugungen gegenüber Andersdenkenden festhalten zu müssen . Denn auch wenn unsere moralischen Bestimmungen und damit auch das Recht immer nur perspektivisch sein können, so müssen wir doch notwendig eine Perspek1
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Vorliegend geht es darum aufzuzeigen, wie ausgehend von der Philosophie Friedrich Nietzsches die subjektive Notwendigkeit rechtlicher Überzeugungen vor dem Hintergrund eines Wertrelativismus begründet werden kann . Dass letzterer wiederum selbst fraglich ist, ist unbenommen, ist jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung . Ein solcher Ansatz findet sich z . B . bei Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1995, 84 ff . Vgl . so etwa Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty, hg . von Isaiah Berlin, 1969, 172 .
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tive einnehmen und kommen aus der rechtlichen Verfasstheit unseres Verhaltens gegenüber anderen nicht heraus . Mit Nietzsche können wir daher versuchen, die relativistische Herausforderung anzunehmen und Recht jenseits objektiver Gerechtigkeit als kontingente, aber subjektiv notwendige Lebensform zu konzipieren (IV .) .4 II. „gIBt
gute und geRechte?“ – dIe WeRtuRteIle nach nIetzsche
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eIgeneR
suBJektIVe
BedIngtheIt
Status und Funktionsweise von Recht lassen sich in der Philosophie Friedrich Nietzsches nur ausgehend von seiner Moralkritik entwickeln, mit der er unter dem Begriff der „Sklavenmoral“ konventionelle Moralvorstellungen angreift: Die von Natur aus Schwachen erfahren sich laut Nietzsche als die „Schlechtweggekommenen“ und „Missrathnen“ .5 Sie scheut das Eingeständnis der eigenen Passivität und Schwäche, nicht schöpferisch, lebens- und daseinsbejahend tätig sein zu können . Angesichts der Unfähigkeit zur Aktivität wollen sie doch wenigstens etwas wollen . Ihr Wollen ist daher auf die Negation des eigentlichen Lebens und Daseins, das „N i c h t s “, gerichtet .6 Als „böse“ wird erklärt, was der eigenen (d . h . unvollkommenen) Lebensform nicht entspricht . Die eigene, unvollkommene Daseinsweise ist „gut“ .7 Dabei dient diese Wertsetzung der Unterdrückung der natürlich Starken und der Herrschaft über sie .8 Diesem Moralkonzept stellt Nietzsche nun positiv das Konzept ei4
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Im Folgenden stütze ich mich im Wesentlichen auf Nietzsches Genealogie der Moral . Diese textliche Beschränkung ist neben dem Rahmen der Untersuchung der Absicht geschuldet, einige Elemente von Nietzsches Rechtsdenken systematisch zu rekonstruieren . Hierfür liefert die Genealogie der Moral noch die sicherste Textgrundlage . Andere Schriften Nietzsches werden heuristisch herangezogen . Vgl . für umfassende Untersuchungen zu Nietzsches Rechtsdenken die Monographien von Henry Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, 1988; Dae-Jong Yang, Die Problematik des Begriffs der Gerechtigkeit in der Philosophie von Friedrich Nietzsche, 2005; Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008; Sascha Straube, Zum gemeinsamen Ursprung von Recht, Gerechtigkeit und Strafe in der Philosophie Friedrich Nietzsches, 2012 und die Sammelbände Nietzsche und das Recht, 2001 und Nietzsche and Law, 2008, jeweils m . w . N . Friedrich W . Nietzsche, Genealogie der Moral, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 5, 1999, III, 13 . Ebd ., I, 10 spricht Nietzsche von „Wesen, denen die […] That versagt ist,“ die „von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘ sagen“ . Hierin sieht er ebd ., III, 1 den „horror vacui“ dieses Menschentypus, der zum Nihilismus führt: „er braucht ein Ziel, – und eher will er noch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen .“ Vgl . dazu auch Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, 1994, 169 ff ./189; Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 2006, 158 und ausf . Sverre Raffnsøe, Nietzsches Genealogie der Moral, 2007, 113 ff . Vgl . Nietzsche (Fn . 5), III, 14: „[D]ie S c h w ä c h s t e n sind es, […] welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten in Frage stellen . […] Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen […]: ‚wir allein sind die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, […] als leibhafte Vorwürfe […] wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien […] .“ Vgl . dann ebd ., I, 14, wonach „man auf Erden I d e a l e f a b r i z i r t “ . „Die Schwäche soll zum Ve r d i e n s t e umgelogen werden […] und die Ohnmacht […] zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung […] zum ‚Gehorsam‘ […] .“ Ebd ., III, 14 sieht Nietzsche in der Sklavenmoral ein „Netz der bösartigsten Verschwörung – der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen“ . „Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten […] .“ (Friedrich
Recht jenseits objektiver Gerechtigkeit und Moral
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ner „Herrenmoral“ gegenüber . Deren vornehme Wertungsweise zeichnet sich durch die Bejahung der eigenen Natur aus .9 Natürliche Stärke äußert sich daher gegenüber Schwachen ggf . als Ausleben von Gewalt und Herrschaft; gegenüber Gleichstarken in gegenseitiger Achtung und Kontrolle .10 Die Herrenmoral schafft also Werte, indem sie die Natur und ihre Äußerungen bejaht, ist also Wertsetzung entsprechend der eigenen Natur .11 In der kritischen Gegenüberstellung von Herrenmoral und Sklavenmoral sind nun zwei verschiedene Argumentationslinien zu unterscheiden . Zum einen bewegt sich Nietzsches Kritik auf einer normativ-ethischen Ebene: Obwohl Nietzsche nur schwer eine normativ-ethische Position im konventionellen Sinne zugeschrieben werden kann,12 lässt sie sich am ehesten als eigentümliche Verbindung von Tugendethik und Perfektionismus beschreiben . Danach ist normativ-ethisch dasjenige geboten, was die menschliche Daseins- und Lebensform befördert und zur Vollkommenheit bringt . Folglich ist die Sklavenmoral – als manipulatives Machtinstrument der Schwachen zur Unterdrückung der Starken – defizitär, insofern sie Gedeihen und Entwicklung einer höheren Art von menschlicher Exzellenz verhindert .13
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W . Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 5, 1999, 219) Vgl . dazu auch Robert Pippin, Lightning and Flash, Agent and Deed, in: Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral, hg . von Otfried Höffe, 2010, 4 f .; Gerhardt (Fn . 6), 159 f .; Brian Leiter, Nietzsche’s Moral and Political Philosophy, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg . von Edward N . Zalta, Uri Nodelman u . a ., 2011 Edition, 44 . Vgl . Nietzsche (Fn . 5), I, 10: „[S]ie agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff ‚niedrig‘ ‚gemein‘ ‚schlecht‘ ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff ‚wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!‘“ Vgl . ebd ., I, 13: „Von der Stärke verlangen, dass sie sich n i c h t als Stärke äussere […] ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere .“ Weiter ebd ., I, 11: „[D]ieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere .“ Vgl . hierzu auch Stegmaier (Fn . 6), 120 ff .; Gerhardt (Fn . 6), 176 und Raffnsøe (Fn . 6), 37 ff . Grund ist sein naturalistisches Personen- und Handlungsverständnis . Vgl . Leiter (Fn . 8), 20 f . Vgl . die Problembeschreibung von Nietzsche (Fn . 5), Vorrede, 6: „Man nahm den We r t h dieser ‚Werthe‘ [sc. der Mitleids-Moral] als gegeben […]; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, ‚den Guten‘ für höherwerthig als ‚den Bösen‘ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet) . […] Wie? wenn im ‚Guten‘ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart a u f K o s t e n d e r Z u k u n f t lebte? […] So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche h ö c h s t e M ä c h t i g k e i t u n d P r a c h t des Typus Mensch niemals erreicht würde?“ Vgl . auch ebd ., III, 14; Friedrich W . Nietzsche, Morgenröte, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 3, 1999, 163; Nietzsche (Fn . 8), 62; Friedrich W . Nietzsche, Der Antichrist, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 6, 1999, 5; Friedrich W . Nietzsche, Ecce Homo, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 6, 1999, IV, 4; Friedrich W . Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 1, 1999, Versuch, 5 . – Versuche, Nietzsche als Tugendethiker (z . B . Lester H . Hunt, Nietzsche and the Origin of Virtue, 1991; Robert C . Solomon, Nietzsche’s Virtues: A Perso-
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Daneben formuliert Nietzsche eine meta-ethische Kritik, welche den Status moralischer Aussagen hinterfragt: Gibt es das Gute, das Wahre, das Gerechte, was unsere Wertvorstellungen objektiv rechtfertigt? Nietzsche verneint dies anhand der unterschiedlichen Wertungsweisen von Herren- und Sklavenmoral . Nach ersterer sind gut und schlecht nur Auszeichnungen bzw . Begriffsdefinitionen am Maßstab der eigenen Natur .14 Sprachgebrauch wird zur „Machtäusserung der Herrschenden“ . Ihre Wertsetzung ist Akt der natürlichen Identifikation: „[D]as Urtheil ‚gut‘ rührt nicht von Denen her, welchen ‚Güte‘ erwiesen wird! Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten […] .“15 Demgegenüber kreiert die Umwertung der Werte durch die Sklavenmoral moralische Tatsachen sui generis: Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das R e s s e n t i m e n t selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: […] Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Außerhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und d i e s Nein ist ihre schöpferische That . Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks […] gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt […] .16
Diese Wertsetzung ist Gegenstand Nietzsches meta-ethischer Kritik . Es gibt nicht das Wahre, Gute oder Gerechte, welches die objektive Gültigkeit moralischer Überzeugungen rechtfertigen könnte . Jede objektive Gültigkeit beanspruchende Moral und Wertungsweise kreiert einen metaphysischen Schein:17 „Die Kennzeichen, welche man dem ‚wahren Sein‘ der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des NichtSeins, des N i c h t s , – man hat die ‚wahre Welt‘ aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloß eine m o r a l i s c h - o p t i s c h e Täuschung ist .“18 Die neuen Werte sind metaphysische Ideale, sind reaktiv gegenüber der natürlichen Wertsetzung der Vornehmen, da sie sich von der realen Welt abgrenzen . Aus den bloßen Bezeichnungen gut – schlecht werden moralische Entitäten gut – böse mit eigener Existenz und selbstständigem Sein .19 Modern gesprochen lässt sich Nietzsche daher als meta-ethischer Anti-Realist qualifizieren: Es gibt nach ihm keine objektiven Tatsachen in Bezug auf das moralisch
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nal Inquiry, in: Nietzsche’s Postmoralism, hg . von Richard Schacht, 2001) oder Perfektionist (z . B . Thomas Hurka, Perfectionism, 1993, 72 ff .; Thomas Hurka, Nietzsche: Perfectionist, in: Nietzsche and Morality, hg . von Brian Leiter und Neil Sinhababu, 2007) zu interpretieren, stellen letztlich gleichermaßen auf die Beförderung menschlicher Exzellenz ab . Vgl . dazu auch Leiter (Fn . 8), 20 ff . Vgl . dazu Raffnsøe (Fn . 6), 37 ff . Nietzsche (Fn . 5), I, 2 . Vgl . ähnlich ebd ., I, 6; Friedrich W . Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 4, 1999, I, 15; ebd ., II, 12; Friedrich W . Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 3, 1999, 301; Nietzsche (Fn . 13), MR, 3 . Nietzsche (Fn . 5), I, 10 . Überdies stellt Nietzsche weitere theoretische Vorannahmen der Sklavenmoral in Frage, insb . den (für diese Moral erforderlichen) freien Willen, die hinreichende Transparenz der Handlungsmotive moralischer Akteure sowie deren hinreichende Gleichheit für eine universelle Moral . Vgl . dazu ausführlich Leiter (Fn . 8), 4 ff . Friedrich W . Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 6, 1999, V, 6 . Vgl . hierzu Raffnsøe (Fn . 6), 50 ff .
Recht jenseits objektiver Gerechtigkeit und Moral
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Richtige und Falsche .20 Dies bedeutet auch, dass Nietzsches eigene normativ-ethische Position nicht den Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben kann .21 Hiermit sind wir nun bei unserer Ausgangsfrage angelangt, denn Nietzsches Moralkritik stellt auch unsere intuitive Vorstellung von einem „richtigen Recht“ und überpositiver Gerechtigkeit in Frage: Wenn sich danach die objektive Gültigkeit unserer Werturteile und damit auch unserer Rechtsüberzeugungen nicht mehr rechtfertigen lässt, wird dann die Kontingenz des Rechts zum Problem? Sind wir noch befugt, gegenüber Andersdenkenden unsere Rechtsüberzeugungen zu behaupten und durchzusetzen? Interessanterweise lässt sich dies gerade mit Nietzsche bejahen, weil er das Recht funktional betrachtet, namentlich als Mittel des sozialen Kräfteausgleichs . III. Recht
als
mIttel
des sozIalen
kRäFteausgleIchs
Nach Nietzsches funktionalistischem Rechtsverständnis ist „Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe [sc . der älteren Menschheit] […] der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu ‚verständigen‘ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu z w i n g e n “ .22 Entsprechend versteht er Recht und Gesetz als „die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe“ .23 Gesetz und Recht sind Mittel, das soziale Gleichgewicht immer aufs Neue auszutarieren und zu sichern .24 Daher sind Rechtszustände stets evolutiv, da sie das soziale Macht- bzw . Kräfteverhältnis der beteiligten Rechtssubjekte abbilden und als solche nicht auf Dauer gestellt sein können . Demgegenüber ein „Recht an sich“ zu postulieren ist statisch und führt zum Abbruch der natürlichen Rechtsentwicklung: Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ (und nicht […] von dem Akte der Verletzung an) . An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns […] . Man muss sich sogar etwas noch Bedenklicheres eingestehn: dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur A u s n a h m e - Z u s t ä n d e sein dürfen […] . Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel g e g e n allen Kampf überhaupt […], wäre ein l e b e n s f e i n d l i c h e s Princip […] .25
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Vgl . in diesem Sinne auch Leiter (Fn . 8), 45 ff . Vgl . jedoch für ein naturalistisches Verständnis Nietzsches John T . Wilcox, Truth and Value in Nietzsche, 1982 und Richard Schacht, Nietzsche, 1983 . Vgl . jüngst auch die Beiträge in Nietzsche and Morality, 2007 . Nietzsches Forderung nach menschlicher Exzellenz beansprucht nicht moralepistemologische Wahrheit . Vielmehr ist sie lediglich Aufforderung an die Vornehmen, Werte entsprechend der eigenen Natur zu setzen, gerade weil die objektive Notwendigkeit einer universellen Moral (so der Anspruch der Sklavenmoral) als Schein entlarvt ist . Für Nietzsche gibt es daher allenfalls intersubjektive, typenspezifische Gültigkeit moralischer Werte . Vgl . hierzu Leiter (Fn . 8), 45 ff . Nietzsche (Fn . 5), II, 8 . Vgl . auch Friedrich W . Nietzsche, Menschlich-Allzumenschliches, Sämtliche Werke (hg . von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), Bd . 2, 1999, I, 92 f .; ebd ., II, II, 22 . Nietzsche (Fn . 5), II, 11 . Vgl . Nietzsche (Fn . 22), II, II, 26; Nietzsche (Fn . 13), MR, 112 . Nietzsche (Fn . 5), II, 11 . Vgl . ähnlich Nietzsche (Fn . 22), II, II, 26; ebd ., II, II, 31 .
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Nietzsches funktionalistisches Rechtsverständnis ist angesichts seiner meta-ethischen Position konsequent . Gibt es keine objektiv gültigen, moralischen Tatsachen, gibt es auch kein überpositives „Recht an sich“, welches die Gültigkeit unserer Rechtsüberzeugungen objektiv rechtfertigen könnte . Rechtsdiskurs ist für Nietzsche zunächst ein „Kampf von Macht-Complexen“ . Erst im Zuge dieses Kräftespiels entwickelt sich durch Vertragen26 das Recht der Vornehmen als temporärer Konsens, der bei Veränderung der Machtverhältnisse neu ausgehandelt werden muss .27 Ihre „Rechtszustände“ sind daher „immer nur A u s n a h m e - Z u s t ä n d e “ und „Mittel im Kampf von Macht-Complexen“ .28 Doch selbst unter den Vorzeichen der Sklavenmoral würde sich m . E . die Funktion des Rechts als Ausdruck des sozialen Kräftespiels nicht grundlegend ändern . Auch die Wertvorstellungen der Sklavenmoral (mithin auch ihre am Ideal der Gerechtigkeit orientierten Rechtsüberzeugungen) entspringen „d e m S c h u t z - u n d H e i l - I n s t i n k t e e i n e s d e g e n e r i r e n d e n L e b e n s , welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft […] – e[s] gerade gehört zu den ganz grossen c o n s e r v i r e n d e n und J a - s c h a f f e n d e n Gewalten des Lebens …“ .29 D . h ., laut Nietzsche ist die Erschaffung einer metaphysischen Überwelt die letzte Überlebenshoffnung einer schwachen Natur . „Der Mensch war damit g e r e t t e t , er hatte einen S i n n , er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, […] er konnte nunmehr Etwas wollen […]: d e r W i l l e s e l b s t w a r g e r e t t e t .“30 Indem sie metaphysisch fundierte, moralische Tatsachen postulieren, versuchen die von Natur aus Schwachen sich selbst und ihre eigene Lebensform zu erhalten und gegenüber anderen durchzusetzen . D . h ., auch hier lassen sich Gesetz und Recht (als rechtspezifische Manifestationen der Sklavenmoral) als Mittel des sozialen Kräfteausgleichs interpretieren, nur dass angestrebt wird, den Ausgleich metaphysisch auf Dauer zu stellen . Obwohl es Nietzsche metaethisch als ein „Mittel g e g e n allen Kampf überhaupt“ und „ein l e b e n s f e i n d l i c h e s Princip“ kritisiert,31 ist deren Recht gleichwohl funktional ein soziales Machtmittel, und ebenso ist das Bestreben, hierdurch die vornehmen Menschen zu dominieren, Ausdruck des sozialen Kräftespiels .
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Vgl . zum Vertragscharakter der Rechtsentstehung nur Nietzsche (Fn . 5), II, 4; Nietzsche (Fn . 22), I, 446 und dazu Cyril Freitag, Je mächtiger, desto menschlicher, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 5 (2010), 421 ff .; Straube (Fn . 4), 56 ff . m . w . N . Vgl . auch Nietzsche (Fn . 22), II, II, 26: „Recht, auf Verträgen zwischen G l e i c h e n beruhend, besteht, solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; […] Rechtszustände sind also zeitweilige M i t t e l , welche die Klugheit anräth, keine Ziele .“ Vgl . dazu auch Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 1999, 229; Kerger (Fn . 4), 30; Yang (Fn . 4), 56 f .; Freitag (Fn . 26), 423 f . Nietzsche (Fn . 5), II, 11 . Vgl . zum Recht als Produkt wechselseitiger Machtabschätzung und Anerkennung ebd ., II, 8; Nietzsche (Fn . 13), MR, 112; Nietzsche (Fn . 22), I, 93; ebd ., I, 446 und dazu Straube (Fn . 4), 34 ff .; Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, 1988, 114 ff .; Yang (Fn . 4), 46 ff .; Freitag (Fn . 26), 421 ff . Nietzsche (Fn . 5), III, 13 . Vgl . auch ebd ., III, 11 . Ebd ., III, 28 . Ebd ., II, 11 .
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IV. Recht
als kontIngente, aBeR suBJektIV notWendIge
leBensFoRm
Damit gelingt es Nietzsche, Rechtsüberzeugungen als objektiv kontingent und gleichzeitig als subjektiv notwendig auszuweisen . Einerseits gibt es weder „richtiges“, noch „notwendiges“ Recht, da es nichts in der Welt gibt, was bestimmte Rechtsüberzeugungen objektiv wahr macht . Gegenüber Andersdenkenden können wir für die eigene Rechtsüberzeugung keine objektiv gültigen Gründe anführen . Andererseits ist für Nietzsche unser soziales Selbst (d . h . die Machtposition, die wir gegenüber anderen im sozialen Kräftespiel auf Grund unserer Natur einnehmen) rechtlich verfasst . In Form meiner Rechtsüberzeugungen trete ich anderen gegenüber, und Recht ist nachher als „Ergebnis menschlicher Auseinandersetzung ein soziales, mithin kommunikatives Phänomen“ .32 Insofern also Recht die natürliche Entäußerungsform unseres sozialen Selbst ist, sind die jeweils eigenen Rechtsüberzeugungen subjektiv notwendig: Sie können und müssen als solche gegenüber Andersdenkenden behauptet werden .33 Vor dem Hintergrund seiner Moralkritik scheint mir nun Nietzsches funktionales und sozial fundiertes Rechtsverständnis ein möglicher Ansatzpunkt zu sein, wie sich Recht trotz der subjektiven Bedingtheit unserer eigenen Werturteile heute konzipieren lässt . Gegenwärtig werden wir – ausgehend von der Kontingenz und Pluralität rechtlicher Überzeugungen – im Wesentlichen vor zwei Probleme gestellt: 1) Es scheint keinen Zweck des Rechts zu geben, insofern sich kein notwendiges Ziel des Rechts angeben lässt . Die Frage „Wozu Recht?“ hat keine eindeutige Antwort . 2) Es scheint keine Rechtserkenntnis zu geben . D . h . zum einen, dass es keine absolute Rechtsbegründung gibt, da sich Recht allenfalls als relativ-rational innerhalb eines begrenzten, übersehbaren Kontexts (etwa der eigenen Wertegemeinschaft) ausweisen lässt . Zum anderen gibt es keine externe Rechtskritik . Die Kontingenz der Werturteile und allenfalls interne Rationalität der Rechtsbegründung erlauben keine Kritik anderer Rechtszustände, die Anspruch auf Gültigkeit oder Wahrheit hätte . Mit Nietzsche können wir nun gut dafür argumentieren, dass wir trotz der Kontingenz eigener Werturteile und der Relativität unserer Rechtsüberzeugungen gleichwohl nicht auf diese verzichten können . Der Grund ist, dass – so die These, für die ich mit Nietzsche argumentiert habe – Recht und soziale Identität wesentlich miteinander verknüpft sind . Rechtsüberzeugungen sind Ausdruck unseres Selbstverständnisses, im sozialen Kräftespiel sind sie also immer schon identitätsgenerierend . Die vermeintliche Möglichkeit, auf sie verzichten zu können, suggeriert eine vom Recht unabhängige Natur bzw . „soziales Selbst“ . Jedoch kommen wir niemals aus unserer „rechtlichen Haut“ heraus . Der Standardeinwand gegen eine relativistische Rechtsauffassung, wonach man auf kontingente Rechtsüberzeugungen gleich ganz verzichten könne, ist also verfehlt . Denn mit Nietzsche lässt sich den beiden oben genannten Problemen entgegentreten . Zum einen hat Recht in seiner Funktion als Aus32 33
Freitag (Fn . 26), 421 . Die subjektive Notwendigkeit der Rechtsüberzeugungen ist freilich bei Herren- und Sklavenmoral unterschiedlich begründet: Bei der ersteren erwächst sie der aktiven Bejahung der eigenen Natur und Lebensform, bei der letzteren der Überlebenshoffnung eines degenerierten Lebens, welche gerade auf die Verleugnung der Natur und des lebensbejahenden Prinzips hinausläuft (Wille zum Nichts) . Gleichwohl dient in beiden Fällen das Recht der Bewahrung der eigenen Lebensform, in beiden Fällen können die Rechtssubjekte schlichtweg nicht anders handeln .
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gleich im sozialen Kräftespiel einen notwendigen Zweck . Zum anderen stellt sich nicht mehr das Problem der Rechtserkenntnis: Eine Rechtsbegründung überhebt sich, da der Anspruch auf ein objektiv gültiges Recht aufgegeben wird und gleichzeitig die eigenen Rechtsüberzeugungen als natürliche Entäußerungsform unserer selbst nicht begründungsbedürftig sind . Rechtskritik gegenüber anderen hingegen wird schon begrifflich notwendig, da sie im sozialen Kräftespiel notwendig ist, um die eigene Identität zu behaupten . Obwohl dabei freilich noch viele Fragen offen bleiben, kann man so versuchen, mit Nietzsche die relativistische Herausforderung anzunehmen und Recht als kontingente, aber subjektiv notwendige Lebensform zu konzipieren – als Recht jenseits der Gerechtigkeit .
oliVer Bach, München Wozu Recht? – WaRum Recht! zum
VeRnunFtRechtlIchen
eInem
natuRzustand 2.0
paRadIgmenWechsel
und
Handlungen verfolgen immer einen Zweck, ein Ziel, ein Telos also und insofern sind Handlungen teleologisch angelegt und damit auch ihre versuchte Normierung, also auch Recht und Gesetz . Das betrifft allerdings das konkrete Ziel der einzelnen Handlung . Wenn es nun jedoch um die Bewertung, die Normierung eben dieses Ziels geht, ob dieses Ziel also rechtlich oder widerrechtlich ist, mithin ob die Handlung, die zu diesem Ziel führt, zu unterlassen oder geboten ist, dann stellt sich die Frage der Gewinnung dieser Normierung in der Weise, wie sie hier überschrieben ist . Wird die Norm dafür, ob jemand und seine Gemeinschaftsgenossen ein Ziel verfolgen oder vermeiden, die Mittel dazu aufwenden oder unterlassen sollen, wiederum aus einem Zweck gewonnen, also einem Zweck irgendwie allgemeinerer Art, höherer Dignität oder jedenfalls härterer Konsequenz (wie zum Beispiel durch den Verlust des jenseitigen Heils)? Oder resultiert die Norm aus Gründen anderer Art, also Wirkursachen oder aus der immanenten Logik zum Beispiel des Freiheitsbegriffs? Darum hat es hier zu gehen . Es wird zu zeigen versucht, dass es gerade im Hinblick auf ein universales Rechtsdenken, also oberhalb des positiven Rechts besonders triftig ist, allgemeine Zwecksetzung zur Gewinnung von allgemeinem Recht als problematisch anzusehen . I. das
neuscholastIsche, noch VeRmehRt teleologIsche
Rechtsdenken
Das vorhobbesianische bzw . nach ihm auch antihobbesianische Rechtsdenken hat seine Gemeinsamkeit in der Annahme einer teleologisch veranlagten Natur: Der Zustand der Menschheit, gedacht als natürliche Rechtsgemeinschaft, ist letztlich ein Zustand prästabilierter Harmonie . Natürlich gibt es Kriege und Verbrechen, diese jedoch sind schon Ausnahmen von diesem Zustand, Verstöße gegen seine rechtsförmige Gesetzmäßigkeit .1 Die Natur ist zweckmäßig eingerichtet, entsprechend hat der Mensch sowohl das Recht als auch die Pflicht, diese ihm nur natürlichen Zwecke zu verfolgen . Bei Francisco de Vitoria, neben Hugo Grotius Gründervater des Völkerrechts, bei Francisco Suárez und auch bei Samuel Pufendorf und sogar noch Hugo Grotius selbst ist die Annahme einer anthropologischen, material bestimmten Zwecksetzung des Menschen als animal sociale grundlegend . Schon dort findet sich widerspruchsvoll, aber eben unreflektiert die doppelte Ausstattung des Menschen als im Naturzustand gleichzeitig zwangsfreiem und doch irgendwie rechtlichen Zwängen unterworfenem Wesen .
1
Vgl . Julius Ebbinghaus, Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (1957), Gesammelte Schriften (hg . von Hariolf Oberer / Georg Geismann) Bd . 3, 1990, S . 395–416 .
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Oliver Bach
Die Überzeugung von dieser Harmonie wurde erstmalig und nachhaltig erschüttert durch den politischen Pragmatismus Niccolò Machiavellis, dessen prudentielle Staatslehre notwendigen allgemeinen Rechtsnormen indifferent gegenüberstand .2 Dem zugrunde lag seine Überzeugung, dass ein allgemeines, natürliches Recht faktenhistorisch gar nicht gilt, weil es nicht geltend gemacht wird – weder von einer strafbewehrten Völkerrechtsgemeinschaft mit internationalem und international anerkanntem Strafgerichtshof noch von einem irdisch strafenden Gott . Gerade in letzterem Punkt schuf seine Politiklehre eine „neue Welt der Profanität“ .3 Francisco de Vitoria sah in der Menschheit eine globale, natürliche Gemeinschaft, ja sogar „in irgendeiner Weise einen Staat“,4 ausgerichtet auf ein gemeinsames Ziel, nämlich die Abwehr nicht etwa bloß des Unrechten, sondern vor allem des Bösen, und damit auf das ebenso gemeinsame Streben nach dem Heil: Vitorias Natur- bzw . Völkerrecht hat seinen Zweck vor allem darin, dass die Heilserlangung nicht gefährdet werden darf . Daraus zieht er 1539 in seiner berühmten Vorlesung De Indis sowohl die Folgerung, dass die neue Welt nicht zwangsmissioniert werden darf, weil Glaube unter Zwang nur falscher Glaube sei;5 als auch schlussfolgert er die globale gebotene Zulassung von Missionaren: Ein heidnischer Herrscher dürfe ihnen die Einreise nicht verwehren, solange sie sich friedlich verhalten; tut er es doch, dürfen die Missionare Gewalt anwenden .6 So sehr auch Vitorias Denken von einem universalen Recht einer gewaltsamen Christianisierungen wehren wollte, wie sie sein Gegner Gines de Sepúlveda forderte und für legitim hielt,7 so bleibt ein allgemeiner Zweck der Menschheit, aus dem sie ihr allgemeines Recht gewinnt, nämlich das Heil . Das gilt ebenso für die protestantischen Naturrechtslehren . Die vornehmlich protestantische Betonung der Zwei-Reiche-Lehre darf nicht übersehen lassen, dass das weltliche Regiment nur bis zu dem Punkt Autonomie genießt, ab welchem es die äußeren, lebensweltlichen Ermöglichungsbedingungen der (freien?) Religionsaus2
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Vgl . Oliver Bach / Norbert Brieskorn / Gideon Stiening, „Auctoritas omnium legum“ Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, in: „Auctoritas omnium legum“ Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, hg . von Oliver Bach / Norbert Brieskorn / Gideon Stiening, 2013, XIII–XXVII, hier XVI . Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, 1986, 575 . Francisco de Vitoria, De potestate civili, Vorlesungen. Völkerrecht, Politik, Kirche (hg . von Ulrich Horst / Heinz-Gerhard Justenhoven / Joachim Stüben), Bd . 1, 1995, 114–161, hier 156: „Habet enim totus orbis, qui aliquo modo est una res publica, potestatem ferendi leges aequas et convenientes omnibus, […] .“ Vgl . Michael Sievernich, Toleranz und Kommunikation . Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria, in: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik, hg . von Frank Grunert / Kurt Seelmann, 2001, 183–203, hier 183–189; auch Oliver Bach, „At nobis contrarium videtur verum“ Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas, in: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive, hg . von Norbert Brieskorn / Gideon Stiening, 2011, 191–217, hier 192–195 . Vgl . Frank Grunert, Theologische Norm und der politische Anspruch der Kirche, in: Brieskorn/ Stiening (Fn . 5), 171–188, hier 184 . Insofern nämlich Sepúlveda die Indios unter Veranschlagung aristotelischer Anthropologie für nicht vernunftbegabt und damit für natürliche Sklaven hielt: vgl . Christian Schäfer, ‚Freedom‘ oder ‚Liberty‘? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von De anima, in: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik, hg . von Matthias Kaufmann / Robert Schnepf, 2007, 85–105 .
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übung zur Verfügung stellen soll und insofern funktionalen Charakter für den Heilszweck besitzt . Für die calvinistischen Staatslehren ist dies keine Neuigkeit, ihre eminente politische Theologie ist rechtsphilosophisch nicht zu bestreiten .8 Jedoch auch für das lutheranische Rechtsdenken stellt Ernst-Wolfgang Böckenförde zurecht eine keineswegs paradoxale theonome Säkularität weltlicher Rechtssetzungskompetenz fest: „Die weltliche Herrschaft wird – theologisch begründet und orientiert – in die Weltlichkeit entlassen .“9 Eine bemerkenswerte Zwischenstufe stellt das Rechtsdenken des Francisco Suárez dar . Seine Disputationes Metaphysicae (1597) waren für alle Universitäten des 17 . Jahrhunderts schulbildend, und zwar für protestantische Universitäten genauso wie katholische .10 Sie war auch bestimmend, weil grundlegend für sein Rechtsdenken im Tractatus de legibus ac Deo legislatore (1612) . Dieses stellt deshalb eine bemerkenswerte Zwischenstufe dar, weil Suárez’ politische Anthropologie eine doppelte Veranlagung annimmt: Denn der Mensch ist nur zum Einen auf die Vergemeinschaftung mit den anderen Menschen angelegt und der Beachtung allgemeiner Normen gegenüber diesen verpflichtet, heißt es doch „hominem esse animal sociale .“11 Zum Anderen spricht Suárez jedoch schon vor Thomas Hobbes die grundsätzliche Freiheit des Menschen im Naturzustand aus und formuliert ebenso klar aus, was dies dem Begriffe nach eigentlich bedeutet: dass der Mensch von keinem anderen Menschen zu irgendetwas gezwungen oder von irgendetwas abgehalten werden darf: „[H]omo natura sua liber est et nulli subiectus nisi creatori tantum .“12 Wie diese doppelte anthropologische Ausstattung des Menschen zustande kommt und wie ihre tendenzielle Antinomik vermittelbar sein soll, reflektiert z . B . Suárez nicht eigens .13 Julius Ebbinghaus und Georg Geismann haben mehrfach und zurecht die rechtsphilosophischen Mängel dieses Naturstands- und Naturrechtskonzeptes herausgestellt und aufgezeigt, warum Thomas Hobbes zurecht als Revolutionär gelten darf .14 Hier ist es ideenhistorisch um den Zusatz zu tun, dass Francisco Suárez schon ungewollt diejenige Widersprüchlichkeit des Naturzustandsdenkens offengelegt hatte, die Thomas Hobbes schließlich systematisch reflektieren und zur Grundlage seines Kontraktualismus machen sollte . 8 9 10 11 12 13 14
Vgl . Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius’ Politische Theologie, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Karl-Wilhelm Dahl / Werner Krawietz / Dieter Wyduckel), 1988, 213–231, hier 219–221 . Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2 . Aufl ., 2006, 411 . So schon Lewis White Beck, Early German Philosophy. Kant and His Predecessors, 1969, 123; jüngst dazu Ludger Honnefelder, Anlass, Kontext, Aufbau und Wirkung von Suárez’ Disputationes Metaphysicae, in: Bach/Brieskorn/Stiening (Fn . 2), 3–26, hier 6–9 . Francisco Suárez, De Legibus (III, 1–16) De civili potestate, De Legibus (hg . von Luciano Pereña), Bd . V, 1975, 8–10 (DL III . 1 . 3 u . 4) . Ibid ., 6 (DL III . 1 . 1) . So auch Gideon Stiening, Libertas et potestas . Zur Staatstheorie in De Legibus (DL III), in: Bach/ Brieskorn/Stiening (Fn . 2), 195–230, hier 198–200 . Georg Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, Der Staat 21 (1982), 161–189; ders ., Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ Politischen Philosophie, Jahrbuch für Politik 2–2 (1992), 319–336; ders ., Naturrecht nach Kant . Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ‚klassische‘ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben, Jahrbuch für Politik 5–1 (1995), 141–177 .
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II. thomas hoBBes’ RechtslogIsche natuRstandsReFlexIon und kontRaktualIsmus Mit diesem vollzog sich ein Bruch mit den bisherigen Naturrechtskonzepten: An die Stelle einer Ausrichtung auf bestimmte Teloi (wozu?) vorgeblich universalen Rechts trat die wirkursächliche (warum?) Bedeutung der Willens- und Vernunftfähigkeit des Menschen für die Begründung der Notwendigkeit von Recht . Denn Hobbes nimmt nun nicht mehr einen gemeinsamen Zweck als Grundlage eines geltenden überpositiven Rechts an, sondern die denknotwendige Widersprüchlichkeit des Naturrechts auf Selbsterhaltung in seiner Ausübung: „Iuris naturalis fundamentum primum est, ut quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur .“15 Wenn jeder ein Recht auf alles hat, eben weil er im Naturzustand von äußerem Zwang frei ist, dann kollidieren diese gegenseitigen Rechte auf alles, und damit hebt sich dieses ius omnium in omnia zu einem Recht auf nichts auf . Zweck des Rechts ist damit bei Hobbes ‚nur‘ noch formal-allgemein: eine Ordnungsfindung, welche es auch immer sei – dieser Zweck ist also nicht mehr schon material bestimmt wie in der Scholastik und Neuscholastik . Grund und Ursache des Rechts ist die denknotwendige Rechtsfreiheit des Naturzustands, die denknotwendige Rechtskollision im Naturzustand und ihre Regelungsbedürftigkeit . Hobbes kommt als erster in ganz wirkursächlicher Hinsicht auf ein Warum des Rechts . Daher ist die Staatsgründung notwendig und die dem Gedanken nach vertragliche Abtretung aller Rechte an den absoluten Herrscher . Hobbes’ Warum des Rechts ist notwendiger Weise nur ein Warum des positiven Rechts . Es gibt kein überpositives Recht und das ist eben Grund und Ursache des positiven Rechts . Positives Recht ist nicht mehr nur Ausbuchstabierung des natürlichen Rechts per determinationem wie bei den Scholastikern,16 sondern es schafft selbst originär Recht . Auf das naturständliche Ausgesetztsein des Einzelnen gegenüber unzähligen anderen Willküren bietet Hobbes nur die fragwürdige Alternative, stattdessen nur einer Willkür ausgesetzt zu sein . III. Rousseau: zuRück zum VoRhaBen eInes unIVeRsalen Rechts – odeR: dIe möglIchkeIt rechtlicher FReIheItseInschRänkung aus FReIheIt Dass diese Alternative nicht nur politisch schlecht, sondern auch rechtsphilosophisch unsinnig ist, hat erstmals Jean-Jacques Rousseau wirklich begriffen: „Der Stärke weichen ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des freien Willens; es ist allenfalls ein Akt der Klugheit . In welcher Hinsicht könnte es eine Pflicht sein?“17 Der hobbessche Staatsvertrag ist darum selbstwidersprüchlich und nichtig, weil die Rechtssubjekte im Unterwerfungsvertrag auf nichts anderes als eben ihre Rechtssub-
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Hobbes, Thomas, Elementa Philosophica de Cive, 1647, p . 11 f . Hervorhebung im Text . Vgl . ders, Vom Menschen / Vom Bürger, hg . von Günter Gawlick, 1994, 81 . Siehe dazu Oliver Bach, Juridische Hermeneutik . Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze, in: Bach/Brieskorn/Stiening (Fn . 2), 267–309 . Rousseau, Jean-Jacques, Du contrat social. Vom Gesellschaftsvertrag . Übers . u . hrsg . v . Hans Brockard . Stuttgart: Reclam, 2010, 17 (I, 3) .
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jektivität verzichten und damit der Vertrag seinen Gegenstand und seine Geltung verliert .18 Rousseau erkennt, dass im Hinblick auf den empirischen Willen des absoluten Herrschers bei Hobbes die Willkürproblematik des Naturzustands bestehen bleibt . Hobbes machte den entscheidenden Fehler der Tradition, gegen die er sich eigentlich abheben wollte, weiter mit, nämlich den Naturrechtsbegriff als material bestimmt anzusehen und insofern ist Hobbes’ Analyse nicht durchweg rechtslogisch angelegt .19 Die Natur war bei Hobbes entteleologisiert, nicht jedoch der Rechtsbegriff und derjenige der Selbsterhaltung . Daher ist es eine radikale Revision des Begriffs vom natürlichen Recht und des Begriffs von Recht überhaupt, die nach Hobbes noch ausstand und in Rousseau ihren ersten Pionier hatte .20 Erst Rousseau befreit den Rechtsbegriff von jeder Verknüpfung mit möglichen Zwecken . Daher ist es auch die Freiheit des menschlichen Handlungsvermögens selbst, die Rousseau betont und nicht noch wie Hobbes eine aus der Selbsterhaltung notwendig zu bezweckende Staatsgründung . Rousseau kommt durch diese von Teleologien vollkommen entkleidete Betrachtungsweise zum rein rationalen Begriff der Freiheit: Sie besteht allein hinsichtlich des Vermögens, das eigene Handeln nach eigenen Vorstellungen zu bestimmen, was nichts anderes heißt, als von der nötigenden Willkür anderer frei zu sein .21 Auch die Gleichheit besteht damit nicht in irgendwelchen gemeinsamen, jedenfalls bestimmten (und damit eben material bestimmten) empirischen Eigenschaften des Menschen, sondern nur hinsichtlich des Vermögens zu beliebigem Handeln: „Die Gleichheit der Menschen ist (zunächst) die Gleichheit ihrer Freiheit .“22 Diese Freiheit und diese Gleichheit stehen der Vergemeinschaftung nun gerade nicht wie ein widerspruchsvolles ius omnium in omnia entgegen, sondern sind die notwendigen Voraussetzungen des contrat social: Ohne Freiheit, ohne das Vermögen vernünftiger Handlungsbestimmung kann niemand irgendwelchen Regeln der Freiheitseinschränkung unterworfen sein – wie also sollte er gegenüber diesen Regeln in der Verantwortung stehen? Aus der vollkommenen Entteleologisierung des Freiheitsbegriffs gewinnt Rousseau seinen rein vernünftigen Gemeinwillen – die volonté générale . Sie unterscheidet sich von der volonté des tous nicht etwa quantitativ, sondern schlicht darin, dass die volonté générale vernünftig ist und nicht von empirischen Willensbekundungen abhängt . Dieser allgemeine Wille ist eben aus dem Gedanken gewonnen, dass die
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Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau (Fn . 14), 171 . Vgl . ibid . Er knüpfte zwar an Hobbes’ rechtslogischer Analyse des Naturzustandes an, die jedoch erst ihn zu der umfassenden Erkenntnis führte, dass eine Gesetzgebung im Hinblick auf menschliche Zwecksetzung schlicht unbrauchbar ist für die Lösung des Problems möglicher Rechtskonflikte, mehr noch: Unethische genauso wie ethische Zwecksetzung vermeidet Rechtskonflikte nicht nur nicht, sie kann sie sogar selbst verursachen, und dies sogar dann, wenn beide Konfliktparteien denselben moralisch guten Zweck verfolgen . Geismann, Naturrecht nach Kant (Fn . 14), 171: Es „wäre nicht einmal dann etwas gewonnen, wenn alle Menschen in ihrem Handeln den gleichen Endzweck verfolgten, weil die mögliche Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Handlungen mehrerer Personen völlig unabhängig davon ist, ob diese Personen dabei den gleichen Endzweck verfolgen oder nicht .“ Ders ., Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau (Fn . 14), 172 . Ibid ., 173 .
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Freiheit des Einen an der Freiheit des Anderen endet, d . h . allgemein ist nur derjenige Wille, der den jeweils eigenen Willen der Möglichkeit nach notwendig mit einschließt .23 Die volonté générale enthält nichts, was alle oder auch nur ein Mensch unmöglich wollen kann – unabhängig davon, ob er empirisch diesen theoretischen Willen, z . B . der Selbstentrechtung, äußert . Das mag sich bisweilen undemokratisch ausnehmen, weil die empirische Willensbekundung schlicht irrelevant ist, selbst dann, wenn sie einstimmig ist . Der große Vorteil dieses ersten echten Vernunftrechts ist es allerdings, eben solche historischen Unrechtstaten als tatsächliches Unrecht herauszustellen, die seinerzeit kein positives Staats- oder Völkerrecht verbot und die auch – zumindest initial – demokratisch auf den Weg gebracht worden waren . Die Aberkennung der Rechtssubjektivität Einzelner oder von Minoritäten wie etwa im Reichsbürgergesetz 1935 sind schon vertragslogisch, mithin vernunftrechtlich nicht denkbar . IV. Immanuel kants VeRallgemeIneRungspRInzIp: dIe RechtlIchVeRnünFtIge unWollBaRkeIt des schadens am JeWeIls andeRen Kant geht darin über Rousseau hinaus, dass er nicht nur die rechtliche Möglichkeit der staatlichen Freiheitseinschränkung, sondern auch ihre Notwendigkeit beweist – wiederum aus dem Begriff der Freiheit: Freiheit lässt sich im Zusammentreffen mit anderen Menschen nur widerspruchsfrei realisieren, wenn sie einem Gesetze nach deren Freiheiten respektiert und in ihnen ihre Grenze findet . Der rechtmäßige Staat ermöglicht die Freiheit allererst . Immanuel Kant übertrifft mit seinem Verallgemeinerungsprinzip Rousseau: „[H]andle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle) .“24 Kant stellt heraus, dass kein Rechtssubjekt vernünftiger Weise den Verlust der Rechtssubjektivität auch des je anderen wollen kann:25 Denn erstens lässt sich ein willkürlicher Rechtssubjektivitätsentzug – egal, ob er autoritär-despotisch, kulturell-evolutiv, d . h . gewohnheitsrechtlich oder demokratisch-plebiszitär zustande kommt – nicht widerspruchsfrei verallgemeinern; d . h . die Verallgemeinerung dieser Handlung26 hin zu einer Rechtshandlung, die ihrer Möglichkeit nach also jeden betrifft, wendet sich ihrem rechtlichen Inhalt nach gegen jedes Rechtssubjekt des Staates, so dass alle Rechtssubjekte wiede23 24 25
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Ibid ., 174 . Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, AA VIII 3774–5 . Kant stellt im Grunde in zwei verschiedenen Schriften die zwei für ein echtes Vernunftrecht unabdingbaren Grundfragen: So befasst er sich in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten mit der Frage nach der Möglichkeit von Verbindlichkeit (vgl . Bernhard Jakl, Recht aus Freiheit. Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants, 2009, 97); in der Kritik der praktischen Vernunft ist es dem Königsberger vor allem um die Frage nach der Möglichkeit der Willensbestimmung durch die reine Vernunft zu tun (vgl . ibid .) . Kants Handlungsbegriff, so arbeitet Bernhard Jakl gründlich heraus, geht dem Recht voraus und wird „als Realisierung einer Vorstellung eingeführt“ (Jakl, Fn . 25, 97) . Zur Reflexion auf den Begriff der freien Handlung muss „auf jeglichen Erfahrungsbezug verzichtet werden“ (Jakl, 98 f .) . Andernfalls ließe sich die Unterscheidung von Vorstellung und Realisierung einer Vorstellung nicht aufrecht erhalten; diese Unterscheidung ist aber für den Handlungsbegriff, wie gesehen, grundlegend .
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rum ihre Rechtssubjektivität rechtmäßig verlieren können – das eben ist unsinnig . Die entscheidende Folge dessen stellt Kant vor allem in seiner Friedensschrift heraus: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar“ .27 Meine Motive, gegen einen anderen handeln zu wollen, mögen also so moralisch oder unmoralisch sein, wie sie wollen; ich mag mir dessen sogar bewusst sein und den Schaden des Anderen auch noch so nachdrücklich wünschen; die Umsetzung dieser Schadensabsicht wollen kann ich vernünftiger Weise dennoch nicht, weil die rechtliche Verallgemeinerbarkeit dieser Handlung erstens nicht widerspruchsfrei möglich und damit rechtlich gar nicht denkbar ist und sich besonders zweitens immer gegen mich selbst richten kann (ohne dass dies dann rechtmäßig wäre) . Rechtsverstöße haben also nicht erst empirisch, sondern schon der Idee nach etwas Selbstzerstörerisches und daher Unkluges an sich . Kant gelingt ein Rechtsdenken, dass sich durch das Verallgemeinerungsprinzip dergestalt mit der praktischen Klugheit verbindet, dass ein Verstoß gegen Grundrechte sowohl rechtswidrig als auch unklug ist, da dieser Verstoß sich in seiner verallgemeinerten Form gegen einen selbst richten kann . In der Tat leistet die Rechtsphilosophie Kants damit nicht nur eine Vollendung ihrer selbst, sondern die kantische Vernunft schafft es auch, „die praktische Philosophie [überhaupt] mit sich selbst einig zu machen“ .28 Das gelingt Kant nur, indem er Handlung und auch Absicht nicht mehr fundamental teleologisch fasst, sondern sie, selbst die Intention, auf Wirkursächlichkeit hinunterbricht: „Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [eines Wesens O . B .], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ .29 Wenn daher „[i]m Sittengesetz […] nach der Verallgemeinerbarkeit eines subjektiven Handlungsgrundsatzes gefragt“ wird,30 so verliert dieser Grundsatz damit gerade nicht seine grundsätzlich subjektive Wollbarkeit als Fundament des allgemeinen Gesetzes . Selbst für einen Teufel ist es also nicht allein Pflicht, sondern immer auch klug, das Recht einzuhalten – solange er Verstand hat . Die endgültige Loslösung des Rechts und seiner Verpflichtungskraft von Zwecken wird deutlich .31 Mir scheint allerdings erst Georg Geismann auf den Punkt gebracht zu haben (was bei Kant allemal implizit ist), dass Zwecksetzungen Konflikte nicht nur nicht verhindern, sondern sogar erst verursachen können . Es „würden selbst dann, wenn sogar die unmittelbar das Handeln bestimmenden Zwecksetzungen bei allen Menschen die gleichen wären, deren Handlungen selber trotzdem jederzeit beliebig miteinander konfligieren können . Selbst wenn zwei Personen wirklich dasselbe teleologisch, 27 28 29 30 31
Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII 36615–16 . Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII 37622 . Ders ., Kritik der praktischen Vernunft, AA V 9 Anm .; vgl . Jakl (Fn . 25), 99 . Jakl (Fn . 25), 102 . Wohlgemerkt: Die Begriffsreflexion der Freiheit hütet Kant auch davor, vom alten Extrem einer scholastischen Teleologik in ein anderes Extrem, nämlich der Naturkausalität zu verfallen . Dort gibt es (grundsätzlich) infinite Ketten von Wirkursachen . Die Willkür wäre so nur „Durchgangsstation des Verhaltensprogramms“ (ibid ., 101), aber nicht mehr sinnvoll trennbar von Handlung: Wie kann eine Vorstellung mehrere bzw . mehrmals Handlungen realisieren, wenn sie nur ein Kettenglied der Kausalkette sein soll? Vorstellung als Wirkursache muss also selbst wiederum selbstbestimmt sein: die reine Vernunft also . Vgl . ibid ., 101 f .: „Damit rekurriert die Freiheit als Kausalität aus Freiheit auf Voraussetzungen, die jenseits der Naturkausalität und Erfahrung liegen müssen und insofern rein intelligibel und übersinnlich sind“ . Hervorhebung von mir .
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Oliver Bach also in Bezug auf bestimmte menschliche Zwecke begriffene ‚bonum commune‘ bezwecken, so haben sie dennoch nicht denselben, sondern nur den gleichen Zweck und verrichten möglicherweise entsprechend auch die gleiche, jedenfalls aber nicht dieselbe Handlung: zwei Personen – zwei Willen, zwei Zwecksetzungen, zwei Handlungen . Ob aber diese zwei Handlungen miteinander übereinstimmen oder nicht, ist ganz unabhängig davon, ob die zwei Personen dabei das gleiche Ziel verfolgen oder nicht .“32
Mit der notwendigen Differenz, dem unüberspringbaren Hiatus von Gleichem und Selbem müssen Versuche eines Neoneoaristotelismus, Rechtsphilosophie zu betreiben, darum scheitern, weil sie wieder teleologisch sind, und gleiche Zwecke rein gar keine Konflikte verhindern können und somit gar nicht rechtsbegründend sein können .33 V. das InteRnet: natuRzustand 2.0? Rechtshistorischen, auch rechtsphilosophiehistorischen Forschungen wird ihre Aktualisierbarkeit bisweilen abgesprochen – ein ‚Vorwurf ‘, der im Grunde an Banalität insofern schwer zu übertreffen ist, als das Überholtsein, d . h . gerade der nurmehr historische Charakter im Rahmen einer kritischen Argumentationsgeschichte herausgestellt wird . In aktuelle Diskurse eingreifen kann die Rechts(philosophie)geschichte damit dennoch allemal, und zwar nicht, um alte Rechtsentwürfe systematisch zu rehabilitieren – wie etwa diejenigen entlang eines beliebig fingierbaren Naturzustandes unternommenen . Vielmehr kann sie allgemeinere Diskurse verorten und bewältigen helfen, die nicht bzw . nicht nur im Kreis juristischer oder rechtsphilosophischer Expertise statthaben und sich dennoch eminent rechtlicher Fragen annehmen . Ein solcher Diskurs ist derjenige um Freiheit und Regulierungen im und Überwachung des Internet: Zunächst sei angemerkt, dass dieser Diskurs recht diffus oder gar konfus ist, was hier nicht im Einzelnen ausgebreitet werden kann . Worum es geht, ist, hier zu zeigen, dass dieser Diskurs für oder gegen mehr Regulierung im Web sich noch nicht auf das Niveau des Vernunftrechts von Rousseau und Kant begeben hat und sich im Gegenteil ein Naturzustandsdenken re-etabliert, das eben vermehrt vormodern und daher so unproduktiv ist . Wenn auf die Freiheit im Web Bezug genommen wird, dann wird grosso modo auf einen immer empirischen (oder zumindest als empirisch behaupteten) Naturzustand 2 .0 referiert, nicht aber auf den Begriff der Freiheit als solcher . Dass dieser Ansatz implicite vorliegt, zeigt sich darin, dass unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit vorliegen, diese mithin also mehr an empirischen oder ‚empirisierenden‘ Imaginationen entworfen sind . Der Streit ist also gerade deshalb so eingefahren, die Differenzen sind eben darum unüberwindbar, weil sie vom selben Irrtum ausgehen: Auf beiden Seiten des Webdiskurses wird der Freiheitsdiskurs nicht entlang des Frei-
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Geismann, Politische Philosophie – hinter Kant zurück? (Fn . 14), 330 . Hervorhebungen im Text . Vgl . die Kontroverse Geismann-Detjen: Geismann, Politische Philosophie – hinter Kant zurück? (Fn . 14); Joachim Detjen, Kantischer Vernunftsstaat der Freiheit oder klassische Ordnung zum Gemeinwohl? Zur Kontroverse mit Georg Geismann um die Grundlagen der politischen Philosophie, Jahrbuch für Politik 4–1 (1994), 157–188; Georg Geismann, Naturrecht nach Kant (Fn . 14) .
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heitsbegriffs geführt, sondern entlang eines Naturzustands 2 .0, der weitgehend als Zustand prästabilierter Harmonie angenommen wird . Das äußert sich schon je für sich äußerst widerspruchsvoll: Für die Befürworter von strengen Regulierungen und Kontrollen besteht diese Harmonie in einer Ordnung, die irgendwie natürlich vorhanden ist, welcher der Mensch aber natürlicher Weise irgendwie nicht folgt: Seine natürliche Freiheit widerspricht also der natürlichen Ordnung . Schon daran sieht man, dass die Ordnung nicht am Begriff der Freiheit entwickelt worden sein kann . Für die Gegner von Regulierungen und Kontrollen besteht die prästabilierte Harmonie oftmals gleich doppelt, nämlich in einer Ordnung, die erstens irgendwie natürlich vorhanden ist und der zweitens der Mensch doch eigentlich natürlicher Weise schon gerecht wird, der gegenüber er also konform handelt, indem er seine Freiheit richtig benutzt . Auch hier ist die Ordnung nicht am Begriff der Freiheit entwickelt worden, denn die Freiheit ist nicht Prinzip der Ordnung, sondern wie im Fall der Gegner nur ein Instrument, das die Ordnung realisieren soll . Es sind die Ansätze beider Seiten, die vor Kant und Rousseau zurückfallen: Wenn die Regulierungsbefürworter eine natürliche Ordnung annehmen, aber den Menschen selbst als ihre Erfüllungsinstanz nicht annehmen, und ebenso wenig den wirklichen Versuch einer echt-universalen, also auf dem Verallgemeinerungsprinzip und dem Widerspruchsverbot aufbauenden Rechtsordnung unternehmen, dann fragt sich, was eigentlich die inhaltliche Rechtsquelle, was ihre Geltungsinstanz sein soll: Das Mittelalter und die Neuscholastik hatte damit kein Problem, insofern es an diese Stelle einfach Gott setzte . Ein solcher Gott 2 .0 ist aber wohl kaum der Anspruch auch dieser Diskurspartei: Das bedeutet dann aber, dass die allgemeinen Regulierungsgrundsätze, so sie weder modern-philosophisch am Begriff der Freiheit ansetzen noch vormodern-theologisch Gott als Geltendmacher einer material bestimmten Ordnung annehmen, im Effekt nur positivistisch sein können – ihre Allgemeinheit ist nur eine behauptete, ihre Geltung eine gesetzte Geltung und darum für eine echte universale und rechtliche Ordnung des Web nichts gewonnen: Gerade das aber müsste versucht werden, schließlich ist das Agieren im Netz immer ein globales .34 Diese positivistische Haltung zeigt sich bisweilen recht unverhohlen: Bei der Weltkonferenz zum Internet im Dezember 2012 in Dubai etwa wurde die deutsche Delegation angeführt von einem Abteilungsleiter aus dem Wirtschaftsministerium, weitere Delegierte kamen aus dem Innenministerium und dem Auswärtigen Amt, der Telekom und dem Verband der Deutschen Internetwirtschaft . Natürlich vertreten diese Delegierten rechtliche Interessen; aber das Interesse des Rechts selbst fand sich nicht vertreten: Ein Delegierter aus dem Justizministerium war nicht dabei . Obwohl es also der WCIT ausdrücklich um die Frage „Freiheit oder Regeln“ ging – so die einfache, eben zu einfache Frage der Rheinischen Post35 –, so wurde diese Frage dennoch offenbar nicht als rechtliches Problem wahrgenommen . Dass die im Effekt gesuchten und vielleicht auch gefundenen Regeln daher nur gesetzte, aber nicht dem Begriff der Freiheit nach tatsächlich rechtlich mögliche Regeln sein können, 34 35
IP-Adressen, also der Agierende sind national verortbar – das ja . Aber trotzdem ermöglicht gerade das Web, das damit das Agieren trans- bzw . international sein kann . O . V ., Welt-Konferenz zum Internet . Freiheit oder Regeln?, Rheinische Post Online, 3 .12 .2012: http://www .rp-online .de/digitales/internet/freiheit-oder-regeln-1 .3092713 [zuletzt aufgerufen am 7 .05 .2014] .
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ist mit so einer Herangehensweise – soviel politische Kritik muss sich Rechtsphilosophie erlauben – wohl nahezu prädeterminiert . Wenn demgegenüber die Regulierungsgegner sich gegen (mehr) Regeln aussprechen, sich damit aber nicht gegen Ordnung überhaupt und damit nicht für Chaos aussprechen möchten, dann fragt es sich, wie kann diese vorgebliche, irgendwie präexistente Ordnung im Verstoßfall zwangsbewehrt geltend gemacht werden? Auch hier wird kein Netzaktivist ernsthaft seinen Eigenanspruch an Modernität fallen lassen wollen und auf Gott als Strafinstanz verweisen, um so eine eigenhändig-menschliche Regulierung und Strafverfolgung überflüssig zu machen . Stattdessen wird auf eine mystisch anmutende Selbstregulierungskraft der Teilnehmer im Netz vertraut, insofern Regeln eingehalten würden, ohne dass diese juristisch vorgeschrieben werden müssten .36 Damit fällt man zurück in ein fichteanisches Naturzustandsideal, in welchem alle schon wollen, was sie sollen . Diese Annahme ist natürlich in hohem Maße kontrafaktisch und keiner – auch die Regulierungsgegner nicht – wird ernsthaft bestreiten, dass erwiesene Fälle von Datenklau, Kinderpornographie etc . nicht passiert wären . Dergestalt böswillige Unterstellungen werden bei der vorliegenden Diskursanalyse nicht gemacht . Die Annahme einer unvermittelten und unvermittelbaren Idealität moralischrechtlicher Integrität der User bleibt allerdings implizit vorhanden, weil auf die Ablehnung von digitalen Ordnungshütern nie präzise die Antwort folgt, wie diese Ordnung realisiert wird, wenn sie eben nicht schon mystisch je realisiert sein soll . Wenn sich z . B . ausschließlich gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen wird, ohne auch zu sagen, aus welchem Prinzip heraus diese Vorratsdatenspeicherung genauso gegen vernünftiges Recht verstößt wie die Internetkriminalität, gegen die diese Vorratsdatenspeicherung doch eigentlich helfen soll, dann bleibt diese Kritik dünn, vor allem aber vertut sie sich einiges, was ihr eigentlich argumentative Schlagkraft geben könnte . Als ein prominentes Beispiel darf der Artikel Angst essen Freiheit auf von Sascha Lobo gelten .37 Zurecht vergleicht Lobo die Vorratsdatenspeicherung mit Jeremy Benthams Panopticum, ist doch so tatsächlich einer zentralen Macht der Blick in jeden Winkel der Sphäre der Beobachteten möglich . Genauso wie schon Michel Foucault entlarvt Lobo dieses vordergründig architektonische Modell des benthamschen Panopticums als Gesellschaftsmodell:38 „Es beruht auf der Vermutung, dass Menschen besser würden, wenn sie ständig beobachtet, werden – oder zumindest das Gefühl haben müssen . Genau dieses Gefühl wird in der medialen Diskussion zu selten beachtet: Es heißt Angst“ .39 Diese Angst ist der Freiheit offensichtlich abträglich – so ja der Titel Angst essen Freiheit auf . Lobo bleibt jedoch leider in seiner Problemanalyse bei dieser eigentlich erst deskriptiven Zwischenetappe stehen . Sascha Lobo kritisiert nur die Dauerüberwachung und die Ausnutzung des Angstgefühls . Er reflektiert jedoch nicht das eben erst eigentlich rechtsphilosophische Problem: Wer 36 37 38 39
Vgl . etwa Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, 1985, S . 80, sowie Daniela Kloock, Angela Spahr, Medientheorien, 2012, 95 . Sascha Lobo, Die Mensch-Maschine: Angst essen Freiheit auf, Spiegel Online, 3 .01 .2012, http:// www .spiegel .de/netzwelt/web/s-p-o-n-die-mensch-maschine-angst-essen-freiheit-auf-a-806855 . html [zuletzt aufgerufen am 7 .05 .2014] . Foucault, Michel, Überwachen und Strafen . Die Geburt des Gefängnisses, 1989, 256–263 . Lobo (Fn . 36) .
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sitzt warum, d . h . mit welcher Berechtigung im Zentrum dieses Panoptikums und wie kommt der da zu der Ordnung, die er überwacht? Diese Frage bleibt auch bei einem so arrivierten Netzintellektuellen wie Lobo ausgespart und ungestellt . Obwohl also das Panoptikum eigentlich als Figur ermöglichen soll, Gedankenexperimente durchzuführen, verarbeitet Lobo es seltsamer Weise nur als Gegebenheit und gegen diese schreibt er an . Er schreibt nicht (rechts)philosophisch gegen den eigentlich unhaltbaren Grundgedanken des Panoptikums an, dass nämlich einzelne Menschen sich nicht nur anmaßen, Ordnung repressiv zu überwachen, sondern diese Ordnung überhaupt erst zu setzen . Solange sich nicht an den Begriff der Freiheit gehalten wird, lässt sich diese Freiheit nicht verteidigen, ja sie lässt sich unmöglich verteidigen . Einschränkungen individueller Internetnutzung sind wie bei äußeren Handlungen auch nur dann als rechtlich denkbar, wenn sie vom Begriff der Freiheit ausgehen . Nur dieser ermöglicht Freiheit als Recht und nur dieser lässt Freiheitseinschränkung als rechtlich möglich denken, also eben als vernünftig wollbar und nicht nur duldbar unter bloßem Zwang . Insofern ist es eben die kritische Rechtsphilosophie, die für die Diskussion um Internetrechte und -regulierungen besonders fruchtbar zu machen ist . Bernhard Jakl macht deutlich, „dass die kritische Rechtsphilosophie produktiv und inspirierend auf Diskussionen bezogen werden kann, die von einer Zersplitterung des positiven Rechts ausgehen [mehr noch: ausgehen müssen; O . B .], da sie im Unterschied zu den Ansätzen der Wertungsjurisprudenz und der liberalen Rechtstheorie weder auf einen nationalen Gesetzgeber noch auf eine bestimmte Lebenshaltung angewiesen ist und dennoch rechtlich verfährt .“40 Eine nachdrückliche Bemerkung zum Schluss: Eine solche Diskursanalyse unterstellt den Netzaktivisten genauso wenig wie Sascha Lobo, tatsächlich naiv zu sein und in der Tat dezidiert anzunehmen, interpersonale Ordnung sei ein Selbstläufer (mit Ausnahme z . B . Flussers) . Gemeint ist das allemal statthabende Auftreten von Implikationen, die nunmal da sind, wenn sie nicht eigens reflektiert und als mögliche, aber fatale Annahmen dezidiert ausgeräumt werden . Daran sieht man nichts weniger als den eminent praktischen Nutzen philosophischer, hier rechtsphilosophischer Grundlagenforschung .
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Jakl (Fn . 25), 183 . Hervorhebungen O . B .
Michael Städtler, MünSter zWeck
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Von
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Die Frage ‚Wozu Recht?‘ lässt sich sowohl als Frage nach der faktischen Funktion von Recht als auch nach seinem legitimierenden Zweck verstehen . Über legitimierende Zwecke des Rechts wie es bonum commune, Tugend oder Freiheit einmal waren, ist nun seit längerem wenig die Rede . Infolge der Identifizierung der bürgerlichen Rechtsordnung1 mit dem Staat erscheint selbst die Sicherheit nicht mehr als allgemeiner Zweck des Rechts, sondern als spezifische Aufgabe des Staates, die er durch und für das Recht wahrnimmt .2 Die Frage nach dem Rechtszweck wird allenfalls noch im Zusammenhang der Staatszwecklehre behandelt .3 Aber auch diese verliert mit zunehmender Positivierung der Staatszwecke zu Staatszielen an Bedeutung gegenüber der Verfassungsinterpretation .4 Die positive Definition von Aufgaben und Schranken staatlicher Gewalt scheint die Legitimität in die Legalität zu integrieren .5 Schließlich treten die traditionellen Rechtszwecke auch mit der Übertragung von Hoheitsrechten an supranationale Institutionen – dem sogenannten ‚Absterben‘ des Staates – gewiss nicht wieder in ihre alte Bedeutung ein .6 Um der Zweckmäßigkeit dieser Entwicklung selbst auf die Spur zu kommen, rekonstruiert der folgende Beitrag im ersten Teil die Entwicklung des modernen Rechtszweckverständnisses zur Funktion und im zweiten Teil die Herausbildung des neuzeitlichen Rechtszweckdenkens aus den metaphysischen Zwecklehren, um im 1 2
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Wenn im Folgenden vom ‚bürgerlichen Recht‘ die Rede ist, ist nicht nur das Zivilrecht gemeint, sondern die Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen . So bemerkt Kelsen, daß der Ausdruck ‚Staat‘ nach dessen Verrechtlichung nichts Selbständiges mehr bezeichne, wohl aber als Name der Einheit des Rechts beizubehalten sei . Vgl . Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Neudruck der 2 . Aufl . 1962 . Der Staat verschwindet hier nicht im Recht, sondern nimmt seine Gestalt an . Wenn daher die folgenden Überlegungen zwischen Rechtszweck und Staatszweck changieren, ist das nicht allein darin begründet, dass die moderne Rechtsordnung in staatlichem Kontext sich entwickelte, sondern auch darin, dass Recht prinzipiell auf politische Voraussetzungen – wenn auch vielleicht nicht zwingend auf einen oder ‚den‘ Staat – angewiesen ist und Rechtszwecke deshalb stets auch politische und soziale Zwecke reflektieren . Vgl . Sonja Buckel, Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, 2007, 303 . Vgl . Josef Isensee, § 15 Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg . von J . Isensee / P . Kirchhof, Bd . II, 3 . Aufl . 2004, Rn . 4, 6 und 8; Christian Starck, § 33 Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg . von J . Isensee / P . Kirchhof, Bd . III, 3 . Aufl . 2005, Rn . 1; Stefan Korioth, Die Staatszwecklehre Georg Jellineks, in: Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, hg . von St . W . Paulson / M . Schulte, 2000, 117 ff . Vgl . Josef Isensee, § 73 Staatsaufgaben, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg . von J . Isensee / P . Kirchhof, Bd . IV, 3 . Aufl . 2006, Rn . 6 ff . Diese Übertragungen sind übrigens einerseits vertraglicher und andererseits selbst hoheitlicher Natur, insofern Staaten Verträge schließen; daher ist das Absterben einstweilen vorbehaltlich der Wiederbelebung .
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dritten Teil vor diesem Hintergrund ein kritisches Licht auf die neueren Funktionswandlungen des Rechts zu werfen . Dabei wird es darum gehen, nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Bedingungen der Geschichte der Rechtszwecke aufzuzeigen, weshalb die Zweckfrage, die vor allem dem öffentlichen Recht zugeordnet wird, auch auf das Privatrecht ausgedehnt werden muss . I. Mit dem Bedeutungsverlust der Zweckfrage ist zugleich die Etablierung einer Betrachtung des Rechts verbunden, die sich von der emphatischen Bindung des Rechts an den Freiheitsbegriff in der klassischen bürgerlichen Rechtsphilosophie weit entfernt hat und die das Recht überwiegend technologisch als funktionalen Zusammenhang interpretiert, der sich in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedürfnissen entwickele . Diese Vorstellung geht auf die Staatszwecklehre von Georg Jellinek zurück, der die Notwendigkeit der Frage nach dem Staatszweck für die Staatserkenntnis noch traditionell mit der Legitimationsbedürftigkeit staatlichen Zwangs gegenüber der subjektiven Freiheit begründet .7 Methodisch schon am soziologischen Positivismus orientiert, ergibt sich aber für Jellinek der Zweck des Staates aus der Analyse der Wirkungen jener individuellen subjektiven Zwecke, aus denen er sich zusammensetze . Mit dieser Entscheidung hat Jellinek bereits die Möglichkeit einer allgemein begrifflichen Bestimmung des Staatszwecks ausgeschlossen . So bleiben nur jene Zwecke bestimmbar, die einem Staat hinsichtlich der historisch und kulturell besonderen Interessen seiner jeweiligen Bewohner zuwachsen .8 Diese Relativität ist freilich dadurch eingeschränkt, dass ein Staat, um überhaupt Zwecke verfolgen zu können, unabhängig von der historischen oder kulturellen Situation drei ‚höchste Zwecke‘ anstreben muss, nämlich „Machtbehauptung, Schutzgewährung und Rechtsbewahrung“9 . Daraus ergeben sich dann situativ mannigfaltige Staatszwecke, die heute als Staatsaufgaben bezeichnet werden und, wie Jellinek bemerkt, sich zu den höchsten Zwecken als Mittel verhalten .10 Insofern Machtbehauptung, Schutzgewährung und Rechtsbewahrung wechselseitig voneinander abhängen und dadurch dem Erhalt der staatlichen Ordnung dienen, erscheint als Hauptzweck des Staates seine Selbsterhaltung . Was Jellinek damit leistet, ist die Begründung der absoluten Geltung staatlicher Macht aus den relativen Interessen der Bürger . Damit ist die rechtsetzende Tätigkeit des Staates an keine anderen mehr als an funktionale Kriterien gebunden, denn auch die Herkunft der materiellen Inhalte staatlichen Handelns verdankt sich der Kontingenz historischer Umständen, die Jel7 8
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Für eine genaue Darstellung von Jellineks Zwecklehre vgl . Korioth (Fn . 4) . Damit sind die Staatszwecke formal auf die Ordnung äußerlicher kollektiv relevanter Handlungen beschränkt oder in Jellineks Worten, auf „solidarische menschliche Lebensäußerungen“ (Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3 . Aufl ., Nachdruck 1960, 252), soweit diese nicht von den Individuen selbst zu realisieren sind (aaO, 259) . AaO, 258 . Vgl . Roman Herzog, § 72 Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg . von J . Isensee / P . Kirchhof, Bd . IV, 3 . Aufl . 2006, Rn . 26, 101) . Dem in Machterhalt, Recht und Ordnung als Hauptziele gegliederten Selbsterhaltungszweck ordnet Herzog dann alle weiteren wie Sozial- oder Rechtsstaatlichkeit sowie auch die konkreten Verfassungsaufträge zu . Ihnen folgen die einzelnen Staatsaufgaben .
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linek als ‚normative Kraft des Faktischen‘ bezeichnet .11 – Theoretisch unterläuft diese Normbegründung den Stand der philosophischen Reflexion, die als besonderen Gehalt des bürgerlichen Rechts seine systematische Entwicklung aus einem Grundsatz der praktischen Vernunft bestimmt hatte . Vor diesem Hintergrund ist dann Hans Kelsens Folgerung, dass auch erfolgreiche Räuberbanden als Rechtsordnungen anzusehen seien, nur konsequent . Die Unterscheidung der Rechtsordnung vom rechtlosen Zustand ist nur noch über den faktischen Erfolg möglich .12 Davon scheinen sich heute Naturrechtsevokationen wie die Josef Isensees abzugrenzen . Ihm zufolge gilt die Lehre von den Zwecken des Staats ausschließlich der Legitimationsfrage, die Lehre von den Zielen aber der rechtlichen Ordnung staatlichen Handelns . Staatszwecke seien philosophischer Natur, könnten zwar zu Zielen positiviert werden, gölten jedoch unabhängig von der Rechtsordnung . Isensee schwingt sich schließlich dazu auf, die Staatszwecke ‚Gemeinwohl‘ und ‚Gerechtigkeit‘ als Bestandteile einer ‚Meta-Verfassung‘ des Grundgesetzes und somit als ungeschriebene Staatsziele auszuweisen .13 Wie sehr freilich auch Isensees Meta-Verfassung relativistisch gedacht ist, zeigt sich an ihrer Verortung in der „Teleologie des Verfassungsstaates, wie sie sich im neuzeitlichen Europa entwickelt hat“14 . Daß sie sich so entwickelt hat, ist auch der Kontingenz politischer Erfolge zu verdanken . Isensees Naturrechtsrhetorik intendiert dann nicht die vernünftige Begründung von Zwecken des Rechts, sondern sie beschwört unter dem aporetischen Titel ‚Überpositivität‘15 eine transzendente Sphäre, die, wie Kelsen einbekannt hatte, von einer der Positivität verpflichteten Rechtstheorie nicht mehr eingeholt werden kann . Kelsen hatte deshalb, wie bereits bei Jellinek antizipiert, die Rechtslehre als Interpretationssystem gesellschaftlichen Handelns konzipiert, das sich durch Funktionalität legitimieren sollte . Das zwecksetzende Subjekt wird in dieser Funktionalisierung des Rechts zur hohlen Staffage . Niklas Luhmann zieht daraus die Konsequenz, dass weder Menschen noch ihre Lebensbedingungen überhaupt zum Inventar des Rechtssystems gehörten . Indem Luhmanns Begriff der Rechtsordnung nur mehr von einem durch seine Codierung bestimmten Kommunikationstyp ausgeht, gerät nicht nur die
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Vgl . Jellinek, Staatslehre (Fn . 8), 338 . Die Zweckbestimmung des Staates ist bei Jellinek allerdings doppelseitig . Einmal soll sie als soziologische Überlegung der Rechtslehre selbst vorgeordnet sein . Der Staatszweck ist sozialpolitischer Zweck, nicht Rechtszweck . Allerdings wird mit dem Staatszweck der Rechtserhaltung auch der Zweck des Rechts, den Jellinek als „Schutz und Erhaltung menschlicher Güter“ (aaO, 333) bestimmt, mittelbar zum Staatszweck, denn ein besonderes Kennzeichen des Rechts ist seine Garantie . Deren Grund soll nun nicht in staatlicher Gewalt, sondern in der ‚normativen Kraft des Faktischen‘ bestehen, in der Anerkennung oder Ablehnung herrschaftlich geschaffener Normen . Vgl . Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Aufl ., Nachdruck 2000, 45 ff . Zur Unterscheidung von Rechtsordnung und Rechtlosigkeit scheide das Gerechtigkeitskriterium aufgrund seiner Relativität aus; gültig sei allein die Erfahrung dauerhafter Wirksamkeit . Vgl . Isensee (Fn . 4), Rn . 8 . AaO . Dieser Ausdruck ist logisch eine Negation von Positivität, ohne ein weiteres Bestimmungsmerkmal anzugeben . Dadurch suggeriert er eine geheimnisvolle Normquelle, aus der alle schöpfen sollen und an der doch keiner je gewesen ist .
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Zweckfrage, sondern letztlich sogar Kelsens Erfolgsfrage in Wegfall . Allenfalls können noch Zwecksetzungen im Recht funktional analysiert werden .16 Luhmann zufolge liegt die Funktion des Rechts lediglich in der Sicherung von Erwartungen in die kontingente Zukunft hinein . Das Recht biete die Möglichkeit, erwartungswidriges Verhalten als Unrecht zu bezeichnen und dadurch kontrafaktisch die Erwartung stabil zu halten . Ob ein erwartungswidriges Verhalten tatsächlich sanktioniert werde, sei dabei nebensächlich, denn die kommunikative Funktion des Rechts, rechtswidriges Verhalten als sozial benachteiligt auszuzeichnen, bleibe von einem faktischen Misserfolg unberührt . Der Gehalt, der dieser Stabilität des Erwartens dann entspricht, ist freilich mager: Man könne „mit größerer Gelassenheit den Enttäuschungen des täglichen Lebens entgegensehen“; man könne auf den sozialen Konsens rechnen und damit darauf, „in seinen Erwartungen nicht diskreditiert zu werden“17 . Dies genügt Luhmann zufolge, um die gesellschaftliche Kommunikation zu stabilisieren, soweit das rechtlich möglich ist . Er zieht damit die Konsequenz aus einer Entwicklung, in der das Recht formell als Funktion der Relationen von rechtsrelevanten Akten gesehen wird und nicht als Ordnung der gegenständlichen Handlungsbedingungen zwecksetzender Subjekte, durch die doch jene Akte überhaupt erst unterscheidbare und dadurch justitiable Gehalte aufweisen . Wenn in der neueren Theorie überhaupt auf materielle Bestimmungen der Rechtsgegenstände hingewiesen wird, sind diese so allgemein gefasst, dass sie für die gesamte Rechtsgeschichte unterschiedslos gelten sollen .18 Mit diesem Funktionsbegriff des Rechts lassen sich innerhalb der Rechtsgeschichte nur mehr graduelle Veränderungen, aber keine radikalen Umbrüche mehr festhalten . Dass es solche gebe, hat Luhmann freilich offensiv eingestanden . Der systematische Charakter des Rechts könne jedoch über historische Umbrüche dadurch kontinuiert werden, dass die dort wirkende Willkür durch Interpretation „invisibilisiert“ oder „weglegitimiert“ werde, „als ob es immer schon Recht gegeben habe“19 . Damit wird die Frage nach der Herrschaft – und mit dieser die nach dem 16
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So hat Niklas Luhmann Zwecksetzung nicht durch Funktionen ersetzt, sondern selbst zur Funktion erklärt: „Sie erscheint dann als eine besondere Art der Systemrationalisierung neben anderen . Ihre Funktion kann analysiert, ihre Funktionsbedingungen können ermittelt, ihr Vorhandensein in bestimmten Arten von Systemen kann empirisch kontrolliert werden .“ Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt am Main 1973, 11 . Insofern es Luhmann von vornherein um eine empirische Beschreibung, nicht um eine theoretische Erklärung oder Kritik von Gesellschaft zu tun ist, erscheint ihm der Zweckbegriff unhandlich; ihn aufzugeben erscheint aber ebenso untunlich, weil er die Intentionalität gesellschaftlichen Handelns beinhaltet (vgl . z . B . 191) . Die Probleme, die Luhmann mit dem Zweckbegriff verbindet, resultieren indes nur zum Teil daraus, dass er Zwecke empirisch nicht darstellen kann, zu einem anderen Teil aber daraus, dass er trotz umfangreichen philosophischen Reflexionen die beiden am weitesten avancierten Zwecklehren, nämlich die Kants und Hegels, vollständig ignoriert und stattdessen wie selbstverständlich von dem äußerst reduzierten Zweckverständnis Webers ausgeht . Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 132 . So geht Herzog (Fn . 10) z . B . von frühgeschichtlichen Bewässerungsproblemen aus und erweckt so den Anschein, als gehe es im Recht stets grundsätzlich um die Sicherung der Subsistenz und nicht um historisch spezifisch verschiedene Formen gesellschaftlicher Produktion, die auch ganz unterschiedliche Rechtsformen hervorbringen . Luhmann (Fn . 17), 138 . Gegenüber fast allen Kritikern Luhmanns ist festzuhalten, dass er eine schonungslose Beschreibung rechtlicher Mechanismen gibt, der gegenüber die Reklamation demokratischer Defizite häufig etwas von Sozialromantik hat, weil sie so wenig wie Luhmann
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politischen Zwecksetzungsprivileg – systematisch ignoriert .20 Erfolg verdankt sich tautologisch der je aktuellen Durchsetzbarkeit: „Die Frage nach dem Recht von Recht [und damit auch die nach seinem Zweck; M . St .] wird so ersetzt durch die Frage, was unter den gesellschaftlichen Verhältnissen plausibel ist“21 . II. Tatsächlich bildet sich das moderne Rechtsverständnis entscheidend in dem theoretischen Versuch heraus, sich gegenüber den metaphysischen Zweckbestimmungen der Antike und des Mittelalters abzugrenzen . Dem antiken Denken galt nicht individuelle subjektive Freiheit als Zweck des Rechts, sondern das Dasein des Guten .22 Die Gesetze sollen die Menschen tugendhaft machen, aber dies ist nicht moralisch zu verstehen: Tugenden meinen die technisch-praktische Tauglichkeit und können daher nicht durch Einsicht angeeignet, sondern müssen durch Übung erworben werden .23 Ihr Subjekt ist nicht das moderne autonome, sondern ein durchaus teleologisch bestimmtes . So sollen die Gesetze „die Bürger durch Gewöhnung veredeln“24 . Zweck des Rechts ist die Erziehung zum Bürger, die der Stabilität der politischen Herrschaft der Bürger über die Sklaven dient . Das Rechtsdenken des christlichen Mittelalters weist über die Antike insofern hinaus, als die individuelle Freiheit durch die christliche Lehre von der erlösungsfä-
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bereit ist, die empirische Entwicklung anhand eines begrifflich reflektierten Rechtsmaßstabs zu beurteilen . Zu Formen solcher Kritik und ihren Defiziten vgl . z . B . Sonja Buckel, Subjektivierung und Kohäsion (Fn . 2), Kap . A, insbes . 33: „Systemtheorie ‚spricht‘, könnte man überspitzt sagen, aus dem Inneren der Rechtsform, indem sie die verdinglichten Prozeduren theoretisch reformuliert .“ Überspitzt ist dies noch nicht, denn es lässt sich dahin zuspitzen, dass die Systemtheorie nicht sowohl ‚theoretisch‘ als vielmehr bloß ‚terminologisch‘ reformuliert . In diesem Sinn schreibt Buckel auf 34: „Was macht Luhmann dabei anderes, als die Theorie der ‚Rechtssicherheit‘ in neuen Begrifflichkeiten darzustellen?“ . Vgl . Buckel, Subjektivierung und Kohäsion (Fn . 3), 44 . Undeutlich bleibt allerdings Buckels Aufsplitterung des Herrschafts- bzw . Machtbegriffs im Anschluss an Foucault und Laclau/Mouffe (vgl . 316, 320) . Selbstverständlich wird gesellschaftliche Herrschaft in vielen Kontexten reproduziert, ausgeübt und subjektiv angeeignet . Die besondere Stellung des Rechtskontextes gründe in der kohäsiven Kraft des Rechts . Diese Kraft erhält es allerdings seinerseits aus seiner Aufgabe, die im gesellschaftlichen Produktionsverhältnis als Herrschaft institutionalisierte Gewalt ursprünglicher Akkumulation formal frei und gleich zu prozedieren . Gesellschaftliche Herrschaft hat diese avancierte Gestalt angenommen und ist deshalb auch grundlegend in ihr zu kritisieren . Alle anderen Formen von Herrschaft sind nicht per se, aber auf diesem historischen Niveau funktional an die ökonomische angegliedert, sie haben in ihr ihre materielle Grundlage, ohne deren Änderung alle anderen Veränderungen unmittelbar gesellschaftlich assimiliert werden . Noch jede partikular interessierte Protestbewegung hat bisher die soziale Ordnung als solche auf lange Sicht gestärkt . Andreas Fischer-Lescano, Ralph Christensen, Auctoritas interpositio . Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie, Der Staat 44 (2005), 234 . Vgl . Tobias Reichardt, Recht und Rationalität im frühen Griechenland, 2003 und dens ., Das Individuum in der politischen Philosophie der Griechen, 2012 . Vgl . Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, 2003, Kap . 3, III . Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1983, 1103b .
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higen Individualseele überhaupt erst in den Blick gerät .25 Allerdings wird die damit gegebene Möglichkeit, subjektive Rechte und Pflichten zu begründen, durch die Einordnung des individuellen subjektiven Handelns in die Teleologie des göttlichen ordo naturae sowie durch die Probleme der Rechtsfertigungslehre konterkariert . So ist die Aufgabe des Rechts, die Menschen gut zu machen,26 einesteils auf den nächsten Zweck der Menschen, das bonum commune, bezogen, andernteils jedoch darauf, den Menschen für seinen höchsten Zweck tauglich zu machen, der in der visio dei beatificans liegt . Der politischen Organisation des Zusammenlebens kommt deshalb etwa bei Augustinus kein unabhängiger sittlicher Wert zu .27 Aber schon bei Thomas von Aquin ändert sich das . Er ist längst mit städtischer Zivilisation, Produktion und Handel und der darauf folgenden Rezeption des römischen Rechts sowie im Zuge des Investiturstreites auch mit verselbständigter politischer Macht konfrontiert, und er ist an der Aristotelesrezeption maßgeblich beteiligt . Politische Ordnung gilt ihm nicht mehr bloß als notwendiges Übel des status viatoris, sondern bereits als substantielles Komplement des einzelnen Menschen, der nur in Gemeinschaft sein Wesen vollkommen entfalten könne .28 Mit dieser Hervorhebung der Einzelnen und ihrer weltlichen Interessen im Verhältnis zueinander steht schon Thomas an der Schwelle des metaphysischen Rechtsverständnisses zum Recht des bürgerlichen Zeitalters . Dieses kündigt sich in der wachsenden Bedeutung des Handels an, der von den Städten ausgeht . Dieser Handel und seine Voraussetzungen sind mit den Mitteln der geltenden Rechtsgewohnheiten weder formal einheitlich noch materiell zu bewältigen, denn dem Handel liegt eine aufblühende städtische Warenproduktion zugrunde, deren Prosperität nur möglich ist, wenn Kapital für Produktionszwecke flüssig gemacht werden kann, das aber ganz überwiegend noch in agrarischer Form, Grund und Boden, gebunden ist . Die Verwendung des Bodens ist aber lehnrechtlichen Schranken unterworfen: Er kann nicht vererbt, verkauft oder beliehen werden . Dies ist aber erforderlich zur Bildung von Kapitalien, die groß genug sind, um produktiv eingesetzt werden zu können . Die lehnrechtliche Verfügungsgewalt muss in privatrechtlich definiertes Eigentum umgewandelt werden,29 die Ansprüche der Hintersassen auf Subsistenzwirtschaft müssen kassiert werden .30
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Vgl . Jürgen Miethke, Selbstbewußtsein und Freiheit in der politischen Theorie der Scholastik, in: Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter, hg . von Günther Mensching, 2005 . Vgl . Thomas von Aquin, Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, 1933 ff ., I–II, qu . 92, art . 1 . Vgl . z . B . Augustinus, Vom Gottesstaat, 1955, Buch XIX, Kap . 25 ff . Vgl . Thomas von Aquin (Fn . 26), qu . 90, art . 2 . Zur Begriffsgeschichte vgl . Dietmar Willoweit, Dominium und Proprietas . Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Historisches Jahrbuch 94 (1974) . Vgl . zur Lehnverfassung und ihrer Auflösung Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2 . Aufl ., 1967, 99 ff . Zur Deutung dieser Vorgänge von der Moderne aus vgl . Karl Marx, Das Kapital, Bd . 1 (MEW 23), 1987, Kap . 24 .
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III. Im Übergang zur Neuzeit ist es zunächst das individuelle Subjekt, das mit seinen partikularen Interessen aus der göttlichen Weltordnung heraustritt .31 Daraus entsteht die Schwierigkeit, die Ordnung des Handelns in einer Konstellation von partikular interessierten Einzelnen, deren Interessen nicht von vornherein miteinander vereinbar sind, zu begründen . Dabei handelt es sich keineswegs bloß um eine relative Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, sondern um den systematischen Unterschied, dass die Träger dieser Arbeitsteilung jetzt unabhängige Privatproduzenten sind, die nur über Märkte miteinander in Beziehung treten und die, um unabhängig produzieren zu können, auch private Eigentümer ihrer Produktionsmittel sein müssen .32 Sie bedürfen also vor allem der rechtlichen Regelung des Eigentums und des Verkehrs von Eigentümern durch Verträge . Dass nun privat interessierte Personen Verträge, die sie eingehen, auch erfüllen, ist keineswegs selbstverständlich, wenn etwa die Verletzung des Vertrags sich als interessanter herausstellt als seine Einhaltung . Deshalb wird die rechtliche Funktion, Verträge zu garantieren, zu einer substantiellen Funktion dieser Gesellschaft unabhängiger Privatproduzenten, und das Recht erfüllt diese Funktion, indem es die Kontrahenten in Form allgemeiner Gesetze als freie und gleiche Personen adressiert .33 Dies ist gegenüber den ständischen und aristokratischen Gesellschaften mit weitgehend sklavenbasierter Subsistenzwirtschaft völlig neu, denn nun wird die allgemeine Garantie gleicher Freiheit zum Zweck des Rechts . Diese Freiheit erfüllt zwar auch von Anfang an eine Funktion im Recht und ist dessen Sicherung insoweit untergeordnet, aber sie weist ihrem rationalen Gehalt nach zugleich über bloße Funktionalität hinaus und ist insofern auch selbst Zweck:34 Während Funktionen von Recht eher als Reaktionen auf den jeweils sozial und historisch bestimmten Regelungsbedarf im pragmatischen Verstand gründen, gehen Zwecke aus der praktischen Vernunft hervor und haben eine relative Selbständigkeit . Freiheit als Funktion fungiert etwa in der Rechtsfähigkeit
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Vgl . Jürgen Hoffmann, Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte, 2009, 1 . Abschn ., I . Der Mythos von einer Urgemeinschaft der Menschen und deren aufgrund der menschlichen Natur und durch Arbeitsteilung bewirkten Aufgliederung in Einzelne, die dann voreinander ihre Habe durch das Institut des Privateigentums schützen müssen, ist in Variationen in allen neuzeitlichen Rechtslehren vorhanden . Vgl . Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, hg . von W . Schätzel, 1950 (zuerst 1625), S . 148; Thomas Hobbes, Leviathan, hg . von H . Klenner, 1996 (zuerst 1651), S . 107 f .; John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg . von W . Euchner, 1977 (zuerst 1690), II § 26; Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg . von K . Luig, 1977 (zuerst 1673), I 12; Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, 1980 (zuerst 1754), §§ 183 ff . Zur zentralen Bedeutung der individuellen persönlichen Freiheit in der Entwicklung des Eigentumsbegriffs vgl . Dieter Schwab, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg . von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd . 2, 1975 . Dieser Doppelung von Freiheit als Funktion und Freiheit als Zweck korrespondiert Franz Neumanns Beobachtung, dass der absolute Anspruch des Staats und dessen Beschränkung durch subjektive Rechte von Anfang an koaktive Prinzipien der bürgerlichen Staaten gewesen seien . Vgl . Franz Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Demokratischer und autoritärer Staat. Beiträge zur Soziologie der Politik, 1967, S . 7 .
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von Personen im Recht; Freiheit als Zweck bestimmt die Person als Subjekt über ihre Rechtsfunktion hinaus und das Recht in Abhängigkeit von ihr . In der klassischen bürgerlichen Rechtsphilosophie bei Kant ist es das angeborene Freiheitsrecht, das in der Autonomie praktischer Vernunft realisiert wird, ohne das kein Recht denkbar wäre . Bei Fichte wird das Recht geradezu zur transzendentalen Voraussetzung des kollektiven Moments der Bildung des Selbstbewusstseins als Grund und Form aller Freiheit . Bei Hegel schließlich ist das Recht „die Freiheit, als Idee“, das „Dasein des freien Willens“35 . Der freie Wille hat die Seite der Allgemeinheit, indem er nicht durch Anderes, sondern durch sich selbst bestimmt ist, aber zugleich die Seite der Besonderheit, indem er nur wirklich sein kann, wenn er einen bestimmten Inhalt hat, wenn er etwas Bestimmtes will . Schon mit dieser Grundform ist Hegels Rechtsbegriff ein dynamischer, auf Verwirklichung unter konkreten Bedingungen angelegter . Kant hatte das Recht trotz seiner moralischen Fundierung bescheidener gefasst als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“36 . Auch Kant geht von einer empirischen Vielheit partikular interessierter Subjekte aus, deren Handeln im Recht unter ein rationales Prinzip zu bringen ist . Die Entwicklung des Vernunftprinzips im Recht kann insofern als die Entwicklung des Selbstbewusstseins der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet werden . Bei Kant ist die Vernunft dann nicht mehr implizites Prinzip, sondern selbstbewusstes Prinzip des Rechts, dessen einzelne Bestimmungen aus dem Vernunftprinzip zu entwickeln sind . Die Rechtsordnung wäre damit das „Reich der Zwecke“, in dem alle partikularen Zwecke harmonieren, weil sie durch den kategorischen Imperativ „systematisch verknüpft“37 sind, also nicht empirisch, sondern rational geordnet werden . Es geht nicht darum, dass alle die gleichen Zwecke verfolgen müssten, sondern darum, dass sie ihre unterschiedlichen Zwecke aus einem allgemein gültigen Prinzip der Zwecksetzung begründen . Dieses Prinzip ist der kategorische Imperativ der reinen praktischen Vernunft .38 Als Problem der Rechtslehre erweist es sich aber, dass die Freiheit zwar zur Form, aber nicht zum materiellen Gegenstand des Rechts werden kann . Das allgemeine Freiheitsrecht, die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“39, die auch die Gleichheit einschließt, sind Voraussetzungen der folgenden Rechtslehre, die selbst „bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden“40 kann . Freiheit kann gar nicht Schutzobjekt von Recht sein, da sie eine moralische Qualität der Menschen ist; nur Freizügigkeit wäre sanktionierbar . Beide werden in der neuzeitlichen Rechtsphilosophie bis heute geflissentlich verwechselt . 35 36 37 38
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G . W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1995, § 29 . Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten . Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Werkausgabe Bd . VIII, 1977, § B . Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd . VII, 1974,BA 74 . Zu den Schwierigkeiten der dogmatischen Begründung materieller Rechte aus einem Prinzip der praktischen Vernunft vgl . Peter Bulthaup, Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der Justiz, in: Das Gesetz der Befreiung und andere Texte, 1998 und Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart 1983 . Kant (Fn . 36), AB 45 . AaO, AB 47 .
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Die Ordnung des äußeren Mein und Dein, der Verkehr privater Eigentümer wird bei Kant zum zentralen Rechtszweck, wie der Einleitung zum öffentlichen Recht zu entnehmen ist, wo die Aufgabe der rechtlichen Verfassung der Menschen darin gesehen wird, „dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden“41 . Der mit dem bürgerlichen Recht verbundene Anspruch auf Allgemeinheit und Gleichheit erweist sich nun gegenüber der historischen Begründung des Privateigentums als problematisch, denn der intelligible Besitz ist zwar systematisch dem empirischen vorausgesetzt, hat aber umgekehrt diesen historisch zur Bedingung: Eigentum setzt Aneignung voraus, die vor der Etablierung des Vertragsrechts nur durch einen einseitigen Willkürakt erfolgen kann .42 Mit der spätmittelalterlichen Umwandlung von Ländereien in Grundeigentum geht die faktische Enteignung der ansässigen Bauern einher, die sich zuvor auf dem Boden reproduzierten und die nun in ökonomische Abhängigkeit von den Grundeigentümern geraten . So werden persönlich-feudale Abhängigkeitsverhältnisse in strukturell-ökonomische bürgerliche Herrschaftsverhältnisse verwandelt, und erst die Relata dieser Verhältnisse sind bürgerliche Subjekte: die Eigentümer als Subjekte von sachenrechtlichen Verträgen und als dominante Partner in personenrechtlichen Verträgen, deren dominierte Partner die Nichteigentümer sind, weil sie außerhalb solcher Verträge ihren Lebensunterhalt nicht produzieren können . Kant verbietet sich geflissentlich, die Frage zu verfolgen, „wie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können“43 . Die Verfolgung dieser Frage hätte ihn aber darauf geführt, dass die Verwaltung des von Kant beschriebenen Zustands eine gesellschaftliche Funktion des bürgerlichen Rechts ist . Damit ist dieses von Anfang an nicht einzig auf den Zweck der Freiheit gerichtet, sondern immer schon auch Funktion gesellschaftlicher Herrschaft . Umgekehrt liegt in der allgemeinen theoretischen Reflexion der Bedingungen dieser gesellschaftlichen Herrschaft, weil sie vom Subjekt ausgeht, von Anfang an auch der Begriff vernünftiger Freiheit, den Kant gegen Willkür und Freizügigkeit systematisch als Autonomie abgrenzt . Das bürgerliche Recht transportiert somit in seiner gesellschaftlichen Funktion einen moralischen Zweck, der mit zunehmender philosophischer Durchdringung sich gegen die bloße Funktionalität des Rechts abzusetzen beginnt .
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AaO, § 43 . Mit dem, was Rechtens ist, meint Kant, wie sich an vielen Stellen belegen lässt, die Gegenstände des Privatrechts . Vgl . aaO, §§ 48 f .; dens ., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werkausgabe Bd . XI, 1977, 46; dens ., Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Bd . XI, 1977, 247, 249; dens ., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Werkausgabe Bd . XI, 1977, 144 . Vgl . Kant (Fn . 36), § 8: „Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde .“ Kant, Gemeinspruch (Fn . 41), 296 .
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IV. Auch die bürgerlichen Revolutionen verstanden unter Freiheit und Gleichheit auch die Befreiung der Gewerbe und des Handels von feudalen Schranken, deren Überwindung in einer allgemeinen Durchsetzung bürgerlicher Rechte gesehen wurde . Und auch die Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit, die unter dem Druck der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung wirksam werden, teilen noch mit der klassischen Rechtsphilosophie ihre Fundierung im bürgerlichen Privatsubjekt und seinen Interessen, aber die industrielle Betriebsweise der kapitalistischen Produktionsweise setzt eine historische Dynamik frei, in deren Verlauf Allgemeinheit und Gleichheit des Rechts ebenso in Frage gestellt werden . Durch die industriell beschleunigte Akkumulation, durch Konzentration und Zentralisation von Kapital entstehen Industrieverbände und Konzerne, die schon aufgrund der Größe ihrer Investitionen und der damit verbundenen Risiken ein Interesse an individuellen Vereinbarungen entwickeln, die nicht der allgemeinen rechtlichen Form und Kontrolle unterliegen . Abseits von illegalen Absprachen und nationaler Lobbypolitik liegen diese Interessen im inter- und transnationalen Geschäftsverkehr relativ offen . Dort wird so weit abseits vom Recht agiert, dass immer mehr Rechtstheoretiker dort die Entstehung von neuen, nichtinstitutionellen und nicht mit Zwangsbefugnis verbundenen Rechtsformen beobachten wollen . Tatsächlich dürften die Geschäfte, die transnationale Konzerne im Schatten von Schiedsstellen vereinbaren und abwickeln, weniger Rechtsgeschäfte sein als vielmehr individuelle Verabredungen, deren Einhaltung nicht erzwungen zu werden braucht, weil sie als individuelle Verabredungen gar keiner allgemeinen Normierung unterliegen können . Es ist, vom Entwicklungsbegriff der klassischen Rechtsphilosophie aus, nicht die Frage, ob durch staatliche Anerkennung von Schiedssprüchen oder von Initiativen wie UNIDROIT (unabhängig von deren Kodifizierung) das Recht sich ändert, sondern ob das, was geschieht, überhaupt als Recht zu bezeichnen ist, da die Rechtsquellen nicht allgemeiner, sondern wesentlich partikularer Natur sind .44 Der Rechtsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft gerät hier an eine Grenze, die mit Begriffen wie Differenzierung oder Funktionswandel kaum zu fassen ist . Während solche Konzepte traditioneller Rechtssoziologie die Entwicklung immer neu zu beschreiben versuchen, hat die kritische Theorie beansprucht, das Recht aus dem Verhältnis seines rationalen Begriffs zu seinen Gegenständen heraus zu beurteilen . Schon Franz Neumann hatte 1937 von einem Funktionsverlust gesprochen .45 Dieser führt Neumann zufolge aber nicht zum Zusammenbruch des Rechts, weil nur eine von seinen drei Funktionen verloren gehe . Das Recht diene nämlich nicht nur der Steuerung der Wirtschaft, sondern auch der Sicherung eines Minimums an subjektiver Freiheit sowie der Vernebelung gesellschaftlicher Herrschaft . Die letzten beiden Funktionen könnten auch dann bestehen, wenn nicht das Recht die Wirtschaft steuert, sondern umgekehrt, jedenfalls solange ein bürgerlicher Staat bestehe . 44 45
Vgl . Ralf Michaels, Privatautonomie und Privatkodifikation . Zur Anwendbarkeit und Geltung allgemeiner Vertragsrechtsprinzipien, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 62 (1998) . Vgl . Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes (Fn . 34) .
Zweck und Funktion von Recht . Oder wie Recht gegen sich selbst polemisch wird
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Schärfer hat Max Horkheimer zur selben Zeit das bürgerliche Recht vollständig auf eine ideologische Funktion reduziert .46 Insofern das Recht stets nur eine Funktion der gesellschaftlichen Herrschaft sei, sei auch sein Funktionsverlust nur adäquater Ausdruck veränderter Machtverhältnisse . Deren Begriff liegt freilich, wie auch bei Neumann, die falsche These vom Monopolkapitalismus zugrunde . Kapital ist aber auf Austauschverhältnisse angewiesen, die in einer monopolisierten Ökonomie nicht existierten .47 Im Unterschied dazu hatte schon der späte Adorno den dialektischen Charakter des Rechts betont, indem er die Verschränkung freiheitlicher und herrschaftsfunktionaler Momente herausstellte .48 Peter Bulthaup hat diesen Gedanken dahin entwickelt, dass das bürgerliche Recht zwar von Anfang an mit Widersprüchen, Ungleichheit und Unfreiheit belastet sei, dass es aber doch die historische Form sei, in der die Freiheit des individuellen Subjekts überhaupt erstmals in die Welt komme, und die bürgerliche Rechtsphilosophie sei das Medium ihrer Entfaltung zum Selbstbewusstsein der Epoche .49 Bulthaup ordnet das Recht in eine Dialektik ein, die Rechtsbegriff und Rechtsgegenstand in ihrem historischen Verhältnis zueinander betrachtet . Gerade weil das Kapital nicht monopolistisch agiere, trete das Recht mit der Entwicklung der großen Industrie in Widerspruch zu seinem Begriff, denn es garantiere noch nicht einmal mehr innerhalb der Klasse der Privatproduzenten Allgemeinheit und Gleichheit . Das sei aber weder schlechthin ein Argument gegen das Recht noch eines gegen die Industrie . Es zeige nur an, dass die gegenwärtige rechtliche Form der Gesellschaft die industrielle Form ihrer Reproduktion nicht mehr rational zu organisieren vermöchte . Das Recht sei zwar in der Lage, durch Fortbildungen sich an neue Aufgaben anzupassen, aber in solcher pragmatischen Selbstkorrektur müsse es seinen ursprünglich rationalen Zweck preisgeben .50 Jedenfalls verliere es die traditionelle Kernfunktion der Organisation selbständiger Privatproduzenten, in der seine Bestimmung als frei, gleich und allgemein einmal gründete . Wenn man nun weder auf den entwickelten Anspruch praktischer Vernunft, noch auf den industriell entwickelten Stand des Lebens verzichten wolle, bleibe nur die Möglichkeit, durch vernünftige Kritik des Rechts zu grundsätzlich neuen Formen gesellschaftlicher Organisation zu finden, durch die der technisch fraglos einlösbare Rechtszweck allgemeiner und gleicher Freiheit realisiert würde . Den im Recht enthaltenen Freiheitsanspruch gegenüber dem Recht selbst geltend zu machen, wäre die Konsequenz praktischer Vernunft aus der Beobachtung, dass sich die modernen Rechtsentwicklungen ihrerseits gegen diesen Freiheitsanspruch wenden . Die völlige Preisgabe praktischer Vernunft zugunsten kommunikativer Deliberation 46 47 48 49 50
Vgl . Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Gesammelte Schriften Bd . 4, 1988 . Vgl . Peter Bulthaup, Rechtspragmatik (Fn . 38), 87 . Vgl . Theodor W . Adorno, Negative Dialektik, 1966 . Die Rechtsphilosophie, zu der Adorno sich nach verbreiteter Meinung nicht geäußert habe, findet sich im Modell II: Weltgeist und Naturgeschichte . Vgl . Bulthaup, Rechtspragmatik (Fn . 38) . Ein in der ökonomischen Entwicklung gründendes Legitimitätsproblem des bürgerlichen Rechts wird in dieser Zeit nicht bloß in der Naturrechtsgeschichte, etwa von Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, moniert, es macht sich auch in der Zivilrechtstheorie, z . B . bei Franz Wieacker geltend, der in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2 . Aufl . 1967, einen ‚inneren Zerfall des Privatrechts‘ diagnostiziert und dann ausgehend vom Sozialrecht mit umfangreichen Erörterungen zu Positivismus, Naturalismus und Gerechtigkeit das Werk schließt .
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entzieht dieser das Kriterium eines unverhandelbaren Freiheitsbegriffs . Kritik wird dann zur bedingten Mitgestaltung .51 Der gegenwärtige Anarchismus mächtiger Privatakteure jedenfalls schafft nicht sowohl Recht als er geflissentlich sowohl den Naturzustand des internationalen Rechts als auch die Rückendeckung des nationalen benutzt, um unabhängig von grundsätzlichen Rechtserwägungen zunächst einmal Interessen zu realisieren . Dass er so zur Rechtsquelle werden kann, zeigt wohl geschichtliche Aporien des bürgerlichen Rechts an, nicht aber schon einen Fortschritt über es hinaus .52 Hat man freilich den Begriff des Fortschritts bereits der Vorstellung wertfreier Veränderung geopfert, so braucht man über Recht eigentlich gar nicht mehr zu reden, denn es hat sich dann aufgelöst in das, was eben jeweils gilt . Soll die Diskrepanz von rechtlicher Funktion und moralischem Zweck überwunden werden, wäre also eher von einer Veränderung der gesellschaftlichen Form der Gegenstände als von einer für sich bloß formellen Veränderung des Rechts auszugehen . Wären die gegenständlichen Handlungsbedingungen aber moralisch verfasst, dann allerdings müsste die Frage ‚Wozu Recht?‘ noch einmal ganz neu gestellt werden .53
51 52
53
So bei Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992 . Zur Überschätzung des Gestaltungspotentials im Recht und zur Unterschätzung der Bedeutung kritischer Begriffe bei Habermas vgl . Buckel, Subjektivierung und Kohäsion (Fn . 3), 62 und 69 . Für eine differenzierte und umfassende Darstellung des Problems selbst vgl . Johannes Köndgen, Privatisierung des Rechts . Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, Archiv für die civilistische Praxis 206 (2006) . Selbstverständlich gibt es keine ‚natürliche‘ Verbindung zwischen Privatrecht und Staat (vgl . Nils Jansen, Ralf Michaels, Private Law and the State . Comparative Perceptions and Historical Observations, in: Beyond the State? Rethinking Private Law, hg . von dens ., 2008, 66 und pass .) . Weder Privatrecht noch Staat sind natürlich . Problematisch ist es aber, die Überwindung privater durch allgemeine Rechtssetzung deshalb theoretisch in Frage zu stellen, weil sie empirisch im Kontext transnationaler Geschäftsinteressen revidiert wird . Der Kampf zwischen liberalistischer Interessenvertretung außerhalb staatlicher Regulierung und staatlicher Schadensbegrenzung durch (Nach-) Regulierung ist nichts Neues, sondern eine klassische Verlaufsform der bürgerlichen Gesellschaft; er wiederholt sich jetzt nur auf transnationalem Gebiet . – Legitimationsprobleme sieht immerhin Florian Rödl, Private law beyond the democratic order? On the legitimatory problem of private law ‚beyond the state‘, in: Beyond the State? Rethinking Private Law, aaO . Vgl . auch Buckel, Subjektivierung und Kohäsion (Fn . 3), 315: Man dürfe nicht annehmen, dass die Rechtsform, weil sie ein relativer Fortschritt sei, „in alle Ewigkeit und für alle zukünftigen Gesellschaftsformationen zu perpetuieren sei“ .
ulrike a. c. Müller, Berlin Wozu das
anWaltlIche
paRtIzIpatoRIsche
RechtspRaxIs? potenzIal
Von
RechtsVeRtRetung*1
In diesem Beitrag soll ein Verständnis von Rechtspraxis als politischer Praxis vorgeschlagen werden . Dies beantwortet die faktische Frage „Wozu kann Recht genutzt werden?“ mit dem Verweis auf ein spezifisches Potenzial des Rechts, Individuen eine Thematisierung von Idealen zu ermöglichen . Für die normative Frage „Wozu soll Recht genutzt werden?“ folgt daraus, dieses partizipatorische Potenzial transparent zu nutzen . Die Beantwortung der Wozu-Fragen zeigt, dass die Grundlagendisziplinen der Rechtsphilosophie und der Rechtssoziologie von einander profitieren: Die Rechtsphilosophie kann durch einen Bezug auf die Realität des Rechts ihre Relevanz für konkrete und aktuelle Fragestellungen deutlich machen . Und umgekehrt können rechtsphilosophische Fragestellungen empirische Forschung bereichern, indem sie normative Deutungen, Konsequenzen und Orientierungen für die beschriebene und erklärte Gegenwart anbieten . I. dIe stRuktuR
deR
„Wozu?“-FRage
Die Frage „Wozu Recht?“ ist auslegungsbedürftig . Als Zwei-Wort-Satz ohne Verb eröffnet sie mehrere mögliche Assoziationen . In einem rechtsphilosophischen Kontext liegt die normative Interpretation „Wozu soll Recht genutzt werden?“ nahe . Diese Frage kann mit philosophischen Methoden bearbeitet werden . Die Rechtsphilosophin kann also von ihrem Schreibtisch aus überlegen, was die Verteilungsgerechtigkeit zum „Wozu?“ sagen würde, was im Gegensatz dazu die ausgleichende Gerechtigkeit, was wiederum der Utilitarismus entgegnen würde und was hinter dem Schleier des Nichtwissens hervordringen würde . Jedoch: Die Antworten unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf die Epoche, aus der das zugrundeliegende Denkmodell stammt, sondern auch in Bezug auf die tatsächlichen Annahmen, die über „das Recht“ gemacht werden . Ohne zu wissen, was Recht kann, wozu Recht genutzt werden kann, ist eine Beantwortung der normativen Frage nur schwer verwertbar . Oder umgekehrt: Die Aussage eines Sollens impliziert ein Können . Jede normative Antwort basiert also auf Prämissen über die Faktizität . Diese empirischen Prämissen sollten zumindest offengelegt werden . Optimalerweise sollten sie wissenschaftlich und damit erfahrungswissenschaftlich fundiert sein . Anders ausgedrückt: Die Wozu?-Frage enthält implizit eine faktische und eine normative Teilfrage . Die erstere kann nicht ausschließlich vom Schreibtisch beantwortet werden . Vielmehr muss die Rechtsphilosophin dafür entweder ins empirische Feld gehen oder sich vorhandenen empirischen Wissens bedienen, das in der Rechtssoziologie und den weiteren erfahrungswissenschaftlichen Rechtsdisziplinen vorhanden ist . *
Für überaus wertvolle Anmerkungen zu einer Vorversion dieses Texts danke ich Juliane Ottmann und Julika Rosenstock .
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Ulrike A . C . Müller
Unklar ist jedoch die Reihenfolge, in der diese Teilfragen zu bearbeiten sind: Es könnte erst das normative Ideal identifiziert werden und danach empirisch überprüft werden, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieses Ideal überhaupt realisiert werden kann . In diesem Beitrag wird ein entgegengesetztes Vorgehen vorgeschlagen: Zuerst wird die faktische Frage, anschließend die normative Frage untersucht . Dies geschieht hier ausschließlich aus pragmatischen Gesichtspunkten . (Und gibt damit Anlass zu fragenden Fortführungen: Wozu Rechtsphilosophie? Zum spekulativen Erörtern von hypothetischen Idealen, zur normativen Strukturierung der Wirklichkeit oder …? Und wozu Rechtssoziologie, wozu überhaupt Grundlagenfächer in der Rechtswissenschaft?1) II. dIe
FaktIsche
FRage: Wozu
kann
Recht
genutzt WeRden?
Die Beantwortung der faktischen Frage erfordert zunächst eine nähere Bestimmung des zu untersuchenden Gegenstands „Recht“ . Denn ein Blick allein auf den Schönfelder und die darin versammelten Paragraphen, also eine Untersuchung allein des Textes von Rechtsnormen, würde schwerlich haltbare Ergebnisse darüber bringen, was mit Recht bewirkt werden kann . Vielmehr wäre der häufige methodische Fehler wahrscheinlich, die Untersuchungsfrage normativ anhand der Selbstbeschreibung des Rechts zu beantworten – und nicht empirisch, also auf Erfahrung basierend . Die Rechtsvorschriften in Art . 1 Abs . 3, 20 Abs . 2 und 3 GG mögen geteilte Gewalten erfordern . Daraus zu schlussfolgern, dass es sich bei der Legislative als Rechtsetzung um eine politische Institution, bei der Judikative dagegen um apolitische Anwendung von Recht handelt, hieße, nur die rechtliche Selbstbeschreibung theoretisch weiterzudenken . Zu validen Erkenntnissen über die tatsächlichen Möglichkeiten des Rechts würde dies nicht führen . Rechtsvorschriften darüber, was Recht sein soll, können nicht sinnvoll als Information darüber verwendet werden, was Recht kann . Vielleicht kann Recht anderes, mehr oder weniger, als von ihm in übergeordneten Rechtsvorschriften verlangt wird . Um dieser Faktizität des Rechts näher zu kommen, ist als Untersuchungsgegenstand „Recht“ neben dem Normtext auch die Rechtspraxis einzubeziehen – Vertragsschlüsse, Klagen oder der Verzicht darauf, Urteile usw . Allgemeiner kann Recht definiert werden als ein Diskurs- und Handlungszusammenhang, in dem gesetzte Normen durch eigenständige Institutionen zwangsweise durchgesetzt werden können .2 Die Rechtssoziologie hat vielfältige Funktionen des so verstandenen Phänomens Recht festgestellt: neben Verhaltenssteuerung u . a . gesellschaftliche Integra-
1
2
Eine ebenso wenig erfreuliche wie überraschende Einschätzung durfte die Autorin jüngst mithören, als ein Jura-Zweitsemester die Frage von fachfremden Freunden nach seiner gegenwärtigen Klausurbelastung offenherzig beantwortete: „Wir schreiben jetzt nur Grundlagenfächer . Die sind unwichtig .“ Wenn die Überlegungen der Rechtsphilosophie und die Erkenntnisse der Rechtssoziologie in produktive Interaktion miteinander träten, würden sich Antworten auf die Frage „Wozu Grundlagenfächer in der Rechtswissenschaft?“ eventuell einem größeren Publikum erschließen . In Verwendung eines an Max Weber angelehnten Zwangsbegriffs, Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5 . Aufl ., 1972, 17 .
Wozu anwaltliche Rechtspraxis?
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tion, Konfliktvermeidung, -bearbeitung und -lösung, Legitimation von Herrschaft .3 Beim empirischen Blick u . a . auf die Funktion der Konfliktbearbeitung hat sich nun herausgestellt, dass das Geschehen vor Gericht mitnichten unpolitisch ist, sondern vielmehr politische, machtbezogene Wirkungen hat . Nicht nur Rechtsetzung, sondern auch Rechtsanwendung ist eine Praxis der Verteilung gesellschaftlicher Macht . Denn es zeigt sich, dass Parteien vor Gericht in vielen Rechtsbereichen unschwer entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse eingeordnet werden können . Insbesondere Anwält_innen als parteilichen Interessenvertreter_innen kommt dabei eine große Gestaltungswirkung zu . Ein historischer Beleg dafür sind bürgerliche und politische Freiheitsrechte, deren Verbreitung und Verfestigung im 19 . Jahrhundert in Europa maßgeblich von Anwälten und auch Richtern vorangetrieben wurde .4 Ein aktuelleres Beispiel bildet die Entwicklung des strafrechtlichen Instituts der Nebenklage, das in der BRD der 1970er–1990er von feministischen Strafrechtsanwältinnen aufgegriffen wurde . Dadurch professionalisierten die Anwältinnen die Beweisstandards in Fällen sexualisierter Gewalt, machten eine realistischere Unrechtsfeststellung und somit das Erkennen eines geschlechtsbezogenen Machtverhältnisses sowie Reaktionen darauf möglich .5 Solche gesellschaftspolitischen Verschiebungen können von Anwält_innen bewusst angestrebt werden .6 Eine bewusste politische Entscheidung muss aber nicht vorhanden sein . In vielen Rechtsgebieten, beispielsweise im Arbeitsrecht und im Mietrecht, ist der Anwaltsmarkt aufgeteilt in die Vertretung der einen oder der anderen Seite, ohne dass die Parteiergreifung notwendig politisch begründet wird . Dabei lassen sich diese Parteien auch in einer vielfältigen ausdifferenzierten Gesellschaft unschwer entlang eines sozio-ökonomischen Gefälles einsortieren: Angestellte und Mieter_innen auf der unterprivilegierten Seite, Arbeitgeber_innen und Vermieter_innen auf der privilegierten Seite . Auswirkungen auf die Verteilung gesellschaftlicher Macht hat die Anwaltstätigkeit insofern automatisch . Auch neue Gesetze werden oft anwaltlich polarisiert aufgegriffen: So standen und stehen sich beim 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz Befürworter_innen mit Verbindungen zu Gewerkschaften oder migrantischen Communities und Gegner (sic) aus arbeitsrechtlichen Großkanzleien gegenüber .7 3 4 5
6 7
Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie. 6., durchgesehene und erweiterte Auflage von ‚Das Lebende Recht‘, 2013, 186 ff . Terence Halliday / Lucien Karpik, Lawyers and the Rise of Western Political Liberalism: Europe and North America from the Eighteenth to Twentieth Centuries, 1998 . Anna Hochreuter, Das Private ist politisch . Jutta Bahr-Jendges im Gespräch mit Anna Hochreuter, Streit. Feministische Rechtszeitschrift 3/2009, 133–140; Ulrike A . C . Müller, Politics of the Waiting Room and Professional Direct Action: Cause Lawyering in Private Practice in Berlin, http://www .iisj . net/iisj/de/politics-of-the-waiting-room-and-professional-direct-action-cause-lawyering-in-private-practice-in-berlin .asp?cod=4010&nombre=4010&nodo=&orden=True&sesion=1, aufgerufen am 25 .6 .2013, 17, 68 ff; Sibylla Flügge, 25 Jahre Feministische Rechtspolitik – eine Erfolgsgeschichte?, Streit. Feministische Rechtszeitschrift 2/2003, 56, 58 f . Ulrike A . C . Müller, Professionelle Direkte Aktion . Linke Anwaltstätigkeit ohne kollektive Mandantschaft, in: Kritische Justiz 4/2011, 448–464 . Hubert Rottleuthner / Matthias Mahlmann, Diskriminierung in Deutschland. Vermutungen und Fakten, 2011, 330 f ., 335–337; Ulrike A . C . Müller, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aus Anwaltssicht . Von Dunkelfeldern, gerichtlicher Zurückhaltung und langfristigen Potenzialen, in: Der Kampf ums Recht. Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung, hg . von Josef Estermann, 2012, 268–270, 275 f . Eine klare Ablehnung des Gesetzes wurde ausschließlich
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Ulrike A . C . Müller
Zu letzteren gehört u . a . eine renommierte Großkanzlei, der es mit dem zeitweiligen Unterhalten einer sog . „Warndatei“ zwar nicht gelang, Trittbrettfahrer-Fälle als verbreitetes Phänomen zu identifizieren,8 die aber nichtsdestotrotz an der Verbreitung des Kampfbegriffs „AGG-Hopping“ festhält .9 Richter_innen hingegen wendeten das neue Gesetz zunächst auffallend zurückhaltend an .10 Weniger defensiv zeigten sich Bundesverfassungsrichter_innen im Bereich des Transsexuellenrechts und schrieben der Gesetzgebung in zahlreichen Entscheidungen kontinuierlich Änderungen des Transsexuellengesetzes vor .11 Die hohe Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden im Bereich des Transsexuellenrechts wäre ohne engagiert-professionelle Rechtsvertretung kaum zustandegekommen . Die Beispiele ließen sich fortführen . Rechtsanwendung, so zeigt sich, beinhaltet also ein spezifisches Potenzial, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verhandeln . Anders als legislative Debatten können diese Aushandlungsprozesse durch Individuen initiiert werden . Fast alle der genannten Beispiele, mit Ausnahme der Bundesverfassungsrechtsprechung zum TSG, sind solche, in denen die gesellschaftspolitische Bedeutung gerade nicht in bedeutenden Einzelfällen entstanden ist, sondern sich über langfristige Tendenzen in unzähligen kleinen, oft alltäglichen Fällen eingestellt hat . Rechtspraxis, insbesondere anwaltliche Tätigkeit mit der Möglichkeit zur bewussten Parteilichkeit, ist insofern „mikropolitisch“12 . III. theoRIeangeBote Die empirische Beobachtung, dass mit Rechtspraxis gesellschaftliche Machtverteilung beeinflusst und gesteuert werden kann, sollte nun theoretisch zu fassen versucht werden, um über eine Verallgemeinerung des Erfahrungswissens die normative Frage fundiert beantworten zu können . Mit Blick auf mögliche Theorieangebote zum Verhältnis von Recht und Politik bzw . zur politischen Nutzung von Recht ist zunächst festzustellen, dass Montesquieus Theorie der Gewaltenteilung wenig weiter hilft, da die Rechtsanwendung sich nicht, wie in der Theorie vorgesehen, als politisch neutral erweist – nicht die anwaltliche, aber auch nicht die richterliche Rechtsanwendung . Ausführlich haben sich die Critical Legal Studies mit dem politischen Bezug des Rechts auseinandergesetzt . Mit der Unbestimmtheitshypothese sind sie aber zu einem der empirischen Beobachtung teilweise entgegengesetzten
8 9 10 11 12
von Anwälten formuliert . Die befragten Anwältinnen auf Arbeitgeberseite äußerten ausdrücklich ambivalente Einschätzungen, Müller, aaO . Die gerichtliche Herangehensweise wurde übereinstimmend sowohl von Kläger- als auch von Beklagtenvertreter_innen als auffallend zurückhaltend beschrieben, ebd . Von 261 erfassten Anspruchsteller_innen betrieben nur 26 mehr als 3 AGG-Verfahren, Jan Kern, Professionelle Diskriminierungskläger im Arbeitsrecht, 2009, 213 ff . S . die aussagekräftige Seite http://www .agg-hopping .de (17 .08 .2013), welche von der Kanzlei betrieben wird . Hubert Rottleuthner / Matthias Mahlmann (Fn . 7), aaO . Vgl . Laura Adamietz, Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, 2011 . Ulrich K . Preuß, Anwaltliches Handeln im demokratischen Rechtsstaat, in: Rechtspolitik mit „aufrechtem Gang“. Werner Holtfort zum 70. Geburtstag, hg . von Margarete Fabricius-Brand / Edgar Isermann / Jürgen Seifert / Eckart Spoo, 1990, 22 .
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Ergebnis gekommen, indem sie davon ausgehen, dass Richter_innen positivierte Rechtsnormen mit beliebigen Inhalten füllen können .13 Ein parteiliches anwaltliches Bemühen um eine bestimmte Tendenz in der Rechtsprechung würde sich dann nicht lohnen . Die Empirie spricht eher gegen diese These . Vielversprechender erscheint die feministische Rechtstheorie, die – in vielen Ansätzen parallel zur materialistischen Rechtstheorie – herausgearbeitet hat, dass es sich beim Recht nicht um ein neutrales Instrument handelt, sondern dass die Fiktion eines abstrakten, autonomen Rechtssubjekts bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse, z . B . Sexismus, befördert .14 Bei dieser Erkenntnis ist sie aber nicht stehen geblieben . Vielmehr haben einige Ansätze aufgezeigt, dass diese Machtverhältnisse nicht komplett ohne Rekurs auf Recht – ohne Mobilisierung bestehenden Rechts und Forderungen nach dessen Veränderung – bekämpft werden können .15 Recht wurde damit als politisch gehaltvoll und inhaltlich ambivalent festgestellt . Dies lässt sich zur Theoretisierung der oben genannten empirischen Beobachtungen, dass von unterschiedlichen, auch unterprivilegierten gesellschaftlichen Positionen auf Recht zurückgegriffen wird und dies auch Erfolg haben kann, fruchtbar machen . Um die Rolle der explizit parteilich auftretenden Akteur_innen, also der Anwält_innen, näher zu beleuchten, bietet sich eine neomaterialistische Theorie an, nämlich die bei Gramsci ansetzende und u . a . von Buckel weiterentwickelte Hegemonietheorie des Rechts . Wenn Recht als hegemoniales System im gramscianischen Sinn betrachtet wird, dann stellen Anwält_innen bedeutende „kleine Intellektuelle“ dar . Diese gramscianische Figur bezeichnet Personen, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und Schichten „Homogenität und Bewußtheit der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben“16 und damit gesellschaftliche Hegemonie organisieren, wie beispielsweise Priester . Eine vergleichbare Funktion haben Anwält_innen, indem sie subjektiv-individuelle Erfahrungen in die offizielle Herrschaftssprache des Rechts übersetzen und dadurch, auch jenseits einer erteilten oder verweigerten gerichtlichen Anerkennung, die individuelle Erfahrung legitimieren, deren Sichtbarkeit erhöhen und die Artikulation anschlussfähiger machen . Mit diesem theoretischen Konzept lässt sich insofern an die genannte Bezeichnung von Anwaltstätigkeit als „mikropolitisch“17 anknüpfen und anwaltliche gesellschaftspolitische Einflussnahme fassen: Anwält_innen als kleine juridische Intellektuelle können versuchen, durch die Nutzung des politischen Potenzials ihrer Tätigkeit eine juristische Gegenhegemonie zu organisieren; sie können als „Übersetzer_ innen der Rechtsform im Kontext einer breiteren sozialen Bewegung“18 tätig werden . Dieses Potenzial von Anwaltstätigkeit sollte nicht unterschätzt werden, denn es 13 14 15 16 17 18
Duncan Kennedy, Critique of Adjudication [fin de siècle], 2003 . U . a . Catharine A . MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989; für weitere Nachweise vgl . Anja Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Feministische Rechtswissenschaft . Ein Studienbuch, hg . von Lena Foljanty / Ulrike Lembke, 2 . Aufl ., 2012, 75 . Elisabeth Holzleithner, Emanzipation durch Recht?, Kritische Justiz 2008, 250–256; Eva Kocher, Geschlechterdifferenz und Staat, Kritische Justiz 1999, 182–204, 203 . Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hg . von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Band 7, 1999, Heft 12, § 1: 1497 . Ulrich K . Preuß (Fn . 12), aaO . Sonja Buckel, Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts, in: Kritik und Materialität, hg . von Alex Demirovic, 2008, 128 .
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kommt „gerade im Recht weniger auf die großen Intellektuellen, die RechtsphilosophInnen, an als auf die geschäftige Alltagspraxis der kleinen Intellektuellen, die […] über ihre immantente Kenntnis des Rechtssystems für die Organisation der Hegemonie in der juristischen Argumentation (der Dogmatik) zuständig sind.“19 Dabei erweisen sich gerade unspektakuläre Einzelfälle als bedeutsam, wenn sie sich häufen und gesellschaftliche Konfliktfelder erkennbar werden lassen – wie es z. B. bei der Etablierung der Nebenklage durch feministische Anwältinnen geschah, gegenwärtig aber auch im Sozialrecht bei der Auseinandersetzung mit ALG II. Auch Cain greift auf Gramscis Figur der kleinen Intellektuellen zurück, um die anwaltliche Tätigkeit zu beschreiben.20 Sie kommt dabei zu einer potenziell noch stärkeren Bedeutung der anwaltlichen Rolle, indem sie nicht nur von einer übersetzenden, sondern auch von einer kreativen, erfindenden Tätigkeit spricht: „lawyers are imaginative traders in words. But these symbol traders are also creative. They invent categories and these categories are constitutive of practices and institutions within which their clients can achieve their objectives.“21 Allerdings streicht sie, und damit stimmt sie mit den genannten Ansätzen der feministischen Rechtstheorie überein, die ambivalente, begrenzte Eignung des Rechts heraus, Menschen auf der schwächeren Seite eines Machtverhältnisses zu unterstützen.22 Festgehalten werden kann: Faktisch kann mit Rechtspraxis gesellschaftliche Machtverteilung beeinflusst werden. Insbesondere Anwaltstätigkeit als parteiliche Tätigkeit besitzt ein politisches Potenzial. IV. dIe
noRmatIVe
FRage: Wozu
soll
Recht
genutzt WeRden?
Was folgt nun aus der Beantwortung der faktischen Frage für die normative Frage? Wie soll mit dem festgestellten Potenzial des Rechts, gesellschaftliche Machtverteilung zu beeinflussen, umgegangen werden? Handelt es sich dabei um ein Risiko für das Ideal der neutralen Rechtsanwendung, so dass das Potenzial möglichst begrenzt werden sollte? Argumente der demokratischen Partizipation und Transparenz sprechen gegen eine solche Sicht. Das festgestellte Potenzial des Rechts sollte gerade nicht verworfen oder geleugnet, sondern vielmehr als konstruktives Element erkannt und genutzt werden. Es ermöglicht nämlich gesellschaftliche Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit – angestoßen von Rechtsunterworfenen, von betroffenen Bürger_innen. Dabei stellt sich zunächst die grundlegende Frage, inwiefern die Faktizität bzw. das Sein des Rechts überhaupt relevant sein kann für die Frage nach der Normativität bzw. dem Sollen. Was kann aus empirischen Erkenntnissen folgen – abgesehen von der Prüfung, ob zu einem Sollen auch ein entsprechendes Können existiert? Pragmatische Gesichtspunkte sprechen dafür, auch umgekehrt ein festgestelltes Kön19 20 21 22
Sonja Buckel / Andreas Fischer-Lescano, Hegemonie im globalen Recht – Zur Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie, in: Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, hg. von dens., 2007, 93. Maureen Cain, The symbol traders, in: Lawyers in a Postmodern World. Translation and Transgression, hg. von Maureen Cain / Christine B. Harrington, 1994. Cain (Fn. 20), 33. Cain (Fn. 20), 41 ff.
Wozu anwaltliche Rechtspraxis?
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nen auf mögliche normative Implikationen abzuklopfen: Was würde geschehen, wenn das Können nicht eingesetzt wird? Und was, wenn es realisiert würde? Die erste Frage ist hier zu konkretisieren: Was wären die Konsequenzen, wenn das Potenzial des Rechts zur Thematisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht genutzt würde? Und ist dies überhaupt möglich? Eine apolitische Rechtsvertretung zu verlangen, hieße, die Bedeutung von Recht als anerkanntes gesellschaftliches Forum für Konflikte zu ignorieren . Dass anwaltliche Dienstleistungen eine relevante Ressource bei der Aufrechterhaltung von Machtpositionen darstellen, haben ökonomisch mächtige Akteure wie Unternehmen längst erkannt und beschäftigen daher unzählige Rechtsberater_innen und -vertreter_innen . Historisch beschreibt Cain Anwält_innen daher als „conceptive ideoligists of capital“23 . Auch die hohe Quote von Jurist_innen in Parlamenten weist auf die Nützlichkeit juristischer Kompetenzen bei der Aushandlung von Machtverhältnissen hin . Angesichts der politischen Herkunft des angewendeten Rechts und der Positionierung von Parteien im Gerichtsverfahren entlang vielfältiger Machtverhältnisse ist die Gefahr groß, dass die Forderung unpolitischer Rechtsvertretung sich nie realisieren ließe und eher tatsächliche Interessen(-konflikte) verdeckt und einer transparenten Thematisierung entzogen würden . Neben diesem Argument der Erkennbarkeit und Transparenz steht auch dasjenige der gesellschaftlichen Partizipation: Wenn Rechtspraxis als mit Politik verknüpft verstanden wird, kann ihr gesellschaftspolitisches Potenzial, insbesondere dasjenige von Anwaltstätigkeit, Machtverhältnisse aufzuzeigen, zu debattieren und zu verändern, genutzt werden . Dies nicht zu tun, wäre ein Verlust, denn für demokratische gesellschaftliche Selbstregulierung bieten Gerichtsverfahren ein produktives Forum . Sie ermöglichen kleinteilige gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen und geben dabei insbesondere Individuen die Möglichkeit, eine Debatte zu initiieren und das konstruktive Potenzial von Streit – nicht um Wahrheit, sondern um Interessenspositionen – zu nutzen . Gerechtigkeit entsteht notwendig aus Streitfällen . Ob ein gegebener Ruhezustand auf ausgeglichenen Machtverhältnissen oder auf der Übermacht einer Seite beruht, ist nicht zu erkennen, weshalb Konflikten eine wichtige Funktion zukommt . Die Hinwendung zu Gerichtsverfahren muss also nicht per se als pathologisches Phänomen verstanden werden . Anders ausgedrückt: „Die klassische Formel ‚pax et iustitia‘ klingt [zwar] schön und erhaben, enthält aber einen Zielkonflikt“24 . Das Alleinstellungsmerkmal von Rechtspraxis ist dabei, eine Ressource für Individuen darzustellen . Individuelle, rechtsunterworfene Bürger_innen können die Prozesse der rechtlichen Konfliktbearbeitung initiieren . Sie müssen, um ihre Vorstellungen von Interessengerechtigkeit zu artikulieren und Einfluss auf gesellschaftliche Machtverteilung auszuüben, nicht erst eine Partei, Lobby oder soziale Bewegung mit offenem Ohr finden oder sogar gründen – Tätigkeiten, die ein hohes Maß an sozialem Kapital verlangen . Sie müssen noch nicht einmal auf die Idee kommen, ihr Anliegen politisch zu fassen, und auch im Prozess muss dies nicht ausdrücklich geschehen, denn die gehäufte Übersetzung unterprivilegierter Interessen in den Rechtsdiskurs kann schon zu gesellschaftspolitischen Verschiebungen beitragen . Die 23 24
Cain (Fn . 20), 16 . Hubert Rottleuthner, Mediation und Rechtsstaatlichkeit, 2012, in: Kritische Justiz 4/2012, 456 .
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Übersetzungs- und Erfindungsleistung der anwaltlichen „kleinen Intellektuellen“ steht gegenwärtig zu vergleichsweise einfachen Bedingungen zur Verfügung . Bei allen Einschränkungen, die für den Zugang zum Recht festgestellt wurden25 oder die die eingeschränkten Erfolgsaussichten von Individualparteien im Konflikt mit Unternehmen oder Behörden26 betreffen, kommt diesem Aspekt in der Gegenwart vermutlich eine stärkere Bedeutung zu als in der Vergangenheit: In einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die von vielfältigen Lebensrealitäten, Machtwidersprüche und Interessenskonflikten gekennzeichnet ist, ist politische Partizipation mittels Großorganisationen nur bedingt erfolgversprechend . Gerichtsverfahren und Rechtsvertretung spielen hier eine neue Rolle und sollten genutzt werden . Die Chance zur Thematisierung und Verschiebung von Machtverhältnissen entspringt gerade aus einem Spannungsverhältnis, das das Recht kennzeichnet: Recht knüpft an Bestehendes an und überschreitet es gleichzeitig, indem die Realität des Normbruchs die Norm nicht aufhebt . Für diesen Mechanismus, den Luhmann als kontrafaktische Stabilisierung von Verhaltenserwartungen bezeichnet,27ist es vermutlich entscheidend, dass die Vorstellung von Recht immer auch den individuellen, subjektiven Gedanken der Rechtsunterworfenen an Gerechtigkeit mobilisieren kann – nicht bezogen auf einen konkreten Inhalt, welcher individuell sehr unterschiedlich gestaltet sein kann, sondern abstrakt als positiver Zustand ausgeglichener Interessen . Recht und Utopien – Vorstellungen, die angestrebt werden, obwohl sie Nicht-Orte darstellen und somit nicht erreichbar sind – haben demnach eine Gemeinsamkeit: Beide halten an erwünschten Vorstellungen – sei es von der Qualität einer Kaufsache, sei es vom gesellschaftlichen Zusammenleben – fest, auch wenn diese nicht realisiert werden . Ähnlich identifiziert Alexy eine „reale oder faktische“ und eine „ideale oder kritische“ Dimension des Rechts .28 Dieses Spannungsverhältnis findet sich wieder in der das Recht empirisch kennzeichnenden Verknüpfung von Legitimität und Autorität .29 Abel formuliert dies als kausale Verbindung: „Law is obligatory because it is just . […] law is aspirational, seeking to promote justice“ .30 Die Betonung muss dabei auf „seeking“ gelegt werden: Es handelt sich bei Gerechtigkeit um einen Anspruch, der nicht nur von innen als „Selbstbeschreibung des Systems“31, sondern auch von außen als Forderung an das Recht herangetragen wird und der automatisch unterschiedliche Vorstellungen mobilisieren muss . Nicht zu verwechseln ist dies mit einem überpositiven Rechtsbegriff, denn entscheidend ist nicht die Verwirklichung von Gerechtigkeit,32 sondern 25 26 27 28 29 30 31 32
Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, 1980; Cappelletti, Mauro u . a ., Access to Justice, 5 Bände, 1978–80 . Marc Galanter, Why the „Haves“ Come Out Ahead: Speculations on the Limits of Legal Change, in: Law & Society Review 1974/75 . Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3 . Aufl ., 1987, 43; ders ., Das Recht der Gesellschaft, 1999, 134 . Robert Alexy, Hauptelemente einer Theorie der Doppelnatur des Rechts, in: ARSP 95 (2009), 151–166 . Eva Kocher, Corporate Social Responsibility: Eine gelungene Inszenierung?, in: Kritische Justiz 1/2010, 34 . Richard L . Abel, Epilogue . Just Law?, in: The Paradox of Professionalism. Lawyers and the Possibility of Justice, hg . von Scott L . Cummings, 2011, 296 . Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn . 27), 217 . Im Ergebnis beschreibt Luhmann Gerechtigkeit als „Kontingenzformel“ des Rechts, ebd ., 214 ff . So aber Alexy (Fn . 28), der in Radbruchscher Tradition von einer äußersten Grenze möglicher
Wozu anwaltliche Rechtspraxis?
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der darauf gerichtete Anspruch . Gerade dieser Anspruchscharakter impliziert, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit geben kann und wird . Ein Spannungsverhältnis stellt also ein Begriffsmerkmal des Rechts dar . Die Doppelrolle des Rechts, „demokratische Herrschaft gleichzeitig zu ermöglichen und zu begrenzen“33, ist insofern kein lösungsbedürftiges Problem, sondern ein Wesensmerkmal von Recht . Das Auftreten von Konflikten ist von vornherein mitgedacht, was Konflikte als konstruktive Prozesse der Debatte und Suche nach gesellschaftlichen Konsensen oder Mehrheiten ermöglicht . Der konfliktfreudige Charakter des Rechts entspricht damit Vorstellungen von einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung . Rechtsanwendung ist eine Methode, sich mit dem Bestehenden nicht abzufinden, sondern individuell etwas daran zu verändern – in einer begrenzt diskursiven Art und Weise und damit anders als die „Jedermanns-Ressource“34 der individuellen Gewalt . Zwar ist auch für Rechtsanwendung der mögliche Rückgriff auf physische Gewalt, nämlich auf staatliche, notwendig . Die rechtlich-diskursive Begrenzung und Vorhersagbarkeit dessen beschränkt jedoch mögliche Negativfolgen und macht rechtliche Verfahren zu einem sinnvollen Forum der Thematisierung von Machtverhältnissen . Dieses Plädoyer für eine offene Nutzung des politischen Potenzials von Rechtspraxis gilt jedoch nicht unbegrenzt . Eine Orientierung am Ideal einer neutralen, apolitischen Rechtsanwendung ist für Richter_innen als Instanzen staatlicher Gewaltausübung zu verlangen . Die – von Anwält_innen unterschiedlichster Perspektiven beobachtete – gerichtliche Tendenz zur Nicht-Anwendung von Antidiskriminierungsrecht35 stößt vermutlich an die Grenzen dessen, was bei einer judikativen Gewalt tolerierbar ist . Für Anwält_innen als parteiliche Interessenvertreter_innen ergibt ein Gebot der politischen Neutralität jedoch keinen Sinn . Vielmehr wäre es ein Verlust für gesellschaftliche Diskussionsprozesse, wenn in der Anwaltstätigkeit das Potenzial, gesellschaftliche Machtverteilung durch Individuen thematisieren und beeinflussen zu lassen, nicht transparent gemacht und genutzt würde . Um dieses Potenzial zu realisieren, individuelle Vorstellungen von Gerechtigkeit und legitimen Ansprüchen in die hegemoniale Sprache des Rechts zu übertragen und dadurch langsam, aber sicher auch die hegemonialen Inhalte zu verschieben, ist ihre Tätigkeit sogar eine Voraussetzung . Die „kleinen Intellektuellen“ erfüllen eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion .
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Rechtsinhalte ausgeht, also ein Mindestmaß an tatsächlich verwirklichter, nicht nur behaupteter Gerechtigkeit zum Begriffsmerkmal macht, also die faktische und die kritische Dimension des Rechts teilweise miteinander versöhnen möchte . Überpositive Rechtsbegriffe verkennen jedoch, dass es auch über die grundlegendsten Inhalte von Gerechtigkeit verschiedene Ansichten geben wird – selbst bei maximaler Begrenzung des Teilnehmerkreises einer Debatte auf habilitierte deutschsprachige Rechtsphilosoph_innen, es sei denn, es würde ein enges Zeitfenster von wenigen Jahren gesetzt –, dass also eine Debatte über den richtigen Inhalt von Recht auch auf der Ebene des gerechten Minimalgehalts stattfinden kann und wird . Call zur 20 . Jahrestagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie „Wozu Recht?“, http://www . jura .uni-frankfurt .de/44116891/JFR-newsl-8_2_2012 .pdf, aufgerufen am 25 .6 .2013 . Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt ., in: Soziologie der Gewalt, hg . von dems ., Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37, 1997, 25 . Rottleuthner/Mahlmann (Fn . 7), aaO; Müller (Fn . 7), aaO .
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V. FazIt Faktisch besitzt Rechtspraxis, insbesondere anwaltliche Rechtsvertretung, das Potenzial, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu thematisieren und zu beeinflussen . Diese empirisch festzustellende Verknüpfung von Recht und Politik gestaltet sich sehr vielfältig und greift unterschiedlichste Interessenkonflikte auf . Normativ betrachtet stellt sie daher eine positive Chance dar, keine zu begrenzende Gefahr . Dies anzuerkennen und Rechtsvertretung als politische Praxis zu begreifen, sorgt für notwendige Transparenz . Diese Praxis erlaubt es Individuen unabhängig von ihrer i . e . S . politischen Mobilisierungsfähigkeit, ein Thema als Konflikt zu benennen, und ermöglicht so langfristig, bei einer Häufung von Einzelfällen, auch Veränderungen über diesen Einzelfall hinaus . Damit entspricht sie der Realität einer ausdifferenzierten Gesellschaft und schafft ein Mehr an gesellschaftspolitischer Partizipation .
Bettina nolteniuS, Bonn zuR notWendIgkeIt
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Schon lange vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (2009) wurde gefordert, dass bestimmte Kriminalitätsbereiche auf europäische Institutionen übertragen werden sollen . Wegen ihrer transnationalen Dimension seien sie vom jeweiligen Einzelstaat alleine nicht mehr zu bewältigen, wie z . B . Betrugstaten zu Lasten des EU-Haushaltes, Drogenhandel, Menschenhandel usw .1 Die Europäische Kommission hat inzwischen auf der Grundlage des Art . 325 Abs . 4 AEUV einen Richtlinienvorschlag „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“2 vorgelegt, in dem u . a . Mindeststrafen für bestimmte gegen die Vermögenswerte der Union gerichtete Verhaltensweisen vorgesehen sind . Begründet wird die Erforderlichkeit einer derartigen Richtlinie damit, dass gerade die von der Union zu schützenden Vermögenswerte und Verbindlichkeiten auf Unionsebene liegen und damit stärker auf die Union ausgerichtet seien als andere Bereiche . Sie könnten daher von den einzelnen Mitgliedstaaten allein nicht hinreichend geschützt werden . Es bedürfe vielmehr einer gleichwertigen und abschreckenden Maßnahme auf EU-Ebene .3 Die Europäische Kommission hat zudem einen Verordnungsvorschlag zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art . 86 AEUV) vorgelegt .4 Vor dem Hintergrund der immer weiter wachsenden Anzahl grenzüberschreitender Kriminalität innerhalb der EU scheint die Errichtung eines Europäischen Strafrechts nahezu politisch „alternativlos“ . Das entbindet jedoch nicht von der Frage nach einer rechtlichen Legitimation desselben . Im Folgenden sollen keine Einzelfragen behandelt werden, wie z . B . die Frage, welche einzelnen Tatbestände im Rahmen eines einheitlichen Europäischen Strafrechts normiert werden sollten oder wie eine Europäische Staatsanwaltschaft organisiert sein müsste, sondern es soll allgemein auf die grundlegende Frage eingegangen werden, ob die Mitgliedstaaten mit Recht Hoheitsbefugnisse im Bereich des Straf1
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Franz-Hermann Brüner / Wolfgang Hetzer, Nationale Strafverfolgung und Europäische Beweisführung, NStZ 2003, 113; Ulrich Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, ZRP 2000, 186, 189; Walter Perron, Auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungsverfahren?, ZStW 112 (2000), 202, 204; Robert Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, 8 f . Vgl . auch den sog . „Corpus Iuris“ zum Schutz der finanziellen Interessen, der unter der Leitung von Delmas-Marty als Modell für ein künftiges supranationales oder harmonisiertes Strafrecht dienen sollte . Vgl . näher zum Entwurf des „Corpus Iuris“ Jens Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, 106 f .; Bernd Hecker, Europäisches Strafrecht, 4 . Aufl ., 2012, § 14 Rn . 28 ff .; Helmut Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, 87 ff . Siehe auch das Grünbuch der Kommission „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“, welches sich eng an das Modell des Corpus Juris anlehnte (KOM (2001) 715 endg . (abrufbar unter http://www .europa .eu .int .)) . COM(2012) 363 final . COM(2012) 363 final, 9 . COM(2013), 534 final .
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rechts auf eine dem Staat übergeordnete Instanz wie der Europäischen Union übertragen können; ob eine solche Hoheitsrechtsübertragung also überhaupt legitim ist .5 Denn diese Frage muss zunächst geklärt werden, bevor politisch die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft oder die Schaffung eines harmonisierten europäischen materiellen Strafrechts ernsthaft gefordert werden kann . Das Strafrecht greift in fundamentaler Weise in die Rechte des einzelnen Bürgers ein und galt daher üblicherweise als Ausdruck der Rechtsmacht des Staates . Soll der Eingriff in die Freiheitsrechte nicht bloße Gewalt sein und damit auf das Verbrechen eine weitere Gewalttat durch die Herrschenden folgen, sondern legitimes Handeln darstellen, bedarf die Befugnis zu strafen einer rechtlichen Begründung . Das gilt nicht nur für die Strafgewalt seitens des Staates, sondern auch dann und gerade dann, wenn es um die Ausübung strafrechtlicher Maßnahmen geht, die ihre Grundlage in europäischen oder internationalen Bestimmungen haben . Wird mit der Etablierung eines genuinen Europäischen Strafrechts der Zusammenhang von Staat und Strafrecht aufgebrochen, bedarf dies jedenfalls einer Begründung . Der Verweis auf das positive Recht, auf die Verträge von Lissabon, insbesondere auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU (Art . 325 AEUV) und die Möglichkeit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art . 86 AEUV), kann hierfür nicht genügen . Denn in diesen Bestimmungen zeigt sich bereits, dass hier Hoheitsrechte seitens der Mitgliedstaaten auf die Europäische Union übertragen wurden, um deren Legitimation es gerade geht . Um die Frage nach der Legitimation eines Europäischen Strafrechts beantworten zu können, bedarf es Vorüberlegungen, die in drei Gedankenschritten erfolgen sollen: Zunächst ist der Begriff des Rechts zu klären (unter I .) . Daran hat sich im zweiten Schritt der Begriff des Staates und seine rechtliche Ausgestaltung anzuschließen (unter II .) . Im dritten Schritt ist schließlich auf das rechtliche Verhältnis der Staaten untereinander und ihrer Bürger zueinander einzugehen (unter III .) . Aus den genannten Vorüberlegungen sind dann Folgerungen für die hier in Rede stehende Frage, ob sich Strafrechtszwang gegenüber dem einzelnen Bürger auf Europäischer Ebene legitim begründen lässt, zu ziehen (unter IV .) . Die Ausführungen werden sich vor allem an der Kantischen Rechtslehre orientieren . Denn Kant unternimmt insbesondere in seiner Schrift „Die Metaphysik der Sitten“ von 1797 den Versuch, eine Rechtslehre vorzustellen, die systematisch vom freien Einzelnen ausgeht und sich zum Ziel setzt, die Idee einer „allgemeinen und fortdauernden Friedensstiftung“6 auf der Erde insgesamt zu entwickeln .7
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Die hier vorgestellte Frage bezieht sich allein darauf, ob es legitim ist, überstaatlichen Institutionen Hoheitsgewalt auf dem Gebiet des Strafrechts zu übertragen . Eine andere Fragestellung ist demgegenüber, inwieweit sich aus dem Völkerrecht die Legitimation ergibt, Bürger fremder Staaten, die das Besuchsrecht verletzen oder Straftaten begehen, zu sanktionieren . Vgl . allgemein zum internationalen Strafanwendungsrecht Dietrich Oehler, Internationales Strafrecht, 2 . Aufl ., 1983; Hecker (Fn . 1), § 2 Rn . 1 ff . Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke (hg . von Wilhelm Weischedel), Bd . 8, 1977, A 235, B 265 . Bedingt durch die räumliche Begrenzung kann hier nur eine Übersicht über die wesentlichen Gedankengänge gegeben werden . Zu einer ausführlichen Herleitung und Auseinandersetzung mit den Gegenpositionen vgl . meine demnächst erscheinende Schrift zum Begriff einer freiheitlichen Rechtsverfassung im Spannungsverhältnis zur Etablierung eines Europäischen Strafrechts .
Rechtliche Begründung der Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten
I. deR BegRIFF
des
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Rechts
Es wurde schon angedeutet, dass der Begriff des Rechts seine alleinige Grundlage nicht in der positiven Rechtsordnung finden kann . Er hat sich vielmehr an seinem Konstituenten und Adressaten desselben, dem freien Einzelnen, zu orientieren . Recht und Freiheit verweisen insofern aufeinander: Ein Begriff des Rechts, welcher den freien Einzelnen nicht zum Ausgang und Ziel nimmt, ist kein Recht, sondern oktroyierter Zwang, und die Freiheitsrealisation des Einzelnen verliert ohne konkretisierte Rechtssätze und die Möglichkeit ihrer Durchsetzung ihre Basis . Die Freiheit als Ausgang und Ziel des Rechts zu nehmen, kann – anders ausgedrückt – auch so verstanden werden, dass die Freiheit den Oberbegriff des Rechts bilden muss, an dem sich die reale Ausgestaltung des Rechts (Unterbegriff) zu orientieren hat, mit dem Ziel, der Freiheit auch tatsächlich Geltung zu verschaffen (Schlusssatz) . Im Rahmen der Deutung des Kantischen Rechtsbegriffs wird darauf zurückzukommen sein . Der Begriff der Freiheit ist nicht auf die Fortbewegungsfreiheit (Freizügigkeit) oder die bloße Unabhängigkeit von äußeren Handlungszwängen zu reduzieren . Ein substantieller Begriff der Freiheit umfasst mehr . Er beinhaltet die grundsätzliche Möglichkeit des Einzelnen, sich zum Richtigen bestimmen zu können (Autonomie) .8 Freiheit ist Selbstbestimmung . Ein so verstandener Freiheitsbegriff weist darauf hin, dass auch der Rechtsbegriff nicht Heteronomie bedeuten kann, sondern vom selbstbestimmten Subjekt ausgehen muss . Der Begriff des Rechts setzt weiter voraus, dass der Einzelne nicht nur für sich existiert, sondern in Wechselwirkung mit den äußeren Freiheitssphären anderer tritt . Nun muss aber gerade im Interpersonalitätsverhältnis die Freiheit des Einzelnen auch zur Geltung kommen . Das ist die Aufgabe des Rechts . In der „Einleitung in die Rechtslehre“ fasst Kant das „allgemeine Rechtsgesetz“ zusammen: als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“9 . Das allgemeine Gesetz der Freiheit bildet den Oberbegriff, den sich der Einzelne setzen kann . Der Einzelne ist damit grundsätzlich in der Lage, nicht nur sich, sondern auch die anderen und damit die Allgemeinheit mit in seine Perspektive aufzunehmen . An der Allgemeinheit hat sich der Untersatz, die „Willkür“, d . i . das bewusste, reale äußere Handeln zu orientieren und zwar so, dass im Schlusssatz die Freiheit des Einzelnen auch wirklich werden kann . Das allgemein gültige Rechtsgesetz ist also eine Vernunftleistung, die zunächst jeder selbst – und damit auch jeder spätere „Täter“ – erbringt und keine Leistung, die 8
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Vgl . zur Denkmöglichkeit von Freiheit Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke (hg . von Weischedel), Bd . 4, B 472 ff ., A 444 ff .; zur Denknotwendigkeit von Freiheit Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (hg . von Weischedel), Bd . 7, BA 36 ff .; 70 ff .; Kritik der praktischen Vernunft, Werke (hg . von Weischedel), Bd . 7, A 186 ff . Vgl . zum Begründungszusammenhang von Freiheit und Recht ausgehend von Kant, Ernst Amadeus Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention, ZStW 97 (1987), 786, 806 ff .; ders ., Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Strafrechtspolitik, hg . von Winfried Hassemer, 1987, 137, 162 ff .; Rainer Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, 130 ff .; Michael Köhler, Strafrecht AT, 1997, 9 ff . m . w . N .; Verf ., Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft, 2003, 139 ff .; Katrin Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 35 ff . Kant (Fn . 5), A 33, B 34 .
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erst durch den Staat oder eine sonstige dem Einzelnen übergeordnete Herrschaftsinstanz vermittelt wird . Schon in dieser Verhältnisbestimmung von Freiheit und Recht zeigt sich, dass der Staat, soll er ein Rechtsstaat sein, dieses Verhältnis nicht umgehen kann, sondern sich zum Ausgang und Ziel setzen muss: Im Staat muss sich die Freiheit des Einzelnen und damit das Recht tatsächlich realisieren können . II. dIe staatskonstItutIon Wenn nun alle vernünftig sind und die Freiheit des anderen anerkennen und damit Rechtsverhältnisse zu anderen Menschen schaffen, stellt sich die Frage, warum es dann überhaupt einer Staatskonstitution oder allgemeiner einer Instanz bedarf, die das Recht durchsetzt und damit die Freiheit der Einzelnen gewährleistet . Auch wenn es zwar eine Erkenntnisleistung des Einzelnen ist, sich das Rechtsgesetz selbst zu setzen und dabei die Allgemeinheit mit in den Blick zu nehmen, ist es die Leistung eines auch endlichen und damit fehlbaren Subjekts . Es ist eine vom Einzelnen gefärbte Allgemeinheit, die insofern keine Verbindlichkeit für alle schaffen kann . Es bedarf daher einer Instanz, die Objektivität schafft, die das Subjekt aus seiner begrenzten Perspektive allein nicht zu leisten vermag . Das zeigt sich schon an der Primärordnung, z . B . an zivilrechtlichen Regelungen . Deutlich wird es dann insbesondere im Strafrecht, denn hier geht es um eine grundlegende Negation des Rechts durch den Einzelnen . Kant betont daher auch: „Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter M e n s c h e n führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich (…) .“10 Das Recht selbst verlangt damit bei einer Verletzung durch den Einzelnen eine Institution, die diesen Widerspruch zum Recht allgemein-gültig löst . Das hat Hegel deutlich gemacht: „In einem Zustande der Gesellschaft, wo weder Richter noch Gesetze sind, hat Strafe immer die Form der Rache, und diese bleibt insofern mangelhaft, als sie die Handlung eines subjektiven Willens (…) ist .“11 Im Strafrecht zeigt sich damit in einem besonderen Maße die Notwendigkeit einer Instanz, die unabhängig von den Beteiligten das Unrechtsgeschehen betrachtet . Denn ansonsten wäre die Reaktion auf die begangene Tat eine Form der Rache und gerade kein Recht . Um legitimen Zwang gegenüber dem Einzelnen begründen zu können, bedarf es damit einer Institution, die im Verhältnis zum Verletzten und zum Täter eine Objektivität einnimmt . Die notwendig zu konstituierende Instanz darf aber nun nicht eine sein, bei der die Freiheit des Einzelnen zugunsten einer Objektivität verloren geht, sondern sie muss in ihrer Konstitution und ihrem Handeln immer auf das Subjekt rückführbar sein . „Ein S t a a t (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen .“12 Der Begriff der „Vereinigung von Menschen“ bezieht sich auf eine Einheit, die nicht durch eine äußere Macht hergestellt wird, sondern durch die Gemeinschaft von Personen .13 Es sind Menschen, die mit ihren Stärken und Schwä-
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Kant (Fn . 5), B 170 . Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke (hg . von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel), Bd . 7, 1970, § 102 Zusatz; vgl . auch § 220 . Kant (Fn . 5), A 164, B 194 . Vgl . auch Kant, Zum ewigen Frieden, Werke (hg . von Weischedel), Bd . 11, 1977, BA 19: „Alle recht-
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chen in der Weise zusammen leben, dass ihre äußeren Handlungen unmittelbar oder mittelbar aufeinander Einfluss haben können .14 Aufgrund der besonderen Abhängigkeit der Staatskonstitution von den einzelnen Subjekten kann die Verfasstheit eines Volkes nicht unverbunden gegenüber dem Subjekt stehen, sondern die Gemeinschaft, oder anders ausgedrückt: das Volk, muss sich selbst „verfassen“ . Darin liegt auch der Grund, warum sich in den einzelnen unterschiedlichen Verfassungen der Staaten, historische und kulturelle Besonderheiten widerspiegeln . Eine einfache, wenn auch gut gemeinte, bloße Übertragung der einen Staatsverfassung auf einen anderen Staat ist daher nicht möglich . „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalt nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre . Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört .“15 Der Begriff des Volkes ist damit nicht ethnisch-zentriert verstanden, sondern ergibt sich aus der Verfasstheit einer „Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ . Der Begriff des Rechtsgesetzes beschränkt sich zudem nicht auf das positive Recht, sondern es sind Vernunftgesetze gemeint, die ihrem Inhalt und ihrer Struktur nach am freiheitlich handelnden Subjekt ausgerichtet sind . Der Staat, soll er ein Rechtsstaat sein, muss in seiner Konstitution und seinem Handeln immer auf das Subjekt rückführbar sein und zwar sowohl formell in der Beteiligung an Wahlen als auch materiell bezogen auf den Inhalt der Gesetze und ihrer Anwendung .16 Voraussetzung dafür ist zunächst, dass die Allgemeinheit der Gesetze nicht vom Subjekt getrennt wird, sondern an dasselbe gebunden bleibt . Die Gesetze müssen von ihm ihren Ausgang nehmen: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen a n d e r e n verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria) . Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller (…) gesetzgebend sein .“17 Die Allgemeinheit der Gesetze ist – wenn auch eine bedeutende – zugleich aber erst eine Seite des Staatshandelns . Sie bildet lediglich den Obersatz . Hinzukommen muss auch die praktische Ausübung der Gesetze, ein Handeln nach den Gesetzen durch Vollzugsorgane . Schließlich bedarf es einer Kontrollinstanz, die die Übereinstimmung des Vollzugshandelns mit den Gesetzen überprüft . Die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative ist daher nicht bloß historisch zufällig oder aus Balancegründen sinnvoll, sondern sie ist vernunftnotwendig und vom Freiheitsbegriff gefordert, wobei der allgemeine Wille in den drei Einzelgewalten enthalten sein muss: Ein Rechtsstaat muss drei Gewalten enthalten, das ist der allgemein vereinigte Wille in „dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des
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liche Verfassung (…) ist, was die Personen betrifft, die darin stehen (…) die nach dem S t a a t s b ü r g e r r e c h t der Menschen, in einem Volke (ius civitatis)“ . (Hervorhebung im Original) . Kant (Fn . 6), A 32 f ., B 32 f . Zum Verhältnis Staat-Verfassung vgl . Hegel (Fn . 11), § 274 Anm .; vgl . auch den Zusatz zu § 274: „Da der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewusstsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewusstseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die Wirklichkeit der Verfassung .“ (Hervorhebungen im Original) . Vgl . hierzu näher Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1993, 400 ff . Kant (Fn . 6), A 165 f ., B 195 f . (Hervorhebung im Original) .
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Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zufolge dem Gesetz), und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (…)“ .18 Kant weist dabei zugleich auf die Verbindung der Gewaltenteilung „mit den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß“ hin: „dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d . i . das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlusssatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist“ .19 In dem Vergleich mit einem praktischen Vernunftschluss zeigt sich, dass die Gewaltenteilung nicht bloß eine Funktionenzuschreibung enthält oder der Kontrolle der verschiedenen Gewalten dient, sondern ein vernunftnotwendiger Dreischritt ist . Das wird besonders deutlich, wenn die Legislative mit der Exekutive eine Personalunion bilden würde . Dann würde die Exekutive die Gesetze vollziehen, die sie sich selbst gegeben hat . Die als Obersatz notwendige gesetzliche Allgemeinheit würde aufgehoben . Auch der Richter könnte nicht überprüfen, ob die Entscheidungen der Exekutiven mit der Allgemeinheit des Gesetzes übereinstimmten, da beide zusammengefasst wären . Denn es wäre nur das Recht, was die Regierung als Recht im Einzelfall gesetzt hätte . Der Staat wäre kein Rechtsstaat, sondern ein despotischer Staat,20 mit den Worten Kants: „Gesetz und Gewalt ohne Freiheit“ .21 Die Qualität des Staatsbürgerdaseins würde damit negiert, denn eine Geltendmachung seiner Rechte wäre nicht mehr gewährleistet . Die Trennung von Exekutive und Legislative ist somit notwendig, soweit freiheitliche Verhältnisse im Staat realisiert werden sollen . Im Strafrecht wird die Notwendigkeit der Staatskonstitution mit ihrer Form der Gewaltenteilung offensichtlich . Denn erst hier ist eine übergeordnete, von den Einzelnen selbst legitimierte Instanz anwesend, die eine gerechte Sanktion – in Abgrenzung zur willkürlichen Selbstjustiz – verbindlich festlegen kann und zwar in dreifacher Hinsicht: –
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Zum einen existiert ein Gesetzgeber, der „vereinigte Volkswille“ und damit ein Souverän22, der im Strafrecht die Straftatbestände und die Prozessvoraussetzungen normiert . Auch der Täter ist Teil davon und rückt somit nicht erst durch die begangene Tat in das Blickfeld der Betrachtung, sondern ist ebenso Mitkonstituent der Rechtsordnung . Die Notwendigkeit des Mitgesetzgebers ergibt sich daraus, dass gerade die Strafgesetze freiheitsbedeutsame Inhalte zum Gegenstand haben . Das gilt für das Ermittlungsverfahren mit seinen Zwangsbefugnissen ebenso wie für den Inhalt der Strafgesetze . Zum anderen ist eine Exekutive anwesend, die den Gesetzen gemäß handelt, im Ermittlungsverfahren sind dies die Staatsanwaltschaft und die Polizei oder im Strafvollzug die Strafvollstreckungsbehörden . Schließlich gibt es eine richterliche Gewalt, die im Einzelfall bestimmt, inwieweit z . B . die Ermittlungen rechtmäßig sind bzw . waren, und ob ein bestimmtes Verhalten auch tatsächlich unter ein Strafgesetz fällt . Kant (Fn . 6), A 165, B 195 . Kant (Fn . 6), A 165, B 195 . Kant (Fn . 13), BA 25 ff . Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werke (hg . von Weischedel), Bd . 12, B 328, A 330 . Kant (Fn . 6), A 166/B 196 .
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Diese drei Gewalten müssen einerseits voneinander getrennt sein und andererseits rückgekoppelt sein an die Volkssouveränität . Es besteht damit eine notwendige Verbindung von freiem Einzelnen, Rechtsstaat als demokratisch legitimierter und gewaltenteilig organisierter Herrschaftsinstitution und dem Recht zu strafen . Die bisherigen Ausführungen zum öffentlichen Recht sind insofern noch nicht abschließend, als sie sich bisher allein auf den Staat konzentrierten . Die Rechtsverhältnisse innerhalb einer begrenzten Erde lassen sich jedoch nicht auf einen Staat reduzieren, sondern müssen global bestimmt werden . Kant hatte es sich ja selbst – wie ich zu Beginn der Ausführungen dargelegt hatte – zur Aufgabe gemacht, die Idee einer „allgemeinen und fortdauernden Friedensstiftung“ auf der Erde insgesamt zu entwickeln . III. das VeRhältnIs
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Neben dem Staatsrecht ist das Verhältnis der Staaten untereinander und ihrer Bürger zueinander zu betrachten . Das öffentliche Recht enthält somit eine über den Einzelstaat hinausgehende Dimension . Innerstaatliches Recht und Interstaatenrecht sind aufeinander bezogen, sogar noch mehr: sie stehen notwendig in wechselseitiger Abhängigkeit . Eine Friedenssicherung und damit die Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen im Rechtsstaat bedarf nicht nur einer Sicherung nach innen, sondern ebenso einer Sicherung nach außen im Verhältnis zu anderen Staaten sowie einzelner Menschen verschiedener Staaten zueinander . Kant macht dies in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 deutlich: das „Postulat (…) ist: Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen23 können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören . Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1) die nach dem S t a a t s b ü r g e r r e c h t der Menschen in einem Volke (ius civitas), 2) nach dem Vö l k e r r e c h t der Staaten in Verhältnis gegeneinander (ius gentium), 3) die nach dem We l t b ü r g e r r e c h t , so fern Menschen und Staaten in äußerem aufeinander einfließendem Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum) . Diese Einteilung ist nicht willkürlich, sondern notwendig in Bezug auf die Idee vom ewigen Frieden“ .24 Kant unterteilt damit das öffentliche Recht in das Staatsrecht, das Völkerstaatenrecht und das Weltbürgerrecht . Ebenso wie im Verhältnis der einzelnen Menschen untereinander muss es auch im Verhältnis der Staaten zueinander um rechtliche Verhältnisse gehen . Im Folgenden kann nicht eine genaue Analyse von Kants Vorstellung vom Völkerrecht insgesamt erfolgen,25 sondern es sind nur die Aspekte heraus23
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Der Begriff des „Einfließens“ meint die Möglichkeit der wechselseitigen Einflussnahme von Handlungen; d . i . „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“ . Kant (Fn . 6), A 32, B 32 . Kant (Fn . 13), BA 19; ders . (Fn . 6), A 162, B 192 (Hervorhebungen im Original) . Vgl . hierzu näher Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, Zum ewigen Frieden, 1999; Georg Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, Zeitschrift für Philosophie und Forschung 37 (1983), 363; Gierhake (Fn . 7); Nils-Christian Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig?, in: Si vis pacem, para pacem, hg . von Michael Köhler / David Hössl, 2008, 13; David Hössl, Das
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zustellen, die für den vorliegenden Begründungsgang von Bedeutung sind . Die Ausführungen reduzieren sich daher insbesondere auf die Frage, ob sich durch die notwendige Verrechtlichung der Interpersonalitätsverhältnisse auf der Erde insgesamt die Schaffung einer Weltrepublik, eines Weltstaates, ergeben könnte, dem auch Durchgriffsbefugnisse gegenüber dem Einzelnen einzuräumen wären . Analog zur Notwendigkeit der Staatskonstitution ergäbe sich dann die Notwendigkeit eines Weltstaates, dem auch Strafrechtsbefugnisse übertragen werden könnten . Im Folgenden soll kurz erläutert werden, warum der Übergang in einen Weltstaat mit eigenen Hoheitsrechten nicht möglich ist . Zum einen bestehen bereits in sich gefestigte Rechtseinheiten in Form von Staaten, in der Sprache Kants: Eine „Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ .26 Es kann nicht Aufgabe des Völkerrechts und Weltbürgerrechts sein, diese Rechtseinheiten aufzuheben, sondern auch das internationale und europäische Recht muss sie zum Ausgang nehmen, wie das Recht die Freiheit des Einzelnen . Denn die Staaten bestehen bereits je für sich als eigenständige Rechtsgebilde und können damit nicht einfach zu einer Gesamtverfassung verschmolzen werden . Zum anderen kann es auch kein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen einzelnen Staaten geben und auch nicht eine Instanz, die als Herrschaftsinstanz den Staaten übergeordnet ist und die auf die Rechte des Einzelnen durchgreift . Schließlich würden bei einem Einheitsstaat mit Durchgriffsbefugnissen auf den Einzelnen die für den Staat als notwendig vorgestellte Ausgestaltung von Rechtsverhältnissen wie Volkssouveränität und Gewaltenteilung verloren gehen . Der Grund liegt darin, dass – wie sich gerade im Strafrecht mit seinen freiheitsbedeutsamen Eingriffsrechten zeigt –, die Notwendigkeit besteht, dass es rückgebunden sein muss an den einzelnen Betroffenen und damit an die Bürger . Diese sind dazu berufen, sich ihr Recht selbst zu setzen . Anders ausgedrückt: Sie sind für die Bildung des allgemeinen Obersatzes im Staat als Souverän zuständig . Bei einem den Staaten übergeordneten Suprastaat fehlte ein solcher, da es keine in sich verfasste Gemeinschaft, kein Staatsvolk gäbe .27 Dieses wäre nur über die Repräsentanten seines jeweiligen Staates vertreten, die bei der Abgabe eigener staatlicher Gesetzgebungsbefugnisse den einzelnen Staatsbürger übergehen müssten . Die Repräsentanten sind Teile der Exekutiven . Exekutivgewalt im Innern und Rechtssetzungsgewalt im Rahmen äußeren Staatshandelns würden zusammenfallen . Damit wäre sowohl die Legitimation des Gesetzgebers auf überstaatlicher Ebene geschwächt, da es an einer unmittelbaren Rückbindung an die einzelnen Bürger der unterschiedlichen Staaten fehlte, als auch ihre Durchsetzbarkeit .
26 27
kantische Weltbürgerrecht als komplementäre Verfassungsform des internationalen Austauschs Privater?, in: Si vis pacem, para pacem?, hg . von Köhler/Hössl, 2008, 137; Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, Jahrbuch für Recht und Ethik, 1998, 255; Thomas Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung, 2010, 143 ff . Kant (Fn . 6), A 164, B 194 . Siehe hierzu deutlich Schmitz, Der ‚permanente Staatencongress‘ – Die internationalen Beziehungen im Rechtsphilosophischen Denken Kants, in: Perspektiven der Philosophie, hg . von Georges Goedert / Martina Scherbel, Bd . 30 (2004), 335, 357 f .: „(D)enn hinter der Rede von Souveränität steht die Idee des allgemein gesetzgebenden Willens . Erst wenn man ihn genauer ins Auge faßt, wird deutlich, daß es die Substanz des Einzelstaates ist, welche in Gefahr gerät, wenn er einen wie auch immer gearteten Souveränitätsverlust in Kauf nimmt“ .
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Die Grundidee des Gewaltenteilungsprinzips ist es aber gerade, dass die Exekutive ihr Handeln an den allgemeinen Gesetzen auszurichten hat . Fallen Legislative und Exekutive zusammen, verliert die gesetzliche Allgemeinheit ihre Geltungskraft . Die einzelnen Staatsbürger wären nicht mehr Teilhaber des Rechts, die Volkssouveränität ginge verloren . Bei einer Weltrepublik käme es letztlich zu einem Zustand ohne effektive Gesetzgebung . Es handelte sich um einen, wie Kant es ausgedrückt hat, Despotismus, d . i . um einen Zustand von „Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit“28 . Die Unterordnung der Staaten unter eine ihnen übergeordnete Instanz würde damit nicht nur die Souveränität der Staaten tangieren, sondern letztlich die bürgerliche Freiheit vernichten .29 Der allgemeine Wille verlöre seine substantielle Bedeutung, er wäre lediglich das „partikulare Wollen eines nur einzelstaatlichen Quasi-Subjekts“30 . Der Zusammenhang der Freiheit des Einzelnen ist also mit der Souveränität des Volkes und dem Prinzip der Gewaltenteilung untrennbar verbunden, sollen rechtliche und nicht despotische Verhältnisse bestehen . Der Friede zwischen den Staaten kann damit jedenfalls nicht „auf Kosten staatsbürgerlicher Freiheit“ realisiert werden .31 Eine den Einzelstaaten übergeordnete Instanz, die auf die Freiheitsrechte des Einzelnen zugreifen könnte, würde daher einen Bruch mit der Souveränität bedeuten, die sich aus der Freiheit der einzelnen Bürger speist . Aufbauend auf diesen Vorüberlegungen ist nun die Europäische Union zu betrachten und die Frage, inwieweit hier die Etablierung eines genuinen Europäischen Strafrechts möglich ist . IV. dIe euRopäIsche unIon und das legItImatIonspRoBlem BeI deR etaBlIeRung eInes genuInen euRopäIschen stRaFRechts 1 . Auch die Europäische Union operiert in ihren Bestimmungen in den LissabonVerträgen ebenso wie der vorliegende Ansatz mit den Begriffen wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit . In Art . 2 S . 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) heißt es z . B .: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte (…) .“ Ebenso wenig unterscheidet sich eines der Ziele der Union von dem hier vorgestellten Ziel des Völkerrechts, „den Frieden (…) zu fördern“ (Art . 3 Abs . 1 EUV) . Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Etablierung eines genuinen Europäischen Strafrechts die Union nicht mehr für sich in Anspruch nimmt, als sie zu leisten vermag und so mit ihrer eigentlichen Idee der Freiheit letztlich bricht . Neben der Friedensförderung zwischen den Staaten setzt sich die Union weitere Ziele, wie „ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (Art . 3 Abs . 1 EUV) . Um diese Ziele zu erreichen, bietet die Union „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem (…) der freie Personenverkehr gewährleistet ist“ und 28 29 30 31
Kant (Fn . 21), B 328, A 330 . S . a . Schmitz (Fn . 27), 337 ff .; I . Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Anarchie der kommunikativen Freiheit, hg . von Peter Niesen / Benjamin Herborth, 350, 366 ff .; deutlich auch Jacob (Fn . 25), 157 ff . Schmitz (Fn . 27), 358 . I . Maus (Fn . 29), S . 366 .
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wirkt durch die Errichtung eines Binnenmarktes „auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums“ usw . hin (Art . 3 Abs . 2 und 3 EUV) . Die Union hat hierzu eigene Institutionen geschaffen, wie z . B . die Kommission, das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Gerichtshof . Bedingt durch die weite Zielsetzung der Union und die damit verbundene Schaffung von den Staaten übergeordneten Institutionen entwickelt die Union eine eigene Dynamik, was zur Folge hat, dass sie sich auch in ihren Zielen verselbständigt .32 Es stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten der Union legitim strafrechtsrelevante Maßnahmen und damit Herrschaftsbefugnisse, die intensiv in die Freiheitsrechte des Einzelnen eingreifen, übertragen können . Denn anders als im Rahmen der Ausübung von Herrschaftsrechten gegenüber dem Einzelnen seitens des Staates ist die Union weder demokratisch legitimiert (unter 2 .) noch ist sie gewaltenteilig organisiert (unter 3 .) . 2 . Zwar sollen die Ziele der Union, wie die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gerade auch der Freiheit des Einzelnen dienen, sie gehen aber nicht von ihr aus . Denn auch wenn die Union nach den Vertragsbestimmungen eine „Union der Bürgerinnen und Bürger ist“ fehlt ihr ein „einheitliches Legitimationssubjekt“33, also ein Europäisches Volk, ein Souverän . Es mangelt damit bereits an der Möglichkeit der Setzung eines durch den allgemeinen Willen gebildeten Obersatzes, wie er für das Recht als notwendig vorgestellt wurde . Der Demokratiebegriff der Union löst sich daher vom echten Souverän und schafft einen künstlichen Souverän, der unverbunden neben dem Demokratieprinzip steht . Daran ändert sich auch nichts, wenn man davon ausgeht, dass die Union den Begriff der Demokratie u . a . mit der sog . Unionsbürgerschaft (Art . 9 EUV) verbindet . Denn auch der Status des Unionsbürgers kann ein „Europäisches Volk“ nicht ersetzen . Die Unionsbürgerschaft stellt gerade keine eigene Staatsbürgerschaft dar, sondern ist an die Mitgliedstaaten gebunden und insofern von dieser rechtlichen Einheit der Mitgliedstaaten abgeleitet .34 Die Europäische Union ist ein Zusammenschluss von mehreren bereits bestehenden Staaten mit je eigenen Staatsvölkern . Ein echter Europäischer Gesetzgeber wäre erst dann existent, wenn sich die Bürger zu einem Europäischen Staat bekennen würden; es ein „Europäisches Staatsvolk“ gäbe, das sich eine Verfassung geben will . Das Europäische Parlament ist daher kein Parlament im 32
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Beispielsweise kommt dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung OLAF („Office de la Lutte Anti-Fraude“) als unabhängiger Teil der Kommissionsbehörde bisher die Aufgabe zu, Betrug, Korruption und sonstige rechtswidrige Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen (Art . 1 Abs . 1 VO 1073/1999) . Das Amt verfügt über eigene Ermittlungsbefugnisse, kann jedoch selbst kein Strafverfahren einleiten oder Sanktionen verhängen (Art . 2 S . 2 VO 1073/1999) . Seine Untersuchungsergebnisse und -berichte sind aber für die Verwaltungs- oder (strafrechtlichen) Gerichtsverfahren in den Mitgliedstaaten von besonderer Bedeutung, da sie hier als zulässiges Beweismittel verwendet werden können . Von daher kann das Untersuchungsverfahren von OLAF-Bediensteten als ein (strafrechtliches) „Ermittlungsverfahren durch supranationale Hilfsbeamte“ angesehen werden (so Ursula Nelles / Christina Tinkl / Kathrin Lauchstädt, Strafrecht, in: Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, hg . von Reiner Schulze / Manfred Zuleeg / Stefan Kadelbach, 2 . Aufl ., 2011, § 42 Rn . 139); ebenso Stefan Braum, Die Informalität europäischer Betrugsermittlung, wistra 2005, 401, 403 . Ingolf Pernice, Verfassungsverbund, in: WHI – Paper 4/2010, S . 101, 107 . Vgl . auch BVerfGE 123, 267, 404 ff .
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eigentlichen Sinne, also Vertretungsorgan eines Europäischen Volkes .35 Es kann somit auch nicht Träger des Allgemeinwillens sein . Art . 14 Abs . 3 EUV verzichtet daher bei den europäischen Parlamentswahlen auch auf die Gleichheit der Wahl . Die Sitzverteilung im Parlament richtet sich nicht nach der Zahl der wahlberechtigten Unionsbürger, sondern gibt den einzelnen Bürgern der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“ ein unterschiedliches Gewicht (Art . 14 Abs . 2 EUV) .36 Ebenso wenig kann die Mitwirkung des Rates an der Gesetzgebung das Fehlen eines „Europäischen Volkes“ und damit eines Souveräns ausgleichen . Auch wenn ihre Mitglieder ihrerseits in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat demokratisch legitimiert wurden, sichert dies zwar „jedem Mitgliedstaat ein Mitwirkungsrecht an der Rechtssetzung der Gemeinschaft, aber keine Rückbindung an das Volk“ .37 3 . Der dargelegte demokratische Mangel führt dazu, dass auch das als notwendig für die Rechtsausübung vorgestellte Gewaltenteilungsprinzip aufgehoben wird . Die Gefahr, die im Rahmen des Völkerrechts beschrieben wurde, nämlich das Zusammenfallen von Gesetzgebung und Exekutivgewalt bei Errichtung einer den Staaten übergeordneten Instanz lässt sich anhand der Europäischen Union, insbesondere anhand der herausgehobenen Stellung der Kommission im europäischen Institutionsgefüge, verdeutlichen . So wird die Europäische Kommission auch als „Motor des Integrationsprozesses“ bezeichnet . Die Kommission ist eigentlich Exekutivorgan . Zugleich kommt ihr aber eine bedeutende Aufgabe im Rahmen der Gesetzgebung zu . So darf ein Gesetzgebungsakt in der Regel nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden (Art . 17 Abs . 2 S . 1 EUV) . Die Kommission bestimmt den Zeitpunkt, den Inhalt und die Form des Gesetzgebungsvorhabens .38 Dabei kann sie schon vor dem Gesetzgebungsprozess Themen aufwerfen und Diskussionen vorgeben, wie sich aktuell bei der Erarbeitung eines Verordnungsvorschlags zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gezeigt hat . Trotz ihrer besonderen Stellung im Rechtssetzungssystem ist die Kommission jedoch weder parlamentarisch legitimiert noch organisiert: Die Regierungen der Mitgliedstaaten stellen jeweils ein Kommissionsmitglied . Die Kommissare üben dabei ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus (Art . 17 Abs . 3 UAbs . 1 EUV) . Die Kommission arbeitet damit letzt35
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Hierzu bedürfte es auch einer europäischen Öffentlichkeit, „die alle gesellschaftlichen Gruppen, Medien und Bürger einschließt und die Meinungsbildung des Parlaments durch politische Parteien vorbereitet“, Ulrich Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: Europäisches Verfassungsrecht, hg . von Armin von Bogdandy / Jürgen Bast, 2 . Aufl ., 2009, 985 m . w . N .; vgl . auch Jörn Sack, Die EU als Demokratie – Plädoyer für eine europäische Streitkultur, ZEuS 2007, 457, 483 ff . Dass eine solche Öffentlichkeit fehlt, zeigt sich auch in der geringen Wahlbeteiligung der „Bürgerinnen und Bürger der Union“ bei den Europawahlen . Die demokratietheoretischen Zweifel aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit sind damit nicht bloß ideologisch bedingt . So aber z . B . Joachim Vogel, Gegenseitige Anerkennung, Angleichung, in: Das Recht der Europäischen Union, hg . von Eberhard Grabitz / Meinhard Hilf / Martin Nettesheim, 2011, Art . 82 AEUV Rn . 53 . Siehe näher zum Grundsatz der degressiven Proportionalität BVerfGE 123, 267, 373 ff . Dieter Grimm, Zur Bedeutung nationaler Verfassungen in einem vereinten Europa, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg . von Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier, 2009, Band VI/2, Rn . 63 . Vgl . hierzu auch Roland Bieber / Astrid Epiney / Marcel Haag, Die Europäische Union, 10 . Aufl ., 2013, § 4 Rn . 65 .
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lich die Gesetze aus, nach denen sie als Exekutivorgan handelt, auch beschönigend „gubernative“ Rechtssetzung39 genannt . Der Demokratiemangel und die daraus resultierende Folge des Bruchs der Gewaltenteilung führt zu einem Bruch mit der ursprünglich zum Ausgang des Rechts dargelegten notwendigen Prämisse der Freiheit des Einzelnen . Mit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft würden diese Brüche insofern noch größer, als die Europäische Staatsanwaltschaft – anders als bisher OLAF – Zwangsmaßnahmen gegenüber dem Einzelnen durchführen und selbst Anklage vor einem mitgliedstaatlichen Gericht erheben könnte . Die Europäische Staatsanwaltschaft basiert wiederum auf einer EU-Verordnung . Dass die Rechtssetzung der Europäischen Union jedoch letztlich auf exekutiver Ebene erfolgt, wurde bereits deutlich gemacht . V. schluss Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Etablierung eines Europäischen Strafrechts einen fundamentalen Legitimationsbruch darstellt . Der dem vorliegenden Ergebnis wiederholt entgegengehaltene Vorwurf, es verharre in einem veralteten, unzeitgemäßen nationalstaatlichen Denken,40 verkennt, dass es allein um das Pochen auf die Notwendigkeit geht, den freien Einzelnen als Ausgangs- und Zielpunkt von Recht zu nehmen . Aus ihm ergeben sich Strukturnotwendigkeiten von Herrschaftsverhältnissen, die bei der Legitimation von supranationalem Recht zu beachten sind, wenn es den Begriff des Rechts ernst nimmt . Auch wenn es politisch alternativlos erscheint, ist die Abgabe von genuinen Herrschaftsbefugnissen seitens der Mitgliedstaaten auf die Europäische Union im Rahmen des freiheitsbedeutsamen Bereichs des Strafrechts nicht legitim . Vor diesem Hintergrund ist daher insbesondere die aus politischen Zweckerwägungen geforderte Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zu kritisieren . Demgegenüber schließt es der vorgestellte Begründungszusammenhang nicht aus, dass eine Zusammenarbeit auf intergouvernementaler Ebene zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts erfolgen kann, wie z . B . die Festlegung, dass bedeutende europäische Rechtsgüter zu schützen sind, oder Formen der Rechtshilfe im Strafverfahren . Denn dann bleibt die Strafrechtssetzung und Strafrechtsausübung bei den Einzelstaaten, die weder zu einer Zusammenarbeit noch zu einer bestimmten Rechtssetzung seitens einer ihnen übergeordneten Instanz gezwungen werden können .
39 40
Vgl . näher zu dem Begriff Armin von Bogdandy, Gubernative Rechtssetzung, 2000 . Vgl . z . B . Erhard Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, JZ 2000, 1121, 1126 .
Johanna Stark, München FoRm FolloWs FunctIon dIe FunktIonen
des
Rechts
unteR dem
eInFluss
des
RechtsWettBeWeRBs
I. eInleItung Die Form folgt der Funktion – obwohl im Indikativ formuliert, hat der Satz auch einen normativen Beiklang: Die Form eines Gegenstands, ursprünglich in Bezug auf sein Design, seine Konstruktion und Handhabbarkeit, sollte so beschaffen sein, dass er seine Funktion möglichst gut erfüllen kann .1 In vielen Bereichen hat aber auch die indikative Aussage ihre Berechtigung: Weil wir das Leitbild der Funktionalität akzeptieren, richten wir uns danach, wenn wir etwas entwerfen oder gestalten . Das trifft nicht nur auf körperliche Gegenstände zu, sondern etwa auch auf betriebliche Prozesse oder soziale Institutionen – unsere Erwartungen an ihre Gestaltung richten sich stark danach, welche Funktion sie erfüllen, welchem Zweck sie dienen sollen . Gegenstand dieses Beitrags sind die verschiedenen Funktionen des Rechts sowie die inhaltlichen Formen, die das Recht vor dem Hintergrund dieser Funktionen annimmt . Ausgangspunkt ist in Abschnitt I . eine Beobachtung, die nicht nur ein bestimmtes Rechtsgebiet oder eine bestimmte Funktion betrifft: In vielen Bereichen hat sich inzwischen ein Phänomen etabliert, das mit dem Schlagwort „Rechtswettbewerb“2 umschrieben wird . Anbieter von Recht konkurrieren miteinander um die Gunst mobiler Nachfrager,3 sie sehen sich einem Wettbewerb untereinander ausgesetzt . Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf das Funktionsgefüge des Rechts, um das es in Abschnitt II . geht . Rechtswettbewerb führt hier zu Verschiebungen, deren wir uns bewusst sein müssen, da auch Form und Inhalt rechtlicher Regeln sich daran orientieren (Abschnitt III .) .
1
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Der Begriff der Funktion wird hier gebraucht im Sinne von „Aufgabe“: Die Funktion eines Gegenstands, einer sozialen Praxis oder Institution ist es, bestimmte Ziele zu erreichen . Die Funktion eines Tisches ist es etwa, als erhöhte Ablagefläche zu dienen, um daran arbeiten oder essen zu können . Wir sprechen von einem guten Tisch, wenn er so beschaffen ist, dass er diese Funktion möglichst weitgehend erfüllen kann, wenn er stabil steht, eine ebene Oberfläche hat usw . Vgl . statt vieler Horst Eidenmüller, Recht als Produkt, JZ 2009, 641; Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002; Lars Klöhn, Supranationale Rechtsformen und vertikaler Wettbewerb der Gesetzgeber im europäischen Gesellschaftsrecht, RabelsZ 76 (2012), 276 mit einer umfangreichen Literaturübersicht . Im Fokus der folgenden Überlegungen steht staatliches Recht – damit sind die Rechtserzeugnisse aller politischen Einheiten auch in föderalen Systemen gemeint . Nicht gesondert analysiert werden supranationales Recht sowie nicht-staatliche Regelwerke; zu diesen Dimensionen des Rechtswettbewerbs vgl . die Beiträge in Horst Eidenmüller (Hrsg .), Regulatory Competition in Contract Law and Dispute Resolution, 2013 .
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II. RechtsWettBeWeRB Adressat einer Rechtsnorm zu sein, erscheint prima facie als grundsätzlich unausweichliches Schicksal . Abhilfe durch eine Veränderung des Rechts selbst auf dem Weg demokratischer Teilhabe ist mühsam und unsicher . Physische Standort- bzw . Jurisdiktionenwechsel sind in der Regel nur um den Preis hoher Mobilitätskosten zu haben . Dies jedenfalls ist die traditionelle Vorstellung . In vielen Bereichen entspricht diese Vorstellung von einer territorialen Gebundenheit rechtlicher Normen jedoch nicht mehr der Realität . 1. entterritorialiSierung und legale MoBilität Die individuellen Gestaltungsperspektiven haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch entscheidend verändert . Die Mobilitätskosten für natürliche und juristische Personen wie auch für Kapital sind im Zuge der Globalisierung deutlich gesunken, etwa wegen besserer Fernkommunikationsmöglichkeiten und günstigeren Flugverkehrs . In der Europäischen Union ist die Mobilität von Personen und Kapital in den vergangenen Jahrzehnten sogar ein ausdrücklich erklärtes und verfolgtes politisches Ziel gewesen, wie die europäischen Grundfreiheiten zeigen . Parallel dazu hat es eine weitere Entwicklung gegeben, die sich als „Entterritorialisierung“ des Rechts beschreiben lässt: Erweiterte Wahlmöglichkeiten in den internationalen Privatrechten vieler Staaten haben in einigen Bereichen dazu geführt, dass das anwendbare Recht weitgehend von territorialen Bezügen eines Sachverhalts abgekoppelt werden kann .4 Deutlich wird dies etwa im Vertragsrecht: Wer, an seinem Berliner Schreibtisch sitzend, über die Webseite von Amazon .de ein Buch bestellt, tut dies gemäß Art . 10 der Amazon-Geschäftsbedingungen nach dem Recht des Staates Luxemburg .5 Auch im europäischen Gesellschaftsrecht sehen wir, dass zunehmend legale Mobilität ausgeübt wird, ohne dass natürliche Personen physisch überhaupt betroffen sein müssen: In der Folge der Centros-Rechtsprechung6 des EuGH stieg die Zahl derer, die sich in Deutschland einer ausländischen Gesellschaftsform bedienten, rasant an .7 Das Aufkommen britischer Limiteds in Deutschland (als Alternative zur GmbH mit ihren vergleichsweise hohen Mindestkapitalanforderungen) gab vielen Anlass zur Sorge, hier würden Schutzbemühungen des deutschen Rechts unterlaufen . Der deutsche Gesetzgeber reagierte, wie es Wettbewerber in einem umkämpften Markt zu tun pflegen: Er verbesserte sein Produkt . Im Zuge einer Reform des 4 5
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Vgl . ausf . Eidenmüller (Fn . 2), 642 f ., 647 . Art . 10 der Verkaufsbedingungen des Online-Shops Amazon .de lautet: „Es gilt luxemburgisches Recht unter Ausschluss des UN-Kaufrechts (CISG) . Es wird die nicht-ausschließliche Gerichtsbarkeit der Gerichte des Bezirks Luxemburg Stadt vereinbart .“ Für Verbrauchsgüterkäufe in der EU ist jedoch Art . 6 der Rom-I-Verordnung zu beachten, der Verbrauchern im Ergebnis den Mindestschutz ihrer Heimatrechtsordnung gewährt . EuGH Rs . C-212/97, Slg . 1999, I-1459 (Centros) . Vgl . dazu die viel beachtete Studie von Marco Becht / Colin Mayer / Hannes Wagner, Where do firms incorporate? Deregulation and the cost of entry, Journal of Corporate Finance 14 (2008), 241 .
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GmbH-Gesetzes im Jahr 2008 wurde mit der Unternehmergesellschaft eine neue Unterform der GmbH eingeführt, die sich hinsichtlich der Mindestkapitalanforderungen von der Limited kaum unterscheidet .8 Der gewünschte Effekt blieb nicht aus, wie erhofft gewann das deutsche Gesellschaftsrecht Marktanteile zurück .9 Der Preis dafür war freilich die viel und kritisch diskutierte Aufgabe der Mindestkapitalanforderungen als „Seriositätsschwelle“10 für eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung . Ohne den Wettbewerbsdruck, den die Mobilität der Gründer und die Verfügbarkeit attraktiver ausländischer Gesellschaftsformen erzeugt hatten, wäre mit diesem Schritt nicht zu rechnen gewesen . 2. WettBeWerBSanreiZe für den geSetZgeBer Es drängt sich die Frage auf: Warum nehmen staatliche Gesetzgeber an dieser Art von Wettbewerb überhaupt teil? Außer Frage steht, dass sich Staaten in manchen Bereichen tatsächlich einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sehen und ihre Rolle zunehmend als die eines kompetitiven Vermarkters ihres nationalen Rechts- und Justizsystems verstehen . Broschüren mit den Titeln „England and Wales: The Jurisdiction of Choice“ beziehungsweise „Law Made in Germany“ geben davon beredtes Zeugnis .11 In blumig werbenden Worten werden hier die Vorzüge des einen wie des anderen Systems beschrieben . Es bleibt die Frage: Welche Gründe gibt es, das eigene Recht aktiv nach außen zu vermarkten oder zumindest defensiv gegen die Wahl eines ausländischen Rechts in Bezug auf inländische Sachverhalte zu verteidigen?12 Zum Einen können politische Interessen dazu führen, dass Staaten sich um Erfolge im Rechtswettbewerb bemühen . Es mag ihnen, ganz allgemein, darum gehen, auf internationaler Ebene das „Gesicht zu wahren“, durch Anbieten eines nachweislich erfolgreichen Produkts eigene Stärke zu demonstrieren . Auch die positive innenpolitische Signalwirkung dürfte eine Rolle spielen . Mit dem Exporterfolg des eigenen Rechts lässt sich auch bei den großen Teilen der Bevölkerung punkten, die gar keine genaue Vorstellung davon haben, wie Rechtswahl und legale Mobilität funktionieren . Umgekehrt sendet die Abwahl inländischen Rechts ein negatives Signal . Insgesamt lassen sich diese Anreize und Zusammenhänge jedoch schwer isolieren und überprüfen . Zu viele Akteure und Einzelinteressen spielen eine Rolle, zu heterogen sind deren Einfluss und Relevanz in verschiedenen Staaten .13 Auch wenn diese Aspekte also eine gewisse Bedeutung haben mögen – sie sind schwer greifbar .
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§ 5a GmbHG . Vgl . Wilhelm Niemeier, „Triumph“ und Nachhaltigkeit deutscher Ein-Euro-Gründungen – Rechtstatsachen zur Limited und ein Zwischenbericht zur Untenehmergesellschaft, in: Holger Altmeppen u . a . (Hrsg .), Festschrift für Günther H. Roth zum 70. Geburtstag, 2011, 533, 544 ff . Karsten Schmidt, Die Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in Kapitalgesellschaften, in: Uwe Blaurock (Hrsg .), Recht der Unternehmen in Europa, 1993, 103, 127 . Abrufbar unter http://www .eversheds .com/documents/LawSocietyEnglandAndWalesJuris- dictionOfChoice .pdf bzw . unter www .lawmadeingermany .de (abgerufen am 14 .5 .2014) . Zur Unterscheidung zwischen Offensiv- und Defensivwettbewerb vgl . Douglas J . Cumming/ Jeffrey G . Macintosh, The role of interjurisdictional competition in shaping Canadian corporate law, Int. Rev. L. Econ . 20 (2000), 141, 144 ff . sowie Klöhn (Fn . 2), 293 ff . Vgl . Klöhn (Fn . 2), 292–293 .
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Die wichtigste Motivation für eine Wettbewerbsbeteiligung dürften indes ökonomische beziehungsweise fiskalische Interessen der Staaten sein . In manchen Staaten und Bereichen werden direkt Steuern auf die Anwendung des eigenen Rechts erhoben, so etwa im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht: Der „Marktführer“ Delaware bestreitet knapp ein Viertel (!) seiner jährlichen Haushaltseinnahmen aus sogenannten „incorporation taxes“ von Unternehmen .14 Einnahmen in dieser Größenordnung liefern sehr greifbare Anreize für einen Staat, die Nachfrage nach seinem Rechtsprodukt aufrecht zu erhalten und möglichst gut zu befriedigen . Nicht überall sind diese Anreize so offensichtlich . In der EU etwa sind „franchise fees“ nach amerikanischem Zuschnitt nicht zugelassen . Auch indirekt haben Staaten allerdings ein ökonomisches Interesse an der „Anwahl“ ihres Rechts: Je größer sein Anwendungsbereich, desto mehr gibt es zu tun für die – Steuern zahlende – Rechtsindustrie .15 Am Finanzplatz London profitiert zweifelsohne auch der Staat in beträchtlichem Maße von den hohen Summen, die an Kosten für Rechtsberatung, Notare, Verhandlungen, Aufenthalt und Bewirtung umgesetzt werden . All diese Posten fallen in der Regel in der Jurisdiktion an, nach deren Recht ein Sachverhalt zu beurteilen ist . Ein Indiz für diesen Zusammenhang liefern die oben bereits erwähnten Marketing-Broschüren: Sie enthalten zwar prominent aufbereitete Grußworte der jeweiligen (damaligen) Justizminister; herausgegeben werden sie indes durch die Berufsvereinigungen der Anwälte und Notare16 – diejenigen also, die von der Anwendung ihres Heimatrechts auf großvolumige Sachverhalte unmittelbar profitieren . 3. rechtSWettBeWerB alS StandortWettBeWerB Vor diesem Hintergrund erscheint es als naheliegend, Rechtswettbewerb als eine Erscheinungsform von Standortwettbewerb zu betrachten . Dieser findet zwischen verschiedenen politischen Einheiten17 statt, die untereinander um Produktionsfaktoren wie etwa Direktinvestitionen oder hochqualifizierte Arbeitskräfte konkurrieren . Die Rechtsordnung kann – neben anderen Faktoren wie etwa einer guten Verkehrs-Infrastruktur – ein gewichtiger Standortfaktor sein; im Bereich des Steuerrechts ist dieser Gedanke bei weitem nicht neu .18 Die Parallele zum klassischen Standortwettbewerb trägt zwar nur unter einer Einschränkung: Bei diesem geht es um die physische Attraktion und tatsächliche Ansied-
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Vgl . Financial Summary: Governor’s Recommended Budget, Fiscal Year 2013: 23,8 % prognostiziert für das Jahr 2013 . Abrufbar unter: http://budget .delaware .gov/fy2013/operating/ vol1/13_opfinsumcharts_rev .pdf (abgerufen am 14 .5 .2014) . So auch Stefan Vogenauer, Regulatory Competition Through Choice of Contract Law and Choice of Forum in Europe: Theory and Evidence, in: Eidenmüller (Fn . 3), 227, 241 ff . m . w . N . Vgl . das Impressum der beiden Broschüren (Fn . 11) . Im Folgenden vereinfachend: Staaten . Das Steuerrecht ist insofern ein Sonderfall, als die Wettbewerbsdynamik hier zugleich eine physische Mobilitätskomponente beinhaltet . Wer nach dem Recht einer Jurisdiktion besteuert werden will, muss in der Regel nach wie vor seinen (Wohn-)Sitz dorthin verlegen . Vgl . dazu Wolfgang Schön, Playing Different Games? Regulatory Competition in Tax and Company Law Compared, CMLR 42 (2005), 331, 334 ff .
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lung von Produktionsfaktoren .19 Die oben skizzierte Entterritorialisierung von Recht führt aber ja gerade dazu, dass sich Rechtswahl- und Standortentscheidung weitgehend entkoppeln lassen .20 Ansonsten ist die Anreizstruktur der Anbieter indes einem klassischen Standortwettbewerb weitgehend vergleichbar . Letztlich geht es für die Staaten primär darum, ein Umfeld zu schaffen, das sich fiskalisch vorteilhaft auswirkt . Das Kalkül scheint zu sein: Wenn Kapital auf irgendeine Weise mit dem eigenen Recht verbunden wird, werden sich daraus mittelfristig Vorteile ergeben . Das Recht erscheint also als einer von mehreren Standortfaktoren, die für potentielle Adressaten mehr oder weniger attraktiv sein kann . Gesellschaftsformen, die den Interessen von Gründern besonders entgegenkommen (etwa ein geringes Mindestkapital bei gleichzeitiger Haftungsbeschränkung gegenüber Gläubigern), sind strukturell ähnlich attraktiv wie ein gut ausgebautes Straßennetz samt Autobahnanbindung für ein Transportunternehmen . Beide erleichtern die Geschäftstätigkeit, vor allem indem sie Kosten senken . Wenn wir über rechtliche Regeln und ihren Beitrag zum Funktionieren eines politischen und sozialen Systems nachdenken, ist die Rolle eines Standortfaktors freilich nicht unbedingt die erste Aufgabe des Rechts, die uns in den Sinn kommt . Warum wir uns aber über die Funktionen des Rechts Gedanken machen sollten, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts . III. FunktIonen
des
Rechts
Warum sind die Funktionen des Rechts wichtig? Welche Erkenntnisse können wir aus der funktionalen Perspektive darüber gewinnen, wie das Recht beschaffen sein sollte? Um zum Anfang zurückzukommen: Die Form folgt der Funktion . Sie folgt ihr nicht nur tatsächlich, sondern wir gehen davon aus, dass dies auch so sein sollte, damit die Zwecke und Ziele, auf deren Erfüllung eine Funktion gerichtet ist, erreicht werden können . Warum lohnt es sich aber dann, über die Funktionen des Rechts zu sprechen und nicht nur über Ziele? Die Ziele, die mit Hilfe des Rechts erreicht werden sollen, sind an sich nichts Juristisches . Sie sind Ergebnisse politischer Entscheidungen, wie staatliches, soziales, kulturelles und wirtschaftliches Leben gestaltet werden soll . Wir können also zwar von Zielen des Rechts sprechen und darüber trefflich streiten; damit aber befinden wir uns im Kerngeschäft der Rechtspolitik . Mit dem Begriff der Funktion ist hier das instrumentelle Korrelat zum Ziel gemeint . Je mehr wir uns im Klaren sind über die Ziele, die mit Hilfe von Rechtsnormen verfolgt werden (sollten), desto eindeutigere Aussagen können wir auch über die Funktionen des Rechts selbst treffen – darüber, welchen Beitrag gerade das Recht leisten kann, damit diese Ziele erreicht werden und wie es dazu ausgestaltet sein sollte . Zwei solche Funktionen werden hier herausgegriffen: Die Herstellung von Erwartungssicherung sowie die Realisierung von Werten, Prinzipien und politischen Idealen . 19 20
Mit einer Betonung dieses Unterschieds Gregor Bachmann, Vertikaler Regulierungswettbewerb im Europäischen Gesellschaftsrecht, in: Bernd Erle u . a . (Hrsg .), Festschrift für Peter Hommelhoff zum 70. Geburtstag, 2012, 21 . Zum Bündelproblem Kieninger (Fn . 2), 60 ff ., 84 ff .
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1. recht alS ordnungSinStruMent Die Kategorie der Funktion ist insofern hilfreich, als sich allgemeine Aussagen über das Recht treffen lassen, deren Überzeugungskraft nicht davon abhängt, dass bestimmte rechtspolitische Ziele anerkannt werden . Um größtmögliche Abstraktion und Verallgemeinerung bemüht kann die „Grundfunktion“ des Rechts als die eines (staatlichen) Ordnungsinstruments beschrieben werden . Das Recht dient dazu, Ordnung herzustellen, widerstreitende Interessen auszugleichen und durch Verhaltenssteuerung Erwartungen zu sichern . Die Regeln der Straßenverkehrsordnung veranschaulichen diesen Mechanismus . Sie schaffen Vorhersehbarkeit: Wichtiger als die Entscheidung zwischen Rechts- oder Linksverkehr ist die Tatsache, dass alle Verkehrsteilnehmer vorhersehbar auf einer Straßenseite in dieselbe Richtung fahren . Ähnlich ist es beim Unterhaltsrecht: Es schafft Erwartungssicherheit darüber, welche Rechte und Verpflichtungen sich in jedem Fall an die Zeugung eines Kindes knüpfen . Allgemein gesprochen ermöglicht das Recht als soziale Praxis eine stabile und friedliche Organisation größerer Gesellschaften .21 Sinnvolles und komplexes soziales Handeln bedarf eines Abstimmungsmechanismus, den das Recht in Form generalisierter und sanktionierter Verhaltensnormen bereitstellt .22 2. realiSierung Von Werten und prinZipien Das Verhältnis von Recht und Moral ist komplex und an unzähligen Stellen debattiert worden .23 Ohne sich auf die vielen Verzweigungen und Untiefen dieser breiten Diskussion einzulassen, reicht die Feststellung: Recht und Moral stehen als Systeme mit normativem Gehalt nicht völlig isoliert nebeneinander . Deutlich wird dies etwa an den Rechtsnormen, die ganz explizit zum Ausdruck bringen, dass in ihrem Regelungsbereich bestimmte (moralische) Werte oder zumindest bestimmte kollektive Wertvorstellungen zur Entfaltung gebracht werden sollen . Als anschauliche Beispiele bieten sich aus deutscher Perspektive diverse Verfassungsnormen an, etwa Art . 1 Abs . 2 GG mit dem Bekenntnis zu „Gerechtigkeit in der Welt“, der Gleichheitsgrundsatz in Art . 3 GG oder Art . 2, 4–5, 8–9, 12 GG mit dem Verweis auf verschiedene zu schützende Aspekte persönlicher Freiheit . Auch wertgebundene Strukturprinzipien und politische Ideale sind in Rechtsnormen teilweise ausdrücklich verankert, wie in Art . 20 Abs . 1 GG das Demokratie- und das Sozialstaatsprinzip . Welche Werte in welcher Gewichtung in den Regeln eines demokratisch verfassten Sozialsystems zum Ausdruck kommen sollen, wird nach den Verfahrensnormen dieses Systems bestimmt . Der politische Meinungsbildungsprozess führt im Idealfall zu eindeutigen Ergebnissen, was die Realisierung von Werten und die damit verbundene Verteilung von Ressourcen zu bestimmten Zwecken angeht . Die spezifische Funktion des Rechts ist es hier, diese Entscheidungen zu kommunizieren und in Verhaltensvorgaben zu übersetzen . 21 22 23
Vgl . Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6 . Aufl . 2013, 187–190 . Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 7 . Aufl . 2009, Rn . 96 . Raiser (Fn . 21), 188, 162 ff . Einen Überblick bietet z . B . Günter Ellscheid, Recht und Moral, in: Arthur Kaufmann u . a . (Hrsg .), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8 . Aufl . 2011, § 4 .
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Form Follows Function
3. politiSche Zielkonflikte und funktionale konkordanZ Die politische Realität muss anders als der Idealfall jedoch mit Zielkonflikten umgehen . Dies ist freilich kein genuin juristisches Problem . Logische Unvereinbarkeit und begrenzte Ressourcen führen dazu, dass nicht alle politischen Ziele unabhängig voneinander in gleichem Maße verfolgt werden können . Die Herstellung einer verlässlichen Ordnung liegt mit der Gewährung individueller Freiheit grundsätzlich über Kreuz . Gleiches gilt für die Umsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich mit großzügigen Freiheitsräumen der einzelnen Bürger oft nicht vertragen . Begrenzte Haushaltseinnahmen gestatten es zudem nicht, unbegrenzt Mittel zur Finanzierung freiheitsfördernder Infrastruktur, wie etwa neuer Straßen, und gleichheitsfördernder Maßnahmen, wie etwa Bildungsprogrammen für sozial benachteiligte Kinder, einzusetzen . Aus dem Verfassungsrecht kennen wir die Idee der praktischen Konkordanz – der Auslegung widerstreitender Grundrechte derart, dass der Gehalt aller „Kontrahenten“ möglichst weitgehend zum Tragen kommt . Ähnlich könnte man für die verschiedenen Aufgaben und Funktionen des Rechts das Ideal einer „funktionalen Konkordanz“ formulieren: Die Erwartungen an das Recht als Instrument zur Erreichung (politischer) Ziele sollten so beschaffen sein, dass alle einzelnen Aufgaben, die wir ihm zuschreiben, möglichst weitgehend erfüllt werden können . Ob dies der Fall ist, müssen wir insbesondere dann überprüfen, wenn sich das Funktionsgefüge aufgrund neuer Entwicklungen verändert . IV. FunktIonsVeRschIeBungen
duRch
RechtsWettBeWeRB
Im Zuge des Rechtswettbewerbs ist zu erwarten, dass sich die Gewichtung und politische Berücksichtigung dieser Aufgaben verschiebt, zulasten der Gewährleistung von Erwartungssicherheit, zugunsten eines Verständnisses von Recht als Standortfaktor . 1. legale MoBilität VS. erWartungSSicherheit Legale Mobilität weicht das Territorialitätsprinzip auf (siehe oben) . Der Verlierer in diesem Szenario ist das Recht als staatliches Ordnungsinstrument . Es ist angewiesen auf den Mechanismus der Erwartungssicherung . Die Vorteile verbindlicher Verhaltensvorgaben ergeben sich maßgeblich aus ihrem universellen Geltungsanspruch: Nur wenn Verhaltensnormen allgemein bekannt sind und in der Regel befolgt werden, sind die Menschen bereit, sich ebenfalls an diese Vorgaben zu halten . Sie können ihr Verhalten aufeinander abstimmen, sich zur Erreichung gemeinsamer Ziele zusammentun und bei komplexen Vorhaben kooperieren .24 Die Gesetzgeber, die sich von der Etablierung eines Wettbewerbs Vorteile versprechen, werden bereit sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen . Mit immer weitreichenderen Wahlmöglichkeiten bekommt die durch das Recht vermittelte Vor24
Zu dieser Funktion speziell des Privatrechts vgl . Gregor Bachmann, Private Ordnung, 2006, 74 .
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hersehbarkeit und Erwartungssicherheit in Bezug auf das Verhalten anderer indes allmählich Risse . Zwar möchten wir davon ausgehen, dass die von einer Rechtswahl Betroffenen wissen, worauf sie sich eingelassen haben . Erstens können aber auch Dritte indirekt am Rechte- und Pflichtengerüst eines Vertrages interessiert sein, etwa wenn sie ihrerseits in vertragliche Beziehungen zu einer der Parteien treten wollen . Zweitens sind wir möglicherweise zu optimistisch, wenn wir uns darauf verlassen, dass Rechtswahl immer eine wohlüberlegte und -informierte Entscheidung sei . Dass der Kauf eines Buches bei Amazon nach luxemburgischem Recht erfolgt, wissen wohl nur die wenigsten . Ähnlich dürfte es sich bei allen anderen Rechtswahlklauseln verhalten, die Verbraucher als Teil von AGB – insbesondere bei Fernabsatzverträgen – akzeptieren . Sie treffen damit eine Rechtswahl, sind sich dessen aber nicht bewusst und haben erst Recht keine Ahnung vom Inhalt des (fremden) Rechts, auf dessen Vorgaben sie sich einlassen .25 Juristische Laien haben schon von den Regeln ihres Heimatrechts oft wenig Ahnung . Dieses Problem potenziert sich freilich, wenn sogar mehrere Rechtsordnungen im Spiel sind . Für den typischen Amazon-Buchkäufer lohnt es sich bereits nicht, die Verkaufsbedingungen aufmerksam zu lesen . Noch weniger wird er seine Zeit dafür verwenden, sich mit den Spezifika des luxemburgischen Rechts auseinanderzusetzen . Überspitzt gesprochen: Selbst als direkt Betroffener weiß er also im Grunde nicht, was er von seinem Vertragspartner rechtlich genau erwarten kann . Die aus der internationalprivatrechtlichen Diskussion über den angemessenen Zuschnitt individueller Wahlmöglichkeiten26 bereits bekannten Probleme sollten auch hier berücksichtig werden . Je mehr wir den Geltungsanspruch von Rechtsnormen abhängig machen von einer vorherigen „Einwahl“ der Adressaten, ihn abkoppeln von territorialen Anknüpfungskriterien, desto weniger können wir die Gewährleistung vorhersehbarer Ordnung von diesen Normen erwarten . 2. StandortattraktiVität VS. WertgeBundene VerhaltenSSteuerung Wenn sich das Phänomen Rechtswettbewerb ausbreitet und an Bedeutung gewinnt, wird auch die Rolle des Rechts als Standortfaktor (siehe oben) wichtiger . Hinter dieser Verschiebung verbirgt sich ein Zielkonflikt: Als Standortfaktor soll das Recht dazu beitragen, mittelbar finanzielle Vorteile zu erzielen und so die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern . Dem gegenüber steht die Realisierung von Werten, Strukturprinzipien und politischen Idealen, zu deren Erreichung das Recht ebenfalls dienen soll . Die Implikationen für die Ausgestaltung des Rechts passen hier oft nicht zusammen . Denn um als Standortfaktor positiv zu wirken, müssen Rechtsnormen in erster Linie attraktiv sein für diejenigen, die (mit ihrem Kapital) ausreichend mobil sind und für die es sich lohnt, in internationale Rechtskenntnis zu investieren – seien es diejenigen, die ansonsten „legal abwandern“ durch Wahl eines anderen Rechts, oder diejenigen, die von außen „angelockt“ werden sollen . Normen, die in dieses Muster nicht passen – beispielsweise die dem deut25 26
Auch hier ist indes auf Art . 6 der Rom-I-Verordnung hinzuweisen (vgl . Fn . 5) . Vgl . Jan Kropholler, Internationales Privatrecht, 6 . Aufl . 2006, § 40 III, IV .
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schen Vertragsrecht eigene robuste Fairnesskontrolle einseitig vorformulierter Vertragsbedingungen – könnten so unter Reformdruck geraten, weil sie das deutsche Recht etwa gegenüber dem englischen Vertragsrecht für „Großkunden“ unattraktiv machen . Negativ betroffen wären in diesem Fall die Gerechtigkeitserwägungen, die eine AGB-Fairnesskontrolle sinnvoll und notwendig erscheinen lassen . V. FazIt Bei allen Vorzügen, die einem Wettbewerb der Gesetzgeber zugeschrieben werden, sind seine Folgen im Blick zu behalten . Denn diese Auswirkungen betreffen nicht nur die jeweiligen Rechtsgebiete, in denen wir wettbewerbliche Dynamiken beobachten . Ist die Schwelle eines Nischenphänomens einmal überschritten, geht es um die Art und Weise, wie das Recht generell als Instrument staatlicher Verhaltenssteuerung zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt werden kann . Als Gegenstand marktähnlicher Prozesse wird sich das Recht anders entwickeln als etwa nach dem Ideal demokratischer Entscheidungsfindung oder der Vorgabe moralischer und politischer Werte . Sofern Friktionen auf der Ebene der mithilfe des Rechts zu verwirklichenden Ziele auftreten, sollten wir sie an dieser Stelle diskutieren und nicht „durch die Hintertür“, vermeintlich gezwungen, das Recht den Anforderungen eines Wettbewerbs anpassen, dessen Voraussetzungen die Gesetzgeber zuvor selbst erst geschaffen haben .
chriStopher Weigand / Maria WeiZSäcker, Berlin deR Rechtsstaat FoRtschRItt?
als
WundeRmIttel
FüR gesellschaFtlIchen
I. eInleItung „Without the rule of law, medicines do not reach health facilities due to corruption; women in rural areas remain unaware of their rights; people are killed in criminal violence; and firms’ costs increase because of expropriation risk . The rule of law is the key to improving public health, safeguarding participation, ensuring security, and fighting poverty .“1
Der Rechtsstaat ist eines der größten politischen Ideale unserer Zeit .2 Wie das Zitat zeigt, wird mit Rechtsstaatlichkeit politische und persönliche Freiheit, Gerechtigkeit, Gesundheit und wirtschaftliches Wachstum verbunden – kurz: der Rechtsstaat gilt als Wundermittel für jede Form gesellschaftlichen Fortschritts .3 Diese Verbindung von Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlicher Entwicklung scheint auch in der heutigen Entwicklungspolitik selbstverständlich und wird von einem breiten Konsens verschiedenster Akteure getragen . So unterhalten die Vereinten Nationen Rechtsstaatsprogramme in über 150 Mitgliedstaaten in jeder Weltregion .4 Die Weltbank hat bereits mehrere Milliarden Dollar in die Rechtsstaatsförderung investiert .5 Insgesamt befassen sich 1317 Organisationen mit der Förderung des Rechtsstaats .6 Im Gegensatz zu diesen immensen Anstrengungen stehen die konkreten Erfolge der Rechtsstaatsförderung . Sie werden selbst von den Akteuren bestenfalls als gemischt bezeichnet .7 An die Diskrepanz zwischen Investitionen und Erträgen schließen die beiden leitenden Fragen des vorliegenden Textes an: 1 . Warum hat der Rechtsstaatsbegriff in der Entwicklungszusammenarbeit eine derart hohe Popularität erreicht? Und 2 . Weshalb bereitet die Implementierung von Rechtsstaatlichkeit so große Schwierigkeiten? Die Antwort auf beide Fragen, so die These dieses Aufsatzes, liegt im Rechtsstaatsbegriff selbst begründet . Zunächst werden wir darstellen, wie sowohl die Weltbank als auch die Vereinten Nationen aus unterschiedlichen Richtungen und mit unterschiedlichen Zielsetzun1 2 3 4 5 6 7
World Justice Project, Rule of Law Index 2012–13, 1, abrufbar unter: http://worldjusticeproject . org/sites/default/files/WJP_Index_Report_2012 .pdf (besucht am 15 .6 .13) . Jeremy Waldron, The Concept and the Rule of Law, 2008, 1, abrufbar unter: http://ssrn .com/abstract=1273005 (besucht am 15 .06 .13) . Der Begriff „Rechtsstaat“ wird im Folgenden synonym mit dem englischen Begriff „rule of law“ verwendet . vgl . www .unrol .org (besucht am 15 .6 .13) . Gordon Barron, The World Bank & Rule of Law Reforms, 2005, 9 . vgl . www .roldirectory .com (besucht am 15 .6 .13) . Thomas Carothers, The Rule-of-Law Revival, in: Promoting the Rule of Law Abroad, 2006, 11; Brian Z . Tamanaha, The Primacy of Society and the Failures of Law and Development, Cornell International Law Journal, 2011, 218 .
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gen den Rechtsstaatsbegriff für sich „entdeckt“ haben (II .) . Anschließend zeigen wir auf, dass die Einigung der großen Institutionen und die damit einhergehende Popularität nur aufgrund der Unschärfe und Weite des Begriffs möglich war (III .) . Danach gehen wir darauf ein, dass diese begriffliche Weite auch Schwierigkeiten bei der Implementierung verursacht (IV .) Und schließlich argumentieren wir, dass die Rechtsstaatsförderung nicht auf einem theoretischen Fundament, sondern vielmehr auf Hoffnungen beruht (V .) . II. dIe „entdeckung“ des RechtsstaatsBegRIFFs dIe VeReInten natIonen
duRch dIe
WeltBank
und
1. die anfänge der entWicklungSpolitik In den Anfängen der Entwicklungspolitik war der Rechtsstaat nur eine entfernte Zielvorstellung . Für die tatsächlichen Programme hatte er keine Bedeutung, diese konzentrierten sich auf wirtschaftliches Wachstum .8 Entsprechend der herrschenden Modernisierungstheorie wurde angenommen, dass wirtschaftliches Wachstum den Aufbau stabiler, demokratischer Strukturen sowie eines sozialen Rechtsstaats nach sich ziehen würde .9 Daher wurden auch autoritäre Strukturen vorübergehend akzeptiert . Rechtliche Reformen und damit der aktive Versuch, einen Rechtsstaat aufzubauen, spielte für die Mehrzahl der entwicklungspolitischen Akteure der 1960er Jahre keine Rolle . So äußerte sich die Weltbank über den Stellenwert von Juristen in der Entwicklungszusammenarbeit folgendermaßen: „We have never had a lawyer included on a mission because of his legal knowledge … [T]he effort of a mission is generally directed towards broad economic planning and programming and… consequently its depth is extremely limited in the more specialized and highly technical areas such as the development of the legal system of the country or the legal problems incident to economic development .“10
Lediglich abseits der großen Entwicklungsinstitutionen versuchten einige Juristen die gesellschaftliche Entwicklung durch rechtliche Reformen zu fördern .11 Der Fokus der sogenannten Law & Development Bewegung lag auf der juristischen Ausbildung . Juristen sollten geschult werden, Recht als Instrument einzusetzen . Sie wurden als „soziale Ingenieure“ betrachtet, die eine neue „rechtliche Kultur“ schaffen sollten .12 Darüberhinaus konzentrierte man sich auf die Reform des Wirtschaftsrechts .13 Die Law & Development Bewegung erhoffte sich ähnlich wie die übrige 8 9 10 11 12 13
David M . Trubek, The „Rule of Law“ in Development Assistance: Past, Present and Future, abrufbar unter: http://www .law .wisc .edu/facstaff/trubek/RuleofLaw .pdf, 2003, 3 (besucht am 15 .6 .13) . Kevin E . Davis und Michael J . Trebilcock, The Relationship between Law and Development: Optimists Versus Skeptics, 2008, 9, abrufbar unter: http://papers .ssrn .com/sol3/papers .cfm?abstract_ id=1124045 (besucht am 15 .6 .13) . Brief von Doris R . Eliason an Alexander L . Weiner vom 15 . März 1962, zitiert nach: W . Paatii Ofosu-Amaah, Reforming Business-Related Law Reforms to Promote Private Sector Development, 2000, 20 . Kevin E . Davis und Michael J . Trebilcock (Fn . 9), 8 ff . ebd ., 10 . David M . Trubek (Fn . 8), 3 .
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damalige Entwicklungspolitik eine Art spillover, einen Übertragungseffekt, der in der weiteren Zukunft auch individuelle Rechte stärken und deren Durchsetzbarkeit ermöglichen würde .14 Diese Bemühungen wurden von Vertretern der Bewegung jedoch im Nachhinein als „ethnozentrisch und naiv“ bezeichnet .15 Auch die übrigen entwicklungspolitischen Akteure waren hinsichtlich der Möglichkeit der Förderung wirtschaftlichen Wachstums und politischer Modernisierung gegen Ende der 1960er Jahre desillusioniert .16 2. die WeltBank und die neue inStitutionenökonoMie Die Weltbank auf der einen Seite machte die schlechte Regierungsführung in den jeweiligen Entwicklungsländern für die bisherige Erfolglosigkeit der Entwicklungspolitik verantwortlich . Das wird aus dem sogenannten Berg-Report deutlich, den der damalige Weltbankpräsident A . W . Clausen wie folgt zusammenfasste: „ (…) the report suggests that African governments should not only examine ways in which the public sector organizations can be operated more efficiently, but should also examine the possibility of placing greater reliance on the private sector .“17
In der Folge machte die Weltbank ihre Kredite von Ausgabenkürzungen der jeweiligen Regierung und von marktliberalen Reformen, sogenannten Structural Adjustment Programs, abhängig .18 Die Entwicklung sollte angekurbelt werden, indem man die Staatsaktivitäten limitierte und Vertrauen in den Markt setzte . Diese Reformen erzielten jedoch nicht den erstrebten wirtschaftlichen Fortschritt . Stattdessen nahm die soziale Ungleichheit weltweit zu . Dies konnte sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen den Ländern beobachtet werden . 1960 waren die reichsten 20 Prozent der Welt noch 30 Mal reicher als die ärmsten 20 Prozent, 1989 waren sie 60 Mal reicher .19 Die Weltbank zog den Schluss, dass der Markt sich seine Strukturen offenbar doch nicht selbst schaffe, sondern dass dazu institutionelle Reformen notwendig seien . So erklärte Ibrahim Shihata, der damalige Vizepräsident der Weltbank, Mitte der 1990er Jahre: „Experience has clearly demonstrated the quintessential role of law in development and, especially, the need for the rule of law and for well-functioning judicial institutions . This is particularly evident in the private sector, where the rule of law is a precondition for sectoral development . It creates certainty and predictability; it leads to lower transaction costs, greater access to capital, and the establishment of level playing fields .“20 14 15 16 17 18 19 20
ebd ., 5 . David M . Trubek & Marc Galanter, Scholars in Self-Estrangement: Some Reflections on the Crisis in Law and Development Studies in the United States, Wisconsin Law Review, 1974, 1080 . Thomas Carothers, Aiding Democracy Abroad, 1999, 27 . Zitiert nach: John Mihevic, The Market Tells Them So: The World Bank and Economic Fundamentalism in Africa, 1995, 86 . Vgl . dazu Carol Lancaster, The World Bank in Africa since 1980: The Politics of Structural Adjustment Lending, in: The World Bank: Its First Half Century, Volume 2: Perspectives, 1997, 166 f . Tor Krever, The Legal Turn in Late Development Theory: The Rule of Law and the World Bank’s Development Model, Harvard International Law Journal, Vol . 52, 2011, 296 . Ibrahim F . I . Shihata, Legal Framework for Development: The World Bank’s Role in Legal and Judicial Reform, in: World Bank Technical Paper Number 280, Judicial Reform in Latin America and the Caribbean, 1995, 13 .
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Das theoretische Fundament lieferte die Neue Institutionenökonomie – eine neue Richtung in den Wirtschaftswissenschaften, welche Institutionen ins Zentrum ihrer marktwirtschaftlichen Betrachtung stellte .21 Schlecht definierte und schwer durchsetzbare Eigentumsrechte wurden als Hauptfaktoren für eine mangelnde wirtschaftliche Entwicklung identifiziert .22 Die Bedeutung des Rechtsstaats als Faktor für wirtschaftliche Entwicklung bestand darin, dass er für die klare Definition und Durchsetzbarkeit von Eigentumsrechten und für die Einhaltung von Verträgen sorgte . Diese Erkenntnis führte zu einer Prioritätenverschiebung innerhalb der Förderprogramme der Weltbank und die Rechtsstaatsförderung nimmt seitdem einen zentralen Platz ein . Daher konnte der damalige Vizepräsident der Weltbank, Roberto Dañino, im Jahr 2004 verkünden: „Thirty years ago, the Bank had 58 % of its portfolio in infrastructure, today it is reduced to 22 % while human development and law and institutional reform represent 52 % of our total lending .“23
3. die Vereinten nationen und die Wandlung der SicherheitSpolitik Auf der anderen Seite wurde die Annahme der Modernisierungstheorie in Zweifel gezogen, dass sich die politische Modernisierung und mit ihr der Schutz der Menschenrechte als Folge wirtschaftlichen Wachstums herausbilden würden .24 Daher wurde die Verwirklichung von Menschenrechten als unabhängiges Ziel angestrebt .25 Der staatszentrierte Fokus der Entwicklungspolitik wurde jedoch zunächst beibehalten und die Einhaltung von Menschenrechten als Verpflichtung von Staaten gegenüber ihren Bürgern betont . Die internationalen Menschenrechtsabkommen basierten auf der freiwilligen Umsetzung der Mitgliedsstaaten und stellten deren Autorität nicht in Frage .26 Das änderte sich mit dem Aufkommen der sogenannten failed states . Darunter verstand man Staaten, in denen die Regierung die Staatsgewalt nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausüben konnte . Die failed states waren außer Stande ihren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte nachzukommen . Aufgrund desselben Phänomens veränderte sich auch der Fokus der Sicherheitspolitik der Vereinten Nationen . Bis zu diesem Zeitpunkt ging es darum, Gefahren zu verhindern, die von Staaten ausgingen . Die Schwäche der Regierungen in den failed states führte dazu, dass nunmehr Gefahren von Gruppierungen, die innerhalb dieser Staaten unkontrolliert existieren konnten (Terrorismus, Drogenhandel, orga21 22 23 24 25 26
Vgl . dazu grundlegend: Douglas C . North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990 . Gordon Barron (Fn . 5), 12 . Robert Danino, The Legal Aspects of the World Bank’s Work on Human Rights, 2004, 13, abrufbar unter: http://siteresources .worldbank .org/INTLAWJUSTICE/214576-1139604306966/21144248/ HumanRightsNewYork030104 .pdf (besucht am 15 .6 .13) . Samuel P . Huntington, Political Order in Changing Societies, 2006, 5 . David M . Trubek (Fn . 8), 11 . Balakrishnan Rajagopal, Invoking the Rule of Law in Post-Conflict Rebuilding: A Critical Examination, William & Marry Law Review, Vol . 49, 2007–2008, No . 4, 1351 .
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nisierte Kriminalität etc .) als internationales Sicherheitsproblem wahrgenommen wurden . Die gewandelte Perspektive lässt sich auch aus einem Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty über die Veränderung der bewaffneten Konflikte weltweit ablesen . Während zu Beginn des 20 . Jahrhunderts nur jeder zehnte in bewaffneten Konflikten Getötete Zivilist war, waren es gegen Ende des 20 . Jahrhunderts 90 Prozent Zivilisten . Die Ursache für das Kollabieren der Staaten und die damit einhergehende Menschenrechts- sowie Sicherheitsproblematik wurde im mangelhaften institutionellen Gefüge der Staaten gesehen . Auf dieser Basis „entdeckten“ die Vereinten Nationen den Rechtsstaatsbegriff für sich . Im offiziellen VN-Vokabular tauchte der Begriff „Rechtsstaat“ zum ersten Mal auf der Weltkonferenz für Menschenrechte auf, die im Juni 1993 in Wien abgehalten wurde .27 Im Anschluss gab es zahleiche Deklarationen mit Empfehlungen zur Förderung rechtsstaatlicher Strukturen .28 2006 wurde die VN Rule of Law Unit ins Leben gerufen, welche die Rechtsstaatsbemühungen der verschiedenen Akteure koordinierte . Zudem erkennt man den Wandel der Sicherheitsdoktrin der Vereinten Nationen an der Veränderung der Mandate für die Blauhelmeinsätze in den Friedensmissionen . Seit Mitte der 90er Jahre hatten viele Friedensmissionen nicht mehr nur die Aufgabe über Frieden zu wachen, sondern besaßen weit gefasste Mandate zum Wiederaufbau und zur Stärkung des Rechtsstaats .29 III. dIe unschäRFe
des
RechtsstaatsBegRIFFs
und seIne
populaRItät
Der verbreiteten Gewissheit über die positiven Auswirkungen von Rechtsstaatlichkeit steht jedoch die allgemeine Ungewissheit in Bezug auf dessen Inhalt gegenüber . Obwohl der Begriff in der europäischen Geistesgeschichte tief verwurzelt ist, besteht bis heute weder zwischen den verschiedenen Entwicklungsorganisationen noch innerhalb der Organisationen Einigkeit darüber, was unter dem Begriff „Rechtsstaat“ zu verstehen sei . Die Vereinten Nationen hatten lange Zeit keine eigene Definition . Den ersten Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden, unternahm Kofi Annan in seinem Bericht an den Sicherheitsrat im Jahr 2004 „The Rule of Law and Transnational Justice in Conflict and Post-Conflict Societies“. Diese Definition enthält 15 für den Rechtsstaat konstitutive Elemente:30 „The rule of law (…) refers to a principle of governance in which all persons, institutions and entities, public and private, including the State itself, are accountable to laws that are publicly promulgated, equally enforced and independently adjudicated, and which are consistent with international human rights norms and standards . It requires, as well, measures to ensure adher-
27 28 29 30
Vienna Declaration and Programme of Action, Adopted by the World Conference on Human Rights on 25 June 1993, abrufbar unter: http://www .ohchr .org/EN/ProfessionalInterest/Pages/ Vienna .aspx (besucht am 15 .6 .13) . Thomas Fitschen, Inventing the Rule of Law for the United Nations, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol . 12, 2008, 360 . Carolyn Bull, No entry without strategy: Building the rule of law under UN transnational administration, 2008, 21 ff . Thomas Fitschen (Fn . 28), 361 .
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Christopher Weigand / Maria Weizsäcker ence to the principles of supremacy of law, equality before the law, accountability to the law, fairness in the application of the law, separation of powers, participation in decision-making, legal certainty, avoidance of arbitrariness and procedural and legal transparency .“31
Diese Definition setzte sich jedoch nicht bei den Mitgliedsstaaten durch . Erst im Jahr 2012 benannte die Generalversammlung einige Elemente der Rechtsstaatlichkeit, konnte sich aber nach wie vor nicht auf eine umfassende Definition einigen:32 „We also recognize that all persons, institutions and entities, public and private, including the State itself, are accountable to just, fair and equitable laws and are entitled without any discrimination to equal protection of the law .“
Die Weltbank wiederum versteht den Rechtsstaat wie folgt: „(…) capturing perceptions of the extent to which agents have confidence in and abide by the rules of society, and in particular the quality of contract enforcement, property rights, the police, and the courts, as well as the likelihood of crime and violence .“33
Die beschriebenen, historisch gewachsenen Zielrichtungen und Prioritäten der großen Organisationen setzen sich erkennbar auch in den Definitionen fort . Während die Weltbank ihren Fokus auf Vertragsdurchsetzung und Eigentumsrechte legt, nennt Kofi Annan als tragendes Element des Rechtsstaates internationale Menschenrechtsstandards . Auch in den tatsächlichen Programmen zur Rechtsstaatsförderung setzen sich diese Differenzen fort . So besteht zwar Konsens darüber, dass verfassungsrechtliche Garantien für bestimmte Rechte, eine unabhängige Justiz und ein funktionierendes Gerichtssystem notwendig seien, um die jeweiligen Ziele zu verwirklichen .34 Jedoch divergieren aufgrund der unterschiedlichen Zielvorstellungen die Ansichten darüber, welche Rechte verfassungsrechtlich garantiert werden sollen und wovon die Justiz unabhängig sein soll . So legt die Weltbank den Fokus darauf, marktwirtschaftliche Transaktionen zu erleichtern . Wie eine Studie zeigt, waren von 555 durch die Weltbank geförderten Rechtsstaatsprojekten 240 auf den Aufbau rechtsökonomischer Institutionen ausgelegt und nur 40 hatten gesellschaftliche Komponenten, wie Bildungsprogramme oder Transparenzförderung .35 Die Einigung auf den Begriff des Rechtsstaats fand also nicht wegen eines inhaltlichen Konsenses statt, sondern im Gegenteil, es war gerade der inhaltliche Dissens über die Bedeutung des Begriffs, der die Einigung auf den Begriff ermöglichte . So lässt sich die Popularität des Begriffs auf die Unschärfe desselben zurückführen .
31 32 33 34 35
United Nations, Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, 2004, 4 . Stattdessen wird auf der offiziellen Website der Vereinten Nationen nach wie vor die Definition des Generalsekretärs aufgeführt, vgl . http://www .unrol .org/article .aspx?article_id=3 (besucht am 15 .6 .13) . http://info .worldbank .org/governance/wgi/faq .htm (besucht am 15 .6 .13) . David M . Trubek (Fn . 8), 12 . Tor Krever (Fn . 19), 313 .
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IV. dIe unschäRFe des RechtsstaatsBegRIFFs deR ImplementIeRung
und dIe
pRoBleme
BeI
Die Unschärfe des Rechtsstaatsbegriffs führt auch zu Problemen der Implementierung . Schwerpunkte und Zielsetzungen können nur ungenau umschrieben werden . So wird der Auftrag der Rechtsstaatsmission EULEX im Kosovo wie folgt definiert: „(…) assist the Kosovo institutions, judicial authorities and law enforcement agencies in their progress towards sustainability and accountability and in further developing and strengthening an independent multi-ethnic justice system and multi-ethnic police and customs service, ensuring that these institutions are free from political interference and adhering to internationally recognised standards and European best practices“36
In seinem Bericht aus dem Jahr 2012 über die Rechtsstaatsförderung im Kosovo kritisiert der Europäische Rechnungshof, dass die Schwierigkeiten bei der Implementierung des Rechtsstaats unter anderem auf die mangelnden Orientierungshilfen und Zielsetzungen zurückzuführen seien .37 Mangels Klarheit über die Begrifflichkeit wurde in vielen Rechtsstaatsprojekten, so auch dem Kosovo, Rechtsstaat mit Justizsystem gleichgesetzt und der Fokus auf den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gelegt .38 Mit zunehmender Dauer der Projekte wurde jedoch deutlich, dass der Rechtsstaat mehr ist als die Summe seiner Institutionen . Es setzte sich die Einsicht durch, dass es nicht ausreicht, Institutionen aufzubauen, sondern dass vielmehr die Entwicklung einer rechtlichen Kultur, eines Willens zum Rechtstaat notwendig sei, damit sich sowohl die Machthaber an die bestehenden Gesetze halten als auch die Bevölkerung ihre Konflikte unter Zuhilfenahme der rechtlichen Institutionen austrägt . In der Folge wurde die Wichtigkeit der Förderung einer rechtlichen Kultur und die Beachtung des jeweiligen Länderkontexts hervorgehoben . Ob dieses Umdenken praktische Auswirkungen auf die konkreten Projekte haben wird, bleibt abzuwarten . Problematisch bleibt weiterhin, dass weder genau definiert ist, was Rechtsstaat bedeutet, noch was unter einer rechtlichen Kultur zu verstehen ist . So legen die Vereinten Nationen bei der Messung von Rechtsstaatlichkeit die materiell reichhaltige Definition von Kofi Annan aus dem Jahr 2004 zugrunde – konkret messen sie jedoch lediglich die rechtlichen Institutionen: „While based on this definition (v . Kofi Annan 2004, Anm . d . A .), this first edition of the indicators has a more limited scope, focusing solely on criminal justice institutions, including the police and other law enforcement agencies, the courts, the prosecution and the defense, and corrections .“ 39
Auch sind die Erkenntnisse in offiziellen Dokumenten sehr allgemein gehalten, so dass diese wenig Nutzen für die konkreten Projekte haben dürften („Context matters“, „local conditions are crucial“, „circumstances on the ground shape how things work .“40) . 36 37 38 39 40
European Court of Auditors, European Union Assistance to Kosovo related to the Rule of Law, Special Report No . 18, 2012, 30 . ebd . Carolyn Bull (Fn . 29), 53; Brian Z . Tamanaha (Fn . 7), 233; Thomas Carothers, The Problem of Knowledge, in: Promoting the Rule of Law Abroad, 2006, 20 . United Nations, Rule of Law Indicators, 2011, Introduction, VI . Thomas Carothers (Fn . 16), 25; Brian Z . Tamanaha (Fn . 7), 219 .
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Bei der Weltbank kommt hinzu, dass ihr jegliche politische Einflussnahme aufgrund ihrer Charta untersagt ist . So heißt es in Art . 4 Sektion 10: „The Bank and its officers shall not interfere in the political affairs of any member; nor shall they be influenced in their decisions by the political character of the member or members concerned .“41
Es ist daher fraglich, ob es möglich sein wird, eine rechtliche Kultur aufzubauen, ohne politisch auf die jeweiligen Staaten Einfluss zu nehmen .42 V. mehR hoFFnung
als
WIssen
Die Rechtsstaatsförderung beruht daher weniger auf einem theoretischen Fundament als vielmehr auf einer unbestimmten Hoffnung und einem vagen Optimismus . Die Koinzidenz, die in der westlichen Staatenwelt zwischen einem funktionierenden Rechtsstaat und gesellschaftlichem Fortschritt besteht, verdeckt die Ungewissheiten, die bezüglich dreier Annahmen rund um die Rechtsstaatsförderung bestehen .43 Die erste Annahme ist, dass ein funktionierender Rechtsstaat Voraussetzung für gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt sei – und sich nicht als dessen Folge einstellt . Die zweite Annahme ist, dass man Rechtsstaatlichkeit definieren und somit richtige Reformentscheidungen treffen könne . Die dritte Annahme ist, dass Rechtsstaatlichkeit von außen durch Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden könne . Diese hoffnungsvolle Einstellung lässt sich nicht durch die Ergebnisse der bisherigen Rechtsstaatsprogramme erschüttern, die bisher keinen Anlass zu großem Optimismus geben konnten .44 So urteilt ein Bericht aus dem Jahr 2012 über die Ergebnisse von zehn Jahren Rechtsstaatsförderung der Vereinten Nationen im Irak: UNAMI has serious concerns about the rule of law and respect for due process and fair trial standards (…) Abuses occurring within Iraq’s detention centres and prisons merely perpetuate injustice, putting at risk innocent people who may well find themselves victims of a system characterised by minimum or no protections, physical and psychological abuses, limited access to legal representation, and ineffective judicial proceedings . (…)45
Die Popularität des Rechtsstaatsbegriffs, so lässt sich schließen, beruht somit nicht auf seinen vorzeigbaren Erfolgen . Vielmehr sorgt seine enge Verwobenheit mit der Erfolgsgeschichte westlicher Staaten, aber seine gleichzeitige – im Gegensatz zu Marktwirtschaft und Demokratie – ideologische Unaufgeladenheit für eine breite weltweite Akzeptanz .
41 42 43 44 45
abrufbar unter: http://web .worldbank .org/WBSITE/EXTERNAL/EXTABOUTUS/0,,content MDK:20049603~menuPK:63000601~pagePK:34542~piPK:36600~theSitePK:29708~isCUR L:Y,00 .html (besucht am 15 .6 .13) . Gordon Barron (Fn . 5), 20 . Kevin E . Davis und Michael J . Trebilcock (Fn . 9), 5 . Brian Z . Tamanaha (Fn . 7); Alvaro Santos, The World Bank’s Use of the „Rule Of Law“ Promise in Economic Development, 254, abrufbar unter: http://papers .ssrn .com/sol3/papers .cfm?abstract_ id=2034333 (besucht am 15 .6 .13) . UNAMI Human Rights Office, Report on Human Rights in Iraq, 2011, 39 .
Sinthiou eStelle BuSZeWSki, Berlin/kiel Wozu RechtspeRsönlIchkeIt? eIne antWoRt
mIt
kant
I. Wozu kant? Die Anerkennung des Individuums als mit völkerrechtlichen Rechten und Pflichten ausgestattetes Völkerrechtssubjekt kennzeichnet einen Paradigmenwechsel im Völkerrecht .1 Nach traditionellem Verständnis sind originäre Völkerrechtssubjekte grundsätzlich nur Staaten . Das Individuum wird durch diese mediatisiert und verfügt über keine eigene, überstaatliche Rechtsposition . Die Neujustierung des Völkerrechts, die zu einer Blickwinkelverschiebung weg von Staaten hin zum Individuum führte, geht mit der Frage nach dem Status des Individuums als Völkerrechtssubjekt einher . Um dieser Frage nachzugehen, wird im Rahmen dieses Beitrages ausgehend von kantischen Grundprämissen die Funktion von Rechtspersönlichkeit untersucht, wobei insbesondere die Rechtsposition von Individuen außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen von Bedeutung sein soll . Der Rückgriff auf Kant erfolgt, weil so die Notwendigkeit einer Rekonzeptualisierung des heutigen Verständnisses von Völkerrechtspersönlichkeit theoretisch begründet werden kann . II. Wozu Recht
und
RechtspeRsönlIchkeIt?
Dem kantischen Rechtsbegriff zufolge kommt jedem Menschen kraft seines Menschseins ein ursprüngliches Freiheitsrecht zu .2 Er ist insofern Rechtsperson . Das Recht ist im Naturzustand jedoch ungesichert . Die praktische Freiheit3 bedingt, dass jeder Mensch von jedem anderen Menschen verlangen kann, in einen rechtlichen Zustand einzutreten .4 Der rechtliche Zustand, der jedermanns (Willkür-)Freiheit sichert, wird durch zwangsbewehrte Gesetze hergestellt .5 Eine Handlung ist demzufolge recht, „die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ .6 Der rechtliche Zustand ist also formale Bedingung zur Verwirklichung gegenseitiger Freiheit vernünftiger Wesen .7 Der Eintritt in den bürgerlichen Zustand, die Staatsgründung, ist somit kein Selbstzweck, sondern Mittel . Der Zweck des Rechts im Rechtszustand der
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B . Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community, 2009, 8; T . Meron, The Humanization of International Law, 2006; P . K . Menon, The Legal Personality of Individuals, 6 Sri Lanka Journal of International Law, 1994, 127–156 . I . Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, Meiner-Ausgabe, 47 [237] . Zum Begriff G . Geismann, Kant und kein Ende, Bd . 2, 2010, 14 . Kant (Fn . 2), 126 § 43 [312]; 63 § 8 [256] . Ibid . 124 § 41 [306] . Ibid . 39, § C, [230] . Ibid . 37 f ., § B, [230]: „Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann .“
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bürgerlichen Gesellschaft ist die Sicherung der Freiheit .8 Zwar wird überstaatlich von der Herstellung „Ewigen Friedens“ gesprochen, jedoch ist auch hier der Austritt aus dem Naturzustand und Freiheitssicherung durch Recht bezweckt .9 Im rechtlichen Zustand werden Rechtsgesetze durch die gesetzgebende Gewalt erzeugt . Diese „kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ .10 „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria) .“11 Zudem ist der Maßstab der Selbstgesetzgebung die Maxime, nach der eine Handlung stets mit der „Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ .12 Die legitimationswirksame Schaffung von Recht ist also an den vernünftigen Willen aller Individuen geknüpft . Ein jeder beschließt über sich selbst und damit auch über andere . Das gesetzgeberische Verfahrenselement setzt daher die Anerkennung jedes Individuums als rechtsetzende Person voraus . Darüber hinaus bedingt die Selbstgesetzgebung auch die Adressatenstellung jedes Individuums innerhalb der Rechtsgemeinschaft . Auch insofern ist der Einzelne Rechtssubjekt . Diese dreifache Rechtspersönlichkeit spiegeln auch die aus dem Recht der Menschheit ableitbaren Rechtspflichten wider:13 1) honeste vive („Sei ein rechtlicher Mensch“) 2) neminem laede („Tue niemandem Unrecht“) und 3) suum cuique tribue („Tritt in den Rechtszustand“) .14 „Sei ein rechtlicher Mensch“ ist als Pflicht zu verstehen sich selbst nicht bloß zum Mittel zu machen, sondern für andere auch immer Zweck zu sein . Jeder Mensch muss sich selbst als Inhaber des Rechts der Menschheit, des ursprünglichen Freiheitsrechts, und daher als Rechtsperson a priori ansehen .15 Neminem laede stellt ferner die Pflicht auf, auch andere Menschen als Rechtspersonen a priori anzusehen . Nur Rechtspersonen können Rechte haben, die verletzt werden können . Da das Recht der Menschheit jedem zukommt,16 ist nicht nur Eigenanerkennung eine Pflicht, sondern auch Fremdanerkennung .17 Das apriorische Recht der Menschheit basiert demzufolge auf einem universellen Gleichheitsrecht .18 Kein Individuum soll einem anderen in Würde oder Autonomie nachstehen . Die dritte Rechtsregel fordert die gemeinsame Sicherung externer Freiheit durch zwangsbewehrte Gesetze in einer rechtlichen Gemeinschaft . Der gegenseitigen Anerkennung folgt also zunächst die gegenseitige Verpflichtung, in den Rechtszustand einzutreten . Die notwendige Institutionalisierung gleicher Freiheiten innerhalb dieses Rechtsraums findet durch zwangsbewehrte Gesetze statt, die niemandem Unrecht tun dürfen und daher den Willen aller widerspiegeln müssen . Das Individuum ist 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Zum Freiheitsbegriff siehe G . Geismann, Kant und kein Ende: Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd . 3, 2011, 81 ff . J . Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, 28 Kritische Justiz, 1995, 293, 295 . Kant (Fn . 2), 130 ff . § 47 [313] . Ibid . 130 § 47 [313] . Ibid . 39 Einleitung § C . Geismann (Fn . 8), 13 ff . siehe Kant (Fn . 2), 45 f . [236 f .] . Geismann (Fn . 8), 14; G . Mohr, Person, Recht und Menschenrecht bei Kant, in: Klein/Menke, Der Mensch als Person und Rechtsperson. Grundlage der Freiheit, 2011, 33 ff . Geismann (Fn . 8), 12 f . Mohr (Fn . 15), 34 . Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, 47 [237] .
Wozu Rechtspersönlichkeit? Eine Antwort mit Kant
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dementsprechend unumgänglich für die Bestimmung dessen, was Legitimität beansprucht .19 Jedes Rechtsgesetz muss demnach nach den Grundsätzen der praktischen Vernunft geschaffen werden .20 Daraus folgt auch ein Anspruch auf gewisse subjektive Rechte .21 Insbesondere muss die Ausübung äußeren Zwangs reguliert werden, um Fälle, in denen ein Verhalten erzwungen würde, das mit inneren Pflichten kollidierte, zu verhindern .22 Aus der bedeutenden Stellung der Rechtspersönlichkeit für den kantischen Rechtsbegriff folgt mithin auch deren Schutz .23 Der kantische Rechtsbegriff muss also so interpretiert werden, dass die zentrale Voraussetzung der Wahrung und Erhaltung wechselseitiger Freiheit in dreifacher Hinsicht die Anerkennung als Rechtsperson ist: (1) Zum einen als Rechtsperson a priori, (2) ferner als rechtschaffende Person (3) und schließlich als Adressat positiven Rechts . Die Rechtspersönlichkeit ist zunächst ein vorstaatliches Phänomen,24 das positivrechtlich ausgestaltet wird . Ohne Rechtspersonen kein Recht, das positiv gesetzt oder verletzt werden könnte .25 Es besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Rechtsperson, die positives Recht schafft, und geschaffenem Recht, das die Rechtsperson adressiert .26 Die Anerkennung von Individuen als Rechtsperson ist konstitutiv, um zum einen überhaupt gemeinsam einen Rechtszustand herzustellen, und gleichzeitig, um positives Recht setzen und auf es zugreifen zu können . Wie die Schaffung eines Staates ist die Anerkennung als Rechtsperson Mittel des ursprünglichen Rechts der Menschheit . Gesicherte Freiheit setzt den Rechtszustand voraus, wobei letzterer nur durch und für Rechtspersonen erfolgen kann . Rechtspersönlichkeit ist demzufolge die rechtstechnische Form, um den Zweck des Rechts zu verwirklichen . Das bedeutet, die Funktion von Rechtspersönlichkeit ist die Sicherung des ursprünglichen Rechts der Menschheit auf gleiche Freiheit . III. Wozu VölkeRRechtspeRsönlIchkeIt? Die kantische Rechtskonzeption beschreibt drei Bereiche des Rechts: Das Staatsrecht, das Völkerrecht (oder Staatenrecht) und das Weltbürgerrecht . Das Konzept des Öffentlichen Rechts ist ein einheitliches mit drei miteinander verbundenen Tei-
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A . Niederberger, Kant und der Streit um den Kosmopolitismus der Politischen Philosophie, in: Eberl, Transnationalisierung der Volkssouveränität: Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates, 2011, 299 . I . Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, J . F . Hartknoch, 1786, 28, Vorrede, Erster Abschnitt; vgl . J . Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983, 76; M . Schütze, Subjektive Rechte und personale Identität – Die Anwendung subjektiver Rechte bei Immanuel Kant, Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller, 2004, 106 ff . ausführlich hierzu Schütze (Fn . 20), 57 ff ., 70 ff . Mohr (Fn . 15), 35 f . Ibid . 36 . Kant (Fn . 2), 124, § 42 [307] . vgl . Geismann (Fn . 8), 15 . Vgl . I . Maus, Über Volkssouveränität: Elemente einer Demokratietheorie, 2011, 196; J . Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1998, 162 .
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len .27 Die Rechtsbereiche haben keine unterschiedlichen Zwecke, sondern denselben: die Sicherung individueller (Willkür-)Freiheit . Rechtlicher Zustand ist Übereinstimmung mit dem Freiheitsgesetz . Kant aber verkauft den vernunftrechtlich geforderten Austritt aus dem Naturzustand für die Wahrung einzelstaatlicher Souveränität bzw . des (allein) innerstaatlichen Rechtszustands .28 Der Rechtszustand endet so an den Staatsgrenzen . „Da sie [die Staaten] dieses [den Weltstaat] aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen,…“29
Die äußere Freiheit des Einzelnen hängt jedoch nicht nur von den innerstaatlichen Zuständen im Aufenthaltsstaat ab, sondern (in thesi) auch von überstaatlichen (Rechts-) Verhältnissen .30 Kant folgend befindet sich der Einzelne nach Entstehen des Staates im Rechtszustand der bürgerlichen Gesellschaft, in der sein Freiheitsrecht gesichert ist . Nur Staaten untereinander befinden sich noch in einem Zustand ungesicherter Freiheit .31 Der Einzelne ist jedoch – heute noch sehr viel deutlicher als vor 200 Jahren – direkt von überstaatlichen Prozessen in seinen Rechten betroffen . Das erkennt auch Kant – zumindest zum Teil – indem er Völkerrecht und insbesondere Weltbürgerrecht fordert . Die Gründung des Einzelstaates ist also nicht der letzte Schritt hin zum Rechtszustand . Aber ein bloßer Völkerbund ist in thesi falsch und daher grundsätzlich nicht vereinbar mit dem Postulat des öffentlichen Rechts . Es gelingt so lediglich ein stetiges Annähern, aber niemals ein Erreichen des rechtlichen Zustandes . Der überstaatliche, rechtsfreie Zustand ist freilich auch nicht durch das Weltbürgerrecht aufgehoben . Kant beschränkt dieses Recht in individual-rechtlicher Hinsicht auf ein Besuchsrecht bzw . ein Flüchtlingsrecht,32 aber die Notwendigkeit der Anerkennung von Individuen als Rechtspersonen im überstaatlichen Bereich schimmert an dieser Stelle zumindest hindurch . Ausgehend von der vernunftrechtlichen Verpflichtung, aus dem Naturzustand auszutreten, und dem monistischen Modell des öffentlichen Rechts, muss jeder Einzelne als Träger des ursprünglichen Freiheitsrechts grundsätzlich, d . h . in jeder denkbaren Rechtsordnung innerstaatlich und überstaatlich, Rechtspersönlichkeit haben .33 Das Recht, Rechte zu haben, ist nicht vom Bestand des positiven Rechts abhängig, sondern ist diesem in Form des ursprünglichen Rechts der Menschheit vorgelagert .34 Dieses apriorische Recht bestimmt die Zwecksetzung des Rechts sowohl innerstaatlich als auch überstaatlich und insofern auch die Funktion von Rechtspersönlichkeit . Der rechtliche Zustand soll die Freiheit des Einzelnen schützen und 27 28 29 30 31 32 33 34
Kant (Fn . 2), 128, § 44 [311] . Habermas (Fn . 9), 295 f .; W . Kersting, Philosophische Friedenstheorie und internationale Friedensordnung, in: Chwaszcza/Kersting, Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, 1998, 538 f . I . Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Meiner-Ausgabe, 68, B38 [357]; siehe hierzu auch Kant (Fn . 2), 40 § D [231] . Kersting (Fn . 28), 528 f ., 535 . Kant (Fn . 29), 64, B30 [354] . cf . ibid . 69, B40, [358] . So im Ergebnis auch A . Peters, Membership in the Global Constitutional Community, in: Klabbers et al ., The Constitutionalization of International Law, 2010, 159 . So auch D . Held, Democracy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan Governance, 1995, 228 .
Wozu Rechtspersönlichkeit? Eine Antwort mit Kant
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bedarf daher des Mittels der individuellen Rechtspersönlichkeit im oben beschriebenen Sinne . Im Ergebnis muss der Einzelne folglich auch im überstaatlichen Rechtskreis jederzeit als (Völker-) Rechtsperson anerkannt werden, um ein friedliches Zusammenleben aller unvermeidlich nebeneinander lebenden Menschen unter Zwangsgesetzen herzustellen .35 Eine so verstandene universelle Rechtspersönlichkeit lässt schnell den Einwand aufkommen, dass dies die Errichtung eines Weltstaats erforderte .36 Kant aber argumentiert im Ergebnis gegen den Weltstaat, also den Eintritt in den Rechtzustand oberhalb des innerstaatlichen Rechts . Die Zwangsgewalt über den Staaten, die distributive öffentliche Gerechtigkeit und den Prozess, „durch den allein die Zwistigkeiten im rechtlichen Zustande ausgeglichen werden“37 können, betrachtet er als unvereinbar mit dem souveränen Willen der Staaten .38 Zudem nennt er verschiedene Argumente, warum ein solcher Weltstaat in Unfreiheit, in einem „seelenlosen Despotismus“39 enden würde .40 Abgesehen von der Bewertung der einzelnen Argumente gegen den Weltstaat führt die universelle Anerkennung des Individuums als Rechtsperson jedoch nicht zwingend zur Einrichtung eines Weltstaates unter gleichzeitiger Auflösung aller Einzelstaaten .41 Allein der Blick auf die Europäische Union zeigt, dass es supranationale Institutionen geben kann, die auf die innerstaatliche Ebene durchgreifen, gleichzeitig aber staatliche Strukturen wahren . Anhand des europäischen Rechtssystems lässt sich zeigen, dass die Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson und die damit verknüpften Rechtsschutzmechanismen ein Garant für individuelle Rechte sein können . Das europäische Modell leidet jedoch an der defizitären demokratischen Legitimation von Gesetzgebungsprozessen . Die Forderung nach stärkerer unmittelbarer und mittelbarer Beteiligung der europäischen Bevölkerung ist aber nicht sonderlich extrem oder gar neu . Insofern ist die Idee einer Verbindung von supranationaler Rechtsordnung und der Forderung nach universeller Anerkennung von individueller Rechtspersönlichkeit, Rechtsstellung im Gesetzgebungsverfahren und positiver (Abwehr-) Rechte nicht utopisch, sondern zumindest in Europa nahezu mainstream . In abgeschwächter Form besteht dieser status quo auch im außereuropäischen Völkerrecht: Das Individuum ist in Hinblick auf fundamentale Menschenrechte und das Völkerstrafrecht, das unmittelbare, individuelle, völkerrechtliche Pflichten auf-
35 36 37 38 39 40 41
Zur historischen und theoretischen Entwicklung von Völkerrechtspersönlichkeit siehe anstatt vieler J . E . Nijman, The Concept of International Legal Personality: An Inquiry Into the History and Theory of International Law, 2004 . In Kant (Fn . 29), 59, B 19 [349] spricht Kant vom „allgemeinen Menschenstaat“ bzw . ius cosmopoliticum . Kant (Fn . 2), 167, § 56 [346] . Kant (Fn . 29), 64 ff ., B 30 f . [354] . Ibid . 80, B63 [367] . Für eine Zusammenfassung der Argumente gegen den Weltstaat siehe T . L . Carson, Perpetual Peace: What Kant Should Have Said, 14 Social Theory and Practice, 1988, 177 ff . P . Kleingeld, Kant and Cosmopolitanism – The Philosophical Ideal of World Citizenship, 2012, 58 ff .; J . Habermas, The Constitutionalization of International Law and the Legitimation Problems of a Constitution for World Society, 15 Constellations, 2008, 445 ff ., 448 ff .; siehe auch H . Brunkhorst, Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft, 2012, 281 .
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stellt, als Rechtsperson anerkannt .42 Und auch die Konstitutionalisierungs- und Kosmopolitisierungsdebatten43 machen die sich ausbreitende Überzeugung deutlich, dass das Individuum und seine Rechte im Zentrum des Völkerrechtsbegriffs stehen müssen und daher die Anerkennung individueller Rechtspersönlichkeit den Völkerrechtsbegriff prägt .44 An dieser Stelle kann auch der Gedanke des Weltminimalstaats45 fruchtbar gemacht werden . Der kantische Rechtsbegriff fordert nur dort staatliche oder überstaatliche Strukturen, wo diese notwendig sind, um Freiheit zu schützen . Dort wo der Einzelstaat individuelle Freiheit aufgrund von globalen Dynamiken nicht mehr garantieren kann,46 überstaatliche Institutionen aber zu deren Sicherung in der Lage sind, sind letztere auch einzurichten . Derartige Mehrebenenkonstruktionen lassen die Existenz von Einzelstaaten grundsätzlich unberührt .47 Staaten sind weiterhin rechtsfähig . Das klassische Souveränitätsverständnis wird hingegen in seinen Grundfesten erschüttert .48 Staatensouveränität wird traditionell verstanden als ein an Staaten adressiertes Abwehrrecht gegenüber äußeren Einwirkungen .49 Die an den Begriff der Rechtspersönlichkeit im kantischen Sinne geknüpfte Position des Individuums im Rechtssetzungsverfahren, die Adressatenstellung hinsichtlich positiven Rechts und die damit einhergehenden Abwehrrechte und -mechanismen verändern die Zielrichtung des Konzepts der Staatensouveränität . Staatensouveränität wird zum Gewährleistungsmodell . Der Staat ist kein Selbstzweck des Rechts, kein Endziel, sondern ein Mittel zur Gewährleistung von individueller Freiheit .50 Das cosmopolitan right ist mithin ein Recht gegenüber anderen Individuen, anderen Staaten als auch gegenüber dem eigenen Heimatstaat .51 Das Individuum ist nach Kant Ausgangspunkt und Grundlage für die Legitimität von Recht . Das durch die Staatensouveränität geprägte Völkerrecht wird demzufolge durch das der Individualsouveränität nicht nur angereichert, sondern konstituiert . Die Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson, internationale Menschenrechte als subjektive Rechte sowie die Forderung nach Rückbindung überstaatlicher Rechtsakte an den Willen der Bürger sind in diesem Sinne natürlich .
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A . von Arnauld, Völkerrecht, 2012, 22 Rn . 65; C . Walter, Subjects of International Law, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2009; A . Cassese, International Law, 2005, 71 f ., 134 ff .; A . Verdross / B . Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, 255 ff . J . Klabbers et al ., The Constitutionalization of International Law, 2010; J . L . Dunoff / J . P . Trachtman, Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, 2009; Fassbender (Fn . 1); S . Benhabib, Another Cosmopolitanism, 2006 . Das Konzept der Völkerrechtssubjektivität im Ganzen ablehnend R . Higgins, Conceptual thinking about the individual in international law, 4 British Journal of International Studies, 1978, 1–19 . Kersting (Fn . 28), 539 ff .; O . Höffe, Vernunft und Recht: Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, 1996, 106–136; Carson (Fn . 40), 191 ff . D . Held / A . McGrew, Globalization/Anti-Globalization: Beyond the Great Divide, 2007 . Habermas (Fn . 9), 302 ff . S . Leibfried / M . Zürn, Transformationen des Staates?, 2006 . Vgl . B . Simma et al ., The Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, I, 136 Rn . 133, S . 153 ff . Rn . 146 ff . J . Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion: philosophische Aufsätze, 2005, 338, 356 ff .; A . Peters, The Merits of Global Constitutionalism, 16 Indiana Journal of Global Legal Studies, 2009, 398 . D . Archibugi, Immanuel Kant, Cosmopolitan Law and Peace, I European Journal of International Relations, 1995, 449 .
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Der Einzelne als Teil einer entstehenden kosmopolitischen Weltgemeinschaft und Adressat überstaatlicher Rechte und Pflichten ist zwar inzwischen fast ein Allgemeinplatz, Fragen stellen sich jedoch hinsichtlich der Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an der Generierung völkerrechtlicher Normen .52 Theoretisch ist die individuelle Beteiligung am völkerrechtlichen Rechtssetzungsprozess durch die ihr Volk demokratisch repräsentierenden Staaten möglich .53 Praktisch scheitert dieses Ideal an der mangelnden demokratischen Verfasstheit vieler Staaten, als auch an der Mittelbarkeit dieser Legitimationskette .54 Die Beeinflussung des Völkerrechts durch Individuen findet heute vornehmlich durch gerichtliche oder quasi-gerichtliche Verfahren statt, die Rückwirkungen auf völkerrechtliche Entscheidungsträger und -gremien haben (können) .55 Zumindest vorstellbar ist die Einrichtung deliberativer Foren, die individuelle, politische Teilhabe ermöglichen .56 Eine Reduktion individueller Mitbestimmung auf Instrumente der Zivilgesellschaft und der kosmopolitischen Öffentlichkeit ist aber wohl unzureichend, um die Legitimität überstaatlicher Institutionen herzustellen .57 Ein cosmopolitan model of democracy58, das die gegenwärtigen Demokratiedefizite im Völkerrecht aufhebt, muss insofern noch entwickelt werden . Hier befindet sich das überstaatliche Recht augenscheinlich noch im Annäherungsprozess . IV. Recht
Wozu?
Der primäre Zweck einer Rechtsordnung kann stets nur die Freiheit der Individuen sein . Sicherungsmittel ist die individuelle Rechtspersönlichkeit: Zunächst als apriorisches Konzept, ferner als Verfahrensposition und schließlich in Form der Adressatenstellung für positive (Schutz-)Rechte . Kant zeigt, dass ein globales Mehrebenenmodell, das diese Idee des Rechts verwirklicht, das heißt ein supranationales System, das den Einzelnen als Rechtssubjekt und rechtschaffende Person anerkennt und ihn mit unmittelbaren Rechten und Pflichten zur Sicherung von Freiheit ausstattet, nicht nur eine wünschenswerte Version des Kosmopolitismus ist, sondern Rechtspflicht . Eine Völkerrechtsordnung, die den Menschen objektiviert, mediatisiert und damit marginalisiert, ist unvereinbar mit kantischen Prämissen und mithin nicht in der Lage, einen Rechtszustand gegenseitiger, gleicher Freiheit zu erzeugen . Die ge52
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A . E . Boyle / C . M . Chinkin, The making of international law, 2007, 46 ff .; J . Steffek, Breaking the Nation State Shell: Prospects for Democratic Legitimacy in the International Domain, in: Hurrelmann et al ., Transforming the Golden-Age Nation State, 2007, 109–129; P . Niesen, Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, 2012 . Kleingeld (Fn . 41), 90 f . P . Dobner, More Law, Less Democracy? Democracy and Transnational Constitutionalism, in: Dobner/Loughlin, The Twilight of Constitutionalism?, 2010, 148 . A . von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I 1/2“, 2 Europarecht, 2013, 236–247; M . Steinbeis, EuGH entkafkaisiert globales Terrorbekämpfungs-Regime, 18 .07 .2013, Verfassungsblog, http://www . verfassungsblog .de/de/eugh-entkafkaisiert-globales-terrorbekampfungs-regime/# .UehvUlOlP9e, letzter Zugriff 1 .8 .2013; C . Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, Europarecht, 2006, 426–431 . Habermas (Fn . 41), 448 . vgl . Maus (Fn . 26), 373 . Held (Fn . 34), 231 ff .
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genwärtige Konstitutionalisierung des Völkerrechts spiegelt diese Rechtsüberzeugung . Insofern spricht Peters zu Recht von der Herausbildung subjektiver internationaler Rechte und von Individuen als originäre Völkerrechtssubjekte .59 Ein derartiges Modell des Kosmopolitismus ermöglicht es auch, die bislang defizitäre rechtliche Bindung von transnational agierenden, nichtstaatlichen Gewaltakteuren und multinationalen Unternehmen an Menschenrechte in den Griff zu bekommen .60 Nur so kann das (Völker-) Recht eine adäquate Antwort geben auf Rechtsverletzungen an einem Platz der Erde, die an allen gefühlt werden .
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A . Peters, Das subjektive internationale Recht, 59 Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2011, 411–456 . vgl . hierzu R . Frau, Entwicklungen bei der gewohnheitsrechtlichen Einbindung nichtstaatlicher Gewaltakteure, in: Krieger/Weingärtner, Streitkräfte und nicht-staatliche Akteure, 2012, 23–54; S . Buszewski, Unternehmen und Internationale Menschenrechte, 4 Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften, 2012, 201–209 .
Stefan klingBeil, Berlin dIe konstRuktIon deR und
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I. eInleItung In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehen bekanntlich ein Priester und ein Levit nacheinander an einem halbtot am Straßenrand liegenden Menschen vorüber, bevor sich schließlich ein auf Reisen befindlicher Samariter seiner erbarmt .1 Spielte der Fall im heutigen Deutschland, hätten sich Priester und Levit wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB strafbar gemacht . In den meisten Staaten der USA würden sie dagegen straflos ausgehen . Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Auf der Suche nach einer Erklärung soll besonderes Augenmerk auf die formale Struktur der Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe gelegt werden . Im ersten Schritt der Untersuchung wird daher die Herleitung dieser Pflicht in der christlichen Philosophie näher betrachtet (dazu II .) . Sodann wird im zweiten Schritt die juristische Rekonstruktion der Hilfeleistungspflicht durch § 323c StGB in den Blick genommen (dazu III .) . Vor diesem Hintergrund soll schließlich im dritten Schritt gezeigt werden, weshalb eine strafbewehrte Nothilfepflicht mit dem US-amerikanischen Regulierungssystem für wohltätiges Verhalten konfligiert (dazu IV .) . Durch den Vergleich der drei Modelle soll veranschaulicht werden, dass die Grundstruktur der Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe in unterschiedlichen Funktionssystemen konstant bleibt, während die Codierung variiert . Dementsprechend wird die Hauptfigur meines Beitrags, der barmherzige Samariter, zunächst als Diener Gottes, dann als Verwaltungshelfer und schließlich als Held auftreten . II. das
chRIstlIche
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samaRIteR
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Im ersten Schritt soll die Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe in der christlichen Philosophie beleuchtet werden, wobei sich die folgenden Ausführungen weitgehend an Kierkegaards Werk „Der Liebe Tun“ orientieren . Ausgangspunkt der Betrachtung ist das Doppelgebot der Liebe, mit dem Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot im Gesetz antwortete: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‘ (5 . Mose 6,4–5) . Das andre ist dies: ‚Du sollst * 1
Für wertvolle Kommentare und Hinweise danke ich Felix Hartmann, Moritz Renner und Thomas Wischmeyer . Lk 10,25–37 (alle Bibelstellen sind zitiert nach der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984) .
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deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (3 . Mose 19,18) . Es ist kein anderes Gebot größer als diese .“2 Gleichsam als Prämisse geht das Doppelgebot davon aus, dass die Liebe eines Menschen ihren Grund in Gottes Liebe hat: Wäre Gott nicht die Liebe3, so gäbe es auch die Liebe eines Menschen nicht .4 Gott ist gewissermaßen in Vorleistung getreten, indem er jeden Menschen bedingungslos in Liebe angenommen hat .5 Davon ausgehend, verpflichtet das erste Gebot des Doppelgebots den Menschen dazu, Gott als den alleinigen Herrn in unbedingtem Gehorsam zu lieben .6 Anschließend wird die Pflicht zur Gottesliebe durch das zweite Gebot des Doppelgebots mit der Pflicht zur Nächstenliebe verknüpft . Das Besondere an der Gleichstellung beider Gebote liegt darin, dass Gott als „Zwischenbestimmung“7 in die zwischenmenschliche Beziehung eingefügt wird . In einem Verhältnis zwischen Zweien ist Gott der unsichtbare Dritte . Mit den Worten von Kierkegaard: „Die weltliche Weisheit meint, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch–Gott–Mensch, das heißt Gott sei die Zwischenbestimmung .“8 Aus der Konstruktion über Gott als Zwischenbestimmung folgt, dass der Nächste aus der Perspektive Gottes zu bestimmen ist: Der Nächste ist deshalb jeder Mensch, weil Gott alle Menschen gleichermaßen liebt .9 Weiter impliziert die Konstruktion Mensch–Gott–Mensch, dass die Liebe zum Nächsten von der Liebe zu Gott abstammt .10 Gott lieben heißt den Nächsten lieben .11 Dementsprechend wäre es ein Selbstwiderspruch, wenn man Gott lieben wollte, nicht aber den Nächsten: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner .“12 Die Forderung nach Barmherzigkeit verknüpft die Liebespflicht mit dem innerweltlichen Handeln . Man soll dem Beispiel des barmherzigen Samariters nachfolgen und der Liebe tun .13 Dabei fordert der Appell zur tätigen Nächstenliebe mehr als ein bloß äußerlich gesetzeskonformes Verhalten .14 Anders als Freigebigkeit ist Barmherzigkeit keine glänzende Tugend15, sondern: „auf welche Weise man gibt“16 . Das Herz soll, so Kierkegaard, auch beim Tun der Liebe an Gott gebunden bleiben .17 Entscheidend ist, dass eigenes Wollen und Gottes Wille konvergieren: Die gebende Hand soll den göttlichen Willen vollziehen . So dient man Gott, indem 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Mk 12,29–31 . Vgl . 1 Joh 4,16 . Søren Kierkegaard, Der Liebe Tun, Gesammelte Werke und Tagebücher (hg . von Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes / Hans Martin Junghans), Bd . 14, Abt . 19, 2003, 12 . Vgl . 1 Joh 4,19: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt .“ Vgl . Kierkegaard (Fn . 4), 24 . Kierkegaard (Fn . 4), 66; s . zum Begriff der Zwischenbestimmung etwa Hermann Deuser, Zwischenbestimmungen, Hermeneutische Blätter 2008, 60 ff . Kierkegaard (Fn . 4), 119 . Vgl . Kierkegaard (Fn . 4), 69 . Vgl . Kierkegaard (Fn . 4), 66 . Vgl . 1 Joh 4,21 . 1 Joh 4,20 . Vgl . Kierkegaard (Fn . 4), 347 ff . sowie Lk 10,37: „So geh hin und tu desgleichen!“ Vgl . Kierkegaard (Fn . 4), 16 . Kierkegaard (Fn . 4), 351 . Kierkegaard (Fn . 4), 360 . Kierkegaard (Fn . 4), 164 .
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man dem Nächsten hilft . In Luthers Worten: „Dieser Samariter hat Gott lieb; nicht daß er Gott etwas gegeben hätte; sondern daß er dem armen verwundeten Menschen hilft, soviel er kann . Denn also sagt Gott: Willst du mich lieb haben und mir dienen, so tue es deinem Nächsten, der bedarf es; ich bedarf es nicht .“18 Festgehalten werden soll an dieser Stelle, dass nach der christlichen Konzeption die Pflicht zur tätigen Nächstenliebe über Gott als Zwischenbestimmung konstruiert wird, weshalb man ihm dient, indem man dem Nächsten hilft . III. das deutsche modell: deR als VeRWaltungshelFeR
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Im zweiten Schritt soll nun die juristische Rekonstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe durch § 323c StGB in den Blick genommen werden . Um die Strukturparallelen in der Konstruktion hervorzuheben, wird dabei zunächst der verfassungsrechtliche Hintergrund näher beleuchtet . Art . 1 Abs . 1 Satz 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar . Kraft des darin liegenden Anerkennungsakts ist jeder Mensch Rechtsperson .19 Der deutsche Staat tritt gewissermaßen in Vorleistung, indem er die Rechtssubjektivität jedes Menschen bedingungslos anerkennt .20 Dabei geht mit der Anerkennung als Rechtssubjekt die Pflicht der Rechtsunterworfenen einher, die rechtsetzende Autorität des Staates gehorsam zu achten .21 Dies impliziert die Pflicht der Bürger zur Achtung der Würde jedes Dritten .22 Es wäre ein Selbstwiderspruch, wenn jemand die rechtsetzende Autorität des Staates achten wollte, nicht aber die – vom Staat gesetzte23 – Rechtssubjektstellung jedes Menschen . Nach dem „Doppelgebot der Achtung“ fällt beides zusammen: Den Staat als rechtsetzende Autorität achten heißt die Würde jedes Menschen achten . Das Achtungsverhältnis stellt sich also, um mit Kierkegaard zu sprechen, als Verhältnis Bürger–Staat–Bürger dar, weil der die Menschenwürde anerkennende Staat in dem Verhältnis zwischen Bürger und Bürger die Zwischenbestimmung ist . In juristischer Terminologie ausgedrückt: Die Unantastbarkeitsformel des Art . 1 Abs . 1 Satz 1 GG garantiert die Achtung der Menschenwürde mit Drittwirkung .24 Die Menschenwürde achten bedeutet, Beeinträchtigungen fremder Frei18 19 20 21 22
23 24
Martin Luther, Predigten durch ein Jahr, 2012, 165 . Grundlegend Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 ff .; vgl . auch Christian Hillgruber, in: Kommentar zum Grundgesetz, hg . von Volker Epping / Christian Hillgruber, 1 . Auflage 2009, Art . 1 Rn . 3 . Vgl . Enders (Fn . 19), 274 ff .; s . zur Verleihung der Rechtssubjektivität durch den Staat auch Klaus F . Röhl / Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3 . Auflage 2008, 458 ff . Vgl . auch Enders (Fn . 19), 502; s . zur Gehorsamspflicht der Bürger ferner etwa Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg . von Josef Isensee / Paul Kirchhof, Bd . II, 3 . Auflage 2004, § 15 Rn . 82 ff . Dieser aussagenlogische Zusammenhang wurde, soweit ersichtlich, in der staatsrechtlichen Literatur bislang nicht akzentuiert; s . zu den alternativen Konstruktionsmodellen der Bürgerpflicht zur Achtung der Menschenwürde etwa Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 93 ff . Enders (Fn . 19), 503 . Vgl . etwa Matthias Herdegen, in: Kommentar zum Grundgesetz, hg . von Theodor Maunz / Günter Dürig, 67 . Ergänzungslieferung 2013, Art . 1 Abs . 1 Rn . 74 sowie BVerfGE 24, 119, 144 .
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heitssphären zu unterlassen .25 Eine Handlungspflicht in Notsituationen lässt sich aus dem Achtungsgebot jedoch nicht ableiten .26 Vielmehr korrespondiert die Nothilfepflicht als staatsbezogene Dienstleistungspflicht27 mit der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde aus Art . 1 Abs . 1 Satz 2 GG . Auf die Ebene des einfachen Rechts transponiert heißt das, dass der Bürger durch das strafbewehrte Handlungsgebot des § 323c StGB herangezogen wird, um dem Staat bei der Abwehr von Gefahren für die Rechtsgüter von Dritten zu helfen .28 Mit anderen Worten: Wo der Staat selbst mit eigenen Ressourcen die bedrohten Individualrechtsgüter nicht schützen kann, nimmt er durch § 323c StGB den gerade verfügbaren Einzelnen in die Pflicht .29 Funktional betrachtet, ersetzt der Normbefehl gleichsam standardmäßig für die vom Tatbestand erfassten Notsituationen einen das Einschreiten gebietenden Polizeibefehl .30 Der Bürger wird also, wie Pawlik treffend hervorhebt, mit Hilfe der Sanktionsdrohung als Verwaltungshelfer eingesetzt .31 Die Konstruktion Bürger–Staat–Bürger impliziert, dass die durch § 323c StGB strafbewehrte Handlungspflicht dem Staat gegenüber besteht und dem in Not Geratenen nur der Reflex dieser Pflicht zugutekommt .32 Diese Sichtweise soll durch einen kurzen Blick in die Geschichte der Norm verdeutlicht werden .33 Anders als nach heutiger Rechtslage machte sich gemäß § 360 Ziff . 10 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 nur strafbar, wer in Notlagen von der Polizei zur Hilfe aufgefordert wurde, dem Polizeibefehl aber keine Folge leistete . Nach der damals herrschenden Auffassung sanktionierte der sog . „Liebesparagraph“ die Verletzung der dem Bürger gegenüber der Obrigkeit obliegenden Gehorsamspflicht, weshalb die Hilfspflicht lediglich gegenüber dem Staat, nicht aber gegenüber dem in Not Geratenen bestand .34 Später, in der Weimarer Zeit, wurde die strafbewehrte polizeiliche Dienstleistungspflicht durch Verweis auf die in Art . 133 Abs . 1 WRV statuierte Grundpflicht legitimiert .35 Diese Vorschrift lautete: „Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten .“ Abgelöst wurde der „Liebesparagraph“ durch § 330c StGB, den die Nationalsozialisten 1935 in das Strafgesetzbuch aufnahmen . In der damaligen Fassung des § 330c StGB war die polizeiliche Aufforderung nur noch als Beispiel 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Vgl . BVerfGE 1, 97, 104 . So aber Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, 1988, 452 ff .; s . dazu die zutreffende Kritik von Edgar Haubrich, Die unterlassene Hilfeleistung, 2001, 355 ff . Vgl . etwa Volkmar Götz, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), 7, 28 und Rolf Stober, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, NVwZ 1982, 473 . Vgl . Michael Pawlik, Unterlassene Hilfeleistung: Zuständigkeitsbegründung und systematische Struktur, GA 1995, 360, 364 f . sowie Detlev Sternberg-Lieben / Bernd Hecker, in: Kommentar zum Strafgesetzbuch, hg . von Adolf Schönke / Horst Schröder, 28 . Auflage 2010, § 323c Rn . 1 . Pawlik (Fn . 28), 364 f . Vgl . Michael Fischer, Unterlassene Hilfeleistung und Polizeipflichtigkeit, 1989, 5 . Pawlik (Fn . 28), 364 f . Ähnlich etwa Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11 . Auflage 1969, 470; s . für die Gegenauffassung Günter Spendel, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, hg . von Burkhard Jähnke / Heinrich Wilhelm Laufhütte / Walter Odersky, 11 . Auflage 2005, § 323c Rn . 195 . S . ausführlich zur historischen Entwicklung Haubrich (Fn . 26), 53 ff . Henrike Morgenstern, Unterlassene Hilfeleistung, Solidarität und Recht, 1997, 40 . Haubrich (Fn . 26), 92; Götz (Fn . 27), 28 .
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erwähnt, wodurch der Polizeibefehl seine konstitutive Wirkung für die Strafbarkeit verlor .36 Jetzt kam es für das Vorliegen einer Hilfeleistungspflicht nicht mehr auf die zufällige Anwesenheit eines Polizisten an, sondern auf das Vorliegen einer Hilfeleistungspflicht „nach gesundem Volksempfinden“ .37 Als Strafgrund wurde die Verletzung der Treuepflicht gegenüber der Volksgemeinschaft angesehen, die eine rücksichtslose Gesinnung offenbare .38 Die Vorschrift galt auch nach 1945 fort, obwohl sie die Worte „nach gesundem Volksempfinden“ verwendete .39 Diese Formulierung wurde erst bei der Neufassung der Norm im Jahr 1953 geändert, in deren Rahmen auch die beispielhaft erwähnte Aufforderung zur Hilfeleistung durch die Polizei gestrichen wurde .40 Die Streichung des Beispiels sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass der Bürger mit Hilfe der Strafdrohung des § 323c StGB als Notstandspflichtiger zur Erfüllung einer staatlichen Aufgabe herangezogen wird . Denn unter der Geltung des Grundgesetzes hat sich, wie oben gezeigt, die Legitimationsbasis für die strafbewehrte Nothilfepflicht geändert . Dementsprechend ist sie nun über den zur Gefahrenabwehr verpflichteten Staat als Zwischenbestimmung zu konstruieren . Dadurch wird die helfende Hand des Bürgers gleichsam zum verlängerten Arm des Staates . So dient er dem Staat, indem er dem Mitbürger hilft . Freiheitstheoretisch legitimieren lässt sich § 323c StGB durch die Überlegung, dass die strafbewehrte Inpflichtnahme des Einzelnen erst die Rahmenbedingungen der allgemeinen – und damit auch seiner eigenen – Freiheit sichert41; „denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“42 . In den USA steht man dem Trade-off von Freiheit und Sicherheit gleichwohl kritisch gegenüber, worauf nun im dritten Schritt näher eingegangen werden soll . IV. das us-ameRIkanIsche modell: deR
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als
held
In den USA werden Fälle unterlassener Hilfeleistung häufig von einem empörten Aufschrei in den Medien begleitet .43 Gleichwohl ist das US-amerikanische Rechtssystem bemüht, Rettungsfälle aus seiner Zuständigkeit herauszuhalten: Weit verbreitet sind Good Samaritan laws, die Haftungserleichterungen für altruistisch gesinnte Nothelfer vorsehen; dagegen haben nur wenige Bundesstaaten Bad Samaritan laws erlassen, die den Einzelnen unter Androhung von Sanktionen zur Hilfeleistung in
36 37 38 39 40 41 42 43
Vgl . etwa Fischer (Fn . 30), 7 . Vgl . dazu Werner Huschens, Die unterlassene Hilfeleistung im nationalsozialistischen Strafrecht, 1938, 41 ff . Vgl . etwa Huschens (Fn . 37), 87 ff . sowie Haubrich (Fn . 26), 106 f .; vgl . ferner RGSt 71, 200, 203; 74, 199, 200; 77, 301, 303 . S . zur Problematik der Fortgeltung Haubrich (Fn . 26), 110 ff .; vgl . auch Wilhelm Gallas, Zur Revision des § 330c StGB, JZ 1952, 396 ff . Morgenstern (Fn . 34), 48 . Ähnlich Pawlik (Fn . 28), 365 . Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, 1851, 45 . Vgl . Amelia H . Ashton, Rescuing the Hero: The Ramifications of Expanding the Duty to Rescue on Society and the Law, Duke L. J. 59 (2009), 69, 102 ff .
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Notlagen verpflichten .44 Warum aber bleibt in den USA straflos, was hier strafbar ist? Wie lässt sich diese Differenz erklären? Meine These lautet, dass die Juridifizierung der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe in doppelter Hinsicht mit dem US-amerikanischen Staats- und Gesellschaftsverständnis konfligiert: Zum einen kollidiert eine solche Rechtspflicht mit dem individuellen Liberalismus der USA; und zum anderen würde die Juridifizierung den barmherzigen Samariter als mythologische Figur antasten . Der erste Punkt soll hier in aller Kürze abgehandelt werden, da die obigen Ausführungen zu § 323c StGB bereits deutlich gemacht haben, dass eine solche Vorschrift letztlich eine Form sozialer Umverteilung darstellt . Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass eine strafbewehrte Nothilfepflicht mit dem durch eine liberale Grundhaltung geprägten US-amerikanischen Staatsverständnis kollidiert . Danach hat der Staat individuelle Freiheitsräume zu sichern, nicht aber fremdnütziges Verhalten zu erzwingen .45 So meinen etwa Landes und Posner, die Rechtspflicht zur Hilfeleistung sei eine Form der Einberufung zum Sozialdienst, die zu einem Staat passe, der die Zeit seiner Bürger mehr als öffentliches denn als privates Eigentum betrachte .46 Darüber hinaus würde die Juridifizierung der Hilfspflicht den barmherzigen Samariter als mythologische Figur antasten . Als solche ist er für das politische Gemeinwesen der USA von nicht zu unterschätzender Bedeutung . Wenn karitatives Handeln auch verbreitet nicht als Staatsaufgabe betrachtet wird, so wird das Bild des barmherzigen Samariters im politischen Diskurs doch vielfach bemüht, um die Bedeutsamkeit privater Wohltätigkeit lobend hervorzuheben .47 So sagte etwa Präsident Bush in seiner Antrittsrede aus dem Jahre 2001: „America, at its best, is compassionate . […] Yet compassion is the work of a nation, not just a government . […] And I can pledge our nation to a goal: ‚When we see that wounded traveler on the road to Jericho, we will not pass to the other side .‘“48 Eine kaum zu leugnende Nähe zum biblischen Gleichnis weist auch der Mythos von der „amerikanischen Familie“ auf, der eines der wohl wirkmächtigsten Bilder der amerikanischen Geschichte darstellt49 . Die Sage sei mit den Worten von Präsident Obama wiedergegeben: „For alongside our famous individualism, there’s another ingredient in the American saga . A belief that we’re all connected as one people . If there is a child on the south side of Chicago who can’t read, that matters to me, even if it’s not my child . […] It’s that fundamental belief – I am my brother’s keeper . I am my sister’s keeper – that makes this country work . It’s what allows us to pursue our individual dreams and yet still come together as one American family . E pluribus unum: ‚Out of many, one .‘“50 44 45 46 47 48 49 50
Vgl . etwa Damien Schiff, Samaritans: Good, Bad and Ugly: A Comparative Law Analysis, Roger Williams U. L. Rev. 11 (2005–2006), 77, 88 ff . Vgl . Schiff (Fn . 44), 120 f . William M . Landes / Richard A . Posner, Altruism in Law and Economics, Am. Econ. Rev. 68 (1978), 417, 420 . Schiff (Fn . 44), 117 f . Zitiert nach Schiff (Fn . 44), 117 Fn . 229 . Ulrich Haltern, Obamas politischer Körper, 2009, 317 . Auszug aus der Grundsatzrede bei der Democratic National Convention 2004; zitiert nach The Black Experience in America, hg . von Jeff Wallenfeldt, 2011, 201 .
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Der Mythos von der amerikanischen Familie gehört zu dem „Projekt, die Masse als Subjekt zu entwickeln“51 . Als Zwischenbestimmung verbindet die amerikanische Familie die Einzelnen zu einem mystischen Ganzen (Geschwisterkind–Familie–Geschwisterkind) und macht so jedes Familienmitglied zu seines Bruders und seiner Schwester Hüter . Dabei geht mit dem kollektiven Glauben an die politische Gemeinschaft das Bewusstsein von Pflichten einher, die ihren Ursprung in der kollektiven Identität haben und weiter reichen, als Recht und Moral es je gebieten könnten: Sie verlangen die Opferbereitschaft gegenüber der als Familie imaginierten Nation .52 Bad Samaritan laws konfligieren mit der politischen Imagination der amerikanischen Familie, weil Sanktionsnormen für unbarmherzige Samariter die entgegengesetzte symbolische Botschaft senden, nämlich die einer dysfunktionalen Familie, in der fehlende Opferbereitschaft durch Rechtszwang ausgeglichen werden muss .53 Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass die imaginierte Gemeinschaft in der „durchmediatisierte[n] Gesellschaft“54 vornehmlich mittels massenmedialer Kommunikation zusammengehalten wird .55 So trägt nicht zuletzt auch die Berichterstattung über Retter in der Not dazu bei, das kollektive Gemeinschaftsgefühl zu beleben .56 Dabei werden altruistische Nothelfer, wie Ashton herausstellt, durch die USamerikanischen Massenmedien häufig zu Helden stilisiert .57 Mit dieser das Gemeinschaftsgefühl stimulierenden Form der Berichterstattung – „dem medialen Modus von Heldenverehrung“58 – ist eine Rechtspflicht zum Samariterdienst ebenfalls nicht ohne Weiteres kompatibel . Denn Held und Verwaltungshelfer wohnen nicht im gleichen Haus . Ein Held ist definiert durch seine Bereitschaft zur Selbsthingabe .59 Diese muss nicht notwendig tödlich enden; entscheidend ist allein, dass das profane Selbst einer höheren Macht hingegeben wird .60 Dazu muss das Selbst zunächst zu nichts werden, um anschließend in einem Akt synthetischer Vereinigung mit dem Willen des „großen Anderen“61 als höheres Selbst wiederaufzuerstehen .62 Strukturell ist dies der gleiche symbolische Transformationsprozess wie bei der Verwandlung eines Menschen in einen Diener Gottes oder in einen Verwaltungshelfer . Nur ist der große Andere, dessen Willen sich der Held hingibt, nicht Gott oder der Staat, sondern die Nation .
51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, 85 . Haltern (Fn . 49), 319 . Vgl . auch Paul W . Kahn, Putting Liberalism in Its Place, 2009, 224: „To imagine a family in which sacrifice was not ordinary is to imagine a dysfunctional family […] .“ Sloterdijk (Fn . 51), 19 . Vgl . Sloterdijk (Fn . 51), 16 ff . Ashton (Fn . 43), 96 ff .; vgl . auch Heidi M . Malm, Bad Samaritan Laws: Harm, Help, or Hype?, Law and Philosophy 19 (2000), 707, 748 f . Ashton (Fn . 43), 96 ff . Sloterdijk (Fn . 51), 23 . Vgl . Herfried Münkler, Heroische und postheroische Gesellschaften, Merkur 2007, 742 . Paul W . Kahn, Sacred Violence, 2008, 108 . S . zu Jacques Lacans Begriff des großen Anderen etwa Slavoj Žižek, Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!, 1999, 133 ff . Ähnlich Kahn (Fn . 60), 108 f . (ohne Rückgriff auf die Konzeption des großen Anderen) .
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Da der sich Aufopfernde durch die symbolische Transformation in einen Anderen verwandelt wird, ist es ihm wesenhaft unmöglich, von seiner Heldentat zu sprechen . Deshalb ist der Held auf die narrative Verdoppelung durch den Dichter angewiesen; dieser erst kann ihn mit dem notwendigen Innenleben ausstatten .63 Die Rolle des Dichters übernehmen in Nothilfefällen die Massenmedien, deren euphorische Berichterstattung über Helden des Alltags aus europäischer Perspektive gelegentlich etwas befremdlich wirkt . Funktional betrachtet, macht die ästhetisierende Berichterstattung den Einzelnen zum Sinnbild für die Verwirklichung des Gemeinschaftswillens, wodurch seine Liebestat der amerikanischen Familie zugeeignet wird .64 So dient er der Nation, indem er seinen Geschwistern hilft . Es handelt sich um ein autonomes Regulierungssystem jenseits des Rechts, das sich einer primär an das Gefühl appellierenden Rhetorik bedient .65 Es versorgt die Masse „mit wirksamen Vernunftanalogien oder wohltätigen Simulationen“ und substituiert „in Bildern […], was der Diskurs bei den Vielen nicht vermag“66 . Der medial verstärkte Aufschrei der Empörung, der Fälle unterlassener Hilfeleistung häufig begleitet, ist integraler Bestandteil dieses Regulierungssystems: Die öffentliche Brandmarkung des Sündenbocks ist das Mahnmal, das der Menge zur Restabilisierung ihrer Werte dient . Eine Rechtspflicht zur Hilfeleistung kollidiert mit diesem Regulierungssystem, weil ein Held sich gerade dadurch auszeichnet, dass er ein vom Gesetz nicht verlangtes Opfer erbringt67 . Sein Reich beginnt dort, wo das des Verwaltungshelfers endet . Deshalb würde die Juridifizierung der Nothilfepflicht einen Dichter vor das Problem stellen, einen Verwaltungshelfer mit dem Innenleben eines Helden ausstatten zu müssen . Anders gewendet: Die Verrechtlichung der Hilfspflicht hätte zur Folge, dass durch den Nothelfer nicht mehr der mystische Körper der amerikanischen Familie, sondern das Wort des Gesetzes durchscheinen würde . Soweit aber die Möglichkeiten medialer Heldenverehrung eingeschränkt werden, wird auch eine der amerikanischen Familie zur periodischen Revitalisierung ihrer Werte dienende Quelle ausgetrocknet .68 Es versteht sich von selbst, dass die Funktionsweise des Regulierungssystems idealtypisch zugespitzt wurde und nicht jede vom Gesetz geforderte Hilfeleistung eine Heldentat ist . Gezeigt werden sollte allein, dass fremdnütziges Verhalten in den USA anders gesteuert wird als in Deutschland und dass sich eine strafbewehrte Nothilfepflicht nicht ohne Weiteres in dieses Regulierungssystem einfügt .69
63 64 65 66 67 68 69
Münkler (Fn . 59), 742 ff . Vgl . auch Paul W . Kahn, Out of Eden, 2010, 191: „To name is to possess in a representational form .“ S . allgemein zur Wohltätigkeitsrhetorik in den USA etwa Jeffrey Obler, Moral Duty and the Welfare State, West. Polit. Q. 39 (1986), 213 ff . Sloterdijk (Fn . 51), 44 . Vgl . Kahn (Fn . 60), 110 . Ähnlich Ashton (Fn . 43), 96 . Ebenso Schiff (Fn . 44), 133 ff ., der allein eine strafbewehrte Pflicht zur Benachrichtigung der Behörden in Notsituationen für kompatibel mit dem US-amerikanischen Modell hält; kritisch mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Effekt solcher Vorschriften etwa Ashton (Fn . 43), 95 ff .
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Ein wichtiger Grund für den unterschiedlichen Umgang mit wohltätigem Verhalten liegt darin, dass die Staaten in Kontinentaleuropa im Gefolge der Reformation allmählich klassische Funktionen der Kirche absorbiert und dadurch nach und nach die Kirche als Wohlfahrtsorganisation ersetzt haben, wohingegen in den USA eine vergleichbare Entwicklung ausgeblieben ist .70 Dort hat die Kirche als eigenständiger politischer Akteur bis heute überlebt, weshalb der öffentliche Diskurs stärker von religiöser Rhetorik durchsetzt ist als in Deutschland .71 Es liegt in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass wohltätiges Verhalten – und dazu lässt sich auch eine Rechtspflicht zum Samariterdienst „as a form of legally enforceable charity“72 rechnen – in den USA nicht in erster Linie durch den Staat in der Sprache des Rechts, sondern durch ein anderes soziales Funktionssystem reguliert wird .73 V. schluss Der Vergleich der drei idealtypischen Modelle zeigt, dass die Grundstruktur der Konstruktion der Pflicht zur tätigen Nächstenliebe in unterschiedlichen Funktionssystemen konstant bleibt, während die Codierung variiert . Die zentrale Strukturparallele liegt darin, dass die Pflicht jeweils über den großen Anderen als Zwischenbestimmung konstruiert wird . Daraus folgt, dass man dem großen Anderen dient, indem man dem Nächsten hilft . Im Gang der Untersuchung war der große Andere erst Gott, dann der Staat und schließlich die Nation . Dies ließ auch die Figur des barmherzigen Samariters nicht unberührt: Erst war er Diener Gottes, dann Verwaltungshelfer und schließlich Held . Er ist gleichsam rückwärts durch Kierkegaards berühmte drei Stadien gereist – vom Religiösen zum Ethischen zum Ästhetischen . Wir wollen an dieser Stelle nicht entscheiden, in welchem Stadium er am glücklichsten war . Kierkegaard hätte ihm freilich zugerufen: „Du bist des Lebens Weg falsch herum gegangen!“
70 71 72 73
S . dazu ausführlich James Q . Whitman, Separating Church and State: The Atlantic Divide, Historical Reflections/Réflections Historiques 34 (2008), 87 ff . Whitman (Fn . 70), 87 ff . Schiff (Fn . 44), 132 . Vgl . Schiff (Fn . 44), 130 ff .
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1
John Cage, der in seinem Leben kein einziges Wort zum Recht publizierte und schon deshalb als besonders geeignete Referenz in diesem Band gelten darf, begann seine Lectures on Nothing im Jahr 1949 wie folgt: Ich bin hier
,
und es gibt nichts zu sagen
schen sind, die irgendwo jederzeit gehen Stille ist,
hingelangen wollen . ; aber was dass ich weiterrede
, Was wir die Stille benötigt .
; gnügen
einen Stoß aber der Stoßende und das man DisWollen wir später eine
: der Gestoßene kussion nennt abhalten
. Wenn unter Ihnen Menlasst sie benötigen ist
Gib einem Gedanken und er fällt um er- zeugen das Ver . ?1
„Was wir benötigen ist Stille und was die Stille benötigt ist, dass ich weiterrede .“ Cage führt uns hier eine Figur vor, die er im Verlauf der Lectures on Nothing zur Darstellung bringt und von der ich glaube, dass sie sich auch für die Fragestellung Wozu Recht fruchtbar machen lässt: Das Weiterreden, das die Stille (zer-)stört, ist von ihr selbst herbeizitiert . In die umgekehrte Richtung formuliert, hieße das mit Adorno: Leben (oder: Recht), das Sinn hätte, fragte gar nicht danach .2 Wie also bei Cage die Stille das Sprechen benötigt, in dem sie untergeht, so verlangt Recht eine Reflexion, in der seine Selbstverständlichkeiten, Evidenzen und Sinnansprüche (ver-)schwinden . Die Frage Wozu Recht wäre als eine selbstvernichtende Performanz (oder performative Selbstvernichtung) zu verstehen, die ihre abschlägige Antwort selbst erzeugt . Was aber impft der Frage ihr dissolvantes Potential ein? Zwei Antworten bieten sich an: eine grundlegende und eine praktische . Das grundlegende Argument wäre: der Mangel an Jenseitigkeit in der Gegenwart . Es kann kein Wozu geben, weil (metaphysische) Leere weder Sinnstiftung noch Teleologie gewährt; weil sich das Wozu auf einen Sinn oder eine Gesamtteleologie bezieht, die uns keine höheren Mächte mehr gewährleisten können oder wollen . Transzendentale Stabilität – das war einmal . Was aber damit: internal truth does not need external justification? Zu überhastet scheint jedenfalls der Verweis auf eine kosmische Leere, die auf alle weltlichen Instanzen durchschlagen soll: Die klassische Kritik an Teleologie zielt weniger darauf, dass keine Wirkungen erzielt werden könnten, als darauf, dass ein letztes Ziel oder die Einheit aller Ziele ein metaphysisches Erbe ist .3 Das ist 1 2 3
John Cage, Lectures on Nothing, in: Silence, Middletown 1961, 109 [Übersetzung vom Verfasser] . Theodor W . Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1997, 369 . Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt am Main 1998, 75 .
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richtig, greift aber eine ganz profane Teleologie nicht zwangsläufig an; teils entzündet sich der Zweifel auch daran, dass Wirkungen nicht unmittelbar erzielt werden können: eine rechtliche Regelung habe nicht in dem Sinne eine Steuerungsfunktion, dass sie direkten Einfluss auf die Wirklichkeit nehme . Auch das ist sicher richtig, sagt uns aber nicht, warum mittelbare, indirekte Wirkungen ausgeschlossen sein sollten . Stellen wir also um auf ganz profane teloi, müssen die nicht grundsätzlich aufgegeben werden . Der ganz profane telos hat aber eine entscheidende Kehrseite, will heißen, auch er verstellt die Antwort auf die Frage Wozu Recht? Nicht prinzipiell, sondern seiner Struktur nach: er kann sich immer nur an konkreten Phänomenen erklären (Maßnahmen, Gesetzen, Institutionen usf .) . Die Frage nach dem Wozu des Rechts, die auf einen Gesamtkorpus zielt, ist aber durch die Summe der einzelnen Zwecke nicht beantwortet . Der jeweilige Zweck steht im Singular und entzieht sich einer Aufrechnung (weil Zwecke gegeneinander inkommensurabel sind) . Anders gewendet: die Antwort mit profanen teloi befindet sich strukturell auf einer anderen Ebene als die Frage: Wozu Recht? Zielt die Frage Wozu Recht? auf den gesamten Korpus, steht sie vor einem weiteren Problem: der heterogenen Gestalt von Recht . Recht ist (in einer nicht-essentialistischen, nach-metaphysischen Zeit nur noch zu konzipieren als) eine kulturelle Praxis . Das heißt: es ist geworden und gewachsen . Gewachsene Gebilde lassen sich nicht auf eine Grundstruktur oder ein Grundmuster reduzieren . Recht war in der Vergangenheit anders und wird in Zukunft anders sein . Seinem Inhalt und seiner Gestalt nach . Die homogene Frage Wozu? scheitert an der irreduziblen Heterogenität rechtlicher Phänomene . Außerdem ist sie notwendig „zu spät, denn es handelt sich um etwas, von dem wir nolens volens ausgehen und immer schon ausgegangen sind, wenn wir zustimmend oder ablehnend, unterstreichend oder durchstreichend dazu Stellung beziehen .“4 Die Frage nach dem Wozu des Rechts droht sich in eine Aporie zu verwandeln, indem sie sich der Erfahrung einer beiderseits notwendigen Sinn-losigkeit und Sinnbeständigkeit des Rechts aussetzt . Sinnlos, weil sich jeder Sinn vor kritischer Inquisition auflöst; sinnbeständig, weil die Frage immer zu spät ist, ihren Fokus nur auf einen Teilbereich legen kann, ihre Kritik nur punktuell wirkt und immer sinnstiftende Teile unberührt lässt . Um sich der Aporie zu entziehen, wird die Frage von den Zwecken auf die Funktionen verschoben: Recht soll sich legitimieren an dem, was es leistet, nicht an hehren Zwecken . Steht es mit den Funktionen also besser als mit den Zwecken? Dead in the water sind die Erziehungsbemühungen von Platon und Aristoteles .5 Recht soll zur Tugend anleiten? Mit Tugend haben wir nichts mehr am Hut . Im Anschluss an Hobbes soll Recht bei liberalen Denkern wie Kant oder Kelsen als Zwangsgewalt wirken . Das Alleinstellungsmerkmal ist dann gleichzeitig, was dem Recht seinen Wert verleiht: Rechtsnormen sind imperativ (äußerlich) gegen eine nur unverbindlich (innerlich) konzipierte Moral(norm) .6 Im Prinzip ist das der Grund4 5 6
Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, 46 . Brian Tamanaha, A General Jurisprudence of Law and Society, Oxford 2001, 7 . Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd . 8, Frankfurt am Main 1977, A 36; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Leipzig/Wien 1934, 25 .
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ton liberaler Rechtskonzepte: Zwang zur Wahrung von Ordnung und Sicherheit in einer (ansonsten aber!) freien Welt . Zumindest in der ordnungsstiftenden Funktion des Rechts sind sich Kelsen und Ehrlich einig .7 Teils wird die Ordnungsfunktion ein wenig anders hergeleitet: Mit Luhmann als „Stabilisierung normativer Erwartungen“8 oder (internationalistisch) als dispute settlement . Insbesondere im internationalen Kontext gerät die Plausibilität der Zwangsfixierung allerdings unter Druck .9 Teils wird mit Recht auch die Möglichkeit einer „richtigen Entscheidung“ verbunden oder zumindest damit, dass „richtig entschieden“ werde .10 Genauso oft wird aber schon an der Oberfläche klar (und meist auch eingestanden), dass diese Richtigkeit nur eine Figur oder eine Fiktion ist, „or in Nietzsches reading, [these claims] are themselves merely one rhetoric among others .“11 Andere sehen in der Praxis des Entscheidens den großen Vorzug von Recht, weil hier durch nachträgliche Begründung eine Basis für Kritik entstehe, an der sich zukünftige Praxis orientieren kann und muss (Esser/Müller) . Recht hat also die Funktion, Entscheidungen transparent und kritisierbar zu machen . Im einzelnen ist das alles viel komplizierter . Ich möchte aber auf etwas anders hinaus: Mit der Frage nach den Funktionen des Rechts ist bereits eine Vorentscheidung dafür getroffen, dass die Funktion einer Sache ihre raison d’être sein kann . Da steht ein Idiot auf dem Hof . – Gut. Wozu dient er? – Er hütet den Esel . – Also behalten wir ihn! Drei Fragen schließen sich daran an: Hütet jemand anderes den Esel, wenn der Idiot weg ist? Wenn nein: Braucht der Esel überhaupt jemanden, der ihn hütet? Wenn ja: Muss ihn wirklich der Idiot hüten? Übertragen aufs Recht lauten die Fragen: (1) werden die Funktionen, die das Recht erfüllt, bei Abwesenheit von Recht durch andere Institutionen kompensiert? (Kulturanthropologie); (2) sind die Funktionen, die das Recht erfüllt, gesellschaftlich indispensabel? (Soziologie vs . politische Gestaltung12); (3) genügt die Übernahme von wichtigen Funktionen prinzipiell, um die negativen Folgewirkungen von Recht zu rechtfertigen (critical studies)? Die Fragen sind nicht wirklich neu, werden aber in aller Regel kaum gestellt . Einer, der sie stellte, war Nietzsche . Seine Antwort: „Sie machen irgendeinen ‚Zweck‘ ausfindig, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi und – sind fertig .“13 Man könnte die drei Fragen ausführlich durchspielen . Das wäre ein eigener Beitrag . Es kann hier deshalb nicht darum gehen, zu belegen, wie Aufgaben, die in den westlichen (Post-)Demokratien von Recht übernommen werden, unter anderen gesellschaftlichen Strukturbedingungen anderen Institutionen zufallen (Frage I) . Das hängt auch damit zusammen, dass Konzepte nicht einfach modulartig aus einem 7 8 9 10 11 12 13
Besonders eindringlich: Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Berlin 1989, 63 f .: Eine jede Ordnung „ist immer besser als gar keine .“ Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 131 . Frédéric Mégret, International Law as Law, in: Crawford/Koskenienni, The Cambridge Companion to International Law, Cambridge 2012, 77 . Ralf Seinecke, Recht und Rechtspluralismus, Forschungsperspektiven der ‚Rechts‘-Wissenschaft und ‚Rechts‘-Philosophie, in: Bäcker/Ziemann (Hg .), Junge Rechtsphilosophie, Stuttgart 2012, 157 . David E . Bender / John Wellbery, Rhetoricality, in: dies ., The End of Rhetorics, Stanford 1990, 26 . Weil die Frage, was unabkömmlich ist, eine politische (gesellschaftlich gestalterische) Komponente hat . Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe Bd . 5, Berlin/New York 1999, 313 [gekürzt wiedergegeben] .
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gesellschaftlichen Gefüge heraus präpariert und in ein neues Umfeld eingepflanzt werden können . Zum Beispiel: Die südafrikanischen Wahrheitskommissionen, die dort partiell das Strafrecht ersetzen, basieren auf einem Konzept von Personalität, das mit westlichem Individualismus inkompatibel wäre .14 Noch markanter ist die Analyse der Gabe in archaischen Kulturen von Marcel Mauss: dort übernimmt, vereinfacht gesagt, eine verschwenderische Vorleistung die Funktion der Stabilisierung von Austauschverhältnissen, die in der westlichen Welt rechtlich organisiert und abgesichert werden müssen .15 Bei anderen Funktionen des Rechts, wie dem Strafen, wäre die Frage, ob sie überhaupt notwendig sind (Frage II) .16 Und im Polizeirecht stellt sich die Frage, ob der Nutzen, den man zu verbuchen glaubt, nicht durch den Schaden mehr als aufgewogen wird (Frage III) .17 Das nur als Skizze zu den Fragen . Sie können immer nur konkret beantwortet werden, nicht en bloc . Deshalb könnte auch ihre positive Beantwortung nie zu einer Letztbegründung von Recht führen . Wenn wir uns also darauf einlassen, dass Zwecke und Funktionen eine Institution nicht legitimieren können, hieße das dann, dass wir vor der Frage: Warum überhaupt Recht? notwendig verstummen müssen? Versiegen dem Recht seine Legitimationsquellen, weil Begründungen aus höherer Autorität brüchig werden und aus profaner Funktionalität mit Zweifeln behaftet sind, wird oft auf zwei Eigenschaften abgestellt, die Recht stabilisieren, sein proprium bilden sollen: Erstens, heißt es, sei Recht das Andere des Gefühls und befreie uns von Unsicherheit und Wankelmut, stifte Ordnung und Sicherheit . Zweitens soll der napoléonische Entscheidungszwang ein Schutzwall gegen die Willkür(mächte) der Vergangenheit sein . Was hat es mit der Idee auf sich, Recht sichere gegen Willkür? Recht wird hier als das konzipiert, was nicht gefühlsgeladen ist, sondern klar, streng und emotionslos . Es ist Gesetz! Der gegenwärtige Stand von Reflexion und Differenzierung erlaube uns auch nicht mehr, zu jenen vormodernen Konzepten zurückzukehren, in denen das Gefühl eine wirksame Rolle in der gesellschaftlichen Organisation spielte . Recht ist Recht und muss es bleiben . Dieses privative Verhältnis von Recht und Gefühl ist eine Illusion . Ein Beispiel: seit jeher wird Michael Kohlhaas eingestuft als Agent (bei Ihering sogar als Märtyrer18) des Rechtsgefühls . Sein Brutalismus sei Folge eines intransigenten Gerechtigkeitsgefühls . Kohlhaas geht dem Junker Wenzel von Tronka und dessen Passagierscheinen auf den Leim und dadurch seiner Rappen verlustig . Die Gerichte, die ihm der Sache nach bescheinigen, sein „Anspruch ist begründet“, begehen nach entsprechenden Interventionen Rechtsbeugung . Daran schließt die Deutung an, dass Kohlhaas nach dem Scheitern seines Prozesses vom Recht aufs Gerechtigkeitsgefühl umstellt: er suche nun das höhere Recht mit dem Schwert .19 Ich habe 14 15 16 17 18 19
Desmond Tutu, No Future without Forgiveness, London 1999, 34 f . Marcel Mauss, Die Gabe, Frankfurt am Main 1990 . Klaus Günther, Kritik der Strafe I, WestEnd (1) 2004, 117–131; ders ., Kritik der Strafe II, WestEnd (1) 2005, 131–141 . Daniel Loick, but who protects us from you? Zur kritischen Theorie der Polizei, in: jour-fixeinitiative Berlin (Hg .): Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen, Münster 2010 . Rudolf von Ihering, Der Kampf um’s Recht, Wien 1900, 64 . So traditionell und widersprüchlich: Andreas Voßkuhle / Johannes Gerberding, Michael Kohlhaas und der Kampf ums Recht, Juristenzeitung (19) 2012, 917–925, 921 .
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bisher nur einen Interpreten gefunden, der anderer Auffassung ist:20 Kohlhaas will nicht sein vages Gefühl durchsetzen, sondern das Recht . Er ist der frühbürgerliche Agent des Rechts gegen die Rechtsbeugung, nicht gerechtigkeitsversessen . Sein Fundamentalismus ist legalistisch: so fundamentalistisch wie das Recht seit dem Rechtsverweigerungsverbot des Code Napoléon . Seine Unfähigkeit besteht darin, es auf sich beruhen zu lassen . Den die bürgerliche Interpretation für einen Wahnsinnigen hält, ist ihr Spiegelbild: die Inkarnation eines Rechts unter Entscheidungszwang . Wie konnte es zu dieser Täuschung kommen? Das hat viele Gründe; wovon sie alle zehren, ist, dass sich Recht und Gefühl überhaupt nicht auseinander dividieren lassen . Um abzukürzen, nehme ich Bezug auf einen Beitrag von Julia Hänni vor dem Jungen Forum . Ihr Versuch scheint der zu sein, Gefühl als das zu rechtfertigen, was es aus der Perspektive des Rechts ist: ein Fremdes, als Korrektiv, als das Andere . Deutlich wird das, wenn sie eine „primäre intuitive Wertung“ als „außerrechtlichen Wertmaßstab“21 und ein „ungutes Gefühl“ als „Korrektiv“ (85) ins Spiel bringt; wenn sie für eine „beschränkte Offenheit“ des Rechts plädiert (83) oder wenn Wittgensteins Sprachkritik so verstanden wird, dass der einzelne die Bedeutung von Worten (und für Juristen: die Bedeutung von Normen) nur aus der Verwendung „kenne“ (83) . Das verkennt aber die Radikalität von Wittgensteins Sprachanalyse: Er beobachtet nicht nur den Bedeutungserwerb, also die Frage, wann wir eine Bedeutung „kennen“; für Wittgenstein gibt es gar keine Bedeutung jenseits vom Gebrauch der Worte (für Juristen: keinen Normgehalt) . Das Gefühl ist dann aber nicht mehr das Andere des Rechts, sondern Gefühl (des-)integriert das Recht von innen heraus, weil überall, wo Recht ist (und nur, wo Recht ist), Nicht-Recht mit ihm sich verbreitet . Schon der Selbstbezug des Rechts benötigt einen Fremdbezug, der dafür sorgt, dass „Momente der Fremdartigkeit innerhalb der jeweiligen Ordnung virulent sind .“22 Es kann also nicht mehr um eine „ursprüngliche Art des Denkens“ (88) gehen, die Gefühle enthistorisiert, dekontextualisiert und naturalisiert (Gefühle sind nicht stabiler als Rechtsnormen), sondern es geht darum, Gefühl und Denken in ihrer Interdependenz und Koevolution (oder: Dialektik) nachzuzeichnen und Schluss zu machen mit den Ursprungsideen . Überall, wo der Fokus aufs Entscheiden gelegt wird, führt das zu einer eigenartigen Verengung des Blicks, Gefühle werden an den Grenzen des Rechts lokalisiert und dort domestiziert – unter Beibehaltung der Fiktion, in centro gehe es (im Regelfall) rational zu . Gefühl ist aber nicht nur Motor von Kritik, sondern bewirkt zuallererst die Stabilisierung des Rechts: kein Recht ohne emotionale Grundierung, ohne Bindung und Gefühl . Es gibt kein Gesetz an sich . Gesetze allein wären, wie Hobbes lästert: nur Worte . Aber nicht Gewalt besorgt, dass sie mehr sind, sondern eine Praxis, welche die Subjekte ans Recht bindet . Gefühl kommt also nicht primär in Generalklauseln zum Tragen oder als Korrektiv in Grenzfällen . Eine kulturwissenschaftlich informierte Theorie des Rechts müsste die Praxis des Rechts mit ihrer emotiven Komponente ins Licht rücken . 20 21 22
Wenn auch nicht in jedem Detail: Joachim Rückert, „Der Welt in der Pflicht verfallen“, in: Kleistjahrbuch 1988/89, Berlin 1988: Der Ersatzanspruch wird Kohlhaas zuletzt zugesprochen, 377 . Julia Hänni, Gefühl und juristisches Urteil . Die phänomenologischen Grundlagen der Rechtsfindung, in: Bäcker/Ziemann (Hg .), Junge Rechtsphilosophie, ARSP Beiheft 135, Stuttgart 2012, 77–88, 77 . Bernhard Waldenfels (Fn . 4), 29 .
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Treten „Zweifel an der Möglichkeit einer menschlichen Vernunft, die frei von Gefühlen, Emotionen und Affekten für richtiges Entscheiden (…) sorgen soll“ offen hervor23, wäre die Frage Warum überhaupt Recht nicht damit erledigt, dass Recht als das Andere des Gefühls uns vor unserem Gefühl bewahrt . Recht ist Gefühl, wenn auch ein bestimmtes, gesellschaftlich geformtes . Wenn sich Recht daran stabilisieren soll, dass es einen Rationalitätsvorsprung gegenüber gefühlsmäßigem Entscheiden birgt, dann wird es Opfer einer Selbsttäuschung . Könnte es nicht aber der rechtliche Zwang zu Anschluss und Entscheidung sein, der Recht indispensabel macht? Die Idee hat Anhänger und Probleme: Erstens wird der Blick aufs Recht auch hier verengt, weil nur ein bestimmtes Recht zur Geltung kommt, nämlich das monistisch-etatistische, das „seine Geltung aus der Verfassung“ ableitet und „keine autonome Rechtsquelle neben sich“ duldet .24 Das, was wir Recht! nennen und tunlichst gegen die diffusen normativen Ordnungen der lokalen und globalen Bukowina (von Ehrlich bis Teubner25) in begrifflich eingehegte Sicherheit bringen . Aber der Blick wird dadurch nicht nur verengt und von widerständigen Phänomenen abgezogen, sondern die Entscheidungs- und Anschlusszwänge führen selbst, zweitens, in hausgemachte Paradoxien . Die stabilisierende Fiktion der Rechtsquellenlehre, die Idee also, dass Recht eben ist, was rechtmäßig gesetzt wurde, ist selbst der Grund dafür, dass Recht sich in zwei große Paradoxien spaltet . Nach Teubner lauten sie: „[E]rstens, Entscheidungsparadox: Es gibt keine determinierbare Bedeutung von Recht, sondern nur „différance“, Dauertransformation und Daueraufschiebung des Rechtssinnes . Und zweitens Letztbegründungsparadox: die Gründung von Recht auf willkürlicher Gewalt .“26 Beide Paradoxien beruhen auf einer ähnlichen Vorstellung: In ihrem Lied vom Gesetz wendet sich Marie Theres Fögen gegen die Idee einer rechtlichen creatio aus Gewalt: „Größer noch ist das Chaos des Anfangs und des Ursprungs, aus dem mit einem Urknall das Gesetz hervorging und für Ordnung sorgte . Womit die meisten zufrieden sind .“27 Das ist erstaunlich . Recht, als Kulturphänomen, entsteht nicht in einem großen Knall, geht nicht zurück auf eine Ur-Setzung, in der eine höchste Instanz verkündet: Recht und zwar mit Gewalt! Die Idee kann erst vor dem Hintergrund eines bereits ausdifferenzierten Rechtskörpers entstehen, der keine Götter mehr neben sich duldet und alles auf die eine höchste Quelle zurückführen will . Solange sich Recht in Tuchfühlung mit gelebter Praxis hält – sich also immer wieder neu begründet und be-gründet, – entbehrt schon die Formulierung der Paradoxien ihrer Plausibilität . Übertragen wir die Kritik auf das Entscheidungs-Problem: So wenig sich Recht auf eine Urgewalt (in mythischer Vor-Vergangenheit) zurückführen lässt (weil es als evolutionäres Produkt zu viele heterogene und widersprüchliche Schichten, Mecha23 24 25 26 27
Malte Gruber, Zur Einleitung, in: Gruber/Häußler (Hg .), Normen der Empathie, Berlin 2012, 9 . So etwa Klaus Röhl in seiner Abtrittsvorlesung, nachzulesen unter: http://www .ruhr-uni-bochum .de/rsozlog/daten/pdf/Roehl %20 %20Die %20Aufloesung %20des %20Rechts .pdf . Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Berlin 1989; Gunther Teubner, Globale Bukowina . Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255–290 . Gunther Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: ders ./Joerges (Hg .), Rechtsverfassungsrecht,Baden-Baden 2003, 25–45, 37 f . Dies ., Das Lied vom Gesetz, München 2007, 69 f .
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nismen, Absichten und Mittel in sich verschränkt), so wenig gibt es verstetigte UrEntscheidungen in einem unstrukturierten Raum . Vielmehr müssen Räume erst rechtlich strukturiert werden, damit Teilnehmer und Beobachter in der Folge bestimmte Punkte darin markieren können, die sie als Entscheidungen bezeichnen (teils um Verantwortung auf Personen oder Institutionen zu delegieren; teils um Legitimität zu stiften: durch die Autorität des Entscheiders oder die Ordnung des Verfahrens) . Diese Momente der Entscheidung gibt es aber nur innerhalb einer (proto-)rechtlichen (Re-)Konstruktion . Die Entscheidung ist also eine konstruktive Leistung, nicht unumgänglich . Ihre Unumgänglichkeit gehört zu einem Sprachspiel, das wir auch anders spielen können . Nehmen wir ein Gerichtsurteil: hier scheint uns evident, dass die Richter, die das Urteil fällen, in actu den Gerichtsfall entscheiden . Aber warum? Wieso nicht etwa der Gerichtsangestellte, der die Akte zur Staatsanwaltschaft bringt? Oder die klageerhebende Staatsanwältin? Oder die Polizeibeamten, die das Urteil vollstrecken? Braucht es nicht auf dem gesamten Weg der Entscheidung Menschen, die kompetent sind zu beurteilen, was einer Entscheidung bedarf und was nicht – mehr noch: bedarf es nicht Menschen, die auf die nötige Aufmerksamkeit trainiert sind, ohne die kein kognitiver Akt zustande käme? Entscheidungen benötigen Aufmerksamkeit: dass eine Entscheidungssituation vorliegt, muss erst mal bemerkt werden . Nun ist es eine der besonderen Eigenschaften von Aufmerksamkeit, dass sie sich nicht maschinell ersetzen lässt: es gibt keine Aufmerksamkeitsmaschinen .28 Ob eine Entscheidung zu fällen ist, obliegt also nicht selbst wieder einer Entscheidung, was dann in den beliebten infiniten Regress führt (wer entscheidet, dass… + n), sondern die Entscheidung benötigt das Aufmerken darauf, dass sie am Platz ist . Wird die Notwendigkeit der Entscheidung verpasst, weil sie unbemerkt bleibt, so erleidet die oder der Betroffene „nicht einmal Unrecht . Die normative Maschinerie der Geltungsansprüche läuft in solchen Fällen leer .“29 Ohne Aufmerksamkeit sind wir bar jeder Normativität . Gleichzeitig aber können in diesem Mangel an Aufmerksamkeit auch „schonende Nischen“, also gerade Freiräume entstehen . „Vor einem schützt [Recht] nämlich nicht: vor dem Recht .“30 Vor Recht schützt aber (zumindest gelegentlich): Unaufmerksamkeit . Ein Mangel mit negativen wie positiven Wirkungen, der nicht einseitig auszumerzen wäre . Ausgeschlossen ist nur eine Entscheidung über die Aufmerksamkeit . Um entscheiden zu können, müsste die Entscheiderin bereits aufgemerkt haben . Was abstrakt formuliert den Eindruck erweckt, eine zumindest handhabbare Unsicherheit zum eigenen Vorteil zu stilisieren, weil wir alle wissen, dass das Gericht entscheidet und institutionell aufmerksam ist, dieses Problem ist in Schillers Maria Stuart das bestimmende Verzögerungsmoment: Im Urteil gegen die Königin von Schottland ist genau jene verstetigte Delegation der Entscheidung am Werk, die uns der scheinhaften Evidenz der Gerichts-Entscheidung beraubt: sicher wird Maria vom zuständigen Gericht der 50 Peers verurteilt . Das Urteil der Peers basiert aber, wie im Verlauf des Dramas durch die Richterschaft offengelegt wird, auf der Annahme, die Königin von England werde ihre Halb- und Königsschwester aus Standes- und Familiengründen nicht töten können und deshalb die Unterschrift ausset28 29 30
Bernhard Waldenfels (Fn . 4), 103 . Bernhard Waldenfels (Fn . 4), 104, hier und im Folgenden . Eva Geulen, Plädoyer für Entscheidungsverweigerung, in: Vismann/Weitin (Hg .), Entscheiden – Urteilen, Paderborn 2006, 56 f .
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zen . Nun könnte man sagen: dann trifft eben Elisabeth die Entscheidung, indem sie ihre Unterschrift (wider Erwarten und aus gekränkter Eitelkeit) leistet . Aber auch sie will die Verantwortung (zumindest vor der Welt) nicht tragen und gibt die nun vollziehbare Urkunde dem Staatssekretär Davison „zur Verwahrung“ . Noch der ist sich unsicher, weiß nicht, wie verfahren und das allgemeine Non Liquet! löst sich zu tödlichem Ausgang erst durch das entschiedene Eingreifen von Lord Burleigh . Der zuletzt, ob seines eigenmächtigen Handelns angeklagt, verweist nur darauf, das unterschriebene Urteil habe gehandelt, nicht er selbst . Wem man nun auch die Entscheidung zuschreibt – ich möchte nur darauf hinweisen, dass Entscheiden eine Konstruktion ist und dass erstens je nach Perspektive verschiedene Träger der Entscheidung in Betracht kommen, von denen (in aller Regel) die meisten darauf verweisen können, selbst gar nichts entschieden zu haben: was sie entscheiden, ist ihnen vielmehr passiert (auch wenn es nicht bei jedem so sinnfällig wird wie bei Davison, dem Lord Burleigh das Urteil aus der Hand reißt) und zweitens, dass man, um in ein Entscheidungsparadox hineinzukommen, eine auf Entscheidungen hin strukturierte Wirklichkeit und den Zufall der wirksamen Aufmerksamkeit benötigt . Nichts davon ist wirklich selbstverständlich .31 Gründungsund Entscheidungsparadox gründen nicht im Recht, sondern in Rechts-Betrachtung . Unser Blick nach hinten kann die Frage Warum überhaupt Recht? nicht beantworten . Was aber wäre gewonnen, wenn wir uns unseres legalistischen Vorurteils entledigen? Klar ist nur: „Kein Sinn liegt in unserem Elend, Hunger ist eben Nichtgegessenhaben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst .“32 Die Zumutungen des Rechts sind Zumutungen und keine Kraftprobe, kein Verdienst . Als ausdifferenzierter Teilbereich einer reflexiv gewordenen Kultur kann Recht immer nur punktuelle Funktionen übernehmen, die sich einer permanent gestellten Desillusionierung auszusetzen hätten . Das Recht, das seine Grundlosigkeit und Zumutungen kennt, nennt Menke ein „Recht der Widerwilligen .“33 Dabei belässt er es aber, weil er glaubt, dass es nicht anders sein könnte . Ihm geht alles Recht auf Gewalt zurück, nicht anders als Nicht-Recht .34 Hätten die Paradoxien Recht, dann wäre Gewalt unumgänglich . Die Suggestionskraft der Entscheidungsparadoxie liegt in der ‚Evidenz‘, dass alles Recht auf willkürliche Entscheidungen rückführbar ist – diese Evidenz ist aber nicht im Recht begründet, sondern in seiner Re-Konstruktion . Solange wir Recht auf Gewalt zurückführen, gilt der Satz: there is something rotten in law .35 Aber eben nur solange . Führen wir Recht dagegen auf eine gewordene kulturelle Praxis zurück und verbinden Entscheidungen mit Phänomenen von Aufmerksamkeit und einer emotionalen Grundierung, dann stünde hinter uns nicht die unvermeidliche Gewissheit der Gewalt, unser Widerwillen wäre nicht einfach zu ertragen, sondern die Phänomene so zu gestalten, dass sie uns weniger wider Willen sind . Jedenfalls bis an den 31 32 33 34 35
Nach Wesel enden in vorstaatlichen Gesellschaften kaum fünf Prozent der Konflikte mit einer Entscheidung, Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1983, 160 . Heiner Müller, Germania, Frankfurt am Main 2001, 89 . Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin 2012, 102 f . Christoph Menke (Fn . 33), 34, 40 . Eric Santner, On the Psychotheology of Everyday Life, Chicago/London 2001, 56 .
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Punkt, an dem sich die Frage nicht mehr stellt, weil (wie bei Brechts Herrn Keuner) am Ende doch einmal alle das bekommen, was ihnen zusteht . Dass am Ende immer ein Mangel bleiben muss, ist eben auch nur eine von vielen möglichen Lesarten .
autoRen
und
heRausgeBeR
Vuko Andrić, M .A ., ist akademischer Mitarbeiter am Research and Study Centre „Dynamics of Change“ an der Universität Mannheim . Dr. Oliver Bach, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München . Dr. Denis Basak ist Akademischer Rat a .Z . am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main . Dr. Beatrice Brunhöber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Rechtsphilosophie (Prof . Dr . Tatjana Hörnle) an der Humboldt-Universität zu Berlin . Sinthiou Estelle Buszewski ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walther-SchückingInstitut für Internationales Recht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und an der Humboldt-Universität zu Berlin . Andreas Engelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Öffentliches Recht, Recht und Theorie der Medien von Prof . Dr . Thomas Vesting an der Goethe-Universität Frankfurt am Main . Dr. Miriam Gassner war zum Zeitpunkt des Vortrages wissenschaftlicher Mitarbeiterin am FWF-Projekt „Kelsens Leben in Amerika“ an der Universität Wien und ist nun Notariatskandidatin im Notariat Bieber, Brix Partner . Dr. Katrin Gierhake ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Regensburg . Dr. Ariane Grieser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof . Dr . Bernhard Schlink an der Humboldt-Universität zu Berlin . Philipp-Alexander Hirsch, M .A ., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät sowie Doktorand am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen . Dr. Bernhard Jakl ist Entlastungsprofessor für Zivilrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main . Martin Kerz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (Prof . Dr . Heinz Koriath) an der Universität des Saarlandes .
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Autoren und Herausgeber
Stefan Klingbeil, LL .M . (Yale), Ass . jur ., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Juniorprofessur für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin . Ulrike A. C. Müller, Ass . jur ., M .A ., ist Doktorandin am Graduiertenkolleg Wohlfahrtsstaat und Interessenorganisationen der Universität Kassel . Dr. Bettina Noltenius ist Akademische Rätin a . Z . am Rechtsphilosophischen Seminar der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn . Juliane Ottmann, Ass . jur ., ist Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin . Verena Risse promoviert am Exzellenz-Cluster „Normative Orders“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main . Dr. Michael Städtler ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster . Johanna Stark, M .Phil ., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Internationales Recht an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München . Dr. Sebastian Stein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Philosophie (Prof . Dr . Anton Koch) an der Universität Heidelberg . Dr. Markus Vašek ist verfassungsrechtlicher Mitarbeiter am österreichischen Verfassungsgerichtshof in Wien . Christopher Weigand ist Referendar am Kammergericht Berlin . Maria Weizsäcker ist Referendarin am Kammergericht Berlin . Tim Wihl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für öffentliches Recht, insb . Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie (Prof . Dr . Christoph Möllers) an der Humboldt-Universität zu Berlin .
a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e
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beihefte
Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand-Fachverlag erschienen.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–079x
118. Bart C. Labuschagne / Ari M. Solon (Hg.) Religion and State From separation to cooperation? Proceedings of the Special Workshop “Legal-philosophical reflections for a de-secularized world” held at the 23rd World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Kraków, 2007 2009. 209 S., kt. ISBN 978-3-515-09368-2 119. Martin Borowski (Hg.) On the Nature of Legal Principles Proceedings of the Special Workshop “The Principles Theory” held at the 23rd World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Kraków, 2007 2010. 182 S., kt. ISBN 978-3-515-09608-9 120. Friedrich Toepel (Hg.) Free Will in Criminal Law and Procedure Proceedings of the 23rd and 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Kraków, 2007, and in Beijing, 2009 2010. 122 S., kt. ISBN 978-3-515-09320-0 121. Marcel Senn / Bénédict Winiger / Barbara Fritschi / Philippe Avramov (Hg.) Recht und Globalisierung / Droit et Mondialisation Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15.–16. Mai 2009, Universität Genf / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 15–16 mai 2009, Université de Genève 2010. 196 S., kt. ISBN 978-3-515-09673-7 122. Imer B. Flores / Uygur Gülriz (Hg.) Alternative Methods in the Education of Philosophy of Law and the Importance of Legal Philosophy in the Legal Education
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Proceedings of the 23rd World Congress of the International Associaction for Philosophy of Law and Social Philosophy “Law and Legal Cultures in the 21st Century: Diversity and Unity” in Kraków, 2007 2010. 114 S., kt. ISBN 978-3-515-09695-9 Sascha Ziemann Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie: Bibliographie und Dokumentation (1907–2009) 2010. 434 S., kt. ISBN 978-3-515-09719-2 Jan-Reinard Sieckmann (Hg.) Legal Reasoning: The Methods of Balancing Proceedings of the Special Workshop “Legal Reasoning: The Methods of Balancing” held at the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (IVR), Beijing, 2009 2010. 205 S., kt. ISBN 978-3-515-09723-9 Edward Schramm / Wibke Frey / Lorenz Kähler / Sabine Müller-Mall / Friederike Wapler (Hg.) Konflikte im Recht – Recht der Konflikte Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Tübingen und Göttingen 2010. 308 S., kt. ISBN 978-3-515-09729-1 Kristian Kühl (Hg.) Zur Kompetenz der Rechtsphilosophie in Rechtsfragen Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 24.–26. September 2008 in Tübingen 2011. 140 S., kt. ISBN 978-3-515-09816-8 Stephan Kirste / Anne van Aaken / Michael Anderheiden / Pasquale Policastro (Hg.)
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Interdisciplinary Research in Jurisprudence and Constitutionalism 2012. 267 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09941-7 Stephan Ast / Julia Hänni / Klaus Mathis / Benno Zabel (Hg.) Gleichheit und Universalität Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2010 in Halle (Saale) und im Februar 2011 in Luzern 2012. 315 S., kt. ISBN 978-3-515-10067-0 Bénédict Winiger / Matthias Mahlmann / Philippe Avramov / Peter Gailhofer (Hg.) Recht und Verantwortung / Droit et responsabilité Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 11.–12. Juni 2010, Universität Zürich / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 11–12 juin 2010, Université de Zurich 2012. 206 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10066-3 Thomas Bustamante / Oche Onazi (Hg.) Global Harmony and the Rule of Law Proceedings of the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009. Vol. 1 2012. 133 S., kt. ISBN 978-3-515-10081-6 Thomas Bustamante / Oche Onazi (Hg.) Human Rights, Language and Law Proceedings of the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009. Vol. 2 2012. 192 S., kt. ISBN 978-3-515-10082-3 Yasutomo Morigiwa / Hirohide Takikawa (Hg.) Judicial Minimalism – For and Against Proceedings of the 9th Kobe Lectures. Tokyo, Nagoya, and Kyoto, June 2008 2012. 99 S., kt. ISBN 978-3-515-10136-3 Thomas Bustamante / Carlos Bernal Pulido (Hg.) On the Philosophy of Precedent Proceedings of the 24th World Congress of
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the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Beijing, 2009 Vol. 3 2012. 144 S., kt. ISBN 978-3-515-10150-9 Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.) Zurechnung und Verantwortung Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September 2010 in Halle (Saale) 2012. 184 S., kt. ISBN 978-3-515-10180-6 Carsten Bäcker / Sascha Ziemann (Hg.) Junge Rechtsphilosophie 2012. 214 S., kt. ISBN 978-3-515-10268-1 Ulfrid Neumann / Klaus Günther / Lorenz Schulz (Hg.) Law, Science, Technology Plenary lectures presented at the 25th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy, Frankfurt am Main, 2011 2012. 173 S., kt. ISBN 978-3-515-10328-2 Winfried Brugger / Stephan Kirste (Hg.) Human Dignity as a Foundation of Law Proceedings of the Special Workshop held at the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Beijing, 2009 2013. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-10440-1 Philippe Avramov / Mike Bacher / Paolo Becchi / Bénédict Winiger (Hg.) Ethik und Recht in der Bioethik / Ethique et Droit en matière de Bioéthique Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 11.–12. Mai 2012, Universität Luzern / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 11–12 mai 2012, Université de Lucerne 2013. 226 S., kt. ISBN 978-3-515-10436-4 Tetsu Sakurai / Makoto Usami (Hg.) Human Rights and Global Justice The 10th Kobe Lectures, July 2011 2014. 167 S., kt. ISBN 978-3-515-10489-0
Zwei Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie werden in diesem Band dokumentiert: Die Beiträge der Münsteraner Tagung beleuchten die Befriedungsfunktion des Rechts. Sie untersuchen auf der Ebene der Normenbegründung den Zusammenhang von Recht und Frieden in Hegels Konzeption einer Entfaltung des freien Willens, in der rechtspositivistischen Position Kelsens, im Hinblick auf außerrechtliche Gerechtigkeitsentwürfe und aus konsequentialistischer Perspektive. Die Verbindungslinien zwischen Normenbegründung und Rechtsanwendung werden anhand der Debatten um Präventionsrecht und Recht im Krieg sowie durch Fallstudien zu Militärinterventionen gezogen.
Die Beiträge der Berliner Tagung befassen sich mit dem Zweck von Recht. Sie reichen von einer auf Hobbes basierenden Kritik an aktuellen empirisch-zweckmäßigen Rechtsbegründungen über eine Reformulierung der kantischen Rechtsbegründung für das moderne Völkerrecht bis hin zur Einordnung von Recht als sozialem Kräfteausgleich im Sinne Nietzsches. Zudem erörtern sie die rechtskulturelle und gesellschaftliche Bedingtheit des Zwecks von Recht, die Bedrohungen für ein begründetes Recht durch die Europäisierung und ein emanzipatives Potenzial des Rechts.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10806-5
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7 83 5 1 5 1 08065