Zurechnung und Verantwortung: Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September in Halle (Saale) 3515101802, 9783515101806

Speziell im politischen Raum wird oft gefordert, jemand solle für ein bestimmtes Ereignis die Verantwortung tragen, in a

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German Pages 184 [186] Year 2012

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
POLITISCHE VERANTWORTUNG UND RECHTLICHE ZURECHNUNG
WISSEN UM VERANTWORTUNG UND WAHRNEHMEN VON VERANTWORTUNG
WEIBLICHE UND MÄNNLICHE GESCHLECHTERROLLE IM KONTEXT VONS ELBSTSTÄNDIGKEIT, MÜNDIGKEIT UND VERANTWORTUNG
GESCHLECHTERROLLE UND FÜRSORGE
IM TOTEN WINKEL DER RECHTSPHILOSOPHIE? DER LIBERALISMUS UND DIE AUTONOMIE DER FRAU
THE CONSEQUENCES OF CHOICE
VERANTWORTUNG DER WISSENSCHAFTEN – RÜCKZUG AUFS OBJEKTIVE?
ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT – WIE KANN MAN KOLLEKTIVE STRAFRECHTLICH ZUR VERANTWORTUNG ZIEHEN?
VERANTWORTUNG IN RECHTLICH PLURALEN SOZIALEN RÄUMEN: EINE RECHTSETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVE
KULTUR UND SCHULD: NARRATIVE DER VERANTWORTUNG
ZUR HERVORBRINGUNG VON ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT IM PÄDAGOGISCHEN FELD
INFORMATIONEN ZU DEN AUTOREN
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Zurechnung und Verantwortung: Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September in Halle (Saale)
 3515101802, 9783515101806

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Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.)

Zurechnung und Verantwortung Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September 2010 in Halle (Saale)

ARSP Beiheft 134 Franz Steiner Verlag

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.) Zurechnung und Verantwortung

archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 134

Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.)

Zurechnung und Verantwortung Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22.–24. September 2010 in Halle (Saale)

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10180-6 Nomos Verlag: ISBN 978-3-8329-7889-1

In memoriam Winfried Brugger

VORWORT Der vorliegende Band enthält Vorträge der Tagung „Zurechnung und Verantwortung“, die unter der Ägide der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22. bis 24. September 2010 in Halle (Saale) veranstaltet wurde. Bei dem Programm konnte eine hallesche Besonderheit fruchtbar gemacht werden, die hier noch einmal angesprochen werden soll: Mitveranstalter waren neben dem Juristischen Bereich die Graduate School „Society and Culture in Motion“ und die Max-Planck-Fellow Group „Law, Organization, Science & Technology“ des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung, ebenfalls Halle. Dieser interdisziplinäre Zugriff auf das Thema ermöglichte eine breitere, um kulturelle, ethnologische und soziologische Perspektiven angereicherte Diskussion, als dies im rein rechtsphilosophischen Diskurs möglich gewesen wäre. Unser herzlicher Dank gilt an dieser Stelle den Referentinnen und Referenten, die ihre Beiträge für diesen Band eingereicht haben. Besonders zu Dank sind wir den zahlreichen Helferinnen und Helfern verpflichtet, die durch ihren selbstlosen Einsatz nicht nur für die reibungslose Durchführung der Tagung gesorgt, sondern auch eine besondere Atmosphäre, um nicht zu sagen den „halleschen Geist“ verbreitet haben, in dem sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr gut aufgehoben fühlen konnten. Stellvertretend für die vielen seien folgende Personen besonders genannt: Frau Dr. Schubert vom Dekanat der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät sowie Frau Langosch und Frau Heerdegen vom Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie. Unser Dank gilt ferner der Fritz-Thyssen-Stiftung, die diese Tagung mit einem großzügigen Beitrag gefördert hat, sowie den weiteren Institutionen für finanzielle Unterstützung, namentlich: Stiftung Rechtsstaat Sachsen-Anhalt, Roxin Rechtsanwälte, die Verlage Duncker & Humblot, Mohr Siebeck, Nomos, Peter Lang, die Fachbuchhandlung Lehmanns, die Saalesparkasse Halle und elsa Halle. Schließlich möchten wir dem „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ für die Gelegenheit danken, die Beiträge dieser Tagung als ARSP-Beiheft zu veröffentlichen. Am 13. November 2010 verstarb Winfried Brugger nach kurzer schwerer Krankheit. Er nahm an der Tagung in Halle als Vorsitzender der Deutschen Sektion der IVR teil. Zugleich war es sein letzter Auftritt bei einer derartigen Gelegenheit. Winfried Brugger hat die nicht ganz einfache Organisation der Tagung nach Kräften unterstützt und stand zu jeder Zeit mit Rat und Aufmunterung zur Seite. Seinem Andenken ist dieser Band gewidmet. Halle, im Mai 2012 Matthias Kaufmann, Joachim Renzikowski

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Stephan Gosepath Politische Verantwortung und rechtliche Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Georg Lohmann Wissen um Verantwortung und Wahrnehmen von Verantwortung . . . . . . . . . . 31 Anja Schmidt Weibliche und männliche Geschlechterrolle im Kontext von Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Elisabeth Holzleithner Geschlechterrolle und Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Friederike Wapler Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Hillel Steiner The Consequences of Choice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Armin Grunwald Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive? . . . . . . . . . . . . 109 Volker Haas Organisierte Unverantwortlichkeit – wie kann man Kollektive strafrechtlich zur Verantwortung ziehen? . . . . . . . . . 125 Franz von Benda-Beckmann Verantwortung in rechtlich pluralen sozialen Räumen: eine rechtsethnologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Julia Eckert Kultur und Schuld: Narrative der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Christiane Thompson Zur Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit im pädagogischen Feld . . . . . 169 Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

MATTHIAS KAUFMANN, JOACHIM RENZIKOWSKI, HALLE EINLEITUNG Der Begriff der „Verantwortung“ ist so vielfältig wie – vor allem im politischen Raum – konturenlos. So wird zwar oft gefordert, jemand solle für ein bestimmtes Ereignis die Verantwortung übernehmen – oder jemand bekennt sich von selbst ausdrücklich zu seiner Verantwortung –, ohne dass im mindesten klar wäre, welche Konsequenzen sich daran anschließen. Im Recht impliziert Verantwortung im Allgemeinen die Verpflichtung zur Gefahrenvorsorge im weitesten Sinne sowie bei der Verletzung dieser Pflicht Schadensersatz oder Strafe. Im letzten Fall wird üblicherweise der Terminus der „Zurechnung“ verwendet.1 Angesichts der beinahe inflationären Verwendung, die der Begriff der Verantwortung in den internationalen Debatten unterschiedlichen Inhalts einnimmt und die mit einer zunehmenden begrifflichen Unschärfe einhergeht, bietet sich prima facie die Lösung an, ihn auf den deutlich transparenteren und besser kontrollierbaren Begriff der juristischen Zurechnung zurückzuführen und die damit nicht erfassbaren „Sonderfälle“ einzeln zu bearbeiten. Insofern ist es auch von systematischem Interesse, dass die historische Entwicklung umgekehrt verlief, dass sich nämlich der Verantwortungsbegriff im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aus dem Begriff der rechtlichen und moralischen Zurechnung entwickelte. Dies lässt einen Differenzierungsbedarf vermuten, der durch den Zurechungsbegriff nicht abgedeckt wird. Diese Entwicklung geschah u. a. im Kontext der Federalist Papers und bei Benjamin Constant2 bezogen auf die Verantwortung des Politikers, gerade des demokratischen, der auch jenseits strafrechtlicher Zurechenbarkeit Rechenschaft für sein Tun ablegen und mögliche Konsequenzen tragen muss, dieses jedoch auch bereits in die Planung seiner Handlungen einzubeziehen hat. Versuche des Hegelschülers Francis Bradley, „responsibility“ und „liability to punishment“ wieder anzugleichen,3 hatten keine nachhaltige Wirkung. Wenn Max Weber in seinen berühmten Formulierungen über die Verantwortungsethik von der Bereitschaft des Politikers spricht, sich seine Handlungen zurechnen zu lassen, so beschränkt sich dies keineswegs auf den strafrechtlichen Bereich, sondern schließt politische und moralische Aspekte selbstverständlich ein. Es gab und gibt darüber hinaus von Seiten der politischen Kaste die unvermeidliche Rede von der „Verantwortung vor der Geschichte“. Im individualethischen Bereich bildet sich bei Sören Kierkegaard in der Annahme der je konkreten und kontingenten Individualität und der bewussten Selbstwahl die durchaus auch prospektive Übernahme der Verantwortung für das eigene Selbst und in diesem Sinne die Selbstverantwortung heraus.4 Im Anschluss an Kier1

2 3 4

Näher zu den verschiedenen Weisen der Zurechnung, ihrer rechtsdogmatischen Bedeutung und ihren philosophischen Grundlagen Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, 2004. Für zahlreiche Hinweise zu den historischen Bezügen des Begriffs der Verantwortung danken wir Alexander Aichele, Halle. Benjamin Constant, Principes de Politique, 1815, 671 ff. Francis Bradley, The Vulgar Notion of Responsibility in Connection with the Theories of FreeWill and Necessity, in: F. Bradley, Ethical Studies, 1876, 1–52 Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil II, 1988, 782 ff.

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Matthias Kaufmann, Joachim Renzikowski

kegaard und an Husserls Phänomenologie entwickelt sich im 20. Jahrhundert eine Tendenz, den Verantwortungsbegriff einerseits massiv auszuweiten, bis zur Verantwortung für die Welt, andererseits stark als Angelegenheit des Bewusstseins, als Bewusstseinszustand des Handelnden zu deuten. Beispielhaft ist hier Sartres „Das Sein und das Nichts“.5 Bei Hans Jonas wird „das pure Sein als solches und dann das beste Sein dieser Wesen“ zum Gegenstand der Verantwortung,6 bei Levinas ermöglicht allein die Verantwortung, „sich (zu) finden, indem man sich verliert“.7 In der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Begriffs Verantwortung gälte es also zum einen zu klären, an welchen Stellen der Begriff politischer Verantwortung einen erhellenden Beitrag zur Beschreibung und Beurteilung politischen Handelns liefert und wann er eher geeignet ist, diese zu verunklaren. Dieser Frage geht Stefan Gosepath nach, der verschiedene Formen der Verantwortungszuschreibung analysiert. Zum anderen stellt sich bei den diversen bewusstseinsphilosophischen Zugangsweisen die Frage, inwieweit sie sich dafür eignen, die beobachtbaren Formen verantwortungsvollen und verantwortungslosen Handelns, z. B. in der Politik, der Wirtschaft, der Finanzwelt, der Wissenschaft zu untersuchen. Gerade die existentialphilosophische, existenzialistische und phänomenologische Orientierung an der je konkreten Situation des Individuums zeigt die Nähe der Verantwortungsproblematik zu dem bei Bernard Williams, Thomas Nagel und anderen thematisierten „moral luck“ auf:8 Auch bei gleicher moralischer Haltung macht es hinsichtlich der Verantwortung einen Unterschied, ob man in Situationen gerät, in denen man etwa umstrittene Entscheidungen zu treffen hat oder in denen eigenes Fehlverhalten nur durch Zufall keine schlimmen Folgen hat, so dass es z. B. beim Mordversuch oder – praktisch bedeutsamer – bei der folgenlosen Fahrlässigkeit (z. B. Geschwindigkeitsüberschreitung, rücksichtsloses Überholen) bleibt. Georg Lohmann behandelt die Rolle des Wissens bei der Wahrnehmung von Verantwortung und zeigt die Bedeutung rechtlicher Setzungen auf. Da das Recht aber nur äußeres Verhalten erzwingen könne, aber gleichzeitig auf bestimmte innere Einstellungen angewiesen bleibe, ergebe sich eine Lücke, die durch „Tugendersatzprogramme“ geschlossen werden müsse. Die Differenz zwischen Wissen um und Wahrnehmen von Verantwortung sei besonders groß etwa bei Fragen unübersichtlichen, kollektiven Handelns oder bei Fragen der Risiko-Verantwortung. Gerade in diesen Bereichen sei die Entwicklung einer „Meta-Tugend“ der Verantwortlichkeit wichtig, aber am Ende dem Subjekt selbst überantwortet. Wir wissen, dass das Bewusstsein von Verantwortung drastisch verschieden sein kann. Junge Menschen etwa, denen einige Zeit die Selbsteinschätzung vermittelt wurde, die „Weltelite“ zu sein9 werden vermutlich eine spezifische Auffassung der Relation zwischen individueller Gewinnmaximierung und gemeinschaftlicher, evtl. globaler Verantwortung entwickeln. Religiöse Gruppen hingegen führen nicht selten globale oder regionale Katastrophen auf zu geringe Intensität des Glaubens bei sich oder anderen zurück und schreiben in entsprechender Weise die Verantwortung zu; 5 6 7 8 9

Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 1991, 950 ff. Hans Jonas, Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979, 190 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 1998, 264 f. S. etwa Arthur Ripstein, Equality, Responsibility, and the Law, 1999; Larry Alexander / Kimberley Kessler Ferzan, Crime and Culpability: A Theory of Criminal Law, 2009 Vgl. die Werbung von McKinsey: „Die Frage ist nicht, ob Sie die Welt verändern, sondern wie.“

Einleitung

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häufig wird ferner als „typisch weiblich“ interpretiertes Rollenverhalten auf das besonders ausgeprägte Bewusstsein zurückgeführt, Verantwortung für die eigenen Kinder zu tragen – eine Zuschreibung, die wiederum einerseits etwa von Judith Butler und anderen als voreilige Perpetuierung patriarchalisch zugewiesener Identitäten kritisiert wurde, andererseits von Beate Kricheldorf mit der Behauptung konfrontiert wird, es sei bis in den Feminismus hinein weibliche Strategie, Verantwortung abzulehnen. Somit lässt sich fragen, inwieweit offenkundig vorhandene Differenzen des Verantwortungsbewusstseins durchgängig kultur- oder geschlechtsabhängig sind – oder ob derartige Kategorisierungen Probleme eher verdecken als erhellen – und ob dies im positiven Fall rechtliche Berücksichtigung ermöglicht oder erfordert. In diesem Sinn plädiert Anja Schmidt für eine Kritik der Geschlechterrollen und erhofft sich daraus Impulse für ein geschlechtergerechtes Recht. Wie Elisabeth Holzleithner am Thema Fürsorge aufzeigt, haben sich hier die aktuellen Standpunkte der CareEthik inzwischen von Geschlechterstereotypen gelöst. Gleichwohl bleibt das Problem der Asymmetrie der Fürsorgebeziehungen eine besondere Herausforderung für die Integration von Gerechtigkeit. Gerade in Nahbeziehungen herrsche noch ein Mangel an Autonomie der Fürsorgeleistenden; eine gerechte Verteilung werde weiter dadurch erschwert, dass Fürsorge aus Liebe, Loyalität oder sozialem Engagement wegen ihrer Bedingungslosigkeit gerade nicht verrechenbar sei. Von feministischer Seite – s. dazu den Beitrag von Friederike Wapler – wird zudem kritisiert, dass die liberalen Theorien, die Freiheit und Autonomie zum Ausgangspunkt nehmen, immer noch den klassischen männlichen Lebensentwurf im Auge haben und damit für eine einseitige Verteilung der Verantwortlichkeit nach männlich dominierten Rollenbildern sorgen und so ihren universalen Anspruch verfehlen. Soweit dies möglich ist, versucht man mit den Mitteln des Rechts, möglicherweise mangelndes Verantwortungsbewusstsein dadurch zu stärken, dass man Fehlverhalten riskant macht. Ein Beispiel dafür ist etwa die Ausdehnung des Strafrechts in das Vorfeld möglicher Verletzungsdelikte durch sog. „abstrakte Gefährdungsdelikte“. Dabei taucht die Frage auf, inwieweit präventive Gefährdungsverbote legitimiert werden können und ob und inwieweit hier die Absicherung durch – strafrechtliche – Sanktionen gerechtfertigt ist. Immer weniger lässt sich allerdings die Verantwortlichkeit einzelner Persönlichkeiten für positive oder negative Entwicklungen eindeutig feststellen. In einer Welt der Organisationen, wo Verantwortung in einer Weise aufgeteilt wird, dass nur kleine Zwischenschritte individuell zugeschrieben werden können und nur ausnahmsweise ein Individuum das Gesamtergebnis zu verantworten hat, erscheint der Fokus auf individuelle Verantwortung problematisch oder gar irreführend. Aufgrund dieser Tendenz, durch komplexe Aufgabenverteilungen, oder auch durch Delegation unpopulärer Teilaspekte10 eine individuelle strafrechtliche oder auch „nur“ moralische Zurechnung zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen, gewinnt der Gedanke gemeinsamer Verantwortung an Relevanz, ist indessen gleichfalls rechtlich nur schwer zu fassen, eher sperriger Natur. Vergleichbar schwierig könnte sich der Versuch anlassen, eine adäquate juridische Realisierung für Hillel Steiners Vorschlag einer angemessenen Korrelierung zwischen persönlicher Verantwortung und Verteilungsgerechtigkeit in globalem Maßstab ins Werk zu setzen. Steiner geht es darum, jenseits von Ideologien, die man als egalitär 10

Vgl. Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, 2002, 77 ff.: „Loopholes in Morality“

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einerseits, neoliberal andererseits bezeichnen könnte – er bevorzugt die Benennung right-libertarianism – eine Konzeption von Selbstverantwortlichkeit zu entwickeln, die kohärent mit den anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien ist. Eine besonders schwer zu fassende Veränderung im Bereich der Zuschreibung von Verantwortung ergibt sich durch das, was man gemeinhin als Verwissenschaftlichung von Gesellschaft bezeichnet. Wenn im Feld der Politik Entscheidungen zunehmend durch Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse gefällt werden, dann verschiebt sich die Rechenschaft gegenüber dem Wähler auf die Rechenschaft gegenüber der Wissenschaft, diese hingegen ist nicht demokratisch legitimiert, sondern spricht im Namen der Dinge bzw. der Natur. Es entsteht hier eine prekäre Demokratielücke und damit Verantwortungslücke. Wer ist dafür verantwortlich, dass die laufende Umstellung auf Biotreibstoff sich in 50 Jahren als fataler Irrtum erweisen könnte? Wer ist dafür verantwortlich, wenn sich herausstellen sollte, dass die Einführung gentechnisch konstruierter Lebensmittel zu neuartigen schweren Krankheiten führt? Armin Grunwald betrachtet die Verantwortungszuschreibung als eine gesellschaftliche Aufgabe, die nicht technokratisch an Expertenzirkel delegiert werden darf. Schon gar nicht könne sich die Wissenschaft hinter einer angeblichen „Wertneutralität“ verstecken. Die Verantwortung für zukünftige Folgen könne allein schon aufgrund der Pluralität der verschiedenen Positionen – auch innerhalb der Wissenschaft selbst – nur im demokratischen Diskurs gelöst werden. Hinzu kommt der Umstand, dass der Rechtpluralismus längst soziale Realität ist und unter Umständen auch gleichzeitig Gültigkeit beanspruchende alternative rechtliche Bezugsrahmen der Verantwortung angeboten werden, ein Problem, das sich dann verschärft, wenn – z. B. in hierarchischen ökonomischen Strukturen – eine Verantwortungskette klar und nachvollziehbar erscheint, während die andere kollektiver Natur ist und hinter nebulösen Termini wie der Rede von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung verschwindet. Insofern ist die Arbeit an Kriterien der Transparenz und Glaubwürdigkeit von Bedeutung, wenn internationale Konzerne mehr oder minder große und mehr oder minder „aufrichtige“ Bemühungen anstellen, ihre „corporate social responsiblity“ wahrzunehmen. Es gilt also zu fragen, wie man Kollektive zur Rechenschaft ziehen kann. Weltweit operierende Konzerne sind hier ein wichtiges Beispiel. Volker Haas diskutiert in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund des Schuldprinzips die Frage, ob und inwieweit man etwa Unternehmen, aus deren Bereich heraus Straftaten begangen werden, dafür strafrechtlich zur Verantwortung ziehen kann. Er schlägt vor, darauf abzustellen, ob sich ein Handeln noch im Rahmen des Gesellschaftszwecks bewege, und betont, dass wer die Vorteile einer Vertretung trage, auch deren Nachteile erdulden müsse. Eine enorm komplizierte Situation entsteht seit einiger Zeit im internationalen Bereich, wo sich unter der Überschrift einer „responsibility to protect“ eine Rechtfertigungskultur für humanitäre Interventionen herausgebildet hat, die von anderer Seite als unverantwortliche Bevormundung und Gefährdung gegeißelt wird. Es bedarf einiger Anstrengung um eine Eskalation dieser Spannungen zu vermeiden, wenn man ein Völkerstrafrecht oder jedenfalls ein internationales Strafrecht einzuführen versucht. Allzu leicht macht man andernfalls Massenmörder und Diktatoren zu Helden der „resistance“ gegen angebliche Rekolonialisierungsbestrebungen. Im Kontext von staatlicher Devolution (besonders in Ländern des Globalen Südens), von Globalisierung von Märkten, von transnational operierenden Organi-

Einleitung

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sationen (privat, para-staatlich, zivilgesellschaftlich) sind Gemengelagen mit komplexen Zurechnungsketten und Verantwortlichkeitsverschiebungen entstanden, die nationalstaatliche Regelung und Souveränität unterlaufen. Diese Phänomene, die heute oft als „global legal pluralism“ zusammengefasst werden, sind freilich keineswegs völlig neu. Dabei wird nämlich gern übersehen, dass sich vor Ort bereits plurale rechtliche Konstellationen herausgebildet hatten, in denen lokale ethnische sowie religiös motivierte Rechtsvorstellungen und ihre Regelungen der Verantwortung miteinander konkurrierten, bevor die Kolonialherren kamen und ihre Normvorstellungen durchsetzten. Selbst wenn die ursprünglichen Rechtsvorstellungen im Laufe der Zeit immer mehr durch staatliches Recht überlagert wurden und sich unter diesem Einfluss veränderten, so sind sie doch keineswegs völlig verschwunden. Gerade die aktuelle Revitalisierung von religiösen und sogenannten Gewohnheitsrechten und die damit verbundenen Spannungen in vielen Regionen der Welt weisen vielmehr darauf hin, dass es noch kein „Ende der Rechtsgeschichte“ gibt. Konkretes Anschauungsmaterial aus eigenen Forschungen vor allem in Westsumatra und Malawi vermittelt der Beitrag von Franz von Benda-Beckmann. Beispielsweise folgten die Minangkabau in West Sumatra in einer stark matriarchalisch geprägten Gesellschaft den Regeln des „Adat“, die neben den staatlichen Gesetzen bestünden. In Malawi werde die Praxis der Strafgerichte nicht nur von den Konzepten von Schuld und Kausalität geleitet, sondern ebenso durch die Vorstellungen von Geistern und Hexen („Spirits“, „Witchcraft“) geprägt, wenn etwa eine Verurteilung auf das „Belege mit Zaubern“ gegründet wird. Freilich muss man zunächst über einen allgemein konsentierten Begriff des Rechts – im Gegensatz etwa zur Moral – verfügen, bevor man das Zusammenspiel konkurrierender Ordnungen untersuchen kann. All dies gehört zu dem pluralistischen Kontext, in dem auch transnationale rechtliche Felder und Akteure operieren, und in dem durch staatliche De- und Reregulierung neue Gemengelagen entstehen, der aber andererseits auch den Erfolg oder Misserfolg solcher Entwicklungen mit beeinflusst. Hier ist eine phänomenologische Bestandsaufnahmen angesagt und eine erste analytische Durchdringung möglich. So beschreibt Julia Eckert am Beispiel des Konflikts zwischen hindu-nationalistischen Strömungen und Muslimen in Nordindien, wie unterschiedliche Kulturen von Verantwortungszuschreibung miteinander kollidieren können – mit problematischen sozialen Konsequenzen. Diese Fragen, die seit der „Globalisierung“ und im Kontext des Postkolonialismus verstärkt diskutiert werden, machen deutlich, dass „Rechtspluralismus“ ein uraltes Phänomen ist, von dem man zeitweilig glaubte, es aus dem „modernen“ Recht eliminieren zu können. Bei dieser Analyse taucht die methodische Frage auf, ob der häufig gepflogene Rückgriff auf von Foucault inspirierte Machtanalysen noch Platz für einen aussagekräftigen Begriff von Verantwortung lässt, und falls nicht, inwieweit damit Substanzielles für unsere Bemühung um Gerechtigkeit verloren geht und ob sich eventuell Abhilfe schaffen lässt. Damit befasst sich der Beitrag von Christiane Thompson, die einen weiteren Akzent in der pädagogischen Vermittlung von Verantwortungsfähigkeit setzt.

STEFAN GOSEPATH, FRANKFURT/MAIN POLITISCHE VERANTWORTUNG 1

UND RECHTLICHE

ZURECHNUNG

EINLEITUNG

Verantwortung ist ein in den letzten Jahrzehnten in die Mode gekommener, schillernder Begriff. Beide Aspekte geben sowohl aus der Perspektive des Alltagsverstandes als auch der Philosophie Anlass zur Nachfrage, was genau mit Verantwortung gemeint ist und was denn die gegenwärtige Attraktivität dieses Begriffs ausmacht. Nicht nur wer hegelianisch gesinnt ist, mag in der Konjunktur von Begriffen gelegentlich Schlüsselbegriffe erkennen, in denen sich der objektive Geist einer Gesellschaft in höchster Verdichtung bündelt. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Begriff der Verantwortung diese Rolle gegenwärtig innehat.1 Der Begriff der Verantwortung findet derzeit vor allem dann Anwendung, wenn von Regeln und Institutionen die Rede ist, die Verantwortlichkeiten zwischen Staat und Gesellschaft sowie unter den Bürgern festlegen und organisieren. Diese Regeln und Institutionen bedürfen einer Anpassung an neue Gegebenheiten und sie werden unter dem Topos Verantwortung gegenwärtig auch entsprechend gesellschaftlich und politisch neu justiert. Mit dem Begriff der Verantwortung wird aktuell also auf tiefgreifende Veränderungen im Selbstverständnis und der objektiven Lage moderner Gesellschaften reagiert. Man denke etwa an folgende Beispiele als Belege für diese Vermutung: a) Weltweite Umweltprobleme (wie Klimaerwärmung, erhöhte CO2-Emissionen, Verschmutzung, saurer Regen, Konflikte um Wasser etc.) bedrohen zukünftiges menschliches Leben auf der Erde. Die unvorhersehbaren und daher nur schwer steuerbaren Gefahren, die mit dem beschleunigten technischen Wandel, gesteigerter ökonomischer Dynamik und immer extensiveren wie intensiveren Eingriffen in Natur und Umwelt einhergehen, haben historisch zuerst die Frage nach der Verantwortung zum öffentlichen Thema gemacht. In den einschlägigen Debatten geht es vor allem um die Frage, wer in welcher Weise für die Steuerung von Risiken verantwortlich ist und wem in welcher Weise Schäden zugerechnet werden können. b) Mit der Globalisierung und dem damit einhergehenden immer akuteren Problem der Steuerbarkeit hochgradig selbstorganisierter Prozesse verändern sich auch die gängigen Konzeptionen staatlicher Verantwortung. Durch die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung sozialer Funktionsbereiche ist der Staat in eine ordnungspolitische Defensive geraten, die eine Neubewertung seiner Aufgaben und Fähigkeiten nötig macht. An die Stelle der traditionellen Vorstellung, dass die Verantwortung des Staates für seine Bürger im Sinn einer umfassenden Daseinsvorsorge und Freiheitssicherung das tragende Strukturprinzip des Rechtsstaates bildet, ist inzwischen weitgehend die Auffassung getreten, dass der Staat nur mehr eine Regulierungs- und Gewährleistungsverantwor1

Vgl. Klaus Günther, Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft, in: Das Interesse der Vernunft, hg. von S. Müller-Doohm, 2000, 465–485, auch Kurt Bayertz, Eine kurze Geschichte der Verantwortung, in: ders., Verantwortung: Prinzip oder Problem?, 1995, 3–71

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Stefan Gosepath

tung übernehmen solle. Danach bestünden die Hauptaufgaben des Staates darin, nur die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen für die Selbstregulierung der sozialen Funktionssysteme zur Verfügung zu stellen und Zugangsmöglichkeiten zu Versorgungsdiensten zu gewährleisten. c) In der Folge dieser allgemeinen Umdeutung kam es europaweit zu einer Reform der bekannten Sozialstaatsmodelle, was durch den globalen Standortwettbewerb unterstützt wurde. In dieser Reformdebatte spielt das fragwürdige Konzept der – von staatlichen Autoritäten Schwächeren aufgezwungenen, also heteronom verfügten – „Eigenverantwortung“ eine wichtige Rolle. Nach diesem Konzept soll jeder und jede Einzelne, statt von staatlich-bürokratischer Daseinsvorsorge abhängig zu sein, selbst für seine/ihre Zukunft sorgen, also Eigenverantwortung für die Sicherung der eigenen Lebensbedingungen übernehmen. d) Zugleich zeitigt der ökonomische Liberalisierungsprozess krisenhafte Entwicklungen der weltweiten Finanzmärkte, die sowohl unsere persönliche Finanzplanung als auch die nationalen Volkswirtschaften unsicher machen. Diese Entwicklungen können nur zum Teil identifizierbaren Akteuren zugeschrieben werden und sie können auch nur unzureichend durch den auf einmal wieder mangels Alternative aufgeforderten Akteur Staat gesteuert und beherrscht werden. In all diesen Beispielen und vielen anderen, die man noch nennen könnte, zeigt sich eine gemeinsame Schwierigkeit. Hier muss – zum Teil aus funktionalen, zum Teil aus moralischen Gründen – auf Problemlagen reagiert werden, bei denen zum einen die kausalen Verursacher nicht immer eindeutig oder nur unvollständig ausgemacht werden können, und bei denen zum anderen die für die Beseitigung des Problems Zuständigen nicht klar bestimmbar sind. Man pflegt in Problemfällen mit einem empörten Ton zu sagen: „Dagegen muss etwas getan werden! Hier muss man handeln!“ Damit aber diese Forderung eingelöst werden könnte, müsste angegeben werden können, wer für die Verbesserung oder Beseitigung von Problemlagen verantwortlich ist – es bleibt gegenwärtig jedoch leider gerade oft unklar, wer das sein soll. Das Problem der Verantwortungszuteilung wiegt also unter den Bedingungen der durch Arbeitsteilung, Technisierung, Systemintegration und Marktliberalisierung geprägten modernen Gesellschaften zunehmend schwerer. Entsprechend notwendig wird eine gesellschaftliche Bearbeitung dieses Problems im Sinne einer sozialen Organisation moralischer Verantwortung. Auf diesen Regelungsbedarf reagiert die Gesellschaft mit der gegenwärtigen Konjunktur des Terminus „Verantwortung“.2 Damit greift sie zugleich auf einen alten Begriff zurück, der wohl rechtlichen Ursprungs ist, weil begrifflich eng an die Praxis der (rechtlichen) Verteidigung geknüpft,3 dann in politischen Kontexten auftauchte und sich erst später zum moralischen Begriff entwickelte, der im engeren Sinn mit dem der moralischen Pflicht oder Verpflichtung korrespondiert. Wenn aber Pflichten und Verpflichtungen in bestimmten Situationen – wie unter den gegenwärtigen Bedingungen globaler Interdependenz – nicht eindeutig zu2 3

Vgl. Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten, 2003 Vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Leipzig 1747, Band 47, Spalte 96. Zur Geschichte vgl. Bayertz (Fn. 1); Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, 1933

Politische Verantwortung und rechtliche Zurechnung

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geordnet werden können, zugleich jedoch ein sozialer Bedarf danach besteht, „Verantwortung“ im Sinne einer Zuständigkeit für Problemlösungen oder -beseitigung zuzuschreiben, dann bietet sich als Reaktion auf diesen Befund eine bestimmte Verwendung des Begriffs Verantwortung an, die mehr umfasst als den der Pflicht. Mittels eines solchen erweiterten Begriffs der Verantwortung ließe sich darüber reflektieren, wie zwischen dem gegenwärtig faktisch nahezu uneinlösbaren Anspruch auf moralische Zurechenbarkeit einerseits und dem gesellschaftlichen Bedarf nach einer systematischen Verteilung von Zuständigkeit(en) (für das Beseitigen von Problemlagen) andererseits vermittelt werden kann. Um also anders gesagt zu zeigen, wie die notwendige soziale Organisation von Verantwortung moralisch plausibel gelingen kann, werde ich im Folgenden vier Arten der Verantwortung vorstellen.4 Am Anfang dieser Übersicht steht der eindeutige, enge moralisch-kausale Begriff der Verantwortung, demzufolge derjenige für die Bewältigung eines Problems zuständig ist, dem das Problem ursächlich zugeschrieben oder zugerechnet werden kann (kausale Zurechenbarkeit und moralische Zuständigkeit fallen hier also in eins). Dieser Verantwortungsbegriff wird sodann schrittweise im Durchgang durch drei weitere Arten oder Konzeptionen von Verantwortung, nämlich die strukturelle Verantwortung, die Rollenverantwortung und die Fähigkeitsverantwortung erweitert. Damit diese Erweiterung des Verantwortungsbegriffs als nicht nur systematisch geboten, sondern auch moralisch zulässig gerechtfertigt werden kann, gilt es, bei jeder der ergänzenden Konzeptionen deren moralische Legitimität auszumachen. Ziel ist es schließlich, durch die gerechtfertigte Kombination dieser vier Verantwortungsarten ein Verantwortlichkeitssystem zu begründen, in dem moralische Verantwortung nicht nur effizient, sondern auch gerecht verteilt werden kann. Die Herausforderung besteht im Folgenden zusammengefasst also darin, einen oder mehrere Gründe mit genügend moralischem Gewicht dafür anzugeben, warum jemand in dem erweiterten Sinn aller vier Arten verantwortlich gemacht werden darf. 2

MORALISCH-KAUSALE VERANTWORTUNG

Mit dem Begriff der Verantwortung werden im moralischen Diskurs Kriterien bereitgestellt, mit deren Hilfe bestimmte Handlungsfolgen bestimmten Handlungssubjekten zugerechnet werden können. In der paradigmatischen Grundbedeutung bezeichnet „Verantwortung“ dabei die Möglichkeit, einem Menschen die Folgen seines Handelns vorzuhalten, ihn also für diese Folgen „verantwortlich zu machen“, und die daraus für diesen Menschen erwachsende Nötigung, diese Vorhaltungen zu akzeptieren oder sich gegen sie zu verteidigen.5

4

5

Vgl. H. L. A. Harts einflussreiche Unterscheidung von vier Arten von Verantwortung in: H. L. A Hart, PostScript: Responsibility and Retribution, in: ders., Punishment and Responsibility, 1968, 211- 230 Der deutsche Begriff „Verantwortung“ verweist – ebenso wie die analogen Begriffe in anderen Sprachen – unverkennbar auf die Praxis des „Für-etwas-Rede-und-Antwort-Stehens“. „Sich verantworten“ heißt soviel wie „sich rechtfertigen“. Dieses sprachliche Indiz verweist auf die

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Verantwortung hat dabei eine wesentliche Voraussetzung: die betreffende Person muss überhaupt zurechnungs- bzw. verantwortungsfähig sein. Zurechnungsfähigkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils üblicherweise unterstellt, sofern die handelnde Person aus eigenem Antrieb freiwillig und bewusst (also vor allem ihre Situation und die Handlungsfolgen überschauend) handeln kann. Verantwortungszuschreibung setzt damit im allgemeinen Handlungs- und Willensfreiheit voraus. Aufgrund ihrer Fähigkeit zur Verantwortung wird die Person zum Rechtssubjekt bzw. moralischen Subjekt, das für ihr Handeln und dessen Folgen einzustehen hat und im Bereich des Rechts Strafen oder Belohnungen, des Sozialen Lob oder Tadel, moralisch gesehen aber Achtung oder Verachtung verdient. Damit besteht ein enger Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung, der nur von wenigen Autoren bestritten wird. Kontroverser ist hingegen, wie dieser Zusammenhang genau zu interpretieren ist. Soviel sollte unstrittig sein: Zurechnungsfähigkeit impliziert nicht, dass der Mensch ein Wesen ist, das von jeglicher äußeren oder inneren Determination frei wäre. Im Einzelfall können vielmehr spezifische Ursachen teilweise oder vollständig von Verantwortung entlasten, z. B. Zwang, Nötigung, Irrtum, Geisteskrankheit – auch wenn die Grenze zwischen Verantwortlichkeit und Nichtverantwortlichkeit dabei oft schwierig zu ziehen ist. Strittig ist hingegen (zwischen den Positionen des Kompatibilismus und des Inkompatibilismus), ob und in welchem Maße sich die unterstellte Zurechnungsfähigkeit und Willensfreiheit überhaupt mit dem vor allem von naturwissenschaftlicher Seite behaupteten grundsätzlichen Determinismus menschlichen Handels verträgt. – Diese Debatte umgehend, wende ich mich wieder der Darstellung des paradigmatischen Falls von Handlungsverantwortung zu. Verantwortung umfasst eine deskriptive Dimension, welche die kausale Einwirkung eines Subjekts auf ein Objekt im Rahmen seiner Handlung betrifft, und eine normative Dimension, welche die Bewertungskriterien für das Handeln und die Folgen bereitstellt. Der Begriff der Verantwortung bezeichnet damit eine vierstellige Relation:6 (a.) Jemand (ein oder mehrere individuelle oder kollektive Verantwortungssubjekte oder -träger7) – ist (b.) für etwas (eine Sache, Handlung, Handlungsfolge, Situation, Aufgabe etc.) oder für jemanden (eine Person) (c.) gegenüber einer oder mehreren Personen oder Institutionen (einer Sanktions- oder Urteils-Instanz) (d.) in Bezug auf ein normatives Kriterium im Rahmen eines Verantwortungs- und Handlungsbereiches verantwortlich.8

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grundlegendste allgemeine moralische Pflicht, sich anderen gegenüber in den jeweils relevanten Handlungskontexten zu rechtfertigen. Vgl. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 1994, 68. Für eine ausführliche Diskussionen und andere Versionen der Relata der Verantwortung s. Eva Buddeberg, Verantwortung im Diskurs, 2011, Kap. I.1., und Valentin Beck, Globale Relationen der Verantwortung, unveröffentlichte Dissertation, Kap. II. Auch wenn es darüber eine lange und breite Diskussion in der einschlägigen philosophischen Debatte gibt, kann man meines Erachtens doch davon ausgehen, ohne dass ich das hier zeigen könnte, dass handlungsfähige Kollektive, wenn sie auf eine bestimmte Weise organisiert sind, so dass sie die genannten Bedingungen erfüllen, Verantwortung im moralisch-kausalen Sinne tragen können. Kollektive, die über ein Entscheidungsfindungsverfahren verfügen, erfüllen als Kollektiv die Kriterien für moralische Verantwortung, wie wir sie auch bei Individuen anwenden. Vgl. Margret Gilbert, The Idea of Collective Guilt in: dies., Sociality and Responsibility, 2000; Peter A. French, Die Korporation als moralische Person, in: Wirtschaft und Ethik, hg. von H. Lenk / M. Maring, 1992, 317–328; ders., Collective and Corporate Responsibility, 1984. Vgl. Hans Lenk / Matthias Maring, Deskriptive und normative Zuschreibung von Verantwor-

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Damit eine individuelle Verantwortung im Sinne dieser Definition zugeschrieben werden kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, deren Zusammenhang und Schlussfolgerungen im Kontext der Moral sich wie folgt wiedergeben lassen:9 (1) Wenn ein Individuum bewusst handelt, (2) um die Wirkung und die Bedeutung der betreffenden Handlung rationalerweise wissen könnte und (3) freiwillig handelt, d. h. auch anders hätte handeln können, (4) dann ist das Individuum für sein Handeln verantwortlich. [(1) & (2) & (3) sind Bedingungen für (4).] (5) Ist die Handlung entweder gut (schlecht) oder richtig (falsch) und könnte dem Handelnden dies rationalerweise bewusst sein (2), (6) dann sollte das Individuum die Handlung (nicht) ausführen. [(4) ) & (2) & (5) sind Bedingungen für (6).] (7) Ist die Gültigkeit von (6) dem Individuum (als einer normal vernünftigen Person) zum Zeitpunkt der Handlung zugänglich, (8) dann verdient das Individuum Lob oder Tadel. [(6) & (7) sind Bedingungen für (8).] Man unterscheidet dabei zwischen prospektiver und retrospektiver Verantwortung, die eng zusammenhängen. Eine Person kann (aufgrund zuschreibbarer Taten) nur dann retrospektiv zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie für die relevanten Handlungen generell auch prospektiv (also bevor sie ausgeführt werden) verantwortlich ist. Man trägt also zunächst schon prospektiv Verantwortung, handelt dann verantwortlich (oder unverantwortlich) und wird daraufhin retrospektiv zur Verantwortung gezogen. Diese Art der moralisch-kausalen Verantwortung versteht Verantwortung als eine normative Relation zwischen dem Handelnden und dem Ergebnis seiner Handlung. Eine Person ist verantwortlich für das Ergebnis ihrer Handlung oder Unterlassung, weil sie es selbst war, die das Ergebnis unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht hat,10 und deshalb für moralisch zuständig erachtet wird, mögliche negative Folgen zu beheben. Werden dabei der rechenschaftspflichtigen Person negativ bewertete Handlungsfolgen zugeschrieben, so gilt sie als schuldig. Dies führt schließlich in der Regel zur Auferlegung von Sanktionen durch die moralische Instanz. Soweit die paradigmatische Kernbedeutung. Daneben gibt es weitere Arten von Verantwortlichkeiten, bei denen die Bedingung der Schuld schwächer sein oder ganz entfallen kann. Diese Verantwortungsarten gilt es deshalb genauer zu verstehen.

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tung, in: H. Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, 1992, 76–100, hier: 81 f. Dies ist meine Modifikation der Analyse von Virginia Held, Can a Random Collection of Individuals Be Morally Responsible?, in: Collective Responsibility, hg. von L. May / S. Hoffman, 1991, 89–100, hier: 92 Dabei gelten je nach Version noch weitere zusätzliche Bedingungen wie Kontrolle, Absichtlichkeit, Vorhersehbarkeit oder alternative Handlungsoptionen.

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STRUKTURELLE VERANTWORTUNG

Eine zweite Art von Verantwortung schreibt Verantwortung einem Handeln in dessen institutionellem Setting zu.11 Die Grundidee ist folgende: Da Handelnden in einem System oder strukturellen Rahmen agieren, sind sie oft für die Ergebnisse ihres Tun und Unterlassens insofern nicht kausal voll und allein verantwortlich, als es primär andere, aus ihrer Perspektive äußere, strukturelle, systemische Einflüsse sind, die das Ergebnis mit verursachen. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Schulleistungen einer Schülerin hängen sicher von ihrem individuellen Einsatz, Lernbereitschaft, Fleiß, Intelligenz usw. ab, aber genau so sicher auch von dem ihr gebotenen Schul- und Erziehungssystem, das den Rahmen für die Entwicklung ihrer individuellen Fähigkeiten abgibt. Man sieht daran leicht, warum persönliche moralisch-kausale Verantwortung alleine nicht ausreicht, um dem Fall angemessen zu beschreiben. Es bedarf dazu zusätzlich einer Konzeption der Verantwortung, das die strukturellen Rahmenbedingungen des individuellen Handelns mit einbezieht. Diese Konzeption schließt die persönliche moralisch-kausale Verantwortung für das eigene Handeln innerhalb des Systemrahmens keineswegs aus, es berücksichtigt aber zusätzlich, dass einem Individuum, selbst wenn ihm zwar keine moralisch-kausale Verantwortung im Sinne von (2) zugeschrieben werden können sollte, ihm doch sehr wohl eine strukturelle Mitverantwortung für die Hintergrundstruktur selber und gegebenenfalls deren negative Effekte auf sein Handeln zugeschrieben werden kann. Zur Berücksichtigung der moralisch relevanten Umstände der Situation gehört also auch die Berücksichtigung der strukturellen Rahmenbedingungen. Solche Strukturen entstehen als Resultate entweder von gezielten oder von unkoordinierten, sich oft wechselseitig beeinflussenden Interaktionen von Individuen mit oft nicht-intendierten Effekten, die den zukünftigen Handlungsspielraum und die Hintergrundbedingungen aller Beteiligten im System vorstrukturieren. Man denke beispielsweise nur daran, wie sehr Kleidermoden unser Leben prägen – und wie sehr wir doch dabei alle an der Entstehung solcher Moden selber (womöglich unbewusst und unfreiwillig) teilhaben. – Auch wenn man für die Ergebnisse der Struktur persönlich nicht kausal-moralisch verantwortlich ist und diese sogar bedauern mag, so tragen doch alle an dem System Beteiligten in einem weiteren, nämlich strukturellen Sinn (Mit-)Verantwortung für die Ergebnisse dieses Systems. Sofern dieser strukturelle Rahmen unseres Handelns moralisch verwerflich ist, sind alle am System Beteiligten moralisch verpflichtet, dieses zu ändern. In solchen Fällen sind für die Beseitigung der Problemlagen in erster Linie diejenigen verantwortlich, die auch für das Zustandekommen, Aufrechterhalten und Ausnutzen solcher Verhältnisse verantwortlich sind. Andernfalls verletzten sie die negative Pflicht zur Nicht-Schädigung. Aus dieser Erkenntnis resultiert die unbestimmte positive Pflicht zur Veränderung des Systems. Der moralische Handlungsgrund ist in diesen 11

Das darauf aufbauende Modell der Verantwortung, das insbesondere von solchen Autoren wie Thomas Pogge und Iris Marion Young vertreten wird, versteht sich nicht als Alternative, sondern Ergänzung zu dem ersten Modell moralisch-kausaler Verantwortung. Vgl. Iris Marion Young, Responsibility and Global Justice: A Social Connection Modell, in: dies., Global Challenges. War, Self-Determination, and Responsibility for Justice, 2007; Thomas W. Pogge, World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, 2002

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Fällen nicht der Appell an individuelle Verantwortung, die hier gegebenenfalls gar nicht eindeutig zugeschrieben werden kann, sondern die Forderungen ausgleichender Gerechtigkeit, die Wiedergutmachung verlangen. Geht man beispiels- und plausiblerweise davon aus, dass die Notlagen in der „Dritten Welt“ von der „Ersten Welt“ u. a. durch Kolonialismus, Imperialismus und die Organisationsstrukturen des Welthandels (wie Patente, Zölle, Kredite, Marktzugänge, Monopole etc.) verschuldet worden sind, oder muss man erkennen, dass die „Erste Welt“ die Notlage der „Dritten Welt“ auch heute (noch) immer mitverschuldet oder ausnutzt, so ergibt sich daraus die Folgerung: Diese von uns als Mitgliedern der „Ersten Welt“ (mit)verschuldete Ungerechtigkeit müssen wir ausgleichen, weil wir sie (mit)verschuldet haben. Für die moralische Qualität der Hintergrundstrukturen sind in zweiter Linie alle am System Beteiligten zuständig, weil sie das System selbst durch ihre Handlungen kausal mit hervorbringen und bewusst gemeinsam verändern können. Verantwortung haben Individuen also für strukturelle Rahmenbedingungen, sofern davon ausgegangen werden kann, dass sie mit ihren Handlungen zur Aufrechterhaltung dieser Strukturen beitragen. Die Verantwortung hat ihren Grund also in der Teilnahme an einem System der Kooperation. Daraus ergibt sich, dass nicht nur Mitläufer eine Verantwortung tragen, wenn ein verwerfliches System aufrecht erhalten bleibt, sondern auch duldende Opfer, die sich nicht wehren – wobei es freilich eine Grenze gibt, ab der es schlicht unplausibel und unmoralisch wäre, noch den Opfern Verantwortung zuzusprechen. Die Erweiterung des Konzepts der Verantwortung auf Hintergrundstrukturen scheint den Begriff moralisch nicht zu überdehnen, denn es bleibt ja eine kausale Mitverursachung und gegebenenfalls Schuld als Grundelement bewahrt. Problematisch offen bleibt jedoch die Frage, wer von den am System im weiteren Sinne Beteiligten was in welchem Maße tun soll, um die Hintergrundstrukturen moralisch zu verbessern. Festgestellt wird hier allenfalls eine gemeinsame prospektive Verpflichtung12 zur Verbesserung der Hintergrundstrukturen, der man nur durch kollektive Handlungen gerecht werden kann. 4

ROLLENVERANTWORTUNG

Eine dritte Art der Verantwortung umfasst Verpflichtungen aus Aufgaben und Ämtern, die man als Inhaber institutioneller Rollen übernommen hat. Die Rollenverantwortung erhält ihre normative Kraft aus den Rollen, wie wir sie in Familie, Beruf, Bürgerschaft etc. leben: Sie besteht aus den Rechten und Pflichten, die mit diesen Rollen einhergehen und die sich in der Regel aus der institutionell bestimmten Funktion der Rolle ergeben. So sind Eltern grundsätzlich für ihre Kinder und umgekehrt volljährige Kinder für ihre Eltern in Notlagen verantwortlich – zumindest nach dem westlichen Modell der Familie und der institutionell spezifizierten Rollen von Eltern und Kindern darin. An dem Beispiel kann man sich auch leicht klarmachen, dass eine Rolle nicht notwendig freiwillig übernommen worden sein muss, 12

Zum Begriff der gemeinsamen statt kollektiven Verantwortung vgl. Larry May, Sharing Responsibility, 1993, Kap. 2

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um Rollenverantwortung zu generieren.13 Man macht einen – übrigens recht geläufigen – Fehler wenn man Rollenverantwortung allein kontraktualistisch versteht, also als bewusste Übernahme einer Verpflichtung. Familienverpflichtungen beispielsweise sind offensichtlich nicht immer freiwillig und nicht kontraktualistisch, vielmehr sind sie eine nicht gewählte institutionelle Verpflichtung. Viele wichtige Rollen haben wir weder freiwillig übernommen, noch sind sie uns aufgezwungen worden, sondern wir sind in sie ‚hineingewachsen’ und haben sukzessive die damit einhergehende Verantwortung übernommen.14 Worauf es bei der Rollenübernahme normativ ankommt und was also die Bedingung dafür ist, dass sie legitimerweise Verantwortung generiert, ist, dass sie in der praktischen Überlegung – der Reflexion über die allgemeine moralisch-praktische Relevanz der Rolle und ihre Bedeutung für unser Leben – akzeptabel für uns ist. Wenn man sich die Rolle in ihrer praktischen Bedeutung klar vor sein geistiges Auge führt, sollte sie sinnvoll und vernünftig erscheinen. Nicht aktuale Zustimmung, sondern hypothetische Zustimmungsfähigkeit zu der eigenen übernommenen Rolle ist also die Bedingung für die Geltung der mit ihr verbundenen Pflichten.15 (Neben angenommenen Rollen, gibt es natürlich auch solche, die man bewusst übernommen hat. Die aktuale Zustimmung ist dann ein Spezialfall der Erfüllung der allgemeinen Bedingung hypothetischer Zustimmung.16) Ein weiterer Aspekt der Rollenverantwortung ist in unserem Zusammenhang besonders relevant: Bei der Verantwortung, die mit einer Rolle einhergeht, wird dem Rolleninhaber pauschal Verantwortlichkeit für einen kontrollierbaren Handlungsbereich ohne Rücksicht auf ein konkret nachweisbares schuldhaftes Verhalten zugeschrieben.17 Jemanden in diesem Sinne für verantwortlich zu befinden, impliziert nicht, dass er an einem Ereignis schuld ist, noch dass er für etwas zu tadeln sei. Vielmehr gründet sich die Verantwortungszuschreibung hier auf der normativen Erwartung, dass eine Person eine bestimmte Rolle auf adäquate Weise auszufüllen und alle damit einhergehenden Pflichten zu erfüllen habe.18 Die bekannte 13 14

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Für den folgenden Gedanken vgl. Michael O. Hardimon, Role Obligations, The Journal of Philosophy 91 (1994), 333–363 Zwar kann man sich fast immer, wenn auch mühsam, von allen gemeinschaftlichen Bindungen und damit einhergehenden Rollen und Verpflichtungen freimachen. Man kann eben zur Not aus der Familie austreten und sich von ihr lossagen. Aber wenn wir uns als Familienmitglied, Bürger oder Bürgerin oder Vereinsmitglied begreifen und diese Rollen wesentlich für unser Selbstverständnis und unser Leben sind, dann bedeutet das für uns auch zugleich die Anerkennung bestimmter Rollenverantwortungen. Eine gegebene soziale Rolle ist nur dann in der praktischen Überlegung akzeptabel, wenn zum einen auch der Prozess der Meinungs- und Willensbildung autonom ist, d. h. nicht manipuliert oder fremdbestimmt, und zum anderen die relevanten sozialen und institutionellen Hintergrundbedingungen in der Zivilgesellschaft gerecht sind. Vgl. dazu Raymond Geuss, The Idea of a Critical Theory, 1981, 48–50 Das Besondere von Rollen auch hier ist jedoch, dass man nicht nur bestimmte Verpflichtungen mittels eines Versprechens akzeptiert, sondern sich mit der jeweiligen Rolle identifiziert, was bedeutet, dass man sie letztlich zu einem Teil seines Selbstverständnisses macht. Diese Integration in die eigene Identität verschafft diesen Pflichten eine besonders große motivierende Kraft. Vgl. Werner Krawietz, Theorie der Verantwortung – neu oder alt? Zur normativen Verantwortungsattribution mit Mitteln des Rechts, in: Verantwortung: Prinzip oder Problem? (Fn. 1), 184– 216, hier: 202 f.; vgl. auch Reinhold Zippelius, Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortung, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989), 257–266, hier: 261 f. Vgl. Henry S. Richardson, Institutionally Divided Moral Responsibility, Social Philosophy and

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Ministerverantwortung ist dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Die Ministerin trägt qua Amt die politische Verantwortung für alle Geschehnisse im Rahmen ihres jeweiligen Aufgaben- und Kompetenzbereichs, egal ob sie dafür persönlich moralischkausal verantwortlich ist, oder nicht. Deshalb muss sie gegebenenfalls sogar ihr Amt aufgeben, wenn es zu schwerwiegenden Verfehlungen durch andere innerhalb des Ministeriums gekommen ist. Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Zustandshaftung, also die Verantwortung, die ein Eigentümer und Inhaber der tatsächlichen Gewalt über eine Sache dafür trägt, dass Gefahren, die von dieser Sache ausgehen können, vorweg abgewehrt werden. Diese Verantwortungsattribution im Zusammenhang mit Rollen ist keineswegs moralisch willkürlich. Vielmehr wird unterstellt, die betreffende Ministerin hätte ihr Amt und Ministerium anders führen sollen, um solche Verfehlungen im Ministerium durch andere zu vermeiden. Ebenso wird bei der Zustandshaftung eine prospektive Verantwortung für das Vermeiden einer von einer Sache ausgehenden Gefahr zugeschrieben, die sich aus der Rolle des Eigentümers oder Besitzers der Sache ergibt. Der normative Grund für die Rollenverantwortung ist also ein doppelter: Zunächst die moralische Forderung, die einem zugefallenen oder die angestrebten und zur Verfügung stehenden Rollen auszufüllen, die für einen selbst in der hypothetischen, praktischen Überlegung akzeptabel sind. Sodann die gesellschaftliche Forderung, die Rolle, so wie sie institutionell konzipiert ist, adäquat auszufüllen, insbesondere Regelverletzungen vermeiden und alle damit zusammenhängen Pflichten korrekt erfüllen, auch wenn nicht immer offensichtlich ist, welche Pflichten mit der Rolle einhergehen. Die bisher betrachteten Arten der Verantwortung reichen aber noch nicht aus, um moralisch plausibel zu machen, wer für die Beseitigung von Problemlagen verantwortlich ist, wenn es keine moralisch-kausal Verantwortlichen gibt oder diese nicht zur Rechenschaft gezogen werden können oder nicht effizient handeln können. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es der Fähigkeitsverantwortung. 5

FÄHIGKEITSVERANTWORTUNG

Die vierte und wohl strittigste Erweiterung im Verantwortungsbegriff ergibt sich schließlich, wenn man nicht nur für die Folgen des tatsächlichen eigenen Tuns verantwortlich ist, sondern auch für das mögliche eigene Tun oder Unterlassen verantwortlich sein soll. Wie gezeigt ist ein Subjekt nach dem Prinzip moralisch-kausaler Verantwortung moralisch zuständig, also prospektiv verantwortlich vornehmlich bloß für die absehbaren Folgen seines eigenen freiwilligen Handelns. Verantwortlich – so meine wahrscheinlich kontroverse Auffassung – ist ein Individuum aber auch für freiwillige und absichtliche Unterlassungen. Man hat nicht nur die primäre Verantwortung, die einer negativen Pflicht entspricht, kein moralisches Übel zu begehen, sondern auch eine sekundäre Verantwortung, die einer positiven Pflicht entspricht, ein mögliches Übel (gegebenenfalls zusammen mit anderen) Policy 16 (1999), 218–249; vgl. auch Robert Goodin, Apportioning Responsibilities, in: ders., Utilitarianism as a Public Philosophy, 1996, 100–118

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zu verhindern oder zu beseitigen. Nicht nur darf die Mutter ihr Kind im Straßenverkehr nicht gefährden und muss in ihrer Rolle als Mutter und Verkehrsteilnehmerin die Schädigung ihres Kindes und anderer tunlichst vermeiden, darüber hinaus muss sie auch, wenn sie die Gefährdung eines anderen Kindes wahrnimmt, das zum Beispiel leichtsinnig an einer viel befahrenen Straße spielt, dieses vor dem heranbrausenden Wagen retten, wenn das keine ungebührlichen Nachteile für sie bringen würde. – Die Frage der Zuständigkeit und Zurechenbarkeit ist im Fall dieser sekundären Verantwortung natürlich wesentlich komplizierter und strittiger als bei den anderen drei vorhergehenden Arten. Diese Auffassung besagt, dass moralische Akteure für überhaupt alles – jedenfalls in einem schwachen Sinne – verantwortlich sind, das sie durch ihre Handlungen (hätten) beeinflussen können. Akzeptiert man dies, stellt sich die Anschlussfrage, ob innerhalb dieses Bereichs Differenzierungen bestehen, dergestalt, dass Personen für einen Teilbereich in höherem Maße verantwortlich sind als für einen anderen. So wird z. B. vielfach angenommen, dass Akteure a) für intendierte Handlungsergebnisse stärker verantwortlich sind als für nicht-intendierte, aber vorausgesehene und ‚in Kauf genommene‘ Handlungsfolgen; b) für vorausgesehene Handlungsfolgen stärker als für nicht-vorausgesehene, die aber voraussehbar gewesen wären (wobei sich hier eine graduelle Abstufung von Möglichkeitsgraden ergibt); c) für Folgen eines aktiven Tuns stärker als für die Folgen von Unterlassungen (wobei die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen verschieden definiert werden kann). Diese Auffassung ist trotz dieser Differenzierungen auf einer grundlegenden moralphilosophischen Ebene nicht unumstritten. Sie bestimmt aber tatsächlich vielfach unsere alltägliche Praxis der Verantwortungszuschreibung – z. B. auch im Recht: Gegenwärtige Gesellschaften legen rechtlich aufgrund von moralischen Überlegungen in Kombination mit Effizienzüberlegungen fest, wer für welche möglichen Schäden haften soll – mit anderen Worten: die Feststellung ausschließlich moralisch-kausaler Verantwortung geht in die rechtliche Verantwortungsattribution nur als eine von vielen Variablen ein, es werden neben moralisch-kausaler Verantwortung auch andere Konzeptionen der Verantwortung geltend gemacht. Der wohl deutlichste Ausdruck davon im Recht ist der Fall der Zuschreibung von Haftung ohne Schuld. Zu denken ist hier etwa an die Produzentenhaftung, bei der in erster Linie der Erzeuger des Produkts einzustehen hat für etwaige Folgen, die durch die Mangelhaftigkeit des Erzeugnisses, etwa eines Autos, verursacht werden. Zwar hängen zunächst Schuld und Haftung, gemäß dem Prinzip moralisch-kausaler Verantwortung, auch im Recht zusammen. Sie haben sich inzwischen aber zunehmend voneinander gelöst, sodass es gegenwärtig im Recht auch Schuld ohne Haftung und Haftung ohne Schuld gibt. In diesem Fall wird also die Zuschreibung von Haftung – einem persönlichen Einstehenmüssen für die Verletzung einer Rechtspflicht, insbesondere für eingetretene Schäden oder für sonstige Folgen rechtswidrigen Verhaltens – gänzlich unabhängig davon gemacht, ob dem Haftenden eine Regelwidrigkeit in einem moralisch-kausalen Sinne zur Last gelegt werden kann, sprich: ob er in einem moralischen Sinne schuldig ist. Man kann im Recht für Schäden haftbar gemacht werden, die man nicht selber verursacht hat. Ein Beispiel dafür ist, dass Haftung auch ohne Verschulden des Schädigers wegen der Gefährlichkeit bestimmter

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Unternehmungen als sogenannte Gefährdungshaftung ausgestaltet sein kann.19 So haftet die am Rhein liegende chemische Industrie gemeinsam für eine etwaige chemische Verschmutzung des Rheins auch dann, wenn diese von einem einzigen Verursacher ausgehen sollte. Das Haftungsrecht bezieht sich hier nicht nur auf bestehende korporative Arrangements, sondern definiert die Haftenden kraft autoritärer Anordnung staatlichen Rechts selbst als Risikonetzwerke und schafft so qua „Fiat“ Zwangsorganisationen mit kollektiver Handlungs- und Haftungsfähigkeit. Mitglied wird man zwangsweise, weil man sich in diesem „Raum“ aufhält, nicht aufgrund privatautonomer Entscheidungen und nicht aufgrund von kausaler Verursachung. Das Resultat ist dann ein Fall von stellvertretender Haftung ohne Mitschuld. Diese kollektive Risiko- oder Gefährdungshaftung (statt Verschuldenshaftung) bedeutet, für die Handlungen anderer mitverantwortlich gemacht zu werden. Wie ist solche Haftungsverantwortung zu rechtfertigen? Wir alle haben ein großes Interesse daran, dass Mechanismen in Kraft sind, die Schäden verhindern (präventive Wirkung von Haftungsregelungen) und deren Folgen im Fall ihres Eintretens möglichst beseitigen oder zumindest kompensieren (retrospektive Wirkung von Haftungsregelungen). Solche Mechanismen können und sollten wir gesellschaftlich gemeinsam beschließen, denn wir sind moralisch verpflichtet bzw. haben die sekundäre Verantwortung, Schäden, wenn möglich, zu vermeiden oder zu minimieren. Ein offensichtlicher Vorteil einer solchen Kollektivhaftung besteht in der besseren Ausgleichsmöglichkeit von Übeln. Wenn andere für etwaige Schulden anderer mithaften, ist die Gefahr gering, dass die Schuld unbeglichen bleibt bzw. keine Haftungsleistungen erbracht werden. Aber der Vorteil für alle kann – außer man ist Utilitarist – das In-Haftung-Genommen-Werden Einzelner nicht schon allein begründen. Den normativen Grund dafür gibt meines Erachtens vielmehr eine Art Fähigkeitsverantwortung:20 Nicht nur gilt, dass jemand, der Verantwortung übernehmen soll, auch in der Lage und fähig sein muss, die zu verantwortende Tätigkeit zu verstehen und auszuführen. Sondern auch das Umgekehrte kann geltend gemacht werden: Der Besitz bestimmter relevanter Fähigkeiten bringt – sofern keine Gegengründe gelten – Verantwortlichkeiten mit sich. Größere Schultern können mehr tragen und sollen es laut Volksmund deshalb auch. Folgendes Beispiel macht die dahinter stehende Intuition offensichtlich. Den Badenden, der zu ertrinken droht, sollte jener retten, der dazu am besten in der Lage ist, zumindest sofern es keine moralisch-kausale oder Rollen-Verantwortung für jemand anderen gibt, der verfügbar und in der Lage ist, und sofern die Übernahme nicht unzumutbar hohe Kosten auferlegt. Damit sind auch schon die beiden wichtigsten einschränkenden Bedingungen der Fähigkeitsverantwortung genannt. Die von mir vorhin genannte sekundäre Verantwortung zu helfen, Schädigungen zu vermeiden, auch wenn man an deren Verursachung keinen Anteil hatte, folgt dem gleichen Prinzip: Sie richtet sich wesentlich erstens nach den Fähigkeiten der betreffenden Akteure und zweitens nach dem Mangel an primär Verantwortlichen. (Dieser Mangel kann dabei darin bestehen, dass für das Problem überhaupt keine primär Verantwortlichen existieren, oder aber – das wird häufiger der Fall sein – dass 19 20

Krawietz (Fn. 17), 201 Vgl. Hart (Fn. 4), 211- 230

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sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.) Dies sind, um auf die eben kurz angeführte Diskussion zurückzukommen, meines Erachtens also auch die zwei Bedingungen dafür, unter denen es moralisch geboten sein kann, einige wenige (zur Vermeidung von Schaden Fähige) für etwaige Schäden, die alle betreffen und von den in Frage stehenden Personen auch gar nicht unmittelbar kausal verursacht worden sind, in besonderem Maße zur Verantwortung zu ziehen. Das Problem einer solchen Fähigkeitsverantwortung dürfte jedoch offensichtlich sein. Es droht eine immense Überforderung der Fähigen. Eine individuelle Pflicht zur Vermeidung von Übeln würde deshalb eine moralische Überforderung für jeden Einzelnen darstellen. Jede Person darf ihr eigenes Leben autonom nach ihren ‚Grundprojekten’ im Rahmen der gleichen Chancen und Freiheiten für alle gestalten. Jeder Person zugleich immer schon die prospektive Verantwortung für das Kollektivwohl unmittelbar aufzubürden, läuft faktisch auf eine massive Beschränkung dieser Gestaltungsfreiheit hinaus. Die Überforderung besteht also nicht darin, bei der eigenen Handlungswahl zugleich immer schon das Wohl aller mitberücksichtigen zu müssen, denn das verlangt die allgemeine negative Pflicht der Nichtschädigung auch schon, sondern darin, die potentielle Verbesserung des Wohls aller mitberücksichtigen zu müssen. Die Gefahr dieser vierten Art der Verantwortung liegt also darin, dass sie eine kontraproduktive Überdehnung und Entleerung des Verantwortungsbegriffs zur Konsequenz haben kann. Es gibt meines Erachtens jedoch folgenden Ausweg. 6

INTEGRIERTES VERANTWORTUNGSMODELL

Dieser Problematik der Verantwortung für die Beseitigung von Übel im Spannungsfeld zwischen Überforderung und Inhaltsleere können sich die Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft bewusst werden und darauf reagieren, indem sie sich reflexiv auf den Begriff der Verantwortung und die damit verbundenen Kriterien und Regeln der Zurechnung beziehen. Die mir vorschwebende Lösung für dieses Problem ist die bewusste gesellschaftliche Schaffung eines kooperativen Akteurs (wie im Haftungsrecht):21 Da man insbesondere der Verantwortung der zweiten und vierten Art (Strukturverantwortung und Fähigkeitsverantwortung) nur durch (koordinierte) Bemühungen vieler einzelner nachkommen kann, stellt dies eine Gemeinschaftsaufgabe dar. Ein Kollektiv von Individuen ist dementsprechend für die Beseitigung von Notlagen verantwortlich, allerdings abhängig von den Individuen, besonders ihrer Fähigkeiten und ihrer Mit- bzw. Teilverantwortung. Im ersten Schritt müssen also die Verantwortlichkeiten einem kollektiven Akteur als solchem zugerechnet werden, der aus solchen Individuen besteht, die zusammen effektiv in der Lage sind allen Verantwortlichkeiten nachzukommen und die Kosten dafür zusammen tragen können. Der nun gemeinsam geteilten Verantwortung kommen die Gruppenmitglieder nach, indem sie in einem zweiten Schritt eine vernünftige Allokation der Pflichten 21

Vgl. Gunther Teubner, Die unsichtbare „Cupola“. Kausalitätskrise und kollektive Zurechnung, in: Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, hg. von W. Lübbe, 1994, 91–143, hier: 127

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durch gesellschaftliche und moralische Arbeitsteilung vornehmen, in deren Rahmen die Individuen entweder gleichmäßig belastet werden oder auch nur einige Personen Aufgaben zugeteilt bekommen und dafür von den anderen kompensiert werden. Bei der Spezifizierung der Verantwortlichkeiten von Individuen kommt es so bis zu einem gewissen Grad zu einer Re-Individualisierung kollektiver Haftung, indem die Gruppe den internen Verteilungsmaßstab der Lasten in der Gruppe bestimmt. In diesem zweiten Schritt werden Verluste und Gewinne individuell auf die Mitglieder entsprechend ihrer kausalen, moralischen und Rollenverantwortung sowie nach Gesichtspunkten der Effektivität und der persönlichen Bindung verteilt. In diesem zweiten Schritt können also verschiedene Gesichtspunkte kombiniert und hierarchisiert werden. So ist es moralisch sinnvoll, persönliche, moralisch-kausale Verantwortung sowie Rollenverantwortung zum entscheidenden Maßstab für die Zuschreibung von Verantwortung zu machen.22 Erst wenn diese Arten von Verantwortung allein nicht mehr anwendbar sind, weil das zuständige Individuum überfordert oder nicht verfügbar ist, sollte die Zuweisung nach anderen Kriterien erfolgen, z. B. nach struktureller Verantwortung von Individuen, je nachdem wie stark sie zu der ungerechten Hintergrundstruktur beigetragen oder von ihr profitiert haben, aber auch schließlich nach Fähigkeitsverantwortung. Wenn auch das nicht möglich ist, sollten alle Mitglieder den gleichen Anteil übernehmen. Ein solches mehrstufiges Verfahren ist attraktiv, da es die Vorteile kollektiver Haftung mit den Anreizen eines individualisierten Rückgriffs verbindet. Die kollektive Haftung stellt sicher, dass die Opfer moralischer Übel Kompensationen erhalten, auch wenn kein individueller Verursacher festgestellt und zur Verantwortung gezogen werden kann; die nachträgliche Differenzierung, welche Individuen jeweils welchen Beitrag zu dieser kollektiven Haftungspflicht zu leisten haben erzeugt für die Akteure einen individuell zurechenbaren Anteil an der Pflicht, Verantwortlichkeiten nachzukommen. Drittens sollten in Wahrnehmung der gemeinsam geteilten Verantwortung Versicherungen für Notlagen und eine entsprechende Versicherungspflicht eingeführt werden. Dadurch ergibt sich eine vernünftige und gerechte Allokation der Rechte von Individuen auf Schutz vor moralischen Übeln. Bei einer geteilten Bereitschaft, sich an dieser Aufgabe zu beteiligen, entfallen so auf die Gruppenmitglieder relativ geringe Belastungen. Es besteht keine moralische Überforderung. Sollte die Bereitschaft zur Mitarbeit nicht freiwillig vorhanden sein, muss das koordinierte Kollektiv durch entsprechende rechtliche Zwangsmaßnahmen sicherstellen, dass alle ihrem fairen Anteil an der gemeinsam geteilten Verantwortung für gerechte Zustände nachkommen. 7

SCHLUSS

Mit der Ausdifferenzierung autonomer Sachgebiete, der zunehmenden Verkettung von Handlungsfolgen und dem Anwachsen synergetischer Effekte stellt sich verstärkt die Frage nach dem Stellenwert von Verantwortung. So lautete die gesellschaftliche Diagnose zu Beginn. Die Politik und das Recht haben begonnen, auf 22

Zu diesem Prinzip vgl. Christian Barry, Understanding and Evaluating the Contribution Principle, in: Real World Justice: Grounds, Principles, Human Rights, and Social Institutions, hg. von A. Føllesdal / T. Pogge, 2005, 100–135, und ders., Applying the Contribution Principle, in: Global Responsibilities. Who Must Deliver on Human Rights?, hg. von A. Kuper, 2005, 135–152

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diese Herausforderungen mit neuen Formen der Verantwortungszuschreibung zu reagieren, insbesondere im Haftungsrecht. Mit dem in diesem Aufsatz vorgeschlagenen integrierten Modell der Verantwortung sollte ein Weg aufgezeigt werden, der diese gesellschaftliche Praxis der politisch-rechtlichen Zurechnung von Handlungen auch als eine im Prinzip gut begründete, also nicht bloß willkürliche Festlegung der Zuständigkeit der jeweils verantwortlich gemachten Subjekte rekonstruiert.

GEORG LOHMANN, MAGDEBURG WISSEN UM VERANTWORTUNG VON VERANTWORTUNG 1

UND

WAHRNEHMEN

WISSEN, TUN, VERANTWORTUNG

Das Wissen um Verantwortung und das Wahrnehmen von Verantwortung im Sinne von Handeln oder Unterlassen gemäß einer Verantwortung gehören dem Begriff „Verantwortung“ nach zusammen. Ich muss um meine Verantwortung wissen, und ich muss, wenn ich verantwortlich bin, gemäß meiner Verantwortung handeln oder mich verhalten. Schützt Nicht-Wissen vor Verantwortung? Ist Nicht-Wissen um Verantwortung ein Grund, seine Verantwortung nicht wahrzunehmen? Oder ich weiß zwar um meine Verantwortung, handle aber nicht entsprechend? Und warum handle ich nicht verantwortlich, obwohl ich weiß, was meine Verantwortung ist? Diese oder ähnliche Fragen tauchen normalerweise im Kontext der Diskussion um Tugenden auf. Und so will ich auch mein Thema auffassen: Hat Verantwortung etwas mit Tugend zu tun, und wie unterscheidet sich Verantwortung als Tugend, also Verantwortlichkeit, vom Wissen und Wahrnehmen von Verantwortung? Und was passiert, wenn es nicht mehr um die Verantwortlichkeit einer Person geht, sondern wenn wir davon sprechen, dass eine Institution, ein Kollektiv, ja sogar die Menschheit verantwortlich ist oder gemacht werden soll? Verantwortung ist ein Nachfolgebegriff.1 Er ersetzt in seiner retrospektiven Bedeutung die Begriffe „Zurechnung“ und „Rechtfertigung“, und in seiner prospektiven den Begriff „Pflicht“. Historisch taucht er auf, wenn jene Begriffe semantisch und pragmatisch „durchgescheuert“ sind oder wenn die Dinge so komplex geworden sind, dass die Zuschreibungen von „Zurechnung“, „Rechtfertigung“ und „Pflicht“ nicht mehr treffgenau sind, aber auf ihre Funktion auch nicht verzichtet werden kann oder soll. Verantwortungen werden zugeschrieben, und in einem gewissen Sinn weist darauf schon die unmittelbare Wortbedeutung hin: Sich verantworten ist eine Art Antwort, die jemand auf die Frage oder Erwartung eines anderen gibt. Diese, wie manchmal gesagt wird, „dialogische“ Struktur von Verantwortung ist wichtig, auch für die Behandlung unseres Themas. „Verantwortung“ ist daher von vornherein ein komplexer Begriff, er summiert unterschiedliche Bedeutungsaspekte und fasst sie unter einem Namen zusammen. Das macht ihn auf der einen Seite verwendungsoffen, auf der anderen aber auch unklar und vage.2 Ich beginne daher zunächst mit einer Reihe von begrifflichen Unterscheidungen (2). Ich werde dann das gestellte Thema an einigen Sachfragen skizzieren (3) und 1 2

S. Kurt Bayertz, Eine kurze Geschichte der Herkunft von Verantwortung, in: Verantwortung. Prinzip oder Problem?, hg. von K. Bayertz, 1995, 3–71 Die Literatur zum Begriff „Verantwortung“ ist außerordentlich umfangreich. Eine brauchbare Sammlung ist die Auswahlbibliographie zum Thema „Verantwortung“ von Ulrike Arndt, in: Verantwortung: Prinzip oder Problem? (Fn. 1), 287–303. Zu neuerer Literatur siehe Günter Banzhaf, Philosophie der Verantwortung: Entwürfe, Entwicklungen, Perspektiven, 2002; Stefan A. Seeger, Verantwortung: Tradition und Dekonstruktion, 2010

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Georg Lohmann

eine kurze abschließende Antwort zum Ausgangsproblem der Rolle des Tugendbegriffs Verantwortlichkeit als Vermittlung zwischen Wissen und Wahrnehmen von Verantwortung versuchen (4). 2

MORALISCHE,

SPEZIFISCHE, ETHISCHE UND RECHTLICHE

VERANTWORTUNG3

2.1 EIN STANDARDKONZEPT VON VERANTWORTUNG Begrifflich gesehen können wir „Verantwortung“ mit Hilfe einer mehrstelligen Relation erläutern: A ist verantwortlich für B gegenüber C gemäß den Regeln D. Dieses Standardkonzept von „Verantwortung“4 enthält nun eine Reihe von Implikationen, die schnell erläutert sind: Mit A ist in der Regel eine Person gemeint. Eine Person A ist in der Regel nur dann für B (in der Regel ein Handeln oder Unterlassen) verantwortlich, a) wenn es ihr freistand, B zu tun oder zu unterlassen, b) wenn sie B beabsichtigt hat und c) wenn B kausal durch A bewirkt worden ist. Mit C sind die Personen oder die Instanz gemeint, die durch ihre Erwartungen oder auf Grund von institutionellen Strukturen A eine Verantwortung zuschreiben und denen gegenüber A für B zur Rechenschaft gezogen werden kann. C spielt daher in mehrfacher Weise eine aktive, interaktive Rolle: C schreibt Verantwortung zu, C verlangt Rechtfertigungen und verhängt gegebenenfalls Sanktionen. Und C ist passiv Adressat der Rechtfertigungen von A. Mit D sind Regeln gemeint, an die sich A, wenn sie B tut oder unterlässt, zu halten hat und auf die sich C, wenn sie von A Verantwortung fordert, als geltend bezieht. Mit Verantwortung ist daher zunächst eine komplexe, interaktive Praxis zwischen mehreren Personen bzw. zwischen Personen und Institutionen gemeint, in der eine Person A entsprechend ihrem Wissen um ihre Verantwortung handelt, d. h. ihre Verantwortung wahrnimmt. Handelt A gemäß dieser Praxis verantwortungsvoll, so zeigt sie damit eine Disposition, ggf. ihr Verhalten zu korrigieren, für die Folgen einzustehen und mögliche Schäden zu begleichen. Sofern eine Person A diese Disposition ausgebildet hat, erwirbt sie die Tugend der Verantwortlichkeit und wird oder kann dafür gelobt werden. Handelt A unverantwortlich, verantwortungslos oder entgegen den jeweiligen Standards, so wird sie getadelt und hat Sanktionen zu erwarten, die andere oder sie selbst aussprechen.

3

4

Das Folgende enthält überarbeitete Teile aus Georg Lohmann, Zur moralischen, ethischen und rechtlichen Verantwortung in Wissenschaft und Technik, in: Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hg. von H. Burckhart / H. Gronke, 2002, 366–378 Natürlich sind auch ausgefeiltere Modelle möglich, doch scheinen mir diese Relationen die wichtigsten zu sein.

Wissen um Verantwortung und Wahrnehmen von Verantwortung

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2.2 VERANTWORTUNGSTYPEN Ich will nun eine Reihe von Verantwortungstypen je nach der Art der Regeln unter D unterscheiden: Von moralischer Verantwortung können wir sprechen, wenn die Regeln D moralische Pflichten ausdrücken. Darunter verstehe ich Pflichten der Rücksichtnahme und des Wohlwollens anderen gegenüber, deren Erfüllung wir von allen Menschen auf Grund einer sympathetischen, unparteilichen und verallgemeinerbaren Urteilsbildung erwarten können.5 Wir erheben dafür einen objektiven Begründungsanspruch, und der Kernbereich dieser moralischen Verpflichtungen umfasst universelle und egalitäre Pflichten. Davon unterscheiden können wir Verantwortungen, die wir nur gemäß bestimmten Rollen oder Mitgliedschaften tragen, dann nämlich, wenn, z. B. im Rahmen eines Spieles oder mit der Ausübung eines besonderen Berufes spezifische Regeln spezifische Verantwortungen konstituieren. Moralische Verantwortung wendet sich immer zunächst an den Einzelnen; immer trägt eine jeweilige individuelle Person moralische Verantwortung für ihr Tun oder Unterlassen gegenüber allen anderen Menschen gemäß den moralischen Regeln. Wegen der strengen Begründungsanforderungen und wegen des universellen und egalitären Gehaltes der modernen Moral beziehen sich diese Regeln nur noch auf die Kernbereiche moralischen Verhaltens, insbesondere auf die Forderungen des gleichen Respekts der Autonomie von Personen, der Schadensvermeidung, der Verpflichtung zur Hilfe und der Gerechtigkeit. In der gegenwärtigen Moralphilosophie wird dieser engere Bereich der Moral unterschieden von einem umfassenderen, manchmal „ethisch“6 genannten Bereich, in dem es um Fragen des guten Lebens geht, das wir gegebenenfalls mit anderen teilen. In diesem Sinne ethische Verantwortungen beziehen sich auf Regeln, die festlegen, wie wir uns insgesamt verstehen und wie wir insgesamt leben wollen. Sie sind nicht wie moralische Regeln gegenüber jeder Person unparteilich begründbar und verpflichtend, sondern nur gegenüber denjenigen, die mit uns gemeinsame Werte schätzen und anerkennen, letztlich die mit uns eine gemeinsame Lebenskonzeption teilen. Insofern sind sie bedingte Verantwortungen. Achtet man auf die Gründe und Grundlagen der Befolgung der jeweiligen Regeln D, so benötigen moralische Regeln universalisierbare Gründe oder Rechtfertigungen, spezifische Regeln hängen von den spezifischen Bedingungen von Mitgliedschaften und dem Vollzug von Rollen ab, ethische Regeln und Werte setzen eine entsprechende Selbstbindung an gemeinsam geteilte Wertungen voraus. Moralische Verantwortungen, spezifische Verantwortungen und ethische Verantwortungen können sich daher überlagern und verstärken, müssen aber nicht deckungsgleich sein. In Konfliktfällen gebührt der moralischen Verantwortung der Vorrang, aber wie wir noch sehen werden, ist insbesondere in Fällen, in denen ein Handeln moralisch nicht unverantwortlich ist, aber ethisch gesehen Bedenken bestehen, die Sachlage nicht so einfach zu klären. In solchen wie auch in anderen Fällen muss entschieden werden, und das Medium, in dem verbindliche Entscheidungen generiert werden, ist das moderne Recht. Die 5 6

S. Georg Lohmann, Unparteilichkeit in der Moral, in: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, 2001, 434–455 S. für eine solche Unterscheidung Jürgen Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: Erläuterungen zur Diskursethik, hg. von J. Habermas, 1991, 100–118

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rechtliche Institutionalisierung von Verantwortung7 meint die juridische Regelung von Verantwortungen, die sowohl moralischer, spezifischer wie ethischer Natur sein können, und die auf Grund von Gesetzen, rechtlichen Verordnungen etc. im Rahmen einer Rechtsordnung, nach einem legitimen Gesetzgebungsverfahren, zugeschrieben werden und gelten. Das Recht spezifiziert und differenziert auf einer zweiten Stufe Verantwortungen, erhöht die Genauigkeit und Durchsetzungsfähigkeit von Verantwortungen, und ist deshalb besser in der Lage, komplexe und zeitlich langfristige Verantwortungsprozesse zu regeln und zu kontrollieren. Das Recht verfügt über Verfahren der Zuschreibung (Zurechnungen8) von Verantwortungen (Prozessordnungen, Beweissicherungen etc.), und es kann auf diesem Wege u. U. Haftbarkeit auch für subjektiv nicht intendierte Handlungsfolgen einklagen. So kann jemand, weil er eine Schädigung anderer nicht beabsichtigt hat, glauben, er hätte „moralisch“ verantwortungsvoll gehandelt, und gleichwohl kann er u. U. rechtlich für Folgeschäden haftbar gemacht werden. Und umgekehrt sind Fälle denkbar, in denen jemand rechtlich nicht belangt werden kann, aber sich moralisch zu verantworten hat. Während also die moralische Verantwortung von der Begründbarkeit der moralischen Regeln abhängt, und die speziellen Verantwortungen von den Bedingungen der Wahrnehmung von Mitgliedschaften oder dem Ausüben von Rollen, erfordern ethische Verantwortungen die Selbstbindung an gemeinsam geteilte Werte und die rechtliche Verantwortung das Vorliegen legitimer Entscheidungen. Dabei kann das moderne, formale Recht nur ein äußeres Verhalten erzwingen und kontrollieren, es ist gegenüber inneren Einstellungen und Dispositionen, also gegen über Tugenden, „blind“ bzw. ohnmächtig, und gewissermaßen aus Trotz ob dieser Kränkung „uninteressiert“ – und kann doch aus vielerlei Gründen es nicht lassen, Dispositionen oder eben Tugenden zu evozieren oder zu erwarten. Das klappt manchmal, aber häufiger eben nicht. 2.3 „TUGENDPFLASTER“ Während also die moralischen, spezifischen und ethischen Verantwortungstypen zugleich auch als Tugenden verstanden werden können, versucht das Recht als eine Verantwortungskonzeption zweiter Stufe ohne Tugenden auszukommen. Was also „können“ Tugenden, was das Recht und auch eine eng verstandene Pflichtenmoral nicht „kann“? Ein Dauerproblem einer rationalen, z. B. kantischen, Pflichtenethik ist das Motivationsproblem. Selbst wenn ich von der moralischen Richtigkeit einer Pflichtenregel überzeugt bin, kann es doch sein, dass mir die zureichenden Beweggründe, sprich Motivationen, gemäß meiner moralischen Überzeugung auch zu handeln, fehlen. Nicht bloß Fälle moralischer Willensschwäche, sondern auch das moralische Trittbrettfahrerproblem und das Phänomen der moralischen Heuchelei gehören hier 7

8

S. dazu Jan C. Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortungsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, 1988; Ernst-Joachim Lampe (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Recht, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14 (1989); Werner Krawietz, Theorie der Verantwortung – neu oder alt?, in: Verantwortung: Prinzip oder Problem? (Fn. 1), 184–216 Paradigmatisch das Baden-Württembergische Polizeirecht, laut einer Mitteilung von Prof. Brugger.

Wissen um Verantwortung und Wahrnehmen von Verantwortung

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her. Wenn es für mich günstiger ist, nur moralisch zu scheinen, aber nicht zu handeln, oder wenn ich zwar weiß, was ich moralisch begründet tun müsste, aber nichts entsprechendes tue, dann haben wir das Titelproblem: eine Kluft zwischen Wissen um und Wahrnehmen von Verantwortung. Diese Wunde schließt ein Tugendpflaster. In der Tradition des Tugendvaters Aristoteles und des Philosophen, der Tugend schon im Namen hat (Tugendhat9), sei hier an einige Bestimmungen des Tugendbegriffes erinnert. Tugenden sind durch Gewöhnung und intersubjektives Lernen erworbene Charakterdispositionen einer Person, die lobenswert sind, und die einer Person Gründe und Motive geben, in Abwägungen klug zu entscheiden, „wie, (gegenüber) wem, bei welcher Gelegenheit und wie lange“10 zu handeln ist. Man muss in diesen Begriff einer Tugend nicht schon Aristoteles’ problematische MesotesLehre unterstellen, was hier auch nicht getan werden soll.11 Tugenden sind daher mit einem allgemeinen sittlichen Wissen ausgestattete Charakterdispositionen, die uns hinreichend motivieren, in gegebenen Situationen angemessen und lobenswert zu handeln. Sie sind daher die ideale Vermittlungsinstanz, um ein normatives Wissen in ein praktisches Handeln oder Unterlassen zu überführen. Eine Person hat keine Tugend, wenn sie nicht gemäß ihrem praktischen Wissen in Situationen, wo es angemessen oder nötig ist, handelt. Eine tugendhafte Person muss daher nicht extra aufgefordert werden, entsprechend ihrem Wissen zu handeln. Sie handelt aus eigenem Antrieb umsichtig und angemessen. Verantwortlichkeit ist daher immer auch Eigenverantwortlichkeit. Und es ist gerade diese Eigenschaft der Tugend, die in unübersichtlichen, wenig vorhersehbaren Situationen und in komplexen und widersprüchlichen Lagen dennoch ein verantwortungsvolles Handeln sichert. Die Tugend der Verantwortlichkeit wird daher gerade wegen ihres eigenständigen und insofern autonomen Charakters geschätzt und verlangt. Auf unser Thema bezogen: Wissen um und Wahrnehmen von Verantwortung gehören im Tugendbegriff zusammen, und so ist, wenn es um eine Kluft zwischen Wissen und tatkräftigem Handeln geht, die Anzüchtung von Tugenden, also Charakterdispositionen, entsprechend seinem Wissen auch zu handeln, das geeignet Mittel, um hier Abhilfe zu schaffen. Dabei scheint es, wie weiland bei Aristoteles, eine Meta-Tugend zu geben, die die richtige Anwendung der vielen einzelnen Tugenden regelt: Das ist, so scheint es, heute nicht mehr die Tugend der Gerechtigkeit, sondern die allgemeiner gehaltene Tugend der Verantwortlichkeit. Das soll nun an einigen konkreteren Fällen von Verantwortung skizziert und überprüft werden.

9 10 11

Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und hg. von U. Wolf, 2006; Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 1993 Aristoteles (Fn. 9), 1109 b S. zur kritischen Diskussion U. Wolf, 1995, Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre, in: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von O. Höffe, 1995, 83–108

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NEUERE PROBLEME

DER

VERANTWORTUNG

IN

TECHNIK

UND

WISSENSCHAFTEN

Die jüngsten Entwicklungen der modernen Technik und Wissenschaften und die zunehmende Komplexität der modernen Gesellschaft scheinen die gewohnte Praxis, die Kluft zwischen Wissen und Tun durch die Tugend der Verantwortlichkeit zu schließen, in Frage zu stellen. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind und die sachlich in einem engen Zusammenhang stehen, sind insbesondere, 1) dass angesichts anonym verursachter Gefährdungspotentiale der individuelle Zuschnitt moralischer persönlicher Verantwortung nicht mehr angemessen zu sein scheint; 2) wird unscharf, für was wir verantwortlich sind und sein können, da die Folgen und Nebenfolgen unseres Handelns komplex, unübersichtlich und zu langfristig geworden sind; schließlich sind 3) in wichtigen Bereichen die Probleme nicht einfach nur moralischer Natur, sondern beziehen sich auf „ethische“ Fragen, wie wir uns als Menschen verstehen wollen. Hier scheinen die Kriterien, die uns verpflichten, nicht durch Begründungen gedeckt, sondern entscheidungsbedingt und offen, und es ist unklar, wer wie entscheiden darf. Ich beschränke mich im Folgenden auf exemplarische Erörterungen zu diesen drei ausgewählten Problemfeldern. 3.1 INDIVIDUELLE UND KOLLEKTIVE VERANTWORTUNG Moderne Technik und Wissenschaften sind arbeitsteilig. Der einzelne Techniker oder die einzelne Wissenschaftlerin übernehmen bestimmte und begrenzte Funktionen und sind im Rahmen dieser Teilaufgaben für eine gute Durchführung und gute Resultate verantwortlich, z. B. für die ordnungsgemäße Durchführung eines Experiments oder für die technisch gute Qualität eines neuartigen Werkstoffes. Diese funktions- und rollenspezifischen Verantwortungen werden überlagert von allgemeineren, moralischen Verantwortungen, z. B. die Rechte von Versuchspersonen zu achten, keine vermeidbaren und unzulässigen Schädigungen zu verursachen, etc. In Konfliktfällen soll, wie gesagt, die moralische Verantwortung Vorrang haben; d. h., ein Experiment soll nicht durchgeführt werden, wenn die Versuchspersonen unzulässig Schaden nehmen, oder eine bestimmte Chemikalie soll nicht hergestellt werden, wenn absehbar ist, dass sie z. B. für eine verbotene C-Waffen-Produktion benötigt wird. Solchen einfach zugeschnittenen oder übersichtlichen Fällen stehen freilich häufig kompliziertere gegenüber: Den einzelnen Wissenschaftlern oder Technikerinnen mag unbekannt sein, wofür letztlich die Resultate ihrer Tätigkeit gebraucht werden oder gebraucht werden können oder sie können darauf keinen Einfluss nehmen. Oft ist es erst die Kombination von mehreren unabhängig voneinander operierenden Entscheidungssystemen, die unerwünschte Folgen zeitigt, jeder Einzelne hätte daher eine gute Entschuldigung, das Endresultat nicht gewusst, nicht beabsichtigt und nicht entscheidend verursacht zu haben. Schließlich können in vielen komplexen Sachverhalten, wie z. B. Umweltschäden, eingetretene schädliche Auswirkungen selten auf bestimmte einzelne Personen als ihre Verursacher zurückverfolgt werden. Die oben angegebenen Kriterien für individuelle moralische

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Verantwortung scheinen nicht zu greifen,12 weil das nach dem Standardmodell nötige Wissen nicht zur Verfügung steht. Dennoch wird man nicht sagen können, dass in diesen Fällen niemand die Verantwortung trägt, sondern die moralische Verantwortlichkeit (Tugend) des einzelnen bleibt bestehen, und muss zunächst graduell, nach Maßgabe der anteiligen und zurechenbaren Verursachung individuell getragen werden. In dem Maße, wie individuell nur eine Teilverantwortung getragen werden kann, sind in einem zweiten, reflexiven Schritt alle einzeln moralisch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass durch komplexe gesellschaftliche Prozesse anonymisierte Schädigungen gleichwohl angemessen verantwortet werden können. Das kann durch eine reine Moral- und Tugendpolitik nicht geleistet werden und daher liegt hier auch einer der Hauptgründe, die Institutionalisierung von kollektiv zu tragender Verantwortung im Recht zu betreiben.13 Das Recht kann solche komplizierten Sachverhalte besser durchdringen und nachvollziehbar bearbeiten. Es konstruiert Firmen und Kollektive als juristische Personen, denen retrospektiv Verantwortung zugerechnet werden kann und die prospektiv zu Vorkehrungen, Zuständigkeiten, Gefahrenabwehr- und Sicherungsprogrammen verpflichtet werden können. Das Wissen um die entsprechenden Verantwortlichkeiten kann durch rechtliche Normen produziert werden; die Wahrnehmung dieser rechtlich institutionalisierten Verantwortlichkeiten kann durch rechtliche Maßnahmen, durch externe Sanktionen etc., erzwungen werden. Die moralischen und spezifischen Verantwortungen können dann nach Maßgabe rechtlich konstituierter Zuständigkeiten, z. B. von Repräsentanten von Institutionen oder Entscheidungsträgern von Firmen, gefordert werden, aber die sie tragende Tugend der persönlichen Verantwortlichkeit kann rechtlich nicht erzwungen, d. h. hergestellt werden. Auf der rechtlich konstruierten kollektiven Verantwortungsebene gibt es keine persönlichen Tugenden – aber Tugendersatzprogramme. 3.2 UNGEWOLLTE NEBENFOLGEN, UNGLÜCKE UND RISIKEN Die oben skizzierten Standardvorstellungen von Verantwortung unterstellen, dass Menschen für die beabsichtigten Folgen ihrer Handlungen verantwortlich sind. Schon wenn jemand glaubhaft machen kann, dass eine von ihm verursachte Schädigung nicht beabsichtigt war, werden wir, moralisch gesehen, dies ggf. als Entschuldigungsgrund gelten lassen und ihm verzeihen14, obwohl wir ihn auch weiterhin für seine Tat verantwortlich halten: „Du hättest besser aufpassen sollen!“ werden wir sagen. Handelt es sich um unbeabsichtigte Nebenfolgen, die zu Schädigungen führen, so 12 13

14

S. die Überblicksdarstellung von Konrad Ott, Technik und Ethik, in: Angewandte Ethik, hg. von J. Nida-Rümelin, 1996, 650–717, mit weiteren Literaturangaben S. Larry May, Sharing Resonsibility, 1993; Hans Lenk / Matthias Maring, Wer soll Verantwortung tragen? Probleme der Verantwortungsverteilung in komplexen (soziotechnischen-sozioökonomischen) Systemen, in: Verantwortung: Prinzip oder Problem? (Fn. 1), 241–286; ferner Matthias Maring, Kollektive und korporative Verantwortung: Begriffs- und Fallstudien aus Wirtschaft, Technik und Alltag, 2001; jetzt auch Doris Gerber / Veronique Zanetti (Hg.), Kollektive Verantwortung und internationale Beziehungen, 2010 Georg Lohmann, Verzeihen, in: Die Ausnahme denken. Festschrift für Klaus-Michael Kodalle, Bd. 1, 2003, 193–202

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kann von dritter Seite zwar noch die handelnde Person als Verursacher festgestellt werden, aber es hängt von der Interpretation des Handlungskontextes ab, wie weit die entsprechende Schädigung noch der Person als zu verantworten zugerechnet wird. Wir sprechen von „Fahrlässigkeit“, wenn jemand freiwillig sich in eine Situation begibt, in der unbeabsichtigte Nebenfolgen seines Handelns zu Schädigungen führen, für die er dann, rechtlich gesehen, gleichwohl haften muss. Sind die Nebenfolgen, wie z. B. in vielen Bereichen der Umweltverschmutzung, derart, dass sie sehr viel später überhaupt erst eintreten oder entdeckt werden, so gibt es zum Zeitpunkt der Verursachung kein sicheres Wissen über die zu verantwortenden Sachverhalte – also auch keine Wahrnehmung von Verantwortung. Auch in Fällen, in denen der Verursacher schon gestorben ist und eine Verantwortlichmachung im moralischen Sinne nicht mehr möglich oder sinnvoll ist, ist ein Verantwortlichmachen schwierig. Die Gesellschaft wird gleichwohl überlegen müssen, wie sie auf solche Komplikationen reagieren will. In der Regel wird sie für ähnliche, künftige Fälle Vorsorge treffen und versuchen, für die Zukunft solche Fälle als zu verantwortendes Verhalten zu behandeln. Dies kann in Form von moralischen Appellen geschehen, in wichtigen Fällen wird man aber auch hier eine rechtliche Institutionalisierung entwickeln. Welche Form gewählt und wie weit verrechtlicht wird, hängt in eminentem Maße vom öffentlichen politischen Bewusstsein ab, von dem zur Verfügung stehenden Wissen und von der Art des Interessenausgleichs, zu dem die politische Willensbildung kommt. In die rechtliche Regelung von Verantwortlichkeiten gehen daher immer politische Kompromisse ein, und deshalb bleibt eine solche Regelung auch immer moralischen Vorbehalten ausgesetzt. Menschen sind in der Regel für Schädigungen, die sie nicht ausgelöst und verursacht haben, nicht verantwortlich. Wir sprechen in diesen Fällen von „Naturkatastrophen“ oder „Unglücksfällen“, denen wir ausgesetzt sind. Heutzutage wird die dabei unterstellte Grenzziehung zwischen „Natur“ als ein vom Menschen nicht beeinflusster Kausalzusammenhang und „Gesellschaft“ als vom Menschen verursachte Handlungszusammenhänge, und entsprechend zwischen „Unglück“ und „Ungerechtigkeit“ immer unklarer. Was als „vom Menschen unbeeinflusst“ und dementsprechend als „Unglück“ gelten kann, ist von unserem Wissensstand über die Natur und über die Auswirkungen unseres Verhaltens abhängig. Es hängt von unseren kognitiven Konstruktionen ab, was wir „der Natur“ und was wir „dem Menschen“ zurechnen. In dem Maße, wie unser Wissen über die Auswirkungen unseres Verhaltens steigt, sinken die Möglichkeiten, eingetretene Naturkatastrophen wie bisher als Schicksal oder Pech zu interpretieren. Wenn z. B. die globale Temperaturerhöhung vom Schadstoffausstoß der Industrieländer wesentlich und nachvollziehbar verursacht wird, und dadurch die Tendenz von Winterstürmen in einer bestimmten Region steigt, dann ist dafür nicht eine Laune der Natur, sondern ein bestimmtes Verhalten „der Menschen“ (aber welches und von welchen Menschen?) verantwortlich. Hier produziert also Wissen neue Verantwortlichkeiten. Wir nennen jemanden unverantwortlich, der sich freiwillig in Situationen begibt, in denen Gefahren drohen, z. B. bei Lawinengefahr eine Bergtour unternimmt. Bestand nach allgemeiner Kenntnis keine Lawinengefahr, so wird eine Lawine, wenn sie gleichwohl eine Person zu Tale reißt, als Unglück dieser Person interpretiert, zumal dann, wenn sie ohne seine Einwirkung ausgelöst worden ist. Es kann aber auch sein, dass jemand um die Lawinengefährlichkeit einer bestimmten Tour weiß und sie

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gleichwohl unternimmt, weil er bestimmte andere Ziele verfolgen will, z. B. noch wie geplant abreisen will. In diesem Fall, so sagen wir, nimmt er ein bestimmtes Risiko in Kauf, d. h. eine mögliche, drohende Selbstgefährdung, um einen bestimmten Nutzen zu erreichen. Wird er bei sonst gleichen Umständen (wie oben) Opfer eines Lawinenabganges, so ist er in diesem Fall dafür verantwortlich zu machen, weil er um das Risiko wusste. Risiken sind, wie Niklas Luhmann pointiert hat, zukünftige mögliche Gefährdungen, die wir um bestimmter anderer Vorteile willen durch eigene Entscheidungen in Kauf nehmen.15 Alle Wissenschaften und Techniken haben riskante Auswirkungen, und die modernen Wissenschafts- und Technikanwendungen sind ohne solche bewussten Risikoentscheidungen gar nicht mehr denkbar. Eigene Wissenschaftszweige, die sich mit Fragen der Risikobewertungen und -verteilung befassen, informieren uns über die Schwierigkeiten, die entsprechenden Kosten-Nutzen- und Wahrscheinlichkeitsberechnungen durchzuführen und produzieren verantwortungsrelevantes, normatives Wissen. In vielen Bereichen haben sich Sicherheitsstandards16 entwickelt, die mehr oder weniger exakt festlegen, welche Risiken noch zu verantworten sind und welche nicht. Hier gibt es eine ganze Reihe von echten Streitpunkten, z. B., ob eine bestimmte Technik noch sicher und verantwortbar genannt werden kann, wenn bei ihr nur mit „extrem hoher Unwahrscheinlichkeit“ mit einer schwerwiegenden Katastrophe zu rechnen ist oder wenn die Gefährdungen erst zukünftige Generationen treffen können, während die gegenwärtige Bevölkerung relativ risikoarm eine bestimmte Technik nutzen kann usw. Solche Fragen sind, so schwierig sie im Einzelfall auch sein mögen, prinzipiell gesehen solange entscheidbar, solange die Standards der Entscheidungen anerkannte moralische Regeln bilden. Das ist aber bei einer Reihe von Problem nicht mehr der Fall: Auf welche Weise die Interessen zukünftiger Generationen von uns berücksichtigt werden müssen, ist vielleicht noch moralisch, d. h. für alle verbindlich, entscheidbar.17 Aber schon eine Reihe von Situationen, in denen die moralischen Regeln selbst in Konflikt miteinander geraten, z. B. die Verpflichtung, Leiden zu mindern, mit der Verpflichtung, Autonomierechte zu achten, sind ohne Entscheidungen darüber, welche Lebensform man wählen will oder welchen gemeinschaftskonstituierenden Werten man folgen will, nicht hinreichend zu bewältigen. In solchen Fällen verlagert sich eine Entscheidungsfindung von rein moralischen Überlegungen in den politischen Bereich, es geht dann darum, wie risikoreich oder -arm eine Gesellschaft sich entwickeln will, z. B. wie hoch sie Sicherheitsinteressen gegenüber den Interessen der Sicherung von Arbeitsplätzen einschätzt, wie sie universelle positive Pflichten, z. B. im Rahmen der Welthungerhilfe, gewichtet mit partikularen Fürsorgepflichten, z. B. Fragen der Rentenversorgung der eigenen Bevölkerung, usw. Die von Ulrich Beck18 diagnostizierte und seitdem viel diskutierte moderne Risikogesellschaft verlagert die Wahrnehmung und Behandlung von Verantwortung vom rein moralischen Bereich in den politischen und im obigen Sinne „ethischen“ Bereich, in dem entschieden wird, wie die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft sich verstehen und wie sie 15 16 17 18

S. Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991 W. Schmittel, International vergleichende Analyse der Instiutionalisierung von Technikfolgenabschätzung, 1992 S. Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, 1988 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986

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leben wollen. Die Moralisierung der Risikoverantwortung wird zunehmend transformiert in eine Politisierung der Entscheidungen über moralische Risikoverantwortung. 3.3 „MORALISCHE“ UND „ETHISCHE“ VERANTWORTUNGEN ANGESICHTS DER KONSTITUTIONELLEN AMBIVALENZ DER BIOTECHNOLOGIEN Wie gesehen, betreffen in einer Reihe von Fällen die Probleme, die uns die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen machen, nicht in erster Linie „moralische“ Fragen im obigen Sinne, sondern es sind Fragen aufgeworfen, die unser Selbstverständnis als Menschen betreffen19, wir können auch sagen, es handelt sich um „ethische“ Probleme. Solche Problemstellungen treten in vielen Wissenschaftssparten auf, besonders spektakulär sind sie aber in der modernen Medizin, den Biowissenschaften und insbesondere in der Gentechnologie.20 So haben die Diskussionen über Abtreibung oder über die Beihilfe zur Selbsttötung21 gezeigt, dass die moralische Beurteilung der anstehenden Handlungsalternativen nicht ohne eine vorgängige Verständigung darüber sinnvoll ist, wer über den Wert des Lebens einer Person entscheiden kann, warum, ab wann und wie weit ein menschliches Wesen Person ist oder ein grundlegendes Recht auf Leben hat, und worin ein solches Recht begründet ist.22 Diese Fragen sind im obigen Sinne ethische Fragen, die vor einer moralischen Diskussion beantwortet sein müssen. Sie sind oft vermengt mit starken weltanschaulichen, metaphysischen oder religiösen Wertungen, die nicht von allen geteilt werden müssen.23 Auch viele aufgeworfene Probleme der Gentechnologie konfrontieren uns mit der Alternative, entweder eine vertraute Lebensform beibehalten zu wollen oder aber eine ganz neue, durch die technischen Eingriffe und Möglichkeiten bestimmte Lebensweise zu akzeptieren.24 Eine solche dramatische Umgestaltung können wir 19

S. auch Ursula Wolf, Moralische und ethische Aspekte der Gentechnik, in: Risiken moderner Technik. Philosophische und soziologische Aspekte von Technik und Gentechnologie, hg. von E. Dittrich / G. Lohmann, Preprint Nr. 4, 1999, 45–52 20 Schon früh hat Hans Jonas diese Probleme diskutiert, s. Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 1985; s. ferner Johann S. Ach (Hg.), Herausforderungen der Bioethik, 1993; Sharon B. Byrd (Hg.), Themenschwerpunkt: Bioethik und Medizinrecht, Jahrbuch für Recht und Ethik 4 (1996); Allen Buchanan / Dan W. Brock / Norman Daniels / Daniel Wikler (Hg.), From Chance to Choice: Genetics and Justice, 2000; Georg Lohmann, Zum Verhältnis von moralischen, rechtlichen und ethischen Begründungen der Präimplantationsdiagnostik (PID), Medizinethik 5 (2005), 75–90 21 S. zu letzterem den Brief von Ronald Dworkin, Thomas Nagel, John Rawls u. a. über „Assisted Suicide“, New York Review of Books 5/1997 22 S. etwa John Harris, Der Wert des Lebens, 1995; Julian Nida-Rümelin, Wert des Lebens, in: Angewandte Ethik (Fn. 12), 831–862; Peter Strasser / Edgar Starz (Hg.), Personsein aus bioethischer Sicht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Beiheft 73 (1997) 23 Ronald Dworkin spricht deshalb davon, dass es sich hier um quasi-religiöse Wertungen handelt, mit überraschenden Folgen für Möglichkeiten staatlicher Strafverfolgung bei Abtreibung und Beihilfe zur Selbsttötung, s. Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens, 1994 24 S. die Diskussion zu Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001; Georg Lohmann, Unantastbare Menschenwürde und unverfügbare menschliche Natur, in: Menschenwürde. La Dignité de l’ etre humain, Studia Philosophica 63 (2004), 55–75

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z. B. an den Auswirkungen pränataler Diagnostik auf die heutigen Vorstellungen, was eine Schwangerschaft ist, beobachten.25 Manchmal scheint es so, als ob von uns nur eine einfache Wahlentscheidung verlangt wird, die Dinge oder das Leben eben so oder so zu sehen. Verantwortungen scheinen wählbar (und abwählbar) wie Lebensstile. Zunächst muss gegen einen solchen Relativismus festgehalten werden, dass auch hier die normalen moralischen Verantwortungskriterien gelten, z. B. bestimmte Sicherheitsstandards. Aber wie die öffentliche Diskussion z. B. um die Frage, ob gentechnisch veränderte Pflanzen besondere Risiken auslösen, zeigt, mischen sich hier Verantwortungsforderungen gemäß anerkannten Sicherheitsstandards mit ganz allgemeinen Vorbehalten gegen die Gentechnologie, z. B. weil diese einen unzulässigen Eingriff in die von Gott geschaffene Schöpfungsordnung darstelle, weil sich hier der Mensch eine absolute Schöpfer-(Macher-)position anmaße, oder weil eine nicht weiter begründbare Abneigung besteht, „unnatürliche“ Lebensmittel zu essen. Solche Bedenken sind nicht wissenschaftlich begründet oder begründbar, sie drücken vielmehr eine bestimmte (manchmal religiöse) Lebensauffassung aus, und es erscheint den betreffenden Menschen, die diese Positionen teilen, unverantwortlich, wenn anders gehandelt wird.26 An diesem Beispiel wird deutlich, dass wir zwar im engeren Bereich der Moral durchaus verbindliche und universelle Kriterien für moralische Verantwortung besitzen, dass aber viele anstehende Probleme und Herausforderungen der modernen Wissenschaften und Techniken uns mit „ethischen“ Fragen konfrontieren, in Bezug auf die wir einen Klärungsprozess, wie wir uns als Menschen verstehen wollen, erst führen müssen, um auch hier verbindliche, in Recht und Politik abgesicherte Kriterien der ethischen Verantwortung zu finden. „Ethische“ Verantwortung beruht auf einer Art von Selbstbindung, in deren Wertungsrahmen nur diejenigen entsprechendes nicht wollen dürfen, die vorher entsprechende Wertungen auch gewollt haben. Dieses Wollen ist freilich nicht als Willkürentscheidung zu verstehen, und es entgeht der Gefahr eines schlichten Relativismus, dem die eine Entscheidung so gut wie die andere ist, in dem Maße, wie es gelingt, seinen internen Begründungsanspruch aufzuklären. Hier sind Fragen der Universalität der modernen Moral und der ihr entsprechenden Menschenrechte angesprochen, die insgesamt das Verhältnis von Moral und Recht in modernen Gesellschaften thematisieren. Das gängige Verständnis universaler und gleicher Menschenrechte setzt nicht nur eine Moral der gleichen Achtung aller voraus, sondern impliziert auch bestimmte ethische Wertungen, wie wir uns als Menschen verstehen wollen. In diesem Rahmen könnte auch der universelle Anspruch moralischer Verantwortung mit der Konzeption einer metaphysikfreien, ethischen Verantwortung verbunden werden.

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S. Marianne Pieper, Vom Schwinden der „guten Hoffnung“: Invasive Pränataldiagnostik und die „Vernaturwissenschaftlichung“ von Schwangerschaft, in: Risiken moderner Technik. Philosophische und soziologische Aspekte von Technik und Gentechnologie (Fn. 19), 15–44 Dies betont auch Dieter Birnbacher, Ethische Fragen der Risikobewertung am Beispiel der Gentechnologie, in: Natur in der Krise. Philosophische Essays zur Naturtheorie und Bioethik, hg. von R. Löw / R. Schenk, 1993, 31–51

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Georg Lohmann

4 DIE META-TUGEND DER VERANTWORTLICHKEIT: ERGÄNZUNG VON RECHT UND MORAL, NICHT ERSETZUNG Die Differenz zwischen Wissen um und Wahrnehmen von Verantwortung ist also besonders groß bei Fragen unübersichtlicher, kollektiver Täterschaft, bei Fragen der Risiko-Verantwortung und bei Konflikten zwischen moralischen und ethischen Verantwortungen. Hier kann eine rechtliche Institutionalisierung von Verantwortung viele Probleme durch Entscheidungen und rechtliche Maßnahmen der Durchsetzung lösen, doch produziert das formale Recht als Nachfolgeproblem seiner rechtlichen Lösungen das Problem der Differenz zwischen Wissen und Tun erneut. Rechtliche Normen können nicht alle möglichen Fälle von Verantwortung regeln, sie sind in einem gewissen Maße von der Metatugend der Verantwortlichkeit der einzelnen abhängig, die als verantwortliche Personen sich gerade die Normen suchen, die in gegebenen Situationen angemessen oder nötig sind. Kollektive Akteure wie Firmen etc. können keine persönlichen Tugenden ausbilden, aber sie können Tugendersatzprogramme entwickeln und institutionalisieren. Z. B. die heftig diskutierten Corporate Social Responsibility (CSR) Programme sind solche Ersatzvornahmen. Schaut man genauer hin, so zerfallen aber die CSR-Programme wieder in eine Reihe von Einzelprogrammen, die wiederum eine Reihe von einzelnen persönlichen Tugenden auf der Ebene eines Unternehmens zu ersetzen versuchen. Insgesamt wird auf diese Weise versucht, die Differenz zwischen Wissen und Tun zu schließen, freilich mit der besonderen Tönung, dass in den ökonomisch auf Effektivität und Profit ausgerichteten Unternehmen nun das Verantwortliche nicht mehr als moralisch Gebotenes, sondern als ökonomisch Vorteilhaftes bestimmt werden soll. Der Wert des wirtschaftlichen Nutzens bestimmt nun die Abwägung der einzelnen Verantwortungsaspekte oder Typen, wenigstens bei einigen Theoretikern.27 Darin liegt nicht gleichzeitig eine Entlastung nachgeordneter Entscheidungsträger, die sich etwa mit der so oft gebrauchten Formel des „Befehlsnotstandes“ herausreden könnten, oder eine Verwässerung der individuellen moralischen Verantwortung. Die einzelne Person behält die volle moralische Verantwortung, die reflexiv mit einschließt, dafür zu sorgen, dass Verstöße gegen moralische Regeln verantwortet werden können (z. B. durch Whistleblowing28). Wenn das nicht möglich ist oder möglich erscheint, dann impliziert das erste oben genannte Kriterium der Freiwilligkeit, dass eine mitbeteiligte Person nicht mehr mitmacht. Eine Grundforderung moralisch verantwortungsvollen Handelns lautet daher, in solchen Konfliktfällen sich nicht zu beteiligen.29 Das kann, wie wir wissen, im Einzelfall durchaus mit persönlichen Risiken und Nachteilen verbunden sein. Und es sind leicht Situationen denkbar, in denen es auch keine ausreichend moralische Reaktion ist, weil in bestimmten Fällen nicht nur passive Nichtbeteiligung, sondern aktive Verhinderung oder die Anstrengung einer besseren rechtlichen Institutionalisierung kollektiver Verantwortlichkeit moralisch gefordert ist. Und „besser“ erscheint nur eine Verantwortungspolitik, in der das entschei27 28 29

S. dazu Georg Lohmann, Marktwirtschaft und Menschenrechte, in: Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, hg. von V. Vanberg, 2012 (im Erscheinen). Dieter Deiseroth, Whistleblowing in Zeiten von BSE: der Fall der Tierärztin Dr. Margrit Herbst, 2001 Ein bekanntes Beispiel ist die „Göttinger Erklärung“ vom April 1957, in der 18 Atomwissenschaftler (unter ihnen Otto Hahn, Werner Heisenberg, C. F. von Weizsäcker) ihre Mitarbeit an Plänen zur atomaren Aufrüstung aufkündigten.

Wissen um Verantwortung und Wahrnehmen von Verantwortung

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dungsabhängige Recht mit seiner formalen Strenge und Gleichheit beibehalten wird, und Tugendersatzprogramme, wie z. B. CSR oder Global Compact, nur ergänzend, aber nicht ersetzend institutionalisiert werden.30

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Georg Lohmann, Eigenverantwortung und völkerrechtliche Bindung von Unternehmen in der Achtung von Menschenrechten, in: Menschenrechte und Wirtschaft. Im Spannungsfeld zwischen State und Nonstate Actors, hg. von P. G. Kirchschläger / T. Kirchschläger / A. Belliger / D. Krieger, 2005, 117–123; Claus-Heinrich Daub, Globale Wirtschaft – Globale Verantwortung, Basel 2005; s. hierzu jetzt auch die Diskussion in: Michael S. Aßländer (Hg.), Corporate Social Responsibility in der Wirtschaftskrise: Reichweiten der Verantwortung, 2010 und Christian Neuhäuser, Unternehmen als moralische Akteure, 2011

ANJA SCHMIDT, LEIPZIG WEIBLICHE UND MÄNNLICHE GESCHLECHTERROLLE IM KONTEXT SELBSTSTÄNDIGKEIT, MÜNDIGKEIT UND VERANTWORTUNG1

VON

Das Thema wurde unter dem Titel „Entmündigung und Selbstentmündigung? – Geschlechterrolle und Verantwortung“ mit einem Hinweis auf Beate Kricheldorf an mich herangetragen. Sie schreibt in ihrem Buch „Verantwortung: Nein danke! Weibliche Opferhaltung als Strategie und Taktik“, dass Frauen zu einseitigen und subjektiven Sichtweisen neigten, um ihre Opferhaltung beibehalten zu können und somit Eigenverantwortung zu vermeiden. Sie wendeten Strategien und Tricks „weiblicher Berechnung“ an, um aus ihrer vermeintlich schwächeren Position Profit zu ziehen, und zwar so perfekt, dass die Männer gar nicht merkten, dass sie die eigentlichen Opfer sind.2 Für eine feministische Geschlechterkritikerin ist das natürlich starker Tobak, aber: Könnte Kricheldorf trotz ihrer vergröbernden und überzeichneten Formulierungen, die im Übrigen auf unsachliche Weise das ganze Buch kennzeichnen, nicht doch irgendwie Recht haben? 1

EINFÜHRUNG

Die Selbstentmündigung von Frauen ist innerhalb der Frauenbewegung und durch feministische Theoretiker/innen schon früh thematisiert worden. Beispielsweise sagte die feministische Psychologin, Soziologin und Philosophin Frigga Haug 1980 in einem Vortrag: „Zugespitzt formuliere ich also: indem sie [die Frauen] Mutterschaft und Ehe in dieser Weise [einschränkend, abhängig machend und entwicklungshemmend] wollen, zumindest heimlich wünschen und irgendwo anstreben, willigen Frauen in diese Unterwerfung ein. … Jede Unterdrückung, die nicht mit äußerem Zwang arbeitet, muss mit der Zustimmung der Beteiligten arbeiten. … In jedem Tun steckt also ein Stück Einwilligung, auch das Sich-Opfern ist eine Tat und kein Schicksal.“3

Dass Frauen ihren Teil zu ihrer Unterdrückung beitragen, sich auch in die Opferrolle begeben, wurde und wird also von Feminist/innen gesehen.4 Worin hierbei die Entmündigung von Frauen in ihrer traditionellen Geschlechterrolle besteht, scheint heute klar zu sein. Es soll dennoch noch einmal erläutert werden (3), nachdem die 1

2 3 4

Es handelt sich um die überarbeitete Fassung des auf der IVR-Tagung „Zurechnung und Verantwortung“ am 23. September 2010 gehaltenen Vortrages „Entmündigung und Selbstentmündigung? – Geschlechterrolle und Verantwortung“. Ich danke Herrn Prof. Dr. Joachim Renzikowski für seine Geduld und Frau Dr. Friederike Wapler für ihre konstruktive Kritik. Beate Kricheldorf, Verantwortung: Nein danke! Weibliche Opferhaltung als Strategie und Taktik, 1998; Seite nach dem Blatt mit dem Titel und den bibliographischen Angaben Frigga Haug, Opfer oder Täter?, Vortrag gehalten auf der Volksuniversität Berlin 1980, u. a. veröffentlicht in: Frauen – Opfer oder Täter?, hg. von Frigga Haug, 1982, 4 (8) Deutlich auch: Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1949 (2009), hierzu näher unten unter 5.1. Letztens zudem Bascha Mika, Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität. Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug, 2011.

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Anja Schmidt

Begriffe Geschlechterrolle, Mündigkeit und Verantwortung geklärt wurden (2). Dabei wird deutlich werden, dass die weibliche Geschlechterrolle hinsichtlich der Fürsorge, mit der wir alle unsere wechselseitige Abhängigkeit bewältigen, sehr wohl mit wesentlichen, existenziellen Bereichen der verantwortlichen Bewältigung unseres Lebens verbunden ist. Zunächst scheint auch klar zu sein, dass sich die Frage der Entmündigung im Geschlechterverhältnis nur auf Frauen bezieht. Bei einer näheren Untersuchung der männlichen Geschlechterrolle wird sich allerdings zeigen, dass diese sich zwar als Aspekt des Ideals der Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortlichkeit ausgeformt hat, sich aber in der Verabsolutierung der Selbstständigkeit und der anmaßenden Abwertung des Weiblichen bzw. der Fürsorge und überhaupt der wechselseitigen Abhängigkeit in ihr grundlegende Züge von Unmündigkeit und Verantwortungslosigkeit zeigen. Auf diese Weise stellen sich nicht nur Frauen, sondern auch Männern geschlechtsspezifische Herausforderungen für ein angemessen selbstständiges, mündiges und verantwortungsbewusstes Leben. Ebenso wird deutlich, dass nicht nur die Geschlechterrollen, sondern auch das unter anderem an der männlichen Geschlechterrolle ausgeformte, nur vorgeblich geschlechtsunspezifische Selbstständigkeitsideal zu hinterfragen ist (zum Ganzen 4). Um zu verstehen, inwiefern wir von fremd- und selbstverantworteter Entmündigung/Unmündigkeit sprechen können, werde ich anschließend erörtern, auf welche Weise wir in die Geschlechterrollen ebenso wie in (Un-)Selbstständigkeit, (Un-) Mündigkeit und Verantwortlichkeit/Verantwortungslosigkeit hineinwachsen (5). Auch hier wird sich wechselseitige Abhängigkeit als Existenzbedingung aufweisen lassen und damit noch einmal deutlich werden, dass Solidarität, insbesondere auch Fürsorge, der Selbstständigkeit gleichrangig ist. Abschließend (6) werde ich darauf eingehen, welche Rolle das Recht bei der Prägung der Menschen durch Geschlechterrollen in diskriminierender wie emanzipatorischer Hinsicht spielt, also entmündigend oder „ermächtigend“ wirkt, und darauf verweisen, dass es dringend notwendig ist, neben bzw. im Zusammenhang mit der geschlechterkritischen Frauenforschung auch eine Männer- bzw. Männlichkeitsforschung im Recht zu etablieren, die dessen von der männlichen Geschlechterrolle geprägtes und nur vorgeblich allgemein gedachtes Menschenbild bzw. Selbstständigkeitsideal hinterfragt. 2

BEGRIFFE: GESCHLECHTERROLLE, MÜNDIGKEIT, VERANTWORTUNG

Geschlechterrollen sind Stereotype, die unser Selbstverständnis und unsere Lebensweise als Männer oder Frauen jeweils für uns selbst und im Miteinander mehr oder weniger tiefgreifend prägen. Sie sind sozial, also durch gesellschaftliche Praxen konstruiert und auf diese Weise historisch-kulturell gewachsen und tradiert. Dass sie sozial konstruiert und historisch-kulturell situiert sind, zeigt sich schon an den Veränderungen, die die Geschlechterrollen allein in den letzten reichlich 100 Jahren durchlaufen haben, vor allem weil die weibliche Geschlechterrolle durch die Frauenbewegung vehement in Frage gestellt wurde. Diese Veränderungen führen auch dazu, dass sie uns persönlich heute nur noch mehr oder weniger tiefgreifend betreffen. Allerdings prägen uns Geschlechterrollen nicht nur in unserer persönlichen

Geschlechterrolle und Selbstständigkeit, Mündigkeit, Verantwortung

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Identität, sie sind auch als stark typisierende normative Leitbilder wirksam. Das heißt, dass sie als Vorstellung von einer anzustrebenden Lebensweise relativ unabhängig davon wirken, wie viele Menschen die Geschlechterrollen auf welche Weise auch wirklich leben. Mit dieser Leitbildfunktion erklärt sich zudem die Rede von männlichen oder weiblichen Werten bzw. dem Männlichen oder dem Weiblichen, auch wenn Männer Weibliches oder Frauen Männliches leben und leben können.5 Zu berücksichtigen ist dabei aber, dass von der Weiblichkeit und der Männlichkeit eigentlich nicht gesprochen werden kann, dass es also heterogene Gruppen „der Männer“ und „der Frauen“ und letztlich auch die weibliche und die männliche Geschlechterrolle nicht gibt. Vielmehr gibt es verschiedene Rollenvorstellungen und Idealbilder des Weiblichen und des Männlichen, zum Beispiel je nach der Situation der sozialen Bezugsgruppe, wobei sich diese Rollenvorstellungen und Idealbilder auch überlagern können. So können etwa homosexuelle Männer oder bestimmte Gruppen homosexueller Männer typischerweise ein anderes Leitbild von Männlichkeit haben als heterosexuelle Männer und bürgerliche Männer typischerweise ein anderes als Arbeiter.6 Wenn allgemein von Geschlechterrollen die Rede ist, ist meist die Rolle des bürgerlichen weißen heterosexuellen Mannes und die der bürgerlichen weißen heterosexuellen Frau gemeint. Der Begriff Mündigkeit leitet sich aus dem mittelalterlichen deutschen Rechtswort „munt“ ab, das die personalrechtliche (Schutz-)Gewalt des Hausvaters über die Ehefrau, Kinder und das Gesinde bezeichnete. Aus der „munt“ schied man(n!) durch Verselbstständigung, zum Beispiel durch die eigene Eheschließung aus; Frauen kamen mit der Eheschließung unter die Munt des Ehemannes. Mündig ist ein Mensch, wenn er als fähig erachtet wird, in den eigenen (vor allem Rechts-) Angelegenheiten selbstständig bzw. in eigener Verantwortung zu bestimmen (heute rechtlich als Geschäftsfähigkeit, Strafmündigkeit, Ehemündigkeit usw.) bzw. die Macht über die eigene Person auszuüben.7 Im Zusammenhang des hier erörterten Themas meint Mündigkeit allgemeiner die Verhaltensmacht in eigenen Angelegenheiten, die Fähigkeit, sich selbstständig und eigenverantwortlich um sich kümmern zu können. Für etwas verantwortlich zu sein bedeutet, etwas in einem Raum von Möglichkeiten in der eigenen Hand zu haben, also selbst gestalten zu können, und dafür – etwa vor Gericht oder vor Gott, vor den Anderen, aber auch für sich selbst – einstehen zu müssen, sich rechtfertigen zu müssen. Auch der Begriff Verantwortung wurde zunächst im Rechtsbereich im Zusammenhang mit der Zurechnung von Verhaltensweisen, zum Beispiel einer strafbaren Tat, gebraucht, betrifft unser Verhalten aber 5

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Vgl. einführend zum Ganzen sowie zur Verwobenheit mit dem Begriff des biologischen Geschlechts und dessen Infragestellung Annegret Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: Feministische Rechtswissenschaft, hg. von Lena Foljanty / Ulrike Lembke, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 6, 46 ff.; Elisabeth Greif / Eva Schobesberger, Einführung in die Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2007, 47 ff.; Judith Lorber, Gender-Paradoxien, 2. Aufl. 2003, 41, 55 ff. Vgl. zum Ganzen etwa Künzel (Fn. 5), § 2 Rn. 25 ff., 28 ff., 53 ff.; Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, 3. Aufl. 2010, 141 ff.; Raewyn (Robert W.) Connell, Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 3. Aufl. 2006, 109 ff. Vgl. hierzu Stichworte „Munt“ und „Mündigkeit“ in: Deutsches Rechtslexikon, Bd. 2, hg. von Horst Tilch und Frank Arloth, 3. Aufl. 2001; vgl. zu einer geschlechterkritisch differenzierten Erläuterung Friederike Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: Feministische Rechtswissenschaft (Fn. 5), § 1 Rn. 3 f.

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Anja Schmidt

auch in nichtrechtlicher, also moralischer und ethischer Hinsicht. Er setzt die Macht über sich selbst, also Selbstständigkeit und damit auch die Fähigkeit zur Selbstständigkeit, also Mündigkeit, voraus.8 Die Begriffe Mündigkeit und Verantwortung stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff der Selbstständigkeit, bzw. dem der Autonomie/Selbstbestimmung. Selbstständigkeit bzw. Selbstbestimmung lassen sich grob als die Macht über sich selbst, über die eigene Person bzw. das eigene Verhalten, als das Gestalten des eigenen Lebens, des Lebens Anderer und der Welt von sich aus und aus eigener Kraft bestimmen. Verantwortung bezeichnet dabei die Zurechnung eines Verhaltens oder seiner Folgen zu demjenigen/derjenigen, der/die selbst darüber bestimmt hat, sich selbstbestimmt verhalten hat. Mündigkeit bezeichnet die Fähigkeit, selbst über seine/ihre Angelegenheiten zu entscheiden. Verantwortung und Mündigkeit sind insofern auf bestimmte Aspekte konkretisierte Ausformungen von Selbstständigkeit bzw. Selbstbestimmung. Wie sich im Laufe meiner Erläuterungen zeigen wird, wird der Begriff der Selbstbestimmung in der Tradition der liberalen praktischen Philosophie in einem sehr starken, absoluten Sinne gebraucht, während ich davon ausgehe, dass wir nicht absolut selbstbestimmt, sondern auch als „Selbstbestimmte“ immer auch in eine vorgängige gemeinsame Praxis eingebunden sind. Ich bevorzuge daher den Begriff der Selbstständigkeit. 3 DIE WEIBLICHE GESCHLECHTERROLLE MÜNDIGKEIT UND VERANTWORTUNG

IM

KONTEXT

VON

SELBSTSTÄNDIGKEIT,

Um den Zusammenhang von Geschlechterrollen, Mündigkeit und Verantwortung deutlich erläutern zu können, nehme ich auf die Stereotype der Geschlechterrollen in ihrer traditionellen Zuspitzung, wie sie vor allem unser Staats- und Rechtsverständnis prägen, also auf die Leitbilder der bürgerlichen weißen heterosexuellen Frau und des bürgerlichen weißen heterosexuellen Mannes, Bezug. Dabei drängt sich zunächst die Erläuterung der weiblichen Geschlechterrolle als Prototyp für entmündigtes Leben im Geschlechterverhältnis auf. 3.1 DIE TRADITIONELLE ENTMÜNDIGUNG VON FRAUEN DURCH DIE WEIBLICHE GESCHLECHTERROLLE 1. Frauen sind in den bürgerlichen Theorien von Recht und Staat traditionell darauf festgelegt, dem Mann untergeordnet für die häuslich-private Sphäre und dort für die Fürsorge verantwortlich zu sein. Legitimiert wird das, indem Frauen aufgrund ihrer Fähigkeit zu gebären und zu stillen mit natürlichen Aspekten unserer Existenz, genauer Fortpflanzungsfähigkeit und Emotionalität, identifiziert werden. Die Fähigkeit, vernünftig zu denken, wird ihnen ab- bzw. gegenüber den Männern in geringerem Maße zugesprochen. So schreibt Jean-Jaques Rousseau: „Die Erforschung der 8

Vgl. näher Kurt Bayertz, Verantwortung, in: Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, hg. von Hans Jörg Sandkühler, 1999, 1683 li. Sp.; Johannes Schwartländer, Verantwortung, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 6, hg. von Hermann Krings u. a., 1577 (1579 f.)

Geschlechterrolle und Selbstständigkeit, Mündigkeit, Verantwortung

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abstrakten und spekulativen Wahrheiten, die Prinzipien und Axiome der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe abzielt, ist nicht Sache der Frauen. Ihre Studien müssen sich auf das Praktische beziehen. Ihre Sache ist es, die Prinzipien anzuwenden, die der Mann gefunden hat.“ Ihre ganze Erziehung müsse auf die Männer Bezug nehmen. „Ihnen gefallen und nützlich sein […] das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen.“9 Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel verkörpert „das Eine“ als das „Geistige, als das sich Entzweiende in die für sich seiende persönliche Selbstständigkeit und in das Wissen und Wollen der freien Allgemeinheit“, der Mann, der daher „sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst“ hat, während die Frau als „das Andere“ „in Form der konkreten Einzelnheit und der Empfindung“ ihre „substantielle Bestimmung“ in der Familie hat.10 Durch diese Reduktion auf die leiblichen Aspekte ihrer Existenz werden Frauen weitgehend entmündigt: Sie gelten als nicht hinreichend vernünftig und selbstständig, also als unmündig, so dass ihnen die persönliche, wirtschaftliche und politische Selbstständigkeit, so wie sie Männern zusteht, versagt wird und ihnen der öffentliche Raum traditionell nicht zugänglich ist.11 2. Die Entmündigung bzw. Abwertung der weiblichen Geschlechterrolle vollzieht sich allerdings nicht nur durch den Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit, sondern auch durch eine Abwertung der als untergeordnet-privat erachteten Fürsorgetätigkeit gegenüber den typisch männlichen Lebensweisen in der Öffentlichkeit des Staates, der Wissenschaft und des Arbeitslebens sowie als Oberhaupt der Familie. Wie in den Zitaten von Rousseau und Hegel deutlich wird, wird die männliche Geschlechterrolle mit der autonomen Selbstständigkeit, damit Mündigkeit und Verantwortlichkeit, gleichgesetzt, wohingegen fundamentale Aspekte wechselseitiger Abhängigkeit und damit notwendiger Solidarität und Fürsorge gegenüber der Selbstständigkeit marginalisiert werden.12 Dies entspricht, im Anschluss an den praktischen Philosophen Thomas Rentsch, allerdings nicht den fundamentalen Bedingungen unserer – auch selbstständigen! – Existenz, die ein durch Andere begleitetes Wachsen in die Selbstständigkeit, also Fürsorge, und auch im Erwachsenenalter Formen gegenseitiger Solidarität und gegenseitigen Sorgens grundlegend voraussetzt: Wir sind für das Wachsen in die selbstständige Existenz notwendig auf die Anderen, vor allem auf deren Fürsorge angewiesen und bleiben dies, wenn auch in beschränktem Maße, als Erwachsene. Denn wie Selbstständigkeit gelebt wird, lernen wir von Anderen innerhalb einer vorgängigen Praxis anhand konkreter praktischer Formen. Auch als Erwachsene agieren wir in dem kulturell-historisch immer schon erschlossenen und auch aktuell gemeinsamen praktischen Handlungsraum und kön9 10 11

12

Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (1762), 13. Aufl. 2001, 394, 420 Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1995, § 166 Einführend zum Ganzen Anja Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Feministische Rechtswissenschaft (Fn. 5), § 3 Rn. 2 ff., 6 ff., 15 f.; vgl. auch, insbesondere zu früheren fortschrittlicheren gesellschaftlichen Entwicklungen, Wapler (Fn. 7), § 1 Rn. 3 ff. Dieses Leitbild schließt andere gelebte Frauenrollen nicht aus, beispielsweise die arbeitende Proletarierin, vgl. zu einer differenzierten historischen Perspektive Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Eine Einführung in die Geschlechtergeschichte, 2005, 106 ff., 164 ff. Vgl. hierzu Seyla Benhabib, Der verallgemeinerte und der konkrete Andere, in: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, hg. von Elisabeth List und Herlinde Studer, 1989, 454 (463 ff.)

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Anja Schmidt

nen viele praktische Formen nur im solidarischen Miteinander leben und entwickeln. Dafür stehen nicht nur typische Unterstützungs- und Beratungstätigkeiten, wie etwa fachkundiger anwaltlicher oder medizinischer Rat oder ein Freundschaftsdienst. Auch Phänomene wie die Wissenschaft werden nicht durch nur äußerlich kommunizierende Nomad/innen betrieben, sondern sind von vornherein als gemeinsame Praxis angelegt, da wir wissenschaftlich nur auf der Basis einer wissenschaftlichen Vorprägung und in der Auseinandersetzung mit einem konkreten wissenschaftlichen Umfeld arbeiten. Auch Formen der Gemeinschaft, die ein Zusammenleben konkret stützen und ausformen, wie etwa der Staat und das Recht, dürften so Ausdruck gegenseitiger Solidarität im Sinne von gemeinsamen Formen der Bewältigung der gemeinsamen Existenz sein. Das Notwendige im Miteinander lässt sich so nicht auf die Fürsorge im Sinne des Sorgens für Kinder und sorgebedürftige erwachsene Menschen beschränken, sondern erfasst unsere Praxis insgesamt. Natürlich könnten wir uns als Erwachsene auch als Eremit/innen zurückziehen, auch dies geschieht allerdings nur in einem gemeinsam schon erschlossenen Handlungsraum (Eremit/innen gibt es nur in Bezug auf diesen) und der Rückzug wird sich auf unsere konkreten Entfaltungsmöglichkeiten auswirken. Die Anderen erweisen sich damit als unabdingbar für unsere Existenz als Selbstständige, Existenzialität und Interexistenzialität sind gleichursprünglich aufeinander verwiesen, das heißt, sie sind nicht auseinander ableitbar und das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden.13 Solidarität, unter anderem die weiblich konnotierte Fürsorge, ist deshalb ein fundamental wichtiger Bereich verantwortungsvollen Verhaltens im Rahmen eines angemessenen Verständnisses von Selbstständigkeit und darf dieser gegenüber nicht abgewertet und an den Rand gedrängt werden. 3.2 DAS FORTWIRKEN DER TRADITION 1. Heute sind Frauen in unserer Gesellschaft grundsätzlich als den Männern gleichermaßen vernünftig und mündig anerkannt, ihnen stehen grundsätzlich dieselben Möglichkeiten persönlicher, wirtschaftlicher und politischer Selbstständigkeit offen. Dennoch wirkt die Tradition der weiblichen Geschlechterrolle fort: So sind Frauen – trotz inzwischen gleicher und besserer Qualifikation als Männer – auf der ersten Führungsebene auch kleiner und mittlerer Unternehmen nur mit einem Anteil von 25 %, auf der zweiten Führungsebene mit einem Anteil von 35 % vertreten und in den DAX30-Unternehmen gibt es gerade einmal vier Frauen in Vorständen.14 Der im Juli dieses Jahres erstmals veröffentlichte Woman-on-Board-Index verzeichnet einen Frauenanteil von 11,8 % in den Aufsichtsräten der 160 DAX, MDAX, SDAX und TecDAX-Unternehmen, in deren Vorständen lediglich 3,8 %.15 Die Elternzeit wurde für im ersten Quartal 2010 geborene Kinder – immerhin und nur – von 24,4 % der Väter in Anspruch genommen, wobei die Väter das Elterngeld 13 14 15

Vgl. zum Ganzen Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 1999, v. a. 155 ff., zudem 147 f., 175 f., 212 ff., 225 ff., zur Gleichursprünglichkeit insb. 94 ff. Vgl. m. w. N. Lena Hünefeld und Heather Hofmeister, Frauen in Führungspositionen, Artikel vom 8.9.2010, http://www.bpb.de/themen/5MWTZ0.html (7.9.11) Initiative FidAR – Frauen in die Aufsichtsräte, http://www.fidar.de/WoB-Index.92.0.html (7.9.11)

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Geschlechterrolle und Selbstständigkeit, Mündigkeit, Verantwortung

durchschnittlich 3,4 Monate, die Mütter hingegen 11,7 Monate in Anspruch nahmen.16 Das Fortwirken dieser tradierten Rollenverteilung zeigt sich zudem in der Abwertung von Fürsorgetätigkeit gegenüber typisch männlicher Erwerbstätigkeit. Beispielsweise werden bei der Rentenberechnung zwar inzwischen Erziehungszeiten angerechnet und niedrige Rentenanwartschaften bei einer gleichzeitigen Betreuung von Kindern unter zehn Jahren durch eine Gutschrift von Entgeltpunkten aufgewertet. Aufgrund der Orientierung des Rentenrechts am Normalarbeitsverhältnis des idealtypisch männlichen „Eckrentners“, der 45 Jahre Vollzeit gearbeitet und durchschnittlich verdient hat, führt dies allerdings nur zu geringfügigen Verbesserungen bei der Altersversorgung von Menschen, bei denen sich die typisch weiblichen Risiken der Erwerbsbiographie verwirklicht haben.17 2. Mit der Emanzipation der Frauen hat sich die Rolle des Mannes als Oberhaupt der Familie, der sie auch nach außen vertritt, zunehmend aufgelöst. Dabei konnte sichtbar werden, dass Frauen mit der familiären Sorge und anderen weiblich konnotierten Sorgetätigkeiten, etwa der Pflege Angehöriger, nicht nur untergeordnete Aufgaben wahrnehmen, sondern ihnen im Rahmen der weiblichen Geschlechterrolle ein existenzieller Bereich unseres Lebens anvertraut ist, der verantwortlich auszufüllen ist. Diese Fürsorgekompetenz können Frauen natürlich nicht nur verantwortungsbewusst wahrnehmen, sie können sie auch anmaßend missbrauchen, etwa durch das Instrumentalisieren der Kinder im „Scheidungskrieg“. 4 MÄNNLICHE GESCHLECHTERROLLE MÜNDIGKEIT UND VERANTWORTUNG

IM

KONTEXT

VON

SELBSTSTÄNDIGKEIT,

Auch für die männliche Geschlechterrolle lassen sich in ihrer traditionell-bürgerlichen Form Aspekte von Entmündigung bzw. Unmündigkeit aufweisen, auch wenn dies erst einmal nicht so naheliegend ist. Denn Mündigkeit wird an das Ideal absoluter Selbstständigkeit, das unter anderem an der männlichen Geschlechterrolle ausgeformt ist, geknüpft: 4.1 TRADITIONELLE VERQUICKUNG VON MÄNNLICHER GESCHLECHTERROLLE UND SELBSTSTÄNDIGKEITSIDEAL Traditionell wird die männliche Rolle nicht als Geschlechterrolle, also quasi als die „Kehrseite der Geschlechtermedaille“ wahrgenommen, sondern mit der Vorstellung von vollwertiger menschlicher Selbstständigkeit identifiziert. Exemplarisch dafür steht wie schon zitiert Hegel, wenn er den Mann als „das Eine“ und die Frau als „das Andere“, minderwertig Abweichende bestimmt.18 Es lässt sich also sagen, dass die Konzepte von selbstständigem, vernünftigem bzw. verantwortlichem Menschsein häufig nur vorgeblich allgemein für alle Menschen gedacht, in Wahrheit aber unter 16 17

Statistisches Bundesamt Deutschland, Pressemitteilung Nr. 321 vom 06.09.2011 Ausführlich, instruktiv und m. w. N. zum Ganzen Maria Wersig, Der unsichtbare Mehrwert: Unbezahlte Arbeit und ihr Lohn, in: Feministische Rechtswissenschaft (Fn. 5), § 8 Rn. 40 ff. 18 Hegel (Fn. 10), § 166; auf die Kategorien des Einen und des Anderen nimmt in ihrer Analyse des Geschlechterverhältnisses de Beauvoir (Fn. 4), u. a. 11 ff. Bezug.

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Anja Schmidt

anderem an der traditionell ausgeformten bürgerlich-männlichen Geschlechtsrolle orientiert sind. Zudem zeigt sich hieran, dass Konzepte von Selbstständigkeit, auch wenn sie allgemein bezogen auf alle Menschen und abstrakt von konkreten Lebensverhältnissen gedacht sind, immer historisch-kulturell situiert sind und sich nur in konkreten Ausformungen, zum Beispiel hinsichtlich des Geschlechts, der familiären und ethnischen Herkunft, des Bildungshintergrundes und -standes, des Gesundheitszustandes und der normalerweise heterosexuellen Orientierung,19 zeigen. Selbstständigkeit kann insofern nicht überzeitlich und überkulturell allgemein auf alle Menschen und zugleich abstrakt von den konkreten Verhältnissen gedacht werden.20 Es lässt sich also sagen, dass mit der Selbstständigkeit (Verantwortlichkeit, Mündigkeit) traditionell immer auch die männliche Geschlechterrolle des heterosexuellen weißen Bürgers gemeint ist, also in Wahrheit kein bezüglich der Geschlechtlichkeit und anderer Merkmale allgemeines Bild vom Menschsein beschrieben wird. Ist man sich dessen bewusst, wird sichtbar, dass es sich bei dem traditionellen Idealbild der Selbstständigkeit auch „nur“ um eine Geschlechterrolle handelt, und zwar eine Geschlechterrolle, die der weiblichen korrespondiert21 und die den bürgerlichen Mann der westlichen Gesellschaften meint22. In dieser Rolle steht der Mann der Familie vor und genießt die persönliche, wirtschaftliche und politische Freiheit in der öffentlichen Sphäre. 4.2 VERFEHLUNG DER GRUNDBEDINGUNGEN UNSERER EXISTENZ IN GESCHLECHTERROLLE UND TRADITIONELLEM SELBSTSTÄNDIGKEITSIDEAL

MÄNNLICHER

Die Identifizierung der Selbstständigkeit mit der männlichen Geschlechtsrolle ist nicht nur im Hinblick darauf problematisch, dass sie nicht wirklich geschlechtsunspezifisch gedacht ist. Denn zwar umfassen Selbstständigkeit und die männliche Geschlechterrolle mit der vollwertigen Fähigkeit zum vernünftigen Denken, der daran geknüpften Mündigkeit und Verantwortlichkeit und den daraus resultierenden persönlichen, wirtschaftlichen und politischen Freiheiten wesentliche Aspekte von selbstständiger Existenz. Beides zeigt sich jedoch in mehrfacher Hinsicht in Bezug auf Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortung als defizitär, wenn die geschlechtlichen Konnotationen mitbedacht werden:

19

20 21 22

Vgl. hierzu Schmidt (Fn. 11), § 3 Rn. 4. Das ist Anknüpfungspunkt für die Überlegungen zur Intersektionalität, die Überschneidung von Diskriminierungsmerkmalen, vgl. dazu m. w. N. Künzel (Fn. 5), § 2 Rn. 53 ff. Vgl. zur Eingebundenheit des Denkens in konkrete historische, kulturelle und anderweitig konkretisierte Situationen Rentsch (Fn. 13), insb. V f., 63, 66 f., vgl. aber auch II ff.; 65 ff.; 68 ff. Instruktiv hierzu Karin Flaake, Die „andere Stimme“ – verborgen und im Hintergrund?, in Sei wie das Veilchen im Moose…, hg. von Nicole Kramer u. a., 1994, 45 (45 ff.) Deutlich wird das etwa bei Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Weischede1-Werkausgabe, Bd. 8, Erster Teil, II. Teil § 46 (A 167 f., B 197 f.): „[…] alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staates) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz [passive Staatsbürgerschaft].“ Kant schließt also nicht nur Frauen, sondern auch wirtschaftlich unselbstständige Männer von der aktiven Staatsbürgerschaft aus.

Geschlechterrolle und Selbstständigkeit, Mündigkeit, Verantwortung

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Erstens beruht die männliche Geschlechterrolle und die mit ihr verbundene Vorstellung von Selbstständigkeit in ihrer traditionellen Ausformung auf einem Unterwerfungsverhältnis, also der Unterordnung von Frauen. Hier zeigt sich Verantwortungslosigkeit in anmaßender Überhebung und Selbstüberhebung gegenüber den Aspekten der weiblichen Geschlechterrolle und den im Menschsein als gleich zu respektierenden Frauen. Zweitens sind in die männliche Geschlechterrolle durch die Marginalisierung der weiblich konnotierten in Wahrheit aber geschlechtsunspezifischen Aspekte unserer Existenz, also hinsichtlich der eigenen Abhängigkeit und des Leiblichen, unter anderem des Emotionalen, grundlegende Defizite eingeschrieben. Drittens werden mit dieser Unterordnung des Weiblichen wechselseitige Abhängigkeit und Solidarität, also auch Fürsorge, innerhalb des Verstehens unseres Lebens in praktischer, also moralischer, ethischer und rechtlicher Hinsicht marginalisiert, die Selbstständigkeit wird regelrecht verabsolutiert. Das aber widerspricht einem angemessenen Verständnis von Selbstständigkeit, die gleichursprünglich immer auch auf wechselseitige Abhängigkeit verwiesen ist, wie bereits erläutert wurde23. Ein Autonomieverständnis, das derart absolut gesetzt ist, wie im traditionell-bürgerlichen Männlichkeitsideal, stellt insofern eine unangemessene Übersteigerung dar.24 Viertens wird der Blick durch das Schema der Geschlechterrollen (hier der männlichen wie der weiblichen) insofern verengt, als nur absolute Selbstständigkeit und Fürsorge zum Wachsen in die Selbstständigkeit als grundlegende Aspekte des Menschseins gesehen werden. Wechselseitige Abhängigkeit geht aber wie erläutert über die kindliche Abhängigkeit hinaus, sie ist genauso wesentlich für unser Leben als Selbstständige wie die Selbstständigkeit. Dies ist ein Einwand, der sich überhaupt gegen das auf den traditionellen Geschlechterrollen beruhende Denken einschließlich eines verabsolutierten Selbstständigkeitsideals richtet. 4.3 PHÄNOMENE DER MÄNNLICHEN GESCHLECHTERROLLE IN DER VERABSOLUTIERUNG SELBSTSTÄNDIGKEIT

DER

Aus dem mit der männlichen Geschlechterrolle verbundenen Verständnis von Selbstständigkeit, damit auch von Mündigkeit und Verantwortung, werden also Aspekte fundamentaler interexistentieller Bedingtheit unzulässig ausgeklammert. Damit bleiben im Ideal selbstständiger Männlichkeit Aspekte der Fürsorge, Abhängigkeit und Emotionalität unterbestimmt und bedingen so eine unvollkommene, insofern unmündige, Ausformung der männlichen selbstständigen Existenz, soweit sie diesem Idealbild entspricht. Der Mediziner und Psychotherapeut Matthias Franz hat als ein aktuelles Symptom dafür einen „herzzerreißenden Vaterhunger“ vor allem von Jungen und Männern sowie die Überforderung von Männern im Zwiespalt zwischen altem maschinenhaften, autonomiebetonten und neuem auch emotional geprägten Männlichkeitsverständnis benannt.25 Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst-Eberhard Richter beschreibt und analysiert in seinem Buch „Die 23 24 25

Oben unter 3.1.2. Vgl. Horst-Eberhard Richter, Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft, 2006, u. a. 9 ff. Vgl. Matthias Franz, interviewt von Martin Reichert, „So groß ist der Vaterhunger, herzzerreißend“,

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Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft“ ausführlich die Phänomene eines autonomiezentrierten „Männlichkeitswahns“, die den öffentlichen Raum durch Konkurrenzverhalten, Stärkekult, übersteigertes und verabsolutiertes Leistungsdenken sowie maßlosen männlichen Eroberungswillen prägen und bei denen das Emotionale, das das Bild des Männlichen vervollständigen könnte, als entmännlichend stigmatisiert wird. Er fasst darunter unter anderem die Politik des Wettrüstens und das Extrembergsteigen.26 5 SELBST-ENTMÜNDIGUNG? ZUR KONSTITUTION SELBSTSTÄNDIGKEIT UND GESCHLECHTERROLLEN

VON KONKRETER

Es hat sich gezeigt, dass die abstrakt gefassten Ideale von Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortlichkeit unausgesprochen auf konkreten Ausformungen der männlichen Geschlechtsrolle beruhen, was weitere konkret-situierte Konnotationen, etwa hinsichtlich der familiären und ethnischen Herkunft, des Bildungshintergrundes und -standes, des Gesundheitszustandes und der sexuellen Orientierung, nicht ausschließt. Auch die Selbstständigkeit und die aus ihr abgeleiteten Begriffe sind somit konkret historisch-kulturell gewachsen und konkret unter anderem in den Geschlechterrollen ausgeformt. Warum das so ist, wird deutlich werden, wenn ich im Folgenden erläutere, wie wir in die konkrete (Un-)Selbstständigkeit und damit auch in die Geschlechterrollen hineinwachsen, wie sich Selbstständigkeit und Geschlechterrollen also auch in ihrem Zusammenhang konstituieren. Aus der näheren Betrachtung dieser Konstitutionsprozesse wird sich zudem erschließen, inwiefern wir von (fremdbestimmter) Entmündigung und (auf eigenen Anteilen beruhender) Selbstentmündigung sprechen können. 5.1 KONSTITUTION VON GESCHLECHTERROLLEN Das Wachsen in die Selbstständigkeit als Männer und Frauen innerhalb einer vorgängigen Praxis mit Anderen, lässt sich konkret an der Konstitution der Geschlechterrollen aufweisen: In der feministischen Forschung ist herausgearbeitet worden, dass wir nicht als Männer und Frauen geboren, sondern dazu gemacht werden. Am Beginn steht 1949 Simone de Beauvoirs’ These „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.“27 „Die Frau ist nicht Opfer einer geheimnisvollen Schicksalshaftigkeit. Die Besonderheiten, die sie kennzeich-

26 27

taz, 19.2.2011, 13; vgl. des Weiteren http://www.maennerkongress2010.de (12.9.2011) mit weiterführenden Hinweisen Vgl. Richter (Fn. 24), 9 ff., 49 ff., 55 f., 207 ff. De Beauvoir (Fn. 4), 334. In dieser Untersuchung zeichnet sie in akribischer Kleinarbeit die Formung des weiblichen Geschlechts in Psychoanalyse, Literatur, Philosophie und anhand gelebter Erfahrungen nach, ohne allerdings die Konstruiertheit des biologischen Geschlechts in Frage zu stellen.

Geschlechterrolle und Selbstständigkeit, Mündigkeit, Verantwortung

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nen, beziehen ihr Gewicht aus der Bedeutung, die man in sie hineinlegt.“28 Davon ausgehend arbeiten weitere feministische und geschlechterkritische Forscher/innen heraus, wie Kinder durch geschlechtsspezifische Erziehung in die Geschlechterrollen hineinsozialisiert werden, indem ihnen immerwährend bestimmte Geschlechterrollen vorgelebt werden und ganz selbstverständlich geschlechtsspezifische Erwartungen an ihr Verhalten gestellt werden. Durch diese beständigen Wiederholungen und Bestätigungen lernen Kinder, wie Männer und Frauen sind und zu sein haben. Konkret: Wenn daheim die Mutter den Haushalt macht und der Vater in Geldangelegenheiten entscheidet, wenn nur die Tochter dazu angehalten wird, im Haushalt mitzuhelfen, und der Sohn in der Werkstatt des Vaters mitbasteln darf oder muss, prägt dies das Verständnis der Kinder, wie Männer und Frauen sind bzw. zu sein haben. Außerdem erlernen sie auf diese Weise ganz selbstverständlich geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und werden so in ihren Entfaltungsmöglichkeiten geschlechtlich geprägt. An diesem Prozess der geschlechterrollenspezifischen Sozialisation sind nicht nur nahe und ferne Bezugspersonen beteiligt, sie wird durch alle Praxen im gesamten gemeinsamen Handlungsraum, also auch durch Bücher, Filme und – nicht zuletzt – durch das Recht und dessen Leitvorstellungen bewirkt.29 Indem diese Prägungen durch menschliche Praxis vermittelt werden, sind sie soziale Konstruktionen und als solche brüchig. Das heißt, sie können mit ihnen widersprechenden Verhaltensweisen als sozial konstruiert und änderbar aufgedeckt und durchbrochen werden. Beispiele dafür sind die Frauen, die eine Hose trugen, als dies fast unvorstellbar war, Frauen, die sich in Führungspositionen beweisen, oder die unverheirateten Väter, die um das gemeinsame Sorgerecht kämpfen. Doch auch wenn soziale Konstruktionen brüchig sind, ist mit Prägung nicht einfach eine Rolle gemeint, die mann oder frau als etwas quasi Äußerliches einfach abstreifen könnte. Denn die Geschlechterrollen können die Persönlichkeit so tiefgehend prägen, dass sie das eigene Selbstverständnis geradezu naturhaft mit ausformen, uns also ihr Charakter als soziale Zuschreibung gar nicht bewusst wird und wir ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass etwa Frauen sanfter und bindungsfähiger und Männer aggressiver sind.30 Diese Strukturen des Unbewussten lassen sich häufig nur in mühevoller (und zudem selbst geschlechtlich geprägter) Forschungsarbeit und in Prozessen soziologisch, psychologisch und geschlechterkritisch geschulter Persönlichkeitsentwicklung, Männer- und Frauenarbeit aufdecken, distanzieren und überwinden. Als solche tiefgreifenden Identitätsprägungen wirken Geschlechterrollen bzw. ihre Spuren weit in das Erwachsenenalter hinein und werden in ihren die eigene Entfaltung hemmenden Aspekten möglicherweise ein ganzes Leben lang nicht überwunden. Beispiele dafür sind die selbstständig wirkende Klassenbeste, die zwar gelernt hat, sich über Leistungen die Anerkennung Anderer, insbesondere väterliche Anerkennung zu verdienen, aber nicht befähigt wurde, ihren eigenen Weg auch re28 29

30

De Beauvoir (Fn. 4), 894 f. Vgl. zum Ganzen Ursula Scheu, Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht, 1984; Carol Hagemann-White, Sozialisation: weiblich-männlich?, 1984, insb. S. 48 ff.; Marianne Grabrucker, „Typisch Mädchen…“, 2000; Lorber (Fn. 5), 55 ff.; Anja Tervooren, Männlichkeit und Sozialisation, in Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, hg. von Mechthild Bereswill u. a., 2007, 84 ff., insb. 92 ff.; Meuser (Fn. 6), 50 ff. Vgl. hierzu Lorber (Fn. 5), 82 f.; s. auch Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, (1991) 2003, 9, 59 f.

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lativ unabhängig von der Anerkennung Anderer zu finden und zu behaupten, und deshalb im Berufsleben trotz sehr guter fachlicher Voraussetzungen nicht oder nur schwer den ihren Fähigkeiten angemessenen Weg findet,31 sowie die Geschichte von Beck Weathers, der als Reaktion auf eine Depression dem Extrembergsteigen verfiel, um sich Mut und Männlichkeit zu beweisen, und erst inneren Frieden fand, als er am Mount Everest fast in einem Schneesturm umgekommen war und ihm die Hände erfroren waren. Um sich seinen Selbstwert zu beweisen, musste er unter Einsatz von Leib und Leben extreme Leistungen vollbringen, das Verbindende in der Familie, im zwischenmenschlichen Kontakt spielte keine Rolle.32 Wie mächtig die strukturellen Hindernisse sind, die dem Hinauswachsen aus den die Selbstentfaltung hemmenden Aspekten der Geschlechterrollen entgegen stehen, ist für die (Selbst-)Entmündigung von Frauen unter anderem durch Judith Lorber, Frigga Haug, und Simone de Beauvoir thematisiert worden. Simone de Beauvoir schreibt 1949: „Der Mann als Herrscher wird die Frau als Hörige materiell beschützen und es übernehmen, ihre Existenz zu rechtfertigen: mit dem ökonomischen umgeht sie auch das metaphysische Risiko einer Freiheit, die ihre Ziele ohne Hilfe erfinden muss. Neben dem ethischen Anspruch jedes Individuums, sich als Subjekt zu behaupten, gibt es in ihm die Versuchung, seine Freiheit zu fliehen […] Die Frau erhebt nicht den Anspruch, Subjekt zu sein, weil ihr die konkreten Möglichkeiten dazu fehlen, weil sie ihre Bindung an den Mann als notwendig empfindet, ohne deren Reziprozität zu setzen, und weil sie sich oft in ihrer Rolle als Andere gefällt.“33

De Beauvoir benennt hier neben der Versuchung, die Herausforderungen der Freiheit zu fliehen, als Hindernisse für die weibliche Selbstentfaltung, dass die gesellschaftlichen Bedingungen und Umstände konkret die Möglichkeiten weiblicher Selbstentfaltung beschränken, dass die Frauen ihre Bindung an den Mann selbst als notwendig empfinden und dass sie sich in ihrer Rolle schlicht gefallen, sie ist ihnen auch bequem. Dabei weisen alle drei Problempunkte Anteile von Fremdbestimmung und Räume für eine mögliche emanzipative Selbstentfaltung auf: Unmittelbar leuchtet ein, dass die gesellschaftlichen Umstände für die Frauen (oder andere unterdrückte Gruppen) faktisch nicht ohne weiteres änderbar sind, da diese die Einzelnen übergreifende gesellschaftliche Veränderungsprozesse erfordern, wie allein die lange Geschichte der Frauenbewegungen34 zeigt. Doch auch die persönliche Prägung ist für die Frauen nicht in einem absoluten Sinne frei verfügbar. Denn die als notwendig empfundene Bindung an den Mann und das Sich-Einrichten in den Bequemlichkeiten der Geschlechterrolle sind wie eben ausgeführt im Rahmen der geschlechtsspezifischen Sozialisation tief in die persönliche Identität eingeprägt. Sie prägen das Selbstverständnis einer Person, das häufig nur in langwierigen Prozessen 31

32

33 34

Vgl. in der Zuspitzung auch die Schilderung der Beziehung von Erika Mann zu ihrem Vater Thomas Mann bei Flaake (Fn. 21), 55 f. m. N.: Thomas Mann ging davon aus, dass Erika Mann als Erwachsene (!) an seiner Statt als seine Tochter spreche, dass sie die „kindliche Verlängerung seines eigenen Wesens“ sei, auch sie selbst reduzierte sich auf die Rolle des Sprachrohrs ihres Vaters. Vgl. Beck Weathers mit Stephen J. Michaud, Für tot erklärt, 2003, 9 f., 250; die Schilderungen Weathers’ werden unter anderem von seiner Frau Peach und seinen Kindern Meg und Beck aus ihrer jeweiligen Perspektive kommentiert. Hinsichtlich des Dramas der Männlichkeit werden sie von Richter (Fn. 24), 209 f., sehr berührend analysiert. De Beauvoir (Fn. 4), 17 (im Original mit Hervorhebung) Einführend in Bezug auf das Recht Wapler (Fn. 7), § 1

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der Persönlichkeitsentwicklung verändert werden kann. Auch hierbei spielt das soziale Umfeld eine nicht unwesentliche Rolle. Denn solche Prozesse werden leichter fallen, wenn es Vorbilder weiblicher Emanzipation, kritische öffentliche Diskussionen zum Geschlechterverhältnis sowie Anregungen und Bestärkung aus dem persönlichen Umfeld gibt, und sie werden schwerer fallen, vielleicht sogar faktisch unmöglich sein, wenn ein Mensch mit einer unterwürfigen Haltung erzogen wurde, er nicht zu Kritik und Selbstbehauptung ermutigt wurde und auch sein aktuelles Umfeld eine geduckte Haltung fördert. Die Soziologin Judith Lorber fasst Geschlechterrollen deshalb zu Recht „als Institution, die die Erwartungsmuster der Individuen bestimmt, die sozialen Prozesse des Alltagslebens regelt, in die wichtigsten Formen der sozialen Organisationen einer Gesellschaft, also Wirtschaft, Familie und Politik, eingebunden und außerdem eine Größe an sich und für sich ist.“35 Diese Erwartungsmuster sind nach Lorber so machtvoll, dass sich die meisten Menschen ihnen freiwillig fügen, weil sie „Teil ihres Wert- und Identitätsempfindens als einer bestimmten Art Mensch sind und weil sie der Überzeugung sind, dass es so wie es in ihrer Gesellschaft zugeht natürlich ist.“36 Auch Frigga Haug betont 1980 das Fremdgesetzte und das Eigene an der Unterdrückung der Frauen: „Die einzelnen Frauen finden selbstverständlich Unterdrückungsstrukturen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie hineinwachsen, in denen ihnen eine nicht-aufgerichtete Haltung zugemutet wird, zunächst fertig vor. Aber diese Strukturen existieren nur weiter, wenn sie von denen, die in ihnen leben, immer wieder hergestellt werden. Dass dies so ist, heißt auch, dass die Strukturen, von denen, die sie herstellen, geändert werden können.“37

Sie löste damit innerhalb der Frauenbewegung eine sehr hitzige und kontroverse Diskussion darüber aus, inwiefern die Frauen der Unterdrückung ausgeliefert sind und ob und inwiefern es ihnen möglich ist, diese Strukturen der Unterdrückung selbst zu durchbrechen.38 Anhand der Beschreibung der Geschlechterrollensozialisation und auch aufgrund der Erfahrungen, die wir alle in Prozessen persönlicher Entwicklung schon gemacht haben, wird sich festhalten lassen, dass sich das Eigene immer erst aufgrund gelernter Erfahrungen, der gelernten Fähigkeit, diese kritisch zu distanzieren und sich selbst zu behaupten, sowie der kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorgängigen innerhalb eines gesellschaftlichen und persönlichen Umfeldes entfaltet. Männlichkeit wird als geschlechtliche Daseinsweise der Frauenforschung nachfolgend in jüngerer Zeit vor allem in an den Lebensbereichen orientierten Forschungsrichtungen, unter anderem kulturtheoretisch, soziologisch, psychoanalytisch/psychologisch, historisch sowie durch eine queere Männlichkeitsforschung untersucht.39 Auch hier ist davon auszugehen, dass sich (Un-)Selbstständigkeit in35 36 37 38

39

Lorber (Fn. 5), 41 Lorber (Fn. 5), 82 (Hervorhebung von mir) Haug (Fn. 3), 8 Vgl. dazu den Band von Frigga Haug (Fn. 3); Ute H. Osterkamp, Gesellschaftliche Unterdrückung oder psychische Unterwerfungstendenz?, Das Argument 136 (1982), 828 ff. sowie Brita Rang / Christine Thomas, Dumm und neidisch bis zur Revolution?, Das Argument 136 (1982), 837 ff. Vgl. hinsichtlich der defizitären Formen von Männlichkeit vor allem Richter (Fn. 24); Michael Meuser, Männerkörper. Diskursive Aneignungen und habitualisierte Praxis, in Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, hg. von Mechthild Bereswill u. a., 2007, 152 ff., insb.

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nerhalb des Aufwachsens in bestimmten gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnissen und im Rahmen der eigenen, immer auch begrenzten Möglichkeiten zur Veränderung entfaltet. Dabei dürfte es für Männer leichter sein, sich in die Selbstständigkeit zu orientieren, da dies ihrer Geschlechterrolle, wenn auch durch die Verabsolutierung defizitär, immanent ist. Gerade darin dürften aber auch große Hindernisse für eine angemessene männliche Selbstentfaltung im gemeinsamen Leben liegen: Denn Männer werden durch die Risiken der absoluten Freiheit zum einen extrem herausgefordert, was überfordern kann, zum anderen ist auch das Ausleben dieser Freiheit verführerisch, denn darin lässt sich das traditionelle Verständnis vollwertigen Menschseins genießen, was nicht zuletzt den Genuss einer hohen gesellschaftlichen Anerkennung für das Beweisen selbstständiger Stärke und das Vollbringen (extremer) Leistungen einschließt. 5.2 KONSTITUTION KONKRETER SELBSTSTÄNDIGKEIT UND SELBST-ENTMÜNDIGUNG 1. In den Ausführungen zum Hineinwachsen in die Geschlechterrollen als Beispiel dafür, wie wir in einem konkreten Aspekt selbstständig oder unselbstständig werden, dürfte deutlich geworden sein, dass wir Selbstständigkeit nicht in einem absoluten Sinne von Selbstbestimmung im Sinne völliger Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit verstehen können. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir als Erwachsene auf einmal als vollkommen Selbstständige in der Welt sind und dann absolut selbstbestimmt und aus eigener Kraft unseren Weg gehen, wobei sich die Bedeutung von Kontakt darauf beschränkt, das wir ihn mitunter notdürftig eingehen müssen, weil wir einen nur begrenzten Lebensraum haben.40 Vielmehr müssen wir, im Anschluss an Überlegungen des Philosophen Thomas Rentsch zur Konstitution der Moralität, aufgrund unserer fundamentalen Lebenserfahrungen davon ausgehen, dass wir Selbstständigkeit – einschließlich ihrer defizitären Formen – zum einen nur im Kontakt mit Anderen und zum Anderen nur in konkreten vorgängigen praktischen Formen lernen. Das heißt, dass wir in die Selbstständigkeit in konkreten praktischen zwischenmenschlichen Verhältnissen hinein wachsen und davon nicht abstrahieren können, wenn wir unsere Existenz als Selbstständige angemessen verstehen wollen. Zu den praktischen Formen, die wir lernen, gehören unter den Verhaltens- und Denkweisen, die verantwortliches Verhalten für sich selbst und Andere ausmachen, und ihren defizitären Formen eben auch die den Geschlechterrollen entsprechenden Selbstverständnisse und Verhaltensweisen. Existenz und Interexistenz verweisen auf

40

159 ff. sowie Meuser (Fn. 6), 141 ff. Vgl. zur Männlichkeitsforschung insgesamt unter anderem FrauenMännerBilder. Männer und Männlichkeit in der feministischen Diskussion, hg. von Carol Hagemann-White u. Maria S. Rerrich, 1988; Raewyn (Robert W.) Connell, Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 3. Aufl. 2006; Krise(n) der Männlichkeit, hg. von Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal, 2008; Thomas Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, 1996; Mechthild Bereswill u. a. (Hg.), Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, 2007; Patrick Ehnis und Sabine Beckmann, Kritische Männer- und Männlichkeitsforschung, in Feminisimus: Kritik und Interventionen, hg. von Ingrid Kurz-Scherf u. a., 2009, 162 ff. Pointiert zur Kritik des Autonomieideals bei Hobbes, Rousseau, Rawls und Kohlberg Seyla Benhabib, Der verallgemeinerte und der konkrete Andere, in: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, hg. von Elisabeth List und Herlinde Studer, 1989, 454 (463 ff.)

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diese Weise gleichursprünglich aufeinander.41 Im Übrigen sind diese wechselseitige Abhängigkeit in der Selbstständigkeit und das Vorgeprägtsein in einer gemeinsamen vorgängigen Praxis Ansatzpunkte dafür, wechselseitige Abhängigkeit und Solidarität als der Selbstständigkeit gleichursprünglich und damit gleichwertig in Konzepte der Moral, der Ethik und des Rechts zu integrieren. 2. In unserer konkreten Existenz, also auch in unserer Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit sind wir auf diese Weise immer auf eine bestimmte Weise geformt und durch Andere geprägt, sie beruht mit anderen Worten auch im Erwachsenenleben immer auf Fremdanteilen. Selbstständigkeit zeigt sich dabei in dem Vermögen, die Ausformungen unserer Existenz in ihrer Bestimmtheit, Fremdbestimmtheit und Vorgängigkeit zu erkennen, zu distanzieren und in der kritischen Auseinandersetzung damit den eigenen Lebensweg zu gestalten. Doch auch das Gestalten unseres eigenen Lebens vollzieht sich in einem Raum nur begrenzter Möglichkeiten, die sich aus den Grenzen der gemeinsamen Praxis ergeben. Solche Grenzen ergeben sich zum Beispiel aus unseren Vorprägungen hinsichtlich der Fähigkeit, sich selbst zu behaupten, aus unserer emotionalen und intellektuellen Kraft und aus dem, was in unserem konkreten Umfeld kritisch in Frage gestellt oder opportun bestätigt wird. Selbstständigkeit bedeutet insofern in einem angemessenen Sinne, dass jede und jeder Verantwortung für das eigene Gewordensein, welches ja zunächst nicht selbst zu verantworten ist, unter den gegebenen Bedingungen eigenen Vorgeprägtseins und andauernden Beeinflusstwerdens in einer gemeinsamen Praxis trägt. Genau das ist die Stelle, an der die eigenen Anteile für die verschiedenen Formen der Unmündigkeit, die zunächst von Anderen zugemutet werden, zu verorten sind. Es lässt sich auf diese Weise weder sagen, dass Frauen oder Männer als Erwachsene den Geschlechterrollen und ihren unmündigen Aspekten vollkommen ausgeliefert sind, also fremdbestimmt entmündigt werden, noch dass sie vollständig selbst die Verantwortung für ihre Unmündigkeit tragen, sich also in erster Linie selbst entmündigen. Als Erwachsene können wir uns vor diesem Hintergrund auch nicht als gewissermaßen fertig ausgeformte, selbstständige Personen betrachten, sondern sind der Anforderung ausgesetzt, immer mehr zu uns selbst, auch in der Ablösung von den Geschlechterrollen, vor allem in ihren unmündigen Aspekten, zu finden. Selbstständigkeit zeigt sich hier nicht nur als interexistentiell bedingt und konkret innerhalb einer vorgängigen Praxis ausgeformt, sondern auch als immerwährender dynamischer Prozess. Auch dieser Prozess formt sich in einer gemeinsamen Praxis, das heißt, dass er zum Beispiel durch öffentliche Kritik an den oder Bestätigung der Geschlechterrollen und durch individuelle Einflüsse gehemmt oder gefördert wird. Die Prozesse des Entmündigtwerdens / der Selbstentmündigung bzw. die Prozesse des Selbstständigwerdens und –seins finden also in einer gemeinsamen Praxis statt, in der sich eigene und Fremdanteile miteinander verweben, in der wir letztlich also nicht nur je eine eigene, sondern auch eine gemeinsame Verantwortung tragen. Einseitige Schuldzuweisungen sind insofern fehl am Platz, gemeinsame Anstrengungen zur Überwindung von Unselbstständigkeit umso nötiger. 41

Vgl. Rentsch (Fn. 13), zur Vorgängigkeit einer gemeinsamen Praxis insb. 155 f., 175 f., 211 ff., 222 ff. und auch 127, 148, 192, zur Gleichursprünglichkeit insb. 94 ff.; vgl. zum Ganzen bereits oben unter 3.1.2.

60 6 DIE

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RELEVANZ DES RECHTS ALS PRAKTISCHE FORM IM MITEINANDER, ENTMÜNDIGUNG UND EMANZIPATION VERMITTELN KANN

Abschließend möchte ich auf die Frage eingehen, welche Rolle dem Recht in den Prozessen des Mündig- bzw. Unmündigwerdens bzw. -seins zukommt. 1. Das Recht ist eine gemeinsame praktische Form, die wir in unserer kulturellhistorischen Situiertheit jeweils vorfinden und für deren Änderung wir uns entsprechend unseren, im besten Falle kritisch entwickelten, Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft einsetzen können. Rechtlich werden mittels durchsetzbarer Regeln Verhaltensweisen erlaubt, aber auch ver- und geboten. Auf diese Weise werden durch Recht die Freiräume der gemeinsamen Praxis, in deren Rahmen sich der/die Einzelne bewegen oder nicht bewegen kann, mitgestaltet oder sogar konstituiert. Das Recht war auf diese Weise ein außerordentlich wichtiges Mittel, Geschlechterrollen unmittelbar festzulegen, zum Beispiel durch den Ausschluss der Frauen von politischen Mitbestimmungs- und Bildungsrechten.42 Es kann die Geschlechterrollen aber nicht nur unmittelbar formen, es trägt sie auch auf mittelbare, subtile Weise mit, etwa durch das Ehegattensplitting, das die Alleinverdienerehe bevorzugt.43 Recht war und ist aber auch ein Mittel, geschlechtspezifische Rollenfestlegungen zu durchbrechen, etwa durch die Förderung der Gleichstellung mit Quotenregelungen und die Durchsetzung des Gleichberechtigungsgebotes auf einfachgesetzlicher Ebene, wie eindrücklich das Grundsatz-Urteil des BVerfG aus dem Jahre 1953 zeigt, das das 4 Jahre zuvor in der bundesdeutschen Verfassung in Art. 3 II verankerte Gleichberechtigungsgebot zur unmittelbar bindenden Rechtsnorm im Bereich des bürgerlichen Rechts „auf dem Gebiet von Ehe und Familie“ erklärte, weil der Gesetzgeber die vierjährige Übergangsfrist zur Beseitigung gleichheitswidriger Regelungen ungenutzt hatte verstreichen lassen.44 Das Recht umgrenzt aber nicht nur Räume praktischer Freiheit, es ist auch Ausdruck der herrschenden Vorstellungen von Gerechtigkeit. Es ist mit anderen Worten eine Praxis, die normative Leitbilder vermittelt. Wenn also Recht unmittelbar Geschlechterrollen regelt und von einer bestimmten Vorstellung von Autonomie ausgeht, drückt es immer auch aus, dass die gesellschaftliche Ordnung so richtig und gut geregelt ist. Es prägt auf diese Weise unsere Vorstellungen, dass es ein Geschlechterverhältnis gibt, wie es gerecht geordnet ist und wie Frauen und Männer zu sein haben, mit. Wenn also zum Beispiel Frauen und Männer ganz selbstverständlich damit aufwachsen, dass nur Männer, aber nicht Frauen wählen dürfen, prägt dies das je eigene Selbstverständnis davon, welche Fähigkeiten und gesellschaftliche Position Männer und Frauen haben, ganz unmittelbar mit. Das Recht erweist sich damit als eine praktische Form unseres Miteinanders, die Selbstständigkeit ebenso wie Unselbstständigkeit, Mündigkeit ebenso wie Unmündigkeit vermittelt, indem es konkrete Freiheitsräume schafft oder begrenzt und über seine Leitbildfunktion unsere Vorstellungen von den Geschlechterrollen mit prägt. Es ist damit zum einen Teil des gesellschaftlichen Umfelds, in das wir als Einzelne eingebunden sind und das unsere Grenzen und Möglichkeiten mitgestaltet, es ist 42 43 44

Vgl. hierzu ausführlich Wapler (Fn. 7), § 1 Rn. 10 ff. Vgl. hierzu ausführlich Wersig (Fn. 17), § 8 Rn. 26 ff. BVerfGE 3, 225 (248).

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zum anderen aber auch ein persönlich-identitätsstiftendes Element, das den Einzelnen ganz unmittelbar prägen kann. 2. Mit den Stichworten der Gleichberechtigung und der Gleichstellung durch Recht habe ich Schritte zur Überwindung der traditionellen Geschlechterrollen benannt, die historisch ebenso wichtig sind, wie sie zumindest heutzutage auch als problematisch angesehen werden müssen: Denn sie ermöglichen den Frauen zwar, die rechtlichen Freiräume der Männer ebenso wie diese zu nutzen, eröffnen ihnen aber nur die Freiheiten der männlichen Geschlechterrolle, und zwar ohne diese auf das ihr zugrunde liegende verabsolutierte Selbstständigkeits- oder Autonomieideal zu hinterfragen. Aspekte wechselseitiger Abhängigkeit, die notwendig Solidarität, also auch Fürsorge, bedingen, wurden und werden rechtlich auf diese Weise nur unzureichend integriert. Das zeigt sich in den Schwierigkeiten, Fürsorgetätigkeiten rechtlich zu bewerten, was etwa bei den faktischen Nachteilen des Ehegattensplittings für den nicht oder geringverdienenden Ehegatten, also zumeist die Ehefrau, und dem Streit um das Familiensplitting oder der Anrechnung des Elterngeldes als Einkommen im Bereich des SGB II (womit die Annerkennung der Erziehungsleistung für SGB-II-Empfänger wieder entfällt),45 deutlich wird. Hier ist grundsätzlich zu fragen, ob und wie das als geschlechtsneutral vorausgesetzte Autonomieideal des Rechts auf der männlichen Geschlechterrolle beruht und welche Defizite sich daraus ergeben. In der rechtswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung ist diese Frage längst angekommen, sie sollte endlich auch vom rechtswissenschaftlichen „Mainstream“ gestellt werden und Ansatzpunkt einer Männlichkeitsforschung im Recht sein. Denn ein geschlechtergerechtes Recht wird es ohne die Infragestellung des auf absolute Selbstständigkeit orientierten Männlichkeitsideals bzw. der Orientierung auf am Männlichkeitsideal orientierte nur vorgelblich geschlechtsneutral gedachte Selbstständigkeit nicht geben. 7

FAZIT

Durch das Aufzeigen des komplexen Zusammenwirkens von eigenen und fremden Anteilen bei den Prozessen der Ausformung von Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit, Mündigkeit und Unmündigkeit dürfte deutlich geworden sein, dass es sich Beate Kricheldorf zu einfach macht, wenn sie Frauen die Verantwortung für ihr missliche Lage, die sie durchaus genössen und zudem ausnutzten, einseitig zuschreibt. In ihrer Zuspitzung mögen ihre Ausführungen hilfreich sein können, um Bereiche aufzudecken, in denen Frauen mitunter oder vielleicht auch typischerweise 45

Vgl. zu beiden Beispielen Wersig (Fn. 17), § 8 Rn. 26 ff. und 49; die Ausgestaltung des Elterngeldes als Lohnersatzleistung ist demnach eine Anerkennung der Erziehungs- und Betreuungsleistung als der Erwerbsarbeit gleichwertige Leistung, was insofern zu begrüßen ist, als dass Fürsorge als der Erwerbsarbeit gleichrangig anerkannt wird. Allerdings ist auch zu bedenken, dass der Fürsorge damit kein eigenständiger, relativ unabhängiger Wert in Bezug auf die Erwerbsarbeit zukommt, was sich im Wegfall des Elterngeldes für SGB-II-Empfänger/innen zeigt. Zu bedenken ist jedoch auch, dass eine eigenständige finanzielle Anerkennung der Erziehungsund Betreuungsleistungen als „Betreuungsgeld“ wiederum die traditionelle „Hausfrauenehe“ (oder entsprechend eine „Hausmannehe“), die vom/von der alleinverdienden Ehepartner/in abhängig macht, fördert, insbesondere wenn mit ihr der eigene Lebensunterhalt des/der Betreuenden nicht abgedeckt ist.

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Verantwortung fliehen, missbrauchen oder eine Opferrolle ausnutzen. Das erspart allerdings nicht, solche Phänomene angemessen und differenziert in das Geflecht der gemeinsamen Praxis und die damit verbundenen komplex strukturierten Verantwortlichkeiten einzuordnen. Es erspart auch nicht, vorgeblich allgemeine, jedoch verdeckt männliche Maßstäbe zu entlarven und in Frage zu stellen. Anzustreben ist also eine Kritik der Geschlechterrollen, die differenziert die Verflechtung von Eigenverantwortung und einem gemeinsamen Vor- und Umfeld, für das wir gemeinsam Verantwortung tragen, einbezieht. Anzustreben ist zudem ein unter den konkreten Umständen geschlechtergerechtes Recht, das uns als je individuell-konkreten Menschen in unserer Selbstständigkeit und wechselseitigen Abhängigkeit besser gerecht wird und uns gerade auch in Anbetracht unserer wechselseitigen Bedingtheit Möglichkeiten eröffnet, uns jeweils im Rahmen einer gemeinsamen Praxis eigenverantwortlich zu entfalten.

ELISABETH HOLZLEITHNER, WIEN* GESCHLECHTERROLLE 1

UND

FÜRSORGE

ZUR EINFÜHRUNG: KONNOTATIONEN

VON

FÜRSORGE

Wenn man den Titel dieses Textes1 liest, ist man dazu geneigt, ihn im Kopf sogleich zu übersetzen: „Geschlechterrolle und Fürsorge“ wird zwanglos zu „Frauen und Fürsorge“. Denn Fürsorge und Frauen, das wird traditionell als stimmige Kombination wahrgenommen. Statt aller sonstigen Belege möchte ich einen vor wenigen Jahren erschienenen, eher populär gehaltenen feministischen Text als Illustration für diese Behauptung heranziehen. Im Zusammenhang mit dem hohen Ausmaß von privat ohne Bezahlung erbrachter Pflegearbeit sprechen Sibylle Hamann und Eva Linsinger von einer „Unterstellung“, die „fest im Untergrund unserer Gesellschaft verankert“ ist und die „sich kaum vernünftig hinterfragen lässt. Sie lautet in etwa so: Die Frau ist fürs Kümmern und Fürsorgen ausgestattet und wird für die Wahrnehmung dieses Auftrags normalerweise mit Zuneigung belohnt.“ Etwas spitz formulieren die Autorinnen weiter: „Gefühlsmäßig ausgedrückt: Was Mama macht, ist keine Arbeit. Es wäre eine Beleidigung, das, was Mama macht, ‚Arbeit’ zu nennen. Mama liebt.“2 Mit anderen Worten: Fürsorge ist nicht nur „weiblich“ – sie gilt auch nicht als Arbeit, weil sie eine weibliche Tätigkeit ist, die im privaten Leben aus Liebe erbracht wird – oder jedenfalls werden sollte.3 Und wenn die „eigentlich“ dafür zuständige Frau Mama „ihre“ Aufgaben nicht erbringen kann (oder will), dann bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als sie an andere, (noch) weniger privilegierte Frauen zu delegieren.4 Die Bezahlung ist entsprechend schlecht – „entsprechend“ mit Blick darauf, dass es sich bei Personen, die Fürsorgeleistungen erbringen, einerseits überwiegend um Frauen handelt: „Denn wieso sollte man Frauen für Leistungen, die sie, so oder so ähnlich, daheim jeden Tag nebenher gratis erbringen, plötzlich viel Geld zahlen, wenn sie es außer Haus tun?“5 Andererseits ist auch in Betracht zu ziehen, dass die Frauen, die solche Leistungen um Geld erbringen, vielfach mehrfach marginalisiert sind, sei es aufgrund ihrer nationalen Herkunft oder ihrer sozioökonomischen Situation.6 Joan Tronto bringt die Problematik auf den Punkt:

* 1 2 3 4

5 6

Ich danke Joachim Renzikowski für Unterstützung und Geduld. Der Titel war vorgegeben; ich habe aber auch keine Anstalten gemacht, ihn zu modifizieren. Sibylle Hamann / Eva Linsinger, Weißbuch Frauen. Schwarzbuch Männer. Warum wir einen neuen Geschlechtervertrag brauchen, 2008, 43 Entsprechend fragt Angelika Krebs mit Blick auf Familienarbeit: „Kann denn Liebe Arbeit sein?“ Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, 2002. Joan Williams, Gender Wars: Selfless Women in the Republic of Choice, New York University Law Review 1991, 1559–1634, hier: 1597: „A mother’s only real choice is to provide the flow of services herself or to delegate ‚her‘ responsibilities to other marginalized women.“ Hamann/Linsinger (Fn. 2), 42 f. S. etwa Helma Lutz, „Die 24-Stunden-Polin“ – Eine intersektionelle Analyse transnationaler Dienstleistungen, in: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, hg. von C. Klinger / G.-A. Knapp / B. Sauer, 2007, 210–234

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Elisabeth Holzleithner „Caring is often constituted socially in a way that makes caring work into the work of the least well off members of society. It is difficult to know whether the least well off are less well off because they care and caring is devalued, or because in order to devalue people, they are forced to do the caring work. […] Care is devalued and the people who do caring work are devalued.“7

Alle verfügbaren Statistiken zeichnen das nämliche Bild und ermöglichen eine einhellige Diagnose: Fürsorge ist in der Gesellschaft höchst ungleich verteilt; das Geschlechterverhältnis ist ein ganz wesentlicher Faktor dieser ungleichen Verteilung.8 Kurz und mit Hamington gesprochen: „Care creates gender inequality.“9 Das Problem geht allerdings, wie bereits angedeutet, über die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit im engeren Sinn – also jener nach dem Verhältnis zwischen Frauen und Männern – hinaus. Denn es existiert zudem zwischen privilegierten Personen und marginalisierten (meist) Frauen, die schlecht bezahlt und häufig halb legal oder überhaupt illegalisiert Fürsorgeleistungen erbringen. Mit dieser Aufmerksamkeit für die unterschiedliche Positioniertheit von Frauen wird hier dem Rechnung getragen, was unter dem Begriff der Intersektionalität10 seit mittlerweile zwei Jahrzehnten im feministischen Diskurs eingefordert wird: nämlich die Berücksichtigung der Tatsache, dass Frauen keine homogene Gruppe sind, sondern dass sich innerhalb der Gruppe der Frauen erhebliche Unterschiede manifestieren, die durch die Wirkung von Machtachsen wie die ethnische und nationale11 Herkunft und Zugehörigkeit, sozioökonomische Position,12 sexuelle Orientierung oder körperliche und geistige Fähigkeiten organisiert werden. Insofern ist die Problematik, die hier beschäftigt, nicht nur eine der feministischen Kritik an ungerechten patriarchal fundierten Verhältnissen, sondern es ist auch eine der innerfeministischen Debatte über die Unzulänglichkeiten einer undifferenzierten Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und den halbierten Erfolgen feministischer Bemühungen. Joan Tronto skizziert die Problematik äußerst treffend, indem sie fragt: 7 8

Joan Tronto, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, 1994, 112 f. Heike Gumpert (Hg.), Wenn die Töchter nicht mehr pflegen … Geschlechtergerechtigkeit in der Pflege, 2010; Gertrud M. Backes / Martina Wolfinger / Ludwig Amrhein, Geschlechterungleichheiten in der Pflege, in: Soziale Ungleichheit und Pflege. Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung, hg. von U. Bauer / A. Büscher, 2008, 132–153 9 Maurice Hamington, The Will to Care: Performance, Expectation, and Imagination, Hypatia 2010, 675–695 10 S. dazu eine Fülle von Bänden nun auch in deutscher Sprache, die sich mit Themen der Intersektionalität befassen, darunter: Gabriele Winker / Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, 2009; Cornelia Klinger / Gudrun-Axeli Knapp / Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, 2007; Cornelia Klinger / Grudun-Axeli Knapp (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, 2008; Sandra Smykalla / Dagmar Vinz (Hg.), Intersektionalität zwischen Gender und Diversity. Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit, 2011; Helma Lutz / Maria Teresa Herrera Vivar / Linda Supik (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, 2010; Sabine Hess / Nicola Langreiter / Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität Revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, 2011 11 S. hierzu etwa Ursula Dallinger / Hildegard Theobald, Pflege und Ungleichheit: Ungleiche Citizenship rights im internationalen Vergleich, in: Soziale Ungleichheit und Pflege (Fn. 8), 78–103 12 S. etwa Joan Acker, The Continuing Necessity of „Class“ in Feminist Thinking, in: Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, hg. von G.-A. Knapp / A. Wetterer, 2003, 49–72

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Geschlechterrolle und Fürsorge

„Are social movements responsible for their unfinished agendas? Feminist successes in opening the professions to women paved the way for the emergence of the upper middle-class two-career household. These households sometimes hire domestic servants to accomplish their child care work. If, as I shall argue, this practice is unjust and furthers social inequality, then it poses a moral problem for any feminist commitment to social justice.“13

Fragen wie diese, die Joan Tronto hier zu Recht aufwirft, müssen im Auge behalten werden, wenn im Folgenden die Frage nach der Konnotation von Fürsorge mit der weiblichen Geschlechterrolle und die Frage, wie dies aus Gerechtigkeitsperspektive analysiert und kritisiert werden kann, gestellt wird. 2

STIEFKINDER

DER POLITISCHEN

PHILOSOPHIE

IM

MAINSTREAM

Eine ganz wesentliche Dimension, welche die Problematik nachgerade von Grund auf definiert, ist die Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit.14 Der private Raum, traditionell als weibliche Entfaltungssphäre angesehen, ist typischerweise ein Stiefkind nicht nur der Politik, die sich hier gerne „raushalten“ möchte, sondern auch der politischen Philosophie, die sich in ihren Mainstream-Versionen dafür ebenfalls nicht zuständig sieht. Klassische Theorien der Gerechtigkeit fokussieren primär auf die Frage, wie die fundamentalen öffentlichen Interessen von Bürgern (weniger von Bürgerinnen) in einer legitimierbaren Grundstruktur miteinander vereinbart werden können. Immer noch wird gern so getan, als wären Menschen „einfach da“. Thomas Hobbes trieb dieses Motiv einst auf die Spitze, als er vorschlug: „Betrachten wir die Menschen (men) … als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprießt und gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift wären.“15 Damit wird nicht nur die Dimension der Fürsorge ausgeblendet, die es braucht, bis ein Mensch soweit ist, als Erwachsener anderen Erwachsenen gegenüberzustehen und autonom sein Leben zu führen: „Moralities built on the image of the independent, autonomous, rational individual largely overlook the reality of human dependence and the morality for which it calls.“16 Es wird auch verschleiert, worauf ein Agieren im öffentlichen Leben beruht: Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht oder sich im Bereich der institutionalisierten Politik oder in der Zivilgesellschaft engagieren möchte, muss sich entweder die Zeit gut einteilen, um für die eigenen Grundbedürfnisse zu sorgen – oder hat Bedarf nach Fürsorgeleistungen von anderen Personen, welche die Anstrengungen der Sorge für sich selbst abnehmen. Und hier wurde noch gar nicht angesprochen, wie es um die Sorge für jene steht, die in einer Beziehung der Abhängigkeit zu einer aktiv im öffentlichen Leben agierenden Person ste-

13 14

Joan Tronto, The „Nanny“ Question in Feminism, Hypatia 2002, 34–51, hier: 34 S. zu dieser Problematik die mittlerweile klassischen Texte von Carole Pateman, Feminist critiques of the public/private dichotomy, in: Public and Private in Social Life, hg. von S. I. Benn / G. F. Gaus, 1983; Susan Moller Okin, Gender, the Public and the Private, in: Political Theory Today, hg. von D. Held, 1991, 67–90 15 Thomas Hobbes, Philosophical Rudiments Concerning Government and Society, in: The English Works of Thomas Hobbes, hg. von W. Molesworth, Bd. II, 1966, 109, zitiert nach Seyla Benhabib, Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Ansätze zu einer feministischen Moraltheorie, in: Denkverhältnisse. Feminismus als Kritik, hg. von E. List / H. Studer, 1989, 454–487, hier: 464 16 Virginia Held, The Ethics of Care. Personal, Political, and Global, 2006, 10

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Elisabeth Holzleithner

hen: Kinder etwa oder wegen Krankheit, Behinderung oder Altersschwäche bedürftige nahestehende Personen. Derartige Fragen sind für das Funktionieren des öffentlichen Lebens höchst relevant, sie werden aber aufgrund der Vermutung der Selbstverständlichkeit, dass irgendjemand – die Ehefrau, die Mutter, weibliches Personal – die benötigten Leistungen erbringt, typischerweise nicht thematisiert. Mainstreamkonzeptionen der politischen Philosophie leiden insofern unter einem Manko, indem sie zentrale Dimensionen des menschlichen Lebens ausblenden und damit bloß ein halbiertes Bild jener Desiderata zeichnen, die für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben notwendig sind. Die Frage, wie Fürsorge jenseits von Geschlechterstereotypen gerecht „verteilt“ werden kann, ist ebenso virulent wie – im philosophischen Mainstream – untertheoretisiert. Eine tiefer gehende Analyse offenbart die Komplexitäten, die sich die politische Philosophie derart entgehen lässt: Gibt es etwa Grenzen der Verteilungsfähigkeit von Fürsorge? Und wie könnte eine Theorie der Gerechtigkeit die Dimension der Fürsorge in angemessener Weise erfassen? Schließlich: Sind hier überhaupt Theorien der Gerechtigkeit „gefragt“? Skeptisch sind hier Ansätze aus dem Bereich der Care Ethik, die meinen, Fragen der Fürsorge ließen sich jedenfalls unter Heranziehung konventioneller Vorstellungen von Gerechtigkeit als Ausgleich widerstreitender Interessen nicht angemessen fassen. Mit Blick auf die Problematik der Zuschreibungen von Geschlechterrollen ist es bemerkenswert, dass Care Ethiken zumindest in den 1980er und 1990er Jahren gern davon ausgegangen sind, dass Frauen und Fürsorge in einem kongenialen Verhältnis zueinander stehen. Als Ausgangspunkt dieser Denkungsart kann gelten, dass traditionell weibliche Haltungen und Tugenden wie eben Fürsorglichkeit und Bezogenheit auf andere im Zentrum einer Theorie von Moral stehen sollten. Nel Noddings etwa nennt ihren eigenen einen „im tiefen klassischen Sinn feminin[en]“ Zugang: „verwurzelt in Rezeptivität, Verbundenheit und Empfänglichkeit.“17 Und einer der definierenden Texte der Care Ethik aus dem Jahr 1980 trägt den Titel „Mütterliches Denken“.18 Mittlerweile hat sich die Care Ethik zwar von solchen geschlechtertypischen Zuschreibungen emanzipiert19 und wird, wenngleich selten, auch von Männern20 betrieben – der Eindruck, Care Ethik und Fürsorge hätten primär mit Frauen und Mütterlichkeit zu tun, bleibt aber bestehen. Autorinnen wie Noddings sind überzeugt davon, dass Fürsorge die Gerechtigkeit als zentrales Konzept der Moral ablösen sollte.21 Auch Virginia Held besteht darauf, dass Fürsorge die fundamentalere Größe ist: „Care is probably the most deeply fundamental value. There can be care without justice: There has historically been little justice in the family, but care and life have gone on without it. There

17 18 19 20 21

Nel Noddings, Caring, in: Justice and Care. Essential Readings in Feminist Ethics, hg. von V. Held, 1995, 7–30 Sara Ruddick, Maternal Thinking, Feminist Studies 1980, 342–367; s. auch dies., Mütterliches Denken. Für eine Politik der Gewaltlosigkeit, 1993 S. etwa Elisabeth Conradi, Take Care. Für eine Ethik der Achtsamkeit, 2001; Held (Fn. 16); Tronto (Fn. 7) Zum Beispiel Michael Slote, The Ethics of Care and Empathy, 2007 In diesem Sinne auch Annette C. Baier, The Need for More than Justice, in: Justice and Care (Fn. 17), 47–58

Geschlechterrolle und Fürsorge

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can be no justice without care, however, for without care no child would survive and there would be no persons to respect.“22

Meine eigene Position tendiert zur Notwendigkeit, die Dimension der Fürsorge in Theorien der Gerechtigkeit zu integrieren. Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich nicht nur mit Blick auf die Verteilung von Fürsorge – wer leistet, wer empfängt –, sondern auch hinsichtlich deren Qualität. Bei der näheren Explikation des Begriffs der Fürsorge wird sich sodann aber auch zeigen, wo die Grenzen dessen liegen, was mit dem Begriff der Gerechtigkeit erfasst werden kann. Grenzen der gerechten Verteilung könnten wohl dort existieren, wo Care von nahestehenden Personen aus und mit Liebe erbracht werden soll. Allenfalls mag das Unterlassen von Fürsorgeleistungen als Liebesverwirkungsgrund angesehen werden.23 Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein. 3

DIMENSIONEN

DER

FÜRSORGE

Sehen wir uns vor diesem Hintergrund nun zunächst an, was es mit der Fürsorge auf sich hat. Fürsorge ist eine Haltung ebenso wie ein Konglomerat an Tätigkeiten für andere. Anca Gheaus spricht in diesem Sinn von „the disposition and the activity of meeting needs.“24 Maurice Hamington bringt den integralen Charakter von Fürsorgehandlung und fürsorglicher Haltung wie folgt auf den Punkt: „A practice or performance of care integrates disposition and action to gain ethical content.“25 Je nach Naheverhältnis und Qualität der Fürsorgebeziehung werden freilich an die Qualität der Fürsorglichkeit unterschiedliche Anforderungen gestellt. Nicht zuletzt kommt es darauf an, aus welchem Anlass welche Fürsorgehandlungen gesetzt werden. Ganz grundsätzlich gesprochen antworten Fürsorgehandlungen auf Bedürfnisse von anderen. Wenn Hamington „Opportunities for care“ als „the knowledge of the plight of others“26 definiert, dann ist dies ein recht strenger Maßstab. Bedürfnisse sind ja nicht nur Notlagen („plight“) geschuldet, die den Bedarf nach Fürsorgeleistungen entstehen lassen – es mögen schlichte Bedürfnisse der anderen sein, die dazu bewegen, fürsorglich zu handeln, oder der Wunsch, eine andere Person zu verwöhnen. Es ist der Autorin aber zuzustimmen, dass die moralische Forderung nach Fürsorgeleistungen umso dringlicher wird, je größer die Not ist, die bereits existiert oder die durch Unterlassen einer Fürsorgeleistung entstehen würde. Eine ganz andere Frage ist freilich, wer individuell in welcher Situation zu Fürsorgehandlungen verpflichtet ist bzw. aus welchen Gründen solche Handlungen getätigt werden. Hier kommt es darauf an, in welcher Beziehung Fürsorgende und Fürsorgeleistungen empfangende Person zueinander stehen. Im Idealfall werden Fürsorgehandlungen, wie dies bereits mit den Ausführungen über entsprechende 22 23

24 25 26

Held (Fn. 16), 17 S. dazu schon Elisabeth Holzleithner, Kein Fortschritt in der Liebe? Gerechtigkeit und Anerkennung in Nahbeziehungen, in: Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, hg. von P. Koller, 2001, 235–262, hier: 251 f. Anca Gheaus, How Much of What Matters Can We Redistribute? Love, Justice, and Luck, Hypatia 2009, 63–83, hier: 64 Hamington (Fn. 9), 678 Hamington (Fn. 9), 676

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Elisabeth Holzleithner

Haltungen angedeutet wurde, von Fürsorglichkeit getragen – dies etwa in einer Liebesbeziehung oder in sonstigen Nahebeziehungen, die idealiter von Liebe und Loyalität getragen sind, wie zwischen Eltern und Kindern.27 Fürsorge kann aber auch Fremden entgegengebracht werden, im Rahmen eines sozialen Engagements in Institutionen wie der Caritas oder in der Flüchtlingsbetreuung. Schließlich hat die Fürsorge auch im Arbeitsleben ihren Platz: einerseits im Rahmen von Pflegeberufen, andererseits als Anforderung an Arbeitgeber/innen. Die Begrifflichkeit ist allerdings veraltet – nach aktuellem deutschem Recht ist die Rede von Rücksichtnahme- und Schutzpflichten, die aus dem Schuldverhältnis zwischen den beiden Parteien, also dem Vertrag zwischen Arbeitgeber/in und Arbeitnehmer/in heraus entwickelt werden.28 Je nachdem, um welche Beziehung es sich handelt, werden unterschiedliche Anforderungen an Qualität und Quantität von Fürsorge gestellt und sind auch die Standards verschieden, die angelegt werden. Dies wird auch am breiten Spektrum möglicher Fürsorgeleistungen deutlich. Dazu gehören etwa das Bereitstellen von Verpflegung, Hilfeleistungen bei der Körperpflege, Unterstützung bei der Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten – etwa, indem man mit Kindern spielt oder lernt, emotionale Unterstützung, Unterhaltung, Anwesenheit und der daraus resultierende Schutz für Menschen, die (noch) nicht alleine gelassen werden können, weil die Gefahr groß ist, dass sie sich ansonsten selbst schädigen könnten, schließlich auch die Raumpflege. Fürsorge für andere kann man zudem an den Tag legen, indem man ihnen Geld gibt. Wenn man allerdings weiß, dass die mit Geld bedachte Person damit nicht umgehen kann und sich eher schaden wird (zum Beispiel durch den Erwerb von Drogen), dann ist das freilich nicht so fürsorglich.29 4 FÜRSORGEBEZIEHUNGEN: ABHÄNGIGE FREIHEIT ASYMMETRIE

ZWISCHEN

SYMMETRIE

UND

Welche derartigen Leistungen erbracht werden und wie notwendig sie sind, hängt davon ab, welcher Art die Fürsorgebeziehung ist. Es wurde bereits zwischen von Liebe und Loyalität getragenen Nahbeziehungen, Fürsorgebeziehungen zu Fremden, die auf Freiwilligkeit beruhen und solchen Beziehungen, die am Arbeitsmarkt verankert sind, differenziert. Hier kann noch ganz generell danach differenziert werden, ob die Beziehungen symmetrisch oder asymmetrisch angelegt sind. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil je nach Konstellation unterschiedliche Machtverhältnisse vorliegen. Die unterschiedlichen Machtverhältnisse möchte ich daran festmachen, wie die Bedingungen der Autonomie im Sinne der Möglichkeit, über die Angelegenheiten des eigenen Lebens selbstbestimmt zu entscheiden,30 in der Fürsorgebeziehung verteilt sind. 27 28 29 30

Der rechtliche Begriff ist in Deutschland jener der „elterlichen Sorge“ (§ 1626 BGB); in Österreich entspricht dem der Begriff der elterlichen Obsorge (§ 144 ABGB). Hermann Reichold, § 83, in: Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, zitiert nach der Ausgabe auf http://beck-online.beck.de (23.03.2012) S. zu einem ähnlichen Problem bereits Platon, Politeia, 331e-332b mit Blick auf die These des Simonides, dass Gerechtigkeit darin liegt, das zu erstatten, was man jemandem schuldig ist. S. dazu etwa Beate Rössler, Bedingungen und Grenzen von Autonomie, in: Freiheit, Gleichheit

Geschlechterrolle und Fürsorge

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Symmetrisch wäre eine Beziehung, in der Menschen einander als gleichermaßen autonom gegenüberstehen. Das bedeutet, dass die eine von der anderen Person nicht abhängig ist – oder dass die involvierten Personen jedenfalls äquivalente Beiträge erbringen, so dass nicht von einem Abhängigkeitsverhältnis gesprochen werden kann. Die Frage, ob dies im Einzelnen der Fall ist, scheint gar nicht so einfach zu beantworten. So kann man bei einem Verhältnis von Ehemann und Ehefrau, die eine Familie mit mehreren Kindern bilden, grundsätzlich davon sprechen, dass mit Frau und Mann einander zwei gleichermaßen autonome Personen symmetrisch gegenüberstehen, dass die Beziehungen zu den Kindern demgegenüber asymmetrisch sind. Wenn nun ausschließlich – im Rahmen eines konventionellen Geschlechterarrangements – der Ehemann einer Erwerbsarbeit nachgeht, dann ist die Ehefrau von ihm finanziell abhängig, wenn sie selber keine Einkünfte erhält. Ist die Beziehung dadurch als asymmetrisch einzuschätzen? Andererseits ist der Ehemann wiederum davon abhängig, dass die Ehefrau Fürsorgeleistungen erbringt, die es ihm ermöglichen, im öffentlichen Leben fraglos zu funktionieren. Und er selbst sieht sich verpflichtet, der Erwerbsarbeit nachzugehen, weil er sonst kein Einkommen hat, mit dem er seine Familie erhalten könnte. Auch seine Möglichkeiten sind insofern beschränkt. Dieses Beispiel macht mehrere Dinge deutlich: Autonomie ist keine absolute Gegebenheit sondern eine graduelle Angelegenheit.31 Und Fragen der Symmetrie und Asymmetrie sind ebenfalls hochgradig interpretationsbedürftig und kontextgebunden. Angesichts dieser Komplexitäten möchte ich das Prinzip der Autonomie als Frage nach jenen Bedingungen verstanden wissen, die für ein selbstbestimmtes Leben gegeben sein müssen. Im Einklang mit Überlegungen von Joseph Raz oder Marilyn Friedman konstatiere ich dafür drei Voraussetzungen: Erstens, ein adäquater Bereich von Lebensmöglichkeiten; zweitens, die Fähigkeiten, um Möglichkeiten wahrzunehmen, zu reflektieren und sich dafür oder dagegen zu entscheiden, seien sie nun intellektueller, emotionaler oder körperlicher Art; drittens, die relative Abwesenheit von Zwang und Manipulation.32 Dass Autonomie unter diesen Bedingungen steht, bedeutet nicht zuletzt, dass Autonomie nichts Natürliches ist, sondern dass die Frage, ob ein autonomes Leben möglich ist, davon abhängt, wie eine Gesellschaft diese Bedingungen gestaltet. Dies gilt auch für die Qualität – und Quantität – der in ihr erbrachten Fürsorgeleistungen, insofern sie einen Einfluss auf den Grad der Autonomie einer Person haben. Hier wird nicht zuletzt ein Aspekt der relationalen Dimension von Autonomie deutlich: „[S]ie kann als Bedingung der Ermöglichung von Autonomie praktiziert und verstanden werden“.33 Die Bedingungen der Autonomie sind bei fürsorgebedürftigen Personen in asymmetrischen Fürsorgebeziehungen signifikant eingeschränkt – sei es, weil sie sukzessive geringer werden wie bei alten und kranken Menschen, oder weil sie sich erst in Entfaltung befinden, wie bei Kindern oder bei

31 32 33

und Autonomie, hg. von H. Pauer-Studer / H. Nagl-Docekal, 2003, 327–357 So auch Rössler (Fn. 30), 346 Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986, 372 f.; Marilyn Friedman, Autonomy, Gender, Politics, 2003, 3 ff. Rössler (Fn. 30), 350. Die relationale Dimension hat allerdings auch eine Kehrseite: sie kann, wie Rössler dies an dieser Stelle weiter ausführt, „gerade als ein Hindernis für die Autonomie einer Person“ praktiziert und verstanden werden.

70

Elisabeth Holzleithner

Menschen, die sich nach einer schweren Erkrankung erholen. Gelingende Fürsorge erweitert den Bereich der Möglichkeiten von Personen, für die gesorgt wird; sie ermöglicht daher im gegebenen Rahmen Autonomie. Durch die nur eingeschränkt vorliegenden Bedingungen der Autonomie – sei dies mangels Bewegungsfähigkeit oder aufgrund eingeschränkter intellektueller Fähigkeiten – befinden sich fürsorgebedürftige Personen und jene, die für sie sorgen, in einem strukturellen Machtungleichgewicht.34 Denn „die versorgende Person [hat] die Macht […], der anderen das Versorgen, auf das sie angewiesen ist, vorzuenthalten. Die unterschiedlichen Autonomievollzugsmöglichkeiten bedingen ein objektives Machtungleichgewicht“.35 Freilich sind auf Fürsorge angewiesene Menschen in solch einer Beziehung nicht notwendigerweise ohnmächtiger. Damit ist nun der Blick auf jene zu richten, die in asymmetrischen Beziehungen Fürsorgeleistungen erbringen. Schnabl weist darauf hin, dass die „konstitutionelle Machtungleichheit aufgrund einseitiger Abhängigkeit“ zu unterscheiden ist „von der Macht- und Beziehungsdynamik, die sich in konkreten Fürsorgekonstellationen real ausbildet.“36 Wie mächtig oder ohnmächtig Fürsorgeleistungen erbringende Personen konkret sind, ist nicht zuletzt eine Funktion ihrer spezifischen Positionierung in der konkreten Fürsorgebeziehung. Auch hier lassen sich einige Konstellationen ganz grundsätzlich unterscheiden: ob etwa Fürsorgeleistungen im Rahmen von Nahbeziehungen erbracht werden, als Erwerbsarbeit in Privathaushalten (legal, auf dem grauen Markt oder überhaupt illegalisiert, etwa im Rahmen der „24-Stunden-Pflege“) oder als Erwerbsarbeit im öffentlichen Raum, wie in einem Krankenhaus, in einem Altersheim oder in einem Kindergarten. Christa Schnabl skizziert mögliche Dynamiken: Auf Fürsorge angewiesene Menschen „können beispielsweise übermäßige Ansprüche auf Versorgung stellen oder die Betreuenden tyrannisieren. In diesen Fällen missachten sie die spezifische Verletzbarkeit von Fürsorgenden, die ihrerseits oft übermäßige Ansprüche an sich stellen (Stichwort ‚burn out‘). Fürsorgende vergessen ihrerseits nicht selten auf die eigenen Bedürfnisse, das eigene Wohlergehen und die Grenzen ihrer Fürsorge- und Versorgungsfähigkeiten. Sie können aber auch in die andere Falle tappen und paternalistisch über die anderen verfügen, ihre Wünsche bevormundend und autoritär interpretieren und so die Mündigkeit der auf Fürsorge angewiesenen untergraben. Worauf es hier ankommt ist die Tatsache, dass beide Teile, sowohl die Gebenden als auch die Empfangenden die strukturell-konstitutionell asymmetrische Fürsorgebeziehung ausgestalten.“37

Und auch bei sorgenden Personen können Einschränkungen von Autonomie konstatiert werden: im Sinne eines Mangels an Alternativen am Arbeitsmarkt oder aufgrund einmal eingegangener Konstellationen, die infolge eingespielter Zuständigkeiten nur schwer eine Änderung der Situation zulassen – und das ist ja ein zentrales Element von Autonomie. Dies gilt etwa für geschlechterstereotype Arrangements mit Blick auf die Kindererziehung, aber auch hinsichtlich der Sorge für alte und 34

35 36 37

Neben der Einschränkung von Fähigkeiten kann auch „eine Ungleichheit im sozialen Status“ vorliegen „(Abwertung von Bedürftigen, Behinderten, …) und in einigen Fällen wird die konstitutionelle Ungleichheit z. B. durch die Macht über Leben und Tod verstärkt.“ (Christa Schnabl, Gerecht sorgen. Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge, 2005, 65) Schnabl (Fn. 34), 66 Schnabl (Fn. 34), 65 Schnabl (Fn. 34), 65 f.

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Geschlechterrolle und Fürsorge

kranke Eltern, die typischerweise auf den Schultern der Töchter und der Schwiegertöchter lastet.38 Jene Verantwortung, die Pflegende tragen, kann dazu führen, dass sie im Fokussieren auf die Bedürfnisse der anderen ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen. Dies kann zu enormen Spannungen führen, zumal wenn die Pflege große körperliche Nähe erzeugt und eine Situation emotional hochgradig aufgeladen ist. Wenn eine Person, die Fürsorgeleistungen erbringt, hier keine hinreichende Unterstützung erhält, kann dies Gefühle des Verlassenseins erzeugen wie auch der Überforderung. In solchen Situationen kann es zu Vernachlässigung oder zu Übergriffen kommen. Umso wichtiger ist es in diesem Kontext, über Standards der Fürsorge nachzudenken. Zunächst gilt es vor dem Hintergrund des Prinzips der Autonomie grundlegend festzuhalten, dass auch in asymmetrischen Beziehungen die wechselseitige Anerkennung als Subjekt verantworteter Freiheit39 das zentrale Fundament darstellt. Soweit dies möglich ist, sollte das Fürsorgeverhältnis daher frei sein von Bevormundung auf der einen und Quälerei mit der Artikulation von überzogenen Bedürfnissen auf der anderen Seite. Allerdings stellen die praktischen Situationen des Sorgens hier lebensweltliche Anforderungen, die nicht unterschätzt werden dürfen: Ein Kind, das sich permanent in Gefahren begibt; eine verwirrte alte Person, die überall Menschen wittert, die sie ausnützen und betrügen wollen. Hier werden die Fürsorgetugenden, die pflegende Personen brauchen und an den Tag legen sollen, bisweilen auf eine harte Probe gestellt: Aufmerksamkeit, Einfühlsamkeit, Verantwortlichkeit und Mitgefühl. Und je nach Kontext sind diese Tugenden auch in unterschiedlichem Maße gefragt: je nachdem, ob es sich um eine familial-intime Nahbeziehung handelt, um Nachbarschaftshilfe oder ob Fürsorgeleistungen gegen Entgelt erbracht werden. 5

FÜRSORGE

STATT

GERECHTIGKEIT? ASPEKTE

DER

CARE ETHIK

Angesichts der Besonderheit fürsorgeaffiner Tugenden stellt sich die Frage nach der Verteilungsfähigkeit von Fürsorgeleistungen als hoch komplexe Problematik. Ist Fürsorge einer Theorie der Gerechtigkeit überhaupt zugänglich, oder weisen ihre Merkmale darüber hinaus? Lässt sich Fürsorge in Begriffen von Rechten auf einzelne Leistungen und damit korrespondierenden Pflichten erfassen? Und wer ist wem gegenüber für welche Form der Fürsorge verantwortlich, nicht zuletzt im Lichte dessen, dass so manche Fürsorgebeziehung nicht freiwillig eingegangen wird sondern in das eigene Leben tritt und sich bisweilen unvermittelt als Herausforderung stellt? Solche Situationen können sich in Form von schweren Erkrankungen oder Behinderungen nahestehender Personen infolge von Unfällen ergeben. Sie sind nur sehr bedingt das Ergebnis einer „freien Wahl“ sondern werden eher als Schicksalsschlag angenommen oder hingenommen. Aus Gründen wie diesen ist die bereits angesprochene Care Ethik überaus skeptisch, was die Integration von Fürsorge in Theorien der Gerechtigkeit anbelangt. Die 38 39

S. Gertrud Backes / Ludwig Amrhein / Martina Wolfinger, Gender in der Pflege: Herausforderungen für die Politik, 2008. S. Gerhard Luf, Freiheit als Rechtsprinzip: Rechtsphilosophische Aufsätze, hg. von E. Holzleithner / A. Somek, 2008, 157 f.

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Elisabeth Holzleithner

Qualität gelingender Fürsorge, so könnte dies auf den Punkt gebracht werden, entziehe sich „männlicher“ Gerechtigkeitsmathematik und der dem Gerechtigkeitsdenken inhärenten Idee, es gehe darum, Interessen im Sinne zu einem möglichst äquivalenten Ausgleich zu bringen. Die moderne Version40 der Care Ethik hat eine zentrale Quelle in einer moralpsychologischen Arbeit, die eine stürmische Karriere gemacht hat und der gesamten Debatte um Gerechtigkeit und Moral eine Wendung gegeben hat – soweit sich auch die Mainstreamphilosophie darauf einlassen wollte.41 Die Rede ist von Carol Gilligans Studie Die andere Stimme.42 Darin setzt sich Gilligan kritisch mit Forschungsergebnissen des Moralpsychologen Lawrence Kohlberg auseinander, dessen Mitarbeiterin sie einige Zeit lang war. Ansatzpunkt der Kritik ist der einseitige Fokus der traditionellen, an den Prinzipien der Aufklärung orientierten Moraltheorie auf Rationalität. Moral wird in Vernunft verwurzelt; Gefühle werden tendenziell als suspekt und dem moralischen Urteil abträglich wahrgenommen, da sie leicht verführbar seien und ins Ressentiment kippen können. Moral erscheint als Frage der Verteilung individueller Rechte, des Abgleichs individueller Interessen, wenn sie aufeinander prallen. Eine solche Sicht der Moral wird als geschlechtsneutral ausgegeben (wenn die Geschlechterfrage überhaupt in den Blick kommt43). Diese Prämissen greift Carol Gilligan an und stellt der von ihr als typisch männlich decouvrierten Konzeption von Moralität als Rationalität eine „andere Stimme“ entgegen: eine kontextsensitive, in Beziehungen situierte, vorwiegend bei Frauen anzutreffende Ethik der Fürsorge. Gilligan skizziert in knappen Worten ihr Anliegen: „Diese Konzeption der Moral, bei der es um care (Fürsorge, Pflege, Zuwendung) geht, stellt das Gefühl der Verantwortung und Beziehungen in den Mittelpunkt, während die Konzeption der Moral als Fairness die moralische Entwicklung vom Verständnis von Rechten und Spielregeln abhängig macht.“44

Gilligan entwickelt ihren Ansatz u. a. durch Kontrastierung der moralischen Erfahrungswelt eines kleinen Mädchens (Amy) und eines kleinen Buben (Jake). Sie sind typische Vertreter/innen der unterschiedlichen Moralansätze. Während Amy moralische Dilemmata unter Rekurs auf Beziehungen aufzulösen versucht, argumentiert Jake mit Verweis auf Fairness, Rechte und Spielregeln.45 Eine ähnliche Entgegenset40

41 42 43

44 45

Zur Verkoppelung von Fürsorge, weiblichem Geschlechtscharakter und Kulturauftrag im Rahmen der Neuorganisation der Geschlechterverhältnisse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert s. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib (1750–1850), 1991; Schnabl (Fn. 34), 34 ff. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Elisabeth Holzleithner, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung, 2002, 34–38 Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984 Gilligan (Fn. 42), 29, weist darauf hin, dass Kohlbergs sechs Stadien, „die die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit von der Kindheit bis zum Erwachsensein beschreiben, […] empirisch auf einer Untersuchung von 84 Jungen [basieren], deren Entwicklung Kohlberg über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren verfolgt hat. Obwohl Kohlberg für sein Schema Universalität beansprucht, erreichen die Gruppen, die in seiner ursprünglichen Stichprobe nicht enthalten sind, selten seine höheren Stadien (…). Unter denjenigen, die gemessen an Kohlbergs Skala in ihrer moralischen Entwicklung defizitär zu sein scheinen, stechen vor allem die Frauen heraus, deren Urteile dem dritten Stadium seines sechsstufigen Schemas zu entsprechen scheinen.“ Gilligan (Fn. 42), 30 S. durchgängig das Kapitel „Auffassungen von Beziehungen“ in Gilligan (Fn. 42), 36 ff.

Geschlechterrolle und Fürsorge

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zung der Geschlechter findet sich bei der Art und Weise, wie Männer und Frauen in Zusammenhang mit der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch argumentieren. Während Frauen mögliche Auswirkungen auf Beziehungen thematisieren, berufen Männer sich auf Prinzipien. Dennoch will Gilligan, wie sie schreibt, weder behaupten, dass nur Frauen einer Care-Ethik anhängen, noch, dass die Care-Ethik allein der Weg zum Heil in menschlichen Beziehungen ist. Sie will lediglich das Vorwalten des Rechte-Ansatzes in Frage stellen und die Welt der Moral komplexer darstellen – in einer Komplexität, die dem Versuch der Beantwortung moralischer Fragen im Großen wie im Kleinen angemessen ist. So schreibt sie im Resümee: „Zu verstehen, dass die Dialektik der menschlichen Entwicklung durch das Spannungsverhältnis zwischen Verantwortung und Rechten vorangetrieben wird, heißt, die Integrität zweier unterschiedlicher Erlebensweisen zu begreifen, die schließlich miteinander verbunden sind. Während eine Ethik der Gerechtigkeit von der Prämisse der Gleichberechtigung ausgeht, dass alle gleich behandelt werden sollten, basiert eine Ethik der Anteilnahme/Zuwendung/Fürsorge auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit, dass niemand Schaden erleiden sollte. In ihrer Auffassung von Reife konvergieren beide Perspektiven in der Erkenntnis, dass genau so wie sich mangelnde Gleichberechtigung auf beide Partner einer asymmetrischen Beziehung negativ auswirkt, auch Gewalt für alle Betroffenen zerstörerisch ist. Dieser Dialog zwischen Fairness und Fürsorge verhilft uns nicht nur zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern ermöglicht auch eine umfassendere Darstellung der Arbeitswelt und der familiären Beziehungen der Erwachsenen.“46

Ganz im Sinne eines „Dialogs zwischen Fairness und Fürsorge“ ging es im Weiteren in der philosophischen Debatte höchst differenziert zu. Philosophinnen und Philosophen versuchten herauszuarbeiten, ob und inwiefern die unterschiedlichen moralischen Ansätze wirklich geschlechtsspezifisch sind, ob die Gegensätze zwischen den Geschlechtern und den Ansätzen in der Moraltheorie nicht vielleicht künstlich hoch gehalten werden. Tatsächlich ergaben spätere Forschungen, dass sich die These des Geschlechtsunterschieds im moralischen Denken empirisch nicht halten lässt.47 Die Anliegen im Gefolge dieser Forschung bestanden also darin, die Ansätze zu integrieren und Moraltheorien um die Dimension moralischer Gefühle zu erweitern.48 Dabei konnte durchaus an philosophische Traditionen, insbesondere jene Englands mit David Hume und Adam Smith, angeknüpft werden.49 Einige Jahre lang waren auf Gilligan beruhende Ansätze sogar im Bereich der feministischen Rechtswissenschaften hoch im Kurs.50 Zunächst wurden vor allem die Potenziale einer Bezugnahme auf ein mögliches „anderes Denken“ auch im 46 47

48

49 50

Gilligan (Fn. 42), 212 So etwa Lawrence J. Walker, Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung des moralischen Urteils, in: Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, hg. von G. NunnerWinkler, 1991, 109–120, hier: 115 In den 1990er Jahren erschienen etliche Sammelbände auch in deutscher Sprache, die sich aus verschiedensten Perspektiven mit dem Phänomen einer „weiblichen Moral“ auseinandersetzen: Nunner-Winkler (Fn. 47); Herta Nagl-Docekal / Herlinde Pauer-Studer (Hg.), Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik, 1993; Detlef Horster, Weibliche Moral – ein Mythos?, 1998; s. auch die differenzierte Analyse bei Herlinde Pauer-Studer, Das Andere der Gerechtigkeit. Moraltheorie im Kontext der Geschlechterdifferenz, 1996, insb. 15–37 Siehe Pauer-Studer (Fn. 48), 190–238 Martha Chamallas, Introduction to Feminist Legal Theory, 2. Aufl. 2003, 57 f. mit diversen Nachweisen

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Elisabeth Holzleithner

Recht gesehen, zumal mit Blick auf die Möglichkeit von Alternativen rechtlichen Konfliktsaustrags jenseits von streitigen Verfahren. Allerdings nahmen einzelne Autorinnen schon früh Anstoß an der Art und Weise, wie Gilligan Männlichkeit und Weiblichkeit kontrastierte und zumindest dazu einlud, weibliche Werte zu zelebrieren. Gilligan argumentierte, das Ziel bestehe darin, „Amy’s Stimme“ in den Mainstream der Gesellschaft zu assimilieren. Dem widersprach Catharine MacKinnon mit Verve: Das Ziel müsse doch sein, dass Amy eine „neue Stimme“ zu entwickeln vermöge, eine Stimme, die dazu fähig wäre „to ‚articulate what she cannot now, because his foot is on her throat.‘ Gilligan’s Amy, said MacKinnon, ‚is articulating the feminine. And you are calling it hers. That’s what I find infuriating.‘“51 Als die weitere Rezeption von Gilligans Thesen deren problematische Seite immer deutlicher offenbarte, mehrten sich die skeptischen Stimmen. Denn in geradezu triumphalistischer Manier wurde Gilligan – gegen ihren Willen – von einem frauenfeindlichen publizistischen Mainstream als Vertreterin einer neuen/alten Weiblichkeit vereinnahmt.52 Susan Faludi beschreibt den Vorgang in ihrem PulitzerPreis gekrönten Beststeller Backlash im Abschnitt Carol Gilligan: Andere Ausdrucksformen oder viktorianische Echos?: „Newsweek benutzte Gilligans Buch, um die Behauptung zu belegen, Karrierefrauen müssten einen ‚psychischen Preis‘ für den beruflichen Erfolg zahlen. Rückschrittliche Psychologieratgeber, unter anderem Smart Women / Foolish Choices und Being a Woman, beriefen sich auf Gilligan, wenn es um das Argument ging, Unabhängigkeit sei für Frauen ein widernatürlicher und ungesunder Zustand. Der antifeministische Autor Nicholas Davidson schrieb 1988 in seinem Buch The Failure of Feminism über Gilligan: ‚War es denn wirklich nötig, diese ganze feministische Sturm-und-Drang-Epoche zu durchlaufen, nur um dann doch bei Ideen zu landen, die es schon allgemein vor vierzig Jahren gab? …‘“53

Gilligan konnte solchen Verzerrungen ihrer Thesen nichts abgewinnen. In einer Antwort auf ihre Kritikerinnen und Kritiker, die in der Zeitschrift Signs abgedruckt wurde, drückte sie ihr Bedauern darüber aus, dass ihr Buch zu dem Zweck verwendet wurde, die Stereotypisierung und Unterdrückung von Frauen zu befördern.54 In einem von Susan Faludi zitierten Privatgespräch soll sie gemeint haben, sie würde ihre Forschungsergebnisse anders darstellen; insbesondere würde sie Amy und Jake weniger stereotyp als weiblich und männlich positionieren. Faludis Verdikt fällt in diesem Kontext etwas harsch aus: Gilligans Bedauern, so meint sie, „nutzt im Grunde nichts. Signs wird nicht allgemein gelesen. Und der Schaden ist schon passiert.“55 Tatsächlich ist der Schaden auch im Rechtsdiskurs nicht ausgeblieben, und damit hat sich realisiert, wovor Ann Scales bereits frühzeitig gewarnt hatte: Sie hielt 51

52

53 54 55

Joan Williams, Deconstructing Gender, Michigan Law Review 1989, 798–845, hier: 809. Williams kommentiert an dieser Stelle zurecht: „MacKinnon is right that what Gilligan has found is femininity; Gilligan is right that there is something positive there.“ S. den Kommentar von Mary Joe Frug (Postmodern Legal Feminism, 1992, 38): „Although in my circle the reductive popularization of Gilligan’s argument is almost always drowned by the epithet ‚crude Gilliganism‘, our ritualistic denunciations cause me to suspect that the dangers posed by conservative readings may be masked, for feminists, by our teasing, know-it-all dismissals and also, in some cases, by our desires to avoid examining too closely the question of our own ‚feminine‘ identities.“ Susan Faludi, Die Männer schlagen zurück, 1992, 442 Carol Gilligan, „Reply by Carol Gilligan“, Signs 1986, 324–333, hier: 333 Faludi (Fn. 53), 442

Geschlechterrolle und Fürsorge

75

Gilligans Thesen für gefährlich, weil „easy to oversimplify“: „Lawyers are tempted to use Gilligan’s work in a shallow way, to distil it into a neat formula.“56 Ein viel zitiertes Beispiel, das die Problematik einer zu simplen und verzerrenden Inkorporierung von Gilligans Thesen in den Rechtsdiskurs belegt, ist der Sears-Fall: In einem langwierigen Verfahren gegen das Unternehmen Sears, Roebuck & Co. versuchte die Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) den Nachweis zu führen, dass Sears in der Vergangenheit Frauen diskriminiert hatte. Dies würde sich in der Unterrepräsentation von Frauen vor allem in lukrativen Positionen ebenso wie in einem massiven Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen niederschlagen. Bemerkenswert an diesem Fall war die Tatsache, dass sich sowohl die EEOC als auch Sears akademischer Unterstützung durch je eine Historikerin versichert hatten; für die EEOC sagte Alice Kessler-Harris aus;57 für Sears ging Rosalind Rosenberg als Zeugin in den Gerichtsstand. Sears brachte vor, dass Frauen in der relativ hoch bezahlten Sparte der Verkäufe auf Kommissionsbasis (commission sales) nicht deshalb unterrepräsentiert wären, weil das Unternehmen sie diskriminiert hätte, sondern weil Frauen einfach nicht daran interessiert wären. Ihr Fokus auf Beziehungen, sowohl im eigenen Heim als auch bei der Arbeit, würde dazu führen, dass sie weltliches Vorankommen opferten und stattdessen lieber beschränkte Arbeitszeiten und ein erträgliches Arbeitsumfeld hätten: Insbesondere würden Frauen nicht so gern im Außendienst arbeiten, zumal bei Wind und Wetter. Durch ihre Ethik der Fürsorge würden Frauen gleichsam über den Dingen stehen, so dass ihnen die lukrativen, auf Wettbewerb abgestellten Jobs in Commission Sales gar nicht als erstrebenswert erschienen. Vielmehr kämen die schlechter bezahlten, aber im Innendienst und zeitlich absehbaren Jobs ihrer Hingabe an die Familie und damit ihren genuinen Interessen entgegen. Sears konnte das Gericht u. a. mit dieser Argumentation davon überzeugen, dass die Unterrepräsentation von Frauen in diesen Positionen nicht auf Diskriminierung zurückzuführen war.58 Ein wesentlicher Faktor war letztlich auch, dass es der EEOC nicht gelungen war, eine einzige Frau aufzutreiben, die ausgesagt hätte, sie sei tatsächlich diskriminiert worden. Allein mit der auf Statistiken gestützten strukturellen Argumentation kam die EEOC nicht durch. Der Sears-Fall illustriert ein fundamentales Problem des Beziehungsfeminismus: Er stellt eine respektable akademische Sprache zur Verfügung, in der traditionelle Stereotypen zu neuen Würden gelangen.59 Über den Weg (oder Umweg) der Uni56 57

58

59

Ann Scales, The Emergence of Feminist Jurisprudence: An Essay, in: Feminist Jurisprudence, hg. von P. Smith, 1993, 94–109, hier: 97 Für eine Darstellung des Verfahrens aus Perspektive des Aufeinanderprallens von Rechtsdiskurs und historischer Analyse s. Alice Kessler-Harris, Equal Employment Opportunity Commission v. Sears, Roebuck & Company: A Personal Account, in: Applications of Feminist Legal Theory to Women’s Lives. Sex, Violence, Work, and Reproduction, hg. von D. Kelly Weisberg, 1996, 594–610 628 f. Supp. 1264 (N.D. Ill. 1968), aff’d., 839 f.2d 302 (7th Cir. 1988). Es ist darauf hinzuweisen, dass es bei diesem Fall ganz wesentlich darum ging, welche Statistiken anerkannt und wie interpretiert werden. Eine detaillierte Analyse würde an dieser Stelle zu weit gehen. S. dazu Joan Scott Hoff, Law, Gender, and Injustice. A Legal History of U.S. Women, 1991, 275–261; Williams (Fn. 50), 813–822 sowie die in Weisberg (Fn. 56), 571–593 auszugsweise abgedruckten Urteile. Williams (Fn. 51), 828. Ein analoger Versuch wurde im Citadel-Fall (Faulkner v. Jones, 10 f.3d 226, 230–31 [4th Cir. 1993]) gestartet. Hier wurde unter expliziter Bezugnahme auf Gilligan behauptet, Männer und Frauen würden unterschiedlich lernen, hätten unterschiedliche psychologische

76

Elisabeth Holzleithner

versitäten und Law Journals feiern alte Klischees auch im Rechtsdiskurs ihre Rückkehr aus der Gruft und fallen betroffenen Frauen wie ein Bumerang in den Rücken. 6

GERECHTIGKEIT

UND

FÜRSORGE –

EINE

VERHÄLTNISBESTIMMUNG

Aktuelle Theorien aus dem Bereich der Care Ethik präsentieren vielversprechende Ansätze, dennoch will mir scheinen, dass das Konzept der Fürsorge auf das Korrektiv der Gerechtigkeit nicht verzichten sollte. Es sind zwei Gründe, die mich dazu veranlassen, dies zu sagen: Der eine Grund ist ein forschungsstrategischer: Zwar haben sich aktuelle Theorien der Care Ethik weitgehend von jenen Geschlechterstereotypen gelöst, die zur Geschlechterrollenfalle werden können. Allerdings scheint mir diese Emanzipation in der öffentlichen wie auch in der fachspezifischen Wahrnehmung nicht hinreichend angekommen zu sein. Weiterhin riskiert die Bezugnahme auf eine Ethik der Fürsorge, ins Eck der nachgerade exklusiven Frauenangelegenheiten abgeschoben zu werden. Das ist sehr bedauerlich und sollte nicht sein, aber es ist Ausfluss jener Geschlechterrollenproblematik, die Ausgangspunkt der vorliegenden Beobachtungen waren. Es ist aber nicht nur die forschungsstrategische Positionierung, die mich zu diesem Schluss bewegt. Vielmehr bin ich tatsächlich der Ansicht, dass die Fürsorge der Gerechtigkeit bedarf wie auch die Gerechtigkeit ohne Fürsorge nicht auskommt. Das beginnt beim Menschenbild von Theorien der Gerechtigkeit, das symmetrische ebenso wie asymmetrische Beziehungen gleichermaßen erfassbar machen sollte. Dies führt zur Notwendigkeit, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit jenseits von Geschlechterstereotypen neu zu gestalten. Im Übrigen bedeutet dies nicht, wie bisweilen befürchtet wird, einen Verzicht auf eine Privatsphäre60. Es bedeutet aber sehr wohl, dass das öffentliche Leben nicht ohne seine Verschränkung mit dem gedacht werden kann, was im Privaten geschieht, und dass das private Leben von daher nicht immun ist für sozialgestaltende Maßnahmen. Dabei geht es um die Vereinbarkeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben, einerseits durch eine (andere) Gestaltung der Öffentlichkeit, die sich mit der Übernahme von Fürsorgeverantwortung für andere besser vereinbaren lässt; andererseits aber auch darum, dass Menschen in tendenziell symmetrischen Beziehungen die Fürsorge für andere miteinander teilen.61 Im Zuge dessen kann es dann zur Kultivierung derjenigen Tugenden kommen, die Fürsorgebeziehungen gelingen lassen, worauf, wie Martha Nussbaum richtig hinweist, keine Gesellschaft verzichten kann.62

60 61

62

und emotionale Bedürfnisse und aus diesem Grund wäre es nicht sinnvoll, Frauen zum Citadel, einem Militärcollege, zuzulassen. Gilligan verfasste in diesem Fall ein Avidavit, in dem sie sich gegen diese Fehldarstellung ihrer Arbeit zur Wehr setzte, nicht ohne allerdings die Ausbildungsmethoden des Citadel zu kritisieren. S. dazu Katherine M. Franke, The Central Mistake of Sex Discrimination Law: The Disaggregation of Sex From Gender, University of Pennsylvania Law Review 1995, 1–99, hier: 84–86. Siehe Beate Rössler, Der Wert des Privaten, 2001 Damit kommt es zu einer Erweiterung jener Diskurse, die heute dazu tendieren, bloß von „Vereinbarkeit“ zu sprechen und die Frage der Aufteilung der Familienarbeit nicht thematisieren. S. dazu Maria Stratigaki, The Cooptation of Gender Concepts in EU Policies: The Case of „Reconciliation of Work and Family“, Social Politics 2004, 30–56 Martha C. Nussbaum, Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische

Geschlechterrolle und Fürsorge

77

Dass Bereiche der Fürsorge jenseits der Gerechtigkeit liegen mögen, soll damit nicht geleugnet werden. Fürsorge, die aus Liebe, Loyalität, auch aus sozialem Engagement erbracht wird, lässt sich nicht einfach verrechnen – ihre besondere Qualität scheint darin zu liegen, dass sie bedingungslos ist. Und doch schleicht sich, wie ich meine, Gerechtigkeit als Thema selbst in solche Fürsorgebeziehungen: Wenn die fürsorgende Person sich nicht wahrgenommen und ernst genommen und respektiert fühlt, wenn sie das Gefühl hat, dass sie mit ihrem Engagement ausgenützt wird, wenn die Antwort auf ihr Engagement im Wesentlichen Ausbeutung und Verachtung sind, dann wird gerechterweise die Liebe, die hinter diesen Leistungen steckt, verwirkt – durch mangelnde Anerkennung, durch Ungerechtigkeit, durch jene habituelle Lieblosigkeit, die als höchst inadäquate Antwort auf Fürsorgeleistungen gesehen werden muss.63 Somit befinden wir uns mit der Fürsorge in einem von Geschlechterrollenerwartungen aufgeladenen Spannungsfeld, das von Gerechtigkeit umrahmt wird, das aber nicht in ihr aufgeht. Und irgendwo hier, im Einklang von Gerechtigkeit und Fürsorge, wartet – vielleicht – so etwas wie Glück.

63

Aufsätze, 2002, 12. So bereits Holzleithner (Fn. 23).

FRIEDERIKE WAPLER, HANNOVER IM

TOTEN

DIE

1

WINKEL

AUTONOMIE

DER

DER

RECHTSPHILOSOPHIE? DER LIBERALISMUS

FRAU

UND

EINLEITUNG

Der „tote Winkel“ ist als praktisches Problem beim Autofahren bekannt: Auch wenn man sich noch so sehr bemüht, das Verkehrsgeschehen rund um das eigene Fahrzeug mit Hilfe von Spiegeln zu erfassen, geschieht es regelmäßig, dass der überholende Wagen aus dem Blickfeld gerät. Eine gefährliche Situation, wenn man den Verkehrsfluss nicht gut beobachtet hat. Die Situation des toten Winkels erinnert an einen viel diskutierten Einwand gegen liberale Theorien von Recht und Staat, der sich etwa so formulieren lässt: Und wenn die liberalen Denkerinnen und Denker noch so sehr versuchen, eine gerechte politische Theorie zu entwerfen, geraten ihnen dennoch immer wieder die Frauen aus dem Blick. Oder anders gesagt: Gerade die Theorien, die die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt stellen, neigen dazu, die Autonomie der Frau zu vergessen oder zu verleugnen. Wer heutzutage den Begriff „Frau“ ohne relativierende Zusätze in den Titel eines Vortrags oder Aufsatzes setzt, steht unter einem gewissen Rechtfertigungszwang, da der Bezug auf sie den Verdacht auslöst, man habe die Theorieentwicklung der vergangenen zwanzig Jahre nicht zur Kenntnis genommen. Es kann mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden, dass die Geschlechtergrenzen in vieler Hinsicht unscharf sind. Selbst wenn man sich auf diese unscharf abgegrenzten Gruppen bezieht, lässt sich schnell feststellen, dass die Gruppe der Männer wie die der Frauen keineswegs homogen ist, sondern aus Individuen mit sehr unterschiedlichen Biographien, Interessen, sozialen Hintergrundbedingungen und gesellschaftlichem Status besteht. Nichtsdestotrotz wird der Einwand, das liberale Denken erfasse nur einen reduzierten Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit, häufig mit ausdrücklichem Bezug auf „die Frauen“ oder auf „weibliche“ Lebensweisen und Lebenserfahrungen erhoben: Diese würden systematisch übersehen, ausgegrenzt und damit implizit oder explizit für unwichtig erklärt – unwichtig jedenfalls für eine politische Philosophie oder Rechtsethik. Diesem Vorwurf soll im Folgenden nachgegangen werden und es wird dabei auch darum gehen, ob die Argumente gegen das liberale Denken tatsächlich etwas mit „den Frauen“ zu tun haben oder ob sie nicht doch ganz andere Dinge betreffen, die möglicherweise nur zuerst von weiblichen Philosophinnen aufgebracht worden sind. Liberale Theorien der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das freie Individuum in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, sie teilen also einen normativ-individualistischen Ausgangspunkt.1 1

Vgl. z. B. John Stuart Mill, Über die Freiheit [1859], 1988, 17 („Über sich selbst, über seinen eignen Körper und Geist, ist der einzelne souveräner Herrscher.“); John Locke, Über die Regierung, [1690], 1992, § 4; im Ansatzpunkt (d. h. bezogen auf den Naturzustand) auch Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social/ Vom Gesellschaftsvertrag [1762], 2010, 9; allgemein zur individuali-

80

Friederike Wapler

Das (menschliche) Individuum ist Selbstzweck, d. h. es darf nicht als bloßes Objekt kollektivistischer Bestrebungen betrachtet werden.2 Die tatsächliche oder potentielle Autonomie wird sodann zum Ausgangspunkt für das Gleichheitspostulat, d. h. alle Individuen sind auf einer abstrakten Ebene als frei und gleich anzusehen.3 Die zentrale Aufgabe des Staates besteht folgerichtig in der Sicherung dieser individuellen Freiheit. In diesen Punkten sind sich liberale Theorien weitgehend einig, allerdings verwenden sie unterschiedliche Freiheitsbegriffe und kommen demzufolge auch zu divergierenden Gesellschaftsmodellen. Ein weiteres charakteristisches Merkmal liberaler Theorien ist schließlich die Annahme, dass die Grundregeln der Gemeinschaft so gestaltet sein müssen, dass sie im Prinzip von allen betroffenen Individuen akzeptiert werden können4 bzw. dass die Belange aller betroffenen Individuen hinreichend berücksichtigt werden.5 Diese Bedingung an die Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Lebens führt zu kontraktualistischen Ansätzen oder verwandten Konzepten. „Freiheit“ im liberalen Sinne steht in einem Zusammenhang mit der Idee eines selbstbestimmten Lebens: Das Individuum soll nicht daran gehindert werden, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten, solange nicht wichtige Belange anderer Individuen berührt werden. Freiheit und Autonomie sind daher zwei zentrale Begriffe im liberalen Denken; es ist allerdings nicht ganz klar, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen (dazu unten Abschnitt 5). Historisch betrachtet entwickelte sich das liberale Denken in der Zeit der Aufklärung aus dem Emanzipationsstreben des Bürgertums gegenüber feudalen Herrschaftsstrukturen. Die liberalen Postulate waren universal formuliert, in der praktischen Umsetzung aber zunächst auf eine relativ kleine Schicht der Bevölkerung ausgerichtet. Schon in den Zeiten der Aufklärung wurden Freiheit und Autonomie auch für Frauen eingefordert, etwa während der Französischen Revolution,6 allerdings ohne nennenswerte praktische Resultate. Fast untrennbar verbindet sich seither die Forderung nach Autonomie für die Frau mit der Frage, ob Frauen „anders“ autonom wären als Männer, wenn sie die Strukturen der Gesellschaft in gleichberechtigter Weise beeinflussen könnten, ob sie eine andere Vorstellung davon hätten, was Selbstbestimmung bedeutet, oder ob sie andere Lebensbedingungen benötigten, um ihr Leben autonom gestalten zu können. Insofern wundert es nicht, dass gerade liberale Theorien mit ihrer Betonung des selbstbestimmten Lebens von feministischen Theoretikerinnen und Theoretikern sowohl heftig angegriffen als auch vehement verteidigt werden. Der zentrale Begriff, an dem sich diese Debatten ent-

2

3 4 5 6

stischen Ausrichtung liberaler Theorien Dietmar von der Pfordten, Normative Ethik, 2010, 30 f.; L. Susan Brown, The Politics of Individualism. Liberalism, Liberal Feminism and Anarchism, 1993, 10 Vgl. z. B. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants gesammelte Schriften, hg. v. d. Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, 1911, 429; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, 205 Vgl. z. B. Locke (Fn. 1), § 4; Martha C. Nussbaum, Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze, 2002, 19; Rawls (Fn. 2), 361 John Christman, Autonomy in Moral and Political Philosophy (2009), in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://Plato.stanford.edu/entries/autonomy-moral (19.8.2010) Von der Pfordten (Fn. 1), 46 f. Olympe Marie de Gouges, Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin, 1789; Jean Antoine de Condorcet, Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht, 1789

Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau

81

zünden, ist die Autonomie. Die Kontroversen um diesen Begriff sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen: Zunächst wird ein basaler Autonomiebegriff herausgearbeitet, der als gemeinsame Grundlage aller liberaler Theorien vorausgesetzt werden kann. Anschließend werden die wesentlichen Argumente gegen diesen Begriff dargestellt und auf ihre Plausibilität überprüft. Dabei werden sich drei zentrale Fragen herauskristallisieren: (1) Kann das liberale Denken die Struktur politischer Gemeinschaften umfassend abbilden, insbesondere im Hinblick auf persönliche und familiäre Beziehungen? (2) Reicht der basale Autonomiebegriff aus, um einen universalen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit aller Individuen zu formulieren? (3) Ist der Begriff der Autonomie überhaupt der richtige Ausgangspunkt für eine politische Philosophie oder Rechtsphilosophie, wenn man bedenkt, dass in jeder menschlichen Gemeinschaft nur ein Teil der Bevölkerung tatsächlich autonomiefähig ist? 2

EIN

BASALER

BEGRIFF

DER

AUTONOMIE

Dem Wortsinn nach bedeutet Autonomie „Selbstbestimmung“, „Selbstverwirklichung“ oder „Selbstgesetzgebung“. Über diese sehr abstrakte Bestimmung hinaus wird der Begriff der Autonomie unterschiedlich definiert. In einem basalen Sinne benennt er die Voraussetzungen, unter denen überhaupt davon die Rede sein kann, dass ein Mensch sein Leben „selbst bestimmt“. 2.1 PERSONALE, MORALISCHE UND POLITISCHE AUTONOMIE Der basale Autonomiebegriff beschreibt eine Eigenschaft oder Fähigkeit eines Individuums, d. h. einen Bestandteil personaler Autonomie. Ausgeklammert werden damit im Folgenden jedenfalls Fragen der politischen Autonomie von Gemeinschaften. Die personale Autonomie muss zudem von dem Begriff der moralischen Autonomie abgegrenzt werden, wie Kant ihn geprägt hat. Kant beschreibt Autonomie als Selbstgesetzgebung unter der Herrschaft der Vernunft. Er setzt also nicht nur die Fähigkeit voraus, nach selbst gesetzten Regeln oder Maximen zu handeln, sondern verlangt auch eine bestimmte Qualität der Regeln oder Maximen, nämlich ihre Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz, d. h. mit dem kategorischen Imperativ.7 Dieser Autonomiebegriff, der bereits auf ein wohlgeordnetes Zusammenleben der Menschen ausgerichtet ist, geht über die deskriptive Frage, wann ein Mensch selbstbestimmt handelt, weit hinaus. Der ethisch angereicherte Autonomiebegriff hat nicht den Zweck, die Grenze des eigenen Handelns und Entscheidens zu bestimmen, sondern steht für ein Ideal des Guten, das durch Erziehung oder Reflexion angestrebt und erworben werden kann.

7

Kant (Fn. 2), 440: „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit des Gegenstands des Wollens) ein Gesetz ist. Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“

82

Friederike Wapler

Personale Autonomie in einem basalen Sinne hat demgegenüber zwei Bedeutungen: Sie beschreibt einen Zustand, in dem eine Person grundsätzlich selbst über ihr Wohl bestimmen kann. Der basale Autonomiebegriff dient mithin der Bestimmung des Bereiches, innerhalb dessen die eigene Entscheidung des Individuums für andere maßgebend ist, und dies auch dann, wenn das Individuum sich mit ihr von einem objektiven Standpunkt aus gesehen keinen Gefallen tut. In diesem Sinne ist Autonomie ein Schutz gegen paternalistische Interventionen. Gleichzeitig beschreibt der Begriff der basalen Autonomie einen Zustand, in dem der Person, die sie besitzt, die Verantwortung für ihr Entscheiden und Handeln zugeschrieben wird. Nur wer selbstbestimmt handeln kann, kann auch moralisch verantwortlich gemacht werden. Extreme Egoistinnen oder notorische Betrüger werden für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen, gerade weil sie moralische Normen missachten, obwohl sie auch anders handeln könnten. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung muss auch aus diesem Grund von der ethischen Bewertung des Ergebnisses der selbstbestimmten Handlung unterschieden werden.8 2.2 AUTONOMIE ALS FÄHIGKEIT Für die Annahme einer Fähigkeit zur Autonomie müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Das betroffene Individuum muss über grundlegende intellektuelle Fähigkeiten verfügen. Damit ist das Vermögen gemeint, Interessen überhaupt als eigene wahrnehmen zu können, d. h. ein Minimum an Reflexionsfähigkeit. Dazu gehört auch, die eigenen Interessen zueinander und zu den Interessen anderer in Beziehung setzen und abwägen zu können. Diese Fähigkeit zur Reflexion wird in einigen Theorien auch als „Authentizität“ bezeichnet und bekommt dadurch eine etwas andere Ausrichtung: Neben die intellektuellen Fähigkeiten, die Autonomie erst möglich machen, tritt die Anforderung, das autonom handelnde Individuum müsse sich mit sich selbst identifizieren bzw. eine reflektierte Haltung zu sich selbst und seinen Belangen einnehmen.9 Nach wiederum anderen Vorstellungen wird verlangt, dass das Individuum seine Entscheidungen in ein System kohärenter Entscheidungen stellt.10 Ohne auf die Abgrenzungsschwierigkeiten, die diese unterschiedlichen Begriffsverwendungen andeuten, hier näher einzugehen, kristallisiert sich jedenfalls ein Minimum an Rationalität im Sinne einer Fähigkeit, rational, d. h. begründet bzw.

8

9

10

Wie hier Joel Feinberg, Autonomy, in: The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, hg. von John Christman, 1989, 43 f.; Gerald Dworkin, The Concept of Autonomy, in: The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, hg. von John Christman, 1989, 62; Bettina Schöne-Seifert, Paternalismus. Zu seiner ethischen Rechtfertigung in Medizin und Psychiatrie, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14 (2009), 118 Danny Scoccia, Paternalism and Respect for Autonomy. Ethics 100 (1990), 328; Harry G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, hg. v. John Christman, 1989, 63–76; Dworkin (Fn. 8), 60; Beate Rössler, Bedingungen und Grenzen von Autonomie, in: Freiheit, Gleichheit und Autonomie, hg. v. Helga NaglDocekal & Herlinde Pauer-Studer, 2003, 330 und 332 ff. Feinberg (Fn. 8), 33; Rawls (Fn. 2), 166 f.

Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau

83

reflektiert zu entscheiden, als notwendige Bedingung für die Annahme einer Fähigkeit zur Autonomie heraus.11 Die Fähigkeit, seine Entscheidungen selbst zu bestimmen, hängt jedoch nicht nur von intellektuellen Kapazitäten ab, sondern auch von einer emotionalen Disposition, die in etwa dem rechtlichen Begriff der „Steuerungsfähigkeit“ entspricht.12 Nicht fähig, eine reflektierte Entscheidung zu treffen, ist zudem auch eine Person, die manipuliert oder in extremer Weise unterdrückt wird. Diese extremen Formen der Fremdbestimmung schränken nicht nur die äußeren Möglichkeiten ein, eine Wahl zu treffen, sondern schon die Fähigkeit, überhaupt in einen eigenständigen Reflexionsprozess einzutreten.13 Schon die basale Autonomie setzt folglich eine gewisse soziale und emotionale Unabhängigkeit voraus.14 Ob diese Unabhängigkeit darüber hinaus durch äußere Chancen bzw. Optionen gesichert werden muss, wird unten in Abschnitt 5 erörtert, in dem es um äußere Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben („Autonomie als Möglichkeit“) geht. Zuvor soll jedoch ein kurzer Blick auf die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Schwächen autonomiebasierter Ethiken geworfen werden. 3

DER AUSSCHLUSS DER FRAUEN (UND ANDERER) PHILOSOPHIE DER AUFKLÄRUNG

AUS DER LIBERALEN

Betrachtet man die liberalen Theorien der Aufklärung, so fällt bei vielen eine erhebliche Leerstelle ins Auge: Die liberalen Philosophen der Aufklärung forderten Freiheit für „alle Bürger“, nahmen jedoch die Frau als das „natürlicherweise“ untergeordnete Geschlecht umstandslos von dieser Freiheit wieder aus.15 Dieser Ausschluss wird in den wenigsten Fällen explizit ausgesprochen, die Inferiorität der Frau wird eher stillschweigend unterstellt bzw. als natürliche Tatsache unhinterfragt vorausgesetzt. Wo jedoch Begründungen angeführt werden, beziehen sie sich zumeist auf mangelnde Fähigkeiten der Frau. Hobbes unterstellt beispielsweise, dass Männer grundsätzlich besser geeignet seien, die Staatsgeschäfte zu führen:16 „Unter den Kindern haben die männlichen den Vorrang; im Anfange wohl deshalb, weil in der Regel, wenn auch nicht immer, sie zur Verwaltung großer Angelegenheiten, insbesondere zur

11

12 13 14 15

16

Vgl. ähnliche Definitionen bei Josef Raz, The Morality of Freedom, 1986, 373; Herlinde Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, 2000, 12 f.; John Kleinig, Paternalismus und Menschenwürde, in: Paternalismus im Strafrecht. Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, hg. von Andreas von Hirsch, Ulfrid Neumann & Kurt Seelmann, 2010, 156; Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, 1995, 64. Für einen Überblick siehe auch Christman (Fn. 4) und Sarah Buss, Personal Autonomy (2008), in: Stanford Encyclopedia of Philosophy. http://Plato.stanford.edu/entries/personal-autonomy (19.8.2010) Vgl. Schöne-Seifert (Fn. 8), 118 Vgl. Christman (Fn. 4); Rössler (Fn. 9), 345; Dworkin (Fn. 8), 59 f. Raz (Fn. 11), 372; Schöne-Seifert (Fn. 8), 116 Vgl. zu dieser Entwicklung z. B. Ingrid Makus, Women, Politics, and Reproduction. The Liberal Legacy, 1996 (zu Hobbes und Locke); Doris Alder, Die Wurzel der Polaritäten. Geschlechtertheorie zwischen Naturrecht und Natur der Frau, 1992 (zu Rousseau) Thomas Hobbes, Vom Menschen – Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III), hg. v. Günter Gawlick, 1959, Kap. 9, § 16, S. 173

84

Friederike Wapler Führung der Kriege, geeigneter sind; nachher, als dieser Vorrang sich zur Gewohnheit ausgebildet hatte, weil dieser Gewohnheit nicht widersprochen wurde.“

Mit dieser Unterordnung der Frau in der politischen Sphäre geht ihre Festlegung auf den privaten Bereich und ihre dortige Unterordnung unter den Mann einher. Bei Hobbes ist dies eine Folge des Gesellschaftsvertrages: Während die Geschlechter im Naturzustand noch gleichberechtigt sind, resultiert das Recht des Mannes, die Frau im bürgerlichen Zustand zu unterwerfen, aus dessen führender Rolle bei der Begründung des Gesellschaftsvertrags:17 „Dagegen gehören im Staate, wenn ein Übereinkommen zwischen Mann und Frau in bezug auf das Zusammenleben besteht, die Kinder dem Vater; weil in allen Staaten, die ja von den Vätern, nicht von den Müttern begründet worden sind, das häusliche Regiment dem Manne gebührt; ein solches Übereinkommen heißt, wenn es nach bürgerlichen Gesetzen vollzogen wird, die Ehe.“

Auch Locke begründet die Unterordnung der Frau unter den Mann mit dessen – nicht näher spezifizierten – überlegenen Fähigkeiten:18 „Ehegatten haben zwar ein gemeinsames Interesse, aber sie haben nicht dieselben Meinungen, und so werden sie unvermeidlich auch manchmal nicht denselben Willen haben. Es ist daher notwendig, daß irgendwo die letzte Entscheidung bzw. die Herrschaft liegen sollte. Und dies fällt naturgemäß dem Manne als dem Fähigeren und Stärkeren zu.“

Die Frau wurde in der liberalen Philosophie der Aufklärung zudem – anders als der Mann – häufig nicht als Zweck an sich akzeptiert, sondern in ihrer Beziehung auf den Mann hin definiert. Ein prominentes Beispiel für diese kollektivistische Vereinnahmung der Frauen ist die Erziehungslehre Rousseaus: Während er für den Jungen – Émile – die Erziehung zur Mündigkeit und Selbstbestimmung fordert, soll die Erziehung des Mädchens – Sophie – ganz darauf ausgerichtet sein, dem Mann zu dienen:19 „Von der Gesundheit der Frauen hängt die der Kinder ab; von ihrer Sorgfalt hängt die erste Erziehung der Männer ab; von den Frauen hängen ihre Sitten und Leidenschaften, ihre Neigungen und Vergnügungen ab. Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen, das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen.“

Man muss den aufklärerischen Theorien zugute halten, dass sie die Frauen nicht aktiv aus dem sichtbaren Bereich in den toten Winkel transportiert haben. Sie reproduzierten lediglich das seinerzeit bestehende Geschlechterverhältnis, in dem die Frau in der öffentlichen Sphäre weitgehend unsichtbar war und versahen es mit neuen Begründungen. Diese Verfahrensweise betraf auch andere Bevölkerungsgruppen. So schließt Kant in der „Metaphysik der Sitten“ alle Personen von den staatsbürgerlichen Rechten aus, die nicht ökonomisch selbständig sind, also neben den Frauen auch alle abhängig Beschäftigten, mithin die überwiegende Mehrheit der

17 18 19

Hobbes (Fn. 16), Kap. 9 § 6, S. 168; s auch die gleichlautende Argumentation bei dems., Leviathan, hg. v. Iring Fetscher, 1966, 156 Locke (Fn. 1), § 82 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung [1762], 13. Aufl. 1998, 392 ff., hier: 394

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damaligen Bevölkerung.20 Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung wurde zunächst nicht auf Sklaven angewandt, obwohl auch sie so formuliert war, als beträfe sie alle Menschen.21 Trotz dieser historisch bedingten Umstände bleibt es eine schwer verständliche Inkonsequenz, wenn eine Theorie Freiheit und Gleichheit für „alle“ Menschen fordert und im selben Atemzug große Teile der Bevölkerung von diesem Postulat ausschließt. 4

DIE

FEMINISTISCHE

KRITIK

AM

LIBERALISMUS

Die Kritik, dass der Liberalismus seine eigenen Grundannahmen verleugne, wenn es um Frauen geht, wurde schon ab dem 18. Jahrhundert erhoben und setzt sich bis in die heutige Zeit fort. Sie richtet sich heute nicht nur gegen die Philosophie der Aufklärung, sondern auch gegen moderne liberale Theorien wie die von Rawls, Dworkin und Nozick.22 Insbesondere die Care-Ethik und der Kommunitarismus halten den liberalen Grundansatz für grundlegend verfehlt, da er breite Bevölkerungsgruppen und wichtige menschliche Handlungsfelder ausblende. Es wäre jedoch verfehlt, die antiliberale und die feministische Kritik gleichzusetzen. Der liberale Feminismus hat eine lange Tradition, für die in der Zeit der Aufklärung beispielsweise Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges stehen und die sich über John Stuart Mill und Helen Taylor, Hedwig Dohm und Simone de Beauvoir bis zu den heutigen Theorien etwa von Martha Nussbaum fortsetzt.23 In den folgenden Abschnitten werden die antiliberalen wie die „innerliberalen“ Einwände gegen die klassischen Zuschnitte liberaler Theorien erörtert. Es wird sich zeigen, dass die liberalen Grundannahmen nicht nur nicht aufgegeben werden müssen, um traditionell weibliche Lebensbedingungen und -pläne zu berücksichtigen, sondern dass der Liberalismus auf die Anfechtungen selbst die besseren Antworten zu geben weiß als die Gegenmodelle einer partikularistischen, kommunitaristischen oder Care-Ethik. 4.1 RATIONALITÄT ALS AUSDRUCK SOZIALER KÄLTE Vertreterinnen der Care-Ethik haben autonomiebasierten liberalen Theorien vor allem in den 1980er und 1990er Jahren vorgeworfen, dass in ihnen Rationalität mit Prinzipiengeleitetheit gleichgesetzt werde. Rationalität bedeutet nach dieser Lesart die Entscheidung anhand von allgemeinen Grundsätzen, z. B. allgemeinen Gerech-

20 21 22 23

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 6, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1914, § 46 S. Nancy Fraser / Linda Gordon, A Genealogy of Dependency: Tracing a Keyword of the U.S. Welfare State, Signs 19 (1994), 317 f. Vgl. Susan Moller Okin, Justice, Gender, and the Familiy, 1989; Carol Pateman, The Sexual Contract, 1988 Vgl. De Gouges (Fn. 6); Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Women, 1792; John Stuart Mill / Helen Taylor, The Subjection of Women, 1869; Hedwig Dohm, Der Frauen Natur und Recht, 1876; Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau [1949], 1997; Nussbaum (Fn. 3)

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tigkeitsvorstellungen. Diese Prinzipiengeleitetheit wird als „kalt“ verurteilt, da Prinzipien stets ohne Rücksicht auf konkrete Lebensverhältnisse angewendet würden.24 Diese Argumentation ist der Ausgangspunkt der Care-Ethik, die in ihren unterschiedlichen Varianten an die Stelle des unabhängigen, von Eigeninteressen geleiteten Individuums die Dynamik sozialer Beziehungen setzt und eine Ethik des Altruismus und der gegenseitigen Fürsorge entwirft.25 Ursprünglich verknüpfte sie das Konzept des „Care“ mit „Weiblichkeit“ bzw. weiblichen Lebenserfahrungen und Lebensentwürfen. Gilligan unterscheidet beispielsweise eine „Ethik der Verantwortung“ und eine „Ethik der Rechte“, wobei sie einräumt, dass der reife Mensch beiderlei Geschlechts beide Vorstellungen verinnerlicht haben sollte.26 Noch weitergehend wird in einigen essentialistischen Ansätzen der Care-Ethik die Mutter-Kind-Beziehung als paradigmatisch für die Gestaltung sozialer Verhältnisse gepriesen: An die Stelle des reflektierten, immer schon durch den Verstand gefilterten Miteinanders rationaler Individuen soll die von unmittelbaren Emotionen getragene, fürsorgliche Mutter-Kind-Beziehung als Leitbild treten.27 Diese Varianten der Care-Ethik müssen sich im Gegenzug allerdings fragen lassen, ob ein selbstverantwortliches Handeln ohne rationale Überlegung tatsächlich möglich ist. Sicherlich sind abstrakte Prinzipien nicht in jedem Fall, möglicherweise sogar in der überwiegenden Zahl der Fälle, nicht der ausschlaggebende Grund für eine menschliche Handlung. Häufig handeln Menschen aus dem Gefühl heraus, ohne lange darüber nachzudenken, auf welchen abstrakten Prinzipien ihre Entscheidung für diese Handlung beruht. Rational kann man solche Entscheidungen dennoch nennen, wenn es zwischen dem Motiv für das Handeln und den gewählten Mitteln einen hinreichend plausiblen Zusammenhang gibt bzw. wenn das betroffene Individuum grundsätzlich fähig ist, sein Handeln – und sei es im Nachhinein – mit nachvollziehbaren Gründen zu versehen.28 Das bedeutet, dass auch in einem engen, persönlichen, von Liebe geprägten Verhältnis dem Handeln in aller Regel ein Minimum an Reflexion vorangeht. Auch eine liebende Mutter füttert ihr Kind nicht allein aus einem Gefühl heraus, sondern auf der Grundlage der (möglicherweise intuitiven, möglicherweise auf Erfahrung oder Buchwissen beruhenden) Erkenntnis, dass ein bestimmtes Verhalten des Kindes – Unruhe, Weinen – zu bestimmten Tageszeiten auf Hunger hindeutet.29 Auf die Annahme, dass die sozialen Handlungen der Individuen im Regelfall auf einem Minimum an Rationalität beruhen, kann aus diesen Gründen in einer ethischen Theorie nicht verzichtet werden. Dieses Minimum ist vom Geschlecht des 24 25 26 27

Nel Noddings, Caring. A Feminine Approach to Ethics, 1984, 5 Vgl. Nel Noddings, Feminist Fears in Ethics. Journal of Social Philosophy 21 (1990), 31 Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, 1984, 200, 204 Noddings (Fn. 24), 137; Virginia Held, Feminist Morality. Transforming Society, Culture, and Politics, 1993, 195 ff., 213 ff.; vgl. dazu Lois McNay, Die Ethik des Selbst, in: Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, hg. von Helga Nagl-Docekal und Herlinde Pauer-Studer, 1996, 363 28 Vgl. Pauer-Studer (Fn. 11), 12 f.: „Die Autonomie einer Person […] beinhaltet eine reflektierte Haltung zu ihren Zielen. Autonom zu sein bedeutet, aus einer Menge von Optionen jene zu wählen, für die aus der Sicht des eigenen Lebensplans gute Gründe sprechen.“ Siehe auch Elif Özmen, Moral, Rationalität und gelungenes Leben, 2005, 187: „Die Leistung der Vernunft besteht darin, vor dem Hintergrund der Pluralität von guten Gründen, den der größere Kontext bietet, die für den konkreten Handlungsfall richtigen Gründe reflexiv zu gewinnen.“ 29 Nussbaum (Fn. 3), 60 („Gefühle setzen Formen des Sehens voraus.“)

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Individuums unabhängig. Die Pole „männlich – rational – kalt“ und „weiblich – fürsorglich – warm“ halten sich zwar trotz aller postmodernen Bemühungen hartnäckig in der Alltagsmoral wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion. Empirisch lässt sich eine derartige Verteilung von rationaler und fürsorglicher Moral auf die Geschlechter jedoch nicht belegen.30 Die feministische Kritik am vermeintlich männlichen Rationalismus kann in ihrer essentialistischen Variante schon deswegen nicht überzeugen. Sie beruht im schlechtesten Fall auf den Klischees, mit denen Frauen in der Alltagsmoral belegt werden, im besten Fall stattet sie den Status Quo – also die Einsicht, dass Frauen nach wie vor den größten Teil der Sorgearbeit in unserer Gesellschaft leisten und aus dieser Erfahrung heraus möglicherweise den sozialen Bindungen zwischen Menschen einen größeren Stellenwert einräumen – mit normativer Kraft aus. 4.2 UNABHÄNGIGKEIT ALS AUSDRUCK DES EGOISMUS Wenn man die Mutter-Kind-Beziehung als paradigmatisch für das soziale Miteinander bezeichnet, so liegt darin nicht nur die Verneinung eines rationalen Miteinanders, sondern auch eine fragwürdige Idealisierung des Mütterlichen. Die MutterKind-Beziehung wird zu einer herrschafts- und reflexionsfreien, unmittelbaren emotionalen Bindung hochstilisiert, wie sie in der Realität kaum aufzufinden sein dürfte. Nussbaum verweist demgegenüber auf ihre eigene „liberale Muttererfahrung des streitbaren Gebens und Nehmens“31 und verneint damit zu Recht die Annahme, Mutter und Kind seien nicht wie alle anderen Menschen auch durch ihre Individualität voneinander getrennt und damit potentiell im Konflikt. Wenn aber die Individuen potentiell im Konflikt stehen und wenn sie den Anspruch haben, mit ihren Interessen gleichberechtigt berücksichtigt zu werden, dann ist es wenig sinnvoll, ausgerechnet eine paternalistische (bzw. in diesem Fall maternalistische) Beziehung zum Prototyp für eine Gesellschaft erwachsener Menschen zu erheben. In die Mutter-Kind-Beziehung ist eine existenzielle Abhängigkeit notwendig eingeschrieben, die nicht nur ein fürsorgliches „Kümmern“ der Mutter auslöst, sondern ihr auch Herrschaft über ihr Kind verleiht. Unter erwachsenen, autonomiefähigen Menschen wäre eine derartige Abhängigkeitsbeziehung zumindest rechtfertigungsbedürftig. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die Beziehung erwachsener, autonomiefähiger Menschen als Beziehung zwischen Freien und Gleichen versteht, das heißt als ein Verhältnis, in das nicht von Vornherein eine soziale Hierarchie oder ein Diktat des Kümmerns eingeschrieben ist und in dem es für paternalistische Handlungen gute Gründe geben muss. Wie wertvoll aber ist ein solches autonomes Leben wirklich, in dem das Individuum die wichtigen Fragen, die es betreffen, selbst entscheidet und notfalls auch gegen die Interessen anderer durchsetzt? Wäre eine stärkere Verbundenheit der Menschen nicht wünschenswert und obendrein lebensnäher? Autonomiebasierten 30

31

Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Der Mythos von den zwei Moralen, in: Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau. Zur Ethik der Geschlechterdifferenz, hg. von Helga Kuhlmann, 1995, 49–68; McNay (Fn. 27), 364 Nussbaum (Fn. 3), 60 Anm. 86

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Theorien wird häufig vorgeworfen, sie nähmen das Individuum nur als isolierten Einzelgänger wahr und könnten die reale soziale Eingebundenheit des Menschen nicht abbilden. Das liberale Individuum erscheint demnach als räumlich und kulturell ungebundene, kinderlose (oder von der Kinderbetreuung entlastete) Person, die frei entscheiden kann, welcher Gruppe sie sich anschließt und mit welchen Werten sie sich identifiziert und die ihre Entscheidungen jederzeit revidieren kann. In der Realität, so der Einwand, gibt es dieses isolierte Individuum nicht. Jeder Mensch ist in vielfältiger Weise mit seinen Mitmenschen verbunden, in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, etc., er ist kulturell und räumlich gebunden, von anderen Menschen abhängig oder für andere verantwortlich, er hat mit zunehmenden Alter immer mehr Lebensentscheidungen getroffen, die nicht rückgängig zu machen sind.32 Der Grund dafür, dass das liberale Individuum derart ursprünglich unverbunden gedacht wird, ist allerdings zunächst einmal im Zuschnitt gesellschaftsvertraglicher Theorien angelegt. Die Grundsätze für eine gerechte Gesellschaft sollen in ihnen so entworfen werden, dass sie für alle gleichermaßen akzeptabel erscheinen, unabhängig davon, welches Geschlecht die Einzelnen haben, unter welchen sozialen Bedingungen sie leben und welche Fähigkeiten, Talente und Vermögen sie mitbringen. In diesem Sinne ist das liberale Individuum eine Fiktion, ein Denkmodell, mit dem eine Gleichberücksichtigung unterschiedlicher Lebensbedingungen und Lebenspläne überhaupt erst möglich gemacht werden soll.33 Das moderne Paradigma für diese Vorstellung ist der Rawlssche „Schleier des Nichtwissens“.34 Kann aber eine Theorie überzeugen, die einen ganz anderen Menschen zum Ausgangspunkt nimmt als den, der tatsächlich existiert? Der Einwand, dass dies nicht so sei, kann in einer starken, essentialistischen Version (4.2.1), und in einer schwachen Variante (4.2.2) auftreten, wobei letztere eher die Umsetzung des Prinzips in Frage stellt als das Prinzip selbst.

4.2.1 Die soziale Eingebundenheit des Menschen als ursprüngliches Faktum Der Mensch kann, so die starke Version des Einwands, gar nicht ohne Bezugnahme auf andere leben und darum kann auch nicht das isolierte Individuum der letzte Bezugspunkt der Ethik und politischen Philosophie sein.35 Ausgangspunkt der Ethik müssten vielmehr die konkreten menschlichen Beziehungen sein. In dieser Weise betonen z. B. auch kommunitaristische Ethiken den ursprünglichen Wert sozialer Gemeinschaften und gemeinschaftsbezogener Werte.36 Feministische Ansätze der Care-Ethik verbinden diese Grundannahme häufig mit dem Geschlechterverhältnis: Der liberale Ansatz mit seinem abstrakten Individuum wird als „männ32 33

34 35 36

Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, 1994, 29 John Rawls, Political Liberalism, 1998, 91; Joel Anderson / Axel Honneth, Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism. New Essays, hg. v. John Christman und Joel Anderson, 2005, 139 Vgl. Rawls (Fn. 2), 159 ff. und ders. (Fn. 33), 89 ff. Vgl. z. B. Alison Jaggar, Feminist Politics and Human Nature, 1983, 43: „[…] the notion of a presocial human being with any determinate kind of nature is conceptually incoherent.“ Vgl. Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 1982; Walzer (Fn. 32)

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lich“ und „egoistisch“ dargestellt. Dem wird eine „weibliche“, gemeinschaftsbezogene und altruistische Vision von Gesellschaft gegenüber gestellt.37 Wenn das gute oder richtige Handeln nicht abstrakt, sondern stets nur bezogen auf ein konkretes Beziehungsgeflecht oder eine konkrete Lebenssituation bewertet werden kann, so führt dies zu einem moralischen Partikularismus, da es keine verallgemeinerbaren Maßstäbe für gutes oder schlechtes Handeln mehr gibt, sondern die Kriterien für eine Rechtfertigung sich nur jeweils aus der konkreten Situation ergeben können.38 Von moralischen Partikularisten wie Johnathan Dancy wird diese Variante der feministischen Ethik denn auch positiver aufgenommen als von Vertreterinnen und Vertretern universalistischer liberaler Ansätze.39 Wird die Verflochtenheit der Einzelnen mit den anderen in der Gemeinschaft darüber hinaus als ursprünglicher bzw. grundlegender als die individuelle Freiheit dargestellt, so führen Kommunitarismus und die entsprechende Richtung der feministischen Ethik letzten Endes in einen kollektivistischen Gesellschaftsentwurf, in dem die Einzelnen sich überhaupt nur aus der Gemeinschaft heraus definieren können. Der Preis für eine solche Gemeinschaftlichkeit ist hoch: Man gibt die Vorstellung einer moralischen Personalität der Einzelnen auf und damit auch den Anspruch des Individuums, in der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt zu werden.40 Es ist erstaunlich, wenn ausgerechnet feministische Theorien auf diesen individualistischen Ausgangspunkt verzichten. Denn das Problem der Frauen im Recht und in der Gesellschaft war zu vielen Zeiten gerade, dass sie nicht als Zweck an sich und als ethisch und rechtlich gleichberechtigt angesehen wurden. Eine partikularistische Ethik droht diese unterschiedlichen Maßstäbe für die Geschlechter aufrecht zu erhalten und die Rollenbilder, die überwunden werden sollen, gerade zu zementieren. Das Individuum nicht unabhängig von seinen sozialen Beziehungen zu denken, kann zudem eine freie Entfaltung der Einzelnen massiv hindern. Erst die Annahme personaler Autonomie und die universale Anerkennung des Anspruchs, der daraus an die anderen und die Gemeinschaft erwächst, gibt den Individuen die Chance, sich aus manipulativen oder repressiven sozialen Beziehungen zu lösen und sich von stereotypen Rollenerwartungen unabhängig zu machen.41 In diesem Sinne haben liberale Theorien nach wie vor ein emanzipatorisches Potential, auch, aber nicht nur für Frauen. Betrachtet man die internationale Situation, etwa die Diskussion um „asiatische“ oder „islamische“ Menschenrechte, so erhält der Verzicht auf den liberalen Ausgangspunkt erst recht den Charakter eines Luxusproblems. 37 38 39

40 41

Jaggar (Fn. 30), 40 Walzer (Fn. 32), 30 Dancy geht davon aus, dass „Justice“ und „Care“ nur in einer partikularistischen Ethik verbunden werden können, vgl. Johnathan Dancy, Caring about Justice, Philosophy 67 (1992), 466: „A particularist perspective captures the claims both of care and of justice without essential tension. It is a feminist ethic, and it is the only ethic. In this sense, there is no room for a non-feminist ethic at all.“ Ähnlich Kenneth A. Strike, Justice, Caring, and Universality: In Defense of Moral Pluralism, In: Justice and Caring. In Search for Common Ground in Education, hg. v. Michael S. Katz, Nel Noddings und Kenneth A. Strike, 2003, 29, 32 und passim Nussbaum (Fn. 3), 50; McNay (Fn. 27), 373 Vgl. Rössler (Fn. 9), 350

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Hinzu kommt, dass ein normativ-individualistischer Ansatz soziale Beziehungen nicht unmöglich macht. Viele umfassende liberale Gesellschaftsentwürfe wie die von Kant,42 Mill,43 Rawls44, Feinberg45 oder Nussbaum46 gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass das Individuum auch altruistische Fähigkeiten und Interessen sowie gehaltvolle soziale Pflichten hat, allen voran die Pflicht, die Freiheit des anderen und seinen Lebensplan zu respektieren.47 Menschen können ein genuines Interesse am Wohl anderer Menschen haben, und es kann ihnen wichtig sein, in einer Gesellschaft zu leben, in der es für alle Menschen leidlich gerecht zugeht. Die Aufgabe ist daher, eine Theorie zu entwerfen, die gemeinschaftliche Projekte der Menschen mit einem individualistischen Ausgangspunkt verknüpft. Die radikalen Varianten einer Care-Ethik bieten hierfür keine Lösung, denn ihnen fehlt ein Konzept gegenseitigen Respekts, der auf der Anerkennung als Freie und Gleiche beruht.48 Darüber hinaus kann eine radikale Care-Ethik keine Kriterien dafür entwickeln, wie „Care“ in der Gesellschaft verteilt wird, wenn man davon ausgeht, dass sie Zeit und Geld kostet und daher nicht unbegrenzt vorhanden ist.49 Schließlich bleibt der Anwendungsbereich der Care-Ethik auf enge persönliche Beziehungen begrenzt. Wie der klassische liberale Ansatz das Private aus seiner Theorie ausklammert und gleichzeitig stillschweigend voraussetzt (dazu noch unten unter 4.2.2), schweigt sich die radikale Care-Ethik über das Miteinander in der größeren, anonymeren Gemeinschaft, mithin im politischen Raum aus. Konsequent weitergedacht, kann eine radikale Care-Ethik eine moralische Verantwortung der Menschen nur für den engen Kreis der persönlichen Beziehungen postulieren, in denen soziale Beziehungen konkret werden.50 Liberale Gerechtigkeitstheorien hingegen bieten durchaus Möglichkeiten, die Belange unbekannter und weit entfernt lebender Individuen zu berücksichtigen51; dies kann aber nur gelingen, wenn man ethischen 42

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48 49 50

51

Kant (Fn. 20), 388 (A 17, 18): „Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt, worauf, als meinem Zweck, hinzuwirken es Pflicht sein soll, so muß es auch die Glückseligkeit anderer Menschen sein, deren (erlaubten) Zweck ich hiemit auch zu dem meinigen mache. Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen […].“ S. auch seine Begründung einer Pflicht zur Wohltätigkeit in der Grundlegung (Fn. 2), 398 Mill (Fn. 1), 77 ff. Rawls (Fn. 2), 633 f. Feinberg (Fn. 8), 45: „The ideal of the autonomous person is that of an authentic individual whose self-determination is as complete as is consistent with the requirement that he is, of course, a member of the community.“ Nussbaum (Fn. 3), 25 Vgl. Locke (Fn. 1), § 6: „Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht freiwillig zu räumen, so sollte er aus dem gleichen Grund, wenn es seine eigene Selbsterhaltung nicht gefährdet, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten.“; Rawls (Fn. 2), 172: „Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze und die Grundsätze der Verpflichtungen und natürlichen Pflichten verlangen eindeutig von uns, die Rechte und Ansprüche anderer zu beachten.“ Siehe dazu auch Nussbaum (Fn. 3), 29 und von der Pfordten (Fn. 1), 210 ff. Siehe den Einwand bei Dancy (Fn. 39), 464 Vgl. zum Versuch, solche (dann wieder abstrakten) Prinzipien zu entwickeln Diemut Bubeck, Care, Gender, and Justice, 1995 Vgl. Noddings (Fn. 24), 86: „I am not obliged to care for the starving children in Africa, because there is no way for this caring to be completed in the other unless I abandon the caring to which I am obliged.“ Vgl. zum Völkerrecht John Rawls, Das Recht der Völker, 1992 und zur Generationengerechtigkeit

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Maßstäben über den konkreten sozialen Kontext hinaus eine abstrakte normative Kraft zuerkennt.

4.2.2 Mangelnde Berücksichtigung von Sorgepflichten und familiären Bindungen Das schwächere, im Ergebnis aber überzeugendere Argument geht dahin, dass der Liberalismus die Gerechtigkeit in familiären Beziehungen vernachlässige, insbesondere die Sorge für Kinder und erwachsene Angehörige.52 Dass jeder Mensch einmal ein pflegebedürftiges Kind war und auch später im Leben in vielen Situation der Fürsorge bedarf, wird in liberalen Theorien tatsächlich oft ignoriert. Ihren historischen Grund hat diese Leerstelle darin, dass die Familie traditionell nicht nur als ein Teil der Privatsphäre betrachtet wurde, sondern als eine natürliche Gemeinschaft, die einer politischen Gesellschaftstheorie als quasi urwüchsig und von der politischen Struktur unabhängig vorgelagert sei.53 Diese Konstruktion der Familie als unpolitischer Institution hat zwei gravierende Nachteile: (1) Mit der Ausklammerung der Familie und der Reduzierung des Begriffs der „Gesellschaft“ auf den öffentlichen Raum wurde gleichzeitig der gesamte Bereich der Sorgearbeit – oder „Care“ – aus der politischen Theorie ausgeklammert. In diesem Sinne ist der unabhängige Mensch, der den politischen Raum gestaltet, eine Fiktion, die auf einem reduzierten Menschenbild beruht: Auch der traditionell männliche Gutsherr, Unternehmer oder Vollzeitarbeitnehmer, dessen Leben weitgehend in der öffentlichen Sphäre stattfindet, braucht natürlich Menschen, die ihn von Haushalts-, Pflege- und Erziehungstätigkeiten entlasten und diese Menschen können aus einer politischen Theorie nicht einfach ausgeklammert werden.54 Dies ist nicht zuletzt deswegen ein Problem, weil die Aufgaben, die in der Familie übernommen werden, auf die Ausgestaltung des politischen Raums zurückwirken: Der Mensch kann dem Arbeitsmarkt nur so viel Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wie er nicht für Sorgearbeit im privaten Bereich aufwenden muss und er kann in einem marktwirtschaftlichen System nur dann unabhängig agieren, wenn er in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Indem die Sorgearbeit stillschweigend als „in der Familie natürlicherweise vorhanden“ vorausgesetzt wird, wird weder die ökonomische Abhängigkeit, in der sich sorgende Menschen finden, thematisiert, noch werden Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Sorgearbeit entwickelt. Nicht ohne Grund sind Fragen der sozialen Unterstützung für Kinder, Pflegebedürftige und allgemein für die Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, in den westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren zu einem der beherrschenden Themen der politischen Diskussion geworden: In dem Augenblick, da diese Aufgaben nicht mehr selbstverständlich in der Familie wahrgenommen werden, wirken sie in den öffentlichen Raum

52 53 54

ders. (Fn. 33), 87, 352, 384 Nussbaum (Fn. 3), 10, 12 Vgl. z. B. Rousseau (Fn. 1), 11 Vgl. Moller Okin (Fn. 22), 13: „To a large extent, contemporary theories of justice, like those of the past, are about men with wives at home.“ Siehe auch Julie A. White / Joan Tronto, Political Practices of Care: Needs and Rights, Ratio Juris 17 (2004), 426, 440 f. („privileged irresponsibility“); Fraser und Gordon (Fn. 21), 319

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hinein und werden zu einem Problem der Verteilung öffentlicher Ressourcen und der Organisation des Arbeitsmarkts.55 Die Frage nach dem Stellenwert von „Care“ setzt darum kein radikal neues Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen, der Bedeutung von Gefühlen in der Philosophie oder essentialistische Erwägungen über das Geschlechterverhältnis voraus, sondern eine nüchterne Reflexion über Ressourcen und ihre Verteilung. (2) Der private Lebensbereich, in dem Sorgearbeit vor allem von Frauen, aber auch von Hausangestellten beiderlei Geschlechts geleistet wurde, war in dem traditionellen Modell ein Ort, der vor allem für Männer Erholung bereit hielt. Für Frauen war er nicht nur, aber zu einem erheblichen Teil ihr Arbeitsplatz und ein Ort, den sie häufig nicht verlassen konnten, ohne sich außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen zu stellen. Familie hat aus dieser Perspektive etwas Janusköpfiges: Sie ist ein Lebensbereich, in dem Menschen enge persönliche Beziehungen leben und nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten können; vor allem für Kinder ist sie als geschützter Raum für ihre Entwicklung unverzichtbar. Familie muss also anders behandelt werden als die öffentlichen gesellschaftlichen Institutionen; insbesondere kann sie nicht in derselben Weise durchreguliert werden wie beispielsweise eine Schule oder Universität. In diesem Sinne ist die Familie Teil einer privaten Sphäre, in der die Mitglieder ihre sozialen Beziehungen primär nach eigenen Maßstäben ausgestalten und es ist daher berechtigt, staatliche Einflüsse auf die Form und Ausgestaltung der Familie möglichst weit zurückzudrängen. Dieser Respekt vor der Privatsphäre der Individuen ist ein integraler Teil liberaler Gesellschaftstheorien, an dem nicht gerüttelt werden sollte. Enge persönliche Bindungen sind aber nicht immer friedlich und schon gar nicht herrschaftsfrei. Familie kann darum auch ein Hort von Ungleichheit, Diskriminierung, Gewalt und Chancenlosigkeit sein, der die Entwicklung von Autonomie und die Selbstbestimmung ihrer Mitglieder gerade verhindert.56 Wird diese fragile Struktur der familiären Beziehungen aus dem Bereich der Ethik und politischen Philosophie ausgeklammert, so kann es im Extremfall passieren, dass die betroffenen Individuen auch von ihren öffentlichen Grundrechten abgeschnitten werden. Eine umfassende liberale Theorie muss auch aus diesem Grund die Struktur der Familie als Teil der politischen Gemeinschaft betrachten und dafür sorgen, dass Freiheit und Autonomie der Familienmitglieder jedenfalls gegen Übergriffe auf die körperliche und seelische Integrität verteidigt werden. Nimmt man den Anspruch der Einzelnen, ihr Leben selbst zu gestalten, auch für den Bereich der Familie ernst, so enthält er auch die Möglichkeit, sich von bedrückenden Familienverhältnissen zu emanzipieren. In diesem Sinne ist beispielsweise die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kein Mittel, um Menschen in eine Abhängigkeit 55

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Siehe hierzu für einen Überblick Maria Wersig, Der unsichtbare Mehrwert: Unbezahlte Arbeit und ihr Lohn, in: Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, hg. v. Lena Foljanty und Ulrike Lembke, 2006, 122–142 Vgl. Marilyn Friedman, Autonomy and Male Dominance, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism. New Essays, hg. v. John Christman und Joel Anderson, 2005, 151 f. Friedman konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf die Auswirkungen männlicher Dominanz in Familien, es sollte aber nicht übersehen werden, dass autonomieverhindernde Strukturen vielfältig sind und gerade gegenüber Kindern durchaus von Angehörigen beider Geschlechter aufrecht erhalten werden können.

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vom Staat zu bringen, sondern gewährt primär die Chance, sich aus privaten Abhängigkeiten zu lösen. Diese Wechselwirkungen zwischen der politischen Struktur einer Gemeinschaft und der Struktur der Familie werden in vielen liberale Theorien bis heute ignoriert. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung bei Rawls, der die privaten Lebensgemeinschaften in der „Theorie der Gerechtigkeit“ noch kaum thematisiert, in seinen späteren Schriften jedoch betont, dass die öffentlichen Grundfreiheiten auch Auswirkungen auf die Struktur der Familie haben müssen.57 4.3 KONTEXTABHÄNGIGKEIT DER INDIVIDUELLEN BELANGE Während der zuletzt erörterte Einwand die gesellschaftliche Reichweite des Autonomiepostulats thematisierte, beschäftigt sich ein weiteres Argument mit den realen Möglichkeiten, autonom zu leben: Liberale Theorien beschäftigen sich demnach zu wenig mit den Bedingungen, unter denen die Menschen ihre Interessen entwickeln und artikulieren. Schon de Beauvoir weist darauf hin, dass Frauen in einer männlich geprägten Gesellschaft ihre Identität unter ganz anderen Bedingungen ausbilden als Männer: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“58 Nach de Beauvoir ist die Geschlechterhierarchie ein soziales und psychologisches Konstrukt, mit dessen Hilfe der Mann sein „Ich“ von dem „Anderen“ der Frau abgrenzt. In der neueren Literatur sind es vor allem postmoderne Theorien, die die Kontextabhängigkeit des Individuums in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen; anders als noch de Beauvoir stellen sie die Existenz zweier klar abgrenzbarer Geschlechter als einer verlässlichen Kategorisierung der Menschheit gleich ganz in Frage. Jedes Individuum erscheint bei ihnen zudem als unauflösbar verflochten mit den Gegebenheiten, von denen es umgeben ist.59 Die alltägliche Vorstellung, dass die Einzelnen klar benennbare Belange haben, die sie ihrer Umwelt als „eigene“ entgegensetzen, wird in diesen Theorien recht weitgehend aufgelöst. Im deutlichen Gegensatz dazu stehen libertäre Theorien, die eine Abhängigkeit der Menschen von den politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen fast vollständig leugnen bzw. die Gestaltung dieser Umstände in hohem Maße in die Verantwortung der als frei und gleich verstandenen Individuen legen.60 Libertäre Theorien sind von einem ausgeprägten Optimismus durchzogen, wenn es um 57

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Vgl. John Rawls, The Idea of Public Reason Revisited, The Chicago Law Review 64 (1997), 789: „[…] political principles do not apply directly to its internal life, but they do impose essential constraints on the family as an institution and so guarantee the basic rights and liberties, and the freedom and opportunities of all its members. This they do […] by specifying the basic rights of equal citizens who are the members of families. The family as part of the basic structure cannot violate these freedoms.“ De Beauvoir (Fn. 23), 334 S. z. B. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 1976, 37; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, 200 f. und passim; dazu Rössler (Fn. 9) und Seyla Benhabib, Situating the Self. Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics, 1992 Vgl. f. A. v. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, 1981, 61: „Was Regeln des gerechten Verhaltens wirklich tun, ist, zu sagen, unter welchen Bedingungen diese oder jene Handlung im Bereich des Zulässigen liegt; aber sie überlassen es den Individuen, die diesen

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die Verteilung von Gütern, Chancen und Rechten in marktwirtschaftlichen Prozessen geht. Im Namen der (negativen)61 Freiheit nehmen sie dabei erhebliche Ungleichheiten unter den Menschen in Kauf. Für den Fall, dass eine marktförmige Lösung bestimmten Individuen oder Bevölkerungsgruppen keine ausreichenden Güter zu ihrem Überleben sichert, haben sie in der Regel keine Lösung.62 Mit der Situation von nicht oder eingeschränkt autonomen Menschen oder auch nur mit dem nicht unwahrscheinlichen Fall, dass ein Individuum nicht gleichberechtigt am Marktgeschehen teilnehmen kann, weil es beispielsweise einen Angehörigen pflegen muss, befassen sich diese Theorien ebenfalls nicht. Eine Verantwortung der politischen Gemeinschaft für gerechte Hintergrundbedingungen des Marktgeschehens oder für das Ergebnis der Verteilung lehnen sie ab, weil dies die Freiheit der Individuen einschränkt und daher seinerseits ungerecht wäre.63 Ihre rein auf das Verteilungsverfahren und nicht auf das Ergebnis blickende Version der Gerechtigkeit kann nur dann attraktiv erscheinen, wenn man die Lebensweisen, in denen Menschen nicht gleichberechtigt auf dem Markt konkurrieren können, ausblendet oder als Teil einer persönlichen Wahl auffasst. Libertäre Theorien sind jedoch nur eine Spielart des Liberalismus und sie sind nicht dessen Reinform, sondern eine reduktionistische Radikalisierung. Auch eine liberale Philosophin wie Nussbaum erkennt die Kontextabhängigkeit der individuellen Belange an: „Gefühle, Wünsche und sogar Lustempfindungen sind allesamt von Werturteilen geprägt, und diese Werturteile sind höchstwahrscheinlich in der Gesellschaft gelernt und von den Richtigkeitsnormen dieser Gesellschaft geformt worden.“64 Diese Erkenntnis macht es notwendig, darüber nachzudenken, unter welchen materiellen Bedingungen ein selbstbestimmtes Leben – bzw., wenn man nicht selbstbestimmte Personen einbezieht, ein „gutes“ Leben – für alle Mitglieder der Gesellschaft gesichert werden kann. Auch diese Debatte steht in einem Zusammenhang mit dem Begriff der Autonomie. 5

EINE ERWEITERUNG

DES

AUTONOMIEBEGRIFFS: AUTONOMIE

ALS

MÖGLICHKEIT

Geht man über die enge Fragestellung hinaus, wann ein Individuum für sich selbst entscheiden kann, so kommt man in einen Grenzbereich zwischen „Autonomie“ und „Freiheit“: Ein Individuum, das grundsätzlich die oben genannten Bedingungen der basalen Autonomie erfüllt, kann immer noch in ganz unterschiedlicher Weise frei oder unfrei sein, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Die Bandbreite seiner realen Möglichkeiten hängt beispielsweise von seinem Bildungsgrad,

61 62 63

64

Regeln unterliegen, sich ihren eigenen geschützten Bereich zu schaffen.“ S. auch Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 1974 Vgl. Hayek (Fn. 60), 59 Vgl. die Einwände bei Feinberg (Fn. 8), 45 und Moller Okin (Fn. 22), 74 ff., insb. 88 Hayek (Fn. 60), 95: „Natürlich muss zugegeben werden, daß die Art und Weise, in der die Wohltaten und Lasten durch den Marktmechanismus verteilt werden, in vielen Fällen als sehr ungerecht angesehen werden müßte, wenn sie das Resultat einer absichtlichen Zuteilung an bestimmte Leute wäre. Aber dies ist nicht der Fall.“ Ähnlich die Theorie des „Entitlement“ bei Nozick (Fn. 60), 232 und passim Nussbaum (Fn. 3), 11

Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau

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seiner sozialen Situation und den politischen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft, in der er lebt, ab, aber auch Zufälle, Glück und Schicksal haben ihren Einfluss. Theorien der politischen Philosophie, die der Autonomie des Individuums einen hohen Stellenwert einräumen, tun daher in der Regel dasselbe mit der Freiheit. Dabei wird häufig zwischen der negativen Freiheit – nicht am positiven Tun gehindert zu werden – und der positiven Freiheit – reale Wahlmöglichkeiten zu haben bzw. selbstbestimmt entscheiden zu können – unterschieden.65 Dass zum autonomen Leben ein Mindestmaß an (negativer und positiver) Freiheit notwendig ist, wird beispielsweise von Raz, Pauer-Studer, dem späten Rawls und Holzleithner betont. In ihrem Wortgebrauch stimmen diese Autorinnen und Autoren allerdings nicht überein. Pauer-Studer belegt die Begriffe der Autonomie und Freiheit mit unterschiedlichen Bedeutungen: Autonomie ist für sie nur das, was oben mit „Autonomie als Fähigkeit“ bezeichnet wurde. Hinzukommen muss bei ihr aber eine „soziale Freiheit“, unter der Pauer-Studer die Sicherung der materiellen Existenz und grundlegende Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten versteht.66 Autonomie und soziale Freiheit sind danach unterschiedliche Bedingungen, die gemeinsam vorhanden sein müssen, damit ein Individuum ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Ähnlich erscheint das Verhältnis von Autonomie und Freiheit bei Rawls, wenn er eine auf Freiheit und Gleichheit beruhende Gesellschaftsordnung als Hintergrundbedingung für Autonomie beschreibt.67 Dagegen verstehen Raz und Holzleithner die Freiheit, autonom zu handeln, als einen Teil der Autonomie selbst. Nach Raz ist autonomes Leben beispielsweise in ständischen Gesellschaften, in denen den Einzelnen ihre Rolle und Verhaltensregeln starr und unerbittlich vorgeschrieben sind, unmöglich.68 Holzleithner nennt als Beispiel für eine Beschränkung der autonomen Lebensgestaltung eine Gesellschaft, in der das Leben als Homosexuelle/r strafrechtlich verfolgt wird.69 Taylor geht umgekehrt davon aus, dass positive Freiheit Autonomie voraussetzt.70 Das Verhältnis von Freiheit und Autonomie erscheint deswegen so kompliziert, weil es einen Bereich gibt, in dem die Begriffe sich überschneiden. Dies betrifft all jene Situationen, in denen ein Individuum, das über die oben beschriebene basale „Autonomie als Fähigkeit“ verfügt, sich in einer Situation befindet, in der sie sich tatsächlich zwischen alternativen Optionen entscheiden kann, also beispielsweise Vanilleeis wählt und Schokoladeneis verschmäht. Dieser Bereich der äußeren Bedin65

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70

Zur Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. 3. Aufl. 1999, 118 ff. und Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, 1969, 122, 131. Anders aber Rawls (Fn. 2), 230: „Dieser oder jener Mensch […] ist frei […] von dieser oder jener Einschränkung […] und kann das und das tun (oder lassen).“ Pauer-Studer (Fn. 11), 123 und passim Rawls (Fn. 2), 30 Raz (Fn. 11), 395. Vgl. auch den Begriff der sozialen Autonomie bei Rainer Forst, Political Liberty: Integrating five conceptions of autonomy, in: Autonomy and the challenges to liberalism, hg. v. John Christman & Joel Anderson, 2005, 237 Elisabeth Holzleithner, Herausforderungen des Rechts in multikulturellen Gesellschaften. Zwischen individueller Autonomie und Gruppenrechten, in: Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, hg. v. Birgit Sauer und Sabine Strasser (Wien: Verein f. Geschichte und Soziales), 2008, 28–48, 29. Ich danke Dr. Elisabeth Holzleithner für ihre kritischen Nachfragen zu diesem Aspekt meines Autonomiebegriffs, die ich in diesem Abschnitt aufgreife. Taylor (Fn. 65), 121

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gungen für eine selbstbestimmte Entscheidung kann als Teil der Autonomie im Sinne notwendiger Bedingungen für ein autonomes Leben verstanden werden oder aber als Freiheit, die zur Autonomiefähigkeit hinzukommen muss. Ich bezeichne sie im Folgenden mit „Autonomie als Möglichkeit“, um deutlich zu machen, dass es um genau den Teil der (äußeren) Freiheit geht, der für die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens und damit für den Begriff der Autonomie relevant ist. Dieser erweiterte Begriff der Autonomie muss aber von dem oben unter (1) entfalteten basalen Autonomiebegriff scharf abgegrenzt werden. Denn dieser dient u. a. der Bestimmung des Bereichs, in dem ein Individuum sich gegen paternalistische Eingriffe wehren kann. Erweitert man den Autonomiebegriff um den Bereich der äußeren Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben, so droht diese Grenzbestimmung zu verwischen. Eine Frau, die beispielsweise gezwungen ist, zur Sicherung ihrer Existenz unter ausbeuterischen Bedingungen zu arbeiten, ist in einem erweiterten Sinne nicht autonom, weil sie keine Wahlmöglichkeiten hat. Selbstverständlich aber ist sie in autonom in einem basalen Sinne und dürfte darum nicht gezwungen werden, sich weiterzuqualifizieren oder in eine andere Stadt zu ziehen, wo die Arbeitsbedingungen besser sind.71 Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe liberaler Theorien, die sich mit der Frage nach äußeren Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben auseinandersetzen. So hat Rawls in seinen späteren Schriften die Herstellung notwendiger Mindestbedingungen für die Teilhabe als Bürgerin oder Bürger den beiden fundamentalen Gerechtigkeitsgrundsätzen lexikalisch vorgeordnet.72 Dies stellt eine bedeutende Revision seiner ursprünglichen Theorie dar, die der Erkenntnis geschuldet ist, dass bloß formale Freiheitsgewährleistungen keinen Wert haben, wenn die Individuen ihre Freiheit nicht ausüben können.73 Gesichert wird der faire Wert der Freiheit bei Rawls durch „Maßnahmen, die allen Bürgern unabhängig von ihrer sozialen Position angemessene allgemein dienliche Mittel garantieren, damit sie ihre Freiheiten und Chancen auf sinnvolle und wirksame Weise nutzen können.“74 Raz fordert für ein autonomes Leben neben der oben bereits angesprochenen inneren Unabhängigkeit eine angemessene Bandbreite an Lebensmöglichkeiten („Range of Options“);75 Nussbaum betont die Bedeutung grundlegender Fähigkeiten für die Entfaltung des autonomen Individuums;76 Holzleithner sieht die Aufgabe des Rechts darin, für die Herstellung der Bedingungen von Autonomie Sorge zu tragen.77 Hier ist nicht der Raum, um auf die diffizile Diskussion einzugehen, ob die Möglichkeit zur Autonomie primär durch Güter, Chancen, Rechte oder Fähigkeiten gesichert werden sollte. Wenn man überhaupt den Gedanken akzeptiert, dass ein selbstbestimmtes Leben neben den inneren auch äußere Voraussetzungen hat, dann lassen sich einige Kernforderungen an liberale Theorien von Recht und Staat herauskristallisieren, die 71

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Dieser Punkt wird auch von Friedman (Fn. 56), 164 f., betont, wobei diese darauf hinweist, dass die Grenze zwischen innerer Unabhängigkeit und positiver Freiheit im Einzelfall oft schwer zu ziehen ist, etwa wenn Menschen in traumatisierenden oder manipulativen Beziehungen leben. Rawls (Fn. 57), 765–807 und ders. (Fn. 33), 69 Siehe Rawls (Fn. 33), 46 Anm. 20 Rawls (Fn. 33), 47 Raz (Fn. 11), 372 Martha Nussbaum, Women and Human Development: The Capabilities Approach, 1998 Holzleithner (Fn. 69), 21

Im toten Winkel der Rechtsphilosophie? Der Liberalismus und die Autonomie der Frau

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sich sowohl auf Bedürfnisse als auch auf Fähigkeiten beziehen, weil beides grundsätzlich verschiedene und nicht gegeneinander aufrechenbare Belange von Individuen sind. Wie diese Bedürfnisse und Fähigkeiten dann gewährleistet werden können, ob das Individuum dafür z. B. bestimmte Güter benötigt oder ob eine Gleichheit der Chancen und Optionen ausreicht, ist eine andere Diskussion, die im Rahmen einer umfassenden Theorie des Sozialstaats geführt werden muss.78 Der Bedürfnisansatz befasst sich eher mit notwendigen Voraussetzungen, die ein Individuum zu seiner materiellen Erhaltung benötigt, also insbesondere mit den existenziellen Bedürfnissen nach Nahrung, Schlaf, Obdach und Kleidung, während der Fähigkeitenansatz den Schwerpunkt stärker auf die Entfaltung des Individuums legt, also auf die Bedingungen, die erforderlich sind, damit sich ein Individuum die notwendigen Dinge in einer bestimmten Gemeinschaft selbst verschaffen und darüber hinaus eigene Lebenspläne zu entwickeln kann. Hier geht es vor allem um grundlegende Bildungsvoraussetzungen sowie Wahl- und Teilhabemöglichkeiten. 6

AUSSCHLUSS

EINGESCHRÄNKT AUTONOMER

MENSCHEN

Die meisten gesellschaftsvertraglichen Theorien setzen stillschweigend voraus, dass am Gesellschaftsvertrag nur autonomiefähige Menschen mitwirken können. Ausdrücklich ausgeschlossen werden eingeschränkt autonomiefähige Individuen beispielsweise bei Rawls, der die Beteiligung am Gesellschaftsvertrags ausdrücklich auf „normal kooperationsfähige“ Menschen beschränkt und dies damit begründet, dass die Theorie ansonsten zu kompliziert würde.79 Die Belange nicht autonomer Menschen zu berücksichtigen erscheint bei ihm als ein zweiter Schritt, der zwar als notwendig erkannt, jedoch nicht näher ausgearbeitet wird. Es gibt aber keinen Grund, wieso sich die Parteien einer ursprünglichen Vereinbarung keine Gedanken darüber machen sollten, wie es in ihrer Gesellschaft um eingeschränkt autonomiefähige Menschen bestellt ist. Die Wahrscheinlichkeit, nach dem Lüften des „Schleiers des Nichtwissens“ nicht „normal kooperationsfähig“ zu sein, ist nicht geringer als etwa die, sich in Armut oder Staatenlosigkeit wiederzufinden. Jeder Mensch, der heute autonom ist, war es jedenfalls in seiner Kindheit und Jugend nur eingeschränkt und wird es, wenn er später einmal pflegebedürftig wird, möglicherweise nicht mehr sein. Durch einen Unfall fürsorgebedürftig zu werden oder ins Koma zu fallen, gehört zu den normalen Lebensrisiken. Es liegt also ein beachtlicher Reduktionismus darin, Fürsorgebedürftigkeit als ein außergewöhnliches Spezialproblem darzustellen, das im ersten Anlauf nicht berücksichtigt werden müsse. Im Gegenteil stellt sich die Frage, wie die Notwendigkeit von Fürsorge und 78

79

Vgl. zu einer rechtsphilosophischen Grundlegung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit. Zur Formel vom „sozialen Staat“ in Art. 20 Abs. 1 GG, 2008 Rawls (Fn. 33), 85: „Wir sagen […], eine Person sei jemand, der ein Bürger sein kann, das heißt ein während seines gesamten Lebens normales und uneingeschränkt kooperatives Gesellschaftsmitglied.“ Ähnlich schon Mill (Fn. 1), 17. Auch Seel (Fn. 11) verknüpft den Glücksbegriff mit dem Begriff der Selbstbestimmung, räumt aber selbst ein, dass für Personen, die nicht selbstbestimmungsfähig sind, andere Kriterien gelten müssten (S. 63). Diese Kriterien werden bei ihm nicht näher spezifiziert.

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Sorgearbeit mit den liberalen Grundannahmen vereinbart werden kann, von Anfang an. Wie kann der grundlegende Respekt für alle Menschen, auch für solche, die erst noch autonom werden, es früher einmal waren oder niemals sein können, gesichert werden? Wie kann die Sorge für diese Menschen in einer politischen Gemeinschaft so organisiert werden, dass es den Grundsätzen der Gerechtigkeit entspricht? Die Care-Ethik allein führt hier wegen der genannten Schwächen nicht weiter: Weder kann sie die Bevormundeten vor einem „Zuviel“ an paternalistischer Intervention schützen noch die Sorgenden vor einer Ausbeutung ihrer Fürsorglichkeit. Die Berücksichtigung nicht autonomer Menschen kann daher in einer Theorie mit liberalen Ausgangsannahmen vermutlich besser gelingen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Anspruch auf gleiche Berücksichtigung aller individueller Interessen nicht an der faktischen oder unterstellten Autonomie des Individuums festgemacht wird. Es könnte weiterhelfen, sich darauf zu besinnen, warum die Entscheidungen autonomer Individuen berücksichtigt werden sollen: Freiheit wird nicht um ihrer selbst willen gewährt, sondern als Ausdruck des Respekts vor den Entscheidungen des selbstbestimmten Individuums. Die Fähigkeit, sein Leben frei zu gestalten wird als eine Eigenschaft der menschlichen Persönlichkeit angesehen, die Respekt verdient. Versucht man, eingeschränkt autonome Personen einzubeziehen, so bietet sich darum der Begriff des Respekts als Anknüpfungspunkt an: Wenn es auch nicht in erster Linie die Freiheit zur Selbstgestaltung des Lebens sein kann, die bei ihnen respektiert werden muss, so ist es doch die Persönlichkeit dieser Menschen, die sich in den individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen widerspiegelt. Ein Beispiel für eine solche theoretische Grundlegung findet sich bei Pauer-Studer: Der Respekt vor bzw. die Anerkennung der individuellen Persönlichkeit erscheint bei ihr als das übergreifende Prinzip, das den Postulaten der Freiheit und Gleichheit vorgeordnet ist. Auch Nussbaum begründet den Anspruch auf ethische Gleichwertigkeit aller Menschen mit der Gleichheit in der Bedürftigkeit. In ähnlicher Weise setzt die normative Ethik von der Pfordtens bei den Belangen der Individuen an, die gegenüber den anderen normative Kraft entfalten, auch wenn ihre Träger sie nicht selbstbestimmt bewerten und zur Geltung bringen können.80 Nur auf einer solchen theoretischen Basis, die Autonomie in ihrer Bedeutung für die Individuen nicht abwertet, aber auch nicht zum Ausgangspunkt des Gleichheitspostulats macht, können das Streben nach Autonomie und Freiheit einerseits und das Faktum der Bedürftigkeit andererseits als gleichwertige Belange des Menschen ernst genommen und in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. 7

SCHLUSS

Wir haben bei der Autonomie der Frau begonnen und sind bei einer Reihe von Umständen angelangt, die geschlechtsneutral formuliert werden können und müssen. Denn nicht nur Frauen können im toten Winkel einer Theorie stehen, sondern allgemein diejenigen Lebensweisen, die in der Gesellschaft nicht dominant oder je80

Vgl. Pauer-Studer (Fn. 11), 54 ff.; Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, 2010, 218 ff.; von der Pfordten (Fn. 1), 46 ff., zum Umgang mit nicht einwilligungsfähigen Personen ebd., 66; s. auch Anderson/Honneth (Fn. 33)

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denfalls unter den theoretisch denkenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht üblich sind. Man wird nie vermeiden können, dass dies geschieht, und dies umso weniger, je homogener die Gruppe derer ist, die sich über die Ethik und politische Philosophie auseinandersetzen. Im Straßenverkehr hilft es, wenn man sich des Problems bewusst ist: Man kann sich dann vor dem Ausscheren oder Abbiegen umschauen, ob man ein Auto übersehen hat. In der Philosophie und im Recht kann es ebenfalls hilfreich sein, sein Blickfeld über den eigenen Herkunftshorizont hinaus zu erweitern. Die feministische Ethik weist daher in ihren liberalen, nicht-essentialistischen Varianten über das Geschlechterverhältnis hinaus und stellt die Gerechtigkeitsfrage für die Gesellschaft als Ganze.

HILLEL STEINER, MANCHESTER THE CONSEQUENCES

OF

CHOICE

In his 1875 Critique of the Gotha Program, Karl Marx inscribed the famous slogan expressing the core distributive principle of communist society: ‘From each according to his ability, to each according to his need’.1 One hundred years later, in Anarchy, State and Utopia, Robert Nozick characterised the distributive essence of pure laisserfaire capitalism in the maxim ‘From each as they choose, to each as they are chosen’.2 For nearly forty years now, philosophers working on conceptions of distributive justice have been arguing about whether – and if so, how – responsibility-sensitivity can be an integral feature of their accounts. More precisely, this dispute has been about whether and how a distribution can be purely responsibility-sensitive and, therefore, insensitive to anything else. How can a distribution be one in which the extent of each person’s holdings reflects nothing but the consequences of that person’s choices? Now, as I see it – perhaps as we all see it – the many diverse factors that causally contribute to determining a person’s distributive holdings are factors which can all be imputed to one or another of three basic sources: they’re either self-caused, or they’re caused by other persons, or they’re caused by no one – that is, they’re caused by Mother Nature. In the real world, of course, it’s likely that any one person’s distributive holdings are multi-factorial: that is, they’re due to complex mixtures of these three sorts of factor-mixtures which are the standard objects of professional research in a multitude of social science and bio-science disciplines.3 It should immediately be said, however, that not all theories of distributive justice are so centrally concerned with this causal issue – with the issue of how much a person’s distributive share is due to her choices and how much to her circumstances. For many such theories, the findings of these scientific enquiries play little or no part in determining the conditions of a just distribution. Instead, some of them have, as their central concern, the requirement that persons’ shares should possess a certain distributional profile: those distributions conform, say, to an egalitarian rule, or to a prioritarian rule, or to a sufficientarian one. Such theories, then, allow responsibility-sensitivity to play, at most, a residual role in determining the justice of any particular distribution. For other theories, primarily right-libertarian ones, this causal issue is similarly of little interest, because a person’s circumstances cannot be concerns of justice. Echoing Nozick, they would say that justice is solely concerned with persons’ choices, regardless of the circumstances in which those choices are made. So such 1 2 3

Karl Marx, „Critique of the Gotha Program“, reprinted in The Marx-Engels Reader, (ed.) R. Tucker (New York: W. W. Norton, 2d ed. 1978), 525–541 Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, (Oxford & Cambridge MA: Blackwell, 1974), 160. Cf. Hillel Steiner, An Essay on Rights, (Oxford & Cambridge MA: Blackwell, 1994), 277–278; ‘Choice and Circumstance’, Ratio, X (1997), 296–312, reprinted in Ideals of Equality, (ed.) A. Mason, (Oxford: Blackwell, 1998), and Rights, Wrongs and Responsibilities, (ed.) M. Kramer, (London & New York: Palgrave, 2001)

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Hillel Steiner

theories would claim to be responsibility-sensitive. Their claim is that all persons being vested with the sole foundational right of self-ownership4 – and thereby empowered and at liberty to deploy their talents as they choose – is a necessary and sufficient condition for the responsibility-sensitivity of any resultant distribution. A responsibility-sensitive distribution, they claim, is any distribution that derives solely from successive exercises of that self-ownership right and from the rights successively derived from that right. I think that this right-libertarian claim is seriously mistaken. Its mistake basically lies in its failure to appreciate that the distributions underwritten by those theories are sensitive not only to persons’ choices, but also to their comparative temporal locations. For such theories assign greater Hohfeldian powers and privileges to members of temporally prior generations than to their immediate successors. More specifically, they license those earlier persons to acquire more unencumbered property rights in otherwise unowned natural resources than would, in Locke’s familiar phrase, ‘leave enough and as good’ for those others. Since persons are not responsible for (the starting-point of) their own temporal locations, and since being vested with such proprietary control of natural resources endows those who have it with (at least) superior bargaining power, such unequal distributions as result from exercises of those unequal bargaining powers are far from being describable as responsibilitysensitive. More strongly, I’ve argued that any such theory is strictly incoherent. It’s incoherent because, by thus empowering a subset of self-owning persons unilaterally to acquire unencumbered ownership of all natural resources (including land, space, etc.), it implies that, in the absence of those owners’ permission, later arrivals are encumbered with unperformable duties of non-trespass, the enforcement of which violates those later arrivals’ self-ownership. So the property rights of those resource owners are thereby incompossible with the later arrivals’ self-ownership rights.5 That is, such theories can imply, of one and the same enforcement action, that it is both permissible and impermissible. And therefore, like any theory that generates contradictions, these right-libertarian theories must be rejected. Recent decades have witnessed the emergence of a family of theories that do take responsibility-sensitivity seriously, that do give it an exclusive role in determining the conditions of just distribution, and that have come to be collectively known as luck-egalitarianism. The general thought behind luck-egalitarianism is that a distribution of goods and services is responsibility-sensitive in approximately – but only approximately – the same sense that the distribution of finishing positions in a running-race is responsibility-sensitive. In the Olympic 100-metre dash, as long as each runner starts from the same point at the same time, each person’s finishing position – its rank and the amount by which that rank is higher or lower than that of other 4

5

A right is foundational – non-derivative – if (a) it is one that can be exercised to create other rights, and (b) it is not one that has been created by the exercise of another right; cf. Hillel Steiner, ‘Moral Rights’, in Oxford Handbook of Ethical Theory, ed. D. Copp, (Oxford: Oxford University Press, 2006), 472–473, and ‘Are There Still Any Natural Rights?’, in The Legacy of H. L. A. Hart: Legal, Political, and Moral Philosophy, eds. M. Kramer, C. Grant, B. Colburn & A. Hatzistavrou, (Oxford: Oxford University Press, 2008), 240 Cf. ‘Responses’, in Hillel Steiner and the Anatomy of Justice: Themes and Challenges, eds. S. de Wijze, M. Kramer & I. Carter (London & New York: Routledge, 2009), 241

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runners – is presumed to be one for which he or she is solely responsible. So the distribution of finishing positions, and of the medals or prizes consequent upon them, is presumed to be responsibility-sensitive. Should we accept this presumption as correct? Let’s consider a small range of possible reasons for believing that a runner’s lower position in this distribution is not one which accurately reflects her choices. 1. She might have been pushed momentarily off-balance by one of the other runners. 2. She might have been denied the childhood training or nourishment that were necessary to enable her to develop the strength and endurance to achieve a higher position. 3. She might have momentarily slipped in a hidden puddle of rain-water located only in her lane on the racing track. And to these three reasons, I want also to add a fourth which, admittedly, does not tend to count against responsibility-sensitivity in athletic events, but which would certainly count against it in the more general distributive issues engaged by luckegalitarians. 4. She might have a genetic disability that prevented her from developing the strength and endurance to achieve a higher position. Now one thing that’s clear is that, in terms of our threefold classification of causal factors affecting distributional outcomes, none of these reasons would fall into the first category. That is, none of them counts as a consequence of her own choices. And, in that sense, luck-egalitarians would claim that her losing position in that running-race distribution is due to circumstance. Its being due to circumstance, rather than to her own choice, is – for luck-egalitarians – a necessary and sufficient reason for claiming that she is entitled to some form of compensation. But it’s precisely at this point, I think, that many luck-egalitarian theories fail to draw an important distinction. And, in so failing, they fall short of the very responsibility-sensitivity standard which they purport to advance. For, having determined that a person’s lower distributive share was due to her circumstances and not to her own choice – and that she’s therefore entitled to compensation – those theories often have surprisingly little to say about who should be liable for the payment of that compensation. Very often, they simply presume that such compensation should come from the state’s general tax revenues: that is, that it is tax-payers who should bear that liability. And the problem with that presumption is its failure to distinguish between those of her circumstances that are due to no one – or as I previously put it, due to Mother Nature – and those that are due to the choices of other persons. A truly responsibility-sensitive theory, I think we can all see, must be one that does draw this distinction. It’s one that must send the compensation bill, for those of her unfavourable circumstances which are caused by other persons, to those other persons themselves, and not to taxpayers in general. So, persisting with our case of the runner, it seems reasonably clear that if her lower position was due either to her being pushed by another runner or to childhood deprivation by her parents, the compensation owed to her is owed by them and not by the taxpayer. On the other hand, if it was due to the invisible rain-water puddle or to some genetic deficiency, then the blame would seem to lie with Mother Nature. And so the question, in this case, is: How can we send a compensation bill

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to Mother Nature? After all, she doesn’t have a postal address, and is not easily contacted by any other means either! I’ve said that many luck-egalitarians fail to draw that important distinction between those two sources of a person’s circumstances. But there are some luck-egalitarian theories that don’t make this mistake. And here I want to draw your attention to a subset of luck-egalitarian theories that has come to be known as left-libertarianism. In many respects, left-libertarianism is not a new theory at all: anticipations of it can be found in some aspects of the works of Grotius and Locke and the 17th century English Levellers movement, as well as in the 18th century writings of Thomas Paine and, increasingly in the 19th century, in a host of European and American thinkers amongst whom the better known include John Stuart Mill, Herbert Spencer, the economist Leon Walras and, particularly, Henry George. For what all these thinkers shared in common was an insight into the significance of the fact that natural resources – or what I’ll more simply call land – are not the product of anyone’s labour: they are not the consequences of anyone’s choice. From an economist’s perspective, what is distinctive about land is that – unlike human labour and the products of that labour – the supply of land is fixed and cannot vary with variations in its price. And from the perspective of the political philosopher, land’s not being a consequence of anyone’s choice means that no one has a better initial claim to any part of it than does anyone else. A foundational right of self-ownership – as advanced by both right- and leftlibertarians – gives us each a moral title to our labour and to its products. Anyone else’s non-consensual confiscation of these titles is a violation of that self-ownership right.6 And distributive theories containing rules that permit or require such confiscation lack responsibility-sensitivity. They lack it precisely because the distributions they underwrite are ones that re-allocate the consequences of persons’ choices to other persons. But since land or natural resources are not the consequences of anyone’s choices, distributive theories containing rules for the interpersonal allocation of those resources do not violate self-ownership rights and do not lack responsibilitysensitivity. Does this imply that it’s an open question as to what nature-distributing rule can be consistently adopted by responsibility-sensitive theories? Are such theories logically capable of incorporating any such rule? The answer is obviously ‘No’. So, for instance, one conceivable rule for allocating rights to land or natural resources is the first-come, first-served rule. This is, in fact, the rule embraced by right-libertarian theories. And, as we saw previously, it’s incompatible with a responsibility-sensitive theory because the distributions it underwrites are ones in which each person’s distributive share is a function of not only his/her choices but also his/her relative temporal location. Earlier locations confer more powers and liberties, than do subsequent ones, with respect to privatising land or natural resources. Another conceivable rule for allocating such rights might be one that simply assigns all of them to society as a collective agent. I shall not devote much attention to 6

And any commercial exchange of them, for less than their full value, is an exploitation; cf. Hillel Steiner, An Essay on Rights, 178–187, 267, and ‘Exploitation Takes Time’, in Economic Thought and Economic Theory: Essays in Honour of Ian Steedman, (eds.) J. Vint, J. S. Metcalfe, H. D. Kurz, N. Salvadori & P. A. Samuelson, (London: Routledge, 2010)

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this possibility, because the two main problems that beset it are too well known to warrant any detailed rehearsal of them here. The first of these is the familiar issue of identifying the sense in which choices made under collective decision-making procedures can be described as ones for which each individual is responsible. If the collectivity decides to permit only a subset of its members to hold rights, powers and liberties with respect to land and natural resources, what are the conditions necessary and sufficient for it to be true that persons who are excluded from any such entitlements are responsible for their own exclusion? And if they are not responsible for it, how can this distribution of rights avoid the dilemma faced by right-libertarianism – namely, the incompossibility of these property rights with the self-ownership rights of those excluded members? For, as I noted previously, excluded persons are trespassers unless they have the permission of landowners. And those landowners are empowered to withhold such permission and to have their rights against such trespassing enforced. The other familiar problem with vesting these rights in society as a collective agent is the difficulty of demarcating what counts here as society. Since these rights are ones to land ownership – that is, to portions of the Earth’s surface – we have to be able to determine which one of these sets of geographical sites belongs to collective agent X, and which one to collective agent Y. And we have to be able to do this in such a way that X’s set is compossible with Y’s set: that the former set does not contain any sites which are also in the latter. But there simply is no plausible moral rule that can generate this demarcation. And what that implies is that the collective agent involved here must be X plus Y: it must be global in extension. So what counts as society here is, as Kant says, nothing less than the whole of humanity.7 And if this is true, then the previous problem, of inferring each individual’s personal responsibility for the decisions of the collectivity, becomes even more intractable. How, then, can we get a rule for the allocation of land and natural resources that is consistent with the condition of responsibility-sensitivity? My claim is that it is left-libertarianism that provides the only plausible answer to this question. To see how it does so, we should begin by returning to our case of the runner in the Olympic 100-metre dash. Recall that, for the distribution of runners’ finishing positions to qualify as responsibility-sensitive, it must be the case that they all started from the same point at the same time. If some of them began running at a different time or from a different point than others, that distribution of finishing positions could not be described as one solely reflecting the consequences of each runner’s choice. In short, for a distribution of rights to be sensitive to personal responsibility and nothing else, it must be one which derives from a situation in which each person’s initial rights are equal to those of everyone else. So the required rule for allocating rights to land or natural resources is an egalitarian one. How can such a rule be applied to a world, like our own, in which all land and natural resources have already been appropriated by particular individuals and nations who have, in Locke’s phrase, ‘mixed their labour’ with these things and thereby enhanced their value? Wouldn’t any redistribution of rights to them amount to a 7

Cf. Immanuel Kant, The Metaphysics of Morals, (ed. and transl.) Mary Gregor, (Cambridge: Cambridge University Press, 1991), 71–74

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Hillel Steiner

confiscation of the consequences of their owners’ choices and, therefore, a violation of the responsibility-sensitivity requirement? The left-libertarian answer to this question is ‘No’. For the gross current value of these appropriated things consists in two component magnitudes: (1) the current value of the improvements made to them by human effort, and (2) the current value of the raw elements supplied by Mother Nature. It is the distribution of rights to only the second of these that is to be governed by that egalitarian rule. For any particular geographical site, the portion of its value that is liable to redistributive taxation is equal to the difference between its gross value and the value of the improvements made to it by human effort. Those improvements are the consequences of choices, whereas the natural properties of that site are not. A person or a nation wishing to retain a just title to that site must compensate the rest of humanity for their exclusion from it. This set of liabilities and entitlements are best conceived as constituting what I’ve elsewhere called a Global Fund.8 The owners of each site pay into the Fund the full current annuated/rental value of the natural properties of that site. And all persons, regardless of where in the world they are located, have a claim to an equal portion of that revenue. I suppose that, in practice, it is nation-states that would bear the liability for that payment, and that would be entitled to an equal per capita share of that revenue. Moreover, the operation of this Global Fund, we might reasonably speculate, would serve to establish a variety of benign incentive structures informing relations both within and between nations. I’ll briefly mention three of them.9 First, the global impact of such a fund is bound to be strongly redistributive since the differential incidence of its levies, in conjunction with the per capita parity of its disbursements, pretty much guarantee a substantial reduction in international (as well as national) economic inequalities. These international inequalities have always played an important role in generating high levels of demand for emigration among members of poorer nations. Under the regime of the Global Fund, poorer nations, being its net beneficiaries, would find fewer of their members leaving to seek their fortunes abroad. Second, the operation of such a fund might be expected to foster greater willingness to compromise in international boundary disputes (over land whose legitimate title-holders are difficult to identify), inasmuch as it attaches a price-tag to any instance of territorial acquisition or retention. And third, the existence of such a fund would give nations stronger disincentives to engage in such odious practices as ethnic cleansing and forced expatriation, since their society’s receipts from the Fund would thereby decline with their loss of those members, whereas the Global Fund’s territorially-based levy on them would remain the same. Indeed, nations might well come to cherish each of their members all the more – to provide them each with a strong sense of social identity – for being sources of guaranteed income! 8

9

Cf. Hillel Steiner, An Essay on Rights, 270 ff., and ‘Just Taxation and International Redistribution’, Nomos XLI: Global Justice, (eds.) I. Shapiro & L. Brilmayer, (New York: New York University Press, 1999), 171–191. For reasons that would take us too far afield here, it should be noted that the estates of dead persons are also liable to 100 % taxation by the Global Fund; cf. An Essay on Rights, 249–258, 273 Cf. Nicolaus Tideman, ‘Commons and Commonwealths’, in Robert Andelson (ed.), Commons Without Tragedy, (London: Shepheard-Walwyn, 1991), for a more extended discussion of some of these incentive structures

The Consequences of Choice

107

There is one final element to this story, of how to design a responsibility-sensitive distribution. Again, we return to our case of the runner in the Olympic 100-metre dash. You’ll remember that the third possible reason offered, for believing that a runner’s lower position in the distribution of finishing positions is not one which accurately reflects her choices, was that 3. She might have momentarily slipped in a hidden puddle of rain-water located only in her lane on the racing track. For purposes of this argument, I’ve suggested that we regard this causal factor as one contributed by Mother Nature.10 And then, you’ll recall, a fourth possible reason was added for believing that her lower position is, similarly, not one which accurately reflects her choices, namely that 4. She might have a genetic disability that prevented her from developing the strength and endurance to achieve a better position. Now, although this genetic reason is not a factor that is standardly taken to count against responsibility-sensitivity in the outcome of athletic contests, it is, as I said, one that luck-egalitarians would regard as a circumstance, rather than one due to her own choice. And her lower position’s being due to that circumstance is – for luckegalitarians – a sufficient reason for claiming that she is entitled to some form of compensation. Who is it that is liable for that compensation? Is it society as a whole, or is it her parents who created her genome? Elsewhere, I’ve argued that, if the informational properties of the parental gametic genes that formed her genome were possible objects of choice for her parents, it is they who are liable for that compensation. Conversely, if those properties were ones over which her parents had no control – as is still mostly true at the present time – then those properties count as natural resources, and her genetic disability counts as a product of Mother Nature. Its being a natural product implies that, ceteris paribus, this runner’s parents have appropriated less valuable natural resources than have the parents of runners who are genetically able to secure higher finishing positions in the race. Consequently, the former owe proportionally less to the Global Fund for that appropriation than do the latter for theirs. And since the payments that persons receive from the Global Fund are all equal, then – again, ceteris paribus – the parents of genetically disabled persons would have proportionally more funds available to them, than would parents of their genetically enabled counterparts: funds which they must use to secure ability enhancements to offset those genetic disabilities.11 In conclusion, then, I’ve argued that a distribution of rights that is purely responsibility-sensitive is one in which all rights are ones successively derived from each person’s two foundational rights: namely, the rights to self-ownership and to an equal share of the value of global natural resources. Such a distribution, I would 10 11

Evidently this would, instead, be attributable to the negligence of some relevant officials, if it was reasonable to expect them to have discovered the presence of the puddle before the race. Cf. Hillel Steiner, ‘Silver Spoons and Golden Genes: Talent Differentials and Distributive Justice’, in The Genetic Revolution and Human Rights: 1998 Oxford Amnesty Lectures, (ed.) J. Burley, (Oxford: Oxford University Press, 1999), reprinted in The Moral and Political Status of Children (eds.) D. Archard & C. Macleod, (Oxford: Oxford University Press, 2002), for a more detailed account of these compensatory claims and liabilities, as well as the conception of personal identity presupposed by this argument.

108

Hillel Steiner

claim, completely satisfies the Nozickian maxim, ‘From each as they choose, to each as they are chosen’. And, moreover, it fairly closely reflects the Marxian slogan, ‘From each according to his ability, to each according to his need’. It does, however, fall short of that Marxian injunction in two dimensions. First, it does not require persons to fully exercise their productive abilities. And second, it does not require compensation for those whose neediness is a consequence of their own choices. These two requirements may very well be demands which are set for us by other moral values but, according to left-libertarianism, they are not requirements of justice.12

12

Cf. Hillel Steiner, ‘Greed and Fear: G. A. Cohen and Socialism’, (forthcoming), where I suggest that the first of these two demands is set for us by the moral value which G. A. Cohen denotes as communal reciprocity, in Why Not Socialism?, (Princeton: Princeton University Press, 2009). The second is set by charity or benevolence.

ARMIN GRUNWALD, KARLSRUHE VERANTWORTUNG 1

FRAGESTELLUNG

DER

UND

WISSENSCHAFTEN – RÜCKZUG

AUFS

OBJEKTIVE?

ÜBERBLICK

Die Diskussion zur Verantwortung der Wissenschaften begann in großem Maßstab im Anschluss an die Atombombeneinsätze auf Hiroshima und Nagasaki. Die bekannten Diskussionen über die Rollen von Albert Einstein, Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg hatten bereits zum Thema, in welchem Umfang wissenschaftliche Grundlagenforschung Verantwortung für sich daraus ergebende, von den Entdeckern aber gar nicht beabsichtigte Folgen mittrage, hier konkret anhand der Frage, wie es um die Verantwortung der Atom- und Kernphysik für die Atombombe bestellt sei. Politische Folgen dieser Debatte waren zum einen die engagierte Mitarbeit vieler Kernphysiker an der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“, die ihrer militärischen Nutzung in Form der Atombombe entgegen gestellt wurde. Zum anderen bezogen Physiker in der Debatte um die atomare Aufrüstung der gerade neu gegründeten Bundeswehr öffentlich Stellung und verabschiedeten 1957 die stark beachtete „Göttinger Erklärung“ deutscher Atomphysiker.1 Ein zweites herausragendes Feld der Verantwortungsdebatte der Wissenschaften eröffnete sich in der Gentechnik. Die Konferenz von Asilomar (1975), auf der Gentechniker und Molekularbiologen über ihre eigene Verantwortung diskutierten und in der es zu Selbstverpflichtungen kam, hat in dieser Geschichte einen besonderen Platz – einschließlich der unterschiedlichen Deutungen, nach der einerseits auf die prospektive Verantwortungsübernahme der Biologen hingewiesen wurde, nach der aber andererseits immer wieder der Verdacht geäußert wurde, die Biologen hätten durch ihr Vorpreschen vor allem staatliche Regulierungen und damit mögliche Einschränkungen ihrer Forschungsmöglichkeiten vermeiden wollen. Das „Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas2 war die erste systematische Auseinandersetzung mit den durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt aufgeworfenen Fragen menschlicher Verantwortung und wurde sowohl wissenschaftlich als auch öffentlich stark wahrgenommen. Normativer Ausgangspunkt für Beurteilungen der Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist dort angesichts einer Vielzahl globaler Schreckensszenarien mit der Möglichkeit eines „Endes der Menschheitsgeschichte“ die „unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein“: „Niemals darf Existenz oder Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz […] gemacht werden“.3 Eine „Heuristik der Furcht“ in Kombination mit dem Prinzip des „Vorrangs der schlechten Prognose“ soll Orientierungen ermöglichen, wie mit technischen Innovationen umzugehen sei.4 Es resultiert der neue „kategorische Imperativ“, so zu handeln, dass „die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit

1 2 3 4

Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, 7. Aufl. 1986 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979 Jonas (Fn. 2), 81 Jonas (Fn. 2), 63 ff.

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Armin Grunwald

der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde“.5 Trotz heftiger Kritik an Grundlagen und Konsequenzen hat das „Prinzip Verantwortung“ maßgeblich zum Entstehen einer folgenorientierten Verantwortungsethik für Wissenschaft und Technik beigetragen. Die Diskussion über die Verantwortung der Wissenschaft hat sich in den letzten zehn Jahren stark auf Selbstverpflichtungen und Ethik-Kodizes erstreckt.6 Zum Umgang mit Nanotechnologie wurde 2008 nach langen Diskussionen von der Europäischen Kommission ein „Code of Conduct“ verabschiedet. Zur Synthetischen Biologie (vgl. Kap. 4 in diesem Beitrag) findet eine aktuelle Debatte zu Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Selbstverpflichtungen statt, die vor allem zwischen den Biologen und Nichtregierungsorganisationen ausgetragen wird, welche zivilgesellschaftliche Mitgestaltungsansprüche im Sinne einer „New Governance of Science“7 anmelden. Eine weitere aktuelle Entwicklung besteht darin, dass viele Akademien der Wissenschaft sich teils aus eigener Motivation, teils unter dem Druck außerwissenschaftlicher Akteure in Politik und Gesellschaft stärker in der Politikberatung engagieren und dieses Engagement als Teil wissenschaftlicher Verantwortung begreifen. In Deutschland wurde 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften unter Führung der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina gegründet. Sie soll in voller Unabhängigkeit wichtige gesellschaftliche Zukunftsthemen wissenschaftlich bearbeiten und die Ergebnisse der Öffentlichkeit und Politik in geeigneter Form vermitteln.8 Aus den Verlautbarungen der Politik ist herauszuhören, dass sie eine Stimme der Wissenschaft zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen sehnsüchtig erwartet. Verantwortungswahrnehmung der Wissenschaft besteht diesen Erwartungen nach darin, zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen möglichst mit dem Unabhängigkeitsund Objektivitätsanspruch der Wissenschaften versehene Aussagen zu bekommen.9 Inwiefern dies ein „Rückzug aufs Objektive“ darstellt, der den Wissenschaften zum einen von außen aufgedrückt, aber von vielen Wissenschaftlern auch gerne angenommen wird, weil dies ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftler entspricht, wäre zu diskutieren. Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag folgende Ziele: - Rekonstruktion einiger zentraler Bedenken, dass es sich in der Verantwortungsdebatte zu den Wissenschaften um letztlich inhalts- und folgenlose Rhetorik handele (Kap. 2) - Bestimmung eines Verantwortungskonzepts, das diesen Bedenken, soweit sie nachvollziehbar sind, und den spezifischen Anforderungen der Rede über Verantwortung im wissenschaftlichen Bereich Rechnung trägt (Kap. 3) 5 6 7 8

9

Jonas (Fn. 2), 36 Verein Deutscher Ingenieure (Hg.), Ethische Ingenieurverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung, VDI Report 31 (2000) K. Siune / E. Markus / M. Calloni / U. Felt / A. Gorski / A. Grunwald / A. Rip / V. de Semir / S. Wyatt, Challenging Futures of Science in Society. Report of the MASIS Expert Group, 2009 Leopoldina, Leopoldina übernimmt Aufgaben der Nationalen Akademie in Deutschland, Pressemitteilung vom 19. 2. 2008 (unter: www.leopoldina.org/de/presse/pressemitteilungen/einzelansichtpressemitteilung/article//leopoldina-ue.html, abgerufen 13. 4. 2012) Armin Grunwald, Wissenschaftliche Politikberatung – quo vadis? Ein Zwischenruf zur Gründung der Nationalen Akademie in Deutschland, GAIA 17/3 (2008), 298–301

111

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

-

Illustration der Verantwortungsfrage an dem aktuellen Beispiel der Synthetischen Biologie (Kap. 4) Schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst und Konsequenzen gezogen, die in Sachen Verantwortung der Wissenschaft einen „Rückzug aufs Objektive“, insofern ein solcher gefordert oder gewünscht wird, als schlicht unmöglich erweisen und die stattdessen soziale Mechanismen der Verantwortungsübernahme als unverzichtbar erweisen. 2

HERAUSFORDERUNGEN: VERANTWORTUNGSDIFFUSION

UND

NICHTWISSEN

In dem Maße, wie seit dem „Prinzip Verantwortung“ der Verantwortungsbegriff in Ethik, Politik und Öffentlichkeit Karriere gemacht hat, ist auch Kritik erwachsen. Wenn auch einige Diskussionen mittlerweile als beendet angesehen werden können10, so haben sich zwei Themen durchgehalten, vermutlich deswegen, weil sich hinter ihnen ernsthafte und persistente Probleme verbergen. Diese beiden – die „Verantwortungsverdünnung“ und das Verschwinden des Gegenstands der Verantwortung aufgrund unbekannten Folgenwissens – seien daher in diesem Kapitel etwas genauer betrachtet. Die Rekonstruktion führt auf Hinweise, wie ein adäquater Verantwortungsbegriff für Wissenschaften ausgelegt werden müsste. 2.1 DAS VERSCHWINDEN DES VERANTWORTUNGSSUBJEKTS: VERANTWORTUNGSDIFFUSION Stellt sich das „Adressatenproblem“ in jeglicher Verantwortungsdebatte, so scheint es doch in wissenschaftlicher Verantwortung besonders schwierig zu behandeln zu sein. In dem Satz „Niemals zuvor in der Vergangenheit hatte der westlich-abendländische Mensch soviel Verantwortung zu tragen wie heute“11 ist natürlich zu fragen, wer denn dieser Mensch konkret sei. Wissenschafts- und Technikentwicklung in der Moderne werden von einer oft unüberschaubaren Vielzahl von Akteuren bestimmt und mitgestaltet. Grundlagenforschung und angewandte Forschung haben, trotz der häufigen Schwierigkeit ihrer Abgrenzung, unterschiedliche Rollen und Einflussmöglichkeiten, aber auch Forschungsförderung und Regulierung sind als den Fortschritt beeinflussende Randbedingungen genauso mit einzubeziehen wie nach der Verantwortung von Konsumenten und Bürgern gefragt werden kann. Wenn es aber angesichts der inhärenten Komplexität des wissenschaftlich-technischen Fortschritts problematisch wird, die Verantwortung für Wissenschaft und Technik identifizierbaren Akteuren zuzurechnen, kommt der Ethik ihr Adressat abhanden.12 An wen sollte eine Verantwortungsdebatte sich richten, wenn die Verantwortung entsprechend der Arbeitsteilung immer weiter „verdünnt“ wird? Dann

10

11 12

Wie z. B. die Debatte zu einer angeblichen Wertneutralität von Wissenschaft und Technik, vgl. Armin Grunwald, Ethik in der Dynamik des technischen Fortschritts. Anachronismus oder Orientierungshilfe?, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1999, 41–59 Hans Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, 1992, 7 Heiner Hastedt, Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, 1991; Christoph Hubig, Ethik der Technik. Ein Leitfaden, 1993, 101 ff.

112

Armin Grunwald

müsste Verantwortungsethik sich in einem „adressatenlosen Moralisieren“13 erschöpfen und geriete in Gefahr, in bloße Verantwortungsrhetorik umzuschlagen. Gelegentlicher Spott, Verantwortungsethik könne nicht über Sonntagspredigten hinausführen14, unterstellen genau dies. Zwar wird überall Verantwortung eingefordert, aber wenn der genannte Verdacht zutrifft, wären entsprechende Erwartungen schlicht nicht einlösbar. Verstärkt wird diese Diagnose häufig noch durch Positionen, die die Ohnmacht der Einzelnen betonen und bezweifeln, dass einzelne Wissenschaftler in einem globalisierten System überhaupt noch etwas bewirken könnten. Die Adressatenlosigkeit der Ethik wird in der soziologischen Systemtheorie als strukturell bedingt angesehen, weil moralische Kommunikation im Gefüge der funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme (Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik und Recht als hier vor allem beteiligte Subsysteme) keinen Anschluss finde, sondern ohne Widerhall nur zu einem Rauschen führe: „Man ruft laut nach einer neuen Ethik – und es gibt nicht einmal ein Echo, sondern nur kommunikatives Rauschen in der Gesellschaft.“15 Vor diesem Hintergrund hat sich die Verantwortungsethik neueren Typs vor allem dem Problem der Verteilung von Verantwortung in komplexen Prozessen des wissenschaftlichen oder technischen Fortschritts zugewendet (Lenk 1992). Ihre Ausgangsprämisse ist: „Die Arbeitsteiligkeit des Handelns löst die Folgenverantwortung nicht einfach auf, sondern verteilt sie auf die involvierten Individuen nach Maßgabe ihrer Bedeutung in dem betreffenden kollektiven Handlungszusammenhang.“16

Ziel ist, die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung zu beantworten. Die Handhabung einer verteilten Verantwortung ist sichtlich schwieriger zu bewerkstelligen, als wenn eine Person verantwortlich gemacht werden kann, da die Gefahr der Auflösung der Verantwortung in kleine Teile besteht. Zur Vorbeugung einer solchen Verantwortungsdiffusion oder -‚verdünnung‘ wird z. B. vorgeschlagen, die anteilige Mitverantwortung von Wissenschaftlern oder Ingenieuren in Ethik-Kommissionen einzubringen und auf diese Weise zu bündeln17, um das Versickern der Verantwortung in der Anonymität vieler Akteure zu verhindern. Auch wurde Verantwortungsethik als Institutionenethik konzipiert, da die Übernahme individueller Verantwortung den Erfordernissen moderner Technik- und Wissenschaftsentwicklung nicht mehr gerecht werde.18 Die Herausforderung, das Subjekt der wissenschaftlichen Verantwortung klar zu benennen, ist jedoch bis heute nicht abschließend gelöst und betrifft aktuell gerade die Synthetische Biologie (Kap. 4).

13 14 15

16

17 18

Hastedt (Fn. 13), 53 Ulrich Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, 1988 Gotthard Bechmann, Ethische Grenzen der Technik oder technische Grenzen der Ethik?, Geschichte und Gegenwart, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 12 (1993), 213–225, hier: 215 Kurt Bayertz, Wissenschaft, Technik und Verantwortung. Grundlagen der Wissenschafts- und Technikethik, in: Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, hg. v. K. Bayertz, 1991, 173–209, hier: 190 Lenk (Fn. 11), 46 ff. Günter Ropohl, Ethik und Technikbewertung, 1996

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

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2.2 DAS VERSCHWINDEN DES VERANTWORTUNGSOBJEKTS: WISSENSPROBLEME Wissenschafts- und Technikfolgen sind, und dies ist wohl unbestreitbar, in vielen Fällen nicht oder nicht hinreichend prognostizierbar. Hierfür gibt es viele Gründe; so treten Technikfolgen z. B. als unvorhersehbare systemische Kumulationseffekte vieler Einzelhandlungen von Techniknutzern auf (dies gilt z. B. für die Folgen des Einsatzes von Fluorchlorkohlenwasserstoffen für die Ozonschicht bis in die achtziger Jahre hinein) oder es sind bestimmte Typen von Technikfolgen wie das mögliche Eintreten von Störfällen ex ante nur mit gewissen Wahrscheinlichkeiten einschätzbar. Die Dual-use Problematik, der Nutzung von Technik, oder noch genereller, der häufige „enabling“-Charakter neuer Schlüsseltechnologien macht es vielfach schwer bis unmöglich, sogar nur die späteren Anwendungsfelder für wissenschaftliche Erkenntnisse vorauszusehen oder auch auszuschließen19, geschweige denn die Folgen dieser Anwendungen vorhersehen zu können. Wenn jedoch Folgen und Nebenfolgen von Wissenschaft und Technik nun nicht oder kaum prognostizierbar sind, stellt sich in der Tat die Frage, wie diese verantwortet werden können: was nicht gewusst wird, kann keiner Reflexion ex ante auf Verantwortbarkeit hin unterzogen werden.20 Den Debatten über Verantwortung ginge das Objekt, ihr Gegenstand, verloren und die Verantwortungsdebatte würde auch aus diesem Grund leer laufen und zu bloßer Rhetorik verkommen. Allerdings ist diese Diagnose in ihrer starken Lesart21 nicht haltbar. Dass zugestandenermaßen viele der mittlerweile bekannt gewordenen Folgen wissenschaftlichen und technischen Handelns ihren Verursachern nicht bekannt waren und dieses mit Sicherheit auch für gegenwärtiges Handeln in vielen Bereichen gilt, ist kein Pauschalargument gegen Möglichkeit und Relevanz von Verantwortungszuschreibung und -übernahme. Über der These der mangelnden Prognostizierbarkeit darf nicht vergessen werden, dass viele Aspekte von Wissenschaft und Technikentwicklung durchaus einer wenigstens gewissen rationalen Antizipation zugänglich sind. So kann vor allem über die Rechtfertigbarkeit der Zwecke und Ziele von Wissenschaft und Technikentwicklung und somit über ihre Agenda eine Verantwortungsdiskussion ohne Prognoseprobleme der genannten Art geführt werden. Weiterhin können bestimmte Typen von Wissenschafts- und Technikfolgen durchaus zwar nicht exakt prognostiziert, aber dennoch mit „guten Gründen“ angenommen werden. Manche Folgen erschließen sich sogar analytisch. Dass die Verfügbarkeit bestimmter Formen prädiktiven gentechnisch erzeugten Wissens, so etwa über die Wahrscheinlichkeit, in einigen Jahrzehnten an einem bestimmten Tumor zu erkranken, unmittelbare Konsequenzen für den medizinischen und den Beratungssektor hat, ist direkt ohne jede Prognose ersichtlich. Vor allem aber ist der Verweis auf die Unsicherheiten von Vorhersagen kein Argument gegen Reflexion auf Verantwortlichkeiten und Verantwortbarkeiten, sondern betont geradezu ihre Notwendigkeit, da der Umgang mit Nichtwissen oder nicht sicherem Wissen die Frage nach der Verantwortung in besonderer – und in besonders schwieriger – Weise stellt.

19 20 21

Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung – eine Einführung. 2. Aufl. 2010, Kap. 1.5 Bechmann (Fn. 15) Ibid.

114

Armin Grunwald

Gleichwohl, es bleibt ein Stachel zurück, der in zweifacher Richtung Herausforderungen markiert. Zum einen geht es in Verantwortungsdebatten zu Wissenschaft und Technik in der Tat häufig um mehr oder weniger unsichere Folgenannahmen. Hier erwächst die erkenntnistheoretische Herausforderung, das Wissen, um das es jeweils geht, nach Geltungskriterien zu qualifizieren. In dem Spektrum zwischen sicherem Wissen und bloßer Spekulation bedarf es verlässlicher Einschätzungen, mit welchem „Rationalitätsgehalt“ des Gegenstandes der Verantwortungsdebatte – unsichere Aussagen über zukünftige Folgen – hier zu rechnen ist.22 Zum anderen zeigt die Geschichte, dass es in der Tat Folgen von Wissenschaft und Technik gibt, die nicht antizipiert wurden und die vermutlich auch bei gezielter Suche und Forschung nicht antizipiert worden wären. Mangelndes Wissen über die komplexe Wirkungsweise der Fluorchlorkohlenstoffe in der oberen Atmosphäre hätte in den 1930er Jahren auch durch eine systematische Suche nach Folgen des Typs „Ozonloch“ dessen Antizipation nicht erlaubt. Es scheint damit in der Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts Grenzen der Verantwortbarkeit zu geben, welche möglicherweise nicht eliminierbaren Grenzen des verfügbaren Wissens geschuldet sind. Was dies wiederum bedeutet, ist Anlass für eine ganz andere Diskussion: ist es verantwortbar, dass wir uns durch den Fortschritt zwangsläufig ex ante nicht wissbaren Folgen aussetzen und damit so etwas wie ein „Realexperiment“23 erlauben? Diese Diskussion freilich würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; daher werde ich mich auf den ersten Fall beschränken. 3

UMRISSE

EINER WISSENSCHAFTSADÄQUATEN

VERANTWORTUNGSETHIK

Verantwortung kann in allen Bereichen menschlichen Handelns thematisiert werden, in Lebens- und Arbeitswelt, im Konsum und im mikrosozialen Bereich, in Politik und Wirtschaft etc. Im Folgenden geht es darum, ausgehend von kurzen allgemeinen Überlegungen zum Verantwortungsbegriff24 diesen „wissenschaftsadäquat“ zu präzisieren. 3.1 VERANTWORTUNGSBEGRIFF UND WISSENSPROBLEM Verantwortung ist kein ‚Naturgegenstand‘, sondern Resultat einer Zuschreibungshandlung25, entweder wenn Handelnde sie sich selbst zuschreiben und damit etwas über die Beurteilung ihrer eigenen Handlungen oder den Umgang mit deren Folgen ex ante oder ex post aussagen, oder durch die Verantwortungszuschreibung durch andere. Die Rede Wer trägt welche Verantwortung? ist daher verkürzt: die Zuschreibung von Verantwortung stellt selbst eine Handlung dar, welche unter Zwecken und rela22 23 24 25

Armin Grunwald, Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen, 2008, Kap. 10 M. Groß / H. Hoffmann-Riem / W. Krohn, Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft, 2005 Basierend auf Armin Grunwald, Verantwortungsbegriff und Verantwortungsethik, in: Rationale Technikfolgenbeurteilung, hg. v. A. Grunwald, 1999, 172–195 Ibid.

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

115

tiv zu Zuschreibungsregeln erfolgt.26 Diese Zuschreibungsregeln sind selbst rechtfertigungspflichtig, indem sie z. B. den Kreis der verantwortungsfähigen Individuen abgrenzen und Kriterien angeben, welche Voraussetzungen Individuen erfüllen müssen, um zur Verantwortung gezogen werden zu können, oder auch, welche Wissensbestände vorhanden sein müssen, um Verantwortungszuschreibung zu erlauben. Ein Verständnis des Verantwortungsbegriffs als Zuschreibungsbegriff hat Folgen. Aus Gründen pragmatischer Konsistenz, eines der Grundprinzipien praktischer Rationalität27, müssen rationale Akteure, die bestimmten Personen oder Gruppen eine spezifische Verantwortung zuschreiben, darauf achten, ob diese die zugeschriebene Verantwortung auch faktisch wahrnehmen können. Wenn nicht, würde die Zuschreibung ins Leere laufen und bliebe belanglos, ohne dass den Akteuren, denen die Verantwortung zugeschrieben worden war, daraus ein Vorwurf gemacht werden könnte. Wenn die die Verantwortung zuschreibenden Akteure nun selbst in der Lage wären, die Bedingungen zu beeinflussen oder zu schaffen, unter denen die Übernahme von Verantwortung praktisch möglich ist, kann das Argument der pragmatischen Konsistenz dahingehend verschärft werden, dass diese Akteure damit eine Selbstverpflichtung eingehen, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die verantwortlich gemachten Akteure ihrer Verantwortung auch gerecht werden können. Die Verpflichtung Anderer geht logisch – jedenfalls unter dem Anspruch praktischer Rationalität – einher mit der Selbstverpflichtung, adäquate Bedingungen zu schaffen. Dieses kann ein starkes Argument sein, vor allem, wenn die Verantwortung abstrakt von ‚der Gesellschaft‘ zugeschrieben wird. Der Verantwortungsbegriff muss als zumindest dreistelliger Begriff rekonstruiert werden28: jemand (ein Verantwortungssubjekt) verantwortet etwas (bereits eingetretene oder erst erwartete Handlungsresultate als Objekt der Verantwortung) vor einer Instanz (einer Person, einer Institution etc.). Die moralische Dimension erschließt sich jedoch erst in der Rekonstruktion des Verantwortungsbegriffs als vierstellig, wenn nämlich gefragt wird, relativ zu welchen Regelsystemen Verantwortung übernommen werden soll. Diese Regeln stellen den normativen Rahmen für die Beurteilung von Handlungen als verantwortbar dar. Für das Weitere, und dies wird sich als „wissenschaftsadäquat“ erweisen, ist darüber hinaus eine fünfstellige Rekonstruktion angemessen: jemand ist verantwortlich für etwas vor einer Instanz relativ zu einem Regelwerk und relativ zu einem Wissensstand. Der Bezug auf einen Stand verfügbaren Wissens ist in Fragen prospektiver Verantwortung, um die es in den Debatten um wissenschaftliche Verantwortung geht, unverzichtbar. Extreme Positionen wie die, dass aufgrund der Unsicherheit des Folgenwissens das Objekt der Verantwortung komplett verschwinde29, sind genauso wenig haltbar wie Hoffnungen einlösbar sind, auch bloß denkmögliche Entwicklungen – die also nicht durch ein verfügbares Wissen gedeckt sind – mittels der Verantwortungsethik zu behandeln.30 Der Hinweis, dass aus „mere possibility arguments“

26 27 28 29 30

Vgl. dazu auch Jonas (Fn. 2), 173 Nicholas Rescher, Rationality, 1988 Oswald Schwemmer, Verantwortung, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. J. Mittelstraß, 1996, 499–501 Bechmann (Fn. 15) Jonas (Fn. 2)

116

Armin Grunwald

nichts weiter folge31, verweist darauf, dass in Verantwortungsdebatten der Stand des verfügbaren Wissens über die zu verantwortenden Zukünfte erhoben und unter epistemologischen Aspekten kritisch reflektiert werden muss. In Bezug auf weit reichende Zukunftsfragen, die nur unter hoher Unsicherheit beurteilt werden können wie in der Synthetischen Biologie (Kap. 4), kommt es gerade auf die Relation zwischen dem verfügbaren Wissen – dem, was „auf dem Spiel“ steht – und den normativen Kriterien für Verantwortung und Verantwortbarkeit an. Zur Synthetischen Biologie wurde dies – wohl unbeabsichtigt – auf den Punkt gebracht: „Fifty years from now, synthetic biology will be as pervasive and transformative as is electronics today. And as with that technology, the applications and impacts are impossible to predict in the field’s nascent stages. Nevertheless, the decisions we make now will have enormous impact on the shape of this future.“32

Danach haben die heutigen Entscheidungen weit reichenden, wenn nicht dominierenden Einfluss auf die zukünftigen Entwicklungen – aber wir wissen nicht, welchen. Damit wird evidenterweise jede Verantwortung obsolet: das, was überhaupt nicht gewusst werden kann, kann auch nicht verantwortet werden. Im Zusammenhang mit der Verantwortungsfrage der Wissenschaften ist also immer auch die epistemologische Frage nach der Qualität des Wissens über die Folgen zu stellen, um deren Verantwortbarkeit es geht. 3.2

GOVERNANCE

UND ARBEITSTEILIGE

VERANTWORTUNG

Die Einführung des Verantwortungsbegriffs über Zuschreibungen (s. o.) und die Verweise auf Konsistenzanforderungen praktischer Rationalität haben gezeigt, dass Verantwortung immer in einem sozialen Kontext verortet werden muss – anderenfalls droht die in Kap. 2 erwähnte Gefahr der reinen Rhetorik. Es kommt darauf an, in einem gesellschaftlichen Kontext Zuständigkeiten, Kompetenzen, Eingriffsmöglichkeiten und eben Zuschreibungen zu identifizieren oder zu vereinbaren, die eine transparente Verantwortungsverteilung erlauben – und die mittels Forderungen der praktischen Rationalität dann auch Folgen für das Handeln haben, also über bloße Rhetorik hinausgehen. Bestimmte, besonders in der öffentlichen, aber auch teils in der ethischen Debatte verbreitete Strukturen der Verantwortungszuschreibung erscheinen vor diesem Hintergrund unterkomplex, wenn nicht gar naiv. Oft wird gefordert, dass Wissenschaftler die Folgen ihres Handelns in der Weise einer kompletten Wissenschaftsund Technikfolgenbeurteilung reflektieren sollen, verbunden mit der impliziten Hoffnung, dass, wenn Wissenschaftler umfassend die Folge des eigenen Handelns einschätzen, diese verantwortlich beurteilen und entsprechend handeln würden, negative, nicht intendierte Folgen weitgehend oder komplett vermieden werden könnten. Diese Erwartungen scheitern an den beiden genannten Aspekten: sie werden 31 32

S. O. Hansson, Great Uncertainty about small Things, in: Nanotechnology Challenges – Implications for Philosophy, Ethics and Society, hg. V. J Schummer / D. Baird, 2006, 315–325 Ilulissat Statement, Synthesizing the Future. A vision for the convergence of synthetic biology and nanotechnology. Views that emerged from the Kavli Futures Symposium „The merging of bio and nano: towards cyborg cells“, 11–15 June 2007, 2008, 2

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

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der Einbettung wissenschaftlichen Handelns in eine demokratische Gesellschaft nicht gerecht und verkennen die Wissens- und Beurteilungsprobleme. Denn Folgenbeurteilungen, auf denen eine Verantwortungszuschreibung aufruhen müsste, sind gekennzeichnet durch - gesellschaftlichen Beratungsbedarf: Die aufgeworfenen Folgenüberlegungen33 können (oder sollen) in operativer Hinsicht Einfluss auf staatliche Forschungsförderung und Wissenschafts- sowie Technologiepolitik haben oder im Rahmen einer Kontextsteuerung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung durch Gesetzgebung, Rechtsprechung oder ökonomische Mittel eingesetzt werden. Deren Beurteilung – wie sollen weit reichende Folgen der Wissenschaften auf Wünschbarkeit oder Zumutbarkeit hin beurteilt werden – übersteigt Mandat und Kompetenz der diese Fragen aufwerfenden Wissenschaften. Simplifizierte Verantwortungszuschreibung an die Wissenschaften in dem oben erwähnten Sinne eines Verantwortungsidealismus oder gar „moralischer Helden“34 würde dieser Dimension nicht gerecht. - Notwendigkeit einer Systemperspektive auf die Folgendimensionen, verbunden mit dem Problem der Antizipation und Beurteilung unsicherer Zukünfte: Systemische Rückkopplungen, Fernwirkungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, das Fehlen gesellschaftlicher Kausalverhältnisse etc. erschweren Folgenaussagen, auf die konkrete Verantwortungszuschreibungen gegründet werden können, ganz erheblich. Weder individuelle Wissenschaftler noch Disziplinen können allein diese Fragen Erfolg versprechend bearbeiten. Stattdessen ist in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft Verantwortung nur als arbeitsteilig organisiert vorstellbar. Für die Wissenschaften heißt dies zunächst, dass in Verantwortungsfragen vielfach nur interdisziplinäre Kooperation sinnvoll ist. Denn das Wissen der neues technisches Wissen bereitstellenden Disziplinen wie der Synthetischen Biologie ist notwendig, aber nicht hinreichend. Hinzukommen müssen Wissensbestände reflexiver Disziplinen, die den Umgang mit diesen Wissensbeständen untersuchen, wie Sozialwissenschaften, Recht und Philosophie. Aber auch dies reicht nicht, da diese Verantwortungszuschreibungen und -übernahmen immer in einer demokratischen Gesellschaft stattfinden, in der es Mitspracherechte von Bürgern und zivilgesellschaftlichen Akteuren gibt. Daher wird die Arbeitsteiligkeit der Verantwortung zu einem transdisziplinären Governance-Problem – und damit zu einem völligen Gegenteil individualistisch geprägter Verantwortungskonzepte. 3.3 WISSENSCHAFTSADÄQUATE VERANTWORTUNG Durch diese Überlegungen hat sich zweierlei klar gezeigt. Zum einen dürfen Fragen der Zuschreibung von Verantwortung generell nicht individualistisch verengt gestellt und beantwortet werden. Stattdessen bedarf es der Einbettung in die umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der Beachtung der Governance-Strukturen und 33 34

Für das Fallbeispiel der Synthetischen Biologie z. B. J. Boldt / O. Müller / G. Maio, Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, 2009 Kenneth D. Alpern, Ingenieure als moralische Helden, in: Technik und Ethik, hg. v. H. Lenk / G. Ropohl, 2009, 177–193

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Armin Grunwald

der Rücksicht auf Mitspracherechte und demokratische Beteiligungsansprüche. Zum anderen muss in Verantwortungszuschreibungen auf die Wissensstrukturen, Wissensprobleme und Kompetenzen der Beteiligten Rücksicht genommen werden. Verantwortungszuschreibung stellt sich auf diese Weise als komplexes, die Reichweite philosophischer Ethik weit übersteigendes Unterfangen heraus. In Fragen der prospektiven Verantwortung der Wissenschaften stellen sich also Herausforderungen in drei Dimensionen: a) epistemologische Dimension: was wird gewusst, was kann gewusst werden, welche Unsicherheiten bestehen fort, wie können sie qualifiziert werden und was steht im Falle des Falles auf dem Spiel? b) ethische Dimension: können die in Frage stehenden Handlungen, z. B. wissenschaftliche Entwicklungen, gerechtfertigt werden, unter welchen Bedingungen können sie dies, welche ethischen Reflexions- und Argumentationsmuster sind einschlägig etc.? c) politische Dimension: wie soll Verantwortung verteilt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen sind betroffen und sollen über die Verantwortungsverteilung mitentscheiden, handelt es sich um Fragen, die die „Polis“ betreffen oder können sie an Gruppen oder Teilsysteme delegiert werden? Häufig werden Verantwortungsdebatten auf die Ebene (b) beschränkt und ausschließlich im Rahmen der Verantwortungsethik behandelt. Resultat sind die bekannten und teils oben genannten Vorwürfe des bloß Appellativen, der epistemologischen Blindheit und der politischen Naivität. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass Verantwortungsfragen im Bereich der Wissenschaft unabdingbar in sämtlichen hier angeführten Dimensionen zu betrachten sind und gerade dadurch ihre Spezifik gewinnen – spezifische Probleme, aber auch ihren spezifischen Reiz. 4

FALLBEISPIEL SYNTHETISCHE BIOLOGIE

Die Synthetische Biologie ist ein junges Feld, erwachsen zum einen aus der Molekularbiologie, zum anderen aus der Systembiologie und unter Verwendung von Methoden der Nanobiotechnologie. Seit dem Jahre 2006 gibt es dort eine Kontroverse um Verantwortungszuschreibungen.35 4.1 KURZE EINFÜHRUNG Die Synthetische Biologie kann als eine Fortführung der Molekularbiologie mit nanotechnologischen Mitteln unter einem systembiologischen Blickwinkel aufgefasst werden. Erkenntnisse der Nanobiotechnologie können genutzt werden, um neue Funktionalitäten lebender Systeme durch Modifikationen von natürlichen Biomolekülen, durch Modifikationen am Design von Zellen oder durch das Design von künstlichen Zellen zu erzeugen. Charakteristisch ist in allen Definitionen der Synthetischen Biologie die Hinwendung zu künstlichen Formen des Lebens, entweder neu

35

S. Grunwald, Auf dem Weg (Fn. 22), Kap. 8

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

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konstruiert oder durch Umgestaltung existierenden Lebens erzeugt, verbunden mit teils noch sehr diffusen Hoffnungen auf eine technologische Nutzbarkeit. Der Ausgangspunkt der Synthetischen Biologie ist, Einheiten lebender Systeme als komplexe technische Zusammenhänge zu modellieren. Mittels eines technomorphen Blicks auf das Leben36, der sich in Übertragungen von Wortverwendungen aus Maschinenbau und Elektrotechnik auf Teile lebender Systeme zeigt wie z. B. Rotoren, Pumpen, Schaltpläne, Informationsübertragung oder Kopieren, werden die Funktionszusammenhänge des Lebens in einfachere technische Zusammenhänge zerlegt.37 Wäre diese sozusagen noch eine analytisch-technische Biologie, so wird sie zu einer synthetischen dann, wenn das Wissen um einzelne Vorgänge des Lebens so kombiniert und genutzt wird, dass im Ergebnis bestimmte erwünschte Eigenschaften an lebenden Systemen gezielt realisiert werden können: „Seen from the perspective of synthetic biology, nature is a blank space to be filled with whatever we wish.“38 Auf diese Weise wird die Grenze zwischen technisch verändernden Eingriffen in Lebewesen und ihrer technischen Erzeugung fließend. In der Synthetischen Biologie wird der Mensch vom Veränderer des Vorhandenen zum Schöpfer von Neuem, jedenfalls nach den Zukunftsvisionen einiger Biologen: „In fact, if synthetic biology as an activity of creation differs from genetic engineering as a manipulative approach, the Baconian homo faber will turn into a creator.“39 Das traditionelle, naturwissenschaftlich geprägte Selbstverständnis der Biologie, das auf ein Verstehen der Lebensvorgänge zielt, wird in der Synthetischen Biologie zu einer Neukonstruktion von Natur auf der Basis des Wissens über das ‚natürliche‘ Leben. Diese „technische“ Perspektive auf das Leben ist nicht komplett neu, sondern vorbereitet durch eine lange Geschichte technischer Eingriffe in lebende Systeme und in den Gang der Evolution, die zur Wortprägung der „Biofakte“ geführt hat.40 Neu sind jedoch der Anspruch, in nicht allzu ferner Zukunft aus nicht lebenden Bestandteilen wie organischen Molekülen Einheiten herzustellen, die lebenstypische Eigenschaften aufweisen wie Stoffwechsel und Reproduktion, sowie die mit diesem Anspruch verbundene Reichweite menschlichen Handelns. Wenn das gelingt, stellen sich Fragen nach Verantwortung in den Dimensionen „biosafety“ und „biosecurity“41 sowie nach dem Verhältnis von Leben und Technik angesichts der überwindbar werdenden Grenzen.

36

37 38 39 40 41

Armin Grunwald, Bionik: Naturnahe Technik oder technisierte Natur, in: Der Mensch als Vorbild, Partner und Patient von Robotern. Bionik an der Schnittstelle Mensch-Maschine, hg. v. M. Müller, 2009, 15–34 Huib de Vriend, Constructing Life. Early social reflections on the emerging field of synthetic biology, 2006 J. Boldt / O. Müller, Newtons of the leaves of grass, Nature Biotechnology 26 (2008), 387–389, hier: 388 Ibid. Nicole C. Karafyllis, Biofakte. Grundlagen, Probleme und Perspektiven, Erwägen Wissen Ethik 17 (2006), 547–558 De Vriend (Fn. 37)

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Armin Grunwald

4.2 DIE VERANTWORTUNGSFRAGE Die Verantwortungsfrage zur Synthetischen Biologie ist angesichts des frühen Entwicklungsstandes vor allem eine Frage nach der Verantwortung und Verantwortbarkeit des weiteren Forschungsprozesses; es geht noch nicht um marktgängige Produkte. Sie umfasst die Frage nach Sicherheitsstrategien, dem Vorsorgeprinzip und Formen des „Containment“, wie sie aus der Geschichte der Gentechnik vertraut sind.42 Besteht soweit wohl weitgehende Einigkeit, so beginnt die Kontroverse jedoch bereits dann, wenn gefragt wird, was diese Feststellung konkret bedeutet, an wen sie sich richtet, für wen sie Folgen in Bezug auf Rechte und Pflichten hat, wie Kontrollmöglichkeiten und Mit- oder gar Einspruchsrechte verteilt sind und für wen Einschränkungen oder Belastungen resultieren könnten. Während man sich über Verantwortung auf der Ebene von Sonntagsreden meist schnell einigen kann, wird es prekär beim Blick auf die Konsequenzen für die Praxis. Mit der Synthetischen Biologie werden Erwartungen verbunden und Risiken produziert, in Kauf genommen, verhindert, anderen zugemutet etc. Die Verantwortungsbegrifflichkeit führt auf die Frage, wer dies warum und mit welcher Legitimation tut oder tun darf. Dabei kommt erschwerend das hohe Maß an Unsicherheit hinzu, mit dem zurzeit über Chancen und Risiken geredet werden muss und das die Debatte über Risiken, die mittels dem vertrauten Risikomanagement zu behandeln wären43, zu einer Debatte über unklare Risiken, in der nicht einmal klar ist, ob und in welcher Form es die Risiken gibt44, und in der keine Mechanismen existieren, die Risiken mit den Chancen nach anerkannten Verfahren z. B. der Kosten/NutzenAnalyse abzuwägen. Im Folgenden soll mit der „wissenschaftsadäquaten“ Rekonstruktion des Verantwortungsbegriffs gearbeitet werden (Kap. 3.1). Interessanterweise gibt es zu einigen Punkten dieses Begriffs Kontroversen, zu anderen nicht: - unkontrovers ist, dass das Objekt der Verantwortung in den Folgen der Entwicklung der Synthetischen Biologie liegt; - Kontroversen gibt es gleichwohl dazu, welche denn genau die Folgen sein werden. Auf das Problem der Unsicherheit des Folgenwissens wurde bereits mehrfach hingewiesen (Kap. 2). Es drückt sich vor allem darin aus, welche Risiken jenseits der möglichen Risiken gentechnisch veränderter Organismen involviert sein könnten. Die Relativierung des Verantwortungsbegriffs zum Wissensstand macht sich hier deutlich bemerkbar.45 - wenig kontrovers bzw. wenig überraschend sind zumeist die Positionen zu Instanz und Regelwerk der Verantwortung. Als Instanz wird üblicherweise „die Gesellschaft“ verstanden. Das zugrunde gelegte Regelwerk ist im Detail zwar unterschiedlich, so z. B. ob ein starkes oder schwaches Vorsorgeprinzip gelten solle46, hierbei handelt es sich jedoch um vertraute Gegenüberstellungen. 42

43 44 45 46

René von Schomberg, Die normativen Dimensionen des Vorsorgeprinzips, in: Risikoregulierung bei unsicherem Wissen: Diskurse und Lösungsansätze. Diskussionspapier des Büros für Technikfolgen-Abschätzung, hg. v. L. Hennen / R. Meyer / A. Sauter, 2005, 92–126 Ibid. Grunwald, Auf dem Weg (Fn. 22), Kap. 8 Vgl. auch das Zitat aus dem Illulissat-Statement (Fn. 32) in Kap. 3.1 Andreas Bachmann, Nanobiotechnologie. Eine ethische Auslegeordnung, 2006

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

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Die Hauptkontroverse jedoch, und das mag für manchen durchaus überraschend sein, wird um das Subjekt der Verantwortung ausgetragen. Auf der zweiten weltweiten Konferenz der Synthetischen Biologie (2006) wurde der Vergleich mit Asilomar bemüht und eine Erklärung zur Verantwortung der Biologen verabschiedet – wohlgemerkt, von diesen selbst, die sich dadurch selbst zum Subjekt der Verantwortung machen wollten. Die Erklärung bezieht sich allerdings nur auf den möglichen Missbrauch, vor allem durch Terroristen, und den militärischen Einsatz synthetischer Biologie und stellt für diesbezügliche Möglichkeiten eine Reihe von Selbstverpflichtungen auf, die vor allem der Sicherstellung der Vertrauenswürdigkeit der Weitergabe von Wissen und biotischen Materialien gewidmet sind.47 Anlässlich der gleichen Konferenz haben 35 Nichtregierungsorganisationen einen gemeinsamen Brief in dieser Sache verfasst, in dem sie sich genau gegen diese Beschränkung der Verantwortungsfrage auf die Verhinderung möglichen Missbrauchs von Ergebnissen der Synthetischen Biologie wenden: „Moreover, the social, economic, ethical, environmental, and human rights concerns that arise from the field of synthetic biology go far beyond deterring bioterrorists and ‚evildoers‘. Issues of ownership (including intellectual property), direction and control of the science, technology, processes and products must also be thoroughly considered. Society – especially social movements and marginalized peoples – must be fully engaged in designing and directing dialogue on the governance of synthetic biology. Because of the potential power and scope of this field, discussions and decisions concerning these technologies must take place in an accessible way (including physically accessible) at local, national and global levels. In the absence of effective regulation it is understandable that scientists are seeking to establish best practices but the real solution is for them to join with society to demand broad public oversight and governmental action to ensure social wellbeing.“48

Der gesamte Brief ist gekennzeichnet durch49 tiefes Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher Selbststeuerung und Selbstverpflichtungen. Die freiwillige Verantwortungsübernahme durch Wissenschaftler sei undemokratisch und paternalistisch, da Wissenschaftler in derart weit reichenden Fragen nicht „in eigener Sache“ entscheiden dürften. Stattdessen sei die Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen in Dialoge über die Agenda und Ausrichtung der Forschung und den Umgang mit möglichen gesellschaftlichen Folgen erforderlich, womit ein zivilgesellschaftlicher Mitgestaltungsanspruch erhoben wird, wie er auch in der Debatte zu neuen Formen der Governance der Wissenschaften zu finden ist.50 Der benannte Konflikt betrifft das Subjekt der Verantwortung und damit die Verteilung von Verantwortlichkeiten für den weiteren Forschungsprozess. Welchen Einfluss haben Wissenschaftler, Öffentlichkeit, Staat oder noch weitere gesellschaftliche Akteure oder Bereiche auf den weiteren Gang der Dinge in der Synthetischen Biologie, welche Einfluss beanspruchen sie, wo kommt es zu Konflikten zwischen den divergierenden Ansprüchen und wie können diese Konflikte bewältigt werden? Wie sollen entsprechend Zuständigkeiten und damit auch Verantwortlichkeiten und Kontrollmöglichkeiten verteilt werden? Angesichts dieser Fragen wird unmittelbar 47 48 49 50

Declaration, 2006 (unter: http://syntheticbiology.org/SB2Declaration.html) ETC-Group, Open Letter: Global Coalition Sounds the Alarm on Synthetic Biology, 2006 (unter: www. etcgroup.org) Nach Grunwald, Auf dem Weg (Fn. 22), Kap. 8b Z. B. Siune et al. (Fn. 7), Kap. 4

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die Brisanz der Verantwortungsfrage klar, wenn sie nicht bloß in abstrakter Ferne von den Akteuren geführt wird: je nachdem, wie Verantwortungszuschreibungen erfolgen, haben diese Einfluss auf die „Governance“ des weiteren Forschungsprozesses der Synthetischen Biologie, bis hin zu Fragen von Macht und Kontrolle. 4.3 ZUR VERANTWORTUNGSVERTEILUNG Synthetische Biologen sind Experten für Synthetische Biologie, nicht für mögliche gesellschaftliche Folgen ihres Handelns und auch nicht für die Frage der Akzeptabilität unklarer Risiken und den Umgang mit ihnen. Vor einem unreflektierten Verantwortungsoptimismus ist im Lichte eines wissenschaftsadäquaten Verantwortungsbegriffs daher zu warnen, sowohl wenn Biologen sich selbst unter diese Erwartungen stellen als auch wenn sie seitens der Gesellschaft darauf verpflichtet werden sollen. Diese einschränkenden Bemerkungen führen jedoch nicht dazu, die Synthetische Biologie von Verantwortung freizustellen. Dadurch, dass sie nun einmal Experten in ihrem Feld sind, und zwar die einzigen Experten, erwachsen Verpflichtungen, sich mittels dieses Expertenwissens in die gesellschaftlichen Prozesse der „Verarbeitung“ der Herausforderungen durch Synthetische Biologie einzubringen. Insbesondere ist von ihr berechtigterweise eine transparente Information der Öffentlichkeit zu erwarten. Dies sicher insbesondere in Fällen möglicherweise bedenklicher Entwicklungen, zu denen dann seitens der Gesellschaft eventuell Prozesse der ethischen Reflexion oder der Technikfolgenabschätzung in Gang gesetzt werden könnten, um das Problem systematisch zu analysieren und zu beurteilen, aber auch generell, wenn es um die Gestaltung der wissenschaftlichen Agenda geht. Diese spezifische Verantwortung im Bereich der frühzeitigen Informationsbereitstellung ist darin begründet, dass Wissenschaftler durch besondere kognitive Kompetenz für ihren Bereich ausgezeichnet sind und bestimmte Informationen zuerst zur Verfügung haben. Zu dieser Verantwortung gehört auch die Mitwirkung an interdisziplinären und gesellschaftlichen Dialogen sowie in der Politikberatung. Wissenschaft einschließlich der Synthetischen Biologie ist Teil der Gesellschaft und nicht etwas ihr Äußeres. Daher ist sie gefragt, ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren und aktiv in den verschiedenen Facetten zu übernehmen. Standesethos oder Selbstverpflichtungserklärungen können sicher in vielen Situationen nützlich und wertvoll sein: „A code of ethics and standards should emerge for biological engineering as it has done for other engineering disciplines.“51 Sie ersetzen aber weder ethische Reflexion noch demokratische Meinungsbildung. Dies gilt insbesondere angesichts der durch die Entwicklungen in der Synthetischen Biologie in den Blick geratenden neuen Möglichkeiten in Bezug auf technisch veränderte oder neu erzeugte Lebensformen sowie die dadurch involvierten höheren Vorsorgelasten.52 Hier wird es in Zukunft darum gehen, das Vorsorgeprinzip zu operationalisieren, etwa durch geeignete Containment-Strategien nach dem Vorbild der Entwicklungen in der Gentechnik53, die Schritt für Schritt durch systematische Fol51 52 53

George Church, Let us go forth and safely multiply, Nature 438 (2005), 423 Nach Grunwald, Auf dem Weg (Fn. 22), Kap. 8.3.3 Von Schomberg (Fn. 42)

Verantwortung der Wissenschaften – Rückzug aufs Objektive?

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genuntersuchungen den Wissensbestand über Risiken ausweiten und auf diese Weise das zunächst ‚unklare‘ Risiko zu einem Risiko im Sinne des klassischen Risikomanagements transformieren. Hierfür sind sowohl verantwortliche Wissenschaftler gefragt, aber auch die interessierte, Aufklärung erwartende und Beteiligungsansprüche anmeldende demokratische Öffentlichkeit. Staatliche Maßnahmen müssen sicher nicht gleich in Form von Regulierungen umgesetzt werden, sondern könnten sich z. B. als eine systematische Bebachtung der weiteren Entwicklung in der Synthetischen Biologie im Rahmen der Technikfolgenabschätzung ausdrücken, begleitet durch philosophische Deutungen der jeweils entstehenden Risiko- und Chancensituationen in Bezug auf involvierte normative Rahmen und durch ethische Reflexion. Damit stellt sich heraus, dass Verantwortung für die Synthetische Biologie nur arbeitsteilig getragen werden kann. Die Synthetische Biologie hat in diesem Konzert der Verantwortungsträger einen besonderen Platz, weil ihr Wissen durch andere Beteiligte nicht ersetzt werden kann. Sie spielt jedoch nur ein Instrument unter vielen. Andere Beteiligte sind zum einen weitere Wissenschaften wie die Governance-Forschung, die Wissenschaftsforschung, Ethik und Technikfolgenabschätzung, Risikoforschung und, sobald die Entwicklung soweit ist, auch Innovationsforschung. Das Konzert der Verantwortungsträger ist damit zumindest ein interdisziplinäres Konzert. Die involvierte demokratische Dimension führt dazu, dass dieses Konzert darüber hinaus auch transdisziplinär sein muss. Beteiligungsansprüche von Bürgern und Initiativen von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen regen die gesellschaftliche Deliberation an. Medien transportieren diese Debatten in eine größere Öffentlichkeit. Akademien und Stiftungen, aber auch politische Institutionen sollten diese Deliberation unterstützen, zumindest in einem pragmatistischen Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit.54 5

SCHLUSSFOLGERUNGEN

In der Debatte um Verantwortung der Wissenschaft sind die Zuschreibungsregeln und ihre Grundlagen zentral. Verantwortungszuschreibung ist eine gesellschaftliche, teils politische, keine ethische Aufgabe. Ethik kann hier nur einen Teil der erforderlichen Leistungen einbringen, indem sie über die ‚Verantwortbarkeit’ und ihre Bedingungen reflektiert. Hinzukommen muss die Einbettung in die relevanten gesellschaftlichen, in die Polis betreffenden Fragen auch in die demokratischen Kontexte und Governance- und auch Wissensstrukturen. Insofern es sich in weit reichenden Fragen wie in der Synthetischen Biologie, z. B. nach „biosafety“ und „biosecurity“ fraglos um polisrelevante Angelegenheiten handelt, ist die Beachtung der demokratischen Dimension und der Beteiligungsansprüche zwingend. Auch in Bezug auf die Gestaltung der wissenschaftlichen Agenda gilt dies. Wenn die erheblichen Probleme des Wissens, d. h. der hohen involvierten Unsicherheiten der für Verantwortungszuschreibungen zentralen Folgenüberlegungen hinzugenommen werden, wird die ganze Komplexität des Problems sichtbar.

54

Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, hg. v. J. Habermas, 1968, 120–145

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Angesichts dieser Situation und eines „wissenschaftsadäquaten Verantwortungsbegriffs“ ist ersichtlich, dass wissenschaftliche Verantwortungsübernahme mit einem „Rückzug aufs Objektive“, um an die Einleitung anzuknüpfen, nichts zu tun haben darf. Zwar ist aus den Verlautbarungen der Politik herauszuhören, dass sie diese eine und objektive Stimme der Wissenschaft zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen sehnsüchtig erwartet, wohl, damit diese der Kakophonie widerstreitender Positionen ein Ende bereitet. Es wird eine solche Stimme aus mehreren Gründen jedoch nicht geben, weder (a) geben können noch (b) geben dürfen. In Bezug auf (a) ist an die inhärente Diversität der wissenschaftlichen Disziplinen zu erinnern. Wenn die eine Stimme der Wissenschaft nicht nur eine Sammlung von disziplinären Einzelstimmen, sondern eine integrative Stimme sein soll, ist ein „Streit der Fakultäten“ auszutragen, vielleicht nicht als Machtkampf, aber um die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven einschließlich ihrer „blinden Flecke‘“ in die Meinungsbildung einzubringen: eine Herkulesaufgabe, wie jeder weiß, der in interdisziplinären Gruppen mitgearbeitet hat. Plurale Werthaltungen, Menschenbilder, gesellschaftliche Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwürfe haben ihren Platz keineswegs nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in den Wissenschaften. Wissenschaftler(innen) bilden nicht eine nur der Wahrheit verpflichtete und erkenntnisorientierte scientific community, sondern auch eine in vielerlei Hinsicht ganz normale Teilmenge der gesellschaftlichen Pluralität: Es finden sich auch dort risikoscheue und risikobereite, fortschrittsoptimistische und kulturpessimistische, moralisch konservative und eher libertäre Einschätzungen sowie „rechte“ und „linke“ politische Positionen, verbunden mit den gleichen Konfliktpotentialen wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Angesichts der notwendigerweise sozialen Einbettung von Verantwortungszuschreibungen und der erheblichen Wissens- und Unsicherheitsprobleme ist es eine Illusion, hier auf „Objektivität“ im Sinne einer von gesellschaftlichen Verhaltungen unabhängigen Privilegierung einer einzelnen Position zu setzen, weil es diese nicht geben wird. In Bezug auf (b) ist an normative demokratietheoretische Vorstellungen zu erinnern. Entscheidungen über wissenschaftliche Entwicklungen und Zukunftstechnologien sind nie nur Entscheidungen über technische Mittel, sondern auch über gesellschaftliche Entwicklungspfade, über ökonomische Konstellationen oder häufig auch über Gewinner und Verlierer. Fragen dieser Art dürfen nicht technokratisch an Expertenzirkel delegiert werden, auch nicht im Mantel einer Verantwortungszuschreibung. Die Verantwortung der Experten besteht zwar in besonderen Hinsichten (vgl. Kap. 4.3 in Bezug auf die Synthetische Biologie), sie ist aber immer als Teil einer arbeitsteiligen Verantwortungsverteilung in einem demokratischen Rahmen zu denken.

VOLKER HAAS, HEIDELBERG ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT – WIE KANN STRAFRECHTLICH ZUR VERANTWORTUNG ZIEHEN? 1

MAN

KOLLEKTIVE

EINLEITUNG

Das Rechtsproblem einer strafrechtlichen Verantwortung von juristischen Personen steht schon seit vielen Jahren wieder auf der Tagesordnung. Die Mitte des 19. Jahrhunderts von Ziegler gestellte Diagnose, dass diese Streitfrage mehr von theoretischem, denn von praktischem Interesse sei,1 hat längst ihre Gültigkeit verloren. Die Gründe dafür liegen in der Wirtschafts- und Umweltkriminalität, bei der Konzerne und Unternehmen involviert sind, denen zumindest in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine zunehmende Macht attribuiert wird, und zugleich in der Einschätzung, dass die bisherigen Instrumentarien für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung nicht auszureichen scheinen. Freilich ist diese Einschätzung keineswegs selbstverständlich: Denn wenn auch nach geltendem deutschen Recht juristische Personen nicht im eigentlichen Sinne strafbar sind, so kann doch immerhin gegen sie gemäß § 73 StGB der Verfall dessen angeordnet werden, was sie aus den rechtswidrigen Taten ihrer Vertreter erlangt haben (Drittverfall). Unter den Voraussetzungen des § 75 StGB ist des Weiteren eine Einziehung zulässig. Schließlich kann nach § 30 OWiG gegen juristische Personen eine Geldbuße verhängt werden, wenn der Vertreter einer juristischen Person oder Personenvereinigung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, durch die Pflichten, welche die juristische Person oder Personenvereinigung treffen, verletzt wurden. Die Vorschrift hat aufgrund der Stellvertreterhaftung des § 14 StGB und § 9 OWiG einen großen Anwendungsbereich. Die Geldbuße, die zugleich eine Abschöpfungsfunktion hat, kann auch selbständig festgesetzt werden, wenn wegen der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ein Straf- oder Bußgeldverfahren nicht eingeleitet oder eingestellt wird. Was die Möglichkeit anbetrifft, gegen die beteiligten Einzelpersonen strafrechtlich vorzugehen, wird vielfach auf das Phänomen der organisierten Unverantwortlichkeit hingewiesen, also auf den Umstand, dass es angesichts komplexer Organisationsstrukturen und arbeitsteiliger Entscheidungs- und Produktionsprozesse oftmals schwierig sein wird, einen konkreten Täter zu ermitteln, der die rechtswidrige Tat vorsätzlich und schuldhaft begangen hat.2 Die fehlende Festlegung konkreter Verantwortlichkeiten innerhalb des Unternehmens kann dazu führen, dass die unmittelbare Tatausführung, die Entscheidungsmacht sowie das notwendige Wissen auf verschiedene Personen verteilt werden. Zu beachten ist allerdings, dass die Schwierigkeit, eine konkrete Anknüpfungstat zu ermitteln, eine Rückwirkung auf die Möglichkeit haben könnte, gegen den Verband als solchen vorzugehen. Im Folgenden soll jedoch ohnehin nicht die kriminalpolitische Frage der Bestrafungsbedürftigkeit von Verbänden im Vordergrund stehen, vielmehr soll die Legiti1 2

Ziegler, Die Verbrechensunfähigkeit juristischer Personen, 1852, 1 Nachw. bei Quante, Sanktionsmöglichkeiten gegen juristische Personen und Personenvereinigungen, 2005, 76 ff.

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Volker Haas

mität einer möglichen strafrechtlichen Haftung untersucht werden, die sich im common law, aber auch in einigen Staaten des europäischen Kontinents etabliert hat.3 Es stellt sich freilich die Schwierigkeit, ob es sich bei diesem Vorhaben überhaupt um eine rechtsphilosophische Reflexion handelt. Als theoretische Disziplin befasst sich die Rechtsphilosophie mit dem begrifflichen und methodischen Instrumentarium der Rechtswissenschaft, als praktische Disziplin trägt sie zur Formulierung neuer normativer Prämissen bei, die möglicherweise das Recht ganz oder in Teilbereichen auf ein neues normatives Fundament stellen. Man mag bezweifeln, ob der Untersuchungsgegenstand dieses Vortrags sich in dieses Raster einfügt. Liegt doch die Annahme nahe, dass die Antwort auf die Frage nach der strafrechtlichen Sanktionierung juristischer Personen innerhalb des anerkannten rechtlichen Rahmens gefunden werden kann. Und so ist es sicherlich kein Zufall, dass die bisherige ausführliche Debatte fast ausnahmslos fachspezifisch geführt wurde, und das heißt: strafrechtsdogmatisch bzw. verfassungsrechtlich. Bevor die Abhandlung die damit verbundenen Fragestellungen aufgreift, soll jedoch zunächst die Thematik geschichtlich beleuchtet werden. 2

ZUR GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG VERBANDSSANKTION

VON

THEORIE

UND

PRAXIS

DER

Die naturrechtliche Tradition des 17. bis 18. Jahrhunderts hat die Strafbarkeit von Korporationen oder Gemeinheiten fast ausnahmslos befürwortet. Grotius behauptete, dass eine Gesamtheit, sowohl die staatliche wie jede andere, nur haftbar sei, wenn sie selbst etwas getan habe, nicht aber, wenn Einzelne gehandelt hätten. Es sei ein Unterschied, ob ein Einzelner aus dem Volk ein eigenes Verbrechen begangen habe oder ob ein gemeinsames Verbrechen aus einem gemeinsamen Geist und dem Willen der Menge begangen worden sei.4 Des Weiteren beschäftigte sich Grotius mit den Folgen der Tat und differenzierte zwischen der Bestrafung der Einzelnen und der Bestrafung der Gesamtheit. So soll die Schuld der höchsten Staatsgewalt nur dann auf die Untertanen übergehen, wenn sie in das Verbrechen eingewilligt haben oder auf Befehl oder Zureden des Herrschers selbst etwas getan haben.5 Nur unter diesen Voraussetzungen können Untertanen an ihrem eigenen Vermögen bestraft werden.6 Was die Gesamtheit anbetrifft, so hielt Grotius im Grundsatz ihre Bestrafung auch nach einem Ausscheiden der beteiligten Mitglieder für möglich, da der Körper als Gesamtheit unabhängig vom Wechsel seiner Teile besteht. Er befürwortete allerdings eine Einschränkung für den Fall, dass niemand von denen, die sich vergangen haben, übrig geblieben sein sollte. Denn auch das Verdienst, so seine Begründung, besitze die Gesamtheit nur mittelbar durch die Einzelnen.7 Die von Grotius an sich vollzogene Trennung von Individual- und Sozialsphäre wird an dieser Stelle nicht konsequent 3 4 5 6 7

S. Haeusermann, Der Verband als Straftäter und als Strafprozesssubjekt, 2003, 58 ff.; Quante (Fn. 2), 191 ff., 198 ff. Grotius, De iure belli ac pacis, 1625, II c. 21, § 2 Grotius (Fn. 4), II c. 21, § 7, 17 Grotius (Fn. 4), II c. 21, § 18 Grotius (Fn. 4), II c. 21, § 8

Organisierte Unverantwortlichkeit

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durchgeführt. Dessen ungeachtet wird deutlich, dass Grotius von so etwas wie individueller Schuld ausging. Er stellte daher den Grundsatz auf, dass niemand wegen des Verbrechens eines anderen bestraft werden könne. Zwar hielt er es für möglich, dass sich jemand für eine fremde Strafrechtsschuld verbirgt. Trete der Bürgschaftsfall sein, so könne der vom Bürgen zu tragende Schaden jedoch bei ihm nicht als Strafe angesehen werden.8 Die Lehre von Grotius ist später von Pufendorf übernommen worden.9 Die gemeinrechtliche Lehre wie auch die strafrechtliche Praxis haben in Deutschland infolge der Rezeption das sog. Kooperationsdelikt bis ins 18. Jahrhunderts hinein anerkannt,10 wobei insbesondere die Lehre des Postglossatoren Bartolus von Einfluss gewesen ist.11 Für ein Kooperationsdelikt war im Prinzip eine Beratung in „forma universitaetes“ erforderlich. Ein Majoritätsbeschluss wurde für ausreichend gehalten. Was die strafrechtlichen Folgen der Tat anbetrifft, so hat man durchaus zwischen der korporativen Sphäre und der Individualsphäre der Mitglieder unterschieden und daher vorzugsweise solche Strafarten wie Geldstrafen, Konfiskationen und Entzug von Privilegien ausgewählt, die ausschließlich den Verband als solchen trafen. Konnte allerdings der Betrag durch Vollstreckung in das Gemeindevermögen nicht eingetrieben werden, wurde die Vollstreckung auf die einzelnen Mitglieder übergeleitet. Unschuldige wurden dabei allerdings ausgenommen.12 Diese Regel wurde jedoch ausnahmsweise durchbrochen wie zum Beispiel beim „delictum enormissimum“ (Rebellion, Majestätsverbrechen), das als Rechtsfolge die Zerstörung der Stadt auslöste.13 Erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich aus Anlass der 1793 erschienen Schrift des Marburger Professors Malblanc „Observationes quaedam ad delicta universitatum spectantes“ ein dramatischer Wandel der Rechtsanschauungen. Begünstigt wurde dieser Wandel durch den Verlust der politischen Bedeutung der Gebietskörperschaften. Rückblickend ist vor allem in dieser Zeit die Kontroverse zwischen Savigny, der sich als Anhänger der Fiktionstheorie in seinem „System des römischen Rechts“ gegen die Delikts- und Straffähigkeit juristischer Personen aussprach,14 und Gierke, der gut vierzig Jahre später die Theorie der realen Verbandsperson entwickelte und auf dieser Grundlage ihre Delikts- und Straffähigkeit vehement befürwortete,15 in den Vordergrund des Interesses gerückt. Die juristische Person verdankt sich Savigny zufolge einer Ausdehnung der Rechtsfähigkeit auf künstliche, durch Fiktion angenommene Subjekte. Sie bildet daher neben den einzelnen Menschen einen weiteren Träger von Rechtsverhältnissen, der allerdings auf bloße Vermögensverhältnisse begrenzt ist. Savigny definierte 8 9

Grotius (Fn. 4), II c. 21, §§ 11 f. Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem, 1673, II c. 13 § 19 ; ders., De jure naturae et gentium, 1684, VIII c. 3 §§ 28 f. 10 Püttmann, Elementa iuris criminalis, 1779, § 52; Koch, Institutiones iuris criminalis, 9. Aufl. 1791, § 40 11 S. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 3. Bd., 1881, 738 12 Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, 1931, 165; Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 744 13 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 744 14 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 2. Bd., 1840, 310 ff., 317 ff. 15 Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, 743 ff.; ders., Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, 1 ff.

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daher die juristische Person als ein des Vermögens fähiges künstlich angenommenes Subjekt.16 Ein solches kann aber nicht strafrechtlich sanktioniert werden. „Das Criminalrecht hat zu thun mit dem natürlichen Menschen, als einem denkenden, wollenden, fühlenden Menschen. Die juristische Person aber ist kein solches, sondern nur ein Vermögen habendes Wesen, liegt also ganz außer dem Bereich des Criminalrechts. Ihre reales Daseyn beruht auf dem vertretenden Willen bestimmter einzelner Menschen, der ihr, in Folge einer Fiction, als ihr eigener Wille angerechnet wird. Eine solche Vertretung aber, ohne eigenes Wollen, kann überall nur im Civilrecht, nie im Criminalrecht, beachtet werden.“17

Dasselbe gilt Savigny zufolge bei den Deliktsobligationen: „Denn jedes wahre Delict setzt dolus oder culpa voraus, mithin Gesinnung und Zurechnung, kann also bei den juristischen Personen eben so wenig angenommen werden, als bey Unmündigen und Wahnsinnigen.“18

Ebenso wurde in der kriminalrechtlichen Literatur argumentiert, dass die juristische Person bloße Fiktion sei,19 der Handlungs- und Willensfähigkeit20 bzw. die zur inneren Willkür unentbehrliche Vernunft fehle,21 dass ihr, weil sie von ihren physischen Gliedern als getrennt gedacht werde, keine eigene Schuld beigemessen werde, sie folglich um fremder Schuld willen gestraft würde,22 ferner, dass die juristische Zurechnung ihrem Wesen nach auf der Individualität und Gesinnungsfähigkeit des einzelnen Menschen beruhe, die Strafe aber nur über Schuldige verhängt werden könne.23 Kurz: Es wurde die Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit von Kollektiven in Frage gestellt. Die Zurechnung fremder Schuld – nämlich die seiner Vertreter – kann die fehlende eigene Schuld nicht ersetzen. In der strafrechtlichen Literatur hat sich seinerzeit noch ein weiteres Argument durchgesetzt, das an den Gesellschaftszweck anknüpfte. So wurde behauptet, dass eine moralische Person, welcher nur zur Verfolgung eines von der Obrigkeit gebilligten Zwecks ein Wille beigelegt werde, daher als solche keine widerrechtlichen Ziele haben und folglich kein Verbrechen begehen könne.24 Die Stoßrichtung dieses Arguments wird bei Köstlin deutlicher. Es sei irrtümlich, sich bei Korporationen in Konsequenz der juristischen Fiktion darauf zu berufen, dass die Handlungen, welche in verfassungsmäßiger Form durch den gemeinsamen Beschluss der Mitglieder zustande kämen, als Handlungen der moralischen Person selbst zu betrachten, da der Staat die Korporation nicht zur Begehung von Verbrechen autorisiert habe.25 Und ebenso meinte schon Feuerbach, der diesen Einwand ins Leben gerufen hatte:

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Savigny (Fn. 14), 236 ff. Savigny (Fn. 14), 312 Savigny (Fn. 14), 312 Geib, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Bd., 1862, § 87; Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 4. Aufl. 1868, § 76; Temme, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 1876, § 33 Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik. Erster Theil, 1823, § 58; Ziegler (Fn. 1), 4 Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen Criminalrechts, 2. Aufl. 1829, § 38 Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 5. Aufl. 1854, § 46 Nr. 1 Marezoll, Das deutsche Criminalrecht, 3. Aufl. 1856, § 17 Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 1. Bd., 1827, 134 Köstlin, System des deutschen Strafrechts, 1855 (Neudruck 1978), § 40; ebenso schon Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, § 71

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„[…] da eine Gesellschaft nur durch ihren bestimmten Zweck als eine moralische Person und als diese Gesellschaft besteht; so handeln die einzelnen Glieder nicht als Gesellschaft, sobald sie nicht für den Zweck der Gesellschaft, sondern für einen von demselben verschiedenen Zweck handeln.“26

Es liegt folglich bei kriminellen Handlungen ein Exzess, ein Handeln außerhalb der Vertretungsmacht vor,27 so dass es schon an einem Zurechnungsgrund fehlt. Berner ist dieser ultra vires Lehre nur bei Stiftungen beigetreten. Aus der Prämisse, dass eine Stiftung nur rechtmäßig handeln kann, folgerte Berner, dass die Dienste, die beispielsweise ein Wärter eines Krankenstiftes für das Geld der Anstalt leiste, dieser zuzurechnen seien, die Versehen aber nur dem Wärter selbst.28 Bei Korporationen hingegen, die durch den Inbegriff physischer Personen getragen würden, müsse man einräumen, dass diese durch ihr verfassungsgemäßes Organ delinquieren könnten, wenn die Gesamtheit der Mitglieder einen Beschluss fasse oder eine Handlung ausführe. Insoweit könne man nicht sagen, dass nicht als ihr eigener Wille zu betrachten sei, was nicht in dem vom Staat gebilligten Zweck der Kooperation liege. Der Staat verbiete auch jedem Einzelnen, Verbrechen zu begehen, gleichwohl werde niemand behaupten, dass die Gesetzesverstöße nicht seiner Person zuzurechnen seien.29 Dagegen erwiderte Köstlin freilich durchaus zu Recht, dass der physischen Person anders als der persona ficta die Rechtsfähigkeit seitens des Staates nicht erst unter einer Bedingung zugeteilt werde.30 Die von Berner ausdrücklich befürwortete Differenzierung zwischen Stiftungen und Korporationen hat Savigny als Folge einer Verwechslung zwischen der juristischen Person als solcher und ihren Mitgliedern kritisiert.31 Auch er hielt jedoch das Argument, dass die juristische Person ihr künstliches Dasein nur einem für erlaubte Zwecke erteiltem Privilegium des Landesherrn verdanke, sodass sie im Falle der Verbrechensbegehung überhaupt nicht juristische Person sei, also auch nicht einer Strafe unterworfen werden könne, für verfehlt. Man könne aus jenem streng durchgeführten Grunde sogar folgern, dass eine juristische Person überhaupt nicht verklagt werden könne, weil jede Klage in dem Beklagten eine Rechtsverletzung voraussetze, auf welche sich aber das Existenzprivilegium der juristischen Person nicht erstrecke.32 Dennoch gelangte Savigny zu demselben Ergebnis, weil seines Erachtens die Gegenauffassung die Begrenzung der Willensfähigkeit juristischer Personen verkannte. Ihre fingierte Willensfähigkeit gelte nur, soweit es nötig sei, um sie an dem Vermögensverkehr – wie zum Beispiel durch den Abschluss von Verträgen – teilnehmen zu lassen. Die juristische Person ist also seines Erachtens nicht deswegen unfähig, Verbrechen zu begehen, weil die dazu erforderliche Tätigkeit unerlaubt ist, sondern weil 26

Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 9. Aufl. 1826, § 29; ebenso Henke (Fn. 20), § 58; Temme (Fn. 19), § 33 27 So ausdrücklich Ziegler (Fn. 1), 5 f. 28 Berner, Die Lehr von der Theilnahme am Verbrechen, 1847, 174 29 Berner (Fn. 28), 174 f.; ebenso behauptete schon Schröter, Handbuch des peinlichen Rechts, 1. Bd., 1818, § 38 (mit Fn. 2), in Bezug auf Feuerbach, dass seiner Ansicht zufolge kein Mensch eine Rechtsverletzung begehen könne, da jede Rechtsverletzung dem Zweck des Menschen als solchem widerspreche, und es daher unmöglich dieser Mensch sein könne, welcher als Mensch existiere, sobald er jenem Zweck entgegenhandle. 30 Köstlin (Fn. 25), § 40 31 Savigny (Fn. 14), 315 32 Savigny (Fn. 14), 310 ff.

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diese der Zweckbestimmung der juristischen Person fremd ist.33 Sprich: Die Pointe des von Savigny vertretenen Standpunkts war es offenbar, das Handeln für die juristische Person im Kern auf die rechtsgeschäftliche Stellvertretung zu beschränken. Es sei angemerkt, dass die hier angesprochene Zurechnungsproblematik ihre Parallele in der Amtshaftung findet. Im 19. Jahrhundert galt die sog. auf das römische Recht zurückgehende Mandatstheorie. Das Verhältnis zwischen Staat und Staatsdiener wurde privatrechtlich gedeutet. Handelte der Beamte rechtswidrig und damit contra mandatum, wurde sein amtspflichtwidriges Handeln ausschließlich ihm selbst als Privatmann und nicht dem Staat zugerechnet. Seine persönliche Haftung war zum Beispiel in § 1507 des Sächs. BGB von 1865 und später dann in § 839 des BGB geregelt.34 Keine prinzipiellen Bedenken hatte Savigny gegen die Anwendung der Strafe auf juristische Personen, wenn er auch einige Strafarten wie zum Beispiel die Gefängnisstrafe für ausgeschlossen hielt.35 Demgegenüber wurde in der strafrechtlichen Literatur teilweise vertreten, dass die juristische Person ganz generell kein geeigneter Adressat strafrechtlicher Sanktionen sei. Ihr fehle die Fähigkeit, Strafe zu erleiden.36 Ihr bloß fingierter Wille sei außer Stande, den Strafzwang zu empfinden.37 Die moralische Person biete keinen passenden Gegenstand dar, auf den durch sinnliche Übel nach allgemeinen Gesetzen erkennbar eingewirkt werden könne.38 Schließlich wurde ferner geltend gemacht, dass die nachteiligen Wirkungen der über die Korporation verhängten Strafe die einzelnen Mitglieder ganz ungeachtet ihrer je eigenen Schuld treffe.39 Soweit die Gegner einer strafrechtlichen Verbandssanktion. Es war – wie oben schon erwähnt – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts insbesondere Gierke, der die Delikts- und Straffähigkeit juristischer Personen zu begründen suchte. Gierke behauptete, dass die germanistische Genossenschaftstheorie im schärfsten Gegensatz zur romanistischen Lehre stehe, welcher zufolge die juristische Person als bloße Fiktion schlechthin willens- und handlungsunfähig sei und gleich dem Kinde oder Wahnsinnigen erst durch eine nach dem Bild der Vormundschaft eingerichteten Vertretung die Möglichkeit einer rechtlichen Betätigung ihres Daseins gewinne. Die Willens- und Handlungsfähigkeit der Körperschaft sei jedoch eine mit ihrer Persönlichkeit gegebene Wirklichkeit. Die Willens- und Handlungsfähigkeit werde nicht durch das Recht geschaffen, sondern lediglich als rechtliche Fähigkeit wie bei Einzelpersonen anerkannt.40 Charakteristisch für eine derartige als „sozialer Organismus“ aufgefasste, reale Verbandsperson ist es Gierke zufolge, dass sie wie die Einzelperson durch ihre Organe handelt.41 Der Rechtsbegriff des Organs ist dabei seines Erachtens streng vom individualrechtlichen Begriff des Stellvertreters zu trennen. Das Organ einer Kör33 34 35 36 37 38 39 40 41

Savigny (Fn. 14), 314 f. S. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, 7 f. Savigny (Fn. 14), 313 Henke (Fn. 20), § 58 Berner (Fn. 19), § 76 Grolman, Grundsätze der Criminalwissenschaft, 3. Aufl. 1818, 54 f. Marezoll (Fn. 23), § 7 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 603, 608 f., 611 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 614 ff.; ders., Genossenschaftstheorie (Fn. 15), 28 ff.

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perschaft ist für ihn ein rechtlich geordneter Vermittler eines einheitlichen Gemeinlebens. „Es handelt sich nicht um die Vertretung einer in sich geschlossenen Person durch eine andere in sich geschlossene Person. Sondern wie, wenn das Auge sieht oder der Mund spricht oder die Hand greift, der Mensch sieht und spricht und greift, so wird, wenn das Organ innerhalb seiner Zuständigkeit gehörig funktioniert, die Lebenseinheit des Ganzen unmittelbar wirksam. Durch das Organ offenbart sich also die unsichtbare Verbandsperson als wahrnehmende und urtheilende, wollende und handelnde Einheit. Die juristische Person unseres Rechts ist kein des gesetzlichen Vertreters bedürftiges unmündiges Wesen, sondern ein selbsttätig in die Außenwelt eingreifendes Subjekt.“42

Würde man diese anthropomorphistische Metaphorik beim Wort nehmen, wäre man fast aller rechtlichen Probleme ledig, die oben schon angesprochen wurden. Insbesondere würde sich die Zurechnungsfrage erübrigen: Die Folgen der Tätigkeit eines Teils des Organismus würden schon aufgrund eines natürlichen Kausalzusammenhangs das Ganze treffen und gegebenenfalls in Mitleidenschaft ziehen. Nicht das Recht, sondern die Natur würde den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Organ und dem Organismus stiften. Freilich hat sich Gierke gegen eine derart einfache Übertragung verwahrt: Das Naturganze sei kein Vorbild. Der Vergleich des sozialen mit dem natürlichen Organismus habe nur die Aussagekraft, dass der gesellschaftliche Körper eine aus Teilen bestehende Ganzheit sei. Anders als beispielsweise beim Menschen handele es sich bei den Beziehungen zwischen den Organen und dem Ganzen um Rechtsbeziehungen.43 Und Gierke begriff aus diesem Grund die Handlungs- und Willensfähigkeit der juristischen Person durchaus als Resultat einer rechtlichen Zurechnung,44 was in der Literatur zumeist verkannt wird.45 Folgt man der Analyse von Kleindiek, opponierte Gierke nur deswegen gegen die „Auflösung der Organschaft in Stellvertretung“46, weil die romanistische Theorie die Zurechnung fremden Handelns fast ausschließlich nur im Rahmen der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung kannte. Die Repräsentation der juristischen Person durch ihre Organe überschreitet Gierke zufolge den Bereich möglicher Stellvertretung mit der Konsequenz, dass sich die juristische Person unerlaubter Handlungen schuldig machen kann, sofern diese in ihren von der Verfassung abgesteckten Lebensbereich fallen. Dabei soll der allgemeine Grundsatz gelten, dass eine Gesamtperson all diejenigen schuldhaften Handlungen und Unterlassungen begeht, die ein verfassungsmäßiges Organ innerhalb seiner Zuständigkeit vollzieht. Der auf Feuerbach zurückgehenden Lehre, dass die körperschaftliche Handlungsfähigkeit nach Maßgabe eines vom Gesetz gebilligten Zwecks eingeschränkt sei, hielt er entgegen, dass dann auch unzweckmäßige Handlungen nicht angerechnet werden dürften.47 In Wahrheit müsse die Rechtsordnung

42 43 44 45 46 47

Gierke, Genossenschaftstheorie (Fn. 15), 28 f.; s. schon ders., Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 624 f. Gierke, Genossenschaftstheorie (Fn. 15), 15 f., 30 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 755, 788 f.; ders., Deutsches Privatrecht, Bd. I, 1895, 530 Darauf hat als Erster Kleindiek, Deliktshaftung und juristische Person, 1997, 170, aufmerksam gemacht. So die überzeugende Erklärung von Kleindiek (Fn. 45), 173; vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 620: „Die Begriffe des Auftrags und der Vollmacht werden anwendbar.“ Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 626 f., 633, 755, 758

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Volker Haas „ein Können verleihen, welches über das rechtliche Dürfen weit hinausreicht. Wenn sie einen gemeinheitlichen Lebenszweck determiniert, muss sie mit der Möglichkeit, demselben in freier Hingabe zu dienen, auch die Möglichkeit offen lassen, ihn abirrend zu verfehlen oder mit unlauteren Mitteln zu verfolgen; sie kann dem Gemeinwesen so wenig wie dem Individuum Pflichten ohne die Möglichkeit der Verletzung auferlegen, und Rechte ohne die Möglichkeit des Missbrauchs gewähren. So eröffnet jede Konstituierung einer körperschaftlichen Lebenssphäre von vornherein auch einen Bereich von Delikten, welche die Körperschaft begehen kann, ohne die Grenzen zu überschreiten, jenseits deren sie dem Recht nicht mehr als handelnde Persönlichkeit gilt.“48

Es gebe keine Kompetenz, in der nicht die rechtliche Macht eingeschlossen liege, Pflichten zu verabsäumen oder Rechte zu missbrauchen.49 Entgegen eines Teils der strafrechtlichen Literatur hielt Gierke die Gesamtperson auch für fähig, das aufgrund einer unerlaubten Handlung verhängte Strafübel zu empfinden, da die gegenteilige Behauptung auf der Theorie der persona ficta beruhe. Die Empfindung, welche durch die Körperschaftsstrafe in dem die Körperschaft bildenden Menschen geweckt werde, gehöre dem Gemeinleben an. Die Bestrafung der Körperschaften wegen des ihnen zuzurechnenden Verhaltens sei auch gerecht: „Denn wenn und soweit menschliches Verschulden in jener Sphäre des Gemeingeistes wurzelt, in welcher das psychische Leben des Einzelnen durch die ihm wirksame Gesammtkraft eines organisierten geistigen Zusammenhanges bestimmt wird, entspricht es durchaus der Rechtsidee, dass auch die Reaktion der verletzten Rechtsordnung die Menschen in diesem Zusammenhange und nur in ihm treffe.“50

Die einzelnen Mitglieder würden gegebenenfalls nur in ihrem „gliedmäßigen Anteil“ geschädigt werden. Sie würden dann aber nur das verlieren, was sie ohnehin nur durch das Ganze und in Abhängigkeit von dessen Schicksalen und Handlungen besäßen. „Lässt das Recht den Lohn, den ein Gemeinwesen für eine rühmliche Tat an körperschaftlichen Ehren und Vortheilen empfängt, durch die Vermittlung des Ganzen den verdienstlosen wie den verdienstreichen Gliedern zufliessen, so mag es auch für eine Freveltat die Körperschaft als solche strafen, wenn schon in dem schuldigen Ganzen nothwendig unschuldige wie schuldige Glieder, nur eben alle in ihrem Gliedverhältnis, mitleiden.“51

Der Standpunkt Gierkes entsprach im Wesentlichen der Auffassung der noch verbliebenen Anhänger einer Verbandsstrafe in der strafrechtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts. So wurde geltend gemacht, dass in dem Maße, in dem eine Gesellschaft handeln könne, sie auch Verbrechen begehen könne.52 Wo aus juristischer Sicht ein Wille angenommen werde, müsse es einen guten und einen bösen Willen geben, Verdienst und Schuld.53 Auch Bauer widersprach der Auffassung von Feuerbach, dass ein gesetzwidriges Handeln nicht mehr vom Gesellschaftszweck gedeckt sei. 48 49 50 51 52 53

Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 755 f. Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 764 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 774 Gierke, Genossenschaftsrecht (Fn. 11), 775 Tittman, Handbuch der Rechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, 1. Bd., 2. Aufl. 1822, § 39 Rosshirt, Entwicklung der Grundsätze des Strafrechts nach den Quellen des gemeinen deutschen Rechts, 1828, § 59

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„Da eine moralische Person Daseyn und Wille hat, mithin handeln kann, selbst wenn sie durch strafgesetzwidrige Mittel ihren Gesellschaftszweck zu befördern sucht, doch in Beziehung auf ihren Zweck, mithin als Gesellschaft handelt, da ihr ferner die nützlichen Folgen ihrer erlaubten Thätigkeit zu Gute kommen und sie also auch die nachtheiligen Folgen ihrer gesetzwidrigen Handlungen, es mögen diese in Schadensersatz oder Strafe bestehen, übernehmen muss, so ist eine durch Stimmeneinhelligkeit beschlossene und diesem Beschluss gemäß verübte Übertretung des Strafgesetzes, als ein Verbrechen der moralischen Person anzusehen.“54

Hepp argumentierte, dass Nachkommen durch Strafe Privilegien entzogen werden dürften, weil sie auch ohne Verdienst in den Genuss von Privilegien kommen könnten.55 3 STRAFRECHTSDOGMATISCHE BZW. VERFASSUNGSRECHTLICHE PROBLEME STRAFBARKEIT JURISTISCHER PERSONEN

DER

Die historische Übersicht zeigt, dass schon in der Vergangenheit fast alle Aspekte angesprochen wurden, die auch in der aktuellen Diskussion thematisiert werden. Es sind im Wesentlichen fünf Fragen, die nicht gänzlich unabhängig voneinander sind: die erste Frage nach der Natur der juristischen Person, die zweite nach den Gründen und Grenzen der offenbar erforderlichen Zurechnung, die dritte nach der Schuld der juristischen Person, die vierte nach der Berechtigung des Eingriffs in die Vermögensanteile der Verbandsmitglieder oder Anteilseigner und die fünfte nach der Tauglichkeit der juristischen Person als Adressat von Strafsanktionen. (1) Was die erste Frage anbetrifft, so kann man diese Problematik nicht dadurch entschärfen, dass man die Verbände als soziale Realitäten begreift, weil dies hieße, eine soziologische mit der rechtlichen Zugangsweise zu vermengen. Keinen Ausweg bietet auch der Vorschlag, auf den Begriff der persona moralis composita der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts zurückzugreifen, der durch den Begriff des Gesamtwillens der Gesellschafter definiert ist.56 Die Begründung des Gesamtwillens durch die Ununterscheidbarkeit der Willen der einzelnen Personen ermöglicht zunächst einmal nicht mehr als die Bestrafung aller Beteiligten als Individuen wegen der Gesamttat – Mittäterschaft! Denn über den Gesamtwillen der persona moralis composita zu sprechen, heißt nichts anderes, als über den Willen der einzelnen Personen zu sprechen, sofern dieser in seiner Ununterscheidbarkeit den Willen aller anderen Beteiligten vertritt und repräsentiert. Wird hingegen der Gesamtwille durch die Zugehörigkeit zu einem konstruierten abstrakten Subjekt individuiert, das neben die beteiligten Gesellschafter tritt, so stellen sich die Fragen, die Gegenstand dieses Vortrags sind. Schließlich bietet auch die anthropomorphistische Metaphorik Gierkes keinen Ausweg. Seine These, dass die Willens- und Handlungsfähigkeit juristischer Personen wie bei natürlichen Personen lediglich anerkannt werde, ist unhaltbar. Dies zu konstatieren schließt allerdings nicht aus, dass der Lehre Gierkes doch ein berechtigter Kern innewohnt, auf den später noch die Sprache kommen wird. 54 55 56

Bauer, Abhandlungen aus dem Strafrecht und dem Strafprocessrechte, 1. Bd., 1849, 453; ebenso ablehnend Hepp, Versuche über einzelne Lehren der Strafrechtswissenschaft, 1827, 90 Hepp (Fn. 54), § 83 Aichele, Persona physica und persona moralis: Die Zurechnungsfähigkeit juristischer Personen nach Kant, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 16 (2008), 3–23, hier: 9

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(2) Was die sowohl von Savigny und Gierke anerkannte Zurechnung anbetrifft, hat Gierke mit seiner Behauptung, dass die Rechtsordnung der juristischen Person keine Pflichten ohne die Möglichkeit ihrer Verletzung auferlegen könne, einen maßgeblichen Grund benannt, der auch im gegenwärtigen Schrifttum aufgegriffen worden ist.57 Wenn zum Beispiel die Inhaberschaft bestimmter Rechtspositionen oder Vermögenswerte, die betriebliche Tätigkeit sowie die Teilnahme am Marktgeschehen mit der Auferlegung bestimmter Pflichten verbunden ist, dann muss es der juristischen Person verwehrt sein, sich auf jene Fiktion zu berufen, deren Existenz sie sich verdankt. Als Beispiele seien Verkehrssicherungspflichten oder kartellrechtliche Verbote genannt, die primär an den Verband adressiert sind. Dieser erfüllt oder verletzt die ihn bindenden Pflichten durch seine Organe. Das Verhalten der Organwalter gilt – ungeachtet der rechtlichen Konstruktion dieses Resultats – als Verhalten der juristischen Person Es bestehen aufgrund der Möglichkeit der juristischen Personen, die Verpflichtungen durch ihre Organe erfüllen zu lassen, auch keine rechtstheoretischen Bedenken, diese als Adressaten von Verpflichtungen anzuerkennen.58 Wie aber sind jene Fälle zu beurteilen, in denen das Organ bzw. der Vertreter ein primär ihn selbst treffendes Verbot oder Gebot übertritt? Gemeint sind sog. Allgemeindelikte wie z. B. der Submissionsbetrug oder die Bestechung. Ist es hier möglich zu behaupten, dass das Organ die Pflicht der juristischen Person erfüllt oder verletzt? Verbunden damit ist die Frage, ob die juristische Person in diesen Fällen überhaupt Adressat der zugrunde liegenden Pflichten ist. Jakobs hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass das, was einer juristischen Person zugeschrieben werden solle, dem Organ abgeschrieben werden müsse. Halte das Recht das Organ als Person an seiner Schuld fest, könne diese Schuld nicht abgeschrieben und der juristischen Person zugeschrieben werden. Man könne nicht zugleich ein eigenes und ein fremdes Geschäft führen, ohne den Erlös und die Kosten zu teilen. Bei einer eigenen Straftat des Organs werde hingegen nichts geteilt: Es habe für seine Schuld voll einzustehen. Bezüglich deliktischen Verhaltens werde die Person zwingend nur als für sich selbst agierend dargestellt, selbst wenn die juristische Person dieselbe Pflicht treffe.59 Sprich: Die Person, die als Organ für die juristische Person handelt, erfüllt oder verletzt die sie verpflichtenden strafrechtlichen Verbote insoweit nur für sich selbst. Dies müsste aber entgegen Jakobs die Konsequenz haben, dass insoweit die juristische Person selbst als Adressat dieser Normen ausgeschlossen wäre. Denn Normen, die nicht verletzt werden können, laufen funktionell leer und sind deshalb sinnlos. Man könnte überlegen, ob nicht die Mittäterschaft gegen die These von Jakobs in Feld geführt werden könnte, weil jeder der Mittäter für sich selbst als auch für seine Tatgenossen handelt, ohne dass die Kosten in Form der strafrechtlichen Sanktionen unter den Mittätern aufgeteilt würden. Dabei bliebe allerdings unberücksichtigt, dass der gemeinsame Tatentschluss auch Grundlage für die Verwirklichung von Schuld bezüglich der nicht eigenhändig verwirklichten Tatbeiträge ist.

57 58 59

So z. B. von Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993, 12 Dazu Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993, 24, der eine stellvertretende Entgegennahme von Normbefehlen für möglich hält. Jakobs, Strafbarkeit juristischer Personen?, in: Festschrift für Klaus Lüderssen, 2002, 559–575, hier: 565

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Um die zivilrechtliche Parallelproblematik zu veranschaulichen, sei ein konkreter Fall vorgestellt, der auch strafrechtliche Bezüge aufweist: Die Klägerin verlangte von dem Geschäftsführer M einer GmbH eine international übliche Bankgarantie. Daraufhin wurde ihr im Namen der Beklagten, einer Genossenschaftsbank, eine selbstschuldnerische Bürgschaft per Schreiben übersandt, das von dem Vorstandsmitglied B und dem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied A unterzeichnet war. Das Ausscheiden des Vorstandsmitglieds A war zuvor in das Genossenschaftsregister eingetragen worden. Es bestand lediglich eine Gesamtvertretungsbefugnis. Die Unterschrift des ehemaligen Vorstandsmitglieds A war von dem verbliebenen Vorstandsmitglied B gefälscht worden, der dadurch zu Lasten der Klägerin einen Betrug nach § 263 StGB begangen hatte. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung § 31 BGB für anwendbar und die Genossenschaft aufgrund des Verhaltens ihres Vorstandsmitglieds B für schadensersatzpflichtig gehalten. § 31 BGB zufolge ist ein Verein für den Schaden verantwortlich, den der Vorstand oder ein anderer verfassungsgemäß berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt.60 Der Bundesgerichtshof hat argumentiert, dass die Haftung nicht an die Vertretungsmacht, sondern an die Fähigkeit des Organs für die juristische Person zu handeln, anknüpfe. An die Stelle des ursprünglich vorgesehenen Erfordernisses „in Ausübung der Vertretungsmacht“ sei später der Begriff „in Ausübung der ihm zustehenden Verrichtungen“ getreten. Entscheidend sei daher, ob das Handeln in den ihm zugewiesenen Wirkungskreis falle. Der Betrug des Vorstandsmitglieds B steht nach Auffassung des Bundesgerichtshofs der Zurechnung seines Verhaltens nicht entgegen. Da § 31 BGB auf die dem Organ generell zustehenden Verrichtungen und nicht auf die Art der Ausführung der im Einzelfall tatsächlich vorgenommenen Verrichtung abstelle, komme es nicht darauf an, ob gerade diese von der erteilten Genehmigung gedeckt sei. Der Bundesgerichtshof hat es daher für irrelevant gehalten, dass das Vorstandmitglied B die Unterschrift gefälscht hatte. Stelle man darauf ab, dass eine unerlaubte Handlung niemals eine dem Organ zustehende Verrichtung sei, laufe die Vorschrift des § 31 BGB weitgehend leer.61 Angemerkt sei, dass es umstritten ist, ob § 31 StGB auf der Organ- oder Vertretertheorie fußt.62 Die Tatsache, dass sich die Mehrheit der Mitglieder der zweiten Kommission dafür aussprach, die Norm nicht auf Angestellte auszudehnen, sondern sie auf das „besondere Verhältnis“ der Körperschaft zu ihren Organen zu beschränken,63 spricht wohl für die Organtheorie. Wie auch immer: Offen ist bisher geblieben, worauf das Einstehen-Müssen der juristischen Person in diesen Fällen beruht. Die Motive beriefen sich im Hinblick auf die entsprechende Norm des ersten Entwurfs (§ 46), der noch verlangt hatte, dass das Organ in Ausübung seiner Vertretungsmacht gehandelt haben müsse, zum 60

61 62 63

Ob und unter welchen Voraussetzungen § 278 BGB neben § 31 BGB anwendbar ist, ist umstritten, spielt aber im vorliegenden Fall keine Rolle; s. zu einzelnen Ausnahmen RGZ 122, 351, 355 ff.; Reuter, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 6. Aufl., 2012, § 31 Rn. 32; Weick, in: Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2005, § 31 Rn. 5. BGHZ 98, 148 ff. S. dazu Weick (Fn. 60), § 31 Rn. 2 Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, hg von Mugdan, Bd. I, 1899 (Neudruck 1979), 619

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einen auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte und das Verkehrsbedürfnis, zum anderen darauf, dass „wenn die Körperschaft durch die Vertretung die Möglichkeit gewinne, im Rechtsverkehr handelnd aufzutreten, ihr auch angesonnen werden müsse, die Nachtheile zu tragen, welche die künstlich gewährte Vertretung mit sich bringe, ohne daß sie in der Lage sei, Dritte auf den auf häufig unergiebigen Weg der Belangung des Vertreters zu verweisen. Ist dieser Gesichtspunkt richtig, so muß er allgemein zur Geltung gelangen; die Körperschaft ist für alle widerrechtlichen, zum Schadensersatz verpflichtenden Handlungen des Vertreters verantwortlich zu machen, sofern nur dieselben in Ausübung der Vertretungsmacht begangen sind.“64

Ist dies eine überzeugende Begründung? Nicht ganz deutlich wird schon aufgrund der Formulierung, um wessen Nachteile es sich handeln soll: um die des Dritten oder die der juristischen Person. Ist es der Schaden, den der Dritte erleidet oder ist es die Vermögenseinbuße, die die juristische Person erleidet, wenn sie dem Dritten den Schaden ersetzen muss? Im ersten Fall bliebe die Begründung für den Standpunkt der Motive völlig offen. Im zweiten Fall würde sich der Rekurs auf die distributive Gerechtigkeit bei genauerer Analyse als eine petitio principii entpuppen. Zunächst erleidet ausschließlich der Dritte einen Schaden. Daraus resultiert aber nur dann ein Nachteil für die juristische Person, wenn sie diesem den Schaden ersetzen muss. Dies jedoch setzt voraus, dass die Handlung des Organwalters überhaupt als Handlung der juristischen Person angesehen werden kann. Die (scheinbare) Evidenz des Satzes, dass das Tragen von Vor- und Nachteilen Hand in Hand zu gehen hat, kommt hier mithin nicht zum Tragen. Anderes gilt, wenn die Tätigkeit des Organwalters als Verhalten der juristischen Person betrachtet wird. Die mit der Tätigkeit des Organ untrennbar verbundenen Vor- und Nachteile können selbstverständlich nicht aufgespalten werden. Schließt beispielsweise das Organ für die Körperschaft einen Kaufvertrag ab, so erwirbt diese den kaufvertraglichen Anspruch auf die Leistung. Sie wird aber gleichzeitig mit der Verpflichtung zur Erbringung der Gegenleistung belastet. Ebenso kann die juristische Person nicht durch dingliches Rechtsgeschäft ein Grundstück erwerben und sich gleichzeitig der damit verbundenen Verkehrssicherungspflicht entziehen.65 Es gibt insoweit nur eine Lösung im Paket. Die Problematik kann jedoch möglicherweise gelöst werden, wenn man den Verband als Garanten und damit als Adressaten einer nur ihn treffenden allgemeinen Sonderpflicht dafür ansieht, dass es nicht zu Delikten kommt, die sich innerhalb des Wirkungskreises der juristischen Person ereignen.66 Grundlage dieser Sonderpflicht wäre die Qualifizierung des Unternehmens als Gefahrenquelle. Dabei wären unter diesen Delikten solche zu verstehen, die nicht nur bei Gelegenheit der Tätigkeit erfolgen, sondern in denen sich die spezifische Gefahrenträchtigkeit der Zweckverfol64

Motive zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band I, Allgemeiner Teil, 1888, 102 65 Anknüpfungspunkt für die Verkehrssicherungspflicht der juristischen Person wäre ihre Sachherrschaft. Ob die juristische Person selber die unmittelbare Sachherrschaft ausübt, ist allerdings nicht unumstritten; dafür die herrschende Meinung; s. z. B. Bund, in: Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2007, § 854, Rn. 58; die Organwalter hingegen als Besitzmittler einstufend E. Wolf, Lehrbuch des Sachenrechts, 2. Aufl. 1979, § 2 II b 2. 66 Auf derselben Linie liegt übrigens die Auffassung von Jakobs (Fn. 59), 566, dass § 31 BGB die Schadensersatzpflicht deswegen begründe, weil diese zu garantieren habe, dass das Organ nicht Dritte schädige; für bereichsspezifische Garantenstellungen des Verbandes hingegen Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl. 2006, § 30

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gung des Verbands realisiert. Die gegenwärtig ausführlich diskutierte strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung von Organen oder die Compliance-Haftung wären Ausdruck und Folge dieser Sonderverantwortlichkeit. Unproblematisch könnte daher die Haftung in Fällen begründet werden, in denen das zuständige Organ beispielsweise eines Betriebs einen sonstigen Betriebsangehörigen nicht an der Begehung von betriebsbezogenen Straftaten hindert. Wie aber wäre der Fall zu entscheiden, wenn das Organ, dem eigentlich die Aufgabe der Verhinderung von Straftaten übertragen ist, selbst das entsprechende Delikt begeht? Könnte man sagen, dass der Täter insoweit eine Doppelrolle eingenommen habe, der einen doppelten Pflichtenverstoß begründet? Die betreffende Tat hätte er als Person begangen. Als Organ hätte er es gleichsam versäumt, sich selbst als Person an der Tat zu hindern. Dem Einwand von Jakobs wäre der Boden entzogen. Trägt der hier zur Diskussion gestellte Ansatz, dann könnte die Erwägung, dass die Begehung derartiger Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten angesichts des rechtmäßigen Verbandszwecks einen Exzess darstelle, die Verantwortlichkeit ganz generell nicht ausschließen.67 (3) Damit ist die Abhandlung an dem dritten Punkt angelangt. Als Teil der Zurechnungsproblematik tritt natürlich die Problematik der Vereinbarkeit der Verbandsstrafe mit dem Schuldgrundsatz hinzu.68 Es sei vorweggeschickt, dass man diese Problematik nicht dadurch umgehen kann, dass man auf ein Organisationsverschulden des Verbandes abstellt,69 das zum Beispiel in der fehlenden klaren Verantwortungszuweisung liegen könnte – organisierte Unverantwortlichkeit. Die Einhaltung der Organisationspflichten, deren Zweck die Vorsorge für normgemäßes Verhalten der Betriebs- oder Unternehmensangehörigen ist, kann wiederum nur durch das Handeln der Organe gewährleistet werden, so dass man in einen infiniten Regress gerät.70 Während daher ein Teil der Literatur bei einer Bestrafung von Verbänden ein Verstoß gegen das Schuldprinzip diagnostiziert,71 beruft sich die Gegenauffassung – auch im Hinblick auf § 30 OWiG – auf die Möglichkeit einer sog. Verbandsschuld,72 die teilweise wiederum auf den sozialen Schuldbegriff gegründet wird, der durch das Zurückbleiben des Täters hinter dem durchschnittlichen Leistungsvermögen der Ge67

68

69

70 71 72

So jedoch Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, 559, der allerdings eine Ingerenzhaftung des Verbandes für das objektiv rechtswidrige Verhalten von Repräsentanten anerkennt; s. ebenfalls die Auffassung von Pohl-Sichtermann, Geldbuße gegen Verbände, 1974, 159, dass die Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nicht im wohlverstandenen Interesse des Verbandes liege. Darauf stellt auch Schünemann, Die Strafbarkeit juristischer Personen aus deutscher und europäischer Sicht, in: Bausteine des europäischen Wirtschaftstrafrechts, hg. von Schünemann,1994, 265–295, hier: 280, ab. Anders Tiedemann, Die „Bebußung“ von Unternehmen nach dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 1169–1174, hier: 1171 f.; ders., Strafbarkeit juristischer Personen? – Eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblikken für das deutsche Recht, in: Freiburger Begegnung, hg. von Schoch u. a., 1996, 30, 48 ff Schünemann (Fn. 68), 285 So z. B. Köhler (Fn. 67); Jakobs (Fn. 59); Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993, 15 ff. Mit Unterschieden im Einzelnen Böse, Die Strafbarkeit von Verbänden und das Schuldprinzip, in: Festschrift für Günter Jakobs, 2007, 15–25, hier: 20 ff.; Dannecker, Zur Notwendigkeit der Einführung kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Verbände, Goltdammer`s Archiv für Strafrecht, 2001, 112 ff.; Hirsch (Fn. 57), 12 ff.; Rogall (Fn. 66), § 30 Rn. 11

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Volker Haas

sellschaft definiert ist. Ebenso wie bei der Erörterung der Handlungsfähigkeit ist jedoch die Kontroverse, ob die Zurechnung fremder Schuld der handelnden Person eine eigene Schuld des Verbandes darstellt, wenig ergiebig.73 Geht man von dem Zurechnungsmodell aus, ist faktisch die Schuld immer fremde Schuld der handelnden Person. Und insoweit wäre daher die strafrechtliche Sanktionierung als Erfolgshaftung zu qualifizieren.74 Wäre es aber legitim, der juristischen Person das Handeln der Person als eigene Schuld zuzurechnen, dann dürfte sich diese nicht darauf berufen, de facto keine eigene Schuld zu verwirklichen. Sie würde so behandelt werden, als seien bei ihr selbst die Voraussetzungen der Schuld erfüllt: normativ also eigene Schuld. Entscheidend kann daher nur sein, ob die Rechtsfolge höchstpersönliche Schuld verlangt, das heißt, ob sich also die Rechtsfolge mit einer Schuldfiktion im Sinne zugerechneter Schuld vereinbaren lässt. Bei einer Schadensersatzhaftung ist dies unproblematisch. So hat zum Beispiel gemäß § 278 BGB der Schuldner das Verschulden seines Vertreters und der Personen, derer er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient, wie eigenes Verschulden zu vertreten. Es greifen zu seinen Lasten die Regeln der Verschuldenshaftung ein. Sowohl das Strafrecht wie das Ordnungswidrigkeitenrecht gehen aber von der individuellen, faktisch an die Person des Delinquenten gebundenen, höchstpersönlichen Schuld aus. Es muss daher noch einmal die Zurechnungskonstruktion thematisiert werden. Man vergleiche die Problematik der organschaftlichen Zurechnung mit dem Fall, dass ein Betreuer für einen Unzurechnungsfähigen handelt und dabei eine Pflicht verletzt, die den Unzurechnungsfähigen als solchen trifft. Könnte dann eine Geldbuße gegen den Unzurechnungsfähigen verhängt werden? Und wenn nicht, warum ist dies bei dem Handeln eines Organs für die juristische Person möglich? Vermutlich wird die Antwort gefunden, wenn man noch einmal den Blick auf die Theorie Gierkes lenkt. Verfälschend ist möglicherweise die Formulierung, dass das Handeln des Organs der juristischen Person als eigenes Handeln zugerechnet wird. Vielmehr gilt: Organschaftliches Handeln ist schon deswegen Handeln des Verbandes, weil das Organ aufgrund der rechtlichen Konstitution bzw. Konstruktion des fiktiven Subjekts Bestandteil der juristischen Person ist. So wie die Bewegung eines Körperteils – zum Beispiel der Hand – Verhalten der Person ist, zu der die Hand gehört, so ist das Verhalten des Organs Verhalten derjenigen juristischen Person, dessen Teil sie ist. Im ersten Fall wird der Zusammenhang von der Natur, im zweiten Fall durch das Recht gestiftet. Wir müssen also lediglich die Lehre Gierkes von ihren naturalistischen Elementen befreien und auf normative Füße stellen. Die eigentliche Pointe seiner Lehre wird mithin erst dann sichtbar, wenn man die Zurechnungslösung ablehnt und erkennt, dass man deswegen keine Zurechnung benötigt, weil die juristische Person eben nicht lediglich vom Recht anerkannt, sondern in bestimmter Weise normativ konstruiert wird. Rechtliche Kriterien müssten dann allein dafür gefunden werden, wann das Handeln der Person, also des Organwalters, als Handeln des Organs und nicht bloß als Handeln bei Gelegenheit der Ausübung organschaftlicher Funktionen qualifiziert werden kann. Ist es aber ein Handeln des Organs, bedarf es keiner Zu73 74

Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 63 So von Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998, 95 f., 105

Organisierte Unverantwortlichkeit

139

rechnung mehr gegenüber der juristischen Person, weil das Organ zu ihr gehört. Daraus folgt wiederum, dass die Geldbuße, die gegen juristische Personen und Personenvereinigungen verhängt werden kann, nicht gegen den Schuldgrundsatz verstößt. Anderes würde im Beispiel des Betreuers gelten. Dieser ist nicht normativ Bestandteil des Unzurechnungsfähigen. Und aus diesem Grund bedarf es einer Handlungszurechnung, die im Falle eine repressiven öffentlich-rechtlichen Sanktion gegen das Schuldprinzip verstoßen würde. Damit werden auch die Grenzen der hier vertretenen These deutlich: Sie kann dort keine Haftung mehr begründen, wo allein das Versagen eines (leitenden) Angestellten in Rede steht. Denn der Angestellte ist nicht mehr Teil der juristischen Person. Angesichts zunehmend flacher Hierarchien, bei denen auch ein Organisations- oder Aufsichtsverschulden eines Organs nicht in Betracht kommt, stellt diese Einschränkung eine durchaus empfindliche Lücke dar. (4) Eine Beantwortung bedarf noch die Frage, ob die Haftung des Verbandes das Schuldprinzip im Hinblick auf die Anteilseigner bzw. Verbandsangehörigen (Aktionäre, Minderheitsgesellschafter), die durch die Sanktion in ihrer Sozialsphäre getroffen werden, obwohl sie nicht gehandelt haben und für die Begehung der Tat nichts können, verletzt. Man könnte argumentieren, dass zwar formal-rechtlich die juristische Person Adressat der Sanktion ist, dass wirtschaftlich jedoch von der Sanktion die hinter ihr stehenden Anteilseigner bzw. Verbandsangehörigen getroffen würden. Gegen diese wirtschaftliche Betrachtungsweise ist aber einzuwenden, dass der Schuldgrundsatz es nur verbietet, in die Rechtssphäre Schuldloser einzugreifen. Dies gilt auch für die Anteilseigner bzw. Verbandsangehörigen. Die Anteilseigner bzw. Verbandsangehörigen haben aber ihr Vermögen einem anderen Rechtssubjekt – nämlich der juristischen Person – übertragen. Sie erleiden einen Vermögensverlust, ohne dass in ihre Rechtssphäre eingegriffen würde. (5) Ist daher ein Verstoß gegen das Schuldprinzip zu verneinen, könnte die Strafbarkeit juristischer Personen nur noch daran scheitern, dass die Strafe aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht mit dem fiktiven Wesen juristischer Personen vereinbar ist. So wäre eine Verbandsstrafe ausgeschlossen, wenn die Strafe einen (sozial-)ethischen Tadel ausdrücken würde. Das hinter der strafrechtlichen Missbilligung stehende Strafverständnis ist Ende des 19. Jahrhunderts bei von Bar besonders klar hervorgetreten. So hat von Bar behauptet, dass der Täter in der moralischen Wertschätzung der Rechtsgemeinschaft, die die Missbilligung artikuliere, sinke. Die moralische Gemeinschaft werde bei groben Verfehlungen aufgehoben, wenn auch von dem Recht zum Ausschluss nicht mehr Gebrauch gemacht werde.75 Das Strafurteil ist also ein moralisches Statusurteil. Einen derartigen moralischen Status, der ihnen entzogen werden könnte, besitzen jedoch juristische Personen von vornherein nicht. Der „good will“ im Rahmen der Corporate Governance bietet dafür kein adäquates Korrelat. Vielleicht gibt es jedoch gute Gründe für eine Modifikation des Strafverständnisses. Denn zu fragen ist, ob dem Staat überhaupt das Recht zusteht, dem Täter den Status als moralisch Gleicher zu entziehen. Dies ist im Hinblick auf Art 1 I GG zu bezweifeln.76 Entwürdigt sich der Täter durch die Begehung des Verbrechens selbst, ist es dem Staat verwehrt, diesem die Selbstentwürdigung durch die Aberkennung des Status als moralisch Gleicher vorzuführen. 75 76

Von Bar, Handbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Bd., 1882, §§ 103, 104, 108 und 109 Ausführlich dazu Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, 235 ff.

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Volker Haas

SCHLUSSBEMERKUNG

Die vorstehende Untersuchung ist von der Geltung des Schuldprinzips ausgegangen. Dieses Prinzip beansprucht immer dort Gültigkeit, wo das Recht die einzelnen Individuen als autonome, einander rechtlich gegenübertretende Rechtssubjekte anerkennt. Lediglich in Rechtsordnungen, in der die einzelnen Individuen nur als Teile kollektiver Verbände erfasst werden, ist das Schuldprinzip obsolet. Schon aus diesem Grund entbehrt der jüngst in die strafrechtsdogmatische Diskussion eingeführte Begriff des Systemunrechts einer Berechtigung.77 Der Begriff des Systems ist dadurch gekennzeichnet, dass der menschliche Akteur völlig ausgeblendet wird. Dies ist jedoch im Strafrecht, in dem es um individuelle Verantwortung geht, verfehlt. Es mag sein, dass von diesem Paradigma zumindest in Teilbereichen der Rechtsordnung Abschied zu nehmen ist, wenn sich das soziale und wirtschaftliche Leben nur noch in kollektiven Einheiten abspielt und solchermaßen auch begreift. Für das Strafrecht kann dies aber nicht gelten, sofern unserer Recht überhaupt noch an das autonome Individuum anknüpft.

77

Anderer Auffassung aber Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 106 (1994), 683, 703 ff.

FRANZ VON BENDA-BECKMANN, HALLE/SAALE VERANTWORTUNG

IN RECHTLICH PLURALEN SOZIALEN

EINE RECHTSETHNOLOGISCHE

1

PERSPEKTIVE

RÄUMEN:

EINLEITUNG

Mein Beitrag befasst sich mit Rechtsordnungen, in denen Verantwortung und damit zusammenhängende Begriffe wie Haftung, Schuld, Kausalität, Verschulden und Verantwortlichkeit in unterschiedlichen in einer Gesellschaft ko-existierenden Rechtsordnungen verortet sind. Diese werden meist als „Rechtspluralismus“ gekennzeichnet.1 In vielen Staaten in den Regionen der Welt, die man früher die Dritte und Vierte Welt nannte, überwiegend Kolonialgebiete europäischer Mächte, haben pluralistische Rechtsordnungen eine sehr lange Geschichte; eine Geschichte, die oft bereits lange vor der Kolonialisierung begann und mit der Einführung kolonialen staatlichen Rechts noch komplexer wurde. In diesen Gesellschaften sind Konstruktionen von Verantwortung oft gegensätzlich und bringen ein gehöriges Maß an Rechtsunsicherheit mit sich. Auch führen sie regelmäßig zu sozialen Konflikten, in denen um die „richtige“ Konstruktion von Verantwortung und deren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen gestritten wird. Mit meinem Beitrag haben die Veranstalter in ihrem Rahmenpapier die Hoffnung einer phänomenologischen Bestandsaufnahme und einer ersten analytischen Durchdringung dieser Rechtsordnungen verbunden. Das ist ein großer Anspruch, dem ich sicherlich nur bruchstückhaft gerecht werden kann. Die ethnographischen Beispiele, die ich Ihnen vorführen möchte, kommen vor allem aus Gesellschaften, die ich aus meiner Forschung am besten kenne, die jedoch bei aller Variation pluraler rechtlicher Strukturen einen weiteren Geltungsbereich haben. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Problem unterschiedlicher rechtlicher Konstruktionen von Verursachung, Verantwortung und Haftung vor gut 40 Jahren bei der Materialsuche für meine Dissertation über Rechtspluralismus in Malawi konfrontiert. Auch in den Forschungen, die meine Frau und ich seit Mitte der 1970er Jahre in Westsumatra und in den Molukken in Indonesien gemacht haben, spielen unterschiedliche Konstruktionen von Verantwortung eine wichtige Rolle.

1

Zum Begriff Rechtspluralismus, siehe John Griffiths, What is Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism 24 (1986), 1 ff.; Sally E. Merry, Legal Pluralism, Law and Society Review 22 (1988), 869 ff.; Franz von Benda-Beckmann, Rechtspluralismus: Analytische Begriffsbildung oder politisch-ideologisches Programm?, Zeitschrift für Ethnologie 119 (1994), 1 ff.; Franz von BendaBeckmann, Who’s Afraid of Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism 47 (2002), 37 ff.; Keebet von Benda-Beckmann, Transnational Dimensions of Legal Pluralism, in: Begegnung und Konflikt – eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme, hg. von W. Fikentscher, 2001, 33 ff.

142 2

Franz von Benda-Beckmann

RECHTSETHNOLOGIE

UND

RECHTSPLURALISMUS

Bevor ich mich ethnographischen Beispielen zuwende, möchte ich kurz mein – rechtsethnologisches – Verständnis von Rechtspluralismus erläutern. Unter Rechtsethnologie verstehe ich eine vergleichsorientierte sozialwissenschaftliche Betrachtung von Recht und seiner gesellschaftlichen Bedeutung, die primär deskriptiv-analytische und nicht dogmatisch-politische Erkenntnisinteressen verfolgt. Die Ethnologie des Rechts hat sich bis in die 1960er Jahre vornehmlich mit den lokalen Stammes- und Dorfrechten in diesen Ländern befasst. Vergleichende Betrachtungen beschränkten sich weitgehend auf die Einordnung dieser Rechtsordnungen in eine evolutionäre Skala oder auf die Unterschiede zwischen unserem Recht und dem „der Anderen“. Seit den 1970er Jahren dominiert allerdings eine erweiterte Perspektive, die die komplexen Beziehungen des Nebeneinander, Miteinander oder Gegeneinander unterschiedlicher normativer Ordnungen und der sie reproduzierenden Akteure innerhalb eines sozial-politischen Raumes zu einem zentralen Forschungsbereich macht, ob es jetzt um Räume in Indonesien, Afrika, den Vereinigten Staaten oder in unserem eigenen Staat geht. Damit hat sich auch die vergleichende Perspektive verschoben. Es geht nunmehr um das Suchen nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten rechtlicher Formen innerhalb derselben Gesellschaft und zwischen unterschiedlichen Konstellationen von Rechtspluralismus. Rechtspluralismus ist für mich vor allem ein sensibilisierender Begriff. Er macht auf die Möglichkeit rechtlicher Konstellationen aufmerksam, in denen mehrere rechtliche Ordnungen oder institutionelle Regelungskomplexe in demselben sozialen Raum existieren. Dies setzt logisch einen Rechtsbegriff voraus, der nicht direkt an den Staat gekoppelt ist und der deshalb andere normative Ordnungen, die nicht durch den Staat als Recht anerkannt werden, nicht automatisch in den konzeptuellen Bereich von sozialen Normen, Sitten und Gewohnheiten verweist. Das bedeutet, dass es Recht geben kann, das durch nicht-staatliche Akteure gemacht und gehandhabt wird, selbst wenn es in der staatlichen oder internationalen Rechtsordnung nicht als „geltendes Recht“ anerkannt wird; ja selbst dann, wenn die betreffenden Akteure selbst ihre eigene normative Ordnung gar nicht Recht nennen würden. Bei Rechtspluralismus kann es also um unterschiedliche Konstellationen unterschiedlicher rechtlicher Elemente gehen. Es kann um mehr oder weniger als geschlossene symbolische Universa dargestellte Ordnungen gehen, wie staatliches Recht, viele religiöse Rechte, manche neo-traditionelle Stammesrechte und große Teile des inter- und transnationalen Rechts. Bei religiösen und traditionellen Rechten gibt es überdies oft mehrere Versionen, abhängig von dem Ausmaß, in dem sie durch staatliche Instanzen transformiert wurden und sich gleichzeitig auch in nichtstaatlichen Kontexten weiter entwickelten. Es können aber auch einzelne normative Regelungs- und Sanktionskomplexe sein, die „Recht ohne Namen“ sind, keinem System zugeordnet sind und keine der großen Legitimationen für sich beanspruchen. Diese werden oft gar nicht als Recht wahrgenommen, oder nur als quasi-Recht oder soft law.2 2

Das Projektrecht von Entwicklungsprojekten ist eine wichtige Erscheinungsform derartigen Rechts. Zu Projektrecht, s. f. von Benda-Beckmann (Fn. 1); Franz von Benda-Beckmann, The Multiple Edges of Law: Dealing with Legal Pluralism in Development Practice, in: The World Bank Legal Review. Law, Equity, and Development 2 (2006), 51 ff.; Markus Weilenmann, Project

Verantwortung in rechtlich pluralen sozialen Räumen

143

Rechtspluralismus ist also keine feste Größe. Es geht immer nur um mehr oder weniger Rechtspluralismus. Die gleichzeitige Existenz mehrerer Rechte kann sich auf den gesamtgesellschaftlichen Bereich oder nur auf bestimmte Teilbereiche, wie Familienverhältnisse, Vererbung, politische Organisation oder wirtschaftliche Transaktionen beziehen. Konstellationen von Rechtspluralismus kann es in unterschiedlichen sozialen und geographischen Räumen geben, in einer Familie, in einem Dorf, in einem funktional bestimmten Netzwerk, in einem Staat, oder transnationalen Räumen.3 Ich sehe hier keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den Beziehungs- und Interaktionsnetzwerken, die Moore (1973) einmal „semi-autonome soziale Felder“ genannt hat, und den transnationalen Feldern oder Räumen, in denen eine lex mercatoria oder soft law standards entwickelt werden. Das bedeutet, dass „Rechtspluralismus an sich“, abgesehen von der Möglichkeit der Einbeziehung nicht-staatlichen Rechts, ein ziemlich inhaltsloser Begriff ist und nur den Ausgangspunkt für die weitere Erfassung und theoretische Analyse unterschiedlicher empirischer Konstellationen von Rechtspluralismus bilden kann. Diese begriffstheoretische Ausgangslage ist außer bei Rechtsethnologen und manchen Rechtssoziologen vor allem bei den Rechtswissenschaftlern wahrzunehmen, die sich mit transnationalem Recht und soft law Regulierungsformen in transnationalen sozialen Feldern im Rahmen eines globalen Rechtspluralismus befassen.4 Konstellationen von Rechtspluralismus, und, in unserem Falle, plurale und miteinander konkurrierende Konstruktionen und Legitimationen von Verantwortung, sind natürlich auch, und vielleicht sogar vor allem, Gegenstand dogmatisch rechtswissenschaftlicher, politischer und ideologischer Auseinandersetzungen; sie stellen Entscheidungsträger vor das Problem, zwischen konkurrierenden rechtlichen Repertoires zu wählen; und sie sind ein wichtiges Thema philosophischer Überlegungen. In diesen Diskursen wird oft ein anderes Verständnis von Recht und Rechtspluralismus vertreten. Insbesondere wird Rechtspluralismus hier meist aus pragmatisch-politischen oder dogmatischen Überlegungen auf die Anerkennung nicht-staatlichen Rechts durch staatliches Recht beschränkt, und auf Überlegungen, wie man derartige Konstellationen von Rechtspluralismus aus der Sicht des staatli-

3

4

Law – Normative Orders of Bilateral Development Cooperation and Social Change, in: Mobile People, Mobile Law. Expanding Legal Relations in a Contracting World, hg. von f. von Benda-Beckmann / K. von Benda-Beckmann / A. Griffiths, 2005, 233 ff.; Shalini Randeria, Glocalization of Law: Environmental Justice, World Bank, NGOs and the Cunning State in India, Current Sociology (special issue) 51 (2003), 305 ff. Sally Falk Moore, Law and Social Change: the Semi-autonomous Social Field as an Appropriate Subject of Study, Law and Society Review 7 (1973), 719 ff.; die Art und regionale Lage dieser Räumlichkeiten und die Art des erforschten Rechts sind dabei zunehmend irrelevant geworden; aus der früheren Erforschung von Recht und seiner sozialen Wirksamkeit ist eine sozialwissenschaftliche Erforschung von Recht in komplexen Gesellschaften geworden. In den jüngeren Globalisierungsdebatten hat das Interesse für Rechtspluralismus und seine Folgen für die Macht des Staates, Ordnungen zu gestalten und durchzusetzen, auch bei Juristen und Rechtssoziologen zugenommen, vgl. Gunther Teubner (Hg.), Global Law without a State, 1997; Klaus Günther / Shalini Randeria, Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozess der Globalisierung, 2001; Gralf-Peter Callies, Reflexive Transnational Law: on Definition of Transnational Law, Zeitschrift für Rechtssoziologie 23 (2002), 185 ff.; Volkmar Gessner, Rechtspluralismus und globale soziale Bewegungen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 23 (2002), 277 ff.; Sally E. Merry, Anthropology and International Law, Annual Review of Anthropology 35 (2006), 99 ff.; Paul Schiff Berman, Global Legal Pluralism, Southern California Law Review 80 (2007), 1155 ff.

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Franz von Benda-Beckmann

chen Rechts am besten – gerechtesten, tolerantesten, effizientesten – gestalten könne oder solle. Diese Fragen spielen auf der dieser Publikation zu Grunde liegenden Tagung eine ganz zentrale Rolle; in meinem Beitrag werde ich allerdings nicht weiter auf diese normativen und politischen Fragen eingehen. 3

VERANTWORTUNG

Bevor ich mich Indonesien und Afrika zuwende, möchte ich einige analytische Überlegungen zu Verantwortung und ihren unterschiedlichen Gesichtern vorausschicken. Wie im Denken über Recht allgemein, wird auch das Denken über Verantwortung weitgehend in Konditionalprogrammen ausgedrückt. Mit bestimmten Sachverhaltsbildern, der Annahme bestimmter Gegebenheiten, wird Verantwortung verbunden, womit wiederum weitere Folgen verknüpft werden. In den Prozessen der Konkretisierung von Verantwortlichkeit werden die Konditionalprogramme der allgemein rechtlichen Repertoires in ein Begründungsprogamm „weil – deshalb“ transformiert. Das Konditionalitätsdenken wirkt für alle Zeiten, in denen die Gegebenheiten gelagert sind: vergangene Geschehnisse, unmittelbare Entscheidungssituationen, zukünftige Probleme. Diese Konstruktionen von Verantwortung geben Auskunft über das: Wessen Verantwortung? Wofür? Wem gegenüber? Was beinhaltet sie? Dabei möchte ich grob unterscheiden zwischen, einmal der ursächlichen Zurechnung von Geschehnissen und deren Folgen; damit oft verbunden die sich daraus ergebende Haftung für die Folgen; und, zweitens, der Verantwortung als funktions- oder statusgebundene Aufgabe, als legitime Position sozialer Machtbefugnisse und Verpflichtungen; eine Position, die man für sich beansprucht oder die man als Schwarzen Peter weiter schieben möchte. Es geht um eine breite Skala von Problemen, von Staatsaufgaben bis zur Haftung in einem Verkehrsunfall, um die Verantwortung von Eltern für ihre Kinder, der Regierung für das Wohlergehen der Staatbürger, Verantwortung gegenüber der Natur und der Menschheit, der heutigen und zukünftigen Generationen; Verantwortung gegenüber höheren, nicht menschlichen Wesen, Göttern, Geistern, Ahnen. Und, andererseits, geht es auch um Götter, Geister und Ahnen als Verantwortliche für gute und schlechte Zeiten unter den Menschen. In pluralen Rechtsordnungen können die unterschiedlichen Teilrechtsordnungen unterschiedliche Konstruktionen von Verantwortung beinhalten; das Wessen Verantwortung? Wofür? Wem gegenüber? Welche Folgen hat sie? auf unterschiedliche Art regeln. Was in dem einen System Verantwortung mit sich bringt, ist im anderen irrelevant. Das erlaubt ein gewisses Maß an idiom shopping oder code switching zwischen rechtlichen Repertoires. Abgesehen davon eröffnet die Pluralität dieser normativen Repertoires auch Möglichkeiten für forum shopping und shopping forums,5 den selektiven Gebrauch unterschiedlicher rechtlicher Foren, die ihrer Arbeit unterschiedliche Konstruktionen von Verantwortlichkeit zu Grunde legen. Verantwortung erschöpft sich natürlich nicht in rechtlichen Zurechnungen. Bereits in unser eigenen Gesellschaft ist es schwierig, rechtliche Zuschreibungen von Verantwortung, im Sinne von Haftung, Kausalität und Verschulden, von morali5

Keebet von Benda-Beckmann, Forum Shopping and Shopping Forums: Dispute Processing in a Minangkabau Village, Journal of Legal Pluralism 19 (1981), 117 ff.

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Verantwortung in rechtlich pluralen sozialen Räumen

schen, ethischen und allgemein philosophischen Bedeutungsinhalten zu unterscheiden. Dabei geht es nicht um einander ausschließende Alternativen, sondern um gleichzeitige Wertungen derselben Gegebenheiten nach unterschiedlichen Wertungsmaßstäben mit unterschiedlichen Sanktionen. Dieselbe Handlung kann rechtlich zu einer Strafe oder Schadensersatz führen, wird moralisch mit der sozialen Meidung des Täters belegt, und führt zur Nicht-Wiederwahl als Politiker; zugleich kann sie eine Sünde sein. Diese Wertungen brauchen nicht parallel laufen; etwas kann Sünde sein, jedoch nicht rechtlich relevant; etwas ist moralisch vertretbar, aber rechtlich nicht, oder umgekehrt. Dies bedeutet auch, dass sich Prozesse von Ver- und Entrechtlichung von Ideen über Verantwortung und Haftung in mehreren der Teilrechtsordnungen vollziehen können. Die Verschiebung dieser Grenzen, die Verrechtlichung oder Entrechtlichung von Verantwortung, sind dabei ein wichtiges Thema rechtlicher und politischer Debatten. In Staaten mit einem ausgeprägten Rechtspluralimus sind die Grenzziehungen und Spannungen zwischen rechtlichen und moralischen und politischen Wertungen und Zuschreibungen noch komplexer, da in diesen Gesellschaften die rechtliche Dimension oft nicht so deutlich gegenüber der religiösen, moralischen und politischen ausdifferenziert ist wie in der unseren. Die Adats, oder Adatrechte indonesischer ethnischer Gesellschaften sind ein derartiger Fall, wie auch das Adat der Minangkabau in Westsumatra, auf das ich gleich zu sprechen kommen werde. In den meisten Regionen Indonesiens ist Adat eine Kategorie, die nach unseren Maßstäben Recht, Moral, Etikette, Gewohnheiten, Rituale, Zeremonien umfasst, und adjektivisch auch auf Kunst, Musik, Tanz and Kleidung ausgedehnt wird. Das besagt jedoch nicht, dass es innerhalb des Adat keine rechtliche Dimension gebe. Auch innerhalb des Adat finden sich ziemlich deutliche und institutionalisierte Prinzipien und Regeln, die bestimmte Arten und Folgen von Verantwortung festlegen, und die Unterschiede machen zwischen einerseits rechtlichen Wertungen im Sinne von erlaubt–unerlaubt, gültig–ungültig und den damit verbundenen Konsequenzen (Sanktionen), und solchen, die sich mehr an Maßstäben von gut und schlecht, wertvoll und weniger wertvoll, wichtig oder unwichtig, erwünscht und unerwünscht, orientieren. Diese rechtliche Dimension im Adat ist durch die niederländischen Wissenschaftler, die sich näher damit befassten, zu Adatrecht gemacht worden, infolgedessen es teils zu einer Parallelität von lokalen dörflichen Verständnis von rechtlichem Adat und dem Juristen-Verständnis von Adatrecht kam, was sich bis in die heutige Zeit erhalten hat.6 4

RECHTSPLURALISMUS

UND

VERANTWORTUNG

IN

WESTSUMATRA

Bei den Minangkabau, einer etwa 9 Millionen umfassenden ethnischen Gruppe, deren Mehrheit in ihrem Stammland in Westsumatra (Indonesien) lebt, gab es Rechtspluralismus schon lange bevor diese Gesellschaft in den kolonialen Staat in6

S. Cornelis van Vollenhoven Het Adatrecht van Nederlandsch-Indië, Vol. I, 1918; Franz von BendaBeckmann, Property in Social Continuity: Continuity and Change in the Maintenance of Property Relationships through Time in Minangkabau, West Sumatra, 1979; Keebet von Benda-Beckmann, The Broken Stairways to Consensus: Village Justice and State Courts in Minangkabau. Verhandelingen van het Koninklijk Instituut voor Taal-, Land- en Volkenkunde, Vol. 106, 1984.

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Franz von Benda-Beckmann

korporiert wurde. Mit der Islamisierung im 16. Jahrhundert kamen neue politische, wirtschaftliche, soziale und religiöse Ordnungs- und Orientierungsmuster und Autoritäten ins Land, die fortan mit dem Minangkabauschen Adat und seinen Autoritäten koexistierten. Inhaltlich konnte man sich keinen größeren Gegensatz vorstellen. Das Minangkabausche Adat wird durch die Dominanz matrilinearer Strukturen und Institutionen gekennzeichnet, des Prinzips der Abstammung über die mütterliche Linie. Gruppenbildung, die Konstitution von und Nachfolge in politische Ämter wie auch das Vermögens- und Erbrecht verliefen nach diesen matrilinearen Strukturen. In Minangkabau waren matrilinear strukturierte Abstammungsgruppen unter einem Gruppenoberhaupt die sozial, wirtschaftlich und politisch wichtigsten Einheiten. Wie in vielen traditionellen Gesellschaften mit deutlich ausgeprägten Abstammungsgruppen waren die Strukturen der sozialen Organisation weitgehend segmentarisch; das heißt, dass kleinere durch gemeinsame Abstammung verbundene Segmente in größeren Segmenten verschachtelt waren, die jeweils mehrere kleinere umfassten, und alle wiederum in dem Matri-Klan zusammengefasst waren. Diese Ordnung wurde mit dem Islam und seinem stark patrilinear und viel individualistischer gefärbten Modell sozialer Organisation, Geschlechterverhältnissen und Vererbung konfrontiert. Vor fast 200 Jahren kam mit dem kolonialen Staat eine neue Ordnungsmacht hinzu, womit der Rechtspluralismus seine für Indonesien typische Dreieckskonstellation von Adat, Islam, Staat bekam. Zugleich hatte man einen Pluralismus von Autoritäten, zunächst von Adat-Ältesten und islamischen Führern, dann auch von Verwaltungsbeamten, Richtern und Rechtsgelehrten. Die Minangkabau hatten seitdem das ständige Problem, einen modus vivendi zu finden, um sich mit der gleichzeitigen Existenz dieser unterschiedlichen normativen Ordnungen zu arrangieren, ob man nun einfacher Bauer, religiöser Führer, Adat-Ältester oder in späteren Zeiten Regierungsbeamter, Richter oder Professor der Rechtswissenschaft war. Das führte zu einer bis heute wechselvollen Geschichte, in der unterschiedliche Akteure versuchten, friedlich oder im Streit, die jeweiligen Geltungssphären der Teilordnungen durch allgemeine Regeln und Prinzipien abzustecken, ihre Hierarchie festzulegen und die sich ergebenden Normkollisionen zu regeln. Dies galt für die Beziehung zwischen den normativen Ordnungen wie auch für die Zuständigkeit der unterschiedlichen Streitschlichtungsinstanzen, die durch die unterschiedlichen Rechtsordnungen mit legitimer Entscheidungsmacht versehen waren. Die kolonialen Regierungen versuchten, diesen Pluralismus über eine begrenzte Anerkennung von ethnisch oder territorial verankerten Gewohnheits- oder religiösen Rechten so zu ordnen, dass die Vielfalt zu einem geregelten Nebeneinander oder besser gesagt Untereinander von rechtlichen Parallelwelten werde. Anknüpfungspunkte waren Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, Rasse oder Religionsgemeinschaft oder der vordefinierte rechtliche Status von natürlichen Ressourcen als Staatsland oder Adat-Land.7 Neben diesen staatlich-rechtlichen Konstruktionen 7

Es sind diese Regelkomplexe, die in der kolonialen Rechtsliteratur beschrieben werden, zum Beispiel in Hookers Buch über Legal Pluralism (M. Barry Hooker, Legal Pluralism: An Introduction to Colonial and Neo-colonial Laws, 1975) und in meiner Dissertation über Rechtspluralismus in Malawi von 1970 (Franz von Benda-Beckmann, Rechtspluralismus in Malawi: Geschichtliche Entwicklung und heutige Problematik des pluralistischen Rechtssystems eines ehemals britischen Kolonialgebiets, 1970). Diese juristischen Konstruktionen von Rechtspluralismus wurden später „weak legal pluralism“, Griffiths (Fn. 1), oder „relative legal pluralism“, Jaques Vanderlinden, Return to Legal

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hatten jedoch oft auch das islamische Recht und das Adatrecht Regeln darüber, wie mit den anderen Ordnungen umzugehen sei. Wie die Beziehung zwischen den Rechtsordnungen sein soll, wird durch drei unterschiedliche Konstruktionen aus staatlicher, islamischer und Adat-Perspektive definiert. Man trifft hier also auf einen Pluralismus von normativen Rechtspluralismus-Konstruktionen. Kompliziert wurde dies weiterhin dadurch, dass die Arbeitsweise und Legitimation der einzelnen Instanzen nicht auf die Anwendung eines Rechts beschränkt sind. Staatliche Gerichte wenden teils auch Adat- und islamisches Recht an, traditionelle Dorfgerichte auch staatliche Regeln. In Westsumatra ist seit der Islamisierung bis in die heutige Zeit die Abstimmung der jeweiligen Geltungsbereiche von Adat und islamischem Recht ein lokalpolitischer Dauerbrenner. So entstand im Laufe der Geschichte ein breites, historisch wandelbares Repertoire von Ordnungsvorstellungen und sie verwaltenden politischen Autoritäten, die alle Rechtspluralismus auf ihre Art regeln wollten, in dem oft ältere durch neuere überlagert wurden, aber selten ganz verschwanden. In den meisten Perioden der Minangkabauschen Geschichte herrschte auf politischer und ideologischer Ebene der Drang nach Harmonie und Harmonisierung vor, allerdings mit unterschiedlichen Nuancen. Ausgangspunkt war und ist, dass Islam und Adat beide unterschiedliche, aber unabdingbare Bestandteile der Minangkabauschen Kultur und Identität sind. Ein Minangkabau sein, heißt, ein guter Muslim zu sein und sein Adat hochzuhalten. „Adat beruht auf der Sharia, die Sharia auf dem Koran“ – so wird es heutzutage meist ausgedrückt. Früher häufigere Ausdrucksweisen spiegeln andere Akzente in der Beziehung wieder: „Adat beruht auf der Sharia, die Sharia beruht auf Adat“ – ein eher gleichwertiges Verhältnis. Das Harmoniemodell wurde auch auf den Staat ausgedehnt. Adat, Staat und Islam als Identität stiftende Dreieinheit, die drei miteinander verwobenen Fäden, wie die Minangkabau sagen, welche die Identität des Minangkabauschen Staatsbürgers ausmachen. Spannungen wurden in einem routinierten Spannungsverhältnis aufgefangen, in dem es immer nur um kleine Verbesserungen der eigenen Position in der Balance im Verhältnis Adat und Islam, Islam und Staat, Adat und Staat ging. Warum sollte man wählen oder kämpfen, wenn man auch kombinieren konnte? Warum sollte man nicht gleichzeitig Adat-Oberhaupt, religiöse Autorität und moderner Staatsbeamter oder Politiker sein?8 Diese Vielfalt rechtlicher Repertoires, Verfahrensweisen und Autoritäten blieb, wenn auch in unterschiedlicher Form und Gewichtung, auch nach Indonesiens Unabhängigkeit im Jahre 1945 weitgehend erhalten, vor allem im Bereich des Familien-, Erb- und Bodenrechts. Im Laufe der letzten zehn Jahre haben zusätzlich neue transnationale Einflüsse zugenommen, wodurch rechtlich-politische Modelle wie Good Governance, Demokratie, und Privateigentum durch externe Akteure verbreitet werden; aber auch orthodoxe Versionen des Islam und des islamischen Rechts. Auf institutioneller Ebene kam es durch die Interdependenz der un-

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Pluralism: Twenty Years Later, Journal of Legal Pluralism 28 (1989), 149 ff., genannt. Die kolonialen Rechtswissenschaften entwickelten ihre eigenen Regelkomplexe, um mit den Widersprüchen umzugehen: Intergentiel recht in Niederländisch Ostindien. Conflict of law rules in den britischen Kolonien. S. auch Bermans Trias von Jurisdiction, choice of law, judgement recognition, (Fn. 5), 1228. S. Franz von Benda-Beckmann / Keebet von Benda-Beckmann, Changing one is Changing All: Dynamics in the Adat-Islam-State Triangle, in: Dynamics of Plural Legal Orders. Special double issue of the Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law Nrs. 53–54/2006, hg. von f. von BendaBeckmann / K. von Benda-Beckmann, 2006, 239–270.

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Franz von Benda-Beckmann

terschiedlichen Rechtsordnungen zu vielen hybriden Mischformen. Diese hybriden Rechtsformen können die ursprünglichen in den Hintergrund drängen und mehr oder weniger ersetzen. Doch kann, was an Adat und islamischen Rechtsvorstellungen über Jahre miteinander teils ideologisch, teils institutionell verschmolzen war, auch wieder entzerrt werden, entzweit im wahrsten Sinne des Wortes. Jederzeit können Radikale wieder Öl in das fast erloschene Feuer gießen, so wie das auch in Indonesien in den Prozessen der Revitalisierung von Adat und islamischem Recht immer mehr geschieht. Neben diesen Festlegungen auf weltanschaulicher, politischer und theoretischer Ebene musste man natürlich auch in jedem Einzelfall, in dem man mit alternativen Verhaltensanforderungen, Zurechnungsmodi und Konstruktionen von Verantwortung konfrontiert wurde, Entscheidungen treffen. 5

BEISPIELE

VON

VERANTWORTUNG

IN

WESTSUMATRA

Vor diesem Hintergrund möchte ich nun auf einige Aspekte von Verantwortung zurückkommen. Zunächst auf das Zusammenkommen von kollektiver und individueller Verantwortung. Die Abstammungsgruppe trat nach außen, anderen Gruppen und der Dorfregierung gegenüber, als Einheit auf. Zusammen besaßen die Mitglieder den erblichen Titel ihres Oberhaupts; ihnen zusammen gehörte das innerhalb der Gruppe durch die Generationen weitergegebene Erbgut; materielles wie Reisfelder, Tiere, Schmuck, und immaterielles. Sie trugen zusammen Scham und Schande, waren gemeinsam verantwortlich für die Begleichung von Schulden, und in den Zeiten, in denen das Strafrecht noch nicht so stark durch den Staat dominiert wurde, auch für die Zahlung von Blutgeld. Im Innenverhältnis war diese Einheit in Außenbeziehungen jedoch weitestgehend differenziert. Das gilt für die Rechte am Vermögen der Abstammungsgruppe und deren Vererbung; es gilt auch für die interne Schuldzuweisung und Verpflichtung zu Kompensationszahlungen innerhalb der Gruppe. Minangkabau ist kein Einzelfall. Die soziale Organisation traditioneller Gesellschaften bietet eine breite Skala an konkreten Regelungen. Diese sind jedoch meist Variationen desselben Prinzips: nach außen kollektive Verantwortlichkeit, innerhalb der Gruppe jedoch eine differenzierte Teilung der Lasten, im Prinzip und soweit möglich zu Lasten des Täters; und gleichzeitig aber auch die Möglichkeit, sich der kollektiven Verantwortlichkeit durch Verbannung, Tötung oder Auslieferung des Täters zu entziehen. Schon Moore hat darauf hingewiesen, dass durch die zunehmende Zentralisierung von politischer Organisation die Einheit, innerhalb welcher individuelle Verantwortlichkeit relevant wird, größer und umfangreicher wird.9 Dies erweckt den Anschein, als würde ihr eine größere Bedeutung zukommen. Es geht also nicht, wie manchmal angenommen, um ein Entweder-Oder zwischen individueller und Gruppenverantwortung, sondern um den Unterschied zwischen Verantwortung in Beziehung zu gruppen-externen Personen oder Gruppen, und innerhalb der Gruppe. Das Zusammengehen von kollektiver und individueller Verantwortlichkeit 9

Sally F. Moore, Legal Liability and Evolutionary Interpretation: Some Aspects of Strict Liability, Self-help and Collective Responsibility, in: The Allocation of Responsibility, hg. von M. Gluckman, 1972, 51–107

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und die Frage, was innen und außen ist, unterliegt oft dem Prinzip der strukturellen Relativität, vor allem in segmentär organisierten Gesellschaften mit deutlich demarkierten Abstammungsgruppen, wo die Nachkommen einer Urgroßmutter eine Einheit im Außenverhältnis zu anderen gleichartigen Gruppen sind, sich innerhalb dieser Gruppe jedoch als Teilgruppen gegenüberstehen. Strukturelle Nähe bzw. Distanz sind hier oft verbunden mit unterschiedlichen Graden der Mit-Verantwortung und Verantwortlichkeit zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung und bei der Erfüllung sozialer und rechtlicher Pflichten, die das Vermögen des Einzelnen übersteigen, wie das Aufbringen von Blutgeld, Brautgeld, oder anderen Schadensersatzforderungen, bei denen die relevante Gruppe im Außenverhältnis verantwortlich ist. In Minangkabau ist das Oberhaupt der Gruppe der Träger der gemeinsamen Verantwortung im Außenverhältnis. Wie weit diese geht oder gehen soll, ist immer wieder umstritten. In „unserem“ Dorf wurde das Ausmaß der Verantwortung gerade vor ein paar Jahren in einer neuen Dorfregelung klargestellt. Das Gruppenoberhaupt ist verantwortlich für die Aufrechterhaltung von Adat, für das Regeln von Streitigkeiten, für die Vertretung seiner Gruppenmitglieder in Außenbeziehungen, vor allem auch vor Gericht. Er ist auch verantwortlich für das adat-gemäße Verhalten seiner Gruppenmitglieder und kann sanktioniert werden, wenn diese Adatregeln brechen. Aber er ist nicht, wie früher, auch für ihre Schulden verantwortlich/haftbar. Das Prinzip gilt übrigens auch umgekehrt: Wenn ein Gruppenoberhaupt sich schlecht verhalten hat, werden mit ihm auch seine Gruppenmitglieder ausgeschlossen. Wie sehen solche Sanktionen aus? Das zeigt sich in zwei Fällen aus jüngerer Zeit, wo sich Mitglieder einer Abstammungsgruppe unbotmäßig verhalten hatten und sich vor allem nicht an die Anweisungen des Dorf-Adatrates gehalten hatten. Das Oberhaupt und seine Gruppenmitglieder wurden nach Adat sanktioniert. Er und seine Verwandten wurden von Adat-Angelegenheiten ausgeschlossen, von der Teilnahme an der politischen Entscheidungsfindung im Dorfrat, von Eheschließungen und Begräbnisse begleitenden Zeremonien. Um sich dieser Sanktion wieder zu entziehen, müssten die Verantwortlichen ihre Schuld zugeben und die Adat-Ältesten um Verzeihung bitten, eine Kuh schlachten, und eine gemeinsame Mahlzeit für die Adat-Ältesten organisieren. Falls sie das nicht täten, würden sie von allen AdatAngelegenheiten ausgeschlossen. Nach gut drei Monaten fügten sich die Bestraften, baten um Vergebung und organisierten das Fest. Eine andere Situation sind nach Adat nicht erlaubte Eheschließungen innerhalb des Matriclans, auch wenn die gemeinsamen Blutsbande der Partner viele Generationen zurückliegen. Nach staatlichem und auch nach islamischem Recht wäre eine solche Ehe gültig, nach Adat ist sie Inzucht. Ein Gruppenoberhaupt, das nicht für die Einhaltung des Adat durch Gruppenmitglieder sorgen kann, kann also sanktioniert werden, bis die Sache aus der Welt ist. Wie geht das? Man bittet um Verzeihung, gesteht seine Fehler ein, und organisiert eine Zeremonie, wofür eine Kuh oder ein Büffel geschlachtet werden muss. Beides sind schöne Fälle von Rechtspluralismus, denn nach staatlichem Recht und auch nach islamischem Recht ist hier von Verantwortung nicht die Rede, bei weit entfernten matrilinearen Verwandten nicht einmal von einer moralischen Verantwortung. Diese Fälle leiten zu einem anderen Aspekt von Verantwortung über: zu Verantwortung als funktions- oder statusgebundener Aufgabe: Verantwortung als legitime Position sozialer Machtbefugnisse und Verpflichtungen; auch verbunden mit dem

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Recht und der Pflicht, Andere in die Pflicht zu nehmen. Auch diese sind in pluralen rechtlichen Gesellschaften oft sehr unterschiedlich. Je größer die Verantwortung, desto größer auch meist das Ansehen der Position. Deshalb sind derartige Positionen in vielen Gesellschaften sehr begehrt und häufig umstritten. Diese Art der Verantwortung, eine Quelle der Macht, ist ein begehrter Preis, um den man sich streitet. Wer trägt die Verantwortung für das Wohlergehen der Dorfes – der durch den Staat eingesetzte Bürgermeister oder die nach Adat legitimierten Oberhäupter der Abstammungsgruppen? Wer ist verantwortlich für die Rechtspflege, das heißt für die Ausübung legitimer Macht in Entscheidungsprozessen: die staatlichen Gerichte, traditionellen Gruppenoberhäupter, religiösen Führer oder der Dorfrat, der Häuptling eines Stammes für die Mitglieder seines Stammes; oder, im kleinen Kreis, der Vater für seine Kinder nach islamischem Recht oder der Bruder der Mutter für seine Neffen und Nichten nach Minangkabauschem Adat? Wie bereits erwähnt, eröffnet die Pluralität der normativen Repertoires und Verfahren Möglichkeiten für forum shopping von Parteien, aber auch für shopping forums, das An-sich-ziehen von Fällen durch die unterschiedlichen Instanzen.10 Das Maß, in dem Personen davon Gebrauch machen können, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem auch von den wirtschaftlichen und politischen Machtdifferenzen zwischen den Parteien. Man kann nicht einfach bestimmten Kategorien der Bevölkerung unterschiedliche Rechtsordnungen zuordnen, zum Beispiel den Bauern „ihr“ Gewohnheitsrecht, den Beamten „ihr“ staatliches Recht. Auch Bauern bedienen sich bei der Verfolgung bestimmter wirtschaftlicher Ziele des staatlichen Rechts; umgekehrt berufen sich auch Beamte auf Adat oder islamisches Recht. Allerdings bringen diese Positionen auch oft lästige, schwer zu erfüllende Anforderungen und Verpflichtungen mit sich, denen man sich gerne entziehen will, und zu deren Träger man dann gerne andere macht, ihnen quasi den Schwarzen Peter zuschiebt. In unserer Forschung haben wir auch das Abschieben, das Sich-Entziehen von Verantwortung für die Rechtspflege in den sozialen Prozessen erlebt. 6

MALAWI

Mit Beispielen aus meiner Forschung in Malawi möchte ich auf einen anderen wichtigen Aspekt eingehen, nämlich die in der Zuschreibung von Verantwortung enthaltenen Kausalitätsannahmen. Oft sind die Gegebenheiten, mit denen Verantwortung verbunden wird, deutlich und unstreitig. Oft jedoch, und vor allem wenn es darum geht, für einen Schaden einzustehen, geht es zunächst darum, unter welchen Umständen man überhaupt davon ausgeht, ausgehen kann oder ausgehen muss, dass diese Gegebenheiten vorliegen, dass der A ein Kind gezeugt hat, dass der B den A getötet hat. Mit anderen Worten, es geht um die Herstellung einer kausalen Beziehung, die bewiesen oder auf Grund überdeutlicher Hinweise und Indizien für jedermann deutlich werden muss. Dies gilt gleichermaßen für die unterschiedlichen Wertungsmaßstäbe rechtlicher, moralischer, religiöser, politischer Art; und die Anforde10

S. hierzu K. von Benda-Beckmann (Fn. 1); Franz von Benda-Beckmann, Some Comparative Generalizations about the Differential Use of State and Folk Institutions of Dispute Settlement, in: People’s Law and State Law: the Bellagio Papers, hg. von A. Allott / G. R. Woodman, 1985, 187 ff.

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rungen an die Glaubwürdigkeit der Kausalität sind meist besonders streng, wenn es um rechtliche Konsequenzen geht. Im Beweisrecht spielt Rechtspluralismus hier eine besonders wichtige Rolle. In meiner Forschung in Malawi zeigte sich dies vor allem in zwei Arten von Fällen. Die eine große Kategorie war die von Vaterschaftsklagen. Im traditionellen Denken vieler afrikanischer Gesellschaften war die Andeutung eines Mannes als Erzeuger des Kindes als Beweis ausreichend. Ein zusätzlicher Beweis war nicht erforderlich, denn man wusste, dass eine Frau nicht lügen konnte, weil ihr dann übernatürliche Sanktionen drohten. Überdies, so half die zirkuläre Logik: Warum sollte sie lügen? Wenn sie hätte lügen wollen, hätte sie ja auch jemand anders als Vater angeben können. Nach diesen Prinzipien wurden auch in den Local Courts durch afrikanische Richter Vaterschaftsklagen entschieden. Es führte zu Problemen, wenn es zu Klagen afrikanischer Frauen gegenüber europäischen Männern kam. Hier galt in den Magistrates Courts die englische Affiliation Ordinance, die weitere Beweise verlangte, die die Frauen oft nicht liefern konnten. Das führte übrigens zu politischen Problemen, und kurz vor der Unabhängigkeit Nyasalands 1964, wurde die Notwendigkeit zusätzlicher Beweismittel unter dem Druck der Unabhängigkeitsbewegung gestrichen. Wir sehen, dass hier die abstrakte Rechtsregel, die Alimentierungspflichten mit der Vaterschaft verbindet, und damit die Verantwortung des leiblichen Vaters für sein Kind gegenüber dem Kind und seiner Mutter, gleich ist, die kausalen Annahmen, die der „Vaterschaft“ zu Grunde liegen, jedoch sehr unterschiedlich sind. Eine vergleichende Betrachtung von Verantwortung kann man hiervon nicht abstrahieren. Dramatischer als die Vaterschaftsfragen ist wegen der Schwere der Folgen die Verantwortung für die erwartete wie auch tatsächliche Verursachung persönlichen Schadens oder der Tötung von Personen. In Malawi (und ähnlich auch in anderen Staaten Afrikas) sind Zauberei, witchcraft, oder das Wirken von Geistern, spirits, die logische ex-post Erklärung außergewöhnlicher und unerklärbarer Vorfälle; prägen die Konstruktion von Verschulden, Kausalität und Haftung. Für Missgeschicke aller Art muss die verantwortliche Person gefunden werden, die ja nicht nur diesen (und möglicherweise auch früheren) Schaden verursacht hat, sondern auch für die Zukunft eine Gefahr darstellt. Um ihn oder sie zu finden, gab es bestimmte Verfahren, in denen Experten, witchfinders, diviners, mittels ihrer Zauberinstrumente oder in durch sie durchgeführten Ordale, die Verdächtigen oder Beschuldigten zu überführen suchten. In der Atmosphäre des Vertrauens machte man keine Anschuldigung ohne Grund. Diese Atmosphäre des Vertrauens wurde durch strenge Strafen sanktioniert. Wer jemand zu Unrecht beschuldigte, musste hohen Schadensersatz zahlen; tat man es mehrfach, konnte man ihn verbannen oder töten. Das zeigt sich auch in Fällen der Putativnotwehr bei der Verteidigung gegenüber einem (vermeintlichen) Angriff durch übernatürliche Kräfte (witchcraft). Das kam vor, wenn man sich durch bestimmte Personen bedroht fand. Durfte man diesem drohenden Ereignis durch vorbeugende Handlungen zuvorkommen? Im englischen Recht musste der Glaube an die Bedrohung „honest and reasonable“ sein. Aber nach welchem Standard sollte dies entschieden werden? Ob der Glaube an die magischen Kräfte bestimmter Personen ein honest und reasonable belief war, wurde innerhalb der englischen kolonialen Gerichtsbarkeit sehr unterschiedlich beurteilt. Dies zeigte sich besonders deutlich in dem Fall Regina vs. Jackson. Eine ältere Verwandte hatte Jack-

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son mit einem Zauber belegt, infolgedessen er, wie er glaubte, in unmittelbarer Todesgefahr schwebte. Sie hatte ihm gedroht, er werde heute die Sonne nicht mehr sehen, was er so verstand, dass er an dem betreffenden Tage die Sonne nicht mehr untergehen sehen würde. Er war davon überzeugt, dass seine einzige Chance, sein Leben zu retten, in der Tötung der Frau liege. Also nahm er Pfeil und Bogen und tötete sie. Der Fall wurde zunächst (1956) im High Court von Nyasaland entschieden. Jackson wurde freigesprochen. Der Richter führte aus, dass er honestly und reasonably geglaubt habe, dass die Frau ihn mit ihren übernatürlichen Kräften töten werde. Dies sei zwar ein Irrtum gewesen, doch könne ihn keine größere strafrechtliche Verantwortlichkeit treffen, als wenn die irrtümliche Vorstellung der Wahrheit entsprochen hätte. Zwischen einem physischen und metaphysischen Angriff auf Jackson bestehe daher kein Unterschied; sein Verhalten sei so zu bewerten, als ob ihn die Frau mit Mordabsicht angegriffen habe. In der Berufung entschied der Federal Supreme Court, dass Jacksons Handlung als Mord zu bewerten sei. Denn, so führte das Gericht aus, der Test der reasonableness of common law sei ein objektiver Test, der sich danach bemesse, was der Durchschnittsmensch in den Straßen Londons für reasonable halte. Da dieser den Glauben an Zauberei für unsinnig halte, könne der Glaube bei der Beurteilung der möglichen Notwehr bzw. der von der Strafbarkeit befreienden Putativnotwehr nicht berücksichtigt werden. Nach der Unabhängigkeit Nyasalands, nunmehr Malawis, wurde durch den Malawischen Supreme Court neu entschieden, dass das, was reasonable sei, sich danach bemesse, was der Durchschnittsmensch der Gemeinschaft, der der Angeklagte angehöre, für reasonable halte.11 Wir sehen hier also drei unterschiedliche rechtliche Bewertungen: die unter Afrikanern und im Stammesrecht dominante; die staatliche, die sich im Rahmen der Anwendung englischen Rechts die afrikanische Bewertung (cultural defense, würde man heute sagen) zu eigen macht; und eine andere staatliche, die strikt auf der Kombination von englischem Recht und englischer Leitkultur beharrt. Die Folgen konnten wie hier über Tod und Leben entscheiden. Diese Art der Erklärung von Geschehnissen und Zuschreibung von Verantwortung für Ereignisse durch übermenschliche Kräfte sind sicher in Afrika noch sehr dominant. Hier geht es fast ausschließlich um das Suchen nach und das Bestrafen von Schuldigen, die selbst mit übermenschlichen Kräften gehandelt haben oder das Handeln dieser Kräfte verschuldet haben. Die Stoßrichtung kann sich allerdings auch ändern und sich gegen sich selbst richten. Wie der amerikanische Jurist und Rechtsethnologe David Engel berichtet, werden auch im Norden Thailands unangenehme Geschehnisse vor allem durch das Handeln von Geistern erklärt. Engels Forschung befasste sich mit Schadensersatzforderungen bei Verkehrsunfällen.12 Im Laufe der Zeit haben die Modernisierung der Infrastruktur und der immer stärker werdende Autoverkehr zu einer Zunahme von Unfällen mit Personenschaden geführt. Verantwortung und Schuld werden jedoch immer weniger den Verursachern, also den Autofahrern in unseren Augen, zugeschrieben, sondern immer mehr als Folge des eigenen Verschuldens betrachtet – dass man mit seinem Karma nicht im Reinen ist und dass man das Eingreifen der Geister selbst verschuldet hat. Diese 11 12

F. von Benda-Beckmann (Fn. 7), 131–133 David Engel, Landscapes of the Law: Injury, Remedy, and Social Change in Thailand, Law & Society Review 43 (2009), 61–93

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Einstellung, dass es an einem selbst gelegen habe und man den Zorn Gottes oder der Ahnen auf sich gezogen habe, treffen wir natürlich auch in anderen Gesellschaften an. 7

ZUM SCHLUSS

Wie weit Verantwortung geht, wie weit sie gehen darf oder soll, und wo die Grenzen zwischen politischer, ethisch-moralischer und rechtlicher Verantwortung liegen und liegen sollten, sind in allen Gesellschaften umstrittene Fragen. Das ist uns aus unserer eigenen Gesellschaft bestens bekannt, in der rechtspluralistische Strukturen nur partiell ausgebildet sind, in der aber auch die Verantwortungsstrukturen des staatlichen Rechtes durch rechtliche Alternativen herausgefordert werden, zum Beispiel in Namen von Religion und religiösem Recht, katholischem oder islamischen. In Staaten der Dritten Welt sind diese gegensätzlichen und potentiell hoch explosiven Konstruktionen von Verantwortung noch sehr viel deutlicher ausgebildet. Einerseits werden bestimmte Formen der Verantwortung heftiger umkämpft; andererseits ist es leichter, sich aus bestimmten Formen der Verantwortung heraus zu stehlen. Das wird sich auch nicht schnell ändern, denn ein Maß an Rechtspluralismus wird bleiben, ob er nun durch den Staat anerkannt ist oder nicht. Die im Rahmen früherer Modernisierungsentwürfe erstrebte und oft in Kodifikationen festgeschriebene Vereinheitlichung des Rechts hat sich in vielen Bereichen des sozialen Lebens als trügerisches wishful thinking erwiesen, und sie hat häufig zu mehr als zu weniger Rechtssicherheit geführt. Das lehrt uns zugleich, dass neues und noch besseres Recht, ein neuer Modernisierungsschub im Rahmen der heutigen Transnationalisierung von Recht, nicht viel daran ändern werden kann, solange man nicht die Faktoren beeinflussen kann, welche Menschen und Organisationen dazu bringen, unverantwortlich mit der rechtlich geregelten Verantwortung umzugehen.

JULIA ECKERT, BERN KULTUR 1

UND

SCHULD: NARRATIVE

EINLEITUNG: DIE

STRAFRECHTLICHE

DER

VERANTWORTUNG

BEHANDLUNG

KOLLEKTIVER

GEWALT

Die Aufarbeitung von Bürgerkriegen und anderen Ereignissen kollektiver Gewalt hat eine breite Literatur zu Fragen der Zuschreibung von Verantwortung, von Haftung, Rechenschaftspflicht oder Schuld hervorgebracht.1 Mit der Entwicklung eines internationalen Strafrechts und dessen Institutionalisierung in verschiedenen Tribunalen und dem ICC wurde neben anderen Instrumenten der Konfliktregelung ein Konzept der Verantwortungszuschreibung globalisiert, das auf individuelle Zurechnung, insbesondere Befehlsverantwortung abzielt. Einige Ethnologen wie Richard Wilson und John Bornemann haben in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von retributiver Gerechtigkeit verwiesen.2 Andere, wie Kamari Clarke oder Mahmoud Mamdani hingegen haben mit der Etablierung des internationalen Strafrechts und der Bezugsnorm der Menschenrechte dieses zugrundeliegende Modell der individuellen Zurechnung als unzulänglich oder gar verzerrend kritisiert.3 Nicht nur die politische Ökonomie des internationalen Strafrechts, die die Zurechnung von Schuld geographisch sehr ungleich verteilt4, vielmehr die in den Schuldzuweisungen enthaltenen Konfliktnarrative, die Reduktion von Konfliktprozessen auf Täter/Opfer-Dichotomien und die Abstraktion von globalen Zusammenhängen durch die Konzentration auf einzelne Täter wurden kritisiert. Dem zugrunde lag eine grundsätzliche Kritik an der Konstruktion der Verantwortung im internationalen Strafrecht, die die individuelle Zurechnung und den ihr zugrunde liegenden Personenbegriff als einer Durchsetzung von westlichen Institutionen, westlichem Recht und westlichen Verfahren sah, die u. a. den Gerechtigkeitsnormen und Gerechtigkeitsbedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht würden.5

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Z. B. Emily Haslam, Law Civil Society and contested Justice at the International Criminal Tribunal for Rwanda, in: Paths to International Justice, hg. von M.-B. Dembour / T. Kelly, 2007, 57–82; J. Hagan / R. Levi / G. Ferrales, Swaying the Hand of Justice: The Internal and External Dynamics of Regime Change at the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Law and Social enquiry 31 (2006), 585–616; Martha Minow, Between Vengeance and Forgiveness, Facing History after Genocide and Mass Violence, 1998; Jeffrey Olick / Brenda Coughlin, The Politics of Regret, in: Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, hg. von J. Torpey, 2003, 37–62; Robert Gordon, Undoing Historical Injustice, in: Justice and Injustice in Law and Legal Theory, hg. von A. Sarat / T. Kearns, 1996, 35–76 John Bornemann, Reconciliation after Ethnic Cleansing: Listening, Retribution, Affiliation, Public Culture 14 (2002), 281–304; Richard Wilson, Reconciliation and Revenge in Post-Apartheid South Africa, Current Anthropology 41 (2000), 75–98 Kamari Clarke, Rethinking Africa Through ist Exclusions: The Politics of Naming Criminal Responsibility, Anthropological Quarterly 38 (2010), 625–651; Mahmoud Mamdani, Savior and Survivors: Dafur, Politics and the War on terror, 2009 Nandini Sundar, Towards an anthropology of culpability, American Ethnologist 31 (2004), 145– 163 Vgl. Gerhard Anders, Juridification, Transitional Justice and Reaching out to the Public in Sierra

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Julia Eckert

Ethnologen haben immer wieder die spezifischen Formen der Haftung und Zurechnung anderer Gesellschaften aufgezeigt6 und dabei deutlich gemacht, wie diese mit unterschiedlichen Personenbegriffen und sozialer Organisation zusammenhängen. Sie unterscheiden sich u. a. nach dem spezifischen Verhältnis von Freiheit und Kausalität, die darin angenommen werden, nach dem Verständnis von Kausalität und der Gewichtung derselben, sowie nach den Zeithorizonten, in denen Kausalität und Obligation verstanden werden. In dem Verantwortungsbegriff, der dem Internationalen Strafrecht zugrunde liegt, schwingen der dem Westen zugeschriebene Personenbegriff und dessen spezifische Mischung aus Kausalität und Freiheit mit. Die Annahme der Handlungsautonomie, die letztlich konstitutiv für die Konzeptionalisierung des modernen Subjekts ist, impliziert auf der einen Seite eine spezifische Konstruktion von Kausalität: Verantwortlich ist derjenige, der verursacht. Verantwortung impliziert aber gleichzeitig auch die Vorstellung vom freien Handeln, denn nur wer auch anders hätte handeln können, ist verantwortlich.7 Eine zwingende Kausalität entbehrt der Verantwortung. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die langfristigen Prozesse der Veränderungen von Personenbegriffen und des Selbst eingehen, wie sie z. B. zuerst Marcel Mauss skizziert hat.8 Noch möchte ich an dieser Stelle einen Vergleich zwischen unterschiedlichen gegenwärtigen rechtlichen Verantwortungskonstrukten und anderen Vorstellungen von Zurechnung aufstellen. Vielmehr möchte ich auf die meines Erachtens sehr viel kurzfristigeren Veränderungsprozesse von Verantwortungskonstruktionen hinweisen und vor allem auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher global zirkulierender Verantwortungskonstruktionen und deren Bedeutung für Gruppenkonflikte. Damit ist die These verbunden, dass wir es bei alternativen Formen der Zuschreibung von Verantwortung meist nicht mit einem Konflikt von „westlichen“, „transnationalen“ oder „fremden“ Modellen der Verantwortungszuschreibung und authentisch autochthonen zu tun haben, sondern mit politischen Aushandlungsprozessen, in denen konkurrierende „reisende Modelle“ der Verantwortungszuschreibung in spezifischen Konfliktsituationen von unterschiedlichen Akteuren mit vorgängigen lokalen Interpretationsrepertoires verknüpft und aktualisiert werden. Dabei möchte ich auf zwei Fragen eingehen, die sich mir im Zusammenhang mit der Zuschreibung von Verantwortung stellen. Erstens: Was sind die Geschichten und Genealogien der einzelnen Verantwortungskonstrukte und wie werden sie in spezifischen Situationen dominant? Dies ist auch eine Frage nach der Globalisierung von rechtlichen Normen und von Konfliktnarrativen. Zweitens: Welche sozia-

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Leone, in: Ethnographic Forays into Law’s Transformations, hg. von J. Eckert / Ö. Biner / B. Donahoe / C. Strümpell, im Erscheinen Z. B. Edward Even Evans-Pritchard, Witchcracft, Oracles and Magic among the Azande, 1937; Max Gluckman, Reasonableness and Responsibility in the Law of Segmentary Societies, in: African Law: Adaptation and Development, hg. von H. Kuper / L. Kuper, 1965, 120–146; Sally FalkMoore, Legal Liability and evolutionary Interpretation: some aspects of strict liability, self-help and collective responsibility, in: The Allocation of Responsibility, hg. von M. Gluckman, 1972, 51–108; Marilyn Strathern, Losing (out on) intellectual resources, in: Law, Anthropology and the Constitution of the Social; Making Person and Things, hg. von A. Pottage / M. Mundy, 2009, 201–233 Steven Lukes, Power. A Radical View, 1974 Marcel Mauss, Une catégorie de l‘esprit humain: la notion de personne, celle de „moi“; un plan de travail, Journal of the Royal Anthropological Institute 68 (1938), 263–281

Kultur und Schuld: Narrative der Verantwortung

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len Folgen haben sie, was bedeuten sie insbesondere für gruppenübergreifende Beziehungen und auch für Konfliktschlichtung? 2

GUJARAT 2002

„Sie haben ihn“, „endlich Gerechtigkeit“, „jetzt ist er endlich dran“. So trafen im März 2010 die SMS-Nachrichten bei mir ein. Was zunächst nach der Festnahme eines flüchtigen Schwerverbrechers klang, bezog sich auf die Vorladung des Chief Ministers Narendra Modi vor einen Untersuchungsausschuss, der vom obersten Gericht Indiens eingesetzt worden war. Er sollte dort zu dessen Rolle in den sogenannten „riots“ in Gujarat von 2002 befragt werden, in denen 2–3.000 Muslime ermordet und über 200.000 aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben wurden. Die SMS kamen von Muslimen, die schon seit dem Pogrom von 1993 in Bombay das Gefühl hatten, dass es für sie keine Gerechtigkeit gäbe und das indische Recht für sie nicht gälte. Für sie war allein die Vorladung eine Genugtuung. Wenn auch manche SMS meinten, „endlich steht er vor Gericht“, und das nicht den Tatsachen entsprach, so war doch schlicht die vermutetet Demütigung Modis durch die Vorladung und die darin enthaltenen Bestätigung, dass die Vermutung, Modi hätte in diesen Pogromen eine Rolle gespielt, nicht gänzlich aus der Luft gegriffen war, ein Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens dieser Muslime ins indische Rechtssystem. Die SMS, die bei mir eintrafen, sprachen von einer eindeutigen Zuordnung der Verantwortung für die Gewalt in Gujarat. Schon im April 2002, als die Pogrome noch andauerten, waren sich alle Muslime, mit denen ich sprach, einig, Narendra Modi, der Ministerpräsident von Gujarat, sowie die leitenden Persönlichkeiten der verschiedenen hindu-nationalistischen Organisationen seien verantwortlich. Niemandem von denen, die überlebten, ging es in erster Linie um die direkten Mörder ihrer Verwandten. Um die ging es erst in zweiter Linie. Alle wiesen die Verantwortung den Rädelsführern, den Anführern der Gruppen, die marodierend durch Städte und Dörfer zogen, sowie den vermuteten Hintermännern in der Regierung zu, die die Ausschreitungen zugelassen bzw. ihre Verhinderung unterbunden, sie legitimiert, sie in vielerlei Weise dirigiert und von ihnen politisch profitiert hatten. Die instrumentelle Rolle hindu-nationalistischer Organisationen bei der Vorbereitung und Durchführung der Pogrome wurde durch deren eigene Aussagen in verschiedenen Medien, wie auch Aussagen der Polizei und von Opfern belegt.9 Die Polizei ging nicht gegen Hindus, die an der Gewalt beteiligt waren, vor10 und gab später an, Weisungen erhalten zu haben, jegliche Intervention gegen Hindus zu unterlassen. Aber schon als die Pogrome noch in Gange waren, sprachen die Muslime von den Befehlsgebern, den Organisatoren und vor allem von den politisch Verantwortlichen. Den muslimischen Verortungen von Verantwortung lag aber nicht nur die Unterlassung und die Rechtfertigung und Legitimierung der Gewalt, nicht einmal nur 9 10

Tehelka 2007 at www.tehelka.com/story_main35.asp? filename=Ne031107Conspirators.asp (zuletzt besucht am 3. 2. 2009) Communalism Combat Report „Genocide Gujarat 2002“, in: Gujarat 2002; untold and retold stories of the Hindutya Lab, hg. von J. Dayal, 2002, 425–681, hier: 597–621

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der angebliche Befehl an die Polizei zur Unterlassung der Hilfestellung, sondern die Befehlsverantwortung im engeren Sinne zugrunde, das Gefühl, dass sich die Gewalttäter sicher sein konnten, im Sinne Modis gehandelt zu haben, dass die Regierung Modi ihre eigenen Ziele mit der Gewalt verfolge, sowie dass hindu-nationalistische Organisationen die Gewalt praktisch möglich gemacht und ideologisch vorbereitet hätten. Es ging ihnen also um eine umfassende politische Schuld. Diese wollten sie geahndet sehen; diese war in ihren Augen größer als die der einzelnen Schläger und Mörder. Es war eindeutig ein Modell der Befehlsverantwortung, dass hier den Gerechtigkeitsvorstellungen der Muslime unterlag. Diese Verantwortungszuschreibung hatte ihren Grund u. a. darin, dass Chief Minister Modi den Gewalttätigen 72 Stunden gegeben hatte, ihre Wut zu entladen „72 hours to vent their anger“. „Jeder Aktion folgt eine Reaktion“, kommentierte der Ministerpräsident die Gewalt. Sein Rekurs auf das dritte Gesetz von Newton bezog sich darauf, dass dem Pogrom ein Anschlag auf ein Zugabteil vorangegangen war, bei dem 67 Freiwillige der hindu-nationalistischen Bewegung, die gerade aus Ayodhya zurückkehrten, ums Leben kamen. Ayodha ist diejenige Stadt in Indien, in der nach Willen hindu-nationalistischer Organisationen ein Tempel für Ram gebaut werden soll. Zu diesem Zwecke zerstörten sie 1992 die Babri Moschee, die nach ihrer Ansicht an dem Ort steht, wo Ram einst geboren wurde. Nach Ansicht von Hindu-nationalisten ist die Zerstörung der Moschee die Antwort auf deren ursprünglichen Bau durch Babur, den Moghulherrscher – angeblich auf den Trümmern eines Tempels.11 Ob die Freiwilligen 2002 tatsächlich Opfer eines Brandanschlags auf den Zug in Godhra waren oder das Feuer durch einen Unfall verursacht wurde, ist bis heute ungeklärt bzw. umstritten. Nichts desto trotz wurde dieser Vorfall zur Erklärung, und vielfach gar zur Rechtfertigung der darauf folgenden Pogrome herangezogen. Ich habe mich an anderer Stelle damit auseinandergesetzt, was die Wege der Rechtsnormen in die Gassen der Städte und Dörfer Indiens sind.12 (Eckert 2006; im Erscheinen). Dies ist zugleich auch eine Frage nach der Globalisierung von Wissen und nach den unterschiedlichen Mechanismen, durch die transnationale Prozesse in den jeweiligen Gesellschaften angeeignet und übersetzt werden. Man könnte den Zuspruch zum Modell der Befehlsverantwortung unter indischen Muslimen und anderen, die auf eine gerichtliche Klärung drängen, nun als Ausdruck der Hegemonie transnationaler strafrechtlicher Normen beschreiben.13 Vielfach ist die Verrechtlichung von Konfliktregelung als das Ergebnis der Durchsetzung des westlichen Personenbegriffs diskutiert worden, als Ausdruck des Übergangs von status- zu vertragsorientierten sozialen Beziehungen. Obwohl die Austragung von Konflikten über Recht erst einmal individuelle Verantwortlichkeiten festschreibt und vom Kontext weiter abstrahiert, als das andere Verfahren tun – 11 12 13

2011 entschied das Oberste Gericht Indiens, Hindus und Muslime müssten sich das Land teilen. Julia Eckert, From Subjects to Citizens: Legalisation from Below and the Homogenisation of the Legal Sphere, Journal of Legal Pluralism 2006, 45–75 Tatsächlich wurde diskutiert, Modi vor den ICC zu bringen, s. Praful Bidwai, Bringing Brbanrians to Book, Frontline 19 (2002), Nr. 8; Siddarth Varadarajan, „The buck must stop at the very top“, The Hindu, 20. 3. 2010. Dies scheiterte aber daran, dass Indien das Rom Statut nicht unterzeichnet hatte und auch immer wieder darauf verwiesen wurde, dass indische Gerichte diesen Fall selber bewältigen könnten, der ICC also nicht tätig werden könne.

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darin u. a. liegt ja der Kern der Individualisierungsthese –, ist die Juridifizierung zumindest in Indien Ausdruck der spezifischen étatistischen Verantwortungs- und Haftungsvorstellungen, die der Entwicklungsideologie des Nehruvianischen Modernismus entspringt. Sie sieht den Staat als zentral verantwortlich für die Organisation des Sozialen und macht eine Kausalität auf zwischen sozialen Phänomenen und dem Handeln oder Nicht-Handeln des Staates. Die Klagen vor den Gerichten nach den Pogromen galten individuellen Tätern. Darüber hinaus aber galten sie dem Staat, und sie wurden vorgetragen in einem Modus, der nicht nur Strafe für die Täter, sondern Bürgerrechte für die Opfer einklagte. Gleichzeitig war das Befehlsverantwortungsmodell eben eine Antwort auf das Konfliktnarrativ, das von eben diesen Regierenden vorgebracht wurde. 3

DIE GERICHTE

Die Gerichte verfolgten eine gänzlich andere Verantwortungszuschreibung als die der Muslime. Diese gründete in einem anderen Narrativ vom Konflikt. Das erste Gericht, an dem ein Fall verhandelt wurde, interpretierte die Gewalt ebenso wie der Ministerpräsident als eine natürliche Reaktion auf die Toten von Godhra.14 Die Richter beriefen sich nicht auf das Naturgesetz, sondern diesmal auf die Massenpsychologie. Immer wieder findet man in Gerichtsurteilen oder richterlichen Untersuchungsberichten in Indien die Metapher von den Vulkanausbrüchen, von epileptischen Anfällen, die „das Volk“ erfassten.15 Insbesondere Gruppenkonflikte werden von der Justiz als Problem von irrationalem (aber emotional gerechtfertigtem) Hass verstanden; sie werden entweder pathologisiert (Epilepsie) oder mit Naturphänomenen verglichen. Sie werden von – oft paternalistischen – Annahmen über „die Volkswut“ letztlich nicht rechtsfähiger Subjekte geleitet. Gewalt wird hier zu einem Problem der öffentlichen Ordnung; darin erfahren die Handelnden zuerst einmal eine Anonymisierung, die freilich im Zusammenhang eines Gerichtsverfahrens entscheidend ist. Es bleibt aber nicht bei der Anonymisierung durch den Begriff der Masse bzw. des Mobs. Vielmehr wird die Gewalt der Masse psychologisch oder metaphorisch naturalisiert. Sowohl in den psychologischen Erklärungen als auch in den Metaphern wird so jegliche Verantwortung ausgehebelt. So verbleiben diese letztlich „irrationalen Ausbrüche“, die nur bedingt individueller Verantwortung zugeschrieben werden können, vielfach im Rahmen richterlicher Untersuchungskommissionen, deren vorrangige Aufgabe es ist, Hergang und staatliche Kontrollprobleme zu erfassen, und deren Ergebnisse nicht für die strafrechtliche Verfolgung genutzt werden können. Aus diesen juristischen Konfliktnarrativen spricht zum einen ein paternalistischer Elitediskurs, der die Skepsis der indischen Verwaltungseliten gegenüber der Modernisierungsfähigkeit ihres Volkes in sich trägt, und der entweder verzweifelt am Versagen der Moderne gegenüber der indischen Tradition, oder letztere verteidigen will gegenüber den Zumutungen „fremder“ Institutionen – die freilich, so möchte ich hier einwerfen, von besagtem Volk schon vielfach angeeignet sind. Auf der ande14 15

Pratiksha Baxi, „Mock Trial“: Law Violence and Governance in the Aftermath of Gujarat 2002 Z. B. Srikrishna Commission Report Report 1998, 4

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ren Seite spricht aus diesen Urteilen aber auch eine Selbstorientalisierung, die den Hindus Affektivität, Irrationalität und Emotionalität zuspricht. Es fällt nämlich auf, dass nicht jede Form von kollektiver Gewalt in Indien in den Augen der Richter der Wut geschuldet ist, und auch nicht jedes Ereignis kommunalistischer Gewalt. Das deutlichste Beispiel solch unterschiedlicher Bewertung von Gewalt ist eben der Fall von Godhra. Nach dem Brand im Zug wurden 131 Muslime unter dem neuen indischen Antiterrorismusgesetz POTA angeklagt.16 Anfangs hatte die Polizei das gewöhnliche Strafrecht angewandt, aber im September 2002, sechs Monate nach dem Vorfall, verfügte die Regierung Gujarats unter dem Chief Minister Narendra Modi, das Ereignis als terroristischen Akt zu behandeln. Die Polizei wurde instruiert, eine Verschwörung zu verfolgen, die die Planung des Brandanschlags belegen und somit ein Verfahren unter POTA rechtfertigen würde.17 POTA begrenzte die Definition von terroristischer Gewalt auf Gewalt, die geheim und mit klarem Vorsatz ausgeführt wird. Obwohl es durchaus auch Fälle von Massengewalt von Seiten der Minderheiten gibt, nehmen deren Gewaltaktionen eher die Form von Bombenanschlägen oder Attentaten an. Diese involvieren oft nur eine kleine Zahl von Beteiligten und sind offensichtlich geplant und unter Vorsatz durchgeführt. Planung und Durchführung sind meist geheim. Geheimhaltung wird gerichtlich als Beweis für Planung und böse Absicht gewertet. Freilich übersieht diese Argumentation, dass die Notwendigkeit der Geheimhaltung für Minderheitsangehörige und Mehrheitsangehörige sehr ungleich ist, da sich letztere lange Zeit der Parteilichkeit der staatlichen Agenturen gewiss sein konnte. Insbesondere für hindu-nationalistische Organisationen ist Geheimhaltung lange nicht notwendig gewesen, als sie die Kooperation oder Nicht-Intervention der lokalen Polizei sicherstellen konnten.18 Die Unterscheidung zwischen Affekthandlungen und Vorsatz ist freilich in Hinblick auf die rechtliche Beurteilung von Gewalt üblich. Schlicht die Form der Gewalt lässt die von Minderheiten, insbesondere den indischen Muslimen ausgehende Gewalt, schneller unter die Definition des Terrorismus mit ihrer Fokussierung auf Absicht und Planung fallen. Diese definitorische Unterscheidung ist aber nur zum Teil durch deren unterschiedliche Organisation begründet und vielmehr Ausdruck der unterschiedlichen Theorien von Radikalisierung und Militanz, die in der Beurteilung zum Tragen kommen: die eine, die sich auf massen-psychologische Annahmen über kollektive Gewalt stützt, die andere, die auf Vorsatz, Planung, Verschwörung achtet. Es ist die Unterscheidung zwischen rationaler und irrationaler Gewalt; Hin16

17 18

People’s Tribunal (POTA), Statement of Objects and Reasons, 2004, 11 (unter: www.naavi.org/importantlaws/pota/pota_sch.htm, zuletzt besucht am 9. 3. 2004). 287 Menschen waren in Gujarat unter POTA angeklagt: Alle außer einem Sikh waren Muslime, S. Muralidharan, „Untold Stories“, Frontline v. 9. 4. 2004 (unter: www.flonnet.con/fl2107/22040409001704400.htm, zuletzt besucht am 8. 2. 2009) Bidwai (Fn. 13) Vgl. Engineer, Communal Violence and the Role of Enforcement Agencies, in: Religion, Religiosity and Communalism, hg. von H. Mukhia / P. Bidwai / A. Vanaik, 1996, 127–142, hier: 130; Srikrishna Commission Report (Fn. 15), 29, 31–35; Communalism Combat Report (Fn. 10), 597–621; Human Rights Watch Report, „We have no orders to save you“. State Participation and Complicity in Communal Violences in Gujarat, in: Gujarat 2002; untold and retold stories (Fn. 10), 345–424; s. ferner www.tehelka.com/story_main35.asp?filename=Ne031107Role_of_police_sec.asp

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dugewalt ist darin affektiv und irrational – und insofern auch nicht zurechnungsfähig; muslimische Gewalt ist rational. Diese unterschiedlichen Theorien über Gewalt und Konflikt tragen in sich orientalistische Ideen von der Rationalität des Westens und der Irrationalität des Ostens, von kolonialen Klassifikationen wie den „warrior races“. Im hindu-nationalistischen Diskurs wird die „metaphorische Weiblichkeit“19 Teil der orientalistischen Idee des spirituellen Indiens als Anderem des rationalen Westens und ist grundlegend für die wahrgenommene Unfähigkeit des „toleranten Hindu“, sich selbst, seine Frauen und sein Land gegen diejenigen zu verteidigen, denen nicht nur Aggressivität, sondern auch Virilität zugeschrieben wird: den Muslimen. Die Muslime sind freilich nicht Ausdruck vollendeter Rationalität. Vielmehr ist ihnen im orientalistischen Diskurs eine seltsame Mischung aus Affektivität und Rationalität eigen, die im Zuge des „war on terror“ noch einmal eine Zuspitzung erhielt: Analysen des „neuen Terrorismus“ haben vielfach auf die Rolle von „Fanatismus“ oder religiösem Eifer hingewiesen.20 Sie betrachten die angeblich religiösen Wurzeln des „neuen Terrorismus“ als Hinweis auf eine spezifische Form der Radikalität. Theorien religiösen Terrorismus konstruieren einen paradoxen Zusammenhang zwischen der Irrationalität des Glaubens und der Rationalität der Durchführung gewalttätiger Aktionen.21 Religiös motivierter Terrorismus speist sich aus den höchst irrationalen Gefühlen religiösen Eifers und ist gleichzeitig höchst rational in der Planung und Ausführung terroristischer Aktionen. Genau auf Grund der Nähe von Rationalität und Irrationalität wird hier von einer besonderen Gefahr ausgegangen.22 Das spezifische Zusammenwirken von Rationalität und Irrationalität, das religiös inspiriertem Terrorismus zugeschrieben wird, resultiert in der Gleichzeitigkeit des „Anderen“, d. h. der Konstruktion religiös inspirierter Gewalt als dem irrationalen, prä- oder anti-modernen ultimativ Anderen des modernen Westens,23 und der Aufrechterhaltung rechtlicher Schuldfähigkeit. Die Bedrohung durch solch rationale Irrationalität ruft zu besonderen Maßnahmen des Schutzes auf. In Indien knüpft diese dem „Krieg gegen den Terrorismus“ eigene Konstruktion der rationalen Irrationalität an die orientalistischen Stereotype des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen an: Muslimen sind dabei geradezu durch die rationale Verfolgung ihrer Irrationalität definiert. Dies führte dazu, dass jegliche kollektive Gewalt von Seiten der Minderheiten, insbesondere der Muslime, als terroristische eingestuft, kollektive Gewalt von Seiten der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung aber als „spontan“ und irrational beurteilt wurde, und somit nicht unter das AntiTerrorismusgesetz und häufig auch nicht unter das normale Strafrecht fiel.

19 20 21 22 23

Ronald Inden, Imagining India, 1990, 96 Z. B. Walter Laqueur, The New Terrorism; Fanaticism and the Arms of Mass Destruction, 2009 Vgl. Talal Asad, On Suicide Bombing, 2007 M. Morgan, The Origins of the New Terrorism, Parameters 34 (2004), 29–34; J. Stevenson, Pragmatic Counter-terrorism, Survival 43 (2001/02), 35–48, hier: 35 Vgl. Asad (Fn. 21); Mahmoud Mamdani, Good Muslim, Bad Muslim, 2004

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Julia Eckert

DIE GLOBALISIERUNG

VON

VERANTWORTUNGSNARRATIVEN

Gerade von Ethnologen ist in Hinblick auf die Globalisierung von Rechtsnormen meist kritisiert worden, dass diese implizite Annahmen sozialer Organisation, vor allem aber einen individualistischen Personenbegriff in sich trügen, die den Gegebenheiten der Länder, in denen sie nun neu zur Anwendung kämen, nicht gerecht würden. Diese Kritik begegnet uns sowohl in der postkolonialen Theorie,24 wie auch in vielen rechtsanthropologischen Überlegungen. Gerade diese haben also immer wieder gefragt, inwieweit sogenannte universelle Normen nicht letztlich inadäquat sind, die Erfahrungen und Ideen derjenigen auszudrücken, zu deren Schutz sie formuliert werden. Sie haben aufgezeigt, dass die Formulierung dieser Erfahrungen und Ideen in rechtlichen Termini diese verzerrten, die Wahrnehmung von Problemen, von der eigenen Stellung in der Welt und sich selbst als Person potentiell verwandelten. Wir kennen viele Beispiele dafür, wie rechtliche Termini das Verständnis davon, was eine Gemeinschaft ist, was es heißt, indigen zu sein, eine Frau oder ein Opfer, verändern und wie sie Formen der sozialen Organisation durch die Gelegenheitsstrukturen verändern, die sie bieten. Es ist die Hegemonie des westlichen Personenbegriffs, die sich hier auszubreiten scheint. Gerade in Hinblick auf die Frage der Zuschreibung von Verantwortung ist freilich der Personenbegriff zentral. In dem hier dargestellten Fall beobachten wir gleichzeitig die Berufung der Muslime (und vieler anderer) auf die Normen des internationalen Strafrechts, wie auch einen Kulturalismus in den Konfliktnarrativen der indischen Justiz und hindu-nationalistischer Akteure. Dieser Kulturalismus ist in mancherlei Hinsicht freilich ebenso „westlich“, wie der den Strafrechtsnormen zugeschriebene Individualismus: Der Orientalismus, der in der Kulturalisierung massenpsychologischer Annahmen über kollektive Gewalt hinduistischer Gruppen mitschwingt, entstammt u. a. kolonialen Klassifikationsschemata. Es hat mit den Geographien der Sicherheitsdiskurse noch einmal eine spezifische Neuauflage bekommen.25 Wir haben es also nicht mit einem gegenüber von „importierten“ sogenannten fremden Normen und autochthonen und somit authentischen Normen und Formen der Verantwortungszuschreibung zu tun, sondern vielmehr mit verschiedenen global zirkulierenden Narrativen von Konflikt und Gewalt, die abhängig von Positionen in Konstellationen übersetzt und verstanden werden. Dies mindert nicht die möglichen Verzerrungen, die über beide Annahmen über soziale Beziehungen und menschliches Handeln vermittelt werden. Doch kann man von „Verzerrung“ kaum sprechen, implizierte dies doch ein authentisches Original, das durch ein spezifisches Narrativ von Verantwortung richtig repräsentiert würde. Ich habe an anderer Stelle solche Annahmen von Authentizität kritisiert.26 Hier geht es mir darum, auf die Unausweichlichkeit der Bezugsetzung konkreter lokaler 24 25

26

Partha Chatterjee, The Nation and its Fragments, 1995; Ashis Nandy / D. L. Sheth (Hg), The Multiverse of Democracy, 1996 Vgl. Flavia Agnes, Citizenship and Identity in Post 9/11 Nations, in: Import Export. Cultural Transfer, India, Germany, Austria, hg. von A. Fitz / M. Kröger / A. Schneider / D. Wenner, 2005, 182–188 Julia Eckert, Von der Universalisierung und Partikularisierung von Normen: Sozialanthropologische Überlegungen zu Normgeltung als sozialem Prozess, in: Universelle Menschenrechte und partikulare Moral, hg. von G. Ernst / S. Sellmaier, 2010, 115–130

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Modelle zu „reisenden Mustern und Modellen“ zu verweisen, sowie auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zirkulationen und deren Bezug zueinander, bzw. den politischen Konstellationen, in denen sie zueinander stehen. Edward Said wies darauf hin, dass „what matters a great deal more than the stable identity kept current in official discourse is the contestatory force of an interpretative method whose material ist he disparate but intertwined and interdependent (…) streams of human experience“.27 Bestimmte Normen und Institutionen haben wohl ihre Ursprünge in historisch und geographisch spezifischen Situationen; was mit ihnen geschieht, wenn sie auf Reisen gehen, ist eine andere Frage. Und zwar die entscheidende.28 Es ist also nicht der Ursprung einzelner Normen, der uns interessieren sollte, und auch nicht die Frage nach Fremdheit oder Authentizität, die sich damit verknüpft. Vielmehr müssen wir nach den Konstellationen fragen, in denen unterschiedliche Normen eingebracht werden in die Aushandlung von Recht und Schuld. Dabei verknüpfen sich lokale Machtkonstellationen auf komplexe Art mit globalen Asymmetrien. Es geht also um die Frage, welche Positionen durch unterschiedliche global zirkulierende Normen in konkreten Zusammenhängen gestützt, und welche geschwächt werden, und was die Prozesse sind, in denen spezifische normative Ordnungen in einer Situation dominant werden. Für die Aneignung von Recht (aber auch demokratischen Verfahren) ist dabei verschiedentlich der Begriff der „Vernakularisierung“ verwendet worden.29 Vernakularisierung bedeutet dabei die Anpassung global zirkulierender Rechtstermini und -verfahren an eine lokal gültige Normsprache. Hier verwandelt sich die transnationale Norm, wird mit lokaler Tradition verknüpft, eventuell neu interpretiert und abgewandelt, zumindest aber in lokal gültige Termini gefasst – und ist so am Ende etwas anderes als die ursprüngliche Norm. Die universelle Norm wird hier wieder zur partikularen Kultur, denn der Vernakularisierungsbegriff suggeriert, dass eine spezifische Norm in eine bestehende kulturelle Ordnung hinein vernakularisiert wird – und damit letztlich verfremdet wird. Hier wird von einem bestehenden kulturellen Sinnsystem ausgegangen, in welches das Neue und Fremde auf eine spezifische Weise, die von den bestehenden Normen vorgegeben ist, hinein verwandelt wird. Autoren, wie z. B. Michelutti, haben die Verfremdung der angeeigneten Norm im Prozess der Vernakularisierung betont, und schlossen damit an manche These zu den Problemen „westlicher“ Formen politischer Organisation in den Post-Kolonien an. Problematisch an diesem Vernakularisierungsbegriff erscheint zum einen, dass er nicht die Veränderungen thematisiert, die durch die Aneignung einer Norm unter denen, die diese aneignen, vonstatten gehen, sondern allein die Abwandlung der Norm beobachten. Während die oben genannten eher auf die Makroprozesse der Transnationalisierung von (Rechts-)Normen konzentrierten Analysen die globale Hegemonie spezifischer Normen und der damit zusammenhängenden Personenbegriffe, Verfahrensnormen etc. konstatierten und somit von einer unausweichlichen globalen Vereinheitlichung von Normsystemen ausgingen – die zudem die gegenwärtigen Machtstrukturen zementiere –, konzentrierten sich die auf die Mikroebene 27 28 29

Edward Said, Culture and Imperialism, 1994, 312 Zudem ist natürlich die Ursprungsfrage umstritten, vgl. Baxi (Fn. 14). Z. B. Peggy Levitt / Sally Merry, Vernacularizaion on the Ground: local use of global women’s rights in Peru, China, India and the United States, Global Networks 9 (2009), 441–461; Lucia Michelutti, The Vernacularisation of Democracy: Politics, Caste and Religion in India, 2007

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fokussierten „Vernakularisierungstheoretiker“ auf die Anpassung der Norm an die „lokale Kultur“. Damit machten sie sich teils einer etwas einseitigen Perspektive auf die Veränderungsprozesse, die im Zuge der Aneignung vonstatten gingen, schuldig und führten wieder einen gewissen Kulturdeterminismus in die Analyse der Aneignung ein. Grundsätzlicher kann man die mangelnde Reflektion der Strukturierung der von den Aneignungsstudien beobachteten kreativen Aneignungsleistungen hinterfragen. Die kreative Freiheit erscheint als zu grenzenlos, die Anverwandlungs- und Verwandlungskünste zu frei; die globalen Machtstrukturen, die die „Aneignung“, Übernahme oder Ausführung von einzelnen Normen erzwingen, dies aber oft nur an bestimmten Orten, und somit die strukturellen Bedingungen von Aneignung und Nichtaneignung schienen aus dem Blick zu geraten. Diesem blinden Fleck, der freilich die Beobachtungen der anthropologischen Konsumtheorie in Frage stellte, versuchte z. B. Sally Merry im Hinblick auf die Aneignung transnationaler Rechtsnormen wie der der Menschenrechte dadurch Rechnung zu tragen, dass sie über den Begriff der Übersetzung die Machtbeziehungen zwischen unterschiedlichen globalen Netzwerken, in denen diese transnationale Rechtsnormen verhandelt werden, thematisierte.30 Für Merry sind Akteure der Vernakularisierung die „Übersetzer“: die Mitarbeiter lokaler, nationaler oder internationaler NGOs. Sie sind diejenigen, die Rechtsnomen sowohl nach „unten“, in die lokalen Kontexte, als auch nach „oben“, in die globalen Arenen hinein übersetzen, dort die Anliegen der Betroffenen in die Sprache der globalen Rechtsnormen bringen und hier diese Normen „vernakularisieren“, um sie lokal verständlich und akzeptabel zu machen. Levitt und Merry gehen so auch davon aus, dass zwar die Aneignung kreativ mit den angebotenen Ideen, Formen und Verfahren umgehe, die darin vermittelten Botschaften aber vorgegeben seien.31 Sie verwiesen die Kreativität der Aneignung also wieder in enge Grenzen und betonten eher die hegemonialen Vorgaben der transnationalisierten Normen, die zudem durch die Interaktionsprozesse unterschiedlich situierter Netzwerkteilnehmer deutlich strukturiert seien. Die Fokussierung auf die Übersetzer lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die Untersuchung der Übersetzungsprozesse zwischen lokalen Arenen, bzw. lokalen Anliegen und globalen Foren. Über die Untersuchung solcher Übersetzungsprozesse können die verschiedenen Machtbeziehungen in den Blick genommen werden, die diese Prozesse strukturieren und die in den unterschiedlichen und untereinander vernetzten Netzwerken, in denen Übersetzer operieren, zum Tragen kommen. Was die Übersetzer wie übersetzen, wird hier als u. a. durch die Gesetze und Moden und das agenda setting in einer globalen moralischen Ökonomie globaler Netzwerke bestimmt analysiert. Während der Übersetzungsbegriff es also möglich macht, die Verhandlung von Normen als abhängig von den Machtstrukturen innerhalb eines Netzwerks von Netzwerken zu thematisieren, greift er auf einer anderen Ebene zu kurz, weil er den Übersetzungs- und Interpretationsprozess nicht zu Ende denkt. Ein solch enger Übersetzungsbegriff, der von Übersetzungsexperten ausgeht, die zwei gegebene 30 31

Sally Merry, Transnational Human Rights and Local Activists: Mapping the Middle, American Anthropologist 108 (2006), 38–51 Levitt/Merry (Fn. 29), 445

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Sprachen beherrschen, verstellt den Blick auf die eigentlichen Aneignungsprozesse und die darin enthaltenen Prozesse des Normwandels, die sowohl in der Vernakularisierungsthese als auch der Übersetzungsthese behauptet werden. Auf einer grundlegenderen Ebene geht es dabei um die Frage nach Prozessen des Normwandels. Die hier vorgeschlagene Perspektive versteht Normwandel als Ergebnis unterschiedlich strukturierter sozialer Aushandlungsprozesse, die von den jeweils relevanten Machtfigurationen im Eliasschen Sinn bestimmt sind. Dies bietet die Möglichkeit, die Analyse von Normkonflikten zu entkulturalisieren und einen differenzierten und empirisch gesättigten Blick auf diese Prozesse zu werfen. Dies ist deswegen wichtig, weil mit der Zuschreibung von gesamten Normkomplexen zu spezifischen sozialen Gruppen die normative Heterogenität aller sozialen Gruppen und die in ihnen immer gegenwärtigen Aushandlungen über Norm- und Situationsinterpretationen aus dem Blick geraten. Damit aber findet eine Essentialisierung statt, die die Analyse der eigentlichen Prozesse, in denen einzelne normative Ordnungen oder auch nur Norm- und Situationsinterpretationen dominant werden, verstellt wird und somit eben die Normkonflikte nicht mehr verstanden werden können. Im Hinblick auf die Zuschreibung von Verantwortung bedeutet dies, dass unterschiedliche Situationsinterpretationen verschiedene Modelle der Zuschreibung von Verantwortung nach sich ziehen können, und dass solch unterschiedliche Situationsinterpretationen mit den jeweiligen Positionen in einem Konflikt einhergehen. Jede Gesellschaft, jede Rechtsordnung verfügt über differenzierte Formen der Zuschreibung für Verantwortung, die je nach Sachlage zur Anwendung kommen. Die Übereinstimmung über eine Form der Zuschreibung der Verantwortung ist gerade in Konflikten eher ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen über Situationsinterpretationen als kulturell gegeben. In zunehmendem Maße, und im Zusammenhang mit den beschleunigten Kommunikationswegen und der gewachsenen politischen Bedeutung einer „Weltöffentlichkeit“, werden diese unterschiedlichen Modelle der Verantwortungszuschreibung, der Konstruktion von Schuldhaftigkeit und Schuldfähigkeit im Lichte global zirkulierender Normen, Epistemologien und Kausalitätsnarrativen interpretiert. Im dargestellten Fall ging es um die Globalisierung des Modells der Befehlsverantwortung und die Globalisierung von kulturalistischen Konfliktnarrativen und Gewaltinterpretationen. Die Interpretation der eigenen Belange im Lichte des einen oder des anderen Modells hängt mit der jeweiligen Position der Akteure in einer weiteren Konstellation zusammen, d. h. nicht nur mit der Position in einer bilateralen Beziehung zweier Konfliktparteien, sondern darüber hinaus mit den rhizomatischen Verknüpfungen der eigenen Situationsinterpretation mit denen anderer Akteure in Hinblick auf eine Artikulation mit einer (globalen) Öffentlichkeit, in der asymmetrische Machtbeziehungen, aber auch Moden und moral panics Aufmerksamkeitsstrukturen bestimmen. Unterschiedlichen Formen der Verantwortungszuschreibung lassen sich also als Resultat unterschiedlicher sozialer Prozesse und Figurationen im Elias’schen Sinne und nicht als Ergebnis gegebener, mehr oder weniger differenter kultureller Normen verstehen. D. h. nicht die kulturelle Nähe oder Ferne, Ähnlichkeit oder Fremdheit bestimmen darüber, ob bzw. welche Modelle der Zuschreibung von Verantwortung relevant werden. Vielmehr ist die Subsumierung eigener Anliegen unter einzelne Modelle der Zuschreibung von Verantwor-

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Julia Eckert

tung von spezifischen Akteurkonstellationen und deren aufeinander bezogenen Situationsinterpretationen abhängig. 5

EPILOG: DIE DEONTOLOGISIERUNG

VON

VERANTWORTUNG

Wir beobachten ein weiteres Modell der Zuschreibung von Verantwortung, dass gegenwärtig an sozialer Bedeutung gewinnt. Joel Robbins hat die These aufgestellt, dass man gegenwärtig weltweit eine Zunahme deontologischer Verantwortungszuschreibungen findet.32 In einer unüberschaubaren Welt, in der sich Handlungsketten immer weiter verzweigen, Verantwortung und Haftung sich fragmentieren und nicht mehr einklagbar zu sein scheinen, sind solche deontologischen Verantwortungszuschreibungen der einzige Ausweg. Deontologische Vorstellungen der (Eigen-) Verantwortung vor transzendentalen Kräften prägen viele religiöse Orientierungen und werden in christlich-evangelikalen, islamischen und buddhistischen religiösen Bewegungen vertreten. David Engel verweist darauf in seiner Untersuchung zum Rückgang von Klagen in Autounfällen in Thailand.33 Als ich 1997 begann, in Bombay zu forschen, begegneten mir unter den Muslimen unzählige, die sich nach den Pogromen von 1993 der Tabligh-Bewegung angeschlossen hatten. Die Tabligh-Bewegung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in der Nähe von Delhi gegründet, um den Konversionsbemühungen hinduistischer Reformbewegungen unter den dortigen Muslimen zu begegnen. Sie hat sich seitdem zu der vielleicht größten islamischen Bewegung weltweit entwickelt. Interessanterweise hatten die meisten Hindus damals noch nie von ihr gehört. Das genau schien aber viele Muslime an der Tabligh-Bewegung anzuziehen: Sie versprach Unsichtbarkeit. Meine Gesprächpartner betonten immer wieder, sie hätten sich den Tablighis nach den Pogromen angeschlossen, weil diese Bewegung keine Politik machen würde, weil sie keine Forderungen an die Gesellschaft stellen würde sondern nur an sich selbst. Für die Tablighis waren die Pogrome Ausdruck des Zorns Gottes, Zorn über den Verfall des Glaubens unter den Muslimen. Die erlittene Gewalt wurde also letztlich dem eigenen Verhalten zugeschrieben. Man selbst trug die Verantwortung dafür, was einem geschehen war. Diese Verantwortungskonstruktion bot den Angehörigen der Bewegung die Möglichkeit, sich im Angesicht der Ohnmacht wieder Handlungsmacht anzueignen, agency zurück zu gewinnen, selbst schuld zu sein und deswegen auch selber die Lösung zu sein. Die Antwort der Tablighis auf die Gewalt waren denn auch Programme zur Selbstverbesserung, Übungen in Frömmigkeit, Disziplin und Bescheidenheit. So haben solch deontologische Verantwortungszuschreibungen spezifische Konsequenzen im sozialen Handeln. Ich möchte damit abschließend auf die zweite eingangs gestellte Frage eingehen, welche sozialen Folgen unterschiedliche Verant32 33

Joel Robbins, On the Pleasures and Dangers of Culpability, Critique of Anthropology (30) 2010, 122–128 David Engel, Landscapes of the Law: Injury, Remedy, and Social Change in Thailand, Law & Society Review 61 (2009), 61–94; ders., Tort, Custom, and Karma: Globalization and Legal Consciousness in Thailand, 2010

Kultur und Schuld: Narrative der Verantwortung

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wortungsmodelle haben, und was sie für gruppenübergreifende Beziehungen bedeuten. Das mit solch deontologischen Verantwortungskonstruktionen verbundene Programm der religiösen Selbstverbesserung, welches die Tablighis vertreten, führte in Bombay längerfristig auch dazu, dass die Gruppengrenzen zwischen Hindus und Muslimen immer strenger gezogen wurden: Regionale Feste, die bisher gemeinsam gefeiert worden waren, wurden nun den Hindus überlassen; der Besuch von Sufi Schreinen, der auch Mitglieder unterschiedlichster Religionen anzog, war nun untersagt; auch alltägliche Netzwerke und überlappende Verbindungen lösten sich angesichts des Reinheitsgebotes der Tablighis auf. Die zunehmende Segregation ist allerdings geeignet, die Spannungen weiter zu verschärfen, denn keine persönlichen Bekanntschaften können Feindbildern entgegenwirken, kein kommunikativer Austausch Gerüchte unterbinden, keine Alltagserfahrungen die Angst vor dem Anderen nehmen. Die in der Spiritualisierung enthaltene deontologische Verantwortungskonstruktion, die die Anhänger der Bewegung auf sich selbst zurück wirft, bedeutet insofern auf allen Ebenen eine Abkoppelung von den sozialen Beziehungen außerhalb der Gemeinschaft. Aber das ist ein anderes Thema.

CHRISTIANE THOMPSON, HALLE (SAALE) ZUR HERVORBRINGUNG VON ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT IM PÄDAGOGISCHEN FELD1 1

EINLEITUNG

In seinen historisch-philosophischen Arbeiten hat Michel Foucault wiederholt eine die wissenschaftlichen Disziplinen überschreitende Perspektive eingenommen, indem er Gegenstandsbereiche nicht im Zusammenhang von Wissensgebieten erschloss, sondern Bereiche des Sozialen bezogen auf die Art und Weise betrachtete, wie sich in ihnen Praktiken, Technologien, Artefakte, Regeln und Wissensbestände verknüpften. Dass eine solche Vorgehensweise interdisziplinär weiterführend zu sein vermag, lässt sich – mit Blick auf das leitende Thema dieses Bandes – an einem Beispiel aus Foucaults „Überwachen und Strafen“ einleitend andeuten: Dort wird die ärztliche Visite im Krankenhaus mit der zunehmenden Etablierung von Prüfungen in „pädagogischen Institutionen“ im 18. Jahrhundert in Beziehung gesetzt, da sich beide, so Foucault, ähnlicher Machttechniken und Wissensprozeduren bedienten.2 Indem ärztliche Visiten in Krankenhäusern und Prüfungspraktiken in pädagogischen Institutionen in Beziehung gesetzt werden, rücken die Machtbeziehungen im Sozialen in den Vordergrund, da die soziale Praxis nicht im Lichte der Ideen des Medizinischen bzw. Pädagogischen gesehen wird, sondern im Rahmen der relationalen Konfigurationslogik der ihr zugehörigen Elemente (z. B. Stethoskope, Krankenberichte, Untersuchungsroutinen, Vorstellungen von Krankheitsverläufen etc.). Auf der Grundlage einer solchen Betrachtung kann herausgearbeitet werden, wie in verschiedenen Bereichen des Sozialen individualisierendes Wissen gebildet wird, das seinerseits die Voraussetzung für Prozesse darstellt, die auf „Zuschreibung“, „Identifizierung“ und auch „Zurechnung“ ausgerichtet sind.3 Tatsächlich ist ein entscheidender Gesichtspunkt von Foucaults „Überwachen und Strafen“ die Hervorbringung eines zurechnungsfähigen und handlungsfähigen Subjekts, eines „Täters hinter dem Tun“, wie verschiedentlich anschließend an Nietzsche gesagt worden ist.4 In diesem Beitrag wird es allerdings nicht um eine Foucault-Lektüre und Rekonstruktion von „Überwachen und Strafen“ gehen. Vielmehr beabsichtige ich, mich der Machtanalyse im Foucault’schen Zuschnitt zu bedienen, um die Konstitution von Zurechnungsfähigkeit in der schulischen Praxis der Gegenwart herauszuarbeiten. Des Weiteren geht es mir um eine Blickverschiebung, die

1

2 3 4

Dies ist die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Halle an der Saale, dessen schriftliche Fassung ich Alfred Schäfer widme. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 1977, 238 ff. Zuvor war das Krankenhaus nach Auffassung Foucaults kein Ort der Erkenntnisbildung bzw. -übertragung, sondern ein Ort der Fürsorge. Vgl. Alfred Schäfer, Autonomie – zwischen Illusion und Zumutung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 72 (1996), und Käte Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, 1990

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Christiane Thompson

sich von gegenwärtigen pädagogischen Theoretisierungen von „Zurechnung“ und „Verantwortung“ hin zu machtanalytischen Betrachtungen ergeben. Aus diesem Grund werde ich in einem ersten Schritt eine dominante Linie zur Theoretisierung von „Zurechnung“ und „Verantwortung“ darlegen: Die Ansätze von Immanuel Kant und Lawrence Kohlberg bilden eine Phalanx, in der „Zurechnung“ in Verknüpfung von aufklärerischem Anspruch und Empirisierungsgebot über das Konzept der Autonomie konstruiert wird. Dass es zu dieser Traditionslinie konkurrierende und kritische Ansätze in der Pädagogik gibt, soll nicht verschwiegen werden.5 Im zweiten Schritt werden einige wichtige Eckpunkte der Machtanalytik Foucaults vorgestellt, mit der „Zurechnung“ (bzw. im Ergebnis „Zurechnungsfähigkeit“) als aus sozialen Praktiken hervorgehendes Phänomen verstanden werden kann: d. i. ihre Konstitution im zentralen pädagogischen Machtkomplex der Prüfung (dritter Schritt). Von hier aus kann abschließend die Frage nach den sozialtheoretischen Konsequenzen der Kluft zwischen moralphilosophischen und praxistheoretischen Sprachspielen in den Geistes- und Sozialwissenschaften aufgeworfen werden. 2

„WENN

MAN DAS ABER REIFLICH ÜBERDENKT, SO FINDET MAN, DASS DIESES

SEHR SCHWER SEI“

(KANT): ÜBER

MORALISCHE

ERZIEHUNG

UND

ENTWICKLUNG

„Verantwortung“ und „Zurechnung“ sind pädagogisch gesehen Fragen des Ethischen bzw. Moralischen. Im Ausgang von Kant, dessen Werk als entscheidend für die Entwicklung der modernen Pädagogik betrachtet werden kann, wird Erziehung bis heute als Herausbildung der moralischen Person gefasst. Nicht mechanische Abrichtung oder Anleitung zum fabrikmäßigen Lernen, sondern die konfliktträchtige Begleitung eines Vorgangs, in dem Menschen lernen als diejenigen, die sie sind, für sich und andere „gute Entscheidungen“ zu treffen, umreißt die Problemstellung der Erziehung. Kant selbst verstand „Erziehung“ als eine Aufgabe, die von „Disziplinierung“ über „Kultivierung“ und „Zivilisierung“ zur „Moralisierung“ zu verlaufen habe.6 Die Logik der Erziehungsaufgabe lässt sich als zunehmender Gewinn einer Freiheit im Handeln begreifen – einem Zugewinn an „Autonomie“. Die Disziplinierung, d. i. die Bezähmung der Wildheit befreit den Zögling im ersten Schritt davon, den eigenen Wünschen und Antrieben ausgeliefert zu sein. In der Kultivierung erlernt der Zögling Mittel und Wege, selbständig zu werden, d. h. ohne fremde Hilfe im Leben zurechtkommen zu können (vgl. z. B. die Kulturtechnik des Lesens). Auch der dritte Schritt, die Zivilisierung, hat mit der Autonomie der Lebenspraxis zu tun: Durch das Erlernen der Sitten und Regeln eines kulturellen Zusammenhangs wird es dem Zögling möglich, sich mit einer gewissen Souveränität im sozialen Raum zu bewegen. Viertens geht es dann um die Autonomie des guten Handelns, d. h. darum sich im Handeln gute Zwecke setzen zu wollen. Allen vier Aufgaben ist die Heraus-

5

6

Vgl. hierfür z. B. Michael Wimmer, Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, 2006, sowie Katharina Schmidt, Zum Verhältnis von Kritik und Verantwortung in der Pädagogik. Versuch einer Neubefragung in Anschluss an Emmanuel Levinas, 2008 Vgl. hier die von Rink überlieferte Vorlesung „Über Pädagogik“: Immanuel Kant, Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, 1963.

Zur Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit im pädagogischen Feld

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bildung einer ermächtigenden Freiheit gemeinsam, d. i. eine Position, die eine Verfügungsposition sich selbst und der sozialen Welt gegenüber impliziert. Nun ist zugleich in der systematisch pädagogischen Forschung darauf hingewiesen worden, dass der Erziehungsprozess insgesamt von der Aufgabe der Moralisierung aus zu erschließen ist und dass die Aufgaben 1–3 notwendige, aber nicht hinreichende Schritte innerhalb der Erziehungsaufgabe darstellen.7 Hintergrund hierfür ist die intelligible Rahmung des Autonomie-Konzepts in der Moralisierung. Während es sich in den Schritten 1–3 um eine Autonomie handelt, die sich auf konkrete lebenspraktische bzw. pragmatisch gefasste Umstände bezieht (z. B. zu bemerken, dass man beim Einkauf betrogen wird), geht es bei der Autonomie im Moralischen um die Denkbarkeit eines freien Willens, ohne den Moralität nicht möglich wäre.8 Die Behauptung der moralischen Freiheit bzw. Autonomie als Realität stellt für Kant in individualgeschichtlicher wie in gattungsgeschichtlicher Sicht jedoch ein Problem dar. Dies lässt sich unter anderem an der Differenz plausibilisieren, die Kant zwischen einem „aufgeklärten Zeitalter“ und einem „Zeitalter der Aufklärung“ gemacht hat.9 Die Äußerung, dass das „aufgeklärte Zeitalter“ noch nicht eingesetzt habe, stellt die eigentliche Bestimmung des Menschen als „unerreicht“ dar, als etwas, auf das der Mensch ausgerichtet bleiben muss. Wie der Mensch seine Bestimmung erfüllen kann, wird dann zu einer drängenden Frage, wenn nach dem Übergang vom einen in das andere Zeitalter gefragt wird. In seiner Pädagogik-Vorlesung thematisiert Kant in dieser Linie, dass die Zöglinge von Erziehern erzogen werden, die selbst eine problematische Erziehung erfahren hätten.10 Bezogen auf die Kategorie der „Zurechnung“ kann zusammenfassend die sittlich-moralische Rahmung hervorgehoben werden, in die diese durch Kants Erziehungskonzept gestellt wird. Es zeigt sich, dass die Möglichkeit von Verantwortung und Zurechnung von verschiedenen erzieherischen Prozessen abhängt, ohne diese Entwicklung allerdings garantieren zu können. In Kants Theoretisierung stellt der Prozess der Herausbildung einer verantwortlichen und zurechnungsfähigen Person einen Vorgang dar, der nicht als Realität, sondern als Möglichkeit (genauer: als Denkmöglichkeit) einer Zeit behauptet wird, in der die Vernunft regiert; daneben kann Kant nur festhalten, dass wir als sinnliche Wesen uns der Fremdbestimmtheit nicht entziehen können. In der weiteren Entwicklung setzt sich gleichwohl die Vorstellung vom Menschen als ein sich frei und verantwortlich selbstbestimmendes Wesen – nicht zuletzt vermittels Erziehung und Bildung – durch.11 Die Stufentheorie moralischen Denkens von Lawrence Kohlberg ist ein Beispiel für ein Bildungs- und Entwicklungs7 8

9 10 11

Vgl. Jörg Ruhloff, Auch Moralisierung?, in: Kant – Pädagogik und Politik, hg. von L. Koch / Ch. Schönherr, 2005, 23–31 Wichtig ist hierbei außerdem der Gedanke, dass die Autonomie als Unterwerfung unter das Gesetz der praktischen Vernunft zu denken ist. Autonomie des Willens und Willkür sind zu unterscheiden. Vgl. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hg. von J. Zehbe, 1994 Kant (Fn. 6) Vgl. Käte Meyer-Drawe, Streitfall ‚Autonomie’. Aktualität, Geschichte und Systematik einer modernen Selbstbeschreibung von Menschen, in: Fragen nach dem Menschen in der umstrittenen Moderne. Jahrbuch für Erziehungs- und Bildungsphilosophie 1, hg. von W. Bauer et. al., 1990, 31–49

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denken des 20. Jahrhunderts, in dem die moralische Qualität von Bildung in einer Zunahme von Urteilskraft gesehen wird, d. h. in einer Befähigung, die sich induktiv über verschiedene Stufen hinweg entwickelt und den Urteilenden auf der letzten Stufe in ein prinzipiengeleitetes Denken führt.12 Auch hier bildet also die Moralität das letzte Ziel des Entwicklungsprozesses und auch hier wird eine Sukzession des Prozesses konzeptualisiert, so dass „vorher“ und „nachher“ unterschieden werden können. Ein wesentlicher Unterschied zu Kants Überlegungen ist allerdings darin zu sehen, dass die Ausdifferenzierung der Stufen in einem engen Bezugsverhältnis zur letzten Stufe als ‚Realisierung’13 moralischer Autonomie steht. Damit ist gemeint, dass die Stufen strukturelle Ausdifferenzierungen darstellen, welche im Lichte der angestrebten Autonomie gesehen werden müssen. Zur Veranschaulichung: Auf der Stufe 4 besteht beispielsweise eine starke Orientierung des Individuums an gegebenen Gesetzen und Ordnungen, an deren Stelle auf der Stufe 5 kontraktualistische Denkmotive rücken, d. h. die Orientierung an einem „legalen Standpunkt“. Aus dieser Warte sucht Kohlberg systematisch das Anschluss- bzw. Ausschlussverhältnis der Stufen, ihre „invariante Sequenz“, zu begründen.14 Kohlbergs Theoriearchitektur steht auf dem Fundament einer Parallelisierung oder sogar Verquickung von moralischer und intellektueller Entwicklung: Die „Entwicklungsreihenfolge [der Stufen, C. T.] hängt weitgehend mit allgemeinen Aspekten der kognitiven Entwicklung zusammen.“15 Auf diese Weise erscheint der Vorgang der Herauslösung aus sozialen Verstrickungen als auf intellektuellen Reifungsprozessen beruhender Vorgang.16 Damit ergibt sich zugleich eine mögliche Empirisierung der moralischen Urteilskraft: Aus dem Umgang mit moralischen Dilemmata lässt sich nun ein „Entwicklungsstand“ moralischer Urteilskraft ermitteln. Die Differenzierung der Stufen wird demnach durch die „Sprache der Entwicklung“ etabliert und durch die Evidenz des Tatsächlichen im Umgang von Probanden mit moralischen Problemsituationen bestätigt.17

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Kohlberg unterscheidet die präkonventionelle von der konventionellen und der postkonventionellen Dimension moralischen Urteilens. Im präkonventionellen Bereich (Stufen 1+2) dominieren materielle und hedonistische Motive, im konventionellen (Stufen 3+4) Gemeinschaft und die Autorität sozialer Ordnung, im postkonventionellen (Stufen 5+6) die unbedingten Werte und Prinzipien. Für die Darstellung des Kohlbergschen Ansatzes vgl. Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, 1996, sowie Wolfgang Althof und Fritz Oser, Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, 2001. Für Kohlberg ist das Erreichen der letzten Stufe kein systematisches Problem, sondern eine Frage der Realität des individuellen Erreichens der besagten Stufe. Vgl. Kohlberg (Fn. 12), 30. Wie könnten die Verfahren zur Etablierung sozialer Ordnung und Autorität zur Frage werden, wenn diese zuvor nicht eben grundsätzlich als Orientierungslinie erscheinen konnten? Vgl. Kohlberg (Fn. 12), 33 ff. Auf diesen Gesichtspunkt ist in der Literatur schon vielfach hingewiesen worden, z. B. von Meyer-Drawe (Fn. 11). Für eine Kritik der Entwicklungskategorie aus historisch-systematischer Sicht vgl. Jörg Ruhloff, Die geschichtliche Dimension pädagogischer Aufgabenkonzepte, Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Band 3, hg. von Dieter Lenzen, 1986, 94–111. Als Beispiel sei das so genannte „Heinz-Dilemma“ genannt: Heinz, Ehegatte einer an Krebs erkrankten Frau, steht vor der Entscheidung, einen Einbruch in eine Apotheke zu begehen, da der Apotheker, der kürzlich ein Heilmittel für den Krebs entdeckt hat, den zehnfachen Preis der

Zur Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit im pädagogischen Feld

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Ich breche die Beschreibung des Modells an dieser Stelle ab, um kurz auf seine Konstruktion von Autonomie einzugehen. Letztere liegt am Ende eines moralischintellektuellen Entwicklungsprozesses und markiert den Anspruch eines „entwickelten“ sozialen Lebens. „Autonomie“ ist mithin das Ende einer „quasi-natürlichen Entwicklung“, was sich auch in der Auffassung Kohlbergs ausdrückt, dass es sich um ein kulturenübergreifendes Phänomen handele.18 Die Möglichkeit der Zurechnung findet ihren Ort in der Prinzipienorientierung des Handelns, da sich aus ihr ungeachtet sozialer und kultureller Markierungen Sinn und Maß des moralischen Handelns ableiten sollen. Zugleich liegt in der Fassung moralischer Bildung als intellektuell-moralischem Entwicklungsprozess die Figur von Moralfähigkeit begründet: Für Kohlberg ist moralische Urteilskraft zugleich Moralfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit, die wiederum über den Umgang von Probanden mit moralischen Dilemmata empirisch erschlossen werden kann.19 Kant und Kohlberg verstehen Erziehung und Bildung als Hervorbringung „zurechnungsfähiger Subjektivität“, welche als Voraussetzung eines „aufgeklärten Zeitalters“, einer entwickelten Gesellschaft gesehen wird. Während Kant ein Bewusstsein für die Schwierigkeit dieses Prozesses verdeutlicht, fügt Kohlberg Autonomie (als Basis von Zurechnungsfähigkeit) auf der Grundlage einer empirisch überprüfbaren Stufentheorie in den Verlauf eines Entwicklungsvorgangs ein. Mit Foucault möchte ich im Folgenden eine Perspektive entfalten, die Zurechnung und Verantwortung im Pädagogischen nicht als moralische Frage indiziert, sondern die diese Phänomene in den Zusammenhang sozialer Praxis einstellt. Der Fokus verschiebt sich demnach zu Diskursen und Praktiken der „Verantwortlichmachung“ und Hervorbringung von „Zurechnung“. Zuvor soll im zweiten Teil zunächst das Konzept von „Macht“ bei Foucault in groben Strichen skizziert werden. 3

FOUCAULTS „MACHT“

ALS HEURISTISCHES

SENSORIUM

Foucaults Justierung von Machtbeziehungen entwickle ich anhand von drei zentralen Gesichtspunkten. 3.1 ANTIESSENTIALISTISCHE UND RELATIONALE QUALITÄT DES SOZIALEN Wesentlicher Ausgangspunkt des foucaultschen Machtdenkens ist die antiessentialistische Fassung des Sozialen.20 Wenn Foucault über „Macht“ spricht, so steht

18 19

20

Herstellungskosten verlangt und sich weigert, Heinz das Medikament für immerhin die Hälfte des verlangten Preises zu überlassen. Entsprechend beunruhigend müssten dann auch Regressionen und Stagnationen der moralischen Urteilskraft erscheinen, wie Kohlberg sie z. B. bei College-Studierenden fand. Axel Honneth wird dies später anerkennungstheoretisch formulieren: Prinzipiengeleitetes Handeln sei die Quelle der Achtung und Selbstachtung, welche den Individuen ermögliche, sich selbst und andere als zurechnungsfähige Personen zu betrachten. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, 1992, 174 ff. Für die Geschichte der Entsubstanzialisierung der Macht vgl. Andreas Hetzel, Figuren der Selbstantizipation, Zur Performativität der Macht, in: Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, hg. von R. Kraus / M. Rölli, 2008; für eine konzise Darlegung des

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Christiane Thompson

keine strukturierende Verortung der Macht im Hintergrund, welche die soziale Welt in Machthaber und Machtlose teilt. Gegen definite Machtlogiken, die das Feld der Macht nach Zentrum und Peripherie, Intentionalität und Struktur, Basis und Überbau etc. vermessen, zielt die Foucaultsche Machtanalyse auf Komplexität, Uneindeutigkeit und Relationalität von Kräfteverhältnissen im sozialen Raum. Das Interesse besteht mithin darin, der Dynamik der Führung in sozialen Verhältnissen nachzugehen, anstatt diese beispielsweise handlungstheoretisch oder kausalistisch zu reduzieren. In seinem Text über Nietzsche gibt Foucault das Beispiel wie sich eine Partei das Vokabular der Gegenseite aneignet und für die eigenen Einsätze in sozialen Auseinandersetzungen mobilisiert.21 Foucault orientiert sich nicht an der Frage, wer das Vokabular legitimerweise verwendet oder wer hier als „machtvolles Subjekt“ gelten darf. Interessanter erscheint ihm demgegenüber, aufgrund welcher Praktiken und Diskurse das Vokabular seine Anziehungskraft entfalten kann, es kompatibel wird mit den Zielsetzungen der Partei, die selbst erst in dem Prozess der Aneignung eines Vokabulars zu eben dieser Partei wird. An dieser Stelle lässt sich die strategische und heuristische Ausrichtung des Foucaultschen Machtkonzepts erkennen, das auf eine Analyse der Zusammenhänge und Verästelungen von Macht in einem agonalen Raum abzielt.22 3.2 PARADOX DER SUBJEKTIVIERUNG Obgleich Foucault das Machtkonzept nicht an Intentionalität bindet, nimmt „Subjektivität“ doch eine wichtige Stellung in seiner Machtanalyse ein. An viel zitierter Stelle äußert sich Foucault so: „Macht wird nur auf ‚freie Subjekte’ ausgeübt.“23 Die Differenz von Macht und Herrschaft bemisst sich just nach der Handlungsfreiheit der Subjekte. Macht wird demnach begriffen als Einwirkung auf das Handeln der Subjekte, nicht als Verneinung eben diesen Handelns oder der Freiheit des Handelns.24 In diesen Zusammenhang gehört Foucaults Distanznahme von einem repressiven Machtmodell, das Möglichkeiten des Subjekts zu handeln begrenzt. Macht ist vielmehr produktiv und anreizend:25 Sie vermag Selbst- und Weltverständigun-

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Macht-Konzepts bei Foucault vgl. Norbert Ricken, Die Macht der Macht – Rückfragen an Michel Foucault, in: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, hg. von N. Ricken / M. Rieger-Ladich, 2004, sowie Thomas Lemke, Nachwort, in: Michel Foucault, Analytik der Macht, hg. v. Th. Lemke, 2005, 319 ff. Michel Foucault, Nietzsche, Genealogie, Historie, in: Schriften in vier Bänden, Dits et écrits, Schriften 2, 2002, 180 Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit I), 1983, 101, dazu auch Christiane Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, 2009, Kap. III Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hg. von H. Dreyfus / P. Rabinow, 1987, 255; vgl. des Weiteren Markus Rieger-Ladich, Unterwerfung und Überschreitung, Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung, in: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, hg. von N. Ricken / M. Rieger-Ladich, 2004, 203–224 Andere Autoren stellen gleichfalls diesen Gesichtspunkt in ihrem Machtverständnis heraus, so z. B. Niklas Luhmann, Macht, 1988. Vgl. Foucault, Überwachen (Fn. 2), 250

Zur Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit im pädagogischen Feld

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gen hervorzubringen. Das Lesen von Elternratgebern stellt beispielsweise eine soziale Praktik dar, im Rahmen derer Eltern als sorgende, disziplinierende, liebende etc. Subjekte hervorgebracht werden und gerade damit handlungsfähig werden und auch sich in Handlungen investieren. Die Verschiebung von einer gründenden zu einer im Sozialen konstituierten Subjektivität macht Foucaults Machtanalyse in ihrem historisch-philosophischen Zuschnitt zu einem Beitrag zur Geschichte des Subjekts: dies im Sinne der Frage, aus welchen Regeln, institutionellen Zusammenhängen, Diskursen und Ritualen Subjekte ihre Selbstverständnisse generieren. Das Subjekt wird hier also nicht als Ausgangspunkt von Unterscheidungen, als Ursprung von Wissen und Erkenntnis begriffen, sondern als aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken hervorgehendes, das in diesen Praktiken aber nicht vollständig aufgeht oder determiniert wird. Die machtanalytische Leitfrage lässt sich dann folgendermaßen fassen: Wie werden Menschen zu Subjekten? Oder hier konkret: Wie werden Menschen zu verantwortungsbewussten und zurechnungsfähigen Subjekten?26 3.3 METHODISCHE WEICHENSTELLUNGEN Die methodischen Weichenstellungen – von Foucault im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“, „Der Wille zum Wissen“, vorgenommen – erlauben, das forschungspraktische Vorgehen Foucaults näher zu beleuchten.27 Da ist zunächst die Regel der Immanenz, welche die These einer selbstidentischen Präsenz verhindern soll. Ein Beispiel hierfür wäre, disziplinarische Praktiken, z. B. die Zurechtweisung von SchülerInnen vor der Klasse oder ihren Ausschluss vom Unterricht als Zeichen der repressiven Institution „Schule“ zu verstehen. Damit wird das, was es allererst zu erschließen gälte, auf eine abstrakt-allgemeine Identität von „Schule“ festgelegt. Gesprochen wird dabei von einer Position aus, die sich selbst als von Machtverhältnissen unbeeinträchtigt begreift. Die Regel der taktischen Polyvalenz der Diskurse zielt ebenfalls auf die Verunsicherung von Identifizierungen.28 Wenn Elemente von Diskursen in vielfältige Machtbeziehungen verstrickt sind, so ist es gerade nicht möglich, die Bestimmungseffekte von Äußerungen eindeutig festzustellen. Demgegenüber lassen sich heterologische Strukturen und Verschiebungen, ein Changieren und Gleiten von Bedeutungen feststellen, durch die Subjekt- und Objektpositionen überlagert werden und Spielräume für Selbst- und Weltverständigungen entstehen. Diese wiederum fügen sich sehr unterschiedlich in bestehende Diskussions- und Handlungszusammenhänge ein.29 26

Auf die Paradoxie, die im Verhältnis von Subjekt und Macht liegt, d. h. als Subjekt einerseits der Macht unterworfen zu sein, andererseits Bedingung der Macht zu sein, kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Ich verweise hier auf weiterführende Überlegungen von Judith Butler, Psyche der Macht, 2003, und im systematisch pädagogischen Diskurs auf Alfred Schäfer, Macht – ein pädagogischer Grundbegriff?, in: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, hg. von N. Ricken / M. Rieger-Ladich, 2004, 145–164. 27 Foucault, Wille zum Wissen (Fn. 22), 42 ff. 28 Foucault, Wille zum Wissen (Fn. 22), 100 29 Ein Beispiel aus dem pädagogischen Bereich mag dies verdeutlichen: In Diskussionen um frühkindliche Bildungsinstitutionen werden verschiedene Erzieherfiguren konstituiert, bei denen pädagogische Verantwortung über sehr verschiedene und sogar spannungsreiche Motive be-

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Christiane Thompson

Die Regel des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses dient ebenfalls der Verhinderung schneller Identifizierungen. Mit dieser Regel verleiht Foucault der Kontingenz und Unbestimmtheit des Sozialen Ausdruck; denn wechselseitige Bedingungsverhältnisse enthalten eine Problematisierung von Kausalitäten und Prioritätsverhältnissen. Sie fokussieren demgegenüber auf die Funktionalität von Taktiken und Strategien: „Es geht also darum, sich einer Machtkonzeption zuzuwenden, die das Privileg des Gesetzes durch den Gesichtspunkt der Zielsetzung ablöst, das Privileg des Verbotes durch den Gesichtspunkt der taktischen Effizienz, das Privileg der Souveränität durch die Analyse eines vielfältigen und beweglichen Feldes von Kraftverhältnissen, in denen sich globale, aber niemals völlig stabile Herrschaftswirkungen durchsetzen.“30

Foucault fasst an dieser Stelle sein Untersuchungsprogramm zusammen, das ein Abrücken von Zentrierungen der Macht zugunsten der Betrachtung ihrer Funktionen und Relationalität impliziert. Diesem Programm folgend sollen die in Prüfung inhärenten Strategien, Individuen zu Prüfungssubjekten zu machen, im dritten Teil herausgearbeitet werden. Wie lässt sich hier Zurechnung als Effekt von Machtverhältnissen untersuchen und deuten? 4

„INDIVIDUALISIERUNG“

UND

„QUALIFIZIERUNG“: ZUR LOGIK

DES

PRÜFENS

Über die Prüfung, die sich seit dem 18. Jahrhundert als Praktik in sehr verschiedenen Zusammenhängen herausbildet, schreibt Foucault, dass sie die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der Normalität konstituierenden Sanktion kombiniere.31 Die Prüfung verbindet Ritual und Experiment, welche eine qualifizierende Differenzierung der Individuen, ihre Verteilung auf ein Spektrum, ermöglicht. Genauer: Die Prüfung bringt allererst Individuen als sich unterscheidende bezogen auf einen Ausbildungsstand, ein Wissen oder eine Berufsanforderung hervor. In diesem Zusammenhang sieht Foucault die (bis heute) nicht aufgearbeitete Geschichte der Prüfung als wichtige Aufgabe, da sich mit den Methoden, Rollen, Frageund Antwortspielen, den Benotungs- und Klassifizierungssystemen die Verschränkung von Individualisierung und vergleichender Qualifizierung erst angemessen rekonstruieren lässt.32 Die Prüfung lässt sich als wesentlicher Bestandteil der Konstitution eines „pädagogischen Blicks“ begreifen.33 Ohne die Prüfung als individuelle Standortbestimmung ist ein auf den Schüler bezogenes „pädagogisches Agieren“ kaum denkbar. Die Prüfung ist eben der Mechanismus, durch den pädagogisches Wissen und Han-

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stimmt wird, z. B. über „begleiten“ und über „betreuen“, die sehr unterschiedliche Handlungsimplikationen enthalten (vgl. Kerstin Jergus / Ira Schumann / Christiane Thompson, Autorität und Autorisierung, in: Judith Butler: Pädagogische Lektüren, hg. von N. Balzer / N. Ricken, 2012, 207–224). Foucault, Wille zum Wissen (Fn. 22), 101 (Hervorh. C. T.). Im Anschluss an diese Bestimmung ist von der „Überdeterminiertheit des Sozialen“ (Laclau) gesprochen worden. Foucault, Überwachen (Fn. 2), 238 Foucault, Überwachen (Fn. 2), 238 Meyer-Drawe hat hierzu Wesentliches beigetragen: Käte Meyer-Drawe, Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks, Zeitschrift für Pädagogik 42, 1996, 655–664.

Zur Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit im pädagogischen Feld

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deln ausgebildet werden können, ja, aus dem ein pädagogisches Bewusstsein hervorgehen kann. Zum „pädagogischen Wissen“, das seit dem 18. Jahrhundert erforderlich wird, gehört das Zu-Lernende ebenso wie das Wissen um Lehr- und Prüfungstechniken.34 Im Zusammenhang der Effektivität der Prüfung verdienen nach Foucault drei Gesichtspunkte besondere Beachtung. Erstens ist die Ökonomie der Sichtbarkeit in der Prüfung bedeutsam. Die Ziele der disziplinierenden Macht treten in einen Raum der Sichtbarkeit: Vor allem in der Schule lässt sich eine Omnipräsenz der Prüfung feststellen, die sich durch das permanente Gesehen-werden-Können der Schüler als Produzenten von Leistung manifestiert. Zweitens mache die Prüfung die Individualität dokumentierbar.35 Prüfungen gehen mit dokumentierenden Vermessungen einher, ein „System der Registrierung und Speicherung von Unterlagen.“36 Auf diese Weise erhält das Individuum nach Foucault Eintritt in das Feld des Wissens: Es vollzieht sich eine Geburt der Wissenschaften vom Menschen „im Archiv“.37 Drittens wird durch die Dokumentation aus jedem Individuum ein Fall. So sieht Foucault in den zunehmenden individuellen Beschreibungen und biographischen Berichten zugleich eine objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung, wie sich eindrucksvoll an den Rekonstruktionen des „Werdegangs eines Delinquenten“ aufzeigen lässt. Die von Foucault historisch-philosophisch rekonstruierte Kontur des Ritus „Prüfung“ möchte ich als heuristischen Vorblick nutzen, um gegenwärtige Praktiken pädagogischer Leistungsmessung zu untersuchen. Dabei werde ich den Blick auf die rituelle Struktur, die Räume der Sichtbarkeit und Subjektivierung richten. Wonach bemessen sich die Subjektivierungsspielräume der in den Praktiken eingebundenen Akteure? Um die Hervorbringung von „Zurechnung“ machtanalytisch zu fassen, wähle ich exemplarisch eine „Fundstelle“ aus: Es handelt sich um Beobachtungen und Ergebnisse aus einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekt meines Kollegen Georg Breidenstein an der Universität Halle, das sich mit den Praktiken der Leistungsbeurteilung in Schulen beschäftigt. Gegenstand der vorliegenden Analyse sind Auszüge eines ethnographischen Protokolls aus dem entsprechenden DFGProjekt. Dokumentiert wurde eine mündliche Leistungsmessung in der fünften Klasse im Biologieunterricht eines leistungsorientierten Gymnasiums.38 Die Prüfungssituation: Die Schülerin Rebekka steht vorn an der Tafel und wird von der Lehrerin über die Fortpflanzung der Fische befragt.

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35 36 37 38

Vgl. in historischer Sicht Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Band 1, 1996, und systematisch: Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, 2006, 326 ff. Eine bis heute lesenswerte Studie zu rituellen Vollzügen in der Schule ist zudem die Studie von Franz Wellendorf, Schulische Sozialisation und Identität, 1973. Foucault, Überwachen (Fn. 2), 243 Ibid. Ibid. Das Protokoll wurde von Michael Meier erstellt. Die „Leistungsmessung“ ist auch Thema seiner Dissertation (2009). Die Ergebnisse des Projekts und der Dissertation werden veröffentlicht in: Katrin Ulrike Zaborowski / Michael Meier / Georg Breidenstein, Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule, 2011.

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Christiane Thompson „Rebekka sagt, dass sie es gelernt habe“, fasst Frau Stern die Situation zusammen, „also erzähle!“ Rebekka steht vorn an der Tafel, druckst rum, sie ist sehr leise, ich verstehe hier hinten, noch desorientiert und müde, nichts. Es dauert lange, wohl ne Minute oder so, Frau Stern lässt ihr und sich und uns allen Zeit. Stockend und leise erzählt sie was zur Fortpflanzung der Fische. D. h. eigentlich erzählt sie nicht, sondern sie antwortet mit einzelnen Begriffen auf die Fragen der Lehrerin. „Bis zu welchem Zeitpunkt spricht man von Paarung?“ – „Ejakulation.“ „Wie finden sich die Fische? Woran erkennen die, das die paarungsbereit sind?“ – „…Schwanzflossen…“ Elsa flüstert derweilen ausgiebig mit Klaus-Maria. Frau Stern guckt nun Klaus-Maria an: „KlausMaria, kannst du es besser?!“ Klaus-Maria wiegelt ab, es geht weiter mit Rebekka und der Fortpflanzung der Fische. „Warum legen die so viele Eier ab?“ – „Weil so viele gefressen werden.“ – „Und warum noch?“ – Rebekka fällt kein weiterer Grund ein. Thessa meldet sich und kommt dran: „Weil viele Eier nicht befruchtet werden.“ Ein anderer Schüler, der sich auch gemeldet hat, kommt nun dran: „Weil das Wasser fließt und das Sperma an den Eiern vorbei geht“… „Richtig“, fasst Frau Stern zusammen, „das Wasser bewegt sich ja ständig, und viele Eier werden weggetrieben…“ Dann wendet sich Frau Stern wieder der kleinen Rebekka zu: „Was gehört alles zu den Wirbeltieren?“ – „Vögel, Fische, Säugetiere“, weiß Rebekka richtig zu antworten. „Okay“, nun nimmt sich Frau Stern zurück, aber nicht ohne im Anschluss in die Klasse zu fragen: „Wollt ihr sie ausquetschen? Zwei Fragen noch!?“ Zunächst meldet sich niemand, dann gehen doch zwei Finger in die Höhe. Friedemann kommt dran: „Warum überlebt der Fisch nicht am Land.“ – Rebekka antwortet, dass Fische Kiemen hätten, mit denen sie an Land, also an der Luft nicht atmen können. Frau Stern fragt, ob Friedemann mit der Antwort zufrieden sei. – „Ja.“ – Ein anderer Schüler darf auch noch eine Frage stellen, die Rebekka ebenfalls richtig beantwortet. „So“, fasst die Lehrerin die Leistung von Rebekka zusammen, der Anfang, die Fortpflanzung der Fisch wäre ja nicht so gut gewesen, die späteren Zusatzfragen hingegen seien differenziert beantwortet worden. „Welche Note würdest du dir selber geben?“ Rebekka stockt. „Ich hab da eine stehen!“ Rebekka sagt immer noch nichts. „Okay, wer ist die Klassensprecherin? Carmen! Was würdest du Rebekka geben, ganz objektiv!“ Carmen sagt zögerlich, dass sie Rebekka eine Zwei geben würde. „Hab ich auch.“ Dann zu Rebekka: „Setz dich!“39

Zunächst gebe ich einige wichtige Aspekte der Interpretation aus dem Projekt wieder.40 Die Ethnographen heben die rituelle Logik des Verfahrens hervor: Obgleich die Schüler zögerlich auf die Übertragung der Prüfungs- und Bewertungsverantwortung reagieren, übernehmen sie diese prekären Aufgaben dann doch, da die Geschichte (der Ritus) weitergehen müsse. Die Einbeziehung der Schüler in die Notenfindung ist überhaupt bemerkenswert: Dies lasse sich trotz der Pseudopartizipation als Versuch einer kommunikativen Validierung der Zensur verstehen. Alle diese Praktiken zielten darauf ab, die Idee der Objektivität von Leistungsbewertung aufrecht zu erhalten. Es handele sich um eine Inszenierung von Objektivität – in dem Wissen, dass es wegen vielfältiger Einflüsse, Unwägbarkeiten und Ungenauigkeiten eine solche niemals geben könne. In Fortführung dieser Interpretation, aber mit einer spezifischen Schwerpunktsetzung auf die Frage der „Zurechnung“, möchte ich die Prüfungssituation hinsichtlich ihrer rituellen Struktur genauer analysieren. Ähnlich wie Foucault dies für die Prüfungsformen des 18. Jahrhunderts aufzeigt, weist die hier vollzogene rituelle Praktik eine besondere Ökonomie der Sichtbarkeit auf. Rebekka rückt in eine her39

40

Vgl. Georg Breidenstein, Erziehungswissenschaftliche Unterrichtsforschung. Am Beispiel der Ethnographie schulischer Leistungsbewertung (Ms.), Ringvorlesung an der Universität Bielefeld zum Thema „Qualitative Forschung und Erziehungswissenschaft“, 2009 Ibid.

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ausgehobene Position der Sichtbarkeit: Der Ort „an der Tafel“ ist der Ort des Wissenstransfers, der Ort, von dem aus die Lehrperson gemeinhin agiert – es ist der Ort, der als Bühne für das „Hauptgeschehen“ des Unterrichts begriffen werden kann. Dem Ritus unterworfen wird Rebekka von den Mitschülern abgetrennt und diverse nachfolgende Praktiken, in denen Frau Stern die Mitschüler als Lehr- und Prüfungsinstanzen anruft, konstituieren eine Differenz zwischen Rebekka und ihren Mitschülern. Es ist eine Besonderheit dieser Abtrennung, dass sie sich in jenem Machtzentrum abspielt, das gemeinhin die soziale Praxis des Unterrichts fokussiert. Die Sichtbarkeit der Prüfung ist mit einer besonderen Öffentlichkeit verknüpft. Die Formulierung „Rebekka sagt, dass sie es gelernt habe… also erzähle!“ lässt sich als symbolische Entsprechung der räumlichen Dimensionierung von Sichtbarkeit und Öffentlichkeit verstehen: Am Platz des Wissens muss Rebekka sich prüfen lassen. Aber die Äußerung der Lehrerin ist noch viel weitreichender; denn die Aufmerksamkeit von Frau Stern erschöpft sich nicht im positiven Vorhandensein eines biologischen Wissens. In der indirekten Fassung des Ausspruchs „Rebekka sagt, dass sie gelernt habe“ tut sich auch ein bestimmtes Selbstverhältnis der Schülerin kund: Rebekka beansprucht für sich, die Lernprozesse um die Fortpflanzung der Fische vollzogen zu haben. Mit der Aufforderung zu erzählen wird demnach nicht nur die Positivität des Wissens abgefragt, sondern auch, ob Rebekka ihr Verhältnis zu sich selbst im Lernen richtig eingeschätzt hat. Dieser Aspekt in Prüfungen, der sehr oft an der Art und Weise festgemacht wird, wie Schüler und Schülerinnen ihr Wissen präsentieren, wird häufig übersehen.41 Der Moment, in dem Rebekka aufgefordert wird, ihre eigene Leistung zu beurteilen, verdient besondere Beachtung. Dieser vervollständigt den Rahmen, in dem es bezogen auf das Wissen zugleich um das Selbstverhältnis Rebekkas („ich habe gelernt!) und damit um ihre Subjektivierungsspielräume geht. Diese Praktik ist mit einer sehr starken symbolischen Produktivität verknüpft; denn in ihr überlagern sich verschiedene Verhältnisbeziehungen: Rebekka wird das Wort erteilt, um erstens ihre Leistung zu beurteilen (Verhältnis zum Wissen). Zweitens wird sie damit in die Lage versetzt, die Prüfung ihres Selbstverhältnisses zu manifestieren, sich also in ein Verhältnis zu ihrer Aussage zu bringen, dass sie gelernt habe (Verhältnis zum Selbstverhältnis). Drittens wird von ihr ein Urteil verlangt, dass sie in ein Verhältnis zur Prüfung insgesamt bringt. Die Schülerin soll demnach ihre Position in der Prüfung transzendieren, um sich gleichsam von außen mit Bezugnahme auf den Verlauf der Prüfung zu bewerten. Die Verhältnisbeziehung zur Prüfung bildet demnach selbst einen Teil der Prüfung! Mit ihrer Anrufung eröffnet die Lehrerin einen transsozialen Raum im Ritual, in dem die individuelle Perspektive Rebekkas, die allein ihr Verhältnis zu ihrem Selbstverhältnis zu bewerten in der Lage ist, und der allgemeine Bewertungsmaßstab, der sich u. a. auf der Grundlage eines Differenzverhältnisses von Rebekkas Kenntnisstand zu allen anderen anwesenden Schülern bestimmt, in ein Spannungsverhältnis treten. Man könnte diesen Moment als einen Schwellenzustand im Ritual

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Interessanterweise kommt es bei den Wissensfragen nicht zu einer Beantwortung im Sinne einer ausführlichen Darlegung des Gelernten, sondern zu einem schnellen und rhythmisierten „Abklopfen“ des Wissens. Die Inhalte scheinen im Verhältnis zum Verlauf als Prüfung nicht besonders relevant.

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beschreiben, in dem der Prüfling kein „reales Wesen“ darstellt.42 Rebekka wird als autonomes Subjekt inszeniert, dessen Urteil auch noch die Entsprechung von Prüfungsfragen und Prüfungsantworten (und damit auch eben ihr Nicht-Wissen) umfassen soll. Die Autonomie enthält dabei nicht zuletzt eine Unterwerfung des eigenen Urteils unter eine intersubjektive Validität.43 Mit der Urteilsfindung aus der Perspektive eines autonomen Subjekts, die sich mit der Anrufung der Klassensprecherin als unvoreingenommene Repräsentantin der Schülerschaft fortsetzt, wird zugleich das Verfahren, die Bewertung, überhaupt die gesamte Prüfung autorisiert und dessen Ergebnis mit Geltungskraft ausgestattet. Über die „reale“ Wirksamkeit der angeführten Prüfungssituation lässt sich nichts sagen. Wichtiger als die „Wirksamkeit“ als kausalistisches Konstrukt scheint zudem jene „Wirklichkeit“, die mit dem Ritual hervorgebracht wird. Hier möchte ich die aspektivische Qualität des Rituals in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken,44 d. i. die Unmöglichkeit einer reflexiv-perspektivischen Distanz des Prüflings zum Ritual. Anders gesagt: Die Autonomisierung in der Beurteilung der eigenen Leistung stellt für Rebekka auch eine Unterwerfung unter das Prüfungsritual selbst dar, indem sie als Subjekt imaginiert bzw. angerufen wird, das Selbstverstrickungen und soziale Abhängigkeitsverhältnisse zu übersteigen vermag. Ulrich Bröckling hat an dieser Stelle im Anschluss an Hutter und Teubner von „Realfiktionen“ gesprochen.45 Sie bringen Identitäten und Selbstverständigungen hervor und sind „Chiffren für ein höchst praktische[s] Anforderungsprofil, das angibt, wie sich Menschen als Personen zu begreifen“ haben.46 In der Prüfung wird – und damit schließe ich diese Interpretation – Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit von Rebekka praktisch hervorgebracht und verbindlich gemacht. – Und dies würde sich noch da vollziehen, wo sie mit der Note nicht einverstanden wäre; denn auch der Widerspruch basiert auf der Verantwortlichkeit für die Note und den Verlauf der Prüfung. Schließlich könnte die Leistungsbewertung auch noch einen „Stachel“ hinterlassen – durch die subjektive Einsicht, dass die Bewertung zu gut erfolgt sei, dass man eigentlich viel weniger gewusst und gesagt habe, als dies den Anschein hatte. In all diesen Optionen stellen Zurechnung und Autonomie eine Illusion wie eine Zumutung dar;47 denn nochmals: es wird auf Uneinholbares rekurriert, das Unmögliche wird als Mögliches dargestellt. Nach ihnen bemisst sich die Logik des Schulsystems und die Legitimität seiner selegierenden Praktiken. Ich fasse die Überlegungen zusammen. In einem ersten Schritt ist eine der dominanten Traditionslinien der pädagogischen Moderne entwickelt worden, die sich 42

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Ich schließe an dieser Stelle an ritualtheoretische Überlegungen an, die Alfred Schäfer im Rahmen seiner Bildungsethnologie angestellt hat. Vgl. Alfred Schäfer, Unsagbare Identität, Das Andere als Grenze der Selbstthematisierung der Batemi, 1999, und mit besonderem Bezug auf die „Prüfung“: Alfred Schäfer, Rituelle Subjektivierungen, in: Rituale und Ritualisierungen, hg. von A. Schäfer / M. Wimmer, 1998. Das Konzept der „Transsozialität“ hat ebenfalls Schäfer geprägt. Ich verwende es hier in einer etwas anderen Akzentuierung. Eine solche Unterworfenheit wird von den Teilnehmenden im Ritual selbst gesehen – in der Äußerung der Lehrerin, sie habe da eine Note stehen. Vgl. dazu Jean-Joseph Goux, Oedipus, philosopher, 1994 sowie Schäfer (Fn. 42), RitS. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 2007, 36 ff. Bröckling (Fn. 45), 38 Schäfer (Fn. 4)

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„zwischen Kant und Kohlberg“ aufspannt. In dieser Linie wird Zurechnungsfähigkeit als Qualität eines autonomen Subjekts interpretiert, welches das Ziel von Erziehungs- und Bildungsprozessen abgibt. Während bei Kant das Erziehungsziel der Moralisierung als gebrochen erscheint („wir leben noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter“), avanciert die moralische Autonomie im Ansatz Kohlbergs zum Endpunkt eines Entwicklungsvorgangs, durch die der gesamte Prozess in seiner Logik erschlossen und die Wirklichkeit der moralischen Urteilskraft empirisch vermessen werden kann. In der durch Kant und Kohlberg aufgemachten Linie, die mit Habermas’ „Ich-Stärke“ eine Fortsetzung findet, dominiert eine individualtheoretische Ausrichtung pädagogischer Kategorien, so dass die soziale Dimension pädagogischer Prozesse nicht hinreichend in den Blick gebracht wird.48 Eine Machtanalytik nach Foucault ist in diesem Zusammenhang produktiv, da sie eine Analyse von Subjektivierungen in der gegenwärtigen pädagogischen Praxis ermöglicht, in der Zurechnung/-sfähigkeit praktisch hervorgebracht wird. Nach einer Charakterisierung der machtanalytischen Perspektive im zweiten Teil habe ich mich exemplarisch einem ethnographischen Protokoll zugewandt, um die subjektivierenden Effekte im Ritus der Prüfung herauszuarbeiten. Der Fokus lag auf einer paradoxen Anrufungsfigur von Autonomisierung und Unterwerfung, durch die sich erst die Prüfung als etwas das Individuum Betreffendes und als einem allgemeinen Maßstab Verpflichtetes zu konstituieren vermag. Mit ihr wird ein zurechnungsfähiges Subjekt hervorgebracht, das sich selbst und nur sich selbst als verantwortlich für seine Leistung erfährt – das also ein Scheitern „auf die eigene Kappe“ zu nehmen hätte. Das Spannungsverhältnis, das zwischen traditionsbestimmenden Theoretisierungen von Verantwortung und Zurechnung in der Pädagogik und der Machtanalytik pädagogischer Prozesse besteht, könnte als Kritik interpretiert werden, dass der pädagogische Diskurs bislang zu stark an moralischen Referenzen49 ausgerichtet gewesen ist, anstatt sich mit den praktischen Vollzügen pädagogischer Prozesse zu befassen. Diese Kritik entspricht nicht der Stoßrichtung der vorliegenden Überlegungen, die lediglich eingespielte Differenzen zwischen einer moraltheoretischen und einer sozialwissenschaftlichen Sicht bedienen würde. Gerade in Kants Überlegungen deutete sich eine Problematisierung von Autonomie an, welche die Analyse der Prüfungspraktik als Zusammenspiel von Freiheit und Unterwerfung weiterführen könnte. So ließe sich unter Rückgriff auf Kants Überlegungen sowie andere moralphilosophische Denkmotive die Frage nach der praktischen Hervorbringung von Zurechnungsfähigkeit bzw. Zurechnung in pädagogischen Situationen konkretisieren: Vollzieht sich dieses über Zustimmungsfähigkeit oder selbstgerichtete Reflexionsprozesse? Möglicherweise eröffnet sich hier ein Horizont, die Diskussion der Legitimation und Begründung von Zurechnung neu aufzunehmen; denn die Erforschung der Voraussetzungen und Konsequenzen von praktischen Vollzügen wirft auch ein Licht auf unsere Gebundenheit in ihnen durch Normen und Wertvorstellungen (wie z. B. Leistungsfähigkeit). Dann können Fragen entstehen wie: Wohin führt uns das 48 49

Vgl. hierzu Norbert Ricken, Erziehung und Anerkennung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82, 2006, 215–230 Diese Kritik ist schon öfter geäußert worden. Vgl. exemplarisch Dirk Rustemeyer, Muss Erziehung wertvoll sein?, in: Werte, hg. von A. Schäfer / C. Thompson, 2010, 35–50.

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Nachdenken über eine zuletzt unmögliche Objektivität der Notengebung angesichts sozialer Selektionsprozesse? Wie lässt sich diesbezüglich der Anspruch pädagogischer Gerechtigkeit und Verantwortung formulieren? Verändern könnte sich mit solchen Fragen bzw. Analysen, wie wir das Verhältnis von Zurechnung und moralischen Kategorien in der Pädagogik sehen.

INFORMATIONEN

ZU DEN

AUTOREN

Prof. Dr. Franz von Benda-Beckmann Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Saale [email protected] Prof. Dr. Julia Eckert Universität Bern Institut für Sozialanthropologie [email protected] Prof. Dr. Stephan Gosepath Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich Gesellschaftswissenschaften [email protected] Prof. Dr. Armin Grunwald Karlsruher Institut für Technologie Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) [email protected] Prof. Dr. Volker Haas Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Institut für deutsches, europäisches und internationales Strafrecht und Strafprozessrecht Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht [email protected] ao Univ.Prof. Dr. Elisabeth Holzleithner Universität Wien Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht [email protected] Prof. Dr. Matthias Kaufmann Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Seminar für Philosophie [email protected] Prof. Dr. Georg Lohmann Otto von Guericke-Universität Magdeburg Institut für Philosophie [email protected]

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Informationen zu den Autoren

Prof. Dr. Joachim Renzikowski Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Juristischer Bereich [email protected] Dr. Anja Schmidt Juristenfakultät der Universität Leipzig Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie [email protected] Prof. Dr. Hillel Steiner The University of Manchester School of Social Sciences [email protected] Prof. Dr. Christiane Thompson Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Philosophische Fakultät III: Erziehungswissenschaften [email protected] Dr. Friederike Wapler Universität Göttingen Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie [email protected]

Speziell im politischen Raum wird oft gefordert, jemand solle für ein bestimmtes Ereignis die Verantwortung tragen, in anderen Fällen beeilen sich radikale Gruppen, für Terrorakte die Verantwortung zu übernehmen, ohne dass klar wäre, welche Konsequenzen damit verbunden sind. Dies liegt nicht zuletzt an der Vieldeutigkeit und den unscharfen Konturen des Verantwortungsbegriffs selbst. Im Recht impliziert Verantwortung im Allgemeinen die Verpflichtung zur Gefahrenvorsorge im weitesten Sinne sowie bei der Verletzung dieser Pflicht Schadensersatz

oder Strafe. Dieser Band soll den Blick erweitern. Gegenstand sind zum einen die Differenzen – oder auch Gemeinsamkeiten – des Begriffs der Zurechnung als rechtlicher und des Begriffs der Verantwortung als moralischer oder politischer Kategorie und deren Verankerung in faktischen sozialen Strukturen wie z.B. dem Verhältnis der Geschlechter. Ferner bietet der interdisziplinäre Dialog mit der Rechtsethnologie die Chance, sich unterschiedlichen, dabei gleichzeitig Geltung beanspruchenden Praktiken und Sichtweisen von Zurechnung und Verantwortung zu widmen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10180-6